Dachzei le 1/07

Kulturreport Kulturreport

Прогрес Европа Progreso Europa Progress Europe Be-

Der Kultur kommt im europäischen Fortschritt Europa Fortschritt Europa sivystanti Europa Progres- Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. t

Doch wie wird sie genutzt? Wie steht es um die r Kulturbeziehungen innerhalb Europas? so Europa Napredek Evro-

Was kann die europäische Kulturpolitik mit ihren epo

Mitteln zur Herausbildung einer europäischen rr pa Framsteg Europa Fejlõdõ Identität beitragen? Der Kulturreport „Fortschritt Europa“ will Antworten auf diese Fragen geben. Európa Edistys Postęp Eur- Zu den Autoren gehören Filmemacher, Architekten, kultu Dramaturgen, Wissenschaftler, Journalisten sowie Bildungs- und Kulturpolitiker aus aller Welt. opa Fortschritt Europa Eu- rooppa Pokrok Evropa Pok- rok Europa Vooruitstrevend Europa Πρόοδος Ευρώπη L’Europe en marche Europas Fremskridt Progrese Europa

Euroopa edusammud Kulturreport Fortschritt Europa Kulturreport Fortschritt Europa

Vorwort europa braucht Emotionen Von Ingrid Hamm 4 Kultur zieht an Von Kurt-Jürgen Maaß 5

I. Europa - Kontinent ohne Konturen?

1. Das Bild von Europa 1.1. selbstbild unsichtbare Öffentlichkeit? Von Bo Stråth 10 Die Marke Europa Von Simon Anholt 18

1.2. Fremdbild Wer ist Schopenhauer? Von Atsuko Onuki (Tokyo) 30 Museum Europa Von Andrew Ian Port (Cambridge, Massachusetts) 35 Der blasse Kontinent Von Rajendra K. Jain (New Delhi) 38 abschied von Europa Von Adjaï Paulin Oloukpona-Yinnon (Lomé) 42 Fallstricke der Identität Von Leopoldo Waizbort (São Paulo) 50 paradies Europa Von Sergej Sumlenny (Moskau) 53

2. Kultur in der EU-Politik Kernstück oder Zierblume? Von Enrique Banús 60 neuland in Sicht Von Olaf Schwencke 71 struktur nährt Kultur Von Christine Beckmann 82

3. europa und die Auswärtige Kulturpolitik partnerschaft statt Repräsentation Von Michael Bird 90 raus aus dem Huntington-Szenario Von Traugott Schöfthaler 97 euphorie in Kroatien Von Marija Pejčinović Burić 103 Brot und Spiele Von Gyula Kurucz 107

II. Kultur in Europa – Europa in der Kultur

1. Medien Der sprachlose Kontinent Von Peter Preston 116 europa auf dem Bildschirm Von Deirdre Kevin 123

2. Film Versöhnen statt Spalten Von Michael Schmid-Ospach 132 Vorhang auf für das Nischenkino Von Dina Iordanova 137 Die Macht der Bilder Von Wim Wenders 143

 Inha lt

3. Bildung Das Ende der nationalen Bildungsbastion Von Guy Haug 150 lernen mit der Zeit Von Andreas Schleicher 156 studieren ohne Grenzen? Von Franziska Muche 166

4. sprache sprechen Sie Europäisch? Von Ulrich Ammon 178 Glückliches Babel Von Etienne Barilier 185

5. Musik Wie klingt Europa? Von Jean-François Michel 194 haben wir den Blues? Von Jonas Bjälesjö 199

6. literatur europa liest Von Albrecht Lempp 206 ein (Literatur-)Haus für den Kontinent Von Florian Höllerer 215

7. theater eine Bühne für europäisches Theater Von Bernard Faivre d’Arcier 224 Vision der Oper Von Xavier Zuber 231

8. Kunst & Architektur und Mode Kunstwerk Europa Von Ursula Zeller 238 Mode macht Europa: Ein Expertengespräch von Ingrid Loschek und Sibylle Klose 249 Modewelt – Weltmode Von Daniel Devoucoux 263 rohbau Europa? Von Hans Ibelings 276

Impressum Herausgeber: Institut für Auslandsbeziehungen und Robert Bosch Stiftung, in Zusammenarbeit mit dem British Council, der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia und der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit Redaktion: Sebastian Körber, Jenni Roth Mitarbeit: Dr. Stephan Hollensteiner, Claudia Judt, Kornelia Serwotka Gestaltung: Eberhard Wolf Fotos: Bettina Flitner Adresse: Charlottenplatz 17, 70173 Stuttgart Druck: Offizin Andersen Nexö Leipzig Übersetzung: Dr. Stephan Hollensteiner, Marielle Larré, Jenni Roth, Henning Schimpf, Angelika Welt, Birgit Wittlinger.

 Vor wort

Europa braucht Emotionen

ls ich ein Junge war, träumte ich von einem ischen Identität beitragen? Um Europa ohne Grenzen. Nun reise ich quer dies herauszufinden, hat die Ro- Ahindurch, virtuell und realiter, ohne je bert Bosch Stiftung gemeinsam meinen Pass zu zeigen, zahle sogar mit einer Wäh- mit dem Institut für Auslands- rung, aber wo ist meine Emotion geblieben?“ fragt beziehungen diesen Kulturre- Wim Wenders in diesem Report. So wie dem deut- port herausgebracht. Ich danke schen Filmregisseur geht es vielen – vor allem den Autorinnen und Autoren, jungen Schweizern – Bürgern Europas, die sich die sich aus unterschiedlichs- von den Institutionen der Europäischen Union we- ten Perspektiven diesen Fragen der repräsentiert noch angesprochen fühlen. Kein gestellt haben. Und ich freue Wunder, so Wenders. Niemand liebe sein Land mich, dass wir mit dem British wegen seiner Politik oder wegen seines Marktes. Council, der Schweizer Kultur- Nach außen wie nach innen zu seinen Bewohnern stiftung Pro Helvetia sowie der agiere Europa stets mit wirtschaftlichen oder po- Stiftung für Deutsch-Polnische litischen Argumenten, nicht mit Emotionen. Zusammenarbeit weitere Part- Dabei ist den Vertretern der Brüsseler Institu- ner gefunden haben, mit deren tionen schon lange klar, dass die Idee der euro- Unterstützung dieser Report päischen Einigung neu belebt werden muss. „Ein nicht nur in deutscher, sondern Organismus ohne Seele ist tot. Ein geeintes Europa auch in englischer, französischer braucht eine Seele“, ahnte seinerzeit schon der ehe- und polnischer Sprache erschei- malige EU-Kommissionspräsident Jacques Delors. nen konnte. Sein heutiger Nachfolger José Manuel Barroso geht sogar noch einen Schritt weiter: „Kultur ist der Ingrid Hamm, Geschäftsführerin, Grundpfeiler des Zusammengehörigkeitsgefühls, Robert Bosch Stiftung das Europa braucht“, sagte er auf der Berliner Konferenz im vergangenen November. Auch nach außen müsse Europa, „das die Toleranz gegenüber Individuen, ihren Meinungen, Überzeugungen und Unterschieden ‚erfunden’ hat,“ seiner beson- deren Stimme Gehör verschaffen. Der Kultur und Kulturpolitik kommt im euro- päischen Einigungsprozess also eine strategische Rolle zu. Doch wie wird sie genutzt? Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Euro- pas? Was kann die europäische Kulturpolitik mit ihren Mitteln zur Herausbildung einer europä-

 Vor wort

Kultur zieht an

as ist das, das die einen haben, aber Weltkulturerbe in Kunst, Musik, nicht mehr wollen, und wonach sich Literatur und Film. Wdie anderen so sehnen? Während die Dieser Report nimmt die Be- meisten Amerikaner Europa als Museum der Hoch- standteile des kulturellen Euro- kultur verehren – auch wenn sie inzwischen ihre pa gründlich unter die Lupe. Zu Bordeaux-Flaschen demonstrativ in den Abguss den Autoren gehören Kulturpo- entleert haben, wie Andrew Ian Port in seinem litiker, Journalisten, Bildungs- Beitrag zu diesem Report ironisch schildert – sucht experten, Theater- und Filme- Europa noch nach einer Identität. Auch fünfzig macher, Festivalorganisatoren Jahre nach Gründung der Europäischen Gemein- und Wissenschaftler aus der schaft dümpeln paneuropäische Medienprojekte ganzen Welt. Mein Dank gilt ih- immer noch vor sich hin, und selbst dringende nen ebenso wie der Robert Bosch grenzüberschreitende Probleme werden vorwie- Stiftung, die in Zusammenarbeit gend im nationalen Rahmen diskutiert. Ist Europa mit dem ifa dieses Buch über- wirklich nur eine Ansammlung einander freund- haupt erst möglich gemacht hat. lich gesinnter Staaten ohne jedes Interesse an einer Ganz besonders danken möchte tiefer gehenden Verständigung, wie der britische ich aber den vielen Übersetzern, Kolumnist und ehemalige Herausgeber des „Gu- die dafür gesorgt haben, dass ardian“ Peter Preston vermutet? Auch wenn man dieses Buch in vier Sprachen diese pessimistische Sicht nicht teilt, so steht doch erscheinen kann. Diese Arbeit, fest: Wer meint, die Europäische Union bräuchte die meist im Stillen geschieht, ist nur ein wenig mehr Öffentlichkeitsarbeit, um nicht nur Voraussetzung für ein ihre Vertragswerke besser zu erklären, ist auf dem Buch wie dieses, sondern für ein Holzweg. Wer das Projekt europäischer Einigung Europa, das nicht nur überein- ernst nehmen will, sieht die europäische Kultur- ander, sondern vor allem mitein- politik nun stärker denn je gefordert, die eigent- ander redet. liche Substanz der europäischen Einigung endlich stärker in den Vordergrund zu rücken. Denn Euro- Kurt-Jürgen Maaß, Generalsekretär, pa hat der Welt viel zu bieten. Es steht für Aufklä- Institut für Auslandsbeziehungen rung, Fortschrittsglauben und Toleranz. Europa hat intensive Erfahrungen in der Transformation von Ländern und Gesellschaften zu Demokratien, Rechtsstaaten, Marktwirtschaften gemacht. Es bietet attraktive Stipendienprogramme, interna- tionale Bibliotheken und einen hohen Anteil am

 Europa – Kontinent ohne Konturen?

 Frauen mit Visionen Porträts von 48 Europäerinnen Zwei Jahre lang reiste Bettina Flitner durch Europa, um „große Europäerinnen“ zu fotografieren. Sie saß im Wohnzimmer von Miep Gies in Amsterdam, die einst Anne Frank versteckte und das Tagebuch rettete, sie stand im Labor der Deutschen Christiane Nüsslein-Volhard, die den Nobelpreis bekam, sie begleitete Franka Potente zur Ballettschule in Kreuzberg, sie besuchte Marion Dönhoff kurz vor deren Tod in Blankenese, sie ging mit der von der Mafia bedrohten Baronessa Cordopatri in die umkämpften Olivenfelder in Kalabrien. Entstanden sind 48 Porträts von großen Europäerinnen aus Kultur, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Der Kulturreport Fortschritt Europa stellt 12 dieser Persönlichkeiten vor.

Die Portraits: 8/9 Marion Gräfin Dönhoff, Journalistin; 28/29 Franziska Becker, Karikaturistin; 48/49 Christa de Carouge, Modemacherin; 58/59 Maria Lassnig, Malerin; 80/81 Irene Khan, Direktorin amnesty internati- onal; 114/115 Kati Outinen, Schauspielerin; 148/149 Inge Feltrinelli, Verlegerin; 176/177 Lea Linster, Köchin; 192/193 Judit Polgar, Schachspielerin; 222/223 Pina Bausch, Choreographin; 236/237 Magdalena Abakano- wicz, Künstlerin; 254/255 Dörte Gatermann, Architektin

Europa – Kontinent ohne Konturen?

   Unsichtbare Öffentlichkeit Dass eine europäische Öffentlichkeit existiert, steht für den Autor außer Frage. Das Problem bestehe in der Kluft zwischen dieser Öffentlichkeit und ihrer institutionellen Praxis. Problemorientierte europäische Debatten spiegeln nationale Streit- fragen wider und richten sich nicht an europäische Institutionen. Von Bo Stråth

Daraus resultiert oftmals eine Argumen- tationslinie gegen die Existenz einer eu- ropäischen Öffentlichkeit, die sich auf eine reine Ansammlung nationaler Mei- nungsräume beruft. Ein beliebtes Argu- ment der Verfechter dieser Perspektive ist die Sprachbarriere, die einen transnati- onalen öffentlichen Raum ihrem Wesen nach verhindere. Ich glaube aber, dass ein europäischer öffentlicher Raum sehr wohl existiert. Auch mit einer Sprachbar- riere, die sich durch Übersetzungen über- winden lässt. Und ich glaube sogar, dass sich dieser Raum kontinuierlich weiter as ist die europäische Öf- ausdehnt. Den europäischen öffentlichen fentlichkeit? Gibt es sie Raum gab es sogar schon, als die natio- Wüberhaupt? Und wenn ja, nale Öffentlichkeit noch ein Fremdwort seit wann? Wer sind die Akteure, wer die war, ja, sogar bevor die Idee des Natio- Sender und Empfänger, die Autoren und nalstaats auf dem Kontinent Fuß fasste. Leser, die an dieser kontinentalen Ver- Die Geschichte der europäischen Inte- ständigung beteiligt und in diesen trans- gration, die sich seit den 50er Jahren im nationalen Zirkel von Interpretationen, institutionellen Rahmen manifestiert, aus denen ein europäischen öffentlichen verlieh der öffentlichen Meinung kon- Raum entstehen könnte, eingebunden kretere Gestalt. sind? Und wo liegen die Probleme, die Zum ersten Mal tauchte eine europä- im Titel schon aufgeworfen wurden? ische Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert zu Das Definitionsproblem beginnt dort, Zeiten der Aufklärung auf, bevor sich die wo die Ausgangspunkte oder die Vor- europäischen Nationalstaaten überhaupt stellung über die Gestalt eines solchen herauskristallisiert hatten. Hier kommt Raums auseinanderdriften. Ein beliebter einem die „République des Lettres“ in Bezugspunkt ist die demokratische Kons- den Sinn. Reisen und die Korrespondenz titution europäischer Nationalstaaten in mit intellektuellen und politischen Zen- der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. tren sowie die kontinentale Verbreitung

10 von Journalen und Büchern waren die Das Bild von Europa – Selbstbild Keimzelle für einen aufstrebenden Markt von Ideen und Meinungen – auch mit ei- ner Zensur, die den Zugang auf diesen Markt einschränkte und so dem öffent- lichen Raum enge Grenzen setzte.1 Die Sprachbarriere spielte keine Rolle, da die Akteure dieser Öffentlichkeit sich auf Nachrichten und Fiktion ersetzt. Folg- Französisch oder Latein verständigten. lich kann Öffentlichkeit nicht automa- Außerdem stand das Thema Europa ganz tisch mit Teilhabe gleichgesetzt werden, oben auf der Tagesordnung. Beispiels- und es ist notwendig abzuwägen, bis zu weise wurde die Bedeutung des Begriffs welchem Grad Meinungsdivergenzen im der europäischen Zivilisation auf dem öffentlichen Raum auf rationaler Kalku- ganzen Kontinent erörtert.2 Möglicher- lation und Kommunikation von Interes- weise wurde diese durchlässige Sphäre sen beruhen oder in welchem Maße sie mit dem Aufleben der Nationalstaaten im aus manipulierten Denkstrukturen resul- 19. Jahrhundert hermetisch. Allerdings tieren. Jürgen Habermas’ Annahme einer gibt es keine umfassenden Quellen, die unterschwelligen letzten Wahrheit hinter diese Entwicklung zuverlässig erklären. den Dingen und einem Streben von Poli- Nur eines scheint klar: Der europäische tik und öffentlicher Debatte nach dieser öffentliche Raum ist von den National- Wahrheit darf in jeder Theorie zum öf- staaten nicht verdrängt worden. Zweifler fentlichen Raum angezweifelt werden. an einem einflussreichen europäischen öffentlichen Raum argumentieren, dass Die europäische Öffentlichkeit die Mehrheit der Europäer gar nicht dar- bahnt sich ihren Weg an teilhat. Die Gelehrten bewegten sich jedenfalls in einem geschlossen elitären Historisch betrachtet hat die europä- Raum. Dennoch muss gefragt werden, ob ische Öffentlichkeit im 19. und frühen die Forderung nach uneingeschränktem 20. Jahrhundert tiefe Wurzeln geschla- Zugang und Mitsprache der Massen eine gen. In der Gelehrtenwelt hatte die öffent- notwendige Bedingung bei der Defini- liche Sphäre Hochkonjunktur, die aktive tion einer europäischen Öffentlichkeit Teilhabe wuchs zusehends. Die Entwick- ist.3 Diese Forderung ist im Licht der ak- lung wurde begünstigt von einem erstar- tuellen Entwicklungen in der Medien- kenden Literaturmarkt, vom Ende der landschaft hinsichtlich technologischer Zensur, von den Massenauflagen der Zei- und wirtschaftlicher Konzentration noch tungen und Magazine; der internationa- brisanter. Statt einer Expansion eines eli- le Charakter des kulturellen Lebens im tären Unternehmens hin zur Einbindung Theater und in den Konzerthallen belebte der Massen – wie der Begriff Massenme- den kontinentalen Austausch. Die Nach- dien suggeriert – sehen wir uns vielmehr kriegszeit war geprägt vom Aufleben in- mit einer gegenläufigen Entwicklung ternationaler Organisationen wie dem konfrontiert, die sich nach unten hin Völkerbund oder internationaler Post- verengt. Sie bedingt eine Konzentration und Telekommunikationsvereinigungen, auf einige wenige mediale Sprachrohre, europaweite Standards fassten Fuß und die die Massen nur einseitig erreichen. schufen so den Nährboden für transna- Die alte Idee einer vernunftorientierten tionale Kommunikationsräume. Debatte, die auf der Repräsentation von Man kann den öffentlichen Raum als Interessen beruht, wurde in ihr Gegen- Kommunikationsplattform betrachten, teil verkehrt und die alte Auffassung von auf der Akteure aus Politik und Kultur sich Repräsentation durch die Kreation von und ihre Ideen schon früh austauschten

11 Selbstbild – Das Bild von Europa tie? Eine zentrale Frage zielt auf den Grad der Mitsprache an der Debatte. Die mo- bilisierende Kraft der europäischen Öf- fentlichkeit scheint nicht groß zu sein. So zeigt etwa die Beteiligung an den Wahlen zum europäischen Parlament ein Defizit demokratischer Legitimation des gesam- und verhandelten. Das wurde durch die ten europäischen Integrationsvorhabens. Entwicklung der Massenmedien verstärkt, Dennoch stellt sich die Frage, weshalb die immer größere Teile der Bevölkerung man auf europäischer Ebene eine Verbin- in die Debatten mit einbinden konnten. dung zwischen öffentlicher Sphäre und Ein schlagkräftiges Argument, das unter europäischer Integration vermuten sollte. anderen von dem Sozialwissenschaftler Die Raison d’être des europäischen In- Klaus Eder hervorgebracht wurde, besagt, tegrationsprojekts bestand ursprünglich dass der europäische öffentliche Raum im im Schutz der freien Märkte und in der Rahmen des europäischen Integrations- Friedenssicherung während des Kalten prozesses in der zweiten Hälfte des vergan- Krieges. Damals fungierten freie Märkte genen Jahrhunderts vor allem in grenz- noch als vorbeugende Maßnahme gegen überschreitenden Krisendebatten zutage eine Akkumulation von Kapital und der kam. Ein- und dieselbe Streitfrage, von bewaffnete Frieden beruhte auf militä- Haider über Berlusconi bis zur Idee einer rischer Stärke. europäischen Verfassung, steht überall in Europa auf der öffentlichen Tagesordnung Harmonisches Europa? und überwindet so sprachliche Grenzen. Die europäische Öffentlichkeit spricht Das Ziel bestand nach Alan Milward, viele Sprachen. einem Experten europäischer Integrations- In gewisser Hinsicht war die öffentliche forschung, darin, die Nationalstaaten West- Sphäre von jeher problemorientiert. Die europas durch freien Handel als notwen- Intellektuellen der Gelehrtenwelt beschäf- dige Grundlage für den Wohlfahrtsstaat tigten sich im Kern mit immer denselben zu bewahren.4 Die europäische Integration Fragen, nur die Zahl der Themen ist im sollte die Demokratie in den Mitgliedstaa- Zuge der europäischen Integrationsbe- ten sichern, aber die Frage nach einer euro- wegung seit den 50er Jahren in beacht- päischen Demokratie auf supranationaler lichem Maße angewachsen. Die Probleme Ebene wurde nie gestellt. beginnen dann, wenn wir den öffentlichen Die Idee dieser Demokratieebene kann Raum mit der Demokratie in Verbindung man vage auf den EEC-Gipfel 1973 in Ko- bringen. Die Öffentlichkeit, in der sich De- penhagen datieren, bei dem erstmals der batten und soziale Verhandlungen abspie- Begriff einer europäischen Identität ge- len, wird oft als Rückgrat westlicher De- prägt wurde. Man wollte mit solch einem mokratien betrachtet. Die Öffentlichkeit ist der Nährboden der Zivilgesellschaft, die wiederum Voraussetzung ist für eine Die europäische Öffentlichkeit funktionierende Demokratie. Aus Habermas’ Perspektive wird die spricht viele Sprachen: Ein- und mehr oder weniger automatische Verbin- dieselbe Streitfrage, von Hai- dung zwischen öffentlicher Sphäre und der über Berlusconi bis zur Idee Demokratie als gegeben vorausgesetzt. einer europäischen Verfassung, Wenn dem so ist, wenn es tatsächlich eine europäische Öffentlichkeit gibt, warum steht überall in Europa auf der gibt es dann keine europäische Demokra- öffentlichen Tagesordnung.

