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Erinnerungsstätte Matthias Erzberger Von Paula Lutum-Lenger

Matthias Erzberger ist, verglichen mit anderen Politikern seiner Generation wie oder Konrad Adenauer, seit jeher ein Stiefkind der Erinnerungskultur. Nach seiner Ermordung durch rechtsradikale Attentäter am 26. war es – obwohl Erzberger amtierender Reichsfinanzminister war – nicht das offizielle Berlin sondern die katholische Kirchengemeinde in Biberach, das Zentrum seiner Wahlkreise, die ihn in einem Ehrengrab bestattete. 1921 wurde an der Mordstelle bei Bad Griesbach im Schwarzwald ein Gedenkkreuz („Marterl“) aufgestellt, das 1933 allerdings entfernt wurde. Im Jahr 1931 waren es die Landesverbände der katholischen Zentrumspartei aus Baden und Württemberg, die in Bad Griesbach eine Erzberger- Gedächtniskapelle errichten ließen. 1951 wurde schließlich an der Kniebisstraße, dem Ort seiner Ermordung, anstelle des alten Gedenkkreuzes ein Gedenkstein aufgestellt. Als 1925 der Biberacher Bürgermeister Josef Hammer einen Teil der Waldseer Straße in Matthias-Erzberger-Straße umbenennen wollte, lehnte der Gemeinderat den Vorschlag ab und stellte für die Ehrung Erzbergers eine künftige Straße in Aussicht. Aber erst 1977 erhielt im Ortsteil Bachlangen eine Straße in einem Neubaugebiet Erzbergers Namen. 1986 wurde mit dem Berufsschulzentrum in Biberach dann die erste Schule nach Matthias Erzberger benannt. In Buttenhausen selbst, dem Geburtsort Erzbergers, ließ die Ortsgruppe Reutlingen des „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold” 1927 eine Gedenktafel am Geburtshaus anbringen. Sie wurde von den Nationalsozialisten entfernt und von der Familie gerettet, die sie 1966 in die Sammlung der Bundesfinanzakademie gab. 1971 wurde auf Initiative der Tochter Erzbergers eine neue Tafel am Geburtshaus angebracht. Eine Matthias-Erzberger-Straße gibt es auch, allerdings nicht in Buttenhausen selbst, sondern im benachbarten Gundelfingen. Zwei Anträge aus dem Jahren 1988 und 1991, das Gymnasium in Münsingen nach Matthias Erzberger zu benennen, wurden von der Gesamtlehrerkonferenz der Schule abgelehnt.

Buttenhausen – der Geburtsort Matthias Erzbergers

Auch die materiellen Spuren des Lebens von Matthias Erzberger sind in alle Winde zerstreut und verlorengegangen. Weder seine Brille noch sein Füller sind erhalten; auch Tagebücher von ihm gibt es nicht. Nur ein einziges originales persönliches Objekt aus seinem Leben ist erhalten geblieben: seine goldene Taschenuhr. Allerdings steht in Buttenhausen noch das Geburtshaus Erzbergers. Dort, in dem kleinen württembergischen Dorf auf der Schwäbischen Alb, wurde Matthias Erzberger am 20. September 1875 geboren. Die Bevölkerung setzte sich etwa zur Hälfte aus Protestanten und zur anderen Hälfte aus Juden zusammen. Die Familie Erzberger gehörte zu den wenigen katholischen Familien im Ort. Das Haus der Familie war ein einfaches Steinhaus. Im Erdgeschoß befanden sich ein Wohnzimmer, ein Elternschlafzimmer, eine einfache Küche und ein primitives Bad – alle Räume sind für heutige Verhältnisse winzig. Im ersten Stock lagen drei kleine Schlafzimmer. Nur das Wohnzimmer konnte durch einen Ofen geheizt werden. Die Familie Erzberger bewohnte dieses Haus mit vier Jungen und zwei Mädchen. Matthias war das älteste der Kinder. Im Jahr 2001 wurde das Gebäude von der Stadt Münsingen gekauft, um darin eine Gedenkstätte zu errichten. Gefördert durch die Landesstiftung Baden-Württemberg, errichteten Mitarbeiter des Hauses der Geschichte Baden Württemberg die Erinnerungsstätte Matthias Erzberger, die im Jahr 2004 eröffnet werden konnte.

