Manfred Kopp Flieger ohne Flügel Durchgangslager (Luft) und Auswertestelle (West) 1939 –1945 Sonderdruck aus dem Jahrbuch des Hochtaunuskreis 2009 Sonderdruck aus dem Jahrbuch des Hochtaunuskreis 2009 Frankfurt am Main, 2008, 345 S., 17. Jg.

Manfred Kopp Flieger ohne Flügel Durchgangslager (Luft) und Auswertestelle (West) 1939 –1945

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Verein für Geschichte und Heimatkunde Oberursel e.V. 61440 Oberursel www.Ursella.Org Manfred Kopp Flieger ohne Flügel

Durchgangslager (Luft) und Auswertestelle (West) 1939 –1945

Luftkrieg sere Städte angreift, dann werden wir ihre Städte ausradieren!“ – Zwei Tage später gab Nach dem Einfall deutscher Truppen in Polen er London als Ziel frei! am 1. Sept. 1939 und der folgenden Kriegs- In einer Direktive des britischen Bomber- erklärung Englands und Frankreichs an das Command vom 21. 9. 1940 heißt es: „Ziel- Deutsche Reich forderte US-Präsident angriffe sollen jedoch stets in einem dicht be- F. D. Roosevelt die Kriegführenden auf, öf- bauten Wohngebiet mit dem Schwerpunkt fentlich zu erklären, dass sie unbefestigte möglichst großer Materialzerstörung durch- Städte und die Zivilbevölkerung nicht aus geführt werden, die dem Gegner die Wucht der Luft angreifen würden. und die Macht unserer Bomberstreitkräfte Hitler stimmte in seiner Rede vor dem demonstriert.“ Reichstag zu, er werde den Kampf nicht ge- gen Frauen und Kinder führen. „Ich habe Der Krieg erhielt in aller Schärfe eine dritte meiner Luftwaffe den Auftrag gegeben, sich Dimension: Den Luftraum! In den vier Jah- bei dem Angriff auf militärische Kräfte zu be- ren zwischen dem fluchtartigen Verlassen des schränken.“ Kontinents durch die britischen Truppen im England und Frankreich beteuerten feier- Juni 1940 und der Landung der alliierten lich und öffentlich den Vorsatz, den Krieg so Streitkräfte am 6. Juni 1944 in der Norman- zu führen, dass die Zivilbevölkerung und die die gab es auf dem Boden keine Front. Der Kulturdenkmäler geschont würden. Krieg fand im, am und aus dem Himmel Solche wohlklingenden Botschaften waren statt. Die britischen und später auch die US- jedoch schnell vergessen. Als die ersten Piloten starteten auf einem „heimatlichen“ Bomben fielen, wurden nicht nur Industrie- Flugplatz, ausgerüstet für den Luftkampf und anlagen und Flugplätze, sondern auch Kran- den Abwurf von Bomben auf Feindesland. kenhäuser, Schulen und Wohnsiedlungen ge- Dann ging es wieder zurück in die Heimat. troffen. Es begann zwischen den Gegnern Wenn jedoch die Granaten der deutschen das Spiel, das schon Kinder üben: „Wie du Flak oder das MG-Feuer eines Jägers den mir, so ich dir! – Das Unrecht, das ich erfah- „Tommy“ vom Himmel holten, dann kam re, gibt mir das Recht, selbst Unrecht zu der Boden, der gerade noch so weit unten tun!“ Die Eskalation der uneingeschränkten war, ganz nahe. Nach der Hektik vor dem Zerstörung nahm ihren Lauf, selbst wenn Absprung kam die Hilflosigkeit am Fall- z. B. am Anfang offensichtliche Navigations- schirm, kamen das Gefühl der persönlichen fehler vorlagen. Niederlage, die Angst vor dem Unbekann- Als Anfang August 1940 die Luftschlacht ten, die Sorge um die Angehörigen zu Hause über England begann, erklärte Hitler in einer und vor allem um das eigene Leben. Es gab Rede: „Und wenn die britische Luftwaffe un- keine Befehle mehr, was zu tun, was zu un-

254 Blick von der Hohemarkstraße zum Lager, links die „Vernehmungs-Enklave“, Mitte BUNA und rechts die Bara- cken des Durchgangslagers. Stand: Herbst 1942. terlassen ist: Entscheidungen mussten allein schaft auf unbestimmte Dauer eigentlich be- getroffen, die Konsequenzen allein getragen deutet. – Erst in der Einsamkeit der Zelle werden. Der Pilot war Flieger ohne Flügel! habe ich die Wandlung vom Soldaten zum Schließlich kamen Menschen, mitleidsvoll, Gefangenen, zum „Kriegie“, durchlebt. Als freundlich, manchmal auch offen feindselig ich dann im Stammlager Barth (Ostseeküste) und sagten, was eine Redensart war: „For war, schienen mir die Zäune höher als im you the war is over!“ , die Wachtürme bedrohlicher und die Wachsoldaten schwerer bewaffnet. Ich Durchgangslager Luft war so stolz gewesen, mit den Adlern zu flie- gen. Jetzt hatte man mir meine Würde ge- In der Regel war für alle Angehörigen der nommen. Ich war eine Null!“ oder der US-Air Force, die in Die Stammlager für die Gefangenen der Gefangenschaft gerieten, erstes Ziel das Luftwaffe, mehrheitlich der Alliierten, waren Durchgangslager Luft (Dulag) in Oberursel. im Osten des Reichsgebietes errichtet wor- Der Ort der Gefangennahme war gleichgül- den: Barth an der Ostseeküste westlich Stral- tig, ob Reichsgebiet oder Norwegen oder sund, Sagan 60 km östlich Cottbus, heute in Südeuropa, die Zugehörigkeit zur Luftwaffe Polen, und das Lazarett der Luftwaffe in war ausschlaggebend. In einer oft abenteuer- Obermassfeld (Thüringen). Im Durchgangsla- lichen Fahrt mit unterschiedlichen Transport- ger Luft in Oberursel war die zentrale Regis- mitteln ging es unter Bewachung nach Frank- trierung und Vernehmung. Von dort aus wur- furt/Main zum Hauptbahnhof, von dort wei- den die Gefangenen gruppenweise in die ter zum Bahnhof in Oberursel und mit der Stammlager überführt. Diese Eigenständig- Straßenbahnlinie 24 zur Haltestelle „Kupfer- keit und dieses Selbstbewusstsein einer Waf- hammer“. Manchmal blieb auch nur der fengattung war dem Reichsführer SS, Hein- Fußmarsch durch die Feldberg- und Hohe- rich Himmler, stets ein Dorn im Auge. Er ver- markstraße bis zum Ziel. suchte besonders im Blick auf die geregelte Leutnant Harry Crease, Pilot der kanadi- Behandlung und bei Fluchtunternehmen die schen Luftwaffe, beschreibt in seinen Erinne- Gefangenenlager in seinen Machtbereich zu rungen, was ähnlich auch für seine Kamera- überführen. Reichsmarschall und Oberbe- den gilt: „Während meines Aufenthalts im fehlshaber der Luftwaffe, Hermann Göring, Dulag Luft war ich so dankbar, daß ich über- konnte jedoch die Sonderstellung durchhal- haupt noch am Leben war, daß ich nicht da- ten. Auch die musste in der Regel rüber nachgedacht habe, was Gefangen- außen vor bleiben.