12 Das Bild von Europa – Selbstbild

Zusammengehörigkeitsgefühl die Inte- Druck aus der Öffentlichkeit nationaler gration in der damals herrschenden Wirt- Staatengebilde entstanden, haben auf eu- schaftsflaute vorantreiben. Die Idee fand ropäischer Ebene andere politische Ziele sich zunächst 1979 in der Entscheidung sozialer Kritik. Diese Kluft zwischen der für direkte Wahlen zum Europäischen europäischen Öffentlichkeit und den eu- Parlament wieder und 1980 bei der Prä- ropäischen Institutionen beschert der EU sentation des Konzepts einer europä- ein Legitimationsproblem. Dabei ist die ischen Bürgerschaft. Dennoch konnte Kluft das Problem und nicht die Frage, sich der Gedanke einer Supranationali- ob solch eine Öffentlichkeit existiert oder tät, verstanden als grenzüberschreiten- nicht. Auf jeden Fall spielt beim Legitima- de nationale Identifikations- und poli- tionsdefizit nicht nur die Kluft eine Rolle, tische Muster, weder in den Köpfen der sondern ebenso zwei weitere Faktoren. Menschen noch auf institutioneller Ebene Erstens ist die Harmonisierung der etablieren. Trotz direkter Wahlen zum Märkte seit den 50ern mit dem Ziel, Europäischen Parlament scheiterte das Wettbewerbsschranken aus dem Weg zu Projekt einer europäischen Verfassung, räumen, in immer mehr Gesellschafts- und ein europäisches Staatsvolk ist im- bereiche vorgedrungen. Freier Handel mer noch Zukunftsmusik. unter den Mitgliedstaaten, gemeinsame Die öffentliche Debatte in den sich Zollschranken gegen Drittländer, Stan- herausbildenden Nationalstaaten Euro- dards für Umwelt und Soziales, für Nah- pas führte letztendlich zum Parlamenta- rungsmittel, Verkehr, Kommunikation, rismus. Der demokratische Charakter der Bildung und Gesundheit – all diese Be- öffentlichen Debatte wurde durch eine reiche wurden als mögliche technische große Schnittmenge aus öffentlicher und Handelsbarrieren betrachtet, die es durch parlamentarischer Auseinandersetzung die Harmonisierung von Standards und verstärkt. Davon kann im institutionellen Regeln zu überwinden galt. Je sensibler Umfeld der EU nicht die Rede sein. Die die europäischen Bürger wurden, desto problemorientierte europäische Debatte tiefer wurde die Abneigung gegen eine konzentriert sich auf nationale Brenn- umfassende Europäisierung. Warum soll- punkte politischer Entscheidungspro- te Brüssel darüber entscheiden, wie groß zesse und untergräbt so die Legitimität eine Erdbeere oder wie lang eine Banane und Autorität von Brüssel als politischem sein sollte? Die Antwort liegt in der Lo- Zentrum. Die Wertedebatte über die sozi- gik der Marktentwicklung hin zu mehr ale Frage scheint Brüssel als das „Andere“ Wettbewerb, da letzterer zu einer Ver- zu degradieren und wird der Rolle eines einheitlichung von Standards und Nor- schlagfertigen und diplomatischen poli- men führt. tischen Zentrums, das mit den Protesten Der zweite Faktor ist die anwachsende umzugehen weiß, nicht gerecht. Das ist soziale Ungleichheit innerhalb der EU eine grundlegendes, aber kaum disku- nach der Erweiterung von 15 auf 25 Mit- tiertes Problem der EU. Die nationalen gliedstaaten. Diese Diskrepanz hat Ängs- Abgeordnetenhäuser und die Prinzipien te vor sozialem Dumping geschürt, was des Parlamentarismus, die historisch wiederum eine Politik des sozialen Pro- betrachtet als Reaktion auf Proteste und tektionismus nach sich zog. Die Kon-

13 Selbstbild – Das Bild von Europa

frontation von sozialem Dumping und lichen Stabilität verbirgt sich Instabilität. sozialem Protektionismus ist ein großes Problemlösungen ziehen neue Probleme Risiko für Europa, aber unabhängig da- nach sich. Einerseits gleicht Europa von, wie groß das Risiko ist – es sollte einem tief gehenden Projekt, das sein In- keinesfalls ignoriert werden. Der poli- tegrationspotenzial mit „funktionalem tische Druck als Antwort auf die Dienst- Wachstum“ ausweitet. Andererseits hat leistungsanordnung ist ein typisches Bei- sich Europa seit einem halben Jahrhun- spiel, das uns das Risikopotenzial vor dert von einer Krise in die nächste ma- Augen führt. Die Analogie zur Rolle der növriert. Nach dem Grad ihrer Instituti- öffentlichen Sphäre in der Entwicklung onalisierung lässt sich die europäische der Nationalstaaten legt nahe, dass eine Öffentlichkeit relativ leicht definieren; engere Verbindung zwischen der europä- schwieriger ist es, die ihr zugrunde lie- ischen Öffentlichkeit und den politischen gende Wertesubstanz zu fassen. Institutionen der EU als Zielscheibe für Zwei einschneidende Ereignisse in- Kritik an der politischen Legitimität nerhalb eines Jahres haben den extremen dient. Das wachsende Legitimationsde- Wandel in der Berichterstattung über fizit wird nicht nur zum Ausgangspunkt Europa und in ihren Werten gezeigt: der von Kritik an Macht und Herrschafts- Gipfel in Nizza im Dezember 2000 und formen, sondern wirft ebenso drängende die Einführung des Euro ein Jahr später, ethische und Identifikationsfragen auf. am 1. Januar 2002. Die Berichterstattung Wird die EU zusammenhalten, und wenn über diese Ereignisse führt vor Augen, wie ja, ist sie in der Lage, ihren Bürgern ein schnell die Stimmung kippen kann und Zusammengehörigkeitsgefühl zu vermit- welche federführende Rolle die Medien da- teln? Existiert solch ein Zugehörigkeits- bei spielen. Es gleicht der Beschleunigung gefühl parallel zu nationalen Loyalitäten der Zeit. Als die europäischen Staatschefs oder schließen sie sich gegenseitig aus? sich in Nizza trafen, hätten sie stolz und Welche Rolle spielen gegenwärtige und euphorisch ein Projekt verkünden können, künftige politische Oberhäupter sowie das sie auf den Weg gebracht haben. Ein die Massenmedien in diesen Entwick- Zeitplan für die größte EU-Erweiterung lungen? der Geschichte markierte das Ende des Kalten Krieges und der gesamten Nach- Medien und Werte im Wandel kriegszeit, den Beginn einer neuen Ära. Die europäische Vereinigung bekam eine Die Medien sind ein weites Feld, in neue Dimension, Europa als Ganzes stand dem sich nationale und europäische Wer- im Fokus des Interesses. te, Ethiken und Identitäten herausbilden. Die Chance zur Euphorie verflüch- Ein wichtige Lektion der letzten Jahre tigte sich in einem allgemeinen Chaos, war die Erkenntnis eines launischen, als bei der „grande geste“, der Öffnung kurzlebigen und wankelmütigen Europa, der EU gen Osten, die Sprache auf ins- weit entfernt von den Vorstellungen eines titutionelle Fragen kam: Wie viel Stim- fest verankerten und institutionalisierten men sollten die jeweiligen Mitgliedstaa- Kontinents, sei es im Gemeinwesen oder ten im Ministerrat erhalten? Mit welchen in der Wirtschaft. Hinter der vermeint- Mehrheiten sollten Entscheidungen ge-

14 troffen werden können? Vertreter der Das Bild von Europa – Selbstbild Mitgliedsländer warfen sich gegenseitig vor, engstirnig ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Die Medien weideten sich an der Beschreibung von Europas Führ- ern, die wie in einer großen europäischen Pokerrunde versuchten, den anderen in die Karten zu schauen und zu tricksen. union wurden nicht erörtert. Die Distanz zur Bevölkerung vergrößerte Das schizophrene Muster setzt sich sich durch das Einschreiten der Polizei fort. Die Debatten über die Verfassung gegen gewalttätige Demonstranten in und den Irakkrieg sind zwei klare Bei- paramilitärischen Straßenschlachten, spiele. Die Irakfrage war ein Dacapo von die inzwischen mehr oder weniger zum Nizza, wenn auch intensiver und mit einer Umfeld politischer Gipfel „dazugehören“. größeren Mobilisierung der Bevölkerung Die Machthaber zogen ihre Initiative ein einiger Mitgliedstaaten gegen andere Mit- Jahr später zurück. gliedstaaten. Der Kontrast zwischen dem neuen Verfassungsentwurf auf dem Gip- Euphorie und Europhorie fel in Thessaloniki im Juni 2003 und dem Pessimismus auf dem folgenden Gipfel in Der 1. Januar 2002 wurde zum denk- Brüssel ein halbes Jahr später ist ein wei- würdigen Manifest der europäischen Ei- teres Beispiel, das dieses Muster bestätigt. nigung. Der Euro wurde als Symbol eines Die Distanz zu Valéry Giscard d’Estaings neuen Europa gefeiert, als größte Verei- aristokratischem Auftritt und Triumph in nigung seit dem Römischen Reich. Poli- Thessaloniki vergrößerte sich bekannter- tische Führer zogen die ersten Geldnoten maßen im Mai und Juni 2005. Die Schlüs- aus den Bankautomaten und solidarisier- selfrage ist natürlich, was diese Oszilla- ten sich so mit den Menschen auf der Stra- tion zwischen den Extremen, zwischen ße. Europa war vereint – horizontal und Euphorie und Krise, für die Stabilität des vertikal. Die Euphorie war eine Euro- ganzen institutionellen Schauplatz wirk- phorie und die Feierlichkeiten zur neuen lich bedeutet. Bis zu welchem Grad sind Währung symbolisierten die Einheit. Die die dramatischen Veränderungen flüch- Medien und die Eliten verloren nicht viele tig, werden sie nur durch die Schlagzeilen Worte über die wirtschaftliche Seite des aufgeheizt und kühlen angesichts neuer Ereignisses, sondern konzentrierten sich einschneidender Ereignisse schnell wie- auf den symbolischen Part. Man geizte der ab? Mündet der schnelle Wandel me- nicht mit stolzen Vergleichen wie jenem dialer Stimmungen in eine langfristige mit dem Römischen Reich oder mit Karl Delegitimierung? Oder ist es im Gegen- dem Großen. Kritische Fragen nach der teil so, dass die wachsende Aufmerksam- Notwendigkeit einer Harmonisierung der keit, die der EU zuteil wird, ob negativ Steuersysteme im Zuge der Währungs- oder positiv, zu einer „Naturalisierung“ der EU als Gemeinwesen führt, d. h. zu einem Erstarken durch ihre Funktion als Plattform für Konflikte und Debatten? Nach dem Grad ihrer Institutio- Was bedeutet eine problemorientierte nalisierung lässt sich die euro- europäische Öffentlichkeit tatsächlich? päische Öffentlichkeit relativ Medien können als diskursives Univer- leicht definieren; schwieriger sum betrachtet werden, in dem nationale und europäische Werte und Identitäten ist es, die ihr zugrunde liegende geformt werden, aber diese Werte lassen Wertesubstanz zu fassen. sich nicht einfach so bestimmen. Werte

15 Selbstbild – Das Bild von Europa spielt. Die Frage nach sozialer Solidari- tät, die während des 19. Jahrhunderts bei der Herausbildung der Nationalstaaten eine Schlüsselrolle gespielt hatte, wurde nach der Erweiterung der EU 15 zur EU 25 zur umstrittenen europäischen Kern- frage, man beschuldigte sich des Sozi- über Europa sind stets anfechtbar und aldumpings und des sozialen Protekti- wandelbar, abhängig von äußeren Um- onismus. Ein (gefährlicher) Weg, diese ständen. Es existiert kein „europäischer Spannung in der Frage sozialer Werte Wertekanon“, ungeachtet davon, ob man zu lösen, könnte darin liegen, die Frage ihn christlich, rational, aufklärerisch nach innereuropäischen sozialen Gren- oder wissenschaftlich definiert. zen zur Frage nach äußeren kulturellen Vielleicht können wir von einem gro- Grenzen umzuformulieren und Kultur ßen Vorrat an Werten sprechen, aus nach ethnischen und religiösen Gesichts- dem je nach Zusammenhang geschöpft punkten zu definieren. Die Türkei ist ein werden kann. Beim Emediate-Projekt, prototypisches Beispiel. Angesichts der einem europäischen Forschungskonsor- europäischen Geschichte sollten wir die tium, das vom Florenzer European Uni- Risiken jeder Beschwörung kultureller versity Institute koordiniert und vom EU Bindekraft kennen. Framework Programme finanziert wird, steht das Akronym Emediate für Ethics Europäische Öffentlichkeit als Idee and Media of a European Public Sphere. Von den Römischen Verträgen bis zum Die Theorie einer problemorientierten Krieg gegen den Terror wurde der Grad europäischen Öffentlichkeit basiert in der Auseinandersetzung und des Wandels vielerlei Hinsicht auf der Weltsicht Ha- in Phasen intensiver Krisenerfahrung un- bermas’, die Öffentlichkeit mit vernunft- tersucht, von den 50er Jahren bis zum basierter Kommunikation gleichsetzt, Irakkrieg. Im Licht dieser Streitigkeiten was im Gegenzug zu vernunftbasierten und Veränderungen ist es schwierig, die Lösungen der jeweiligen Probleme führt. Idee europäischer Werte als lineare Ab- Der öffentliche Raum ist ein Ort ratio- leitung aus der Antike und dem Chris- naler Argumentation. Diese befördert ei- tentum zu verstehen. Die Qualität und nen vernunftgesteuerten Verfassungspat- Substanz der Mediendebatten über Eu- riotismus und ein „europäisches Volk”. ropa, ihre Rolle und Verantwortlich- Eine europäische Verfassung wäre ein keiten sind einem steten Wandel ausge- Nebenprodukt der europäischen Öffent- setzt. Die Phase von 2003 bis 2005 war lichkeit und umgekehrt. Der Rechtswis- hinsichtlich der europäischen Werte senschaftler Dieter Grimm und andere besonders dramatisch. Die europäische stellten in den 90er Jahren die These auf, Bastion des Friedens in den Wirren des dass – entgegen Habermas – eine europä- Kriegs gegen den Terror fand in der öf- ische Öffentlichkeit nur aus einem euro- fentlichen Wertevermittlung keinen ge- päischen Volk resultieren könne.5 Diese meinsamen Nenner. Als Europa die USA Frage nach dem Ei des Kolumbus zwi- auf der Seite der Achse des Guten gegen schen Habermas und Grimm führt nicht die Achse des Bösen unterstützte – oder weiter. Ein schlagkräftigeres Argument eben nicht –, wurden westliche gegen eu- gegen Habermas hat der Historiker Rein- ropäische Werte ausgespielt. Menschen- hart Koselleck mit der Moderne als kons- rechte als europäische Grundrechte wur- tante und dynamische Bewegung zwi- den gegen die staatliche Gewalttradition schen Kritik und Krise eingebracht. Die nach Hobbes im Kosovo und Irak ausge- Beschleunigung verkleinert den Raum

16 Das Bild von Europa – Selbstbild

zwischen Erfahrung und künftiger Er- Kosellecks pessimistischerer Sichtweise. wartungshaltung. Unser Horizont hat sich Habermas’ Theorie bedarf auch in einer so erweitert, dass wir ihn immer weniger weiteren Hinsicht der Konfrontation mit überschauen und auf seiner Grundlage alternativen Standpunkten. Ich denke an neue Erwartungen abstecken können. Adorno und Horkheimers kritische Theo- Der öffentliche Raum als Informations- rie mit den Massenmedien als Instrument mittler wurde durch die Beschleunigung des Massenkonsums und der Marktma- und exponentiell anwachsende Informa- nipulation und nicht als Vermittler ra- tionsmenge im Fundament erschüttert. tionaler Argumente, als marktgesteuer- Die Distanz zwischen Erfahrung und te Meinungsmanipulation und neutrale Erwartung scheint sich nach Ende des Wissensvermittler. Habermas’ Theorie ist Kalten Krieges weiter zu verringern. Zu- nicht in jeder Hinsicht veraltet, aber seine nächst wurden die Ereignisse von 1979 Thesen müssen anderen pessimistische- als dramatisch wachsende Kluft wahr- ren – oder realistischeren – Perspektiven genommen, für die Erwartungen der ei- gegenübergestellt werden. Vielleicht sind nen vereinten Welt gab es keine Grenzen wir auf Habermas als Inspirationsquelle von Raum oder Zeit. In den Augen vie- und Messlatte angewiesen. Um naiven ler Menschen war ein historisches Ka- Vorstellungen über die Zukunft von Eu- pitel abgeschlossen. Die Entwicklungen ropa und seiner Werte in der europä- in Jugoslawien haben gezeigt, wie ver- ischen Öffentlichkeit vorzubeugen, darf messen die neuen Erwartungen waren, Habermas nicht außer Acht gelassen wer- die Lücke zwischen Erfahrung und Er- den. wartung schloss sich schnell. Beispielhaft sind die wachsenden Indizien eines sozi- Aus dem Englischen von Jenni Roth alen Konflikts im Zuge der Erweiterung. Eine ironische Entwicklung, denkt man Bo Stråth ist seit 1997 Professor für an die wortgewaltigen Ankündigungen neuere Geschichte am European Universi- ty Institute in Florenz. 1990 bis 1996 war er einer finalen europäischen Einigung am Professor für Geschichte an der Universität 1. Mai 2004. Göteborg. Sein Forschungsschwerpunkt liegt Habermas gilt als optimistischer The- auf der historischen und globalen Perspekti- oretiker, die Entwicklungen in den ver- ve auf die europäische Moderne, ein soziales gangenen 15 Jahren zeigen die Notwen- Europa, eine europäische Kultur sowie eine europäische Öffentlichkeit. digkeit einer Auseinandersetzung mit

1 E. François und H.-E. Bödeker (eds.): Aufklärung/Lumières und Politik. Zur 4 Alan S Milward, The European Rescue of the Nation States. London: politischen Kultur der deutschen und französischen Aufklärung (Leipzig, Routledge 1994. 1996). 5 Dieter Grimm, ”Does Europe Need a Constitution?“ In: European Law 2 J. Osterhammel: Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Journal 1:3 1995: 282–302. Habermas, J.: “Verfassungspatriotismus – im Reiche im 18. Jahrhundert, (München, 1998). allgemeinen und im besonderen.” In: Die nachholende Revolution. Haber- 3 Zwischen den beiden Weltkriegen beschäfitgten sich nicht nur intellektuel- mas, J. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990. Ibid: “Ein Ruck muss durch Europa le, politische und wirtschaftliche Eliten mit europäischen Themen, ebenso gehen“, In: Die Weltwoche 21, 2004. Peter Graf Kielmansegg: “Läßt sich die breite Bevölkerung. Vgl. K. Orluc: “A last Stronghold against Fascism die Europäische Gemeinschaft demokratisch verfassen?“ In: Europäische and National Socialism? The Pan-European Debate over the Creation of a Rundschau 22:2 1994: 23–33. Fritz W Scharpf,. Governing in Europe: Effective European Party in 1932” In: Journal of European Integration History, 2002, and Democratic? Oxford 1999. Volume 8, Number 2, S. 23-43.

17 Die Marke Europa Auf der Beliebtheitsskala des „Nation Brands Index“, den der Autor seit 1996 regelmäßig veröffentlicht, rangieren die einzelnen europäischen Länder weit oben. Wenn das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, müsste Europa auf dieser Rangliste fantastisch abschneiden. Aber als Summe seiner Staaten tut sich der Kontinent sehr schwer. Von Simon Anholt

Dennoch ist ein tiefer gehendes Ver- ständnis an dieser Stelle unabdingbar. Die Welt ist zu einem Markt zusammen- gewachsen. Die schnell fortschreitende Globalisierung führt dazu, dass jedes Land, jede Stadt und jede Region mit den anderen konkurrieren muss: um Konsu- menten, Touristen, Investoren, Studenten, Unternehmer, internationale Sport- und Kulturereignisse, um die Aufmerksamkeit und den Respekt internationaler Medien, anderer Regierungen und anderer Völker. Auf einem so dicht bevölkerten und be- triebsamen Markt begreifen die meisten eute legt jeder Ort der Welt gro- Menschen und Organisationen nicht, was ßen Wert darauf, sein interna- andere Orte tatsächlich ausmacht. Wir Htionales Image aufzupolieren. wandeln alle durch eine komplexe mo- Dennoch sind wir noch weit davon ent- derne Welt, wir bauen unsere Meinungen fernt zu verstehen, was das konkret be- aus simplen Klischees zusammen, auch deutet, und inwieweit kommerzielle An- wenn wir uns dessen nicht immer bewusst sätze effektiv und verantwortungsvoll auf sind oder es uns nicht eingestehen: In Pa- Regierungen, Gesellschaften und wirt- ris dreht sich alles um Stil, in Japan um schaftliche Prozesse angewandt werden Technologie, in der Schweiz um Reichtum können. Viele Regierungen, die meis- und Präzision, in Rio de Janeiro um Kar- ten Berater und sogar manche Wissen- neval, in der Toskana um das Savoir Vivre schaftler bestehen auf einer naiven und und in den meisten afrikanischen Län- oberflächlichen Definition „lokaler Mar- dern um Armut, Korruption, Krieg, Hun- kenpolitik“, die nicht über gewöhnliche ger und Naturkatastrophen. Die meisten Produktpromotion, Öffentlichkeitsarbeit von uns sind zu beschäftigt mit sich selbst und Corporate Identity hinausgeht. Das und ihren Ländern, dass sie sich nicht die Produkt ist dabei eher zufällig ein Land, Mühe machen, sich ganzheitliche, aus- eine Stadt oder eine Region und nicht eine geglichene und stichhaltige Meinungen Bank oder ein Laufschuh. von sechs Milliarden anderer Menschen

18 Das Bild von Europa – Selbstbild

und von fast 200 anderen Ländern zu ausstrahlen und eine Steuerungsstrategie machen. Wir behelfen uns mit Pauschal- entwickeln. Ihre Schlüsselaufgabe ist es, urteilen über die meisten Menschen und ein Image zu schaffen, das der Wahrheit Orte – auch jene, die wir vermutlich nie- entspricht, das Macht vermittelt, attraktiv mals kennenlernen oder besuchen wer- ist, wirtschaftlichen, politischen und so- den – und verfeinern diese Eindrücke zialen Zwecken dient, das aufrichtig den nur, wenn wir aus irgendeinem Grund Geist, das Können und den Willen des ein tiefer gehendes Interesse an ihnen ent- Volkes widerspiegelt. Diese hehre Aufgabe wickeln. Wenn man keine Zeit hat, ein ist im 21. Jahrhundert zu einer Kernkom- Buch zu lesen, bildet man sich seine erste petenz nationaler und regionaler Verwal- Meinung anhand des Covers. tungssysteme geworden. Diese Klischees und Stereotypen – ob positiv oder negativ, ob wahr oder falsch Wie kreiert man ein lokales Image? – beeinflussen unser Gefühl und unser Verhalten gegenüber fremden Orten, de- Die meisten Länder und Regionen ren Menschen und Produkten. Es mag be- kommunizieren mit anderen Teilen der dauerlich sein, aber ein Gegenmittel gibt Welt und erschaffen über sechs Kanäle es nicht. Es ist schwierig für eine Region Bilder in den Köpfen bestimmter Öffent- oder ein Land, Menschen auf der anderen lichkeiten: Seite des Globusses dazu zu bringen, ei- 1. tourismus: unmittelbare Erfah- nen Blick hinter die simplen Kulissen zu rungen aus erster Hand durch Be- werfen und zu verstehen, welch komplexe suche in anderen Ländern, sei es Welten dahinterstehen. als Tourist oder in geschäftlicher Manche fortschrittlichen Orte rühmen Mission. Dieses Feld hat die größ- sich lange nicht mit so viel Aufmerksam- te markenbildende Strahlkraft, da keit, Besuchern, Geschäften und Investi- Fremdenverkehrsämter meist über tionen, wie sie bräuchten. Schuld ist meist die größten Budgets und das kompe- ein farbloses oder negatives Image, wäh- tenteste Marketing verfügen. rend andere immer noch von einem guten 2. exportprodukte und Service. Die- Ruf zehren, mit dem die Geschichte sie vor se Faktoren fungieren als einfluss- Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten, reiche Botschafter für jedes Land gesegnet hat, und tun heute relativ wenig, und jede Region, jedoch nur dort, wo um diesem Ruf gerecht zu werden. Alle ihre Herkunft genau verortet werden Orte mit einem guten, einflussreichen kann. und positiven Ruf tun sich im internati- 3. Die politischen Entscheidungen der onalen Wettbewerb leicht, während Orte regionalen Regierungen, sei es au- mit einem schlechteren Image auf der ßen- oder innenpolitische, von denen internationalen Bühne einen schweren wir in den internationalen Medien Stand haben. Daher müssen alle verant- erfahren. Normalerweise läuft die wortlichen Regierungen und Verwal- grenzüberschreitende Kommunika- tungsapparate im Auftrag ihrer Völker, tion über den diplomatischen Dienst. Institutionen und Firmen verstehen, wel- Aber es lässt sich eine Tendenz zu ches Image sie jenseits der Landesgrenzen einer Annäherung zwischen poli-

19 Selbstbild – Das Bild von Europa

tischen Entscheidungsträgern und steht, Kommunikation, Investitionen, internationalen Medien ausmachen. Aktionen und Verhaltensweisen an allen 4. Die Aufmerksamkeit für den Han- sechs Eckpunkten so zu koordinieren, del, die Art und Weise, wie eine Re- dass die Botschaft verstärkt wird, der gion oder ein Land Binneninvestiti- hat eine gute Ausgangslage zum Aufbau onen fördert, ausländische „Talente” und Erhalt eines einflussreichen und po- rekrutiert und ausländische Firmen sitiven internen sowie externen Rufes. In im Land/in der Region positioniert. diesem System profitieren alle nachhal- 5. Durch kulturellen Austausch, Akti- tig: Exporteure, Importeure, die Regie- vitäten und Exporte: die Welttour- rung, der Kultursektor, der Tourismus, nee einer nationalen Oper, das Werk Immigranten und die internationalen Be- eines berühmten Autors, die natio- ziehungen in ihrer Gesamtheit. nale Sportmannschaft. 6. Die Menschen der Region selbst: öf- - Die „Competitive Identity” braucht, fentliche Persönlichkeiten, Medien- wie jedes andere nationale oder re- und Sportstars sowie die Bevölke- gionale Projekt, ein klares und fest rung im Allgemeinen. Wie verhalten abgestecktes Ziel. Auf regionaler sie sich im Ausland und gegenüber Ebene ist eine Mischung aus präzi- Besuchern im eigenen Land? sen kurzfristigeren Zielen vorzuneh- men (etwa ein bestimmter Zuwachs Um sich ein besseres Bild des Systems zu im ausländischen Direktinvestment verschaffen, werden diese „natürlichen” oder die Organisation eines prestige- Kommunikationskanäle in einem Sechs- reichen internationalen Events) und eck grafisch dargestellt. einem langfristigen nationalen Ima- gewandel, der sich über Jahrzehnte zieht, üblich. Länder und Regionen mit einer einflussreichen und posi- tiven Identität benötigen: - klarere nationale Abstimmung zu regionaler Identität und gesellschaft- lichen Zielen - ein innovationsfreundliches Klima - effektivere Förderung von Investiti- onen The Hexagon of Competitive Identity © 2002 - effektivere Förderung des touristi- Simon Anholt schen Sektors - optimale Ausschöpfung der regio- Hinter dem Management von Identität nalen Herkunft von Produkten für und Image eines Landes oder einer Re- Exporteure von Produkten und Ser- gion steht eine grundlegende Annahme: vice Wer eine klare und glaubwürdige Vor- - ein stärkeres Profil in den internatio- stellung davon hat, was die Region aus- nalen Medien macht, was sie repräsentiert, und es ver- - einen leichteren Zugang zu ande-