Fachbereich www.gedenkstaetten-bw.de Gedenkstättenarbeit

Die Erinnerungsstätte in Buttenhausen

Wenn mit der Ausstellung in dem Erzbergerschen Geburtshaus eine Darstellung der politischen Biografie des Politikers versucht wird, dann geschieht dies im Bewusstsein der Unerfüllbarkeit aller Wünsche nach Vollständigkeit. Vielleicht ist es gut, wenn wir Erzberger ein Geheimnis lassen. Wie bei vielen seiner Zeitgenossen, etwa bei oder Rosa Luxemburg, ergeben Charakter, Leben und Werk kein rundes Bild. In der Ausstellung in Buttenhausen wird Erzbergers politischer Lebenslauf als Dokumentarstück inszeniert. In zehn engen Räumen des Erzbergerhauses, die sich auf lediglich 110 Quadratmeter verteilen, werden die Stationen seiner politischen Karriere geschildert. Gleich wenn man zur Tür hereinkommt, erfolgt ein dramaturgischer Einstieg: Hut und Mantel, die für ihn so charakteristischen Kleidungsstücke, hängen an der Garderobe. Erzberger ist zurückgekehrt an seine Geburtsstätte. Zimmer für Zimmer können sich nun die Besucher mit den einzelnen Stationen vertraut machen. Erzbergers politische Laufbahn begann als Anwalt der kleinen Leute in Württemberg. Der gelernte Volksschullehrer war als Journalist tätig. Vor Handwerkern, Arbeitern und Bauern hielt er hunderte von Vorträgen. Mit Hilfe einer Kartenprojektion können die Besucher Erzbergers weitreichender Vortragstätigkeit nachspüren. 1903 wurde Erzberger im Alter von nur 28 Jahren als jüngster Abgeordneter in den Reichstag gewählt. Von seinen Reden gibt es zwar keine Tonbandaufzeichnungen, wohl aber die Protokolle der Reichstagssitzungen. Rund vierhundert davon sind an den Wänden in dem Raum angebracht, in dem Erzberger als Volksvertreter lebendig werden soll. Eine zentrale Rolle in der Ausstellung nehmen der Wald von Compiègne und jener Eisenbahnwaggon ein, in dem der französische Marschall Matthias Erzberger im November 1918 die Bedingungen für einen Waffenstillstand diktierte und in dem Erzberger mit seiner Unterschrift unter das Waffenstillstandsdokument das Ende des Ersten Weltkrieges besiegelte. Ein sechsminütiges Hörstück auf der Grundlage von gedruckten und ungedruckten Aufzeichnungen sowie Protokollen der Waffenstillstandskommission vermittelt dem Besucher einen Eindruck davon, wie sich Erzberger gefühlt hat und was ihn an diesem Tag bewegte; auch sein französischer Widerpart Foch kommt zu Wort. Die Waldkulisse gibt Durchblicke auf Kriegsszenen an der Westfront, auf zerstörte Städte und auf die Revolutionsereignisse in Berlin frei. Eine maßgebliche Rolle spielte Erzberger, inzwischen Minister geworden, bei der Annahme des Versailler Vertrages durch die Nationalversammlung. Per Knopfdruck kann der Besucher die Abstimmung nachvollziehen und sehen, wie die Abgeordneten jeder einzelnen Partei gestimmt haben. Die Finanzreform Erzbergers war bahnbrechend; auf ihr baut bis heute in wesentlichen Teilen das deutsche Steuersystem auf. Die von Erzberger durchgesetzte Zentralisierung der Finanzhoheit sowie die Vereinheitlichung und Ausgestaltung der Steuern führten zu einem effizienten Finanzsystem, das die Weimarer Republik überdauern sollte. Die 16 Steuergesetze, die Erzberger als Reichsfinanzminister innerhalb von nur neun Monaten durch die politischen Entscheidungsgremien brachte, scheinen in der Ausstellung wie Notenblätter aus einer kahlen Wand zu wachsen, vor der ein unsichtbarer Erzberger am Dirigentenpult steht. Erzbergers Beteiligung am Waffenstillstand und am Versailler Vertrag machten ihn zur Zielscheibe von deutschnationalen und rechtsradikalen Hasstiraden. Die Hetze gegen den Zentrumspolitiker wird in der Ausstellung mit Flüstertüten und Sprüchen gegen den vermeintlichen „Verräter” Erzberger in Szene gesetzt. Wie ein roter Faden durchziehen Zitate von Erzberger die Ausstellung, darunter auch der Satz: „Die Kugel, die mich treffen soll, ist schon gegossen.“ Die beiden Mörder, ehemalige Offiziere und Mitglieder einer antirepublikanischen Geheimorganisation, wurden zwar ermittelt, aber erst nach