255 Weg dorthin von den Wachsoldaten nicht an der Flucht gehindert, sondern beschützt wer- den vor wütenden Frankfurtern, die „diese Mörder“ totschlagen wollten. Von dort wur- den sie per Bahn nach Wetzlar transportiert. Dem Kommandanten Oberstleutnant Becker hatte das Luftgaukommando das leerstehen- de ehemalige Flak-Lager „Klosterwald“ zuge- wiesen. Dort blieb das „Dulag Luft Wetzlar“ bis zum Ende des Krieges. Im Gästehaus der Siedlerschule waren ab Dezember In Oberursel war ab Herbst 1943 allein 1939 die ersten französischen und britischen Gefan- die Auswertestelle (West) mit ihren spezifi- genen untergebracht. schen Aufgaben tätig, auch wenn bis zum Ende der Name „Dulag Luft Oberursel“ ge- Die Zahl der Gefangenen, die wenige Tage, bräuchlich blieb. Der Luftwaffenführungsstab nur in Ausnahmefällen zwei bis drei Wochen, in Berlin hatte für die Aufklärung der gegneri- in Oberursel waren, nahm im Laufe des Krie- schen Strategie, der Funktionsweise von Na- ges deutlich zu. Waren es 1940 rund 800 Ge- vigationshilfen, die Festlegung der Zielorte fangene gewesen, 1942 schon 3000, 1943 u. v. m. diese Stelle eingerichtet. Hier sollten sprunghaft auf 8000 gestiegen und 1944 gar alle Informationen gesammelt, strukturiert 29 000, so haben insgesamt zwischen 1939 und ausgewertet werden, die für die eigene und 1945 mehr als 40 000 Gefangene die Angriffsplanung, für eine wirkungsvolle Ver- Tore des Dulag durchschritten. teidigung und die Einschätzung der gegneri- Bereits im Herbst 1943 musste das Dulag schen Stärke wichtig waren. Das Durch- Luft aus Platzgründen nach Frankfurt/Main in gangslager diente zunächst der Eingliederung den Grüneburgpark am Palmengarten verlegt der Kriegsgefangenen in das bestehende und werden. Für die Ortswahl war gewiss auch auszubauende Lagersystem, gab aber gleich- die Lage in der Innenstadt maßgebend. Die zeitig die Gelegenheit zur gezielten Informa- Verteidiger Frankfurts erhofften sich davon tionsbeschaffung durch Vernehmung. Diese Schonung vor feindlichen Bomben. Die Gen- und die intensive Arbeit der Beute- und fer Konvention aber verbot Gefangenenlager „im Feuer des Kampfgebietes“ (Artikel 9). Es gab keine Schonung, sondern eine Be- schwerde bei der Schutzmacht Schweiz. Die Piloten wurden zwar über das Lager infor- miert, Rücksichtnahme aber wurde nicht be- fohlen. Im März 1944 trafen Bomben das La- ger, zerstörten die meisten Baracken, und als noch ein brennendes Flugzeug mit seiner Bombenladung hineinstürzte, war das Ende für dieses Dulag gekommen. Weil die Gefan- genen in den Lagerbunkern untergekommen Vor dem Tagungshaus der Siedlerschule (heute: Jean- waren, waren nur zwei tote Offiziere zu be- Sauer-Weg 2), in dem die Kommandantur unterge- klagen. Etwa 500 Soldaten marschierten bracht war, die ersten Vernehmer im Gespräch mit nach Heddernheim und mussten auf ihrem Nachbarskindern Anfang 1940.

256 Nachrichtenauswertung (BUNA) erbrachten das Material, das täglich per Kurier nach Ber- lin geliefert wurde.

Vernehmung (Interrogation)

Im Genfer Kriegsrechtsabkommen (Abkom- men über die Behandlung von Kriegsgefan- genen) vom 27. Juli 1929, das auch im Deut- schen Reich wie bei den Alliierten Gültigkeit hatte, wird in Artikel 2 festgelegt, dass Kriegs- Zur Förderung des Gesprächsklimas gehörten Ausflü- gefangene „jederzeit mit Menschlichkeit be- ge von Gefangenen und einigen Wachsoldaten in den handelt und insbesondere gegen Gewalttä- Taunus, wie hier zum Feldberg (bis 1942). tigkeiten, Beleidigungen und öffentliche Neugier geschützt werden.“ Für eine Ver- wer erklärte diese Soldaten zu „disarmed nehmung mit dem Ziel der Informationsbe- enemies“, zu „entwaffneten Feinden“. Sie schaffung setzte der Artikel 5 einen engen waren keine POWs! Rahmen. „Jeder Kriegsgefangene ist ver- Die Vernehmung war weder durch Härte, pflichtet, auf Befragen seinen wahren Na- Misshandlung oder gar Folter zum Erfolg zu men und Dienstgrad oder auch seine Matri- führen. Nur Freundlichkeit, eine zwanglose kelnummer anzugeben … Es darf kein Atmosphäre, Einfühlungsvermögen und ho- Zwang auf die Kriegsgefangenen ausgeübt her Kenntnisstand vorab brachten Informa- werden, um Nachrichten über die Lage ihres tionen zur Aufklärung. Alle deutschen Offi- Heeres oder Landes zu erhalten. Die Kriegs- ziere, die in diesem Bereich arbeiteten, gefangenen, die eine Auskunft hierüber ver- brauchten als Voraussetzung vertiefte Kennt- weigern, dürfen weder bedroht noch belei- nisse des jeweiligen Landes und der Sprache, digt noch Unannehmlichkeiten oder Nach- von Sport, von Unterhaltung, von kulturellen teilen irgendwelcher Art ausgesetzt werden.“ Eigenarten. Sie sollten wissenschaftlich arbei- Entscheidend für die Gültigkeit des Abkom- ten können und über Kombinationsgabe ver- mens war zunächst die Anerkennung als fügen. Sie sollten ein hervorragendes Ge- Kriegsgefangener. So wurde jeder Soldat, der dächtnis haben, Teamgeist und Neugier. Die in Oberursel ankam, auf seine Identität über- Biographien der Vernehmer waren von gro- prüft, fotografiert und mit einer Nummer regi- ßer Vielfalt: Da war der Firmenvertreter, der striert. Blieben Zweifel an seiner „Echtheit“, jahrelang in Südafrika gearbeitet hatte. Da so wurde ihm ein besonderes Verhör durch war der Literaturprofessor aus Heidelberg, die Gestapo angedroht, die direkt neben dem der bei der Leibesvisitation von Gefangenen Lagerzaun am Eichwäldchenweg ihr „shelter“ gerne Passagen aus „Hamlet“ zitierte. Da (Schutzhütte) hatte. Dies kam einer Todesdro- waren Wissenschaftler, die mehrere Jahre in hung gleich. Spione wurden schnell liquidiert. USA oder in Großbritannien studiert oder ge- Als in den letzten Wochen des Krieges arbeitet hatten. Auch ein Mitglied der deut- abertausende von deutschen Soldaten in die schen Gesandtschaft in Brasilien war Interro- Gefangenschaft der Alliierten gerieten, ver- gator. Ein Dozent für englische Geschichte weigerten diese die Anerkennung als „Priso- von der Universität Gießen begrüßte jeweils ner of War“, um die Pflichten der Genfer die Neuangekommenen. Konvention zu umgehen. General Eisenho- Die beiden Kommandanten, Theo-