20 Das Bild von Europa – Selbstbild

ren regionalen und globalen Körper- staat, was ein Fazit dementsprechend er- schaften und Institutionen schwert. Dennoch kristallisiert sich ein - ergiebigere kulturelle Beziehungen faszinierendes Bild der globalen Wahr- mit anderen Ländern und Regionen nehmung Europas heraus. Das klare Urteil ist in der Tat positiv. Es gibt also viel zu tun. Aber ohne Eine überraschende Erkenntnis für man- eine mächtige und positive regionale che Leute, besonders in Europa selbst, wo Identität ist es schwierig, auch nur ei- die EU nicht immer als anerkannte oder nen Teil dieser Ziele in die Realität um- gar vorbildhafte globale „Marke“ wahr- zusetzen. genommen wird. Die EU nimmt in der Rangliste des NBI den ersten Platz ein, „Marke Europa” über dem bisherigen Spitzenreiter Groß- britannien. Die Region punktet weniger Anfang 2005 initiierte ich in Zusam- in den genannten Einzelpunkten des He- menarbeit mit Global Market Insite in xagons, sondern zeichnet sich durch ei- Seattle regelmäßige globale Gutachten zur nen so starken und einheitlichen Auftritt Wahrnehmung von Ländern und Städten auf, dass sie eine höhere Gesamtpunkt- durch die Konsumenten: Besser bekannt zahl erreicht als die restlichen 35 Länder sind sie unter den Begriffen Anholt „Nati- auf der Liste. on Brands Index“ (NBI) und „City Brands Einerseits ist das keine Überraschung. Index“ (CBI). 2006 begann ich, jeweils Wenn Europa als Summe seiner Mitglied- ein Gastland in die vierteljährlichen Er- staaten wahrgenommen würde, wäre eine hebungen einzubauen. Es erlaubt neben gute Platzierung zu erwarten: Mehr als Informationen zu den 35 Ländern, die die Hälfte der Top 20 unter den Listen- regelmäßig in die Erhebungen mit ein- ländern im ersten Quartalsbericht sind fließen, eine globale Momentaufnahme europäisch. Nur wenige Länder auf der jedes anderen Landes, das gerade von In- Erde könnten die Kombination aus den teresse ist. Marken Italien, Frankreich, Großbritan- Im zweiten Quartal 2006 beschloss ich, nien, Deutschland, Schweden etc. toppen. diesen “Guest slot” nicht einem Land, son- Und das ist der Knackpunkt. Fragt man dern der Europäischen Union zu widmen. nach einem europäischen Image, stößt 14 der 25 Mitgliedstaaten finden sich im man schnell auf technische Fragen: das NBI schon wieder, so dass wir ein klares Wort „Europa“ kann in verschiedenen Bild davon haben, wie sie als individuelle Zusammenhängen für viele Menschen je- „Marken“ funktionieren, nicht aber da- weils etwas anderes bedeuten, und oft ist von, wie die „Marke Europa“ als Ganzes problematisch, genau festzulegen, welche nach außen wirkt. Daher schien es mir „Marke“ gerade erhoben wird. eine gute Idee zu sein, mit dem NBI das Für viele Menschen in Asien und der Image von Europa zu erfassen. Verglichen Pazifikregion, in Amerika, im Nahen Os- mit den 26.000 Antworten für den NBI ten und in Afrika bezieht sich „Europa“ aus 35 Ländern zeigt sich ein deutlicher zunächst einmal auf den Kontinent – also Unterschied zwischen einer großen, viel- eher auf eine relativ unbestimmte geo- schichtigen Region und einem National- grafische, historische und kulturelle Ein-

21 Selbstbild – Das Bild von Europa der Begriff „EU“ unzweifelhaft für die politische und administrative Maschine- rie in Europa, die wiederum als lästig, wenn nicht kontraproduktiv oder kor- rupt wahrgenommen wird: ein bürokra- tisches Monster mit unnötigen und stö- renden Gesetzen, mit überkommenen heit ohne präzisen politischen Bezug. Jene Ideologien etc. Menschen verbinden die Idee von „Eu- Das sind zweifelsohne auch die Grün- ropa“ mit einem breiten Spektrum an at- de, aus denen die Mehrheit der Niederlän- traktiven Konzepten, einer wundervollen der und Franzosen den Verfassungsent- Sammlung erstrebenswerter Konsum- wurf 2005 ablehnten. marken (man denke an deutsche Autos Wenig überraschend ist, dass sich die und Haushaltsgeräte, an italienisches und Perspektiven zwischen langjährigen Mit- französisches Essen, Mode und Lebens- gliedstaaten, den neueren Mitgliedern so- art sowie schweizerische Technologie und wie den Beitrittskandidaten voneinander skandinavisches Design), mit einem der unterscheiden. Letztere assoziieren die beliebtesten Reiseziele auch für Kulturin- „Marke Europa“ mit Wohlstand, der fi- teressierte, einem Block aus den stabilsten nanziellen Hilfe durch eine Gemeinschaft Demokratien weltweit, mit einigen der freier Nationen und mit der Abgrenzung größten und dynamischsten Wirtschafts- zu den alten Sowjetrepubliken. systeme in der Welt usw. Die Tatsache, Die Tabelle veranschaulicht, wie jedes dass in der Untersuchung die Europäische der 35 Länder in dem NBI die EU nach den Union und nicht Europa im Fokus steht, Punkten im Hexagon beurteilt. Die Daten scheint die Wahrnehmung nicht zu beein- zeigen, dass die Mehrheit in der EU eine flussen. Informelle Untersuchungen legen vielversprechende Region, wenn nicht nahe, dass viele Leute in anderen Teilen gar eine blühende Landschaft sieht: Der der Welt die EU mit dem europäischen Großteil ist der Auffassung, dass man in Kontinent gleichsetzen. Die Menschen den meisten Ländern gut leben, arbeiten sind auch sehr ungenau, wenn es darum und studieren kann. Industrie, Wissen- geht, die Wahrnehmung von Europa in schaft und Entwicklung stehen hoch im eine politische und geografische Region Wahrnehmungskurs, die europäischen zu trennen. Die Wahrnehmung vom Kon- Bürger werden als Freunde und erfah- tinent Europa ändert sich nur, wenn wir rene Arbeitskräfte geschätzt. Auch hier spezifische Fragen zur Regierungsform wird die Regierung der EU nicht so positiv stellen: Dann sind die Befragten ange- beurteilt, besonders von den eigenen Bür- halten, die EU-Politik als Regionalmacht gern, ohne ein ernsthaftes Problem darzu- zu sehen und nicht als Ansammlung von stellen. Die Ranglisten für zeitgenössische Einzelstaaten. An diesem Punkt im He- europäische Kultur können sich sehen las- xagon steht Europa durchschnittlich an neunter Stelle, die bislang niedrigste Wer- tung. Es kristallisiert sich ein Bild her- Für die Europäer steht der Be- aus, in dem Europa als Kontinent beinahe hochachtungsvoll wahrgenommen wird, griff „EU“ unzweifelhaft für während Europa als Institution gering die politische und administra- bewertet wird. tive Maschinerie in Europa, die Die Europäer setzen die EU ganz und wiederum als lästig, wenn nicht gar nicht gleich mit dem Kontinent Eu- ropa und sie assoziieren Europa meist als kontraproduktiv oder kor- mit Europa als Institution. Für sie steht rupt wahrgenommen wird.

22 Das Bild von Europa – Selbstbild

sen. Überraschender mag da sein, dass Wie die Welt Europa sieht das Kulturerbe und der Tourismus – die Rangliste der Marken in der EU unter den 35 erhobenen Ländern Gastfreundlichkeit, die den Europäern im ANHOLT NATION BRANDS INDEX (2. Quartal, 2006) zugeschrieben wird, mit eingeschlossen All Exports Govern. Culture People Tourism Invest./ – seine größten Schwachstellen sind. Immigr. Zu den Ländern, in denen das Marken- All Countries 1 4 9 7 4 7 4 image von Europa sehr hoch eingestuft Argentina 1 4 10 6 6 4 3 Czech Rep. 1 3 9 4 2 4 1 wird, gehören vier Gründungsmitglieder Egypt 1 4 4 4 6 4 1 der Union (Belgien, Frankreich, Deutsch- Poland 1 3 9 4 1 6 1 land und Italien), einige spätere Mitglieder Portugal 1 4 10 10 2 3 1 (Irland, Portugal, Tschechische Republik, Russia 1 3 9 4 2 6 3 Brazil 2 3 6 5 7 7 2 Polen, Spanien und Ungarn), eine kleine Hungary 2 4 13 3 1 2 2 Gruppe von Drittländern (Argentinien, Belgium 2 1 9 3 5 4 3 Brasilien, China, Indonesien und Mexi- France 2 4 9 2 6 7 3 ko), Ägypten, Russland und die Schweiz. 2 3 7 2 7 5 2 Ireland 2 3 4 10 6 6 2 Die Türkei als EU-Beitrittskandidat zeigt Italy 2 3 9 2 3 2 2 sich weniger positiv eingestellt und plat- Spain 2 4 7 3 2 3 2 ziert Europa auf dem vierten Rang. Die Switzerland 2 3 10 5 6 10 3 China 3 3 5 6 4 5 3 Niederlande, das einzige Land, das 1952 Indonesia 3 4 3 6 3 10 3 Mitglied der ursprünglichen Europä- Mexico 3 4 15 7 5 6 3 ischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl India 4 6 8 4 8 3 6 (abgesehen von Luxemburg, wo der NBI Netherlands 4 4 12 11 9 17 3 Turkey 4 3 6 4 11 8 2 nicht erhoben wurde) war, stellt die EU Singapore 5 7 9 10 10 5 7 auch auf den vierten Platz, und vergibt im South Africa 5 5 12 9 10 8 6 Hexagon weniger Punkte als seine Grün- South Korea 5 5 3 7 8 8 8 dungspartner. Estonia 7 4 11 12 6 7 2 Norway 7 8 11 13 12 8 7 Unter den Ländern mit der geringsten UK 7 5 12 11 10 16 6 Wertschätzung von Europa (auf Platz sie- Japan 9 6 7 7 12 14 9 ben oder gar darunter) sind Schweden, New Zealand 9 7 9 11 12 4 8 Dänemark und das gewohnt Europa-skep- Sweden 9 5 12 15 15 20 7 Canada 10 6 10 11 14 13 10 tische Norwegen – obgleich es bemerkens- Malaysia 10 5 11 14 11 13 8 wert ist, dass das EU-externe Norwegen Australia 11 9 12 10 13 16 8 europafreundlicher ist die EU-Mitglieder USA 12 8 13 12 17 18 11 Schweden und Dänemark. Das nordisch Denmark 16 7 11 20 15 21 7 Source: www.nationbrandsindex.com orientierte Estland stuft die EU sehr nied- rig ein, ebenso wie Großbritannien (das die NBI-Ergebnisse unterstreicht, wonach die EU nur als Anbieter von Markenpro- die Briten andere englischsprachige Com- dukten schätzen), Malaysia und Japan. monwealth-Länder höher einstuften als Blickt man auf die Regierungsstruk- ihre europäischen Partner). Dazu kom- turen, ergibt sich ein anderes Bild. In der men die die alten Commonwealth-Mit- positivsten Gruppe finden sich weniger glieder selbst (Australien, Neuseeland EU-Staaten: nur Irland und Spanien (bei- und Kanada), die USA (wo die Befragten de haben wirtschaftlich vom EU-Beitritt

23 Selbstbild – Das Bild von Europa

profitiert) sowie Deutschland stufen die bedarften jungen Leuten kommen und EU in Regierungsfragen besser ein als auf nicht von der Kommission selbst oder von einen neunten Platz, derselben Ansicht einem der Mitgliedstaaten). sind sieben Nicht-EU-Länder und die Tür- Der Wettbewerb mag dem Vergnügen kei. Am geringsten achten Ungarn und die dienen, spiegelt aber einen wichtigen Me- Niederlande die EU-Verwaltung. Die As- chanismus lokaler Images wider: Eben- pekte Investition und Immigration stim- so wie kommerzielle und Firmenmarken men besser mit dem Gesamtbild überein. rührt eine einflussreiche Markenidentität Eine Ausnahme bildet Estland, das sich meist von einem einflussreichen Gemein- mit den neuen Mitgliedstaaten zur posi- schaftssinn mit gemeinsamen Zielen her. tivsten Gruppe gesellt. Einige andere Er- Egal welche Firma man nach ihrer Marke gebnisse sind erst im Detail interessant: fragt, sie wird in erster Linie über ihre beispielsweise das eklatante Identifika- Gemeinschaftskultur sprechen – wie die tionsdefizit von Holland und Dänemark Belegschaft die Marke „lebt“ – und dann bezogen auf Kultur, Bevölkerung und erst auf die Kommunikation nach außen Tourismus. Portugal, Irland und Groß- und die Öffentlichkeit eingehen. Wer im- britannien – drei Atlantikstaaten – kön- mer noch glaubt, dass Logos und Slogans nen sich kulturell nicht für den Rest der mehr erreichen als eine wohlgesinnte Öf- EU erwärmen, anders als die Herzländer fentlichkeit an einem wichtigen Jahres- der Römischen Verträge oder Spanien. tag, sollte eines nicht vergessen: Ohne ein gemeinsames Ziel gibt es keine Gemein- Definition der „Marke Europa“ schaft und ohne eine Gemeinschaft keine Identität. In der jüngsten Vergangenheit hat Dass Europa als Institution einen es hitzige Debatten zum Image von Eu- so viel schlechteren Ruf genießt als der ropa gegeben, nach innen und nach au- Kontinent Europa, liegt am Mangel einer ßen. Sogar die Europäische Kommission einflussreichen und intern respektierten schrieb anlässlich des 50. Jahrestages des Marke, eines Gefühls für gemeinsame Römischen Verträge – eine Woche, bevor Ziele und eine gemeinsame Identität. die zweite Quartalsausgabe des NBI von In diesem Stadium nach Logos oder 2005 gedruckt wurde – einen europawei- Slogans für Europa zu fragen, ist so wenig ten Studentenwettbewerb für ein neues sinnvoll wie in ein Restaurant zu gehen Logo sowie einen Slogan für Europa aus. und um die Rechnung zu bitten – man Die Entscheidung für einen Wettbewerb kann den zweiten Schritt nicht vor dem um eine „Markenidentität“ ist kein Zu- ersten machen. fall: Besonders in den Augen vieler jun- Als die Erinnerung an den Zweiten ger Menschen befindet sich Europa in so Weltkrieg in den Köpfen der Menschen etwas wie einer Identitätskrise, und es noch lebendig war, kannte Europa der- wäre sicher hilfreich, wenn Europa sich lei Probleme nicht. Im Mittelpunkt ihres gemeinschaftlich mit einem Slogan und Gründungsstatuts standen dauerhafter einem Logo positionieren würde. (Die Frieden und Wohlstand. Heute zahlt die Chancen für solch einen Konsens wach- EU den Preis ihres Erfolgs: Frieden und sen immens, wenn die Vorschläge von un- Wohlstand sind so weit gesichert, dass

24 sie sich selbst ihrer Aufgabe entledigt hat Das Bild von Europa – Selbstbild oder doch zumindest der Annäherung an ein gemeinsames Ziel. Ein gemeinsames Ziel existiert immer noch, aber es muss definiert, aktualisiert und konkretisiert werden. Europa be- findet sich wieder einmal inmitten eines Konflikts, der die globale Stabilität genau- duktives Dilemma, da es die Versuchung so bedroht wie in der ersten Hälfte des der Länder mindert, sich auf vergangenen 20. Jahrhunderts. Das wachsende Span- Lorbeeren auszuruhen. nungsverhältnis zwischen „westlicher“ Rasse spielt eine kritische Rolle bei na- und islamisch geprägter Welt und die Not- tionaler und regionaler Identität und ist wendigkeit, die Self-Fulfilling Prophecy in der Tat einer der Hauptgründe dafür, eines „Kampfes der Kulturen“ abzuwen- weshalb so viele Länder – meist wohlha- den, tritt nirgends deutlicher zutage als bendere europäische Staaten – sich ernst- in den Beitrittsverhandlungen mit der haft Gedanken darüber machen müssen, Türkei und in der Art und Weise, wie die ob ihr traditionelles internationales Image meisten EU-Mitglieder damit ringen, ihre ihre gegenwärtige Realität tatsächlich wi- eigenen nationalen Identitäten zu formu- derspiegelt, auch wenn sie einen guten lieren, um immer mehr Immigranten aus Ruf genießen. Vielleicht liegen hier auch verschiedenen Regionen, Kulturen und die Wurzeln für die aktuellen Rassen- Glaubensrichtungen zu integrieren. konflikte in Frankreich. Die „Markenge- Die Herausforderung für ganz Eu- schichte“ Frankreichs, die Wahrnehmung ropa und über seine Grenzen hinweg ist des Landes und in gewisser Hinsicht auch die Gratwanderung, das kulturelle Erbe die Art und Weise, wie es sich selbst nach in Verbindung mit neueren Errungen- außen repräsentiert, entspricht immer schaften so darzustellen, dass sie als fri- noch der Geschichte einer weißen christli- sche, eingängige und attraktive Marke chen europäischen Herrschaft. Aber viele auch die jüngere Generation in den Bann Franzosen, die weder weiß noch Christen zieht. Diese Aufgabe wird durch die wach- sind, haben das Gefühl, von der Geschich- sende Pluralität moderner Gesellschaften te ausgeschlossen zu sein. Das führt zu zur Zwickmühle. Europa erstrahlt im bitteren Ressentiments und beeinflusst Glanz seiner glorreichen und monokul- damit auch die Außenwahrnehmung des turellen Vergangenheit, darf dabei aber Landes. Verfolgt man die internationalen seine multiethnische Realität nicht aus Schlagzeilen zu den innerstädtischen Un- den Augen verlieren. Die einzige Lösung ruhen, verwundert es nicht, dass Frank- liegt darin, gleiches Gewicht auf die ge- reichs Regierungsranking im NBI nach genwärtigen kulturellen Bemühungen zu unten tendiert – und der NBI ist bekannt legen. Das Ergebnis ist im Grunde ein pro- für seine stabilen Ergebnisse. Viele Län- der müssen erst wieder beginnen, ihre Identität zu formen und sie im Licht der Heute zahlt die EU den Preis sich wandelnden Bevölkerungsstruktur nach außen zu präsentieren. Es ist eine ihres Erfolgs: Frieden und der drängendsten Aufgaben der Regie- Wohlstand sind so weit gesi- rung und eine akute Herausforderung chert, dass sie sich selbst ihrer für die Länder und Regionen, ihren ex- Aufgabe entledigt hat oder doch ternen Ruf und ihr internes Ziel richtig einzuschätzen und zu managen. zumindest der Annäherung an Ein weiterer Grund für das schwache ein gemeinsames Ziel. „Markenimage” Europas ist die festge-

25 Selbstbild – Das Bild von Europa

fahrene Gewohnheit der Mitgliedsregie- pa als Institution niemals mehr sein als rungen, jeden Erfolg den eigenen Reihen ein schwacher Schatten eines Europa als zuzuschreiben und jeden Misserfolg auf Kontinent. die EU abzuschieben. Vielfältige Loyali- Ob es uns gefällt oder nicht, unsere täten sind aber möglich; man kann sich Wahrnehmung lässt sich nicht von der Re- mit der Gemeinde identifizieren, mit der alität trennen oder unterscheiden. Wenn Region, mit dem Land, dem Kontinent die Institutionen in Europa nicht lernen, – aber da, wo die Loyalität am schwächs- „weiche“ Fragen der Identität und des An- ten ist, bietet sie eine Angriffsfläche für sehens mit so großem Ernst und Respekt Politiker, die den Ort als Sündenbock für zu behandeln, wie sie es mit den „harten“ alles Ungewollte, Unerwünschte oder Ne- Streitfragen tun, werden sie schnell mer- gative ausnützen. Im Laufe der Zeit höhlt ken, dass der wahre Fortschritt Europas dieses Schema die Marke weiter aus. Wäh- utopisch bleibt. rend ein Ort sein starkes Image an allen Eckpunkten des Hexagons seiner eigenen Aus dem Englischen von Jenni Roth Kompetenz, Innovationsfähigkeit und At- traktivität zuschreiben kann, sind der EU Simon Anholt ist Gründer des „Nation Brands als Institution die Hände gebunden: Sie Index“, des „City Brands Index“ und des „Sta- te Brands Index“. Er ist Mitglied des „Public inspiriert ihre Bürger nur selten mit Kul- Diplomacy Board“ der britischen Regierung tur, Tourismus, Bevölkerung, Business und arbeitete als Berater für die Regierungen und Marken. Sie fällt meist nur als lang- der Niederlande, von Jamaica, Tansania, Is- weiliger und lästiger Verwaltungsapparat land, Schweden, Botswana, Deutschland, ins Gewicht. Die Aufgabe der Identitäts- Südkorea, Rumänien, Schottland, Kroatien, der Mongolei, des Baltikums, von Bhutan, findung für Europa ist daher hauptsäch- Ecuador, Neuseeland, Schweiz und Sloweni- lich nach innen gerichtet: die Definition en, außerdem für die Vereinten Nationen, den einer Aufgabe für die nächsten 50 Jahre, Weltwirtschaftsgipfel und die Weltbank. Er um so einen Konsens herzustellen und ist Mitglied des Europäischen Kulturparla- Leidenschaft zu entfachen. Betrifft das ments und Gründer der Quartalszeitschrift „Place Branding and Public Diplomacy“. Ziel nicht jeden, ist es nicht glaubwür- dig und inspirierend für die Regionen, die den Menschen am meisten am Herzen liegen, dann wird die Marke eines Euro-

26 Europa ist nicht nurDachzei ein le Umschlagplatz für Wirtschaftsgüter, hier wird ebenso um Werte und Kulturen gefeilscht. In der Wertehierarchie rangiert die Kultur über der Wirtschaft. Wenn die Wirtschaft für den Menschen lebensnotwendig ist, macht Kultur dieses Leben lebenswert.

José-Manuel Barroso, Präsident der Europäischen Kommission

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Wer ist Schopenhauer? Europa ist für Japan nah und fern zugleich. Für einen französischen Wein, eine italienische Handtasche oder den Besuch einer deutschen Oper stürzen sich Japaner gern in Unkosten. Aber zunehmend ori- entieren sie sich auch kulturell an den Verei- nigten Staaten. Europäische Sprachen werden uninteressant, Kant und Schopenhauer sind Fremdwörter geworden. Von Atsuko Onuki (Tokyo)

die sich mit einer winzigen Wohnung und billigem Fast Food begnügen, träu- men von einer französischen oder itali- enischen Designer-Handtasche, deren Preis ihrem zweifachen Monatsgehalt entspricht. Manche europäische Firmen, die sich mit ihren Traditionsmarken nur knapp über Wasser halten, wären ohne den japanischen Markt schon längst un- tergegangen. Europa ist aber auch ein beliebtes Rei- seziel, das viele Japaner wenigstens ein- mal im Leben besuchen wollen. Viele ma- chen machen eine schnelle Tour durch m August 2006 erreichte der Kurs den ganzen Kontinent, um sich Rom, Pa- des Euro gegenüber dem japanischen ris, Wien und London und ihre Sehens- IYen eine neue Rekordhöhe. Die ja- würdigkeiten anzuschauen, und sind da- panischen Wirtschaftsexperten aber re- mit zufrieden, dass alles, was sie vor Ort agierten gelassen: Das Alltagsleben wer- sehen, genauso aussieht, wie sie es schon de nicht tangiert, betroffen seien allein in Japan im Fernsehen oder Film gese- die aus Europa importierten Luxusgü- hen haben. Auf dem Flughafen, wo sie ter wie Vuitton- und Chanel-Produkte, mit voll gepackten Souvenirtüten auf den BMW- und Mercedes-Benz-Autos oder die Rückflug warten, zeigen sie sich trium- von Japanern fanatisch begehrten fran- phierend ihre „Beute“: Handtaschen von zösischen Weine. Diese Beobachtung Ferragamo oder Gucci, Parfum von Cha- entspricht genau dem Bild von Europa, nel, eventuell Mozartkugeln. Auch in der das im japanischen Alltag vorherrscht. Kulturszene lässt sich das „alte“ Europa Trotz einer mehr als zehn Jahre anhal- sehr gut verkaufen. Ausstellungen mit Bil- tenden Wirtschaftsflaute erfreuten sich dern französischer Impressionisten sind Markenprodukte aus Europa großer Be- immer gut besucht, die Tickets für eine liebtheit. Die Firma Louis Vuitton etwa Tourneeaufführung irgendeines europä- erzielt allein in Japan fast ein Drittel ih- ischen Opernhauses trotz stolzer Preise res Gesamtumsatzes. Junge Angestellte, (von 300 Euro) schnell ausverkauft.

30 Das Bild von Europa – Fremdbild

Dies ist Europa, wie es sich die meis- Französisch und Deutsch an Gymnasien ten Japaner vorstellen. Europa ist für und Universitäten obligatorische Fremd- sie – fern ihres Alltagslebens – mit be- sprachen; europäische Philosophen wie währter Tradition, süßer Romantik und Descartes, Kant und Schopenhauer wa- verfeinerter Kultiviertheit verbunden. ren Pflichtlektüre. Wer aber kennt heute Epochale wirtschaftliche und politische in Japan noch ihre Namen? Experimente der europäischen Staaten, Sogar unter den Studierenden der Ro- wie etwa die Europäische Union, werden manistik oder Germanistik findet man kaum beachtet; auch die japanischen Me- viele, die von ihnen noch nie gehört ha- dien berichten nur selten darüber. ben. Auch die Zahl der Französisch und Viel wichtiger sind der Wechselkurs Deutsch Lernenden ist in den vergan- des US-Dollars, die Ölpreise und die Be- genen zehn Jahren drastisch gesunken. ziehungen zu Korea und China. Die Un- Woher rührt das Desinteresse für eu- terscheidung vom „alten“ und ‚„neuen“ ropäische Kultur und Sprache? Sicher hat Europa, die der ehemalige US-Verteidi- es mit der allgemeinen Orientierung an gungsminister Donald Rumsfeld anläss- Amerika nach dem Zweiten Weltkrieg lich der Debatte um die Legitimität der zu tun, die sich nicht nur auf der Regie- militärischen Eingriffe im Irak aufstellte, rungsebene, sondern auch im Alltag be- hatte auf das Europabild in Japan kaum merkbar machte. Die Idee von Demokra- Einflüsse. Die Argumente, die das „alte“ tie und Grundrechten, einst durch die Europa – Frankreich und Deutschland europäische Aufklärung rezipiert, wur- – gegen den militärischen Eingriff vor- de in der vor dem Krieg nach deutschem brachte, fanden bis auf Ausnahmen we- Vorbild eingeführten konstitutionellen nig Gehör. Monarchie nur begrenzt berücksichtigt. Die Staatsbürger waren Untertanen des Wer ist Schopenhauer? Tennos, die ohnehin eingeschränkten Grundrechte konnten zugunsten der Vor rund 130 Jahren, als in Japan un- Staatssicherheit aufgehoben werden, ter der Meiji-Regierung der modene Na- was vor allem seit 1937, dem Beginn des tionalstaat entstand, war Europa nicht Krieges gegen China (das heißt der japa- nur Modell für die Staatsbildung, sondern nischen Invasion in Asien) der Fall war. auch für Lebensstil einschließlich Mode Erst unter der amerikanischen Besatzung und Esskultur. „Abschied nehmen vom nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhren rückständigen Asien und sich einreihen Japaner, was Demokratie und Freiheit unter die europäischen Großmächte!” bedeuten; Jazz, Kaugummi und Schoko- – so hieß das Motto der nachholenden lade verkörperten Amerika und die neue Modernisierung und Nationwerdung. Bei Freiheit. Verfassung, Parlament sowie Militär- und Seitdem hat sich Japan wirtschaftlich Bildungswesen war Europa das Vorbild, wie politisch von Amerika zunehmend die staatstragende Elite wurde von der abhängig gemacht. In den internationa- Regierung nach Europa zum Studium ge- len Wirtschaftsbeziehungen sagt man schickt. Dank der an Europa orientierten zynisch: Wenn Amerika niest, holt sich Politik der damaligen Regierung waren Japan eine Erkältung. Wegen der mili-

31 Fremdbild – Das Bild von Europa

tärischen Abhängigkeit geht Japan mit Institute zu schließen oder mit angren- der amerikanischen Außenpolitik im zenden Fächern zu fusionieren, womit Gleichschritt. Beim Angriff auf den Irak auch der wissenschaftliche Nachwuchs spielte der japanische Ministerpräsident quantitativ und qualitativ schrumpft. Koizumi für viele „den treuen Pudelhund Als weltweite Begleiterscheinung Amerikas”. Auf der anderen Seite besitzt der Globalisierung ist der Bedeutungs- Amerika eine besondere kulturelle An- schwund der kontinentaleuropäischen ziehungskraft für junge Künstler und Sprachen und Kulturen auch in Südko- Möchtegern-Künstler. Das liegt wohl an rea zu beobachten. Die weltweite Lerner- der potenziellen Aufnahmefähigkeit von zahl der deutschen Sprache etwa hat nach Fremdheit in der amerikanischen Gesell- dem neuesten Bericht von „Der Spiegel” schaft. Ungeachtet der neuesten entge- in nur fünf Jahren (von 2000 bis 2005) gengesetzten politischen Entwicklung um 3,4 Millionen Lerner abgenommen. begeistert die amerikanische Subkultur Das ist allzu verständlich angesichts der weiterhin viele japanische Jugendliche. Tatsache, dass weltweit 90 Prozent der Was in Amerika gerade „in“ ist, wird hier wissenschaftlichen Publikationen auf sofort nachgeahmt. Englisch und nur ein Hundertstel auf Deutsch veröffentlicht werden. Kultu- Kontinentaleuropa im Rückzug relle und sprachliche Vielfalt, die gera- de auf europäischem Boden immer noch Auch im akademischen Bereich macht besteht, scheint heute auf akademischer sich die Amerika-Orientierung immer Ebene von „globalen Standards“ plattge- stärker bemerkbar. Eine Reihe neuerer walzt zu werden. wissenschaftlicher Ansätze aus den USA – Besorgniserregend sind aber auch die wie „linguistic turn“, „cultural studies“, neuesten Entwicklungen an den deutschen „postcolonial studies“, „gender studies“ Hochschulen, die sich mit vorauseilendem usw. – wurde dermaßen dominant, dass Gehorsam an „globale Standards“ anpas- auch in den an Kontinentaleuropa ori- sen. In Japan beobachten wir es mit einem entierten Fächern Englisch zur Lingua gewissen Déjà-vu-Gefühl. Der Abbau des franca wurde. Auf dem Arbeitsmarkt ist Egalitätsprinzips, die Kürzung der Bil- Englisch vorherrschend, deutsche oder dungsausgaben und die Einführung des französische Sprachkenntnisse sind auch ökonomischen Konkurrenzprinzips – dies bei europäischen Firmen kaum gefragt, alles war unter den neo-liberalen Regie- auch deutsche Firmen mit Niederlas- rungen Thatcher und Reagan vorangetrie- sungen in Japan bevorzugen Absolventen ben worden. Japan folgte in den 90er Jah- mit guten Englischkenntnissen. Wer gibt ren nach, womit allein die Effizienz der sich angesichts solcher Berufschancen Wissenschaft zum Maßstab wurde. Scha- noch die Mühe, eine andere kontinen- den erlitten dadurch vor allem die geistes- taleuropäische Sprache zu lernen? Ent- wissenschaftlichen Fächer, deren „Effizi- sprechend der gesunkenen Studentenzahl enz“ schwer nachweisbar ist. Hinsichtlich waren in den vergangenen Jahrzehnten der willigen Erfüllung der „globalen Stan- philologische Fächer an mehreren Univer- dards“ hat Japan dem „alten“ Europa also sitäten dazu gezwungen, entweder ihre die negative Erfahrung voraus.

32 Dies betrifft auch die Idee der Sozial- Das Bild von Europa – Fremdbild staatlichkeit, die in Japan – mindestens unter den an Kontinentaleuropa orien- tierten Wissenschaftlern – ein positives Gegenmodell zum amerikanischen Kapi- talismus darstellte. Wenn aber diese Idee dort nach und nach rückgängig gemacht wird – was bleibt noch für diejenigen üb- lé dominierend, im Musikvertrieb spielt rig, die im inzwischen „alten“ Europa Bertelsmann die erste Geige. Angesichts kritische Potenziale gegenüber der un- des wachsenden Investitionsanteils des ter amerikanischer Dominanz fortschrei- europäischen Kapitals auf dem gesamta- tenden Globalisierung zu finden glaubten? merikanischen Markt (65 Prozent allein Wenn man nichts mehr vom alten Europa bis 2000) stellt der amerikanische Jour- zu erwarten hätte, könnte man bei japa- nalist Tom R. Reid in seinem Buch „The nischen Studierenden nur noch Interesse United States of Europe” (2004) fest: „Der erwecken, indem man ihnen sagt: Reist eigentliche Sieger der Globalisierung ist nach Europa, dort könnt ihr alles erfah- Europa.” Erstaunlich sei aber, so fügt ren, was ihr bei McDonald’s, Rap-Musik er hinzu, dass diese Tatsache selbst von und Hip-Hop schon gesehen habt, aber Amerikanern kaum zur Kenntnis genom- auch alte Schlösser, die ihr aus dem Dis- men wird. Sie glauben immer noch, dass neyland in Tokyo kennt! die ihnen bekannten Markenprodukte Was heute in Japan als Globalisierung vom amerikanischen Kapital hergestellt wahrgenommen wird, scheint identisch werden. Was in Amerika kaum bekannt mit einer kulturellen Amerikanisierung, ist, ist es in Japan noch weniger, da Japa- bei der Europa seine Konturen zu verlie- ner durch eine amerikanische Brille auf ren droht. Dabei wird aber übersehen, die Welt blicken. Die zunehmende Bedeu- dass die USA auf dem globalen Markt kein tung des europäischen Kapitals auf dem übermächtiger Sieger sind. Die Globali- Weltmarkt wird das Europabild in Japan sierung eröffnete auch dem europäischen deshalb wohl kaum ändern. Kapital große Chancen. Ein großer Teil Aber die Folgen der Globalisierung be- der Firmen, die einst für Amerika stan- schränken sich nicht nur auf die Wirt- den, wurden inzwischen von europä- schaft. Ulrich Beck hält dieser die po- ischen Konzernen übernommen oder mit litische Dimension der Globalisierung diesen fusioniert. Chrysler ist jetzt im entgegen, die zur Bildung transnationaler Besitz von Daimler-Benz, und einige ur- Organisationen wie der EU-Kommision sprünglich amerikanische Produkte wie oder dem Europäischen Gerichtshof ge- Vaseline, Dove und Pond’s gehören jetzt führt hat, in denen positive Potenziale zu einem britisch-holländischen Konzern. der Selbstkorrektur bestünden. Leider In der amerikanischen Nahrungsindus- aber scheint die Bildung transnationaler trie ist die schweizerlische Firma Nest- Organisationen für Asien – wo der lange historische Prozess der EU ein Vorbild sein kann – für das heutige Japan nicht realistisch. Denn zu dem ersten notwen- Was heute in Japan als digen Schritt für eine solche Organisati- Globalisierung wahrgenommen on – nämlich die Vergangenheitsbewäl- wird, scheint identisch mit tigung und Versöhnung mit asiatischen einer kulturellen Amerikanisie- Staaten, vor allem mit Korea und China – ist Japan nicht bereit. Verstärkt wurde rung, bei der Europa seine diese Tendenz in den vergangenen Jahren Konturen zu verlieren droht. durch die starken neokonservativen und

33 Fremdbild – Das Bild von Europa

neonationalistischen Stimmen sowohl in orte werden gezielt kleine Städte gewählt, der Regierung als auch in der politischen wo sie ohne Englisch auskommen müs- Öffentlichkeit. Eine ähnliche Vergangen- sen. Nach ihrem einjährigen Aufent- heitsbewältigung wie in der Bundesrepu- halt kommen sie zurück mit der Erfah- bik, die erst die Reintegration in Europa rung, wie wichtig die sprachliche und möglich machte, war in Japan vor etwa kulturelle Vielfalt gerade in der Zeit der zwanzig Jahren zumindest von der Lin- Globalisierung ist – und wie gefährlich ken für notwendig erachtet worden. In- jener selbstgefällige, zurzeit von der ja- zwischen wird der deutsche Neokonser- panischen Regierung geförderte Nationa- vativismus und Neoliberalismus eher als lismus angesichts der heutigen Welt sein negatives Beispiel betrachtet. Deutsch- kann. Im Vergleich mit den japanischen land habe den Nationalstolz zum Zweck Europa-Touristen sind die Austausch- des wirtschaftlichen Aufschwungs ver- schüler noch wenige, aber ihre Erfah- kauft, heißt es. Demgegenüber sind die rung in Europa wird in Zukunft die heute Stimmen derjenigen, die von der leid- bestehende Kluft überbrücken. Statt der vollen Geschichte Europas und dessen offiziellen Beziehungen haben vor allem Hinwendung zur transnationalen Selb- die Erfahrungen der Jugendlichen und storganisation lernen wollen bzw. darin am Austausch freiwillig beteiligten Bür- eine Alternative zur Globalisierung seh- ger zur weltweiten Vernetzung von AFS en, kaum noch hörbar. beigetragen. Hier findet man wohl eine andere Möglichkeit der Globalisierung. Austausch und Vernetzung Zu fragen wäre eigentlich nicht nach den statt Spaltung Beziehungen zwischen Europa und Ja- pan, die letzten Endes immer bilateraler Europa ist für Japan nah und fern zu- Natur sein werden. Viel wichtiger ist, was gleich. Zwischen den beiden Ideen von Europa und Japan zum Aufbau der mul- Europa gibt es eine tiefe Kluft. Wie könnte tilateral-interkulturellen Beziehungen man sie überbrücken? Eine Möglichkeit beitragen könnten. sehe ich im multilateralen Jugendaus- tausch, wie er etwa mit dem Schüler- Atsuko Onuki studierte Philosophie und austauschprogramm von AFS (ehemals Germanistik in Tokyo (Waseda Universität), und Berlin (FU) und ist Professorin für „American Field Service“, in Deutsch- Germanistik und Kulturwissenschaft an der land „AFS Interkulturelle Begegnungen Gakushuin-Universität (Tokyo). 1994/1995 e. V.“) stattfindet. Eines der wichtigsten war sie Forschungsstipendiatin der Alexander Ziele des AFS-Programms ist die Förde- von Humboldt-Stiftung, 2004 wurde sie mit rung der gegenseitigen Verständigung ge- dem Philipp Franz von Sieboldt-Preis ausge- zeichnet. rade zwischen nicht englischsprachigen Ländern. Mit diesem Programm werden jährlich rund 100 japanische Schüler für ein Jahr in ein europäisches Land (darun- ter auch kleinere Staaten wie Norwegen, die Tschechische Republik, Dänemark oder Ungarn) geschickt. Als Aufenthalts-

34 Museum Europa Europa ist für die meisten Amerikaner ein attraktives und malerisches Museum, von dem sie sich angezogen und abgestoßen zugleich fühlen. Beobachtungen zu einer wechselseitigen Hassliebe. Von Andrew Ian Port (Cambridge, Massachusetts)

Orientierung und eiferten deren Moden und Verhaltensweisen in Kunst und Geis- teswelt nach. Kurzum, Europa setzte die Standards von Geschmack und Kultur in allen ihren Variationen. Das änderte sich tief greifend im Ver- lauf des vergangenen Jahrhunderts, lan- ge bevor amerikanische Offiziere meist wegen des Zweiten Weltkriegs ausgiebig vom „alten“ Europa zu reden begannen. Dieser Flächenbrand zeigte, dass Kultur allein – so breit und beeindruckend sie auch sei – nicht genug gewesen war, die Europäer davor zu bewahren, auf ihrem icht unähnlich der europäischen Kontinent in die Barbarei zurückzufal- Sicht auf die Vereinigten Staaten len. Ihr Verhalten in den Übersee-Be- Nist die amerikanische Wahrneh- sitzungen hatte ohnehin schon gezeigt, mung von Europa und seiner Kultur von wozu sie im Ausland fähig waren. Scharfe einer merkwürdigen Ambivalenz geprägt Beobachter vermuteten sogar, dass es die – von Bewunderung und Wertschätzung, Kultur selbst war, die auf irgendeine Wei- gewürzt mit Verachtung und Ressenti- se zu diesen beiden epischen Konflikten ment. Die meisten Amerikaner finden beitrug. Unter denen, die so dachten, wa- deutsche Kunstfilme ausdruckslos und ren einige intellektuelle und künstleri- schwerfällig, und sie mögen dem Ausruf, sche Koryphäen, die über den Atlantik dass Franzosen nichts weiter als „Käse geflohen waren – und die die besseren As- mümmelnde Angsthasen“ seien, freudig pekte des europäischen Kulturschaffens zustimmen. Aber die meisten bewahren mit nach Amerika nahmen. Sie bildeten seit Jahrhunderten auch einen tiefen Re- eine neue Generation aus und halfen, spekt vor den beeindruckenden Errungen- die amerikanischen Elite-Universitäten schaften der europäischen Hochkultur. zu dem zu machen, was sie heute sind. Beginnend mit den ersten Ansiedlungen Die künstlerisch-intellektuellen Leucht- der Kolonialzeit suchten Amerikaner in türme wanderten so von London, Paris der Alten Welt immer Inspiration und und Berlin nach New York, Chicago und

35 Fremdbild – Das Bild von Europa

Cambridge, die quasi die Re-Europäi- USA weiterhin eines großen Prestiges. sierung Amerikas darstellten. Zugleich Amerikanische Universitäten bringen und als ein Ergebnis derselben wurde das noch immer viele der besten Professoren nach dem Krieg daniederliegende Europa in Europa hervor, und amerikanische Ge- selbst in intellektueller und kultureller lehrte, die es in ihren Aufsätzen versäu- Sichtweise immer uninteressanter. men, Foucault, Habermas oder Bourdieu die Ehre zu erweisen, tun dies auf eigene Die Europäisierung der USA Gefahr. Aber es gibt natürlich noch ein anderes Argument: Viel von dem, was Eu- In den vergangenen zweieinhalb Jahr- ropa kulturell so attraktiv gemacht hat, zehnten kam es zu einer neuen Welle der ist nun weithin in den USA selbst erhält- Europäisierung, die wohl in Nachfolge lich. Feine Weine und erlesene Küche, des Massentourismus und der Liberalisie- Weltklasse-Museen und Top-Architektur rung des Flugverkehrs in den späten 70er – all das und vieles mehr ist nicht länger Jahren entstand. Amerikaner begannen auf die in New York oder sonstwo an der massenhaft nach Europa zu fliegen – und Ostküste lebenden Eliten beschränkt. ihnen gefiel offensichtlich, was sie sahen. Dies hatte tiefe Auswirkungen auf ihren Ein Museum mit Patina Geschmack, im wörtlichen und übertra- genen Sinne, und war meist, so vermute Aber immer noch kommen Amerika- ich, für die hierzulande jüngst erkenn- ner in Scharen nach Europa, trotz der ge- bare Verbesserung des kulinarischen stiegenen Reisekosten, der Dollarschwä- Angebots verantwortlich. In den meis- che und der Gefahren des Terrorismus. ten amerikanischen Städten und Voror- Was erklärt die anhaltende Anziehungs- ten ist es nun möglich, eine erstaunliche kraft? Bewiesenermaßen ist es technisch Vielzahl von europäischen Speisen und möglich, die London Bridge in Arizona Getränken zu erhalten, ebenso wie hier- und mittelalterliche Klöster im Norden zulande nach „europäischem Stil“ produ- Manhattans wieder aufzubauen. Ame- zierte Waren. Und unschuldige Amerika- ner, die eine Zeit im Ausland verbracht haben, können nun zu Hause bequem in ihrem nach europäischem Stil eingerich- Wie glücklich sitzen Ameri- teten Café oder Bistro das Trauma verar- kaner stundenlang in europä- beiten, das sie bei der ersten Begegnung ischen Straßencafés, träge Wein mit einem rätselhaften französischen schlürfend, während sie auf Menü erlitten. Manche Amerikaner mögen „French einem Platz voller bummelnder fries“ umbenennen oder Bordeaux-Fla- Fußgänger den „Leuten zuse- schen im Kellerabfluss entleeren, um hen“. Sie sind hingerissen vom (wie symbolisch und suggestiv!) eine po- langsameren Rhythmus des täg- litische Aussage zu treffen, aber – und das ist das Wichtige – Europa und das, was lichen Lebens im malerischen die Europäer lieben, erfreut sich in den alten Europa.

36 Das Bild von Europa – Fremdbild

rikaner haben ebenso (wieder) gelernt, jüngeren Starbucks in Berlin-Mitte sehe, wie man „richtiges Brot“ backt, starken ihren Kaffee aus einer Steinguttasse an Kaffee macht und solche erlesenen Weine einem Freilufttisch zu genießen scheinen anbaut, die auch die anspruchvollsten – nach ihrer Rückkehr in die USA wer- europäischen Gaumen zufriedenstellen. den sie unzweifelhaft zu ihrer Gewohn- Aber was sie noch nicht nachzuahmen heit zurückkehren, aus einem Papierbe- geschafft haben, ist das, was sie an Euro- cher zu schlürfen, während sie in dem pa wohl am anziehendesten finden: seine rauchfreien, künstlich beleuchteten und historische Patina. Wie amerikanische klimatisierten Ambiente einer Starbucks- Herzen zu schlagen beginnen, wenn sie Filiale eines schmalen lokalen Einkaufs- eine alte Kirche, ein mittelalterliches zentrums sitzen oder stehen. Stadttor oder eine Burgruine sehen! Der Denn letzten Endes wird die Liebe zu inflationäre Gebrauch des Begriffs „his- der amerikanischen Bequemlichkeit die torisch“, um jedwede Touristenattraktion innige Begeisterung für die malerischen in den USA anzupreisen, verweist auf ein Eigenarten Europas besiegen. tief verwurzeltes Verlangen nach einem größeren Maß an Dauer und (auch auf die Aus dem amerikanischen Englisch Gefahr des Klischees hin) Geschichte – von Stephan Hollensteiner ein Verlangen, das Europa offensichtlich immer noch nicht befriedigen kann. Andrew I. Port studierte an der Yale Univer- Aber was Amerikaner auch anzieht sity und wurde an der Harvard University promoviert. Er ist Professor für Geschichte sind die weniger fassbaren, nicht mate- an der Wayne State University in Detroit und riellen Aspekte der europäischen Lebens- Autor zahlreicher Artikel über das moderne kultur, die Muster und Praktiken eines Deutschland sowie des Buches „Conflict and für sie fremden Alltagslebens. Wie glück- Stability in the German Democratic Repu- lich sitzen Amerikaner stundenlang in blic“. europäischen Straßencafés, träge Wein schlürfend, während sie auf einem Platz voller bummelnder Fußgänger den „Leu- ten zusehen“. Sie sind hingerissen vom langsameren Rhythmus des täglichen Le- bens im malerischen alten Europa – aber natürlich in gewissen Grenzen! Die unfreundliche Bedienung, die bü- rokratische Ineffizienz, der Mitraucher- qualm und das arrogante Naserümpfen über amerikanische Touristen werfen leichte Schatten über die museale At- mosphäre, die so anziehend ist, weil sie vielleicht unterbewusst Kindheitserinne- rungen an Märchen oder Gute-Nacht-Ge- schichten erweckt. Egal, wie sehr meine Landsleute, die ich ab und zu in einem der

37 Der blasse Kontinent Indien mischt die Karten in der globalisierten Wirtschaft neu. Aber die eu- ropäische Kultur hat in dem Spiel keine tragende Rolle, die gemeinsamen historischen Wurzeln verblassen zusehends. Schuld sind nicht zuletzt die Medien, ein tiefer gehendes Interesse an Eu- ropa ist nicht erkennbar. Zudem wird der inter- kulturelle Dialog durch Sprachbarrieren sowie eine komplizierte Visumsvergabe erschwert. Von Rajendra K. Jain (New Delhi)

und stellte mit großer Leidenschaft die westlichen Analysen und Annahmen über Indiens Geschichte sowie seine kulturelle und religiöse Identität infrage.