dem Zweiten Weltkrieg wegen Mordes verurteilt. Im Asservatenschrank finden sich Tatortskizzen und Fotos der Sonderkommission, die auch verdeckt ermittelte. Ein großes Archivregal führt die umkämpfte Erinnerung nach Erzbergers Tod vor; Denkmäler werden in der Weimarer Republik errichtet, in der Zeit des Nationalsozialismus wieder gestürzt. Und schließlich kommen noch Menschen von heute – Politiker, Bürger, Schüler – zu Wort. Über eine Wand bewegen sich aktuelle Zitate, die zeigen, was die Menschen heute noch mit Matthias Erzberger verbinden. Nicht darstellbar ist die Tatsache, dass die überwiegende Mehrzahl der vom Haus der Geschichte 2004 in Münsingen und befragten Personen mit dem Namen Erzberger nichts mehr anzufangen wusste. Das lag nicht nur an den inzwischen vergangenen achtzig Jahren. Rufmord, Mord und Verächtlichmachung über den Tod hinaus haben für das Verschwinden von Matthias Erzberger aus der kollektiven Erinnerung gesorgt. Während der antidemokratische Reichspräsident Hindenburg bis heute landauf und landab mit Straßennamen geehrt wird, muss man Erzbergers Namen lange suchen. Daran wird sich auch durch die Erinnerungsstätte in Buttenhausen nichts ändern. Aber jeder, der möchte, kann nun am historischen Ort einen Menschen näher kennenlernen, der den Mut und das Verantwortungsbewusstsein aufbrachte, die bitteren Konsequenzen aus dem verlorenen Ersten Weltkrieg zu ziehen, der sich für Parlamentarisierung und lebensfähige Demokratie einsetzte und dafür mit dem Leben bezahlen musste.

Prof. Dr. Paula Lutum-Lenger ist stellvertretende Direktorin sowie Ausstellungs- und Sammlungsleiterin im Haus der Geschichte Baden-Württemberg.

Publikationen

 Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hg.): Matthias Erzberger. Ein Demokrat in Zeiten des Hassen, Karlsruhe 2013.  Christopher Dowe, Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hrsg.): Matthias Erzberger. Ein Wegbereiter der deutschen Demokratie, Stuttgart 2011.  Caroline Gritschke: Erinnerungsstätte Matthias Erzberger. Ein biographisches Puzzle für Schulklassen, Stuttgart 2011.  Christopher Dowe: Matthias Erzberger. Ein Leben für die Demokratie, Stuttgart 2011.  Christoph E. Palmer, Thomas Schnabel (Hrsg.): Matthias Erzberger (1875–1921). Patriot und Visionär, Stuttgart 2007.