Der Ursprung Der Säugetiere')
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Der Ursprung der Säugetiere) Von EMIL KUHN-SCHNYDER (Zürich) (mit 16 Abbildungen im Text) gDie Form lst der Ausdruck ihrer Funktionen.» O. JAEKEL, 1902, p. 60 1859 erschien DARwrivs Werk: «Über die Entstehung der Arten durch natür- liche Zuchtwahl». DARWIN verknüpfte eine Fülle von Beobachtungen durch eine, grosse Idee: Tier- und Pflanzenarten sind veränderlich. Die heute leben- den Arten sind aus geologisch älteren Arten durch allmähliche Umwand- lung entstanden. Die Entwicklung der Pflanzen- und Tierwelt ist eine Tatsache. Diese Idee zündete wie ein Blitz. Sie war das Stichwort für eine neue, glän- zende Periode der Biologie. Naturgeschichte, statt Naturbeschreibung, wurde zum neuen Inhalt der Forschung. Jetzt hatte es einen Sinn, sich mit der Abstammung der Tiere zu befassen. Und sobald dieses Problem gestellt war, musste die Frage nach der Herkunft der Säugetiere, an deren Spitze der Mensch steht, brennend werden. Von allen Zweigen der Wissenschaft, die im Dunkel der Stammesgeschichte als Führer dienen wollten, erhob anfänglich die Entwicklungsgeschichte am stolzesten ihr Haupt. Galt doch. die Entwicklung eines Tieres vom Ei bis zur Geburt nichts weiter als ein verkürztes Abbild seines Stammbaumes. In der Entwicklungsgeschichte sahen viele nicht nur den Schlüssel zur Lösung aller vergleichend anatomischen Probleme, sondern auch den wahren Lichtträger in der Stammbaumforschung. Wie stand es um die Paläontologie? «Die Paläontologie ist für die Genea- logie-Bestimmung im Tierreich von geringem Wert», lautete eine der Thesen, die ANTON DOHRN 1868 zur Habilitations-Disputation der Universität Jena ein- gereicht hatte (1). Und auch für die Zukunft erhoffte man von der Paläonto- logie nicht viel. Diese ungünstige Prognose kümmerte die Paläontologen wenig. Sie waren vollauf damit beschäftigt, eine Fülle von Versteinerungen zu sam- meln und zu beschreiben, um mit ihrer Hilfe eine grossartige Geschichte der Erde ohne Jahreszahlen aufzubauen. Besitzt doch jede geologische Zeit ihre charakteristischen Versteinerungen. Hatte die Entwicklungsgeschichte den Stein der Weisen gefunden? — Nein. Ihrem Siegeslaufe folgte zu Beginn unseres Jahrhunderts eine Periode kriti- scher Prüfung. Am VIII. Internationalen Zoologen-Kongress zu Graz, im Au- gust 1910, sprach der grosse ERNST GAUPP, nach zwanzigjähriger, intensiver Arbeit, die der Entwicklungsgeschichte des Wirbeltierschädels gewidmet war, über «Die Verwandtschaftsbeziehungen der Säuger, vom Standpunkte` der Schädelmorphologie aus erörtert». Er kam zum Schlusse, dass die endliche Lösung phylogenetischer Fragen der Paläontologie überlassen bleibe. Aber 1) Aulavortrag an der Universität Zürich vom 22. Januar 1953. 166 Vierteljahrsschrift der Naturf. Gesellschaft in Zürich 1954 einer Paläontologie, fügte er bei, die sich nicht mit souveräner Nichtachtung über alles hinwegsetzt, was Biologie der rezenten Formen heisst, sondern die Arbeit auch dieser Forschungsrichtung anerkennt und sich dienstbar macht (2) . Was war gesChehen? Während die Entwicklungsgeschichte sich damit abge- müht hatte, darzutun, wie es in Wirklichkeit hätte gewesen sein können, flossen die Quellen der Paläontologie immer reicher. Und damit hielten verbesserte und neue Untersuchungsmethoden Schritt. Heute beherrscht sie die Erfor- schung der Stammesgeschichte höherer systematischer Einheiten. Theorie und B A Abb. 1 Haut und Embryo bei Reptilien und bei Säugetieren. A Schnitt durch die Haut eines Reptiles (Blindschleiche) kurz vor der Häutung. ep 1 alte Epidermis, ep 2 junge Epidermis, k Keimschicht. Nach W. SCHMIDT (1914). B Schnitt durch die Haut eines Menschen (Haarentwicklung). ep Epidermis, h Haar, h1 Ersatzhaar, m Muskel, t Talgdrüse. Nach M. CLARA (1943). C Ei mit dem zum Ausschlüpfen reifen Embryo der Zauneidechse. pa Scheitelauge. Dotter- sack abgeschnitten. Nach P. PEURTSCHELLERS zoologischen Wandtafeln. D Schnitt durch die menschliche Gebärmutter mit einem Embryo. e embryonale Blutgefässe des Nabelstranges, rn mütterliche Blutgefässe, p Plazenta, uw Gebärmutterwand. Nach T. I. STORER (1943). Jahrg. 99 E. KUHN. Der Ursprung der Säugetiere 167 Praxis der Biologie der lebenden Organismen kreisen um die kleinsten syste- matischen Begriffe. Sie beschäftigt sich vor allem mit den Ursachen der Um- prägung von Rassen und Arten. Damit sind die gegenwärtigen Untersuchungs- gebiete der beiden Forschungsrichtungen abgegrenzt. Die Paläontologie kennt zwar die vielseitige Sprache der Biologie der leben- den Formen nicht. Da von den Wirbeltieren meist nur Knochen und Zähne fossil erhaltungsfähig sind, ist ihr Untersuchungsmaterial unvollständig und beschränkt. Die Paläontologie kann beobachten. Die Paläontologie kann ver- gleichen. Es fehlt ihr die Möglichkeit des Experimentes. Dagegen besitzt sie den Vorteil untrüglicher, geschichtlicher Überlieferung. Zudem bringt sie eine gewaltige Erweiterung des Horizontes. Rund zwei Drittel aller Gattungen der Säugetiere sind nur fossil bekannt (3) . Unser heutiges Thema: Der Ursprung der Säugetiere, ist so vielschichtig und an Problemen so reich, dass wir trotz grösster Konzentration nur weniges her- ausgreif en können. Beherzigen wir bei unserer Untersuchung die mahnenden Worte von ERNST GAUPP: «Nur aus dem Zusammenwirken von Neontologie und Palaeontologie wird ein gesichertes Ergebnis zu erwarten sein» (1911, p. 240) . Lassen wir zuerst die rezenten Säugetiere sprechen. Die Bezeichnung Säugetiere erinnert daran, dass sie ihre Jungen nach der Geburt mit Milch ernähren. Während diese Ernährungsart der Nachkommen A C B D Abb. 2 Schädel einer Eidechse (Lacerta agilis L.): A von der Seite, B von unten. Schädel eines Säugetieres (Erinaceus europaeus L.): C von der Seite, D von unten. a Articulare, cl Dentale, q Quadratum, sq Squamosum, A, B nach W. K. PARKER. 168 Vierteljahrsschrift der Naturf. Gesellschaft in Zürich 1954 A Gehirn Schlund Abb. 3 Entwicklung des Mittelohres und der Gehörknochen. A Fisch, B Amphibium, C Reptil, D Säugetier (nur Ohrregion). a Articulare, d Dentale, hm Hyomandibulare, i Incus (Amboss), m Malleus (Hammer), q Quadratum, s Stapes (Steigbügel), sp Spiraculum, tm Trommelfell. Nach A. S. ROMER. bei allen Säugetieren gleich ist, gebären nicht alle lebende Junge. Die Kloaken- tiere legen wie die Reptilien dotterreiche Eier. Die lebendgebärenden Säuge- tiere sind ihnen überlegen. Sie bieten dem Keim nicht nur Nahrung und Wärme, sondern auch Schutz. Der Keim entwickelt siCh im Innern der Mutter. Alle Säugetiere besitzen Haare. Das Haarkleid schützt vor Wärmeverlust. Erst die Haare ermöglichen den Säugetieren, ihre Körpertemperatur in engsten Grenzen zu halten. Im Gegensatz zu den wechselwarmen Reptilien, deren Kör- pertemperatur von der Aussentemperatur abhängig ist, sind die Säugetiere Warmblütler. Vieles, was die Säugetiere charakterisiert, ist auf Rechnung der Warmblütigkeit zu stellen. Die Körpertemperatur liegt meist wesentlich über der Aussentemperatur. Dem Körper muss Wärme zugeführt werden. Deshalb wird die Nahrung gründ- lich ausgenützt. Das Kauen bereitet sie mechanisch vor (4) . Durch das Kauen kann der Speisezettel erweitert werden; auch pflanzliche Nahrung wird voll Jahrg. 99 E. KUHN. Der Ursprung der Säugetiere 169 2 n W 4 3 W 4 5 A B Abb. 4 A Fuss einer Eidechse (Varanus) mit der Phalangenformel 23454. B Fuss eines Säugetieres (Notharctus) mit der Phalangenformel 23333. F Fibula, T Tibia, I erster Strahl, V fünfter Strahl. verwertet. Gekaute Nahrung wird schneller verdaut; pro Zeiteinheit kann mehr Energie produziert werden. Ein Teil davon wird dem Körper als Wärme zugeführt. Und diese beschleunigt wiederum die Ausnützung der Nahrung. Die gesteigerten Leistungen des Verdauungskanals verlangen ein leistungs- fähigeres Herz und leistungsfähigere Lungen. Als Hilfsapparate für die At- mung funktionieren Brustkorb und Zwerchfell. Auch die Ausscheidungsorgane sind gegenüber denjenigen der Reptilien verbessert. Die Eigenwärme der Säugetiere beruht auf einer Kette von Leistungsstei- gerungen. Nun können sie den Kampf mit der Kälte aufnehmen und Lebens- räume besiedeln, die den wechselwarmen Wirbeltieren wegen der Temperatur- verhältnisse für immer verschlossen bleiben mussten. Die Auffassung, dass die Säugetiere die höchstentwickelten Tiere seien, ist also nicht ein Produkt der menschlichen Eitelkeit. Höherentwicklung ist steigende Emanzipation von der Umgebung (5) . VierteIjahrsschrift d. Naturf. Ges. Zürich, Jahrg. 99, 1954 12 170 Vierteljahrsschrift der Naturf. Gesellschaft in Zürich 1954 Varanosaurus Abb. 5 Entwicklung der Pelycosaurier und der Therapsiden. Nach E. H. COLBERT (1951), unter Benützung von Abbildungen bei A. S. ROMER and L. I. PRICE (1940) und A. S. ROMER (1945). Die absolute Körpergrösse ist nicht berücksichtigt. Lässt sich eine Brücke zwischen Reptilien und Säugetieren schlagen? Auf Grund der Kenntnisse der heute lebenden Formen muss man diese Frage ent- schieden verneinen. Es existiert kein lebendes «missing link». Die Zwischen- glieder müssen wir in der Vergangenheit suchen. Und da von ihnen nur Kno- chen und Zähne fossil erhaltungsfähig sind, kann die Paläontologie nur isolierte Beiträge zum Ursprung der Säugetiere liefern. Hier liegen ihre Grenzen. Jahrg. 99 E. KUHN. Der Ursprung der Säugetiere 171 Wie kann der Paläontologe erkennen, dass er Säugetierreste vor sich hat? Der Unterkiefer der Säugetiere besteht aus einem einzigen Knochen, dem Dentale. Dieses Dentale gelenkt am Schädel mit dem Schläfenbein oder Squa- mosum. Man spricht deshalb vom Squamoso-Dentalgelenk der Säugetiere. Der Unterkiefer der Reptilien setzt sich aus mehreren