Die Wahrnehmung europäischer Kultur im unabhängigen Indien

Seit der Unabhängigkeit sind in den indischen Massenmedien anglo-amerika- nische Bilderwelten vorherrschend. Auch die Wahrnehmung des kulturellen Eu- ropas seitens der indischen Elite wurde grundlegend durch anglo-amerikanische as indische Aufeinandertreffen Medien beeinflusst. Das Ergebnis ist eine mit Europa war in der Geschich- eher fragmentarische Sicht auf Europa und Dte der Menschheit insofern ein- seine Kultur, die traditionelle Stereotypen zigartig, als eine unvergleichlich reiche und Klischees tendenziell verstärkt. So gilt Zivilisation einer langen Phase europä- Frankreich weiterhin vor allem als Land ischer Herrschaft ausgesetzt war. Europä- des guten Essens, des Weins und der Mode ische Ideen und Werte beeinflussten tief – ein Bild, das die französische Kulturpo- die englisch erzogene Elite und waren seit litik noch zu unterstützen versucht. Die dem 19. Jahrhundert für verschiedene Be- Schweiz wurde von der Bollywood-Film- wegungen indischer Führer verantwort- industrie als das definitive Paradies für lich. Zwei breite Stränge wurden in der Romantiker verewigt und ist auch heute zweiten Jahrhunderthälfte sichtbar: Der noch die erste Wahl für die Flitterwochen eine wollte dem Westen nacheifern, in Jungvermählter. Dennoch, für die große dem Versuch, die westlichen Werte und Mehrzahl der Inder ist Europa ein fremdes Institutionen in und an die indische Um- und seltsames Land geblieben, ein exo- gebung aufzunehmen und anzupassen; tisches Tourismus-Ziel, zu dem nur eine der zweite bekräftigte die Bedeutung der privilegierte Schicht Zugang hat. grundlegenden indischen Werte, kritisier- Die europäischen Nationen haben aktiv te die Arroganz der westlichen Herrscher den Unterricht ihrer Sprachen in Indien

38 Das Bild von Europa – Fremdbild

vorangetrieben (wobei neben Englisch Angesichts der mehr als sechs Millio- Französisch und Deutsch die beiden ge- nen regelmäßig nach Europa oder Über- fragtesten sind). Kulturinstitute wie Alli- see reisenden Inder aber berichten viele ance Française, Goethe-Institut (Max Mu- Zeitungen und Magazine, sowohl auf eller Bhavan), British Council etc. haben Englisch als auch in einheimischen Spra- viel zur Vermittlung der vielen Facetten chen, regelmäßig über die verschiedenen europäischer Kultur in Indien beigetra- Aspekte der europäischen Kultur und Kü- gen. che sowie touristisch attraktive Orte. In den 90er Jahren fürchteten viele Kul- turpuristen, dass in Nachfolge der Globali- Kulturpolitik schafft Identität sierung, des ungezügelten Konsumterrors, der Ausbreitung der Satellitenkanäle mit Jahrzehntelang tendierte die europä- ihren amerikanischen Seifenopern und ische Kulturpolitik dazu, Indien zu igno- ihrer Breitseite von westlichen Werten, rieren, zumal einige Mitgliedstaaten tradi- Gewohnheiten und Kleiderordnungen die tionell ihre eigenen ehemaligen Kolonien traditionellen Werte schwerwiegend in bevorzugen. Mit dem Ende der Ost-West- Gefahr geraten und die indische Identität Kluft wurden die finanziellen Leistun- verloren gehen würden. Andere dagegen gen der meisten europäischen Länder wie argumentierten, dass eine so alte Zivili- auch der Europäischen Union für Mittel- sation wie Indien stark genug sein müs- und Ost-Europa massiv erhöht, um den se, solche Einmischungen erfolgreich ab- Unterricht europäischer Sprachen sowie zuwehren. In jüngster Zeit begannen die Kulturarbeit, Mobilitätsprogramme, Zi- meisten gebildeten Inder, auch in Euro- vildialog und die Bildung der politischen pa soziale und politische Schwierigkeiten Eliten voranzubringen. Das führte an- im Umgang mit der Vielfalt seiner Kul- derswo zu Kürzungen, insbesondere bei turen wahrzunehmen. Sie erkannten, dass den asiatischen Nationen. Multikulturalismus in Europa schlecht Die Grundlage der Kulturpolitik der funktioniert, und dass europäische Gesell- Europäischen Union besteht darin, die schaften nicht in der Lage sind, ethnische Idee von Europa und einer europäischen Minoritäten, besonders Muslime, sinnvoll Identität sowie dem Bemühen zum Aufbau zu integrieren. Für viele Inder gilt die Auf- derselben innerhalb der gesamten EU zu nahme der Türkei in die EU als wahrer fördern. Die Ablehnung des europäischen Lackmus-Test für die säkularen und plu- Verfassungsentwurfes durch Frankreich ralistischen Überzeugungen Europas. und die Niederlande im Jahr 2005 wird Es besteht in der indischen englisch- wahrgenommen als die Entstehung mit- sprachigen Presse ein eklatanter Mangel einander konkurrierender Visionen von an Beiträgen zu den politischen, sozio- Europa, seiner Grenzen und Werte. Für ökonomischen und kulturellen Herausfor- die meisten Inder gibt es nicht so etwas derungen für das gegenwärtige Europa. wie eine europäische Kultur, sondern Die meisten Artikel über Europa sind eher vielmehr zahlreiche Kulturen und Iden- informativ und deskriptiv als kritisch; sie titäten. tendieren dazu, an Ereignisse zu erinnern Das ist einerseits das Ergebnis der Am- statt sie zu analysieren. bivalenz des Diskurses über die europä-

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ische kulturelle Identität innerhalb der Kulturelle Entfremdung? EU selbst, der lange darauf erpicht war, eine europäische Identität und gemein- Als größte Demokratien der Welt haben same Werte zu fördern. Andererseits ist Indien und Europa eine Menge kulturel- es Ausdruck der großen Heterogenität des ler Gemeinsamkeiten: Beide sind mehr- europäischen Staatsvolks. sprachige, multikulturelle, pluralistische, Die Europäische Union leidet in In- säkulare und komplexe Gesellschaften. dien vor allem an ausgeprägter Profillo- Sie sind natürliche Partner, die gemein- sigkeit. Die Schräglage wird umso mehr same Werte und Überzeugungen teilen, durch die Bedeutung offensichtlich, die einschließlich der Verpflichtung zu De- indische Medien Washington einräumen. mokratie, Pluralismus, Menschenrechten Da Englisch die Lingua franca des glo- und Rechtsstaatlichkeit. Angesichts des balen und interkulturellen Dialogs ist, 2008 von der Europäischen Kommission bietet das Internet der „angeschlossenen deklarierten „Jahrs des interkulturellen Mittelklasse“ in Indien beinahe unend- Dialoges“ steht die Europäische Union ge- liche Möglichkeiten. Diese stellt (kaum radezu in der Pflicht, proaktiv den Dialog bekannte und meist durch Kabelbetrei- mit künftigen Großmächten wie Indien ber angebotene) europäische Kanäle wie voranzubringen. Viele der historischen Deutsche Welle-TV vor große Probleme: Bindungen, die Indien traditionellerweise Ihre standardisierten und undifferen- mit Großbritannien und damit auch mit zierten Produkte können es mit den po- Europa verbanden, sind hinfällig gewor- pulären englischsprachigen Kanälen wie den. Die moderne Mittelklasse ist kaum CNN and BBC nicht aufnehmen. Trotz noch an europäischer Geschichte, Kunst der inhärenten Hemmnisse zur Entwick- und Gesellschaft interessiert. Demgegenü- lung einer schwungvolleren europäischen ber besteht ein großes Bedürfnis nach der Kulturpolitik (und des Zögerns einiger Entwicklung eines stabilen Rahmens für Mitgliedstaaten, dazu etwas beizutragen) Bildungsaustausch, der die indische Elite nehmen die Versuche zu, die jahrzehn- zu Studienaufenthalten in Europa ermu- telange strategische Missachtung Indi- tigt. Ein Hauptziel sollte es sein, die Zahl ens durch neue innovative Programme der indischen Studenten in Europa zu er- zu überwinden. Der gemeinsame Akti- höhen, was bisher durch die Sprachbar- onsplan, der als Teil der strategischen rieren sowie dadurch verhindert wurde, Partnerschaft zwischen EU und Indien dass Europa keine solchen postgradualen (2005) beschlossen wurde, baut auf der Studienstipendien oder Beschäftigungs- gemeinsamen „Kulturellen Erklärung“ perspektiven wie die Vereinigten Staaten von Indien und der EU von 2004 auf. Die Etablierung eines Indischen Fensters im Erasmus-Mundus-Programm hat unter Für die meisten Inder gibt es indischen Studenten beträchtliches In- nicht so etwas wie eine europä- teresse hervorgerufen. Nichtsdestowe- ische Kultur, sondern vielmehr niger besteht ein dringender Bedarf an zusätzlichen bi- und multilateralen An- zahlreiche Kulturen und Iden- strengungen. titäten.

40 bietet. Das verlangt eine Änderung der Visa-Auflagen und der Arbeitsmöglich- keiten, zumindest teilweise und während der Studienaufenthalte, zumal Indiens neue Generation meist nach den Vereini- gten Staaten statt nach Europa schaut. Indien wurde einst errichtet auf Grund- lage der Devise „Einheit in Vielfalt”, die zugleich das proklamierte Ziel der Euro- päischen Union ist. Ein intensiverer in- terkultureller Dialog würde Europa und Indien gleichsam ermöglichen, von den Erfahrungen des jeweils anderen zu ler- nen. Ein Dialog über den Islam mit In- dien – das die zweitgrößte muslimische Bevölkerung auf der Welt hat, mit der es seit Jahrhunderten friedlich koexistiert – könnte etwa neue Einsichten für die Integration von Muslimen in Europa er- öffnen. Zugleich gibt es vieles, das Indien von Europa im Hinblick auf die Tugenden der Interdependenz und regionalen Integrati- on lernen kann.

Aus dem Englischen von Stephan Hollensteiner

Rajendra K. Jain ist Professor and ehemaliger Direktor des Zentrums für Europa-Studien, Fakultät für Internationale Studien, an der Jawaharlal Nehru University in New Delhi. Von 2002 bis 2004 war er „Network Coordinator” des JNU European Union Studies Programme. Er war als Gastprofessor in Leipzig, Tübingen und Paris tätig. Der Titel seiner neuesten Pu- blikation lautet „India and the European Uni- on: Building a Strategic Partnership“.

41 Abschied von Europa Einen interkulturellen Dialog zwischen Europa und Afrika gibt es nach Ansicht des Autors nicht, kulturelle Koope- rationen beschränken sich meist auf schulische Projekte. Das von den Kolonialmächten einstmals aufgezwungene kulturelle Vorbild wird zunehmend abgelehnt. Von Adjaï Paulin Oloukpona-Yinnon (Lomé)

Afrikanern das Recht auf eigene Kultur abgesprochen worden war; sie mussten die Kultur ihrer weißen Vorbilder über- nehmen, um überhaupt als Menschen anerkannt zu werden. Der Schriftstel- ler und Vordenker der Kolonialisierung Frantz Fanon nannte solche „Möchte- gern-Europäer“ treffend „peaux noires, masques blancs“ – „schwarze Haut, wei- ße Maske(n)“. Diese Generation von Afri- kanern hat aber längst ausgedient, ihre Zeiten sind vorbei. Die kritiklose Über- nahme von europäischer Kultur ist in Afrika heute eine Randerscheinung. Wer ie intensivsten Spuren, die Eu- sich noch solchem Spiel hingibt, tut es ropäer bis in die jüngste Vergan- höchstens aus praktischer Notwendig- Dgenheit in Afrika hinterlassen keit in der Politik oder in der Wirtschaft. haben, waren auf kulturellem Gebiet. Ansonsten ist europäische Kultur zur Sel- Europäische Kultur – in Form von Bil- tenheit in Afrika geworden. Die Präsenz dung, Kunst, Musik, Literatur und Ar- Europas im Leben der Afrikaner ist heute chitektur etc. – war das deutlichste Zei- mehr politisch als kulturell zu spüren. chen europäischer Präsenz in Afrika. Der Viele Entscheidungen der afrikanischen „moderne“ Afrikaner zeichnete sich stets Staatsoberhäupter kämen ohne europä- dadurch aus, dass er die Merkmale euro- ische Einflussnahme nicht zustande. Was päischer Kultur übernahm: die Sprache, die Wirtschaft betrifft, so gewinnt das die Kleidung, die Gesinnung. Nach An- amerikanische Wirtschafts- und Effizi- eignung einiger dürftiger Brocken einer enzmodell immer mehr die Oberhand. europäischen Sprache glaubte er schon Anders als etwa in der Kolonialzeit den Gipfel der europäischen Kultur er- kommen die Europäer, die heute in Afri- klommen zu haben und schaute mit Dün- ka leben, aus verschiedenen Ländern Eu- kel auf seine schwarzen Landsleute, die ropas. Deshalb tritt europäische Kultur Analphabeten, herab. Diese überhebliche in Afrika heute nicht mehr so geschlos- Haltung stammte aus den Zeiten, als den sen auf wie zu Zeiten des Kolonialismus.

42 Das Bild von Europa – Fremdbild

Die kulturellen Institutionen der euro- Handel und Recycling-Wirtschaft hel- päischen Nationen („Goethe-Institut“, fen aus der immer unkontrollierbarer „Alliance Française“ oder dergleichen) werdenden Arbeitslosigkeit in den afri- bemühen sich zwar immer mehr um ge- kanischen Metropolen. Altkleiderläden meinsame Veranstaltungen, mit denen sie bestimmen die Mode in vielen Ländern. europäische Einheit und Vielfalt demons- Es besteht kein Zweifel, dass westliche trieren wollen, doch bleibt das Ergebnis Kulturmodelle immer noch eine große meistens weit von den angestrebten Zie- Anziehungskraft haben, doch macht der len entfernt: Europäische Jazz-Konzerte tägliche Kampf ums Überleben jeden in Afrika oder Afrika-Tourneen von be- Wunsch nach europäischer Kultur zu rei- kannten europäischen Theatertruppen ner Utopie. Europäische Kultur ist heute werden heute nur noch von „Insidern“ in Afrika ein Luxus, den sich nur noch besucht. Die breite Masse der Afrikaner sehr wenige Afrikaner leisten können. nimmt solche einmalige Events gar nicht Es ist nicht zu leugnen, dass immer wahr. Der schwarze Kontinent, dessen mehr Afrikaner holländisches Bier oder Vergangenheit so sehr von Europa gestal- französischen Wein trinken, italienische tet und geprägt wurde, nimmt allmählich Nudeln essen und deutsche Autos fah- Abschied von seinem aufgezwungenen ren, doch betrifft das einen geringen kulturellen Vorbild. Teil der afrikanischen Bevölkerung Faktisch ist schon längst Abschied ge- und bedeutet nur Konformismus oder nommen worden von jenem „Zivilisati- Ausdruck von Reichtum. Die Rolle der onsmodell“, das dem ganzen Kontinent Kultur im Europabild der Afrikaner ist auferlegt wurde und das alles einschloss: heute in Wirklichkeit sehr gering, der christliche Religion und Moral, europä- Großteil der Afrikaner ist davon nicht ische Kultur und Kunst, Mode und Le- betroffen. Die Afrikaner, die sich nach bensweise etc. Die Afrikaner konstruieren europäischer Kultur sehnen oder streben, eigene Identitäten, die tradierten afrika- übernehmen zudem nur eine verwässerte nischen Werten und modernen globalen Form oder vage Vorstellung derselben. Herausforderungen gerecht werden: Be- Die Abkehr von der europäischen Kul- völkerungsexplosion und Armut zwin- tur hat aber auch – und vor allem – einen gen die Afrikaner, neue Lebensformen ideologischen Grund: Kein Afrikaner von zu erfinden, um überhaupt zu überleben. heute kann sich ehrlich und überzeugend Immer mehr Propheten gründen hier und mit einer Kultur identifizieren, die ihm dort eigene Freikirchen, weil die etab- jahrhundertelang das Recht auf eigene lierten Kirchen an den Bedürfnissen der Identität abgesprochen hat. Menschen vorbeipredigen. Informeller Dieses Recht musste beispielsweise von den Begründern der „Negritude“ – dem ehemaligen Präsident des Senegal, Europäische Kultur ist heute in Léopold Sédar Senghor, gemeinsam mit Afrika ein Luxus, den sich nur dem Schriftsteller und Politiker Aimé Césaire – hart erkämpft werden. Die Be- noch sehr wenige Afrikaner mühungen haben aber letztendlich dazu leisten können. geführt, dass Afrika seine Vergangenheit

43 Fremdbild – Das Bild von Europa

wieder entdeckt und allmählich gerettet Moderne Strohhütten hat. Dadurch haben die meisten Afrika- ner heute ein neues Selbstbewusstsein er- Was Beier belegen will, bezieht sich langt, das ihnen erlaubt, auf gesicherten verallgemeinert zugleich auf das kul- Werten eine eigene Identität zu formen. turelle Europabild der Afrikaner und das kulturelle Afrikabild der Europäer. Kulturelle Werte Während die Kultur in Europa sich in einem ständigen Entwicklungsprozess Der Kulturhistoriker Ulli Beier, der befindet, sehen die Europäer die afrika- als einer der weltweit besten Kenner nischen Kulturen oft noch im Licht der Westafrikas gilt, formulierte einmal die alten „Tradition“ Afrikas und ignorieren These, dass kulturelle Werte in den Köp- dabei, dass die Afrikaner auch einen An- fen von Menschen entstehen. Dort schlü- passungsprozess durchmachen. Sogar die gen sie feste Wurzeln und etablierten sich europäischen „Kulturwissenschaftler“, als „gesicherte Werte“, die von Mensch deren Aufgabe darin besteht, die Kul- zu Mensch tradiert werden. Dies beweist turen zu erforschen und deren jeweilige er anhand der Kulturen Westafrikas, Werte herauszuarbeiten, scheinen sich die sich ständig an die Gegebenheiten hauptsächlich damit zu begnügen, „ge- von Zeit und Raum anpassten und im- fährdete Minderheitskulturen“ retten mer wieder erneuerten: „Die Kulturen zu wollen oder das „Traditionelle“, „Ur- Westafrikas benutzen keine Schrift, um sprüngliche“ und „Authentische“ an den ihre Geschichte für die Nachfahren fest- afrikanischen Kulturen zu suchen. Man- zuhalten. […] Statt einer Schrift haben die cher europäische Kulturwissenschaftler Yoruba die „sprechende Trommel“ erfun- würde sicher gern sehen, dass die Afri- den. Ihre Geschichte und ihre Poesie, ihre kaner immer noch in Strohhütten leben, Weisheit und ihr Humor konnten mittels damit er etwas zu erforschen hat. der Trommelsprache in Musik umgesetzt Allem Anschein nach kann der Dialog werden. […] Um sie für ein großes Publi- der Kulturen nur dann erfolgen, wenn kum zugänglich zu machen, mussten sie der Afrikaner seine uralte Tradition da von den Trommlern immer wieder neu ins mitbringt, wo der Europäer „Hightech“ Leben gerufen werden. Dass sich dabei anbietet. Ähnlich geht es vielen Europä- die Ideen veränderten, sich immer wie- ern, die – aus unterschiedlichsten Grün- der an neue Umstände anpassten – gera- den – nach Afrika reisen. Wollen sie Ur- de darin bestand die Stärke der Kultur, laub machen, so wollen sie nur Sonne die nie dogmatisch wurde, sondern im- mer flexibel blieb.“ Als Beleg gilt zudem eine Fotodokumentation mit Porträts der Mancher europäische Kultur- westafrikanischen Ethnie Yoruba, dar- wissenschaftler würde sicher unter auch vom nigerianischen Nobel- gern sehen, dass die Afrikaner preisträger Wole Soyinka. Im Gesichts- immer noch in Strohhütten le- ausdruck dieser modernen Nigerianer spiegelten sich, so Beier, die „gesicherten ben, damit er etwas zu erfor- Werte“ der Yoruba-Kultur wider. schen hat.

44 Das Bild von Europa – Fremdbild

und Sand am Palmenstrand sehen, weit Dass der schon erwähnte nigerianische weg von Armut in den Slums. Kommen Schriftsteller Wole Soyinka 1986 den No- sie aber im Namen einer Städtepartner- belpreis für Literatur bekommen hat, schaft, so wollen sie Afrika erleben, wie scheint aus heutiger Sicht nur ein Politi- es riecht und trieft. Die Sehnsucht nach kum gewesen zu sein. Die afrikanische dem „puren Afrika“ macht die meisten Literatur ist in Europa dadurch nicht be- Europäer so blind, dass sie das Wesent- liebter geworden. Dass ebenfalls ein Ni- liche vergessen: die Menschen, in deren gerianer – Okwui Enwezor – 2002 die welt- Köpfen Kulturen entstehen und weiter- bekannte Kunstausstellung Documenta 11 leben. Gerade das macht den „Dialog der in Kassel leitete, brachte dem schwarzen Kulturen“ unmöglich. Kontinent auch nur wenig mehr Achtung im Bereich der bildenden Künste. Mit der Dialog der Kulturen? Wahl des Nigerianers verbanden viele die Hoffnung, dass er die bröckelnde Kunstdo- „Dialog der Kulturen“ ist ein Mode- minanz des weißen Westens auf der Welt- wort, das die Notwendigkeit der kultu- kunstszene definitiv brechen würde. En- rellen Zusammenarbeit zwischen Völ- wezor versuchte es tatsächlich – nicht nur kern und Nationen proklamiert, aber mit multikulturellen Positionen aus allen nicht realisiert. Die Notwendigkeit des Kontinenten, sondern auch mit einer radi- „Dialogs der Kulturen“ wird begründet kalen Absage an die These der Autonomie und gerechtfertigt, aber es herrscht ein der Kunst. Zu oft hätten sich die Avantgar- großes Missverständnis darüber, was die- den in Formalismen verloren, sagt Enwe- ser Dialog ist oder sein soll. Im alltäg- zor. Kunst sei nur dann von Bedeutung, lichen Zusammenleben von Menschen wenn sie sozial, kulturell und politisch verschiedener Kulturen – ob in Afri- relevant sei und mit ihren Mitteln Position ka oder in Europa – wird der „Dialog“ ergreife wider Rassismus, Macht und Re- einfach auf gegenseitige Toleranz redu- pression. Bezogen auf die Gegenwart heißt ziert. Sieht man von einigen europäischen das für ihn: Kunst, die sich gegen die Glo- „Avantgardisten“ ab, so wird selten ver- balisierung als „mathematische Logik“ des sucht, die Kulturen afrikanischer Völker Kapitals respektive für eine antikolonialis- zu verstehen und daraus etwas zu ler- tische Weltgemeinschaft engagiert. nen. So bleibt der „Dialog der Kulturen“ Seitdem die Documenta 11 vorbei ist, meist ein Schlagwort, mit dem die Politi- vermisst man die positiven Folgen einer ker ihre Reden schmücken, um Wähler- solchen innovativen Kunstauffassung. Ge- stimmen zu ernten. Es wird auch in den rade weil solche Initiativen und die damit Berichten von Nichtregierungsorganisa- verbundenen kulturellen Veränderungen tionen benutzt, um Projekte zu begrün- in Afrika von den Europäern nicht gebüh- den und Spenden zu bekommen. Aber rend wahrgenommen werden, bleibt ein was den Wert einer Kultur ausmacht, was „Dialog der Kulturen“ zwischen Afrika eine Kultur einer anderen Kultur bringen und Europa ein Wunschtraum. Und weil kann, das wollen nur wenige Menschen die afrikanischen Künstler sich von der wahrnehmen. europäischen Kulturszene ignoriert füh- len, wenden sie sich von Europa ab und

45 Fremdbild – Das Bild von Europa

entfalten ihr Talent in der geschlossenen Schön wäre es, wenn man einem Mann Szene Afrikas. mehr Aufmerksamkeit schenken würde, Der Abkehrprozess, der Anfang des der sein Leben lang den Dialog der Kul- 20. Jahrhunderts von afrikanischen Intel- turen nicht nur gepredigt, sondern auch lektuellen ausging, hat sich in den letzten gelebt hat: der westafrikanische Schrift- drei bis vier Jahrzehnten beschleunigt, steller Amadou Hampâté Bâ, der für die ohne dass die Europäer ihn aufhalten Kulturen in Afrika das eindrucksvolle konnten. Heute sind die Afrikaner der Sprichwort geprägt hat: „Der Regenbo- europäischen Kultur gegenüber immer gen verdankt seine Schönheit der Vielfalt ablehnender. Die sogenannten afrika- seiner Farben“. Gibt es ein passenderes nischen Intellektuellen sind heute die Wort, um damit auch die Kultur Europas schärfsten Kritiker der europäischen zu kennzeichnen? Kulturen, auch wenn sie manche As- pekte davon gern übernehmen, wie etwa Adjaï Paulin Oloukpona-Yinnon studierte Ger- Gastronomie, Mode, Gedankenfreiheit, manistik und promovierte 1978 in Tours, 1996 folgte die Habilitation in Bayreuth und Lomé. Fortschritt und Lebenskomfort in jeder Seit 1978 ist er Dozent in der Germanistikab- Hinsicht. teilung der Université de Lomé (Togo). Olouk- Selbstverständlich ist Kultur immer pona-Yinnon ist Leiter des ArtELI (Atelier de noch ein wichtiger Aspekt der institu- recherches thématiques Ecritures, Littéra- tionellen Kooperation zwischen Europa tures et Identités) an der Université de Lomé und Vorstand des Netzwerks A.v.H.N.i.A. und Afrika. Sowohl in der bilateralen als (Alexander von Humboldt-Network in Africa). auch in der multilateralen Entwicklungs- politik werden etliche Summen für die kulturelle Zusammenarbeit ausgegeben, jedoch lassen Ergebnisse mit dauerndem Effekt auf sich warten. Das Filmfestival „FESPACO“ in Burkina Faso, das sich inzwischen in Afrika etabliert hat, wäre beispielsweise ein gutes Sprungbrett für den Vertrieb afrikanischer Filme in Eu- ropa. Aber wie viele Kinofans in Europa interessieren sich für afrikanische Filme? Die Dak‘Art-Biennale sollte ebenfalls den Weg der afrikanischen Künstler in den europäischen Kunstmarkt erleichtern, doch dazu kommt es selten. Meistens betrifft die kulturelle Kooperation die finanzielle Förderung von Schul- bzw. Hochschuleinrichtungen. Selten findet man wirklich langfristige Projekte mit dem Ziel, Brücken zu schlagen und einen echten „Dialog der Kulturen“ zu etab- lieren.

46 Es ist unmöglich, sichDachzei lein einem Orchester nur auf das Spielen oder Hören zu konzentrieren. Konzent- riert man sich auf das Spie- len, spielt man vielleicht gut, aber vielleicht spielt man auch so laut, dass man alle anderen übertönt, oder so leise, dass die eige- ne Stimme untergeht. Und natürlich kann man sich nicht darauf beschränken, nur zuzuhören – die Kunst des Musizierens ist jene des simultanen Spielens und Hörens, das eine unter- streicht das andere.

