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Der „erste Schrei nach Gerechtigkeit in Amerika“. Zur „Skandalpredigt“ gegen die Versklavung der Indígenas vor 500 Jahren von Antonio de Montesinos (21.12.1511)

Sehr geehrte Damen und Herren, am 21. Dezember vor genau 500 Jahren hielt der Dominikanerpater Antonio de Montesinos eine Predigt, über die der US-amerikanische Kolonialhistoriker Lewis Hanke den Titel setzt: Der erste Schrei nach Gerechtigkeit in Amerika. Versinnbildlich finden wir diesen Schrei Montesinos, dieses prophetische Rufen in der 15 Meter hohen Statue, die der Mexikaner Antonio Castellanos Basich (*1946) zum Gedenken an diesen Dominikaner schuf. Sie steht in der Hauptstadt der Dominikanischen Republik, , dem karibischen Meer zugewandt. In dieser Vorlesung möchte ich Ihnen die revolutionäre Predigt von Antonio de Montesinos vorstellen, indem ich sie in ihrem historischen Zusammenhang erläutere. Ein knapper Verweis auf die Gegenwart steht am Ende des Vortrags anhand des Kinofilms „También la lluvia“, Sogar der Regen.

Im September 1510 landeten die ersten Dominikaner auf der Antilleninsel, der Christoph Kolumbus den Namen La Isla Española gegeben hatte, „Die Spanische Insel“. Die Engländer gaben ihr den Spitznamen , Klein-Spanien. Die autochthone Bevölkerung, die Taíno, die man zu den Arawak-Ethnien des Karibik-Raums zählt, nannte die Insel Aytí, . Antonio de Montesinos war unter diesen ersten Dominikanern, zusammen mit Pedro de Córdoba. Andere Ordensmitglieder folgten ihnen1.

Diese Dominikaner-Patres waren nicht die ersten Missionare, die nach Hispaniola kamen2. Aber mit den Dominikanern brach eine neue Zeit in der Missions- und Kolonialgeschichte an. Sie reagierten nämlich auf eine bereits prekäre Situation in einer Weise, die Geschichte machen sollte.

Diese prekäre Situation wird durch drei Ereignisse charakterisiert, die ich im Folgenden schildern möchte. In ihnen manifestieren sich nämlich jeweils grundsätzliche Problemfelder. Diese Problemfelder bilden den entscheidenden Bezugsrahmen der Predigt Montesinos‘.

1 Am 3. Oktober 1508 hatte nämlich der Ordensgeneral Tomás de Vio Cajetan entschieden, dass insgesamt 15 Mitglieder des Ordens nach Haiti gesandt werden sollten, um dort das Evangelium zu verkünden. Der spanische König Ferdinand II. zeigte sich ihnen sehr gewogen; er ließ den Kolonialbehörden mitteilen, dass man diese Dominikaner mit wohlwollender Hilfsbereitschaft unterstützen solle (Höffner 1947: 146). 2 Seit der zweiten Reise von Christoph Kolumbus nach Westindien 1493 hatten bereits vorwiegend Franziskaner und andere Kleriker den Weg nach Haiti gefunden. 2

Das erste Ereignis: Wie als Menetekel über der künftigen Kolonial- und Missionsgeschichte muss der Untergang der ersten Siedlung des Christoph Kolumbus „Navidad“ auf Haiti erscheinen. Die Zerstörung der Siedlung führte nämlich zu einer überzogenen Darstellung der Kriegslust der karibischen Indios, die bei der Zerstörung eine maßgebliche Rolle gespielt haben sollen. Gleichzeitig wurden die eigenen Opfer verklärt. Vor allem aber bot die Zerstörung von Navidad das Motiv für einen gerechten Krieg. Der Gefangennahme und Versklavung von indigenen Bevölkerungsgruppen stand endlich nichts mehr im Weg. Das Kolonialunternehmen schlug in eine bewaffnete Invasion um. Bis heute gelten die Umstände des Untergangs dieser ersten Siedlung und des benachbarten Taíno-Dorfes unter der Führung des Kaziken Goacanagari als nicht bis ins letzte aufgeklärt. In einem Gutachten, das Franziskaner und Dominikaner 24 Jahre nach diesem Ereignis verfassten, wird die Attacke der Indios als gerechtfertigte Verteidigung qualifiziert. Sie hätten sich zu Recht gegen die Gewalttätigkeiten der ersten Eroberer zu Wehr gesetzt.

Die Frage nach der Rechtmäßigkeit, nach Recht und Gesetz von Kolonisation und Gewaltanwendung bilden den ersten Bezugspunkt der Predigt von Antonio de Montesinos.

Die paradigmatische Bedeutung eines zweiten Ereignisses bildet den zweiten Bezugspunkt. Bartholomeus Kolumbus, der Bruder von Christoph Kolumbus, reagierte mit Repressalien gegen die Indios, als bekannt wurde, dass sie christliche Kultbilder in der Erde vergraben hatten. Was sich für die Spanier als Akt der Blasphemie darstellte, war ganz gegenteilig motiviert: Die indigene Bevölkerung hoffte, durch das Vergraben von Kultgegenständen in der Erde eine bessere Ernte zu erreichen. Man hätte dieses Verhalten der Taíno geradezu als erste Tainisierung des Christentums betrachten können, als einen Inkulturationsversuch - bedenkt der Kirchenhistoriker Johannes Meier (1991: 208). Aber dafür fehlte das Verständnis bei Bartholomeus Kolumbus3. Dieses zweite Ereignis steht paradigmatisch für die Verbindung von Religion und Kolonisation, von Religion und Gewalt in der Neuen Welt. Antonio de Montesinos‘ Predigt wäre nicht von weitreichender Bedeutung, würde sie nicht darauf abzielen, diese unheilvolle Allianz zwischen Religion und kolonialer Repression zu zerschneiden. Er wird auch Kategorien anbieten müssen, um die Andersheit der indigenen Bevölkerung in grundsätzlicher Weise zu sichern. Damit kommen wir schon zu dem Problemfeld, das durch das dritte Ereignis angezeigt wird:

3 Die von ihm verhängten Repressalien trugen mit dazu bei, dass ihm die Kontrolle über die weitere Entwicklung der immer gewaltsamer werdenden Kolonisation entglitt. 3

Indios ermordeten ihre eigenen Stammesgenossen, die sich hatten taufen lassen. Sie galten ihnen als Verräter, als Überläufer zu den Spaniern. Diese Deutung der Ereignisse gibt der Dominikaner Bartolomé de Las Casas, der durch seine Historia de las Indias Weltruhm erlangte. Ohne ihn und seine Geschichtsbücher über die europäischen Anfänge in Westindien wüssten wir auch nichts von der Adventspredigt des Antonio de Montesinos4. Im Licht von Las Casas‘ Schilderung der Vorgänge musste die kirchliche Missionstätigkeit als Aufruf zum Verrat an den vitalen Interessen der indigenen Bevölkerung erscheinen. Montesinos fand sich also vor die Aufgabe gestellt, zu erklären, unter welchen Voraussetzungen die Hinkehr zum Christentum keinen Verrat an der indianischen Identität impliziert.

Fassen wir nochmals zusammen: Die genannten drei Ereignisse und ihre Implikationen markieren in fast symbolischer Verdichtung die prekäre Situation mit ihren brennenden Fragen, auf die die Gruppe der Dominikaner mit Antonio de Montesinos Predigt die Aufmerksamkeit lenken mussten. Das erste Ereignis impliziert die Frage nach dem Rechtsgrund für Kolonisation und Gewaltanwendung, das zweite nach dem Verhältnis von gewaltsamer Kolonisation und Religion, das dritte nach einem Christentum ohne Verrat an der indigenen Identität.

I.

Wenden wir uns zuerst den rechtlichen Fragen zu. Wie man in der Gegenwart die Vereinten Nationen oder eine Großmacht um Hilfe ersucht zwecks Klärung und Entscheidung völkerrechtlicher Fragen, so galt damals das geistliche Oberhaupt des Abendlandes, der Papst, als die richtige Adresse für derartige Angelegenheiten. Schon die Portugiesen baten bei ihren Eroberungen der westafrikanischen Küste Papst Nikolaus V. darum, die Rolle des obersten Lehnsherren dieser Gebiete zu übernehmen. In dieser Funktion sollte er den Portugiesen die entdeckten und noch zu entdeckenden Gebiete als Lehen übertragen. Man bediente sich dabei der aus dem Mittelalter bekannten Rechtsform des Auftragslehens. Als Spanien sich anschickte, seine Einflusssphäre im atlantischen Raum auszudehnen, war man in Madrid ebenfalls an einer völkerrechtlichen Regelung interessiert, zumal auch deshalb,

4 Las Casas korrigiert mit seiner Deutung der Mordmotive der Indios die Darstellung des Laienbruders Ramón Pané. Diese sollte im Auftrag von Kolumbus über die Taíno berichten. Das brachte ihm den Titel ein: erster Anthropologe Amerikas. Nach Panés Bericht sei die Ermordung der getauften Indios auf die Ablehnung des Christentums durch die anderen Stammesgenossen zurückzuführen: sie starben als Märtyrer. 4 weil Portugal Einspruch gegen die transatlantischen Aktivitäten seines Nachbarlandes erhob. 1493 kam es deshalb zu Verhandlungen. Der vierte in Madrid verfasste Textentwurf des Abkommens fand auch bei den Portugiesen Anerkennung und wurde am 4. Mai 1493 als päpstliches Edikt Inter cetera veröffentlicht. Das Edikt von Papst Alexander VI. (Rodrigo Borgia) besagt: Um das königliche Projekt der Unterwerfung und Missionierung der entdeckten Länder und Völker in weiter Fern mitten im Ozean mit noch größerem Eifer und Mut zu fördern, „schenken und übertragen und überweisen Wir Euch, den Königen von Kastilien und Leon, sowie Euren Erben und Nachfolgern für alle Zeit“ alle Länder und Inseln, die hundert Meilen westlich von einem zu bestimmenden Punkt der Azorischen und Kapverdischen Inseln liegen. Euch und Eure Nachfolger machen wir zu Herren dieser Gebiete. Am 7. Juni 1494 schlossen Spanien und Portugal den Vertrag von Tordesillas, in dem die Grenzziehung der Interessensphären nochmals neu zugunsten Portugals geregelt wurde5. Das Edikt des Borgia-Papstes charakterisierte man bald mit dem geflügelten Wort von der Weltverschenkung; man betrachtete es als Manifest einer ungeheuren Machtanmaßung. Bis in die Gegenwart hinein diskutiert man die rechtliche Natur dieses Edikts. Obwohl das Wort „donamus“ – wir schenken - im Text Verwendung findet, verschenkt der Papst dennoch nicht etwas, was er gar nicht im Sinn eines Privateigentümers oder Königs besitzt. Vorausgesetzt wird die hochmittelalterliche Vorstellung, nach der der Papst das eine Haupt der Christenheit ist, dem daher der ganze christliche Erdkreis gehört und der auch dem Kaiser sein Reich übergibt. Aber der Papst besitzt den christlichen Erdkreis auf geistig-geistliche Weise, nicht weltlich-real wie ein König sein Imperium oder jemand ein Baugrundstück, das man auch tatsächlich verschenken kann. Die Problematik des Edikts besteht darin, dass das Vorstellungsmodell von einer geistlichen Vormachtstellung des Papstes, die nur in einer christlich geprägten Welt möglich ist, auch auf Völker ausgedehnt wird, die weltanschaulich nicht zum christlichen Erdkreis gehören, aber doch völkerrechtlich als spanische Provinzen in der Neuen Welt betrachtet werden sollen. Kann der Papst dennoch auch diesen nichtchristlichen Völkern gegenüber als der oberste Lehnsherr auftreten? Theokratisch denkende Theologen und Juristen bejahten diese Frage. Sie bestärkten somit auch eine Deutung des Edikts im Sinn einer realen Schenkung der Neuen Welt durch den Papst an die Katholischen Könige Spaniens.

5 Gegenüber dem ursprünglichen päpstlichen Vorschlag im Edikt Inter cetera erbrachte der Vertag von Tordesillas eine westliche Verschiebung der Einflusszone zugunsten Portugals. Die spätere portugiesische Kolonisierung Brasiliens wurde dadurch möglich. 5

Das berühmt-berüchtigte Requerimiento des Kronjuristen Palacios Rubios, das 1513 verfasst wurde, bedient sich der theokratischen Deutung.6 Dieser Text gehörte zum Handgepäck der Conquistadores. Er sollte den Königen und Fürsten der indigenen Bevölkerung vorgetragen werden. Stießen die im Text formulierten Forderungen auf Ablehnung, war der Rechtsgrund für einen gerechten Krieg gegeben. Der Text argumentiert so: Gott hat den Apostel Petrus zum Herren und Meister über alle Menschen und Völker eingesetzt, auch über Mauren, Juden und Heiden, über die Angehörigen jeglicher Sekten und Glaubensbekenntnisse. Ein Nachfolger des Petrus, Papst genannt, „hat kraft seiner Herrschaft über die Welt“ Inseln und ozeanisches Festland den Katholischen Königen von Spanien, damals Don Fernando und Doña Ysabel sowie ihren Nachfolgern „zum Geschenk gegeben“. Die angesprochenen Indios sind folglich Untertanen der spanischen Regenten und zum Gehorsam verpflichtet. Missionarische Aktivitäten haben sie zuzulassen, wenngleich kein Glaubenszwang bestehen soll. Ungehorsam werde mit Krieg „auf alle nur mögliche Art“ geahndet. „Wir werden euch euer Eigentum nehmen, euch schädigen und euch Übles antun, soviel wir nur können…“

Die Dominikaner auf Haiti mussten in dieser rechtlichen Konstruktion den Ursprung aller Übel erkennen; sie öffnete der Gewaltanwendung und Ausbeutung der Indios Tür und Tor. Durch das Studium der Theologen ihres eigenen Ordens wussten sie, dass Geistesgrößen wie ein Thomas von Aquin und andere Scholastiker des Mittelalters ein alternatives Staatsmodell durchdachten, das sich auf die Natur des Menschen berief. Danach ist der Mensch nicht erst als Christ, sondern schon von seiner Natur aus ein soziales Wesen und deshalb auf das Zusammenleben in Familie, Gesellschaft und Staat hingeordnet. Eigentumsrecht und staatliche Gewalt setzen daher weder die Taufe noch eine päpstliche Übertragung des Eigentums voraus. An diese These konnten die Dominikaner anknüpfen und damit zu einem innovativen kolonialethischen und rechtstheoretischen Diskurs beitragen.

In der Tat werden viele Theologen und Juristen des 16. Jahrhunderts die theokratische Theorie von einer päpstlichen Weltherrschaft zurückweisen. Sie konnte sich dabei sogar auf den Kämpfer für die päpstliche Vormachtstellung, Papst Innozenz IV., berufen. Er bestätigte schon im 13. Jahrhundert das Recht nichtchristlicher Völker auf ihre eigene Herrschaft mit zugehörigem Territorialbesitz. „Der Papst ist nicht der Herr der Welt“, formuliert der

6 Der Kardinal von Ostia bei Rom, Heinrich von Segusia (+1271), lieferte bereits im 13. Jh. die argumentative Steilvorlage für dieses Requerimiento. Nach seinen liegt das Motiv für einen gerechten Krieg gegen die Heiden auch für den Fall gegeben vor, dass sie die Autorität des Papstes nicht anerkennen. 6 bedeutende spanische Rechtstheoretiker Francisco de Vitoria im 16. Jahrhundert. Er sagt das nicht, weil er die päpstliche Autorität ablehnt. Er möchte die päpstliche Autorität vielmehr – schon um ihrer selbst willen - eindeutig von der politischen Gewalt unterscheiden. Deshalb, so Vitoria, kommt dem Papst auch keine Herrschaft über die sogenannten Heidenstaaten zu; die Heiden sind keine Untertanen des Papstes. Es liegt nach Vitoria auch kein Grund für einen gerechten Krieg vor, wenn die Heiden sich weigern, den Papst als geistlichen Weltenherrscher anzuerkennen. Genauso wenig müssen sie sich der Weltherrschaft eines christlichen Kaisers unterwerfen.

Einen Weg zu diesen Einsichten eines kolonialethischen und rechtlichen Diskurses bahnten die Dominikaner in Española über die Bildung des Gewissens der Europäer angesichts der konkreten kolonialen Realität. An das Gewissen wendet sich die Predigt Antonio de Montesinos und berührt gleichzeitig diese grundsätzlichen Rechtsfragen.

Die Dominikanergemeinschaft wählte ihn zur Predigt aus, weil er muy colérico zu predigen wusste, mit heiligem Zorn sozusagen. Und man entschied gemeinsam, passend zur Adventszeit, der Predigt einen Text des Johannesevangeliums zugrunde zu legen, in dem Johannes der Täufer im wortwörtlichen Sinn vom Advent spricht, von der Ankunft des Messias. Mit einem Zitat aus dem Alten Testament, vox clamantis in deserto, aus dem Propheten Jesaja, charakterisiert das Neue Testament Johannes als prophetische Stimme, die in der Wüste zur Umkehr ruft, damit sich jeder auf den Advent, die Ankunft des Messias vorbereitet. Montesinos aktualisiert in seiner Predigt das Jesaja-Zitat. Nach dem Bericht von Las Casas legte er dar, wie „die Gewissen der Spanier dieser Insel eine unfruchtbare Wüste seien, wie blind sie dahinlebten, in welcher Gefahr ewiger Verdammnis sie stünden…“ Diese Gewissen will er, Montesinos, als „die Stimme Christi auf dieser Inseln“ aufrütteln. Er warnt sie vor: „so ungewohnt, so schroff, so hart, so schrecklich und gefährlich“ seien seine Worte für die Gewissen der Spanier. Um die Gewissen zu erschüttern, hält er seinen Zuhörern ihre Sünden vor, so dass sie zittern und sich wie am Tag des Jüngsten Gerichts fühlen, wenn sie vor Gott Rechenschaft über ihr Leben ablegen müssen. Er sagt:

„Ihr seid alle in Todsünde und lebt und sterbt in ihr wegen der Grausamkeit und Tyrannei, die ihr gegen jene unschuldigen Völker gebraucht. Sagt, mit welchem Recht und mit welcher Gerechtigkeit haltet ihr jene Indios in einer so grausamen und schrecklichen Knechtschaft? Wer hat euch Vollmacht gegeben, so verabscheuungswürdige Kriege gegen diese Menschen 7 zu führen, die ruhig und friedlich ihre Heimat bewohnten, von denen ihr unzählige durch unerhörte Mord- und Gewalttaten ausgelöscht habt? Wie könnt ihr sie so unterdrücken und plagen…“

Die Gerichtspredigt Montesinos führt mit diesen rhetorischen Fragen die Gewissen der Spanier an die rechtsphilosophischen Fragen heran, die sich angesichts der Realität, nämlich der unmenschlichen Behandlung der Indios neu stellen. Er kann diese Rechtsfragen nicht in einem theoretischen Diskurs entwickeln. Das hätte die Form einer Sonntagspredigt gesprengt. Für nicht wenige seiner Zuhörer hätte ein solcher Diskurs auch eine intellektuelle Überforderung dargestellt. Er nennt aber die entscheidenden Punkte. Er fragt nach „derecho“ und „justicia“, nach dem Recht und der Gerechtigkeit, durch die die grausame Knechtschaft der Indios legitimiert werden soll. Er fragt nach der Vollmacht für Conquista und Krieg gegen die Bewohner der entdeckten Territorien. Wenn die Indios in ihren „tierras mansas y pacíficas“ lebten, in ruhigen und friedlichen Gebieten, bieten sie überhaupt keinen Grund für einen gerechten Krieg. Eine Vollmacht liegt also nicht vor. Faktisch problematisiert Montesinos mit seinen Fragen nach der Vollmacht die theokratische Rechtskonstruktion. Er destabilisiert damit schon vorab die argumentative Grundlage jenes Requerimiento, das zwei Jahre nach seiner Predigt zur falschen Beruhigung der Gewissen von Eroberern und Siedlern verfassen wird.

Die heftigen Reaktionen auf die Predigt Montesinos motivierten die Dominikaner erst recht dazu, sich für eine Veränderung der rechtlichen Voraussetzungen der Kolonisation einzusetzen. Die ganze Stadt traf sich nach dem weniger vergnüglichen Mittagessen, so Las Casas, im Haus von Diego Kolumbus, dem Sohn des Christoph Kolumbus, darunter königliche Offiziere, Schatzmeister und Wirtschaftsprüfer. Man beschloss zu den Brüdern zu gehen, um von ihrem Oberen, Pedro de Córdoba, die Bestrafung des Predigers zu verlangen, und zwar wegen der ungeheuerlichen „doctrina nueva“, der neue Lehre, die man nie zuvor gehört habe und die gegen die Herrschaft des Königs über dieses Land Indien hetze. Montesinos hätte ihnen den rechtmäßigen Besitz der Indios streitig gemacht, was nicht angehe. Pedro de Cordoba wimmelt die Gruppe um Diego Kolumbus zunächst geschickt ab. Schließlich ließ er doch Montesinos holen, erklärte aber, dass für den Inhalt der Predigt alle Brüder verantwortlich seien. Außerdem seien die Brüder der Überzeugung, dass sie nicht gegen den König gepredigt haben, sondern im Gegenteil ihm einen treuen Dienst erweisen, was auch 8 der König erkennen würde, wenn er nur um die entsetzliche Lage der Indios wüsste. Man kam überein, dass am kommenden Sonntag Montesinos erneut predigen werde, um seine Ausführungen zu präzisieren. Diego Kolumbus und die Seinen feierten diese Übereinkunft schon als Zugeständnis und erwarteten für den kommenden Sonntag einen Widerruf. Aber es sollte anderes kommen, noch schlimmer…

Die Erwiderung der Brüder zeigt, dass sie ihren König anerkennen. Schließlich ermöglichte er ihre Ankunft in Hispaniola. Aber diese Anerkennung enthält keine Zustimmung zu einem theokratischen Rechtssystem. Freilich - die erste Reaktion von König Ferdinand zeigt, dass er die Form, in der die Ordensbrüder ihm einen Dienst erweisen wollen, überhaupt nicht schätzt. Im März 1512, drei Monate nach der Predigt schreibt König Ferdinand an Diego Kolumbus und erwähnt in seinem Brief die skandalöse Predigt Montesinos‘. Er bedient sich in seiner Erwiderung der theokratischen Deutung der päpstlichen Herrschaft und interpretiert die sogenannte päpstliche Schenkung Amerikas an ihn als privatrechtlichen Akt. Die Besitzergreifung des indianischen Landes, den gerechten Krieg gegen seine Bewohner und deren Knechtschaft verteidigt er7. Er kommt zu der Schlussfolgerung, dass die „dañada opinión“, die verderbliche Meinung der Dominikaner ihren Grund nur in einer mangelnden Information über die Rechte des Königs und die Legitimität der Arbeitsverpflichtung haben können8.

Trotzdem ließen sich Montesinos‘ Worte nicht mehr aus der Welt schaffen. Ab 1512 belebte sich der kolonialethische und rechtsphilosophische Diskurs zusehends. Die verschiedenen Interessensgruppen entsandten ihre Wortführer nach Spanien, unter ihnen Montesinos. Die Partei der Kolonisten ließ sich durch den Franziskaner Alonso de Espinal vertreten. Beider Reden vor dem König führten jedoch zu keinem Ergebnis. Deshalb berief der König die Junta von Burgos ein, zu der Juristen und Theologen gehörten, um eine Entscheidung voranzubringen9. Doch die Kommission und die auf der Grundlage ihrer Ergebnisse promulgierten Gesetze von Burgos (1512) brachten keine an der Wurzel anpackende Wende.

7 Außerdem hatte sich der König erfolgreich 1501 und 1508 um den päpstlichen Auftrag bemüht, das Patronatsrecht in der Neuen Welt zu erlangen, d.h. Ferdinand erhielt das Recht, die Kirche zu organisieren, die Bischöfe zu ernennen und die finanziellen Ressourcen für diese Missionstätigkeit sicherzustellen. 8 Ferdinand setzt auch den Provinzial der Dominikaner, Alonso de Loaysa, über die Vorgänge in Santo Domingo in Kenntnis, woraufhin dieser ebenfalls zur Feder greift und im Sinn des Königs seine Mitbrüder ermahnt. 9 Während der Beratung verfasste Matías Paz die Abhandlung De dominio regum Hispaniae super Indios (Über die Herrschaft der Könige Spaniens über die Indianer). Er diskutiert Grundlagen und Art der königlichen Herrschaft und verteidigt die Rechte der Indios auf Freiheit und Eigentum. 9

Man argumentierte geschickt vom Patronatsrecht aus, das der König 1508 vom Papst für das „westliche Indien“ erhalten hatte, und leitete von da alle legislativen Kompetenzen ab.

Bevor wir diese rechtliche Problematik weiter verfolgen, hören wir nochmals einen weiteren Abschnitt der Predigt Montesinos:

„Wie könnt ihr sie so unterdrücken und plagen, ohne ihnen zu essen zu geben, noch sie in ihren Krankheiten zu pflegen, die sie sich durch das Übermaß an Arbeit, die ihr ihnen auferlegt, zuziehen, und sie dahinsterben lassen, oder deutlicher gesagt, töten, nur um täglich Gold zu graben und zu erlangen? Und welche Sorgfalt wendet ihr auf, um sie zu lehren, dass sie Gott, ihren Schöpfer, erkennen, getauft werden, Messe hören, Feiertage und Sonntage halten? Sind dies denn keine Menschen? Haben sie nicht vernunftbegabte Seelen? Seid ihr nicht verpflichtet, sie zu lieben wie euch selbst? Versteht ihr das nicht? Fühlt ihr das nicht? Was für ein tiefer Schlaf, welche Lethargie hält euch umfangen? Seid sicher, dass ihr in diesem Zustand, in dem ihr euch befindet, genauso wenig das Heil erlangen werdet wie Mauren und Türken, die den Glauben an Jesus Christus nicht haben und auch nicht wollen!"

In den ersten beiden rhetorischen Fragen spielt Montesinos auf die grausame Realität der sogenannten an. Die rechtliche und wirtschaftliche Institution der Encomienda bildete den Hauptstreitpunkt bei den Diskussionen in Burgos; sie stand im Mittelpunkt der spanischen Gesetzgebung. Bei der Encomienda handelt es sich um die Kopie einer europäischen Rechtsform, der Kommende, die in Europa über Jahrhunderte hinweg eine selbstverständliche Form der Grundherrschaft darstellte. Einer dritten Person wurden Land und Leute, die es bewirtschafteten, anvertraut, lateinisch commendare; und man erhielt für die Oberaufsicht einen bestimmten Anteil der erwirtschafteten Einkommen. Adelige und Bischöfe beispielsweise finanzierten sich auf diese Weise. König Ferdinand vergab derartige Kommenden sehr großzügig in der Neuen Welt, da sie reichen Gewinn abwarfen und die Kolonisation des eroberten Territoriums finanzieren sollten. Man nannte die Kommenden zum ersten Mal in Haiti , nun abgeleitet vom spanischen Wort für anvertrauen, anempfehlen, encomendar10. Die Einrichtung einer Encomienda ging mit einer Indianerverteilung einher, mit dem sogenannten Repartimiento11. Beispielsweise erhielt ein

10 Das Formular, das eine Encomienda regelt, besagt: „Es werden Euch fünfzig, hundert usw. Indianer anvertraut, se os encomiendan, damit sie Euch bei Euren Landarbeiten und in den Minen dienen und sie in den Wahrheiten unseres heiligen katholischen Glaubens unterweist.“ 11 Dieses Repartimiento de indios wurden oft von den dazu verpflichteten Stammesführern vorgenommen. 10

Offizier 100 Indios, ein Bauer 30. Von Haiti verbreitete sich dieses Encomienda-System überallhin.12

Gegen dieses System der Indianeraufteilung, des Repartimiento und der Encomienda entlädt sich der heilige Zorn Montesinos. Nach Einschätzung der Dominikaner missbrauchen die Siedler das Encomienda-System ausschließlich zu ihrer Bereicherung; sie beuten die Indios aus und erfüllen in keiner Weise die Pflichten, die an sich mit dem Nutznieß verbunden sind. Auch die religiöse Unterweisung, zu der sie verpflichtet sind, entfällt. An Sonn- und Feiertage ist zu arbeiten. Selbst die Teilnahme am Gottesdienste wird nicht gestattet. Montesinos klagt seine Zuhörer wegen der von ihnen den Indios auferlegten excesivos trabajos an, wegen der übermäßigen Arbeit, an deren Folgen viele krank werden, sterben oder durch die sie in den Selbstmord getrieben werden. Töten durch Arbeit! In der Tat, die Bewohner Haitis wurden in wenigen Jahren geradezu ausgerottet13. Vor allem auch die eingeschleppten Krankheiten brachten die indigene Bevölkerung um. Vor diesem dramatischen Hintergrund fordert Montesinos Krankenpflege. Um die Situation aber grundlegend zu ändern, muss das Encomienda-System ganz verschwinden. Die Auflösung der Encomiendas – darauf lief nach Einschätzung der Zuhörer schon die erste Predigt Montesinos hinaus. Und sie haben ihn ganz recht verstanden. In der zweiten Predigt am 28. Dezember 1511 legt Montesinos nach. Las Casas überliefert die Predigt und die Reaktionen auf sie:

„Er hielt ihnen erneut das Unrecht der Unterjochung jener geplagten und heimgesuchten Völker vor und wiederholte seine Erkenntnis: Sie könnten jede Hoffnung um das Heil ihrer Seelen aufgeben. Um dessentwillen und damit sie sich noch rechtzeitig bekehrten, ließen die Brüder sie wissen, dass sie Leuten wie ihnen keine Beichte mehr abnähmen; das gelte nicht nur jenen, die auf Beutezüge ausgingen, sondern ihnen erst recht. … Nach der Predigt ging er in sein Kloster, und das ganze Volk blieb aufgebracht in der Kirche zurück, murrend, noch weit zorniger gegen die Mönche als vorher, weil es sich in seinen eitlen und widersinnigen Hoffnungen auf einen Widerruf getäuscht fand. Als ob durch einen solchen Widerruf des

12 Joseph Höffner, der ehemalige Erzbischof von Köln, erwähnt in seiner Studie 1947 publizierten Studie über die spanische Kolonialethik die süddeutschen Bauernkriege von 1524-25, um zu illustrieren, welche soziale und ökonomische Sprengkraft schon in der Alten Welt in dieser Form europäischer Grundherrschaft der Kommende liegen konnte, deren Kopie man nun in der Neuen Welt ganz selbstverständlich implementierte. 13 Danach schleppte man die Bewohner Kubas heran und die der übrigen großen Antillen. Man ging auf Indianerjagd. 11

Bruders Gottes Gesetz aufgehoben würde, gegen welches sie durch Unterdrückung und Ausrottung dieser Völker laufend verstießen.“

II.

Die Verweigerung der Absolution – diese Aussicht traf die Siedler in ihrer selbstverständlichen Katholizität mit aller Schärfe. Erst eröffnen ihnen die Dominikaner, sie lebten im Stand der Todsünde. Dann verweigern sie den einzigen Ausweg aus dieser dramatischen Lage: Beichte und Lossprechung. Für einen überzeugten Katholiken bedeutete das Verharren in der Todsünde: Trennung von Gott und Kirche und nach dem Tod ewige Verdammnis und Höllenqualen. Gott oder Gold, Heil oder Wohlstand. Montesinos stellt alle vor die Wahl. Die Zuhörer mussten das Gefühl haben, dass ihnen der Boden ihrer ganzen Existenz unter den Füßen weggezogen wird.

Die Verweigerung der Absolution, aber auch die Kritik des Encomienda-Systems machen ernst damit, Religion und Kolonisation voneinander zu scheiden. Wir kommen damit zu dem zweiten Problemfeld, das Verhältnis von Religion und gewaltsamer Kolonisation, das den Bezugsrahmen der Predigt Montesinos darstellt. Die Dominikaner stellen mit ihrer Verweigerung der Absolution die selbstverständliche Verbindung von Religion und profitabler, gewaltsamer Kolonisation in Frage. Für diese selbstverständliche Verbindung ist Christoph Kolumbus ein erstes prominentes Beispiel Er vertraut seinem Tagebuch an, dass er von den katholischen Königen Spaniens nach den Gebieten Indiens entsandt wurde, um zu erkunden, wie man die dortigen Einwohner zum katholischen Glauben führen könne. Kolumbus, der Missionar. Aber natürlich zielt die Reise auf Gold und Geld, auf wirtschaftlichen Erfolg. Entdeckung, künftige Kolonisation und Mission – alles passt zusammen14. Ebenso verbanden Kleriker und Ordensleute das gewinnträchtige Encomienda- System mit der Mission. Alonso de Espinal, der Vertreter der Siedler in Burgos, war Encomendero, Bartolomé de Las Casas ebenfalls.

Las Casas konnte deshalb selbst erfahren, dass die Dominikaner mit ihrer Drohung ernst machten und denen die Absolution verweigerten, die ihre Indios nicht frei ließen und nicht

14 Genauso selbstverständlich formuliert der Text zur Einrichtung einer Encomienda, das die Indios aufgeteilt werden, um in der Landwirtschaft und in den Bergwerken zu arbeiten und zwecks Glaubensunterweisung. Die Gesetze von Burgos wenden sich gegen die Abschaffung der Encomienda, wie von Montesinos gefordert, damit die Indios durch das Zusammenleben mit den Siedlern den Glauben lernen. Was wie blanker Zynismus klingt, war durchaus ernst gemeint. 12 in dieser Hinsicht Kolonisation und Mission trennten15. Las Casas tat das, was anderen geradezu utopisch erschien und einem wirtschaftlichen Selbstmord glich. Er gab seine Encomiendas auf und wurde zum Verteidiger der indigenen Bevölkerung. Als er 1544 von Karl V. zum Bischof von Chiapas im heutigen Süden von Mexiko ernannt wurde, versuchte er ebenfalls, die Beichtpraxis, die ihn hat umkehren lassen, in seinem Bistum durchzusetzen. Die Umkehr von Encomendores ließ jedoch auf sich warten. Er scheiterte. Es ließ sich keine Widerstandskraft aus dem christlichen Glaubensgewissen gegen die Encomienda und die kolonialistische Instrumentalisierung des Glaubens gewinnen. Die Glaubensüberzeugung konnte allenfalls zu einer Humanisierung der Encomienda anleiten. Darauf zielten – vergeblich - die Gesetz von Burgos 1512 und Valladolid 1513. Las Casas überliefert, dass die Dominikaner um Montesinos und Pedro de Cordoba nie eine eigene Encomienda anstrebten und in vorbildlicher Weise bescheiden lebten16. 1542 erreichten die Dominikaner eine weitgehende Einschränkung der Encomiendas und das Verbot, neue einzurichten. Diese sogenannten Neuen Gesetze waren es, für die man Las Casas in Chiapas besonders hasste. Die Umsetzung der Gesetze wurde freilich vereitelt.

Zur Entflechtung von Mission und Kolonisation im Encomienda-System bemühten sich Orden, ihre Mission von der Kolonisation durch die Spanier abzukoppeln und sogenannte Reduktionen zu schaffen. Diese Projekte scheiterten. 1513 erhielt Montesinos die königliche Erlaubnis, die Mission in fortzusetzen fern ab von Sklavenhändlern und Siedlern. Eine Krankheit hinderte ihn daran, an der Mission teilzunehmen. Das rettete ihm Leben - vorläufig. Denn nur wenige Monate nach Missionsbeginn wurden die beiden Dominikaner, die Montesinos begleiten sollte, von Indios getötet. Das Motiv: Ein Gruppe Sklavenjäger aus Hispaniola hatte die Dominikaner in ihrer Mission aufgespürt. Die Indios, die im Kontakt mit den Dominikanern standen, darunter der getaufte Stammesführer Alonso samt Frau, wurden

15 Las Casas war 1502 in Hispaniola gelandet. Als Soldat beteiligte er sich an Feldzügen, um die letzten freien Taíno unter die spanische Oberhoheit zu zwingen. Sein Entgelt war eine Encomienda, Land und Indios. In Rom wurde er 1507 zum Priester geweiht. Im Jahr der Predigt Montesinos, 1511, nahm er als Feldkaplan am Kampf auf Kuba gegen die dortigen Taíno teil. Er bemühte sich im Krieg bereits als Friedensstifter. Wieder erhielt er eine Encomienda. Aber der Krieg veränderte ihn. Er wurde erschütterter Zeuge einer Hinrichtung. Man verbrannte den Kaziken der Provinz, Hatuey, bei lebendigem Leib. Las Casas überliefert die letzten Worte des kubanischen Kaziken. Ein Franziskaner, der Hatuey noch vor der Exekution zum christlichen Glauben führen wollte, erklärte ihm, dass gute Christen in den Himmel kommen. Darauf antwortete der Stammesführer nur: Dann wolle er lieber nicht in den Himmel kommen, sondern in die Hölle, nur um derartige grausame Menschen nicht sehen und mit ihnen zusammen sein zu müssen. 16 In ihren Ohren klang es wie ein Hohn, wenn im Prolog des Gesetzes von Burgos festgestellt wurde, dass eine indianische Neigung zum Müßiggang und viele Laster ihre Bekehrung behindere. Denn lasterhaft erschien ihnen die Jagd der Siedler nach Gold und Geld. 13 mit freundlichen Gesten auf das Schiff der Sklavenjäger geladen. Einmal an Bord lichtete man die Anker und entkam nach Santo Domingo. Montesinos setzte alles daran, die entführten Indios frei zu bekommen. Nur so konnte er seine bei den Indios in Venezuela zurückgebliebenen Mitbrüder retten. Sein nochmaliger Schrei um Freiheit für die Indios verhallte. Die Sklavenjäger wurden von den Behörden gedeckt. Die beiden Dominikaner mussten sterben. Antonio de Montesinos fand am 27 Juni 1540 ebenso in Venezuela den Tod, es heißt - als Märtyrer. Ereilte ihn ein ähnliches Schicksal wie die beiden Mitbrüder? Wir wissen es nicht. Aber der Verdacht drängt sich auf. Wie sein Leben dem Leben der Indios galt, so sicherlich auch sein Tod. Die beabsichtigte Entflechtung von Religion und Kolonialsystem und dessen Überwindung blieben eine zukünftige Aufgabe.

III.

Ein Thema der Predigt von Antonio de Montesinos blieb bislang ausgespart, das sich wieder in rhetorische Fragen kleidet: „Sind dies denn keine Menschen? Haben sie nicht vernunftbegabte Seelen? Seid ihr nicht verpflichtet, sie zu lieben wie euch selbst? Versteht ihr das nicht?“ Montesinos schlägt mit diesen Fragen ein philosophisch und theologisch hoch brisantes Thema an, das im 16. Jahrhundert intensiv diskutiert wurde: die Frage nach dem vollen Menschsein der Indigenen, nach ihrer Würde und kulturellem Status. Lässt sich diese Frage nicht positiv beantworten, muss in der Tat die Konversion zum Christentum als Verrat erscheinen; die Ermordung getaufter Indios durch andere scheint konsequent. Wir kommen damit zum dritten Problemkreis, in dem Montesinos‘ Predigt steht.

Homunculi, Menschlein, nannte man die Indios verächtlich. Juan Ginés Sepúlveda (1490- 1571), von Karl V. ernannter Geschichtsschreiber, hat sich ab 1547 sehr damit hervorgetan, das verminderte Menschsein der Indios zu begründen. Bei den Beratungen in Burgos 1512 fuhr der königliche Hofprediger Gregorio Antonio de Montesinos höhnisch an: „Ich werde euch aus Eurem heiligen Thomas beweisen, dass die Indianer mit eiserner Rute regiert werden müssen…“ Da nämlich empirisch feststeht, so Gregorio, dass die Indios „ohne Urteilskraft und Einsicht“ sind, nicht mehr als „sprechende Tiere“, deshalb sind diese „Barbaren und Waldmenschen“ unter das Joch einer tyrannischen Herrschaft zu zwingen. Das Schwache braucht starke Führung. Die Taufe musste deshalb als Anerkennung der europäischen Tyrannei erscheinen. Dementsprechend mussten Montesinos und seine Mitbrüder eine Theologie von der menschlichen Würde der Indios entwickeln. Auch in Rom 14 fanden die Dominikaner damit Gehör. 1537 veröffentlicht Papst Pius III. mehrere Schreiben wie das Breve Pastorale officium und die Bulle Sublimis Deus, in denen er das volle Menschsein der Indios herausstellt, ihre massenhafte Versklavung als schweres Unrecht brandmarkt und ihre Mission durch beispielhaftes Leben der Europäer und religiöse Unterweisung verlangt17.

In seiner Predigt bietet Montesinos keine komplexe philosophisch-theologische Argumentation zur Begründung der Menschenwürde der Indigenen. Montesinos setzt in der Predigt auf eine unmittelbare Evidenz: Die Indios sind Menschen. Das kann man, wenn man will, verstehen, fühlen, spüren. Diesen Menschen gegenüber gilt das Gebot der Nächstenliebe, was alles Unmenschliche verbietet. Eine Theologie, die an dieser Einsicht ansetzt, wird versuchen, konzeptionell zur Befreiung alles Unmenschlichen beizutragen. Der Begründer der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, Gustavo Gutiérrez, erkennt in Montesinos einen Vordenker dieser Art von Theologie. Nur durch den Rekurs auf das volle Menschsein der indigenen Bevölkerung legt man den Grundstein dafür, dass die Konversion zum Christentum nicht zum Verrat an indigener Identität verkommt. Auf diesem Grundstein sind dann viele andere Elemente aufzurichten, die hier noch nicht im Blick sind.

Montesinos holt in seiner Predigt noch zu einem weiteren gedanklichen Schlag aus, der heute durch den verwendeten Vergleich missverständlich klingen mag. Auffällig ist sofort, dass Montesinos seinen sprachlichen Stil wechselt. Er stellt keine rhetorischen Fragen mehr. Er kommt zu seiner anfänglichen Behauptung zurück, dass alle Anwesenden im Stand der Todsünde lebten. Die rhetorischen Fragen haben die Begründung für die Behauptung erbracht. Sie wird abschließend nochmals intensiviert durch einen klaren affirmativen Aussagesatz: „Seid sicher, dass ihr in diesem Zustand, in dem ihr euch befindet, genauso wenig das Heil erlangen werdet wie Mauren und Türken, die den Glauben an Jesus Christus nicht haben und auch nicht wollen.“ Montesinos bringt seinen Zuhörern nochmals zu Gewissheit, dass sie durch ihren Umgang mit den Indios den Kontakt mit Gott verloren haben. Auf ihre Taufe können sie sich nichts einbilden. Sie verraten ihre Taufe. Sie sind faktisch den Ungetauften gleich, nein, schlimmer noch, sie sind wie Mauren und Türken, wie Muslime, die an sich von Christus gehört haben, es also besser wissen könnten, ihn aber

17 Allerdings muss man bis zum 19. Jahrhundert warten, bis jede Form der Sklaverei päpstlich sanktioniert wird. Auch Denker der Aufklärung wie John Locke, David Hume und Voltaire verteidigten noch die Sklaverei als naturgegeben, bis Jean-Jacque Rousseau sie als naturwidrig verurteilt. 15 bewusst ablehnen, ja bekriegen. Es wäre unzutreffend, diese rhetorische Wendung Montesinos als antimuslimische Propaganda misszuverstehen. Der Kern der Aussage ist: Ihr Siedler gehört zu den ausdrücklichen Gegnern Christi. Die Stimme Christi exkommuniziert euch wegen der Häresie der Unmenschlichkeit18. Diese provokative Umkehrung der Verhältnisse – der Heide ist der wahre Christ, der Christ ist der Gotteshasser – zielt auf die Umkehr der offiziell schon Bekehrten. Böse Zungen könnten in dieser Wendung eine Abwertung der Taufe erkennen, was Montesinos nicht intendierte. Er wusste nur, dass die Mission nicht allein den Indios, sondern zuerst den Europäern gelten musste.

Der Schlussakkord der Predigt Montesinos deutet eine Theologie der Moderne an. Der Mensch steht im Mittelpunkt, nicht als Maß aller Dinge, aber als Mindestmaß für Humanität. Mehr noch: Der Arme, Geschundene steht im Mittelpunkt, der Fast-Nicht-Mensch, der angeblich minderwertige Hominide, das Menschelein „homunculus“. Von ihm aus ist rechtphilosophisch zu denken, das Verhältnis von Kolonisation und Mission neu zu bestimmen und theologisch-pastoral anzusetzen. Sicherlich, Montesinos und Kollegen denken im Horizont ihrer Zeit – wie sonst? Aber sie gehen zugleich über viele Selbstverständlichkeiten hinaus. Sie bringen ihre europäische Prägung mit und beginnen doch von ihr aus sich auf den Anderen in seiner Prägung zuzubewegen. Niemals stellen sie ihre Mission in Frage, beziehen sie aber zuerst auch auf sich selbst.

IV.

Überaus beunruhigend ist, dass Montesinos Predigt immer noch aktuell ist. Um dies exemplarisch zu demonstrieren, wurde 2010 unter der Regie der Spanierin Icíar Bollaín Pérez-Mínguez der Film „También la lluvia“, Sogar der Regen, gedreht. Sogar das Regenwasser soll man bezahlen – so lautet der empörte Schrei von Menschen in der bolivianischen Stadt Cochabamba. In Bolivien kam es tatsächlich im Jahr 2000 wegen der Privatisierung des dadurch nicht mehr bezahlbaren Wassers zu heftigen Auseinandersetzung zwischen der marginalisierten indigenen Bevölkerung und profitierenden Interessengruppen. Der Film erzählt von diesem Aufstand. Der Film erzählt von einem Film, den man über die Landung des Christoph Kolumbus drehen wollte und in dem die Predigt Montesinos zu hören sein sollte. Der Film erzählt vom Scheitern, den Film zu drehen. Er scheitert an den sozialen

18 Las Casas wird noch einen Schritt weitergehen, indem er sagt, er habe das Antlitz des leidenden Christus am Kreuz in den Gesichtern der ungetauften, ausgebeuteten Indios erkannt, nicht aber in ihren getauften Peinigern. 16

Problemen der Gegenwart: an Problemen, die an diejenigen erinnern, die Montesinos vor 500 Jahren seine Stimme in der gewissenlosen Wüste der Isla Española erheben ließ.

Schauen wir uns zum Schluss die Szene der Predigt an, deren Vortrag noch geprobt wird. Leider ist der Film weder mit deutscher Synchronisation noch mit deutschsprachigen Untertiteln erhältlich. Darum die folgenden dreieinhalb Minuten auf Spanisch mit englischen Untertiteln. Den wichtigsten Teil, den Predigttext, kennen Sie bereits.