257 dor Rumpel (1939 –1941) und Oberstleutnant sorgte für den Rheinwein und den Cognac, Erich Killinger (1941 –1945) hatten ebenfalls obwohl Alkohol in Gefangenenlagern streng für ihre Aufgaben besondere Eignung: Theo- verboten war. Auf ausgedehnten Spaziergän- dor Rumpel war ausgezeichneter Flieger mit gen, z. B. zum Forellengut, führten Rumpel herausragenden Leistungen im Ersten Welt- und Day Gespräche, die Major Rumpel unter krieg in der Staffel von Hermann Göring, anderem Kenntnis der Einstellungen der bri- dann Kaufmann und Firmenvertreter in Nie- tischen Bevölkerung zum Krieg vermittelten. derländisch-Indien (Indonesien), perfekt in Harry Day bildete mit einer Gruppe ver- englischer, französischer und holländischer antwortungsvoller Offiziere einen „perma- Sprache, ein weltgewandter Gentleman. Erich nent staff“, einen „Leitungs-Stab“ für das La- Killinger hatte ebenfalls im Ersten Weltkrieg als ger. Er sorgte für die Begleitung der Neuan- Flieger gekämpft, war gleich zu Beginn in rus- kommenden, die noch unter dem Schock sische Gefangenschaft geraten und aus Sibi- des Absprungs standen. Der Stab sorgte für rien geflohen. Durch die Mandschurei und die Verpflegung. Er half, persönliche Proble- China, über Japan und durch die USA, me zu lösen. Im Kommen und Gehen des schließlich über Irland und Norwegen kam er Durchgangslagers mit seiner begrenzten Auf- nach 16 Monaten wieder bei seiner Einheit in enthaltszeit bildete er den ruhenden Pol. Der Kiel an. Er war also ein Soldat, der aus eigener deutsche Kommandant gab einen großen Erfahrung alle Schrecken und Herausforde- Entscheidungsspielraum. Da gemäß interna- rungen von Gefangenschaft kannte. Bevor er tionaler Vereinbarung Soldaten auch in Ge- am Beginn des Krieges zum Luftwaffenkom- fangenschaft „aktiv“ bleiben sollen und die mando nach Berlin geholt wurde, war er in Rangordnung weiter gilt, war Harry Day als der Wirtschaft, wo er, sprachbegabt und ver- ranghöchster Offizier der Vorgesetzte des antwortlich tätig, beachtlichen Erfolg hatte. – permanent staff. Das war insoweit eine expo- Beide Kommandanten waren übrigens nie nierte Position, dem Verdacht der Begünsti- Mitglied der NSDAP. gung durch die Deutschen ausgesetzt, als das Die Aufgabe der Vernehmung war schwie- Wohl der Gesamtheit des Lagers über dem rig, aber im Laufe der Monate wurden die oft sehr egoistischen Verhalten der Einzelnen Vorgehensweisen und die Techniken verbes- stehen musste. Die Anschuldigungen trafen sert und vervollkommnet. Der Anfang im De- H. Day sehr hart, auch diejenigen Offiziere, zember 1939 war noch fast familiär. Kom- die ihm später in dieser Funktion folgten. mandant Rumpel begrüßte den ersten briti- Im Ablauf der Registrierung der ankom- schen Gefangenen, Harry menden Gefangenen gehörte ein Fragebo- Day, mit den Worten: „Oberstleutnant Day, gen mit der Überschrift „International Red es tut mir sehr leid, daß wir uns auf diese Art Cross Committee, Geneva, Switzerland – Ar- begegnen, ich als ihr Kommandant, sie als rival Report Form“ und mit dem Zeichen des mein Gefangener. Seien sie versichert, daß Roten Kreuzes zum Ritual. Er wurde dem ich im Rahmen meiner Pflicht, sie in Gefan- Gefangenen vom Empfangsoffizier vorgelegt, genschaft zu halten, das Leben für sie und der den Eindruck eines Mitarbeiters des Ro- ihre Offiziere so vernünftig und so ,normal‘ ten Kreuzes erwecken wollte. Die Angaben wie irgend möglich machen will.“ Zu Weih- seien wichtig, um den Vorgang der Mittei- nachten 1939 waren zwölf Gefangene im La- lung, z. B. an die Angehörigen, ordnungsge- ger, Briten und Franzosen. Sie feierten ge- mäß abwickeln zu können. Die drei ersten meinsam mit einem Festessen, an dem zeit- Fragen entsprachen den Regeln der Genfer weise auch der Kommandant teilnahm. Er Konvention. Alle folgenden 26 Fragen gingen

258 darüber hinaus. Da wurde nicht nur nach den Angehörigen und deren Adresse gefragt, sondern auch nach dem Familienstand, dem Beruf, dem Verdienst und vielen Einzelheiten zur Luftwaffen-Zugehörigkeit und zu den Umständen des Absturzes. Fast alle Gefange- nen erkannten sowohl den Fragebogen wie die Zugehörigkeit zum Roten Kreuz als Fäl- schung und lehnten weitere Antworten über die ersten drei Fragen hinaus ab. Für den auf- nehmenden Sonderführer war dies Anlass zu strengen Ermahnungen oder Drohungen. Der Vorgang war jedoch in erster Linie ein Test zur Persönlichkeit, zur Charakterisierung des Gefangenen. Die Notizen auf der Rück- seite des Fragebogens waren wichtig. Sie nannten nicht nur den Namen des vorge- schlagenen Vernehmers, sondern auch mög- liche Ansatzpunkte für die Befragung. Die Unterbringung erfolgte in der Regel in Einzelzellen, um den Gefangenen in seinem Grübeln und Nachdenken allein, ohne Kon- takt zu Mitgefangenen, zu lassen. Erst nach Skizze einer Zelle (ca. 3 m x 2,10 m) in der jeder Ge- fangene vor und während seiner Vernehmungszeit der Vernehmung konnte er zum Durchgangs- allein eingeschlossen war. lager wechseln. Der Zellenbau wurde „coo- ler“ (Kühler) genannt. Um die Ergebnisse der Befragungen ver- zwanglose Gespräche, die auch wichtige In- gleichbar und auswertbar zu machen, waren formationen bringen konnten. Gelegentliche alle Vernehmer gehalten, sich an folgenden Besuche im Oberurseler Schwimmbad an Punkten zu orientieren: heißen Tagen brachten ebenfalls Kontakt- 1. Zu welcher Staffel oder Einheit gehörte möglichkeiten. Vor allem aber dienten solche der Gefangene und welche Funktion hat- „walks on parole“ – Ausgang auf Ehrenwort – te er dort? dem „Betriebsklima“ im Lager. Sie schufen 2. Ziel und Auftrag des Fluges, Ereignisse eine Atmosphäre gegenseitiger Wertschät- während des Fluges zung, auch wenn die Bedingungen sehr un- 3. Neue Ausrüstung (z. B. für Navigation) terschiedlich waren. Die Zugehörigkeit zur und neue Methoden des Angriffs Luftwaffe, der britischen wie der deutschen, 4. Verluste und Nachschub war ein weiteres Element solcher Wertschät- 5. Training und Verlegungen nach Europa zung. Trotz der stetig wachsenden Zahl der oder Afrika Befrager von 3 im Frühjahr 1940 bis zu 65 6. Moral der Truppe und in der Bevölkerung Ende 1944 wurde die Charakteristik der Ver- nehmungen beibehalten. Besonders in den Jahren 1940 – 42 gaben Insgesamt war für die zu lösenden Aufga- Ausflüge zu Zielen im Taunus wie Feldberg, ben der Auswertestelle die Abteilung „Ver- Sandplacken, Forellengut Gelegenheit für nehmung“ nur mit ca. 20 % beteiligt. Die

259 wesentlichen Daten und Informationen lie- der Inhalt der Taschen der Gefangenen bear- ferte die Beute- und Nachrichtenauswer- beitet: Ladelisten für Bomben, persönliche tung, die von Monat zu Monat erweitert, ver- Tagebücher, Notizen, die sich Piloten bei der vollständigt, ertragreicher wurde. Einsatzbesprechung gemacht hatten, Land- karten mit Einzeichnungen, Essensmarken Beute- und Nachrichtenauswertung (BUNA) für die Kantine, Namen und Adressen von Kameraden, Gruppenfotos, Ausweise und Eine sehr starke Ausweitung, Differenzierung vieles mehr. Es bestand zwar die strikte An- und Spezialisierung erfuhr die Arbeit der weisung, keinerlei Dokumente auf den Ein- BUNA. Zu Beginn des Krieges waren Leis- satz mitzunehmen, aber die Ausführung tungsfähigkeit der Flugzeuge und technische blieb lückenhaft. Ausrüstung auf niedrigem Stand. Auf beiden Eine besondere Kategorie bildeten die Seiten wurde energisch an Verbesserungen Fluchtmittel, die bei der Leibesvisitation ge- gearbeitet. Die Reichweite der Flugzeuge funden und kassiert wurden. So heißt es z. B. war zu verlängern, die Traglasten zu vergrö- im Kriegstagebuch des Abwehroffiziers (A. O.) ßern, die Orientierungshilfen zu verbessern, am 19. 6. 42 (S. 9): Fluchtkarte (auf Seide) – die Zielgenauigkeit zu erhöhen und die Be- unter der Einlegesohle links, 20 Gulden, waffnung zu verstärken. Im Wettlauf der Ent- 1000 frz. Francs – unter der Einlegesohle wicklungstechniker und der Luftstrategen rechts, eine Stahlsäge offen – im Hosenbund war es wichtig, die Fortschritte des Gegners rechts, eine Stahlsäge in Gummi – im Hosen- zu kennen. Aufklärung bekam einen hohen bund links, ein Kompass – im Hosenschlitz, Stellenwert. Die BUNA in Oberursel war Tabletten gegen Übermüdung – im Leibgurt. eine Zentrale solcher Aufklärung. In der Regel waren auch Passbilder des Flie- Alle Informationen zu den einzelnen Staf- gers in Zivil zu finden, die für die Ausweise feln der Royal Air Force, später auch der US- Flüchtender gebraucht wurden. Da die Foto- Airforce in England, wurden bei der Staffel- grafen auf den einzelnen Flughäfen stets bei Geschichte zusammengetragen: Auf wel- ihren „Kunden“ die gleichen Anzüge und Kra- chem Flugplatz war die Einheit stationiert? watten verwendeten, gaben sie den Auswer- Mit welchen Maschinen war sie ausgerüstet? tern Hinweise auf die Staffelzugehörigkeit. Wer war von den Offizieren, wer von den In der „Gelben Kartei“ waren einschlägige Mannschaften bekannt, z. B. durch Aus- Namen und biographische Daten, alphabe- zeichnungen? Welche Ausrüstungen standen tisch geordnet, die aus Zeitungsmeldungen, speziell dieser Staffel zur Verfügung, bzw. Verzeichnissen und zensierten Briefen stamm- wurden erprobt? ten. Auch diese Kartei war Hilfsmittel für die Die Sammlung der Unterlagen sollte mög- Vernehmer, um vertieftes Wissen über den lichst auch in Details breit angelegt sein. Sie Hintergrund der Gefangenen zu präsentieren. sollten eine Hilfe für die Vernehmung sein, Im Foto-Labor wurden nicht nur die Bil- zum einen um den Gefangenen zuordnen zu der entwickelt, die in der Aufnahme- und können, zum andern um bei ihm den Ein- Registrierungsroutine von den Gefangenen druck von großem Wissen zu erwecken. Die angefertigt wurden, sondern auch Filme aus Liste der Staffelzuordnung durch die Kenn- automatischen Kameras, die in abgestürzten zeichen auf dem Rumpf der abgestürzten Maschinen gefunden wurden. Maschinen war schnell entschlüsselt. In einem Kartenraum wurden nach In der „Auswertung Dokumente“ wur- gründlicher Auswertung alle Karten bereit ge- den das Bergungsgut aus den Wracks und halten, die für die Rekonstruktion von Flug-

260 Blick vom Gemeinschaftshaus des Siedlungshofes aus: links die drei Baracken des Durchgangslagers, in der Mitte schräge von vorn nach hinten langgestreckt die BUNA, dahinter die Vernehmungsbaracken, rechts die Kommandantur (früher Bieneninstitut und Tagungshaus). Die Baumreihe im Hintergrund gehört zur Hohe- markstraße. (Stand: 1944) routen des Feindes und seiner Ziele, sowohl der Anlage überhaupt verwertbares Material ausgeführt wie geplant, bedeutend waren. lieferten und wie lange sie funktionierten. Sie waren Hilfsmittel für die Vernehmer, vor Für die laufende Berichterstattung nach allem aber auch für die Planer von Abwehr Berlin, die täglich erfolgte, waren zwei „Lis- und Verteidigung im Führungsstab in Berlin. ten“ wichtig: Zum einen die im Angriffs- Eine vorzügliche Quelle der Aufklärung Raum erarbeitete aktualisierte Karte mit den waren die Funk-Abhör-Stelle und ihre Ar- britischen und amerikanischen Luftoperatio- beitsergebnisse. Im ersten Stock des alten nen, mit Zielen, Flugrouten, Zahl der betei- Gästehauses hatte Major Barth, der zufällig ligten Flugzeuge und Ergebnissen. Zum an- als Begleiter einer Gefangenengruppe im deren das Absturzverzeichnis: Jeder Absturz Frühjahr 1942 in das Dulag Luft kam, seine eines feindlichen Flugzeuges erhielt eine Empfangsgeräte aufgebaut. Er konnte den Nummer und eine Beschreibung mit Flug- Funkverkehr zwischen Bodenstation und flie- zeugtyp, Ort und Besatzung, Tote und Über- genden Maschinen abhören, ebenso wie den lebende (Gefangene). Dieses Verzeichnis war zwischen den Maschinen in der Luft. Rund auch die Grundlage für die Informationen, um die Uhr wurde von den sprachgewand- die der Zentrale des Internationalen Roten ten Mitarbeitern sowohl auf Band aufge- Kreuzes in Genf übermittelt wurden. zeichnet, wie stenografisch festgehalten und Wie eng Vernehmungen und BUNA mit- anschließend ausgewertet, was für die Auf- einander verzahnt waren, zeigt beispielhaft klärung wichtig war. Für die täglichen Berich- der Bericht eines Gefangenen, Oberleutnant te des Kommandanten zum Führungsstab W. A. Purcell, abgeschossen am 20. 7. 1944 nach Berlin waren dies wichtige Beiträge. in Belgien, zunächst geflohen, nach zehn Ta- Für das Lager selbst bestand zunächst die gen verraten und gefangen, schließlich im Absicht, die Schlafräume der Gefangenen Dulag Luft: und einige Gruppenräume mit Abhör-Mikro- „Im Verlauf der Vernehmung fragte mich phonen zu versehen, um aus den Unterhal- der deutsche Offizier, ich möge ihm doch tungen Informationen zu bekommen. Heute mal den Umgang mit dem fishpond (vermut- ist aber nicht mehr zu klären, welche Teile lich einer Navigationshilfe, M. K.) zeigen – Zu dieser Zeit streng geheim! Als ich ablehn-

261 bombardements der britischen Verbände ausführlich diskutieren. – Bei dieser Arbeits- weise waren die täglichen Lagebesprechun- gen der verantwortlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen eine unverzichtbare Vor- aussetzung. Mit der zunehmenden Zahl die- ser Mitarbeitenden wurde jedoch das Instru- ment so schwerfällig, dass die Irritationen in den einzelnen Arbeitsgebieten im Herbst 1944 deutlich zunahmen.

Die Bauten des Durchgangslagers

Im Herbst 1939 versuchte des Luftgaukom- mando XII in Wiesbaden Gelände südlich des Siedlungshofes zur Hohemarkstraße hin für ein Gefangenenlager zu erwerben. Die Gausiedlerschule, die erst vor wenigen Mo- naten durch Reichsorganisationsleiter Dr. Ro- bert Ley zum Reichssiedlungshof erklärt wor- den war, wollte kein Gelände abgeben, und die Luftwaffe musste mit Enteigung drohen. In einem Kompromiss blieb das Zentrum des Durchgangslagers vor dem Siedlungsbereich. Lage und Funktion der wichtigsten Gebäude, Stand Im Herbst 1939 nahm die Kommandantur Sommer 1944. Das Hauptdurchgangslager war zu im Tagungshaus der Siedlerschule Quartier dieser Zeit bereits in Wetzlar. (Plan 02). Das Gästehaus wurde eingezäunt, die Fenster vergittert, und die ersten französi- te, sagte er: ,Dann will ich’s ihnen zeigen.‘ schen, gefangenen Luftwaffenoffiziere konn- Wir gingen in den Raum nebenan, wo er ten einziehen. Zwölf kleine Zimmer waren einen fishpond aufgebaut hatte, der ord- im Erdgeschoss und Speise- und Aufenthalts- nungsgemäß arbeitete. räume im ersten Stock (Plan 01). Ab 1942 Soweit zu unserem streng geheim! – Er griff war in diesem Gebäude die Funk-Abhörab- dann zu einer Akte, 15 cm dick, beschriftet teilung untergebracht. 626. Staffel und zeigte mir Fotos von Wicken- Die Landesschützenkompagnie, die zur by, wo die Flugzeuge abgestellt waren. – Er Bewachung eingesetzt war, hatte den ständi- wußte mehr über die 626. Staffel als ich!“ gen Aufenthalt im Hotel „Waldlust“. Je nach Solche Situationen waren es, die die Ver- Dienstplan hielten sie sich im Wachhaus nehmer anstrebten: Der Gefangene bekam (Plan 06) auf. den Eindruck, dass die deutschen Offiziere Kommandant Theodor Rumpel übernahm sowieso schon alles wüssten. Dann könne seine Aufgabe am 7. 12. 1939 und betrieb man mit ihnen auch ganz offen reden. energisch den Bau von drei Baracken. Ein Am 24. 2. 1944 konnten zum Beispiel besonders harter Winter und die Knappheit Vernehmer die Arbeitsweise und den Einsatz von Baumaterial verzögerten die Fertigstel- der „Pfadfinder“ für die nächtlichen Flächen- lung bis in das Frühjahr 1940. In der westli-

262 chen Baracke waren 14 Zimmer mit Doppel- wurde „shelter“ (= Bunker) genannt. Von belegung sowie für den SBO (Senior British dort aus beobachteten die Beamten argwöh- Officer). Auch die Waschräume waren dort nisch das Lager. Sie wurden tätig, wenn ver- untergebracht. In der Mittel-Baracke befan- dächtige Personen, die ihre Zugehörigkeit den sich 15 Zimmer für je 15 Gefangene. zur feindlichen Luftwaffe nicht zweifelsfrei Hauptküche, Speise- und Aufenthaltsräume nachweisen konnten, vom Lager überwiesen sowie ein Lagerraum waren in der östlichen wurden. Dann gab es strenge Verhöre unter Baracke (s. Plan Ziff. 03). Das Gelände war Androhung der Todesstrafe und Einschluss im mit einem doppelten Stacheldrahtzaun und Bunker. Im Kriegstagebuch wird ausführlich drei Wachtürmen gesichert. eine Untersuchung im Mai 1943 beschrie- Durch ein Gatter und einen einfachen ben, die dem Verdacht nachgeht, Soldaten Zaun gelangte man auf die Schafweide des aus der Wachkompagnie hätten Postpakete Siedlungshofes, die für Sport, vor allem Fuß- und Päckchen unterschlagen. Die Eintragung ball, der Gefangenen genutzt wurde. Der am 9. Mai durch den Abwehroffizier beginnt Bretterverschlag, der als Stall für die Schafe mit dem erleichterten Satz: „Heute keine diente, war mehrfach Startpunkt für die Gestapo!“ Flucht Einzelner, weil der Zaun leicht zu Für die Versorgung der alliierten Gefange- überwinden war (Plan 07). nen war der regelmäßige Empfang von Rot- 1942 entstand eine erste Erweiterung: Für Kreuz-Paketen lebenswichtig. Neben den die BUNA war südlich der Kommandantur Standard-Lebensmittelpaketen gab es solche ein flaches, lang gestrecktes Gebäude erbaut mit medizinischem Inhalt, mit Zusatzge- worden (Plan 04 – Nordteil). Westlich davon schenken der Angehörigen an konkrete Per- entstand die V. E. Baracke (Vernehmungsen- sonen, mit einem breiten Sortiment für die klave), lang gestreckt mit zwei Seitenflügeln, Neuankömmlinge. Allein das Britische Rote auch „Cooler“ genannt. Mit 103 Einzelzellen Kreuz schickte während der gesamten war dieses die erste Unterkunft für alle Neu- Kriegsdauer auf Wegen über Portugal und angekommenen vor und während der Ver- Schweden 19 663 186 Pakete, nicht gezählt nehmung. Jede der Zellen war ca. 3,10 m die aus dem Commonwealth wie Canada, lang, 2,00 m breit und 3 m hoch. Die beiden Australien etc. Zur Lagerung der Pakete, die Fensterflügel mit Sprossen und Blindglas wa- den Gefangenen in Dulag Luft zugeteilt wa- ren nur mit einem besonderen Schlüssel zu ren, wurde ein besonderes einfaches, aber öffnen. Das Klappfenster darüber konnte für gut gesichertes Gebäude errichtet (Plan 12). Frischluft geöffnet werden, zunächst durch Eingang, Bestandskontrolle und Ausgabe den Gefangenen selbst. Die Möblierung be- wurden durch die Lagerleitung (permanent stand aus einem schmalen Bett mit Stroh- staff) der Gefangenen vorgenommen. sack, einem Tisch und einem Hocker. Wollte Nicht nur die Zahl der Gefangenen nahm der Gefangene einen Wachmann rufen, seit Beginn des Jahres 1943 von Monat zu dann musste er einen Türknopf bedienen, Monat zu, auch die Zahl der Mitarbeiter und worauf draußen am Gang ein roter Signalarm Mitarbeiterinnen, militärisch und zivil, herunterging, der das Zeichen weitergab. wuchs. In einem dritten Bauabschnitt wurde Jede Zelle hatte einen elektrischen Heizkör- der Cooler um 30 Einzelzellen und erforder- per. liche Funktionsräume erweitert. Die BUNA Östlich des Eichwäldchenwegs hatte die erhielt südlich vom bisherigen Gebäude ein Gestapo eine Baracke (Plan 10) mit Büros, ebenso großes neues. Die Offizierskantine einem Verhörraum und einem Gefängnis. Sie befand sich im Bereich der Kommandantur,

263 chischen Leiden vom Kriegsschauplatz ka- men, wurden versorgt. Wenige Wochen spä- ter kam dazu noch das Lazarett für die Ge- fangenen des Dulag Luft mit 70 Betten, zur besseren Bewachung auf wenige Gebäude konzentriert. Der Betrieb musste also drei unterschiedlichen Aufgaben und Patienten- gruppen gerecht werden. Einer der ersten Patienten in der Hohe Mark war Flugoffizier Don Blew, dessen In der Halle von Haus „Feldberg“ in der Klinik konn- Whitley am 11./12. Mai 1940 von der Flak ten bei festlichen Gelegenheiten verwundete Gefan- getroffen und in Brand gesetzt worden war. gene, Sanitäter, Helfer und Mitarbeiter zusammen- Er war der einzige Überlebende dieses ersten kommen. Bomberabsturzes innerhalb Deutschlands. Mit Splittern im Fuß wurde er ins Dulag Luft und zur Hohemarkstraße hin wurden für überführt und zur Hohe Mark gebracht. Fünf Vernehmer, Sicherheitsoffiziere, Zivilange- Wochen nach der Operation wurde er als stellte u. a. sechs Wohnbaracken gebaut. gehfähig eingestuft und zum Stammlager Ende 1944 arbeiteten auf dem Gelände transportiert. ca. 550 Personen, die Gefangenen nicht ein- Verletzungen durch Luftkampf, durch Ab- gerechnet. Die Raumnot war von Beginn an sprung und Landung waren häufig. Es gab groß und blieb es bis zum Schluss. z. B. Brand- und Schusswunden, Splitter im Körper, Beinbrüche und Gelenkverletzun- Lazarett Hohe Mark gen. Bei den Neuankommenden wurden stretcher-cases (= nur auf einer Trage trans- Im Jahre 1904 hatte nahe bei der Hohe Mark portfähig) direkt zur Hohe Mark gefahren Prof. Dr. Adolf Friedländer eine „Privatanstalt und dort versorgt. Gehfähige wurden wie für Nerven- und Gemüthskranke“ eröffnet. ihre gesunden Kameraden in Einzelzellen ge- Nach einer wechselvollen Geschichte war sperrt. An der Tür wurde dann ein auffälliges bei Kriegsbeginn 1939 der Deutsche Ge- Rote-Kreuz-Zeichen angebracht, damit bei meinschafts- Diakonieverband Marburg Trä- dem morgendlichen Rundgang des Arztes ger der Klinik, die als „Kuranstalt Hohe Mark oder Sanitäters die erforderlichen Untersu- für nervöse und seelische Leiden“ Kranke chungen oder Behandlungen eingeleitet aufnahm und ärztliche Hilfe bot. Die Pflege werden konnten. Die erste Frage, die ent- und der Wirtschaftsbetrieb lagen in den Hän- schieden werden musste, war, ob ein Ver- den von Diakonissen. bleib im Dulag zumutbar oder ein stationärer Auf Anordnung der wurde die Aufenthalt in der Klinik erforderlich war. Hohe Mark im August 1939 zum Reservela- Die Entscheidung trafen die Ärzte. Ober- zarett mit 170 Betten umfunktioniert. Auch stabsarzt Dr. Kurt Spangenberg war auch für das Hotel Hohe Mark, die Hotels „Schützen- das Reservelazarett der Wehrmacht zustän- hof“ und „Reichshof“ und die Reichsschu- dig. Speziell für die alliierten Gefangenen lungsburg (Villa Gans) in der Stadt waren war ab Mai 1943 Dr. Ernst W. Ittershagen diesem Lazarett zugeordnet. Vor allem Sol- verantwortlich, ein junger, fließend englisch daten, die nach einem Nervenzusammen- sprechender Orthopäde. Er musste für die bruch, nach einem Schock oder einem psy- Patienten in der Hohe Mark auch die zweite

264 Frage beantworten: Ist der Gefangene auf suche verhindern sollten, nicht irre machen dem Weg der Besserung und Heilung, dann lassen. Auch Gefangene hatten Achtung ver- kommt er mit dem nächsten Transport in ein dient! Stammlager. Muss er noch länger behandelt Am 19. März 1945 kam die Mitteilung, werden, dann ist er in das Luftwaffenlazarett dass in Frankfurt ein Zug bereitgestellt werde, Obermassfeld (Thüringen) zu überführen. um die Verwundeten von Hohe Mark über Dort waren im Blick auf die Behandlungs- 240 km östlich nach Obermassfeld zu brin- möglichkeiten wie auf die Bewachung besse- gen. Ein Gefangener schreibt: „Die Fahrt hät- re Bedingungen. So konnten z. B. in der te für viele von uns den Todeskuß bedeutet. Hohe Mark keine Röntgenaufnahmen ge- Züge waren ein bevorzugtes Ziel der Tiefflie- macht werden. Die Patienten mussten nach ger. Das hätten wir nicht überlebt.“ Ein Sani- Frankfurt gefahren werden. täter, Obergefreiter Walter Schaar aus Bad Den Ärzten standen drei deutsche Sanitä- Homburg, bestellte den Transport ab. Der In- ter und vier britisch/amerikanische Hilfspfle- halt von Rote-Kreuz-Paketen half bei der ger zur Seite. Überredung. Damit hatte er das Leben vieler In einem Prozess nach Kriegsende gegen gerettet! Ein Voraustrupp der US-Army be- Verantwortliche des Dulag Luft trat Flug- freite schon drei Tage vor dem Einmarsch in Commodore Ronald Ivelaw-Chapman als Oberursel die Gefangenen in der Klinik Zeuge auf. Er gab eine ausführliche Beschrei- Hohe Mark. bung des Lazaretts Hohe Mark und war voll des Lobes. Er war dort im Mai 1944 mit einer Flucht ausgekugelten Schulter eingeliefert worden. 60 Tage hatte ihn die Gestapo in Frankreich In den Instruktionen für Offiziere und Mann- brutal verhört und ohne medizinische Ver- schaften, die in Gefangenschaft geraten, war sorgung gelassen. In zwei Operationen konn- festgelegt, dass sie jede Gelegenheit zur te Dr. Ittershagen die Schulter wieder in Ord- Flucht suchen und wahrnehmen sollten. Die nung bringen. Der Gefangene sagte später: Genfer Konvention regelte deshalb, dass „He practised medicine in the highest traditi- nach einer gescheiterten Flucht keine beson- on of his profession!“ Schon in Frankfurt hat- deren Bestrafungen erlaubt waren. Ein oder te Ittershagen Erfahrungen mit dem Einsatz zwei Wochen in Einzelhaft bei Wasser und von Edelstahl-Nadeln bei Mehrfach-Kno- Brot und Wegnahme von Vergünstigungen chenbrüchen sammeln können. Er nutzte war alles. Auch im Dulag Luft gab es Flucht- diese Methode auch für die Behandlung von versuche, die in keinem Fall zu einem Gefangenen. Rang, Abstammung, Nationali- „home-run“ (= Ankunft in der Heimat) führ- tät und Religion bei den Patienten spielte für ten. Durch die begrenzte Aufenthaltsdauer ihn keine Rolle. war in Oberursel kein Tunnelbau zu planen In allen Berichten von Soldaten, die nach und auszuführen. dem Krieg ihre Erlebnisse auch in Hohe Mark Ein Unternehmen gelang jedoch und er- aufgezeichnet haben, werden die Diako- langte in der Geschichte der Fluchtversuche nissen wegen ihrer freundlichen, verständ- als erste „Massenflucht“ im Zweiten Welt- nisvollen, geduldigen Zuwendung für die krieg weithin Beachtung. körperlichen und seelischen Schmerzen Das Team der Lagerleitung, das gefangene der Gefangenen gepriesen. Sie haben sich Offiziere gemäß ihrem Rang bildeten und selbstbewusst von dem herrischen Auftreten das ständig in allen Fragen der Ordnung, der der deutschen Wachsoldaten, die Fluchtver- Nahrungsversorgung, der Unterbringung mit

265 einem Frankfurter Gefängnis sahen sie sich wieder. , der fließend deutsch sprach, hatte es bis an die Schweizer Grenze nach Stühlingen bei Schaffhausen geschafft. Am Tage vor der Fahrt in das Stammlager Barth kam Major Rumpel, um ihnen good- bye zu sagen. Sie fragten nach den Schwie- rigkeiten, die er jetzt wohl haben werde, aber er meinte: „Macht euch darüber keine Gedanken. Ich hätte an eurer Stelle das Glei- che getan. Zu fliehen ist die Aufgabe eines Drei Gefangene, die zu den Tunnelbauern gehörten. Gefangenen!“ – Im Zug fanden sie bei ihrer Roger Bushell (Mitte) wurde 1944 in Sagan nach einer Massenflucht mit 49 Kameraden auf Befehl Marschverpflegung ein Kistchen Champa- Hitlers erschossen. gner mit einem Zettel daran: „Mit Empfeh- lung von Major Rumpel.“ Gegner Rumpels und der Luftwaffe, wie dem deutschen Lagerkommandanten zu- Heinrich Himmler, versuchten, die Führung sammenarbeitete, fasste im Juli 1940 den des Dulag Luft in die Zuständigkeit der SS zu Plan zum Ausbruch durch einen Tunnel. Sie bringen. Rumpel sei ein anglophiler Un- begannen in der westlichen Baracke, öffne- ruhestifter, der eine solche Massenflucht er- ten unter einem Ofen den Fußboden und möglicht habe. 3000 Polizisten und Soldaten legten den Einstieg langsam fallend so, dass hätten in die Suche eingeschaltet werden am Rande der Baracke der Tunnel ganz unter müssen. Hier sei der falsche Mann in einer der Erde lag. Fast 60 m weit gruben sie durch Schlüsselposition! steinigen, festen Boden unter dem Zaun, un- Das Lager blieb dank Görings Intervention ter dem Wachturm hindurch, nutzten den bei der Luftwaffe, aber Rumpel wurde zu Rohrdurchfluss des Dornbachs unter der einer Ausbildungseinheit an die polnische Siedlerstraße (heute Camp King Allee) und Grenze versetzt. erreichten an der Straßenböschung jenseits Danach wurde alle zwei Wochen das La- des Lagers das Freie. Ein Geologe legte die ger auf Ausbruchsversuche hin untersucht, Richtung fest. Die Grabung mit mangelhaf- jedoch ohne besondere Erkenntnisse. Im tem Werkzeug wie leeren Dosen, Esslöffeln, Grunde waren bei der kurzen Aufenthalts- Holzstücken und Bechern war mühsam. Die dauer auch nur spontane Versuche erfolg- Erde musste in den Hosen der Grabenden reich. Ein Beispiel nennt das Kriegstagebuch ins Freie getragen und im Gelände unauffällig vom 26. Juli 1942: verteilt werden. Frost im Winter, Hochwasser „In der Nacht vom 25. auf den 26. 7. 42 ist im Frühjahr und ein Felsbrocken verzögerten der französische Corporal Monhot, Jaques die Fertigstellung. Erst am Pfingstmontag aus Zelle 19 der Vernehmungsbaracke ausge- 1941, zehn Monate nach dem Beginn, konn- brochen. Er hat das Oberlicht geschickt aus- ten 18 Gefangene fliehen. Wegen des Feier- gehängt und sich durch die oberen Eisenstäbe tags war die Wache reduziert. Das Wetter der Zelle hindurchgezwängt. Nur ein Mann war gut, und um 21 Uhr, drei Stunden vor mit schmalem Kopf kann das. An einem Vollmond, konnte der erste Gefangene den Oberarm oder einer Schulter muß er sich auf- Tunnel öffnen und hinaus kriechen. Alle geschrammt haben, denn am Rand des obe- Flüchtlinge wurden aber wieder gefasst. In ren Fensterrahmens hing ein kleiner Hautfet-

266 zen. Uniformrock und Hemd waren noch in der Zelle. Corporal Monhot ist also nur mit einer Hose bekleidet geflohen. Er ist am 19. 10. 1911 in Cherbourg geboren und am 19. 6. 1942 in Kreta gefangen genommen worden. Telefonisch wurden benachrichtigt: (– Es folgen, angefangen bei der Polizei, Ober- ursel, bis zur Wasserpolizei, Mainz, 19 Dienststellen) 27. 7. 1942: der franz. Kriegs- gefangene Monhot ist in Weilbach bei Edders- heim, Strecke Frankfurt/M. – Wiesbaden, wie- der ergriffen worden. Er befindet sich im Ge- wahrsam der Bürgermeisterei. Fdw. Lampe Drohend hat der Fotograf das MG auf dem Wach- turm in den Vordergrund gesetzt. Im Mittelgrund das holt ihn morgen früh ab.“ BUNA-Gebäude, rechts die Kommandantur, heute Jean-Sauer-Weg 2. Keine der folgenden Fluchten führte über die Grenze. aufgebrachte Mob auf die Gefangenen, jagte Wut sie durch die Straßen und prügelte mit Be- senstielen, Stöcken, Eisenstangen und Zaun- Je mehr sich in Deutschland die nächtlichen latten auf sie ein. Die deutschen Soldaten Flächenbombardements häuften, Wohnge- machten keinen Versuch, dem grausamen biete in Trümmer fielen und Frauen und Kin- Treiben Einhalt zu gebieten. Die leblosen Kör- der getötet wurden, desto mehr wuchsen die per wurden anschließend auf einen Heu- Ohnmachtsgefühle, die Angst und die Wut wagen geworfen und sollten zum Friedhof ge- auf die „Luftterroristen“, die Wehrlose ver- schafft werden. Als wegen eines erneuten An- nichteten. Wenn dann Piloten abstürzten griffs die Mörder von ihren Opfern abließen, und gefangen genommen wurden, dann konnten zwei der Mißhandelten, die sich tot wurden sie häufig Ziel wütender Attacken gestellt hatten, die Gelegenheit zur Flucht aus der Bevölkerung. Etwa 350 gefangene nutzen. Sie rannten um ihr Leben. Am Rhein Angehörige der britischen und amerikani- wurden sie festgenommen und anschließend schen Luftwaffe erreichten nicht lebend das nach Oberursel gebracht. Ihre sechs gelynch- Gefangenenlager. ten Kameraden wurden in Rüsselsheim ver- Ein bekannter Vorfall ereignete sich am scharrt.“ 26. August 1944 in Rüsselsheim. Im Bericht Sowohl die Vernehmer, wie die Wach- heißt es: „Ein Gefangenentransport traf per mannschaften, wie die militärischen und zi- Bahn am Stadtrand ein. Die 8 Gefangenen, vilen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der die zwei Tage zuvor in der Nähe von Hanno- BUNA hatten täglich mit den Besatzungsmit- ver abgeschossen worden waren, sollten in gliedern solcher Flugzeuge zu tun, die weni- das Lager bei Oberursel überführt werden. Da ge Tage vorher die Spreng- und Brandbom- die Gleise in Rüsselsheim zerstört waren, ben mit ihrer zerstörerischen Kraft auf deut- mußten die Amerikaner zu Fuß durch die sche Städte abgeworfen hatten. Da war es Stadt gehen, um einen anderen Zug zu bestei- schon manchmal schwierig, überhebliches, gen. Sie wurden von drei Luftwaffensoldaten provozierendes Verhalten, freche Bemerkun- bewacht. In der Innenstadt stürzte sich der gen und Aufsässigkeit von Gefangenen gelas-

267 sen hinzunehmen. Es gab jedoch zu keiner fügig, sondern in einer ernsten, brutalen, be- Zeit Misshandlungen. Ein Report des US- rechnenden Art. Die fünf Angeklagten Kriegsministeriums sagte im November arbeiteten in Dulag Luft zu den Zeiten, in 1945: „Die Behandlung der Gefangenen im denen das System angewandt wurde. Jeder Verhör war (im Dulag Luft) stets korrekt, so- vernünftige Mensch muß zu dem Urteil kom- weit physische Gewalt beteiligt war.“ Den- men, daß jeder der Angeklagten an den Miß- noch fand vom 26. 11.– 3. 12. 1945 in handlungen kriminell beteiligt war“. Unbe- Wuppertal vor einem britischen Kriegsgericht wiesen blieb auch die Behauptung, eine der „Dulag Luft Prozeß“ statt. solch riesige Menge von Informationen wäre Angeklagt waren Oberstleutnant Erich Kil- an den Luftwaffen-Führungsstab in Berlin linger (Kommandant der Auswertestelle und übermittelt worden, wie sie niemals durch Konzeption), Major Heinz Junge (Leitender einfaches Fragestellen hätte gewonnen wer- Vernehmungsoffizier), Major Otto Böhringer den können. „Entweder war der britische Si- (Leiter der Verwaltung), Leutnant Heinrich cherheitsstandard miserabel, oder die Ver- Eberhardt (Aufnahme der Gefangenen und nehmer in Dulag Luft waren so geschickt in Verbindung zu den Stammlagern), Leutnant ihrem Job. Meinen Sie ernsthaft, daß alle In- Gustav Bauer-Schlichtegroll (Vernehmer). formationen bei freundlicher Behandlung Ihnen wurde vorgeworfen: hätten beschafft werden können?“ Otto Böhringer und Gustav Bauer-Schlich- 1. Überhitzung von Zellen durch die elektri- tegroll wurden freigesprochen. Heinrich sche Heizung auf ca. 50 °C um Gefange- Eberhard wurde zu drei Jahren, Heinz Junge ne zum Reden zu bringen: Geplante und Erich Killinger zu fünf Jahren Gefängnis Überdimensionierung der Heizung zu verurteilt. Alle wurden vorzeitig aus dem Ge- Mißhandlungen. fängnis in Werl entlassen. 2. Drohung mit Überstellung zur Gestapo Bei sorgfältigem Studium der vorliegenden bei lückenhafter Identifikation. Unterlagen, der Dokumente und Berichte, ist 3. Mehrfach Verweigerung einer medizini- heute deutlich, dass hier die Sieger klar für schen Versorgung ihre „armen, heimgekehrten, leidgeprüften 4. Verlängerte Einzelhaft Gefangenen“ Stellung bezogen haben. Es 5. Schläge in einigen Fällen. gibt ja nicht die klare, eindeutige Aussage von Zeitzeugen, die den wahren Sachverhalt Die Anklagepunkte 2 und 4 wurden nach ei- nüchtern widerspiegelt. Da geht der Wunsch ner ersten Prüfung fallengelassen. Die Be- in die Erzählungen ein, als Held dazustehen, weisführung war gründlich, aber aus heutiger das Schreckbild der Gefangenschaft zu ban- Sicht unverhältnismäßig. Es blieb der Vor- nen, dem Hass endlich freien Lauf zu lassen, wurf, dass zwischen dem 16. und 19. Mai den eigenen Ruhm zu verkünden, die ent- 1943 bei sechs Gefangenen eine „Hitze-Be- behrungsreiche Zeit zu verklären. Interessant handlung“ praktiziert wurde und in einem ist in unserem Zusammenhang die Behaup- Fall im September 1944. Keiner der Vorfälle tung von Gefangenen, sie seien ebenfalls war dokumentiert worden. Der „Senior Bri- durch Hitze gefoltert worden, obwohl dies tish Officer“ hatte als zuständige Instanz kei- nachweislich falsch war. Die Fehlerinnerun- ne Beschwerde erhalten. Ziel soll die Erpres- gen, mit denen im individuellen Gedächtnis sung von Informationen gewesen sein. Der ein persönlich gestaltetes Bild konstruiert Ankläger formuliert: „Die Genfer Konvention und weitergegeben wird, sind in diesem Du- wurde in Dulag Luft missachtet, nicht gering- lag-Luft-Prozess klar erkennbar.

268 Neue Herren im Lager

Am 20. März 1945 fuhren Killinger, Offiziere und Gefangene ab nach Buchenbühl bei Nürnberg. Eine kleinere Gruppe von Verneh- mern, Mitarbeitern und Gefangenen nahm den Weg mit ihrer zerstörerischen Kraft Rich- tung Weimar. Brigadegeneral George McDonald schrieb am 11. April 1945 an seinen Freund General Hodges. „Unsere Gruppe erreichte Dulag Luft am Nachmittag des 30. März. Bei der Ankunft fanden wir von der benachbarten Zivilbevöl- kerung viele in den Gebäuden, die ganz mit dem Plündern der Einrichtung beschäftigt wa- ren. Eine Überprüfung aller Gebäude zeigte, daß die Deutschen bei der Räumung sehr gründlich gearbeitet hatten. Alle Akten, Doku- mente, Karteikarten und andere wichtige Un- terlagen waren verschwunden. Die Fußböden waren bedeckt mit nicht mehr zu verwenden- den Formblättern unterschiedlicher Art und Luftaufnahme Dulag vom 13. März 1945, unten quer einigen offiziellen Papieren, die alle mehr als die Hohemarkstraße, durch die Bildmitte die Siedler- straße, heute Camp-King-Allee zwei, drei Jahre alt waren.“ Wenige Tage später lagen gefangene deut- sche Soldaten zu hunderten auf den Wiesen Junge, Otto Böhringer, Heinrich Eberhardt, Gustav vor dem Lager und hofften auf baldige Ent- Bauer-Schlichtegroll (The Dulag Luft Trial). London, 1952 (War Crimes Trials Series. 9.). lassung. Kein Dach über dem Kopf, keine Elberskirch, Ludwig: Beutepapierauswertung und Ge- sättigende Mahlzeit, keine Liegestatt, keine fangenenvernehmung der deutschen Luftwaffe im Wasserversorgung – verlorener Krieg! Weltkrieg 1939/45 durch „Dulag Luft, Oberursel. Der Krieg war vorbei! War er vorbei? Aus: Mitt. d. Vereins f. Geschichte u. Heimatkunde, 34/1994, S. 109 –135. Gilbert, Adrian: POW. Allied Prisoners in Europe, Benutzte Quellen und Literatur in Auswahl 1939–1945. London, 2006. Lang, Jochen von: Krieg der Bomber. Dokumentation Kriegstagebuch des Abwehroffiziers Kriegsgefangene einer deutschen Katastrophe. Frankfurt/Berlin, 1988. im Dulag – Luft, Oberursel (2. Mai 1942 –13. Mai Rollings, Charles: Dulag Luft. In: „After the Battle“, 1943) Original im Bundesarchiv, RL 23/97. Nr. 106, 1999, S. 1– 27. „The Evaluation of Captured Documents“ and „Notes Smith, Sydney: Wings Day, the man who led the on Interrogation of Oberleutnant Bohner on 6. 5. 45“ RAF‘s epic battle in German captivity. London, 1968. Originale in National Archives, United Kingdom, Ref. Alle Informationen zum Dulag Luft und zur Auswerte- AIR 40/2318. stelle, die Grundlage für diesen Aufsatz waren, sind Gajdosch, Franz: Dulag Luft 1939 –1945. PC-ge- erschlossen und einzusehen im „Erinnerungsort der schriebenes Script, Oberursel 1988 – 2005. Zeitgeschichte – Das Gelände Camp King, 1933 – Clutton-Brock, Oliver: Footprints on the Sands of 93“, Im Rosengärtchen 37, Oberursel (Kirchenladen) Time. RAF Bomber Command Prisoners of War in auch die Bildvorlagen. Im Internet unter www.camp- Germany 1939 – 45. London, 2003. king.org ist der Inhalt der Materialsammlung, in Find- Cuddon, Eric (Hrsg.): Trial of Erich Killinger, Heinz büchern geordnet, zu erschließen.

269 Über den Autor

Manfred Kopp (geb. 1933 in Frankfurt/Main) Pfarrer, Dozent f. Religionspädagogik 1964 Pfarrer für Religionsunterricht an Berufsbildenden Schulen in Wiesbaden. 1969 Landesjugendpfarrer und Leiter des Amtes für Jugendarbeit der Ev. Kirche in Hessen und Nassau. 1980 Dozent für Religionspädagogik an Berufsbildenden Schulen im Studienzentrum der Ev. Kirche in Hessen und Nassau (Kronberg) 1996 (nach der Ruhestandsversetzung) Geschäftsführer der "Orbishöhe gem. GmbH, Pädagogische Hilfen für Kinder und Jugendliche" Zwingenberg 2001 Ende der Berufstätigkeit.Ehrenamtliche Arbeiten zur Stadtgeschichte von Oberursel Seit 1962 Geschichte der Urseler Druckereien (1557 - 1623), Bibliographie und Autopsie sämtlicher nachweisbarer Drucke in historischen Bibliotheksbeständen, so bei Reisen nach Wolfenbüttel, Gotha, München Berlin, Wien, London, Sammlung von Archivmaterial, Sonderforschungen zu den Mess-Zeitungen im 16. Jhdt. Konzept und Einrichtung eines Raumes zur "Reformationszeit und Druckgeschichte" im Vortaunussmuseum. Die Bibliographie weist derzeit 491 Titel auf.Nikolaus Henricus und Cornelius Sutor, Bürger und Drucker zu Ursel", "Oberursel, 1964, 111 S. Die Druckerei zu Ursel) 1557 - 1623, Versuch eines Portraits "Oberursel" , 1990, 168 S.

Seit 2003 Ausbildung und Beratung von ehrenamtlichen Stadtführern und Stadtführerinnen in Kooperation mit "Stadttourismus", Konzepte und Themen. Eigene Führungen ( bis jetzt 226)mit verschiedenen Themen und Gruppen

Seit 2003 Vorsitz des "Kuratoriums Vortaunusmuseum e.V.“

Seit 2005 Projekt: "Erinnerungsort der Zeitgeschichte - Das Gelände Camp King 1933 - 1993" Materialsammlung und -bearbeitung in Kooperation mit dem Stadtarchiv, Recherchen im Hess. Hauptstaatsarchiv (Wiesbaden), Institut für Zeitgeschichte München), Stasi-Unterlagen-Behörde und Gedenkstättenkonzepte (Berlin), Zeitzeugen-Gespräche, Führungen öffentlich und für Gruppen, Vorträge, Beratung von Unterrichtsprojekten (z.B. Grundschule am Eichwäldchen), Veröffentlichung im Jahrbuch des HTK, Mitarbeit bei der Kulturregion Frankfurt Rhein Main ("Geist der Freiheit", Topographie "Orte der Freiheit"). 2008: Verleihung des Saalburgpreises

Weiterführende Informationen: www.CampKing.Org Verein für Geschichte und Heimatkunde Oberursel (Taunus) e.V. Postfach 11 46 61401 Oberursel Geschäftsstelle: Hospitalstraße 9 www.Ursella.Org

Manfred Kopp Flieger ohne Flügel Durchgangslager (Luft) und Auswertestelle (West) 1939 –1945

Sonderdruck aus dem Jahrbuch des Hochtaunuskreis 2009

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