Daniel Barenboim, Dirigent

47

Fallstricke der Identität Europa und Amerika sind durch die Geschichte eng miteinander ver- bunden. Aber die Idee von „Europa” ist in Bra- silien noch nicht angekommen. Trotz aller Be- schwörungen einer europäischen Identität und trotz der medialen Präsenz der Europäischen Union reden die Brasilianer nicht von Europa, sondern nach wie vor von Frankreich, Italien, Spanien, Portugal, Deutschland, England und so weiter. Von Leopoldo Waizbort (São Paolo)

nur wegen der Ausbeutung und Anhäu- fung des in Amerika geraubten Goldes und Silbers sowie aller anderen Folgen. Der mannigfaltige Verkehr füllte nicht nur die königlichen Schatztruhen, son- dern auch den geistigen Austausch. Es gibt noch immer kein prägenderes und gegenwärtigeres Kulturmerkmal für das Leben der Völker in Amerika als den von den Europäern vollzogenen Kolonisie- rungsprozess, dessen Auswirkungen bis heute anhalten. Deswegen ist – in aller Schnelle formuliert – die Unterscheidung zwischen Amerika und Europa vor allem ber die kulturellen Bande zwi- eine Strategie des Selbstbildes und der schen Europa und Amerika zu Eigenidentität, die von den Europäern Üreden, heißt auch, über den kapi- in ihrer Geschichte geschmiedet wurde talistischen Expansionsprozess zu reden, und die sich in dem geografischen und der zur „Entdeckung” Amerikas und sei- imaginären Raum des überseeischen Eu- ner Kolonisierung geführt hat. Es ist ein ropas, das heißt Amerika, reproduziert kontinentalgroßer Raum, der als Neue hat. Welt gilt, aber nicht aus dem Nichts ge- Diese komplexe Beziehung zwischen boren wurde. Es ist ein Kind Europas den Identitäten hat so tiefe Wurzeln ge- und trägt sein Blut in sich. So ist Euro- schlagen, dass Amerika meistens als pa nicht nur das Fremde, das dem Eige- Nicht-Europa gedacht wird, selbst wenn nen der heutigen und früheren Europäer – nach Jahrhunderten, in denen sich die gegenübersteht, sondern zugleich auch Momente von Abhängigkeit und Unab- das Eigene. Amerika ist Europa, aber in hängigkeit in Politik und Wirtschaft her- vielfältigster Weise und in unterschied- auskristallisiert haben – nun alles viel lichen Dimensionen, Intensitäten und klarer geworden ist. Aber ebenso wie die Zeitformen. Unterscheidung zwischen Amerika und Das Alte Europa hat sich im Verhältnis Europa eine Konstruktion ist, so sind es zum Neuen zugleich erneuert, und nicht auch die eigentlichen Referenzeinheiten

50 Das Bild von Europa – Fremdbild

Amerika und Europa. Am Ende kehrt al- ler Unterschiede immer sehr stark. Und les wieder in das Reich der Geschichte zu- das dauert unter dem Schirm der nati- rück, denn nur diese kann Kritierien zur onalen Identität auf unterschiedlichste Verständlichmachung dieses vielfältigen Weise an. Die Tatsache, dass internatio- Identitätsprozesses liefern. nale Spezialisten der Gastronomie darin übereinstimmen, dass man in São Paulo Identitätswunsch Europa spanische, portugiesische, italienische, fanzösische und deutsche Küche so gut Welches aber ist das Bild, das sich die wie in jedem ihrer Ursprungsländer gou- brasilianische Öffentlichkeit von Europa tieren kann (aber nicht die englische Kü- vor allem in seiner kulturellen Dimension che, mit Ausnahme von Kuchen und Tee), macht? Der Wunsch nach Identität, den zeigt dieses augenfällig, sofern man zu- die Idee „Europa” beinhaltet, scheint mir mindest Essen als Kultur betrachtet. in Brasilien nicht sehr ausgeprägt zu sein. In São Paulo agieren Kulturinstitu- Trotz allem, was hierzulande über Eu- te der verschiedensten europäischen Na- ropa und die Europäische Gemeinschaft tionen: Circolo Italiano, British Coun- gesagt wird, herrscht immer noch die cil, Goethe-Institut, Alliance Française Idee der Nationalstaaten vor. Wir reden und so weiter. Alle organisieren die un- nicht von Europa, aber von Frankreich, terschiedlichsten Aktivitäten und versu- Italien, Spanien, Portugal, Deutschland, chen die kulturelle Präsenz ihrer Länder England und so weiter. Die supranatio- im Kulturleben der Stadt zu etablieren. nalen Strukturen können es bei weitem Aber von seltenen Ausnahmen abgesehen nicht mit den nationalen Gegebenheiten arbeiten sie nicht zusammen. aufnehmen, die seit langem tief verankert Ihre Aktivitäten konzentrieren sich sind. In Brasilien war die portugiesische, auf die Verbreitung ihrer jeweiligen Kul- englische, spanische, deutsche, franzö- tur, immer ausgehend von der Vorstellung sische und italienische Präsenz trotz al- einer Nationalkultur, die die europäische Idee immer, oder fast immer an die zweite Stelle verweist – wenn überhaupt. Diese Die Unterscheidung zwischen ist sicher nicht so stark in dem Bild ver- ankert, das wir uns von Europa machen Amerika und Europa ist vor – das vor allem ein geografischer Raum allem eine Strategie des bleibt. Der außerordentliche Reichtum Selbstbildes und der Eigeniden- der kulturellen Manifestationen dieses tität, die von den Europäern in geografischen Raums wird identifiziert und klassifiziert vermittels der natio- ihrer Geschichte geschmiedet nalen Identitäten, denn wir reden von wurde und die sich in dem Theater, Literatur und Gedankengut geografischen und imaginären aus Frankreich, Italien, Deutschland Raum des überseeischen und so weiter. Von einem Europa, das seine Randgebiete integrieren würde, Europas, das heißt Amerika, zum Beispiel Griechenland oder Albani- reproduziert hat. en, ist dabei noch weniger zu merken. Es

51 Fremdbild – Das Bild von Europa

scheint mir in Europa keine lebendige Vorstellung zu geben, die die Nationen zusammenführt, sondern lediglich eine, die sie einzeln identifiziert und in einem größeren geografischen Raum namens Europa situiert. Die übliche Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Fremden müss- te überwunden werden, und vielleicht kann dabei einen Blick in die Geschichts- bücher helfen. Aber damit müsste man Amerika und Europa und zugleich das Bemühen um eine europäische Identität in Frage stellen. Aber noch scheint sich die Idee von Europa vor allem auf die Eu- ropäische Union zu beschränken. Die- se Wahrnehmung entspricht nicht den politischen und ökonomischen und auch kulturellen Kräften, die das Leben der Europäer heute prägen.

Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Stephan Hollensteiner

Leopoldo Waizbort ist Professor für Sozio- logie an der Universität von São Paulo und ehemaliger Stipendiat des Deutschen Aka- demischen Austauschdienstes (1993-1995) und der Alexander von Humboldt-Stiftung (2005/2006). Er ist unter anderem Autor einer Biografie über Georg Simmel und Heraus- geber der brasilianischen Ausgabe von Max Webers Musiksoziologie und Norbert Elias´ Schriften.

52 Paradies Europa In Russland wird Europa als attraktiver Partner für Kultur und Wirtschaft wahrgenommen. Insbesondere die Medien stellen den Kontinent klischeehaft positiv dar. Schuld sind mangelnde Ressourcen und journalistische Marktgesetze. Von Sergej Sumlenny (Moskau)

den von Schiller gelesen hat, denn deren Übersetzungen und Adaptationen waren für die Entwicklung der russischen Lite- ratur überaus wichtig. Was in der Sow- jetunion reine Abstraktion und – ebenso wie Fremdsprachenkenntnisse – kaum anwendbar war, gehört seit 15 Jahren zum Alltagsleben. Seit dem Zusammen- bruch der Sowjetunion ist Europa – von Finnland bis Portugal – das beliebteste Urlaubsziel der Russen. Günstige Flug- tickets, die eine Reise von Moskau oder Jekaterinburg nach Paris oder Berlin at- traktiver als eine Reise nach dem fern- eine andere Region, keine an- östlichem Wladiwostok im eigenen Land dere Wirtschafts- und Staaten- machen, vervollständigen das Bild: „Eu- Kunion der Welt ist bei den Rus- ropa ist nah und attraktiv, Europa hat ein sen so beliebt wie Europa und die EU. gutes Image, Europa ist beliebt.“ Der Grund dafür sind nicht nur die en- Die Bücher von Erlend Loe oder Michel gen historischen Beziehungen oder die Houellebecq liegen oft in Originalsprache geografische Nähe. In den Schulen der in der Tasche jedes zweiten Moskauer Stu- ehemaligen Sowjetunion war europä- denten. Die neuen Filme von Pedro Alm- ische Geschichte der wichtigste Teil des odóvar oder Jean-Pierre Jeunet füllen die Pflichtfachs „Weltgeschichte“. Mindes- Kinos. Die vielleicht letzte Trutzburg der tens eine europäische Sprache mussten Verweigerung gegenüber der europäischen die Kinder lernen, ein „Kodex der eu- Kultur bleibt die moderne Kunst. Nur die ropäischen Literatur“ – von Homer bis wenigsten Russen (und ich gehöre nicht zu Ibsen und Dickens – war Teil des Fachs dieser kleinen Gruppe) goutieren moderne Weltliteratur. Auch die klassische rus- Gemälde, Skulpturen und Installationen sische Literatur ist von der europäischen aus Europa. Aus eigener Erfahrung eines Literatur stark geprägt. Wer die Dichter Besuchs der Münchner Pinakothek der der russischen Romantik gut kennt, kann Moderne in Begleitung von Russen und sicher sein, dass er auch fast alle Balla- Amerikanern kann ich sagen, dass 80 bis

53 Fremdbild – Das Bild von Europa

90 Prozent auch derjenigen jungen Rus- se hält das Verhältnis mit der EU für zu sen, die europäische Kultur und Kultur- eng. Die Begeisterung für die russisch- geschichte wertschätzen, die europäische europäischen Beziehungen ist so hoch Gegenwartskunst als eine Sackgasse oder wie nie: 39 Prozent der Befragten sagten, gar Degradierung der früheren schönen diese hätten sich im letzten Jahr verbes- Künste empfinden. Das Motto lautet: „Dü- sert, nur neun Prozent waren gegentei- rer und Rembrandt sind tausendmal besser liger Meinung. als jeder moderne Maler.“ Die moderne Kunst ist aber der ein- Die Macht der Klischees zige Teil der europäischen Kultur, der bei Russen meist nicht auf Gegenliebe stößt. Trotzdem ist festzustellen, dass dieses Positiv und austauschfreundlich dagegen schöne Bild der Integration, Kooperation schauen die Russen auf die europäische und beiderseitigen Annäherung auch sei- Tradition des Rechtsstaats, auf Maßnah- ne dunklen Stellen hat. Diese liegen dort, men gegen Korruption oder auf erfolg- wo man sie am wenigsten erwartet – und reiche Beispiele von Denkmalpflege und zwar in der Arbeit der Medien. Naturschutz. Die positive Wahrnehmung Das von europäischen Journalisten europäischer Kultur kennzeichnet eine gezeichnete Bild Russlands, ebenso wie wichtige Regelmäßigkeit: Je besser die das von russischen Journalisten dar- wirtschaftliche Situation in Russland ist, gestellte Bild Europas, ist ein Klischee desto größer sind die russischen Sympa- oder grobe Verzerrung. Schuld sind lei- thien für die europäische Kultur. Das ist der keine böswilligen Journalisten (was verständlich: Je besser es der russischen leicht zu ändern wäre), sondern objek- Wirtschaft geht, desto unbefangener füh- tive Gründe. Angesichts immer kürzerer len sich die Russen, die Erfahrungen an- Fernsehreportagen sind die Journalisten derer Nationen zu übernehmen – als freie beinahe gezwungen, tendenziell die exis- und gleichrangige Partner. tierenden Klischees zu wiederholen, an- Man kann sagen: Noch nie war Eu- statt neue Informationen zu verbreiten. ropa in Russland so populär wie heute Fernsehnachrichten, die stärker an die – auch dank unseres ökonomischen Er- Gefühle als an die Ratio der Zuschauer folgs, der es nicht nur ermöglicht, uns appellieren, leiden unter dieser traurigen im Ideenaustausch mit Europa endlich Tatsache am meisten. Auch Zeitungen gleichberechtigt zu fühlen, sondern uns und Zeitschriften müssen entweder Kli- auch dazu stimuliert, die wirtschaftliche schees und Vorurteile bedienen – oder Zusammenarbeit mit Europa zu pflegen. ihre Leser verlieren. Dazu haben west- Nach jüngsten Umfragen des führenden liche und russische Journalisten, die als russischen Meinungsforschungsinstituts Auslandskorrespondenten arbeiten, zu- FOM ist mit 80 Prozent die große Mehr- sätzliche jeweils unterschiedliche Pro- heit der Russen der Meinung, die Politik bleme, die eine umfassende und klischee- Russlands solle die Beziehungen mit der freie Darstellung behindern. EU ausbauen. 68 Prozent meinen, eine Es ist kaum zu glauben, aber trotz der noch engere Kooperation mit Europa sei Ölmilliarden aus der russischen Wirt- notwendig. Und nur jeder zehnte Rus- schaft, durch die der russische Medien-

54 markt erstmals seit Jahren einen echten Das Bild von Europa – Fremdbild Gründungsboom erlebt, bleiben die Aus- landsstudios auch der reichsten Fernseh- sender, etwa der staatlichen „Rossija“, die „Waisenkinder“ des Aufschwungs. Auch die reichsten Medien unterhalten norma- lerweise nur einen Korrespondenten in Deutschland (der nebenbei auch für Ös- Bild in den Köpfen von Zuschauern und terreich, die Schweiz und die Niederlande Lesern. Auf den ersten Blick scheint die- zuständig ist) und einen Kameramann se Situation sehr gut für Europa – sein (der gleichzeitig als Tonassistent, Fahrer, Image in Russland ist bestimmt besser, Techniker usw. dient). Die weniger wohl- als das Leben in Europa in Wirklichkeit habenden Fernsehsender, wie etwa der ist, aber wie jede Verzerrung führt auch vor zwei Jahren gegründete private Wirt- diese zum Verlust der Realität und behin- schaftssender RBC-TV, haben gar keine dert die objektive Wahrnehmung der eu- eigenen Korrespondenten in Europa und ropäischen Politik. Für die Mehrheit der arbeiten nur mit Stringern, also einhei- Russen bleibt Europa das Beispiel eines mischen Hilfskräften. Aus zeitlichen und erfolgreichen politischen und wirtschaft- wirtschaftlichen Gründen bleiben Beiträ- lichen Systems – eine Überzeugung, die ge so oft klischeehaft. natürlich auf guten Grundlagen ruht. Wohl die einzige Quelle für umfas- Diese Überzeugung ist aber hinder- sende, vielseitige und aktuelle Informa- lich, um die existierenden wirtschaft- tion über den europäischen Lebensalltag lichen und sozialen Probleme Europas bleibt Euronews, das durch europäische richtig einzuschätzen und zu verstehen. und russische Sender finanziert wird und Die völlig korrekte Ansicht, „Europa hat bei dessen russischer Redaktion Journa- einen großen Erfolg in den letzten Jahr- listen des Staatssenders „Rossija“ arbei- zehnten erlebt“ entwickelt sich so oft zu ten. Das Problem dieses Senders ist sei- der falschen Aussage „Es gibt gar keine ne schlechte Stellung auf dem russischen Probleme in Europa“. Und derjenige, der Medienmarkt – die meisten Russen wis- auf diese Probleme hinweist, wird oft als sen gar nicht, aus welchen Quellen sich „altsowjetischer Propagandist“ und „an- Euronews speist, und werden zudem tidemokratischer Populist“ bezeichnet – durch seinen Namen in die Irre geführt. was natürlich reiner Unsinn ist. So hat der Sender den Ruf eines „Propa- Ich selbst wurde so kritisiert, als ich im ganda-Fernsehens der Europäischen Uni- Juni 2006 für die führende russische wirt- on“, was natürlich gar nicht stimmt. schaftspolitische Zeitschrift „Expert“ Eine (selbst ohne böswillige Gründe!) einen Artikel über den schon gut sechs verzerrte Darstellung Europas in Russ- Monate dauernden Konflikt zwischen land führt natürlich zu einem verzerrten deutschen Uniklinikärzten und ihren Arbeitgebern schrieb. „So etwas kann in Deutschland gar nicht passieren“, schrieb Das größte Problem ist, dass mir ein Leser. „Warum versuchen Sie uns zu überzeugen, dass sich die deutsche Me- westliche Journalisten sich oft dizin in einer Krise befindet? Wollen Sie freiwillig und bewusst in einem vielleicht die Krise der russischen Me- „Ideenghetto“ einschließen. dizin retuschieren?“ schrieben andere. Der Kreis von Interviewpart- Der stärkste Vorwurf war, dass ich einen „Propagandaauftrag vom Kreml“ bekom- nern ist begrenzt und meist seit men hätte. Vielleicht der einzige Bereich Jahren gleich. der europäischen Innenpolitik, den fast

55 Fremdbild – Das Bild von Europa

jeder Russe als inakzeptabel betrachtet, Die meisten Personen, die den deut- ist die Einwanderungspolitik. Die Fern- schen Medien Interviews zu aktuellen sehbilder von brennenden Autos in Paris Themen der russischen Innen- und Au- (die Kamerateams der größten russischen ßenpolitik geben, gehören seit Langem Fernsehanstalten wurden bei Live-Über- nicht mehr zur politischen Szene des tragungen von Randalieren angegriffen) Landes. Für die Russen sind sie margi- und die Protestaktionen von Muslimen in nale Figuren, deren Worte man so wenig Dänemark und Großbritannien nach den beachtet, wie in Deutschland die Aussa- Mohammed-Karikaturen haben die Rus- gen vom Pressesprecher der NPD oder der sen überzeugt, dass die europäische ein- Neuen Linken – als „Politiker“ werden wandereroffene Gesellschaft mit großen diese Leute nur von deutschen Medien Gefahren verbunden ist. Aber auch die- hofiert. Das schlimmste ist, dass solche se Ausnahme bestätigt nur die Überzeu- Leute wegen ihrer prekären Einkom- gung, dass Europa „problemfrei“ sei. mensverhältnisse für das Gespräch oft Geld von den Deutschen bekommen. So Im Ideenghetto werden sie von diesen Interviews abhän- gig und käuen immer wieder, was man Das große Problem für die deutschen von ihnen erwartet - ein Teufelskreis. Journalisten in Russland sind fehlende Trotz allem bin ich optimistisch, dass Sprachkenntnisse. Die meisten deut- diese Probleme in einer gewissen Zeit schen Journalisten, die nach Russland wenn nicht gelöst, so zumindest gemin- kommen, können kein Russisch. Zu In- dert werden. Je mehr russische und euro- terviews kommen sie mit russischen Pro- päische Journalisten der Euronews-ähn- ducern, die das Gespräch dolmetschen; lichen Fernsehanstalten ein realistisches auch die täglichen Zusammenfassungen Bild von Europa in Russland verbreiten, von Berichten der russischen Medien be- und je mehr Journalisten (auch durch die reiten die Producer vor. Bis heute erin- Zusammenarbeit von russischen und eu- nern sich russische Journalisten an einen ropäischen Zeitschriften und Fernseh- Korrespondenten einer deutschen Fern- sendern) ein umfassendes Bild von Rus- sehanstalt, der 15 Jahre lang in Moskau sland nach Europa tragen, desto leichter arbeitete, aber nur vier Sätze in Russisch wird es, den Fluss wahrheitsgetreuer In- beherrschte, die er seinen Gesprächspart- formationen stetig in beide Richtungen ner jedes Mal stellte: „Wie geht’s?“, „War zu steigern – und desto weniger Klischees es früher besser?“, „Ist Ihr Präsident ein und Missverständnisse setzen sich in den guter Mensch?“ und „Wie wird es wei- Köpfen von Russen und Europäern fest. tergehen?“. Natürlich ist das ein Extrem- fall. Fehlende Sprachkenntnisse sind aber Sergej Sumlenny ist gelernter Journalist, nicht das größte Problem westlicher Jour- promovierter Politikwissenschaftler und Deutschland-Korrespondent des russischen nalisten: Sie schließen sich oft freiwillig Wirtschaftsmagazins „Expert“. Zuvor war er und bewusst in einem „Ideenghetto“ ein. Mitarbeiter des ARD-Hörfunkstudios Moskau Der Kreis von Interviewpartnern ist sehr und des privatem Wirtschaftssenders RBC-TV. begrenzt und meist seit Jahren gleich. Als Stipendiat der Alexander von Humboldt- Stiftung erforschte er in den Jahren 2005/2006 die Beziehungen zwischen Medien und Politik.

56 Die Seele Europas verträgtDachzei le sich nicht mit der Sprache der Buchhalter und No- tare, die in den Institutio- nen der Europäischen Union so verbreitet ist. Wir müssen uns fragen: Warum wollen wir in Europa zusammenleben? Wie wollen wir zusam- menleben? Dann wissen wir auch, was den Geist Europas ausmacht.

Bronislaw Geremek, ehemaliger polnischer Außenminister, MdEP

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Kernstück oder Zierblume? Kultur ist „in“, auch in der Europäischen Union. In Brüssel wird sie aber nicht nur von der zuständigen Generaldirektion, sondern auch von vielen anderen Politikfeldern bearbeitet. Welchen Stellenwert nimmt die Kulturpolitik in der Europäischen Union ein? Von Enrique Banús

vorgesehen sind. Auch die ungeborene Verfassung sieht keinen entscheidenden Wandel in den Artikeln zur Kultur vor. So könnte der Beitrag mit diesen Fest- stellungen schnell beendet sein. Doch so einfach ist die Sache – wie so oft bei den Ir- rungen und Wirrungen der europäischen Einigung – nicht. Es ist zwar richtig, dass die Zuständigkeit für kulturelle Fragen an die Gemeinschaft sehr zurückhaltend übertragen wurde. Das hat damit zu tun, dass die Hauptverantwortlichen für Kul- tur in vielen Mitgliedstaaten seit eh und je die Länder oder im Zuge der seit den 80er enn ich noch einmal begin- Jahren stark voransschreitenden Dezent- nen könnte, würde ich mit ralisierung die Regionen sind, und diese Wder Kultur anfangen.“ Jean wie jene wachsame Hüter ihrer Verant- Monnet hat ihn zwar nicht geäußert, wortungen sind. Die vorherrschende und aber sein vermeintlicher Wunsch zum weit verbreitete Meinung geht davon aus, Stellenwert der Kultur kursiert sogar in dass sich Kultur so nahe wie nur möglich Amtsschriften. Doch wir sind weit davon am Bürger entfalten soll. Die „Brüsselisie- entfernt. Denn entgegen der optimisti- rung“ der Kultur – man verzeihe den ge- schen Prophezeihung des Europäischen waltsamen Neologismus – würde zudem Parlaments im Jahr 1983, bald ein Prozent auf wenig Sympathien stoßen. des EU-Haushalts der Kultur zu widmen, Nicht einmal die grundlegenden Do- sind es heute nur 0,03 Prozent (einschließ- kumente lassen dies zu: Zwar wird der lich Sprachen, aber ohne Audiovisuelles). Kommission in dem Vertrag von Maas- Mit Fug und Recht darf sogar bezweifelt tricht die Sorge um das „gemeinsame kul- werden, ob auf Gemeinschaftsniveau von turelle Erbe“ anvertraut, doch eigentlich einer Kulturpolitik die Rede sein kann. in zweitrangiger Stellung gegenüber der Rein rechtlich sieht es nicht danach aus, kulturellen Vielfalt, die in dem betref- da im Vertrag eigentlich nur Koordi- fenden Artikel (nun mit der Nummer nierungs- und Ergänzungsmaßnahmen 151) gleich zweimal erwähnt wird. Die

60 Kultur in der Polit i k

Vielfalt ist zu wahren, das gemeinsame mehr Mittel zur Verfügung gestellt wur- Erbe soll hervorgehoben werden. Dieses den als allen anderen Kulturbereichen wird allerdings zusätzlich geschwächt, zusammen (auch heute noch). Es hatte weil nirgends eine klare Definition des sich die Mär verbreitet, Film und Fern- Begriffes zu finden ist. sehen würden mehr als Literatur oder Trotz allem kann die Bedeutung der Musik zur Prägung des (europäischen) Kultur und ihre Berücksichtigung in der Bewusstseins beitragen. Ohne Zweifel ist Politik der Gemeinschaft zumindest auf dagegen, dass dieser Sektor größere Ein- drei Ebenen untersucht werden: Zum ei- nahmen verspricht, so dass sich nahe an nen kann das Wirken der Generaldirek- der Handelspolitik ein eigenes Feld her- tion Kultur beleuchtet werden, dem die ausbildete. direkte Sorge für die Ziele des Artikels Es ist in der Tat im Bereich des Audio- 151 obliegt; zum anderen ist leicht festzu- visuellen, in dem am ehesten „politisch“ stellen, dass auch andere Politikbereiche agiert wurde. Es ging – vor allem in den (von der traditionsreichen Binnenmarkt- Jahren, in denen François Mitterrand in bis zur finanzkräftigen Regionalpolitik) Frankreich das Sagen hatte – darum, den die Kultur tangieren. Und drittens ist die europäischen Film zu unterstützen und kulturelle Dimension in den letzten Jah- ihm zu höherem Marktanteil zu verhel- ren verstärkt im Zusammenhang mit der fen. Begründet wurde dies damit, dass Außenpolitik aufgetaucht. Schließlich der europäische Film europäische Wer- könnte auch noch die Kultur in einem te vermittle und der Amerikanisierung weiten Sinn bedacht und etwa mit dem in der Filmwelt politisch gegengesteu- Gedanken einer „europäischen Identi- ert werden müsse. Das hat nicht nur zur tät“ in einen Zusammenhang gebracht Filmförderung geführt, sondern auch zu werden. Regelungen, die vor allem für das Fern- sehen gelten und deren bekanntester Teil Audiovisuelle Kultur die „europäische Quote“ ist. Auch hat es zur „exception culturelle“ geführt: Libe- Im Organisationsplan der Kommis- ralisierung des internationalen Handels sion gehört Kultur- und Bildungspolitik ja, aber nicht für Kulturprodukte; hier seit eh und je zu einer Generaldirekti- dürften die Staaten nicht nur fördern, on. Auch der Sport gehört dazu. Nun hat sondern eben auch fordern, dass die be- sich die Sprachpolitik hinzugesellt (bes- sagten Quoten eingehalten werden. Das ser: die Sorge um die Mehrsprachigkeit), Zuschauerverhalten der Europäer hat sich aber auch Jugend und Zivilgesellschaft. mit alledem nicht wesentlich verändert: Abhanden gekommen ist der Bereich „Au- Die Renner auf dem europäischen Film- diovisuelles“, der zur neuen Generaldi- markt kommen weiterhin aus den Ver- rektion „Informationsgesellschaft und einigten Staaten, 70 Prozent ihrer Ein- Medien“ gehört. Das alles ist nicht be- nahmen erzielen die Kinos in Europa sonders spannend. Aber die Scheidung mit US-Produktionen. Aber immerhin des Audiovisuellen von der Kultur ist doch verdankt mancher bemerkenswerte eu- bemerkenswert, war jenes doch lange das ropäische Film und manches Filmfestival Lieblingskind der Kulturpolitik, dem seine Existenz der Gemeinschaft.

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Nicht, dass Frankreich in jenen Jahren liberaler, sondern entspricht den norma- allein gestanden hätte (es war die offi- len Kulturpolitiken in vielen Staaten, die zielle Verhandlungsposition der Union), mit Fördermitteln zu helfen versuchen. aber die große Begeisterung dafür woll- Vertrieb, Festivals, aber auch die Produk- te sich bei anderen Mitgliedstaaten doch tion wird gefördert, hier meist mit nicht nicht so recht einstellen. So hat sich nun mehr als 50.000 Euro pro Film. die Lage an dieser Front etwas entspannt, So wird es zu MEDIA 2007 kommen; es und es bleiben die MEDIA-Programme, soll gelten bis Ende 2013 (unverkennbar ist die 1991 eingeleitet wurden und nun un- die Tendenz, die Laufzeit der Programme ter dem Namen MEDIA Plus und MEDIA dem bereits beschlossenen Finanzrahmen Training bis Ende 2006 galten. Parlament anzupassen) und 1.055 Million Euro zur und Rat haben am 16. November 2006 Verfügung haben. Hinzukommen wird bereits dem Nachfolgeprogramm grünes eine neue Aktion: „i2i Audiovisual“, die Licht gegeben. In der Begründung dieser die Chancen der Filmproduzenten bei den Entscheidung heißt es: „Der europäische Kreditanstalten erhöht. audiovisuelle Sektor spielt bei der Entste- hung einer Europabürgerschaft eine zen- Dies- und jenseits trale Rolle, weil er eines der wichtigsten der Generaldirektion Instrumente darstellt, um den Europä- ern, vor allem den jungen unter ihnen, Die Kulturpolitik, wie sie von der zu- die gemeinsamen Grundwerte sowie die ständigen Generaldirektion in den letz- gemeinsamen sozialen und kulturellen ten zwanzig Jahren entfaltet worden ist Werte der Union zu vermitteln.” (1986 bekam die für Informationspolitik Auf diversen Dokumenten fußend fol- zuständige Generaldirektion auch die gen weitere Begründungen für die vorge- „Kultur“ zugeschlagen), gleicht einer sehene Maßnahme. Ist es nur Zufall, dass fortschreitenden Lichtung des Waldes. die Wirtschaft dabei massiv zum Zuge Schon bevor der Gemeinschaft formell kommt? Es wird die Lissabon-Strategie Zuständigkeiten für Kultur übertragen genannt, und in diesem Zusammenhang wurde, hatte sich etwas getan. Aktionen heißt es vonseiten des Europäischen Rats, der Kommission vor allem im Bereich dass „die Informationsanbieter durch die des Denkmalschutzes hatten – selbstver- Nutzung und Vernetzung der kulturellen ständlich mit Einverständnis der Mit- Vielfalt in Europa einen Mehrwert“ schaf- gliedstaaten – dem vorgegriffen. Wegen fen. In der Welt der Kultur wird diese fehlender Rechtsgrundlagen wurden die „Nutzung“ der kulturellen Vielfalt keine Beschlüsse als Beschlüsse „der im Rat ver- Begeisterung entfachen (noch weniger der einigten Minister für Kultur“ verabschie- entsprechende englische Terminus „ex- det. Dann kam eine Zeit wilder Aktionen, ploit“), doch verwunderlich ist es nicht: von der Unterstützung von Übersetzer- Kultur und Kommerz vermischen sich treffen bis zu Zuschüssen zur Ausbildung hier in einer Weise, die manch einem als von Kulturmanagern oder Ausstellungen Instrumentalisierung der Kultur grauen- von Werken junger Künstler – eine bunte haft, dem anderen aber ganz natürlich er- Palette, die wenig Konturen offenbarte. scheint. Der Ansatz ist jedenfalls nicht ein Nach dieser Zeit des Suchens, was eigent-

62 lich Kulturpolitik sei (die eigentlich nur Kultur in der Polit i k „Aktionen im Kulturbereich“ sein durfte), kristallisierten sich drei Felder heraus, die 1993 zu Programmen mit den schönen Na- men „Raphael“, „Ariane“ und „Kaleidos- kop“ führten. Dem Kulturerbe ist das ers- te gewidmet, dem Lesen und der Literatur das zweite, während das dritte offen bleibt alle Formulare auszufüllen – und falls der für mannigfache Initiativen, die immer in Auswahlausschuss sich geneigt zeigt. der Zusammenarbeit verschiedener Part- Mit den 236,5 Millionen Euro, die für ner organisiert werden sollen. den Zeitraum 2000–2006 zur Verfügung Die Programme hielten sich bis An- stehen, sollen finanziert werden: „spezi- fang des 21. Jahrhunderts; dann wur- elle innovative und/oder experimentel- den sie durch „Kultur 2000“ abgelöst, le Maßnahmen“, die „insbesondere auf deren Ziel es ist, „einen gemeinsamen die Herausbildung und Entfaltung neuer Kulturraum für alle Völker Europas un- Formen des kulturellen Ausdrucks, die ter Wahrung ihrer nationalen und regi- Verbesserung des Zugangs zur Kultur, onalen Vielfalt“ zu schaffen, wie es auf insbesondere für Jugendliche und benach- der Webseite heißt. Dies sollte geschehen teiligte Bevölkerungsgruppen, sowie die „durch die Förderung des kulturellen Di- Live-Übertragung von kulturellen Veran- alogs und der Kenntnis der Geschichte, staltungen mittels der neuen Technolo- der Schaffung und Verbreitung der Kul- gien der Informationsgesellschaft“ zielen; tur, des Austauschs von Künstlern und integrierte Maßnahmen im Rahmen von ihrer Werke, des europäischen Kulturer- strukturierten und mehrjährigen Abkom- bes, neuer Formen kulturellen Ausdrucks men über eine kulturelle Zusammenar- sowie der wirtschaftlichen und sozialen beit; „die Abkommen betreffen einerseits Bedeutung der Kultur. ‚Kultur 2000‘ un- die Vertiefung eines Kulturbereichs, an- terstützt Projekte transnationaler Zusam- dererseits die Verknüpfung verschiedener menarbeit zwischen Kulturschaffenden Kulturbereiche“; schließlich sollen „be- und -akteuren sowie den Kulturinstitu- sondere kulturelle Veranstaltungen mit tionen der am Programm teilnehmenden europäischer und/oder internationaler Länder“. Erneut steht hier ein weit gefass- Ausstrahlung“ gefördert werden, wenn tes, aber traditionelles Förderprogramm: sie „das Gefühl der Zugehörigkeit zu ein Die Union entfaltet nur eine sehr geringe und derselben Gemeinschaft stärker ins eigene Aktion, das Gros der Haushaltsmit- Bewusstsein“ rücken. Sehr konkret ist tel (nur 10 Prozent bleibt ausgeschlossen das nicht, und der Teufel steckt im De- und kann für „sonstige Ausgaben“ ver- tail. Der Ermessensspielraum der Beam- wendet werden) erwärmt die Herzen der ten war immer relativ groß, nun werden Kulturschaffenden (Vermittler und Or- auch noch externe Sachverständige bei ganisatoren), falls sie die Geduld haben, der Auswahl herangezogen. Blickt man auf die Projekte, die im Jahr 2005 gefördert wurden, so zeigt sich das Ergebnis der „Kulturpolitik“ der Kom- Die grenzüberschreitende mission (d. h. der Subventionspolitik im Dimension ergibt sich aus dem Bereich der Kultur). Es fällt auf, wie un- interkulturellen Dialog der ver- terschiedlich die Staaten sich daran betei- schiedenen Akteure, die erfor- ligen. Vom Spitzenreiter Italien wurden 35 Projekte gefördert, aus Deutschland 25 derlich sind, um das Geld aus- und aus Spanien sechs, so viele wie aus zugeben. Bulgarien, den Niederlanden oder Slowe-

63 Kultur in der Polit i k Bei alledem ist man eigentlich schon in eine Falle hineingetappt: die der Quantifi- zierung der Kultur. Wie viele Projekte, wie viele Bereiche, wie viele Partner? Wich- tiger wäre zweifellos die inhaltliche Ana- lyse der Projekte, aber vom „Canto della Pace“ bis zu „Industrial Mining Heritage“ nien (gezählt ist jeweils das Land, aus dem ist vieles vertreten, ein kunterbuntes Al- der Antrag kam; bei jedem Projekt wir- lerlei, das gewiss Vielfalt widerspiegelt ken Partner aus anderen Ländern mit). und – aber das ist schwieriger festzustel- Die Daten können hier nicht analysiert len – jene im Vertrag erwähnte Gemein- werden, sind aber aufschlussreich für samkeit des kulturellen Erbes. den verschiedenen Umgang mit Gemein- Auf den ersten Blick handelt es sich nur schaftsmitteln. um wenige Projekte für Kulturschaffen- Interessanter sind die Lebensbereiche, de; das Technische überwiegt gegenüber die von den Projekten abdeckt werden und dem Kreativen. Die Schwerpunkte einer damit für „Kultur“ gehalten werden: „Cul- eigenen Kulturpolitik mit klarem Profil ture Heritage“ (der englische Begriff soll sind kaum erkennbar; die Rolle der EU beibehalten werden), „Translation – Lite- als „Mäzen“ bei der Zuteilung der meis- rature“, „Performing Arts“, „Translation – ten Mittel erschwert es, kraftvolle Linien Science“, „Visual Arts“, „Literature, Books zu zeichnen. So entsteht ein Mosaik der & Reading“, das sind die bedachten (nicht Anträge, die der Eigeninitiative entsprin- sehr originellen) Kategorien. Sie entspre- gen und sich nicht um allgemeine Priori- chen etwa den Abteilungen eines Kultur- täten scheren. ministeriums und markieren ein Gebiet, in Nicht antragsgebunden sind eben die dem höchstens der große Anteil der Über- Millionen, die für Aktionen gedacht sind, setzungen spezifisch erscheint (50 Projekte die der direkten Initiative der Gemein- für die Literatur, 20 für die Wissenschaft). schaft entspringen. Diese Mittel gehen zu 63 von 218 Projekten sind dem Kulturerbe einem guten Teil in das Programm der gewidmet und 56 den „Performing Arts“, „Kulturhauptstadt“, eine inzwischen was auch konventioneller Kulturpolitik höchst populäre Einrichtung, für die viele entspricht; Literatur und „Visual Arts“ Städte ins Rennen gehen. Die Auswahl sind weniger stark vertreten. läuft zunächst auf nationaler, dann auf Es geht also oft um die Vermittlung Gemeinschaftsebene (Spanien etwa wird kultureller Inhalte eines Staates in andere erst 2016 zum Zuge kommen, und jetzt und um Kulturvermittlung überhaupt (bei gibt es bereits sieben feste Kandidaten). der Sparte Literatur handelt es sich oft um Eine weitere projektunabhängige Aktion Übersetzungen); es geht um Kulturerbe, oft grenzüberschreitend, manchmal aber bezogen auf eine bestimmte Gegend, de- ren Erbe wohl für „europäisch“ angese- Bei alledem ist man eigentlich hen wird; es geht um Festivals und immer schon in eine Falle hineinge- um gemeinsame Projekte mit Partnern aus veschiedenen Ländern – die grenz- tappt: die der Quantifizierung überschreitende Dimension ergibt sich der Kultur. Wie viele Projekte, aus dem interkulturellen Dialog der ver- wie viele Bereiche, wie viele schiedenen Akteure, die erforderlich sind, Partner? Wichtiger wäre zwei- um das Geld auszugeben (immerhin wa- ren in den genehmigten Projekten insge- fellos die inhaltliche Analyse samt 1198 Partner involviert). der Projekte.

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unterstützt finanzielle Organisationen, Für 2006 gab es eine offene Ausschrei- die sich auf europäischer Ebene für Kultur bung, bei der 34 Organisationen ausge- engagieren – seien es nun das Europäische wählt wurden. Viele alte Bekannte sind Büro für Weniger Verbreitete Sprachen dabei, von den Neuen ist das Mittelmeer- oder das Informations- und Dokumenta- Jugendorchester mit 91 Musikern aus 16 tionsnetz Mercator oder die historischen Ländern zu erwähnen; die Alte Musik Mahnmale für die ehemaligen Konzent- wird nun bedacht und manches bei den rationslager der Nationalsozialisten. Und anderen Sparten hat sich verschoben, dann kommt die Liste der „Organisationen aber entscheidend hat sich das Bild nicht im Sinne des Anhangs I Abschnitt 3 Akti- gewandelt: Hinter der revolutionär klin- onsbereich 2 Nummer 2“ (durchaus als Ant- genden „Tumult“-Stiftung aus Polen ver- wort für ein Quiz geeignet!), die normaler- birgt sich ein Filmfestival, das Berliner weise (außer in den Jahren 2004 und 2005) „Bootlab zur Förderung Unabhängiger eine offene Ausschreibung vorsieht: Unter Projekte“ befasst sich mit Medien, und die den 39 Privilegierten befinden sich Orches- italienische „Fondazione Fabbrica Euro- ter (Jugend-, Kammer- und Barockorches- pa per le Arti Contemporanee“ hat weite ter der Europäischen Union oder Philhar- Ziele. Das „Gießkannen-Prinzip“ aber be- monien der Nationen), die Föderation der steht fort: Für die 34 Träger sind 5,5 Mil- Chöre und andere Akteure der Choralmu- lionen vorgesehen, was im Durchschnitt sik, das Europäische Opernzentrum, die zu einem Segen von etwa 162.000 Euro Jazzformation „Swinging Europe“, die verhilft. Es mag jeder selbst beurteilen, Europäische Vereinigung der Konserva- ob es sich um Kulturpolitik handelt oder torien, die Europäische Theaterkonvention ob die EU zum Mäzen geworden ist – mit und die Union Europäischer Theater (und einigen Schwerpunkten, die das Grenz- andere mit dem Theater verbundene Initi- überschreitende betonen. ativen), der Europäische Schriftstellerkon- gress, die Künstlerdörfer, das Europäische Kultur, allenthalben und allerorts Netz der Kunstorganisationen für Kinder und Jugendliche, die Ausbildungsstätte für Dabei steht die Generaldirektion Kul- Kulturverwaltung, die musealen Organi- tur nicht so einsam da. Im Hinblick auf sationen, Euroballet und schließlich die die nationalen Kulturpolitiken lohnt sich Europäische Vereinigung der Historischen etwa in Frankreich der Besuch bei ande- Schützengilden. Die Liste ist lang, aber nö- ren Ministerien, um festzustellen, was der tig, um festzustellen, dass alle Bereiche tan- Staat alles für die Kultur tut – auch im giert werden, dass sicherlich viel Lobby- Verteidigungsministerium etwa kann ein arbeit hinter der Förderungszusage steckt Budget für Kultur gefunden werden. Aber und dass wahrscheinlich doch ein wenig auch in Brüssel ist es geboten, anderswo nach dem „Gießkannen-Prinzip“ vorge- nach Kultur Ausschau zu halten, heißt gangen wird: nicht viel Wasser, aber für es doch im Vertrag: „Die Gemeinschaft viele Blumen. trägt bei ihrer Tätigkeit aufgrund anderer Und doch bleibt zu vermuten, dass die Bestimmungen dieses Vertrags den kultu- Existenz mancher dieser Einrichtungen rellen Aspekten Rechnung“. Es scheint, von dem Unionszuschuss abhängt.

65 Kultur in der Polit i k Gewiss sind kulturelle Aspekte auch in anderen Generaldirektionen zu finden: Bei Landwirtschaft und Ländliche Ent- wicklung, Gesundheit und Verbraucher- schutz oder Beschäftigung, Soziales und Chancengleichheit, aber auch Umwelt (über zehn Prozent der vom LIFE–Pro- dass sich dies auf alle Bestimmungen des gramm geförderten Projekte sind direkt Vertrags bezieht, was dem Vertrag einen mit Kultur verbunden) oder Entwick- sympathisch utopischen Zug gibt. Es ist lungshilfe (auch wegen des Themas „Tou- aber sehr schwierig, diese Allgegenwart rismus und Kultur“) und Handel, wo etwa der Kultur zu garantieren: Nach dreizehn die Aspekte der Urheberrechte und der Be- Jahren Geltung dieses Artikels ist bisher rücksichtigung audiovisueller Produkte nur ein „Erster Bericht über die Berück- bei der Liberalisierung des Welthandels sichtigung der kulturellen Aspekte in angesiedelt sind. Das Thema ist seit der der Tätigkeit der Europäischen Gemein- Uruguay-Runde aus dem Rampenlicht schaft“ im Jahr 1996 erschienen – auf den verschwunden, aber auf der Website der zweiten wartet man seit zehn Jahren. Generaldirektion Handel gibt man sich Wo finden sich weitere Aktionen der bei den Nachfolge-Verhandlungen „com- Gemeinschaft mit Auswirkungen auf die mitted to defending the right of WTO Kultur? Zweifellos in dem schon genann- members to promote cultural diversity“. ten Bereich des Audiovisuellen, der nun In der Forschungspolitik finden sich in der Generaldirektion Informationsge- im 5. und 6. Rahmenprogramm etwa sellschaft zu finden ist. Auch das Inter- 115 wichtige Projekte zur Kultur, die eine net, dessen Bedeutung für die Kultur kaum sehr breite Palette umfassen und oft mit zu unterschätzen ist, wurde hier angesie- dem Kulturerbe zu tun zu haben und sich delt. Unter der Rubrik „Culture in the manchmal überraschender Akronyme be- Digital Era“ geht es somit um Audiovisu- dienen – etwa AMICITIA („Asset Manage- elles, Rundfunk und Internet – und oft um ment Integration of Cultural Heritage in technische Aspekte, etwa die Sicherheit der the Interexchange between Archives“) elektronischen Kommunikation, die neuen oder MATAHARI, was „Mobile Access technischen Möglichkeiten im Bereich des to Artefacts and Heritage at Remote In- Rundfunks und ähnliches. Der Internet- stallations“ bedeutet. Gebrauch wird vor allem auf die Bereiche Für die Regionalpolitik ist schon vor Gesundheit, Geschäfte, Bildung und Ver- Jahren nachgewiesen worden, dass viele waltung, aber auch inklusive Gesellschaft der geförderten Projekte einen kultu- angewandt. Alles hat im strengen Sinne rellen Inhalt hatten oder wieder mit dem nicht viel mit Kultur zu tun, in einem brei- Kulturerbe verbunden waren. Da ging es teren Sinne aber massive Auswirkungen auf die Kultur – obwohl wenig Konkretes dazu gesagt ist, ist wenigstens die Sorge um diese Auswirkungen unverkennbar. Es steckt viel Lobbyarbeit Direkter auf Kultur bezogen sind die ge- förderten Programme zur Digitalisierung hinter der Förderungszusage, und Vernetzung von Museen, Bibliotheken und wahrscheinlich wird doch und (Musik-)Archiven, aber auch von his- ein wenig nach dem „Gieß- torischen Filmen und historischen Karten. kannen-Prinzip“ vorgegangen: Wiederum eine Bezuschussungspolitik, deren Qualität von den Anträgen und den nicht viel Wasser, Auswählenden abhängt. aber für viele Blumen.

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um die Verwandlung einer stillgelegten des nationalen Kulturguts von künstle- Mühle in ein Ökomuseum oder um die rischem, geschichtlichem oder archäo- Erschließung einer Region für den Kul- logischem Wert“, wie es im Römischen turtourismus und um vieles mehr. Hier Vertrag heißt. Auch gibt es die Rechtspre- teilt die Kommission die seit den 80er chung des Europäischen Gerichtshofs, in Jahren verbreitete Ansicht, Kultur könne dem auf „Kultur“ Bezug genommen wird. ein sehr geeignetes Mittel zur Förderung Dabei geht es nicht nur zunehmend um wirtschaftlichen Wachstums sein, aber urheberrechtliche Angelegenheiten, son- auch zur Revitalisierung von Regionen dern oft eben um Fragen der Freizügig- in einem Strukturwandel. keit im Zusammenhang mit dem Kultur- Kultur ist unverkennbar zwar nicht leben (oder den Medien). Dabei machen allgegenwärtig im Wirken der Gemein- Staaten meist erfolglos geltend, eine die schaft und nicht einmal dominant oder Freizügigkeit einschränkende Maßnah- prioritär, taucht aber an vielen Stellen auf. me ließe sich mit dem Schutz der Kultur Der Gemeinschaft ging es schon seit den begründen. 50er Jahren um Schaffung eines gemein- Dass Kultur im Gemeinschaftsleben samen Marktes und Abschaffung der Han- wichtig ist, taucht auch an unerwarteten delsschranken. In den Römischen Verträ- Stellen auf. So verfasste die Kommission gen taucht das Wort „Kultur“ nicht auf, 1997 eine Mitteilung an den Rat und das und leicht könnte der Eindruck entstehen, Europäische Parlament (und einen ent- erst mit der Einführung des erwähnten sprechenden Beschluss) „über den Sek- Artikels 128 (heute 151) durch den Maa- tor Oliven und Olivenöl (einschließlich strichter Vertrag werde Kultur relevant. wirtschaftlicher, kultureller, regionaler, Das wäre kurzsichtig: Der Markt entwi- sozialer und umweltpolitischer Aspekte)“. ckelt sich nicht im Vakuum; er ist Teil der Leider wurde 1987 in dem berühmten Er- Gesellschaft, wirkt aus ihr heraus und in lass zum deutschen Reinheitsgebot für sie hinein – genauso wie die Kultur. Und Bier aber nicht auf die kulturellen, son- in der Tat ist bald festgestellt worden, dass dern allein auf die gesundheitlichen Ef- die Freizügigkeit der Waren auch „Kul- fekte hingewiesen. turgüter“ mit einbezieht und dass sich die Freizügigkeit der Arbeitnehmer auch Von Kultur zum auf Kulturschaffende erstreckt. Auch im interkulturellen Dialog Subventionsrecht tauchen Fälle auf, in de- nen Kultur tangiert wird, und manche Damit wären wir bei einem anderen Richtlinie verweist ausdrücklich darauf, Punkt, bei dem Kulturpolitik immer dass sie auch auf kulturelle Tätigkeiten wichtiger wird. Er ist im Rahmen der anwendbar ist. Mittelmeerpolitik – einem Steckenpferd Allerdings ist die Kollision zwischen von Romano Prodi – als wichtiger Pfeiler der Freizügigkeit – einem Fundament des einer neuen Nachbarschaftspolitik entwi- gesamten Gemeinschaftslebens – und dem ckelt worden: Der interkulturelle Dialog, Schutz der Kultur ausdrücklich in dem dem das Jahr 2008 speziell gewidmet sein Sinne geregelt, dass Ausnahmen von Frei- soll. Der Mittelmeerraum – seit eh und je zügigkeit erlaubt sind „zum Schutze (...) Kreuzung der Zivilisationen, Agora viel-

67 Kultur in der Polit i k vom Euromed-Programm wirkungsvoll unterstützt werden. Nun verschmilzt der Mittelmeer-Schwerpunkt mit den ande- ren Nachbarn zu einer neuen Politik, in deren Gründungsdokumenten der inter- kulturelle Dialog zwar nur vereinzelt erwähnt wird, in denen aber mehrfach fältiger (und nicht nur positiver) Begeg- von der Grenze als Begegnungsraum statt nungen – ist erneut zum Schicksalsmeer als Trennung speziell der Kulturen die Europas geworden. Angesichts der Mas- Rede ist. Es ist bemerkenswert, wie posi- senimmigration aus Nordafrika, mancher tiv der Schmelztiegeleffekt der Grenzre- nicht so friedlicher Anrainerregionen so- gionen beschrieben wird. Demnach soll wie mancher Drohungen und Missver- der „Austausch von Humankapital, Ideen, ständnisse scheinen die überaus reichen Wissen und Kultur“ sowie der „freie Ide- Chancen dieses geografischen und kul- enaustausch zwischen Kulturen, Religi- turellen Raumes zum Nachweis der stu- onen und Traditionen“ gefördert werden: piden These vom „Clash“ der Zivilisati- Freizügigkeit einmal anders, auch wenn onen zu verkommen. Ob es klug ist, auf das – jedenfalls für die Staatsbürger man- diese These mit der Entwicklung eines cher Nachbarstaaten – nicht immer ein- interkulturellen Dialogs zu antworten, fach ist. sei dahingestellt. Jedenfalls sind in die- 2008, im Jahr des interkulturellen sem Bereich in den vergangenen Jahren Dialogs, sollen zehn Millionen Euro vor erhebliche Bemühungen unternommen allem für die Bereiche Kultur, Bildung, worden: In Brüssel wurden von der Kom- Jugend, Sport sowie Unionsbürgerschaft mission mindestens drei große Kongresse zur Verfügung stehen. Die Kommission organisiert, und Romano Prodi selbst er- begründet es wie folgt: „Der interkultu- nannte eine hochkarätige Beratergruppe, relle Dialog bietet den Bürgerinnen und deren Schlussdokument trotz mancher Bürgern ein Instrument für den Umgang Obsessionen wertvolle Hinweise liefert, mit der komplexen Realität unserer Ge- wie die Hoffnung, dass Dialog nicht nur sellschaften und deren Dynamisierung.“ zur Toleranz, sondern zum Respekt füh- Vielleicht wird zu viel erwartet von die- re, verwirklicht werden kann. In diesem sem Dialog, wenn er beitragen soll zur Dokument aus dem Jahr 2003 heißt es: „Sensibilisierung der europäischen Bür- „Zum einen muss im Dialog mit dem An- ger/innen und aller Menschen, die in deren die Quelle neuer eigener Bezugs- der Europäischen Union leben, für das punkte gesucht werden und zum anderen Konzept einer aktiven und weltoffenen müssen alle den gemeinsamen Wunsch haben, über die legitime Vielfalt der er- erbten Kulturen hinaus eine gemeinsame Zivilisation zu errichten.“ Im Grunde ist die europäische Die Erziehung zu einem interkultu- Integration von Anfang an ein rellen Dialog, der auf breiter Basis und Projekt des Dialogs gewesen, nicht nur in organisierten Foren stattfin- det, und die krampflose Verknüpfung der und obwohl die Kulturen in den nötigen Offenheit mit der Überzeugung Mitgliedstaaten einen gemein- von der Wichtigkeit der grundlegenden samen Nenner haben, so sind Werte einer demokratischen Gesellschaft die Unterschiede unverkenn- sind wohl große Herausforderungen in diesem Bereich, der viele wertvolle kon- bar. Der Dialog war also immer krete Projekte aufweist, die teils auch auch interkulturell.

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Unionsbürgerschaft, die kulturelle Unter- se erfolgt, wenn die hehren Ziele mit der schiede achtet und auf gemeinsamen Wer- konkreten Praxis verglichen werden kön- ten in der Europäischen Union – Schutz nen. Es ist aber bemerkenswert, wir der der Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, interkulturelle Dialog nun zum Hauptziel Nichtdiskriminierung, Solidarität, De- auch der Kulturpolitik geworden ist. mokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die Beachtung der Menschenrechte, ein- Europäische Identität? Nein, danke! schließlich der Rechte der Menschen, die zu Minderheiten gehören – aufbaut“. Aber Vor nicht allzu langer Zeit schien klar, der Versuch ist es wert. Im Grunde ist die worin europäische Identität besteht und europäische Integration von Anfang an dass sie zu fördern sei. Sie wird im soge- ein Projekt des Dialogs gewesen, und ob- nannten Tindemans-Report im Jahr 1975 wohl die Kulturen in den Mitgliedstaa- erwähnt, im Rahmen eines neuen Anlaufs ten einen gemeinsamen Nenner haben, zur Gemeinschaft, und zuvor hatte sie An- so sind die Unterschiede unverkennbar. lass zu einer Erklärung der Regierungs- Der Dialog war also immer auch inter- chefs gegeben, in der allerdings wenig vor- kulturell. kommt, was normalerweise unter Kultur Kultur wird verknüpft mit der Außen- verstanden wird. Von demokratischen wirkung der Union, mit ihrer Rolle für Werten ist dort die Rede, und sie werden die Zukunft der Welt. Das holt die Kultur mit der Identität eines Europas gleichge- aus der Kiste des schönen Ornaments und stellt, das nicht nur Realität, sondern auch rückt sie in den Mittelpunkt, eine fried- Projekt ist. Von „kultureller Identität“ ist volle Welt nicht nur herbeizusehnen, seit Anfang der 80er Jahre oft die Rede, und sondern sie auch zu schaffen. Kultur soll kaum jemand wagt zu bezweifeln, dass nicht hauptsächlich als Element der Tren- Kultur ein kohäsionsstiftendes Element ist. nung und des Konflikts, sondern der Be- Trägt das aber nicht dazu bei, in der Kultur gegnung verstanden werden. eher das Trennende zu sehen als das Ver- Auch in „Kultur 2007“, dem Nachfol- bindende, das, was nach innen eint, nach geprogramm zum bisherigen Programm außen aber unterscheidet? Denn auch der „Kultur 2000“ der Generaldirektion Kul- Gedanke der europäischen Identität kann tur – also im Kern der „Kulturpolitik“ – ist ein- und ausschließen gemäß den Krite- interkultureller Dialog einer der Stars. rien, die je nach Couleur variieren. Das Programm geht von der Feststellung Wäre es nicht klüger, Kultur einfach aus: „Die Tätigkeit der Gemeinschaft ist Kultur sein zu lassen und zu betonen, derzeit zu stark zersplittert.“ Dement- wie sehr sie – gerade in Europa – von der sprechend sollen drei Prioritäten gelten: Mischung lebt, von den Einflüssen und „Unterstützung der grenzüberschrei- Strömungen, ja den Moden, die auf dem tenden Mobilität von Menschen, die im „Marktplatz Europa“ zirkulieren? „Eu- Kultursektor arbeiten, Unterstützung der ropa“ wird so ein Gegenpol zum Natio- internationalen Verbreitung von künst- nalismus, der ein monolithisches „Wir“ lerischen und kulturellen Werken und evoziert, aber auch zur gesichtslosen Erzeugnissen und Unterstützung des in- Globalisierung, deren „Ketchup“ die ge- terkulturellen Dialogs.“ Die Detailanaly- schmackliche Vielfalt egalisiert.

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Europas Kultur ist zu groß und zu in- Ausmaßes der Anstrengungen zur Be- teressant, um für Ein- und Ausschlusspro- wahrung und Entfaltung ihrer Kulturen zesse instrumentalisiert zu werden. Aus und zur Einbeziehung der kulturellen Di- der theoretischen Debatte um Identität mension beim europäischen Aufbau nicht wissen wir, dass Identität eben kein mono- bewusst sind“. Die Union beteiligt sich lithisches Konzept ist: Mit dem Begriff der weitestgehend als Zuschussgeberin, doch „multiple identities“ ist benannt worden, vielleicht ist das auch nicht so tragisch. dass Identität immer facettenreich ist; es Jedenfalls ist „Kultur“ in vielen auch un- wäre also kindisch, künstlich Identitäts- terschiedlichen Bereichen sehr präsent. konflikte etwa zwischen Europa und dem Und zumindest bleibt einem die Flut der Nationalen aufzubauen. Das Europäische Einweihungen kultureller Einrichtungen kann zusammen mit dem Nationalen (und unmittelbar vor den Wahlen erspart. dem Regionalen und dem Lokalen) als ein weiterer Aspekt im Bewusstsein prä- Enrique Banús ist Politikwissenschaftler und sent sein. Direktor des Europa-Instituts der Universität von Navarra in Pamplona. Er hat Wichtig scheint mir, sich nicht in Iden- zugleich den dortigen Jean-Monnet-Lehrstuhl titätsschlingen zu verfangen, sondern die für „Europäische Kultur“ inne. Nähe zum europäischem Projekt mit an- deren Mitteln zu fördern: mit einer von guter Kommunikationspolitik begleite- ten Bürgernähe, mit einer größeren Prä- senz europäischer Inhalte in der Schule und mit der Vermeidung des „Brüssel- Effekts“, das heißt der Stilisierung von „Brüssel“ zum Buhmann seitens natio- naler Regierungen, wenn bestimmte Ziele nicht erreicht wurden.

Und nun?

Kultur ist „in“. Vom Stiefkind von Po- litik und Wirtschaft hat es sich zum Kern internationaler Politik hin entwickelt – und soll nun gar für Konflikte zuständig sein. Eine zweideutige Ehre ist das. Ge- rade in der Union gilt es zu zeigen, wel- che positive Bedeutung die Kultur im in- ternationalen Zusammenleben wie auch innerhalb der Gesellschaft hat. Dass die Gemeinschaft dabei keine echte Kultur- 1 Das 5. Rahmenprogramm (5. FRP) legte die Förderungsprioritäten der politik entwickelt, ist ihr selber bewusst. Europäischen Union für Forschung und technologische Entwicklung in den Jahren 1998 - 2002 fest. Das 6. Forschungsrahmenprogramm ist von 2003 Zur Vorstellung von „Kultur 2007“ hieß - 2006 das Hauptinstrument der Europäischen Union für die Finanzierung von es selbstkritisch, dass die Bürger „sich des Forschung in Europa.

70 Neuland in Sicht Die Europäische Union ist sich ihres Mankos, keine eigene Identität auf- weisen zu können, schon lange bewusst. Der damalige Kommissionspräsident Jacques Delors wollte mit dem Maastrichter Vertrag die Union mit „Leben und Geist“ erfüllen. Der jet- zige Kommissionspräsident José Manuel Barroso ist gar auf der Suche nach einem „Paradigmen- wechsel“: Ohne eine kulturelle Einigung bleibt die politische eine Utopie. Von Olaf Schwencke

sich zu einer Europäischen Wirtschafts- gemeinschaft zusammengeschlossen hat- ten, auch deshalb keine Notwendigkeit, eine kulturelle Dimension zu entwickeln, weil es den kulturpolitisch wirksamen Europarat gab. Im übrigen beharrten die EWG-Staa- ten lange Zeit auf ihrer alleinigen Zu- ständigkeit für nationale, regionale und kommunale Kulturpolitik; mit dem Eu- roparat, der eher für Grundsätzliches und Übergreifendes – letztlich sie nicht Verpflichtendes – in Anspruch zu neh- men war, konnte man sich gut arrangie- ls vor 50 Jahren die Römischen ren. Mit Zustimmung aller Länder hatte Verträge (1957) verabschiedet er eine Europäische Kulturkonvention Awurden, begann die Erfolgsge- (1954) verabschiedet, in der die Kultur- schichte einer Europäischen Wirtschafts- pflege, namentlich der „Schutz und die und späteren Währungsgemeinschaft Förderung des gemeinsamen Erbes“ so- (EWG). Eine europäische Kultur- und wie die wechselseitige Zusicherung des Wertegemeinschaft war mit der Grün- allgemeinen Zugangs zu selbigem fest- dung der EWG nicht beabsichtigt. Da eine geschrieben worden war. Das stand be- solche nicht geschaffen werden sollte, wa- reits in der Gründungsurkunde des Euro- ren alle Artikel dieses Vertrages wirt- parats, die die zehn (west-)europäischen schaftspolitisch orientiert. Kultur kam Staaten 1949 beschlossen hatten. Ne- darin folgerichtig gar nicht vor; und Bil- ben der höchst bedeutsamen Menschen- dung lediglich als Berufsbildung. rechtskonvention (1950) des Europarats Es war ein langer Weg, der schließlich konnte sich dort Kulturpolitik bis in die über manche frühen zaghaften Ansätze späten 70er Jahre zu dessen zweiter Säu- der Kulturförderung zu den Maastrichter le entwickeln. So wurde der Europarat Verträgen (1992) der Europäischen Union zur wichtigsten Instanz der Kulturpo- mit ihrem Kulturartikel führte. Vor 50 litik in Europa, bald korrespondierend Jahren bestand für die sechs Staaten, die dazu – noch keineswegs die EWG – die

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UNESCO als Unterorganisation der UNO. kulturellen Sektor“. Damit war ein An- Sie trat mit wichtigen Erklärungen wie fang für die Kulturpolitik gemacht; doch der über „Kulturpolitik in Europa“ (Hel- die eigentliche Wende sollte erst mit dem sinki 1972) und später der „Erklärung Vertrag von Maastricht (1992) kommen. der Weltkonferenz über Kulturpolitik“ Mit dem 1993 in Kraft getretenen Vertrag (Mexiko 1982) an die Öffentlichkeit und von Maastricht gab es erstmals eine recht- erlangte Beachtung. liche Grundlage für eine Kulturpolitik in So lagen am Vorabend der ersten Di- der EU – und damit eine neue Dimension rektwahl zum Europäischen Parlament in der Europapolitik: Welche Rolle hat- (EP) im Jahre 1979 bereits beachtliche, te nun die Kultur durch die rechtliche den gesellschaftlichen Wandel berück- Verankerung im Artikel 128 zugewiesen sichtigende kulturpolitische Konzepte bekommen? Welche Kompetenzen bekam für eine „kulturelle Demokratie“ in Eu- die Gemeinschaft im Bereich der Kultur- ropa vor. politik? Und wurde sie für eine gemein- same Kulturpolitik genutzt? Der Marsch in die Institutionen Nachzutragen ist, dass in der Vor-Maa- strichter Phase – außer manchen Initia- Mit der Direktwahl des EPs begann tiven seitens des EP in den 80er Jahren – ein neuer Abschnitt in der Entwicklung Kultur in der EG nahezu keine Bedeutung der Europäischen Gemeinschaft (EG). zugemessen bekam: Selbst in der „Ein- Unmittelbar nach seiner Konstituierung heitlichen Europäischen Akte“ (EEA, (1979) wurde ein Kulturausschuss gebil- 1986) gab es keinen Passus, der die Fort- det – zuständig auch für Bildung, Jugend, entwicklung der EG im Feld der Kultur Sport und Information. Er entwickelte betraf. Dabei hätte es mit dem Verweis auf sich zum wichtigsten kulturpolitischen das allgemein zutage tretende Defizit der Gremium innerhalb der EG, das alle sei- Gemeinschaft, keine eigene „Identität“ ne (noch beschränkten) Möglichkeiten aufweisen zu können, durchaus bereits nutzte, um in Zusammenarbeit mit der damals sinnvoll sein können, nach Ant- Kommission und den jeweiligen (willi- worten zu suchen, wie man die Bürger gen) Ratspräsidentschaften die kulturelle Europas in den Europäisierungsprozess Dimension der Gemeinschaft zu stärken. hätte einbeziehen können. Schließlich Sein erster Kulturbericht (Fanti-Bericht, hatte man mehrmals auf Gipfelkonfe- 1983) war einerseits an dem wirtschafts- renzen nach Möglichkeiten gesucht, die- politischen Aufgabenfeld und dessen Eck- sem Manko der Gemeinschaft abzuhelfen daten orientiert, und doch andererseits – und damit auch indirekt das Thema Kul- souverän genug, um in der kulturpoli- tur behandelt. tischen Diktion des Europarats konkrete Das geschah bereits auf den Gipfeltref- Ziele – wie die Marge von einem Prozent fen von Den Haag (1969), Paris (1972) und des Haushalts für Kulturausgaben – vor- am intensivsten in Kopenhagen (1973). zusehen. Daneben beabsichtigten auch Nicht zuletzt hatte der Tindemans-Bericht die Staats- und Regierungschefs in einer mit seinem Vorschlag einer Europäischen Erklärung (Stuttgart 1983) „Ergänzungen Kulturstiftung Kultur zum Zukunfts- der Maßnahmen der Gemeinschaft im element der Politik der EG erklärt (1976).

72 Kultur in der Polit i k

Darüber hinaus existierte seit 1984 ein Ausgehend von den deutschen und EG-Kulturministerrat, der gleich nach ungarischen Bewerbern um den Titel seiner Konstituierung dank des Engage- 2010 sind in Kontexten der Erarbeitung, ments der griechischen Kulturministe- Durchführung und Bewertung von Kul- rin Melina Mercouri ein Projekt in die turhauptstadt-Konzepten internationale Wege leitete, das, wenngleich noch ohne Diskussionszusammenhänge entstanden, rechtliche Basis, sich zum erfolgreichs- aus deren Leistung heraus Kultur sich ten der EG und nun der EU entwickeln mehr und mehr zum Motor und zur Res- sollte: das Programm der „Kulturhaupt- source gesellschaftlicher Entwicklungen städte Europas“. Weltweit werden Gla- erweist und deren positive Effekte für mour und Prestige mit ihm verbunden; die Vertiefung der Integration noch gar es wird in Russland und den USA kopiert. nicht absehbar sind (Budapester Erklä- Es zeigte bereits 1990 Vorboten eines qua- rung, 2005). litativ neuen Verlaufs. Zum ersten Mal Bei den Verhandlungen über den Maa- mit Glasgow gelang es einer Kulturhaupt- strichter Vertrag entschieden die Mit- stadt, sich im Prozess der Erarbeitung gliedstaaten, dass sich die EG nicht auf und Realisierung ihrer Konzepte völlig die wirtschaftliche Zusammenarbeit be- neu zu erfinden und nicht nur äußerlich schränken, sondern ihre Kompetenzen ihr Image zu verbessern, sondern die Le- auch auf den politischen Bereich der So- bensqualität der Einwohner so zu stei- zial-, Kultur-, Bildungs- und Forschungs- gern, dass sie das neue Image nachhaltig politik erweitern sollte. Die Schaffung rechtfertigt. Diese Erfahrung kulturge- einer europäischen Identität der Viel- prägter Stadtentwicklung kann auch als falt und die Berücksichtigung der kul- neuer Ur-Impuls für einen bewusst kul- turellen Dimension in allen Bereichen turgeprägten europäischen Integrations- der Gemeinschaft standen bei diesen prozess gesehen werden. Verhandlungen im Vordergrund. Die Ge- meinschaft wurde damit ein politischer, Mit Glasgow gelang es einer über die wirtschaftlichen Grenzen hin- Kulturhauptstadt erstmals, aus reichender Zusammenschluss. Die nicht nur äußerlich ihr Image Kultur sollte dabei nicht nur als eine unverbindliche Ansammlung nationaler zu verbessern, sondern die Le- und regionaler Einheiten, sondern als bensqualität der Einwohner so gewachsene geistige Einheit eine Rolle zu steigern, dass sie das neue spielen. Sie sollte die Bürger Europas ein- Image nachhaltig rechtferti- ander näher bringen und dadurch die Integration vorantreiben. Anders aus- gt. Diese Erfahrung kulturge- gedrückt sollte sie dazu beitragen, den prägter Stadtentwicklung kann mit der Gründung der EG eingeleiteten auch als neuer Ur-Impuls für Integrationsprozess auf eine neue Stufe einen bewusst kulturgeprägten zu heben und die Solidarität zwischen den Völkern der Mitgliedstaaten unter europäischen Integrationspro- Achtung ihrer Geschichte, ihrer Kultur zess gesehen werden. und Traditionen zu stärken.

73 Kultur in der Polit i k

Die qualitative Veränderung des poli- Gremiums „Kultur für den Bürger des tischen Konzepts der Gemeinschaft schuf Jahres 2000“. In dieser Auslegung han- dementsprechend auch im kulturellen delt es sich nicht um einen elitären Be- Bereich einen Handlungsrahmen. Die griff, sondern um Alltagskulturen. Kul- Kultur wurde zum Ziel der EU erklärt. In tur wird hier wie schon zuvor in den den Grundsätzen des EG-Vertrages (Art grundlegenden Papieren des Europarats 3p, Amsterdam 3q) heißt es: „Die Tätig- (vor allem dem von Arc-et-Senans, 1972) keit der Gemeinschaft ... umfasst ... einen in ihrem erweiterten Sinn verstanden. Beitrag zu einer qualitativ hochstehenden Diese Definition wurde zwar nicht ex- allgemeinen und beruflichen Bildung so- pressis verbis in den Maastricht-Vertrag wie zur Entfaltung des Kulturlebens in übernommen, um mögliche Handlungs- den Mitgliedstaaten.“ Die rechtliche An- spielräume nicht im Voraus zu beschrän- erkennung der Kultur begründete einen ken, doch gilt sie. Für alle künftigen Wir- hohen Eigenwert, den die Kultur für die kungsbereiche spielt die Dynamik des europäischen Mitgliedstaaten hatte. Kulturbegriffs eine Rolle, was durchaus hilft, um kulturelle und kulturpolitische Was heißt Kultur? Prioritäten neu zu setzen.

Was bedeutet nun Kultur im Kontext Kultur auf dem Papier der Maastricht-Bestimmungen? „Kultur ist kein abstrakter Begriff: Kultur ist die Der Artikel 128 des Vertrags von Maa- Gesamtheit der zahlreichen verschieden- stricht (Amsterdam Art 151) legt Hand- artigen Sitten und Gebräuche, die in al- lungsgrenzen und Möglichkeiten der Eu- len Bereichen des täglichen Lebens ihren ropäischen Union fest, stellt die rechtliche Ausdruck finden. In der Kultur spiegeln Grundlage für kulturelle Belange dar und sich unser jeweiliger Lebensstil, unse- hat damit – wie Jacques Delors es ausdrück- re Traditionen und Ideale wider. In ihr te – die EU mit „Leben und Geist“ erfüllt. wurzeln unsere Dialekte und unser Lied- Da sich diese Bestimmungen, ohne subs- gut. Sie ist bestimmend dafür, wie wir tanziell geändert worden zu sein, auch im eine Liebeserklärung machen oder wie Text der „Verfassung für Europa“ (VVE) wir unsere Toten beerdigen. Kultur ist finden, ist eine ausführliche Analyse ge- somit das bedeutsame und stärkste Cha- boten. Sie bildet dann auch die Grundlage rakteristikum der menschlichen Gemein- für das Aufzeigen der Defizite. schaft. Kultur steht in engem Zusammen- hang mit den direkten und indirekten Lernprozessen und der menschlichen Entwicklung schlechthin. Als dyna- Europa hat kulturpolitisch über misches, in ständiger Wandlung befind- seine Grenzen hinaus zu wir- liches Element stellt sie eine Verbindung ken: Außenkulturpolitik ist, zwischen der Vergangenheit und der Ge- wie es nun auch die Verfassung genwart dar.“ So lautet die Kultur-Definition des für Europa vorsieht, eine legi- die Europäische Kommission beratenden time Aufgabe der Gemeinschaft.

74 Kultur in der Polit i k

(1) Die Gemeinschaft leistet einen Bei- eigene Kulturpolitik zuständig sind. trag zur Entfaltung der Kulturen der (2) Die Gemeinschaft fördert durch Mitgliedstaaten unter Wahrung ih- ihre Tätigkeit die Zusammenarbeit rer nationalen und regionalen Viel- zwischen den Mitgliedstaaten und falt sowie gleichzeitiger Hervorhe- unterstützt und ergänzt erforderli- bung des gemeinsamen kulturellen chenfalls deren Tätigkeit in fol- Erbes. genden Bereichen: Dazu gehören die in diesem Absatz wird die Dialektik Verbesserung der Kenntnis und Ver- des Kulturbegriffs hervorgehoben. breitung der Kultur und Geschich- Die nationale und regionale Vielfalt te europäischer Völker, die Erhal- und das gemeinsame kulturelle Erbe tung und der Schutz des kulturellen sind die Hauptkriterien der EU-Kul- Erbes von europäischer Bedeutung, turpolitik. Durch die gegensätz- der nichtkommerzielle Kulturaus- liche Konstellation soll einerseits die tausch sowie künstlerisches und Vielfalt bewahrt, andererseits die literarisches Schaffen auch im au- ein gemeinsames kulturelles Erbe diovisuellen Bereich. Dieser zweite bildende Kultur stark unterstützt Absatz legt ein Tätigkeitsfeld für die werden. Wenn nur von der Viel- Kulturpolitik fest; hervorgehoben falt die Rede wäre, würde dies der wird die „Verbesserung der Kenntnis politischen Idee der Europäischen und Verbreitung der Kultur und Ge- Union („in Vielfalt geeint“) wider- schichte der europäischen Völker“. sprechen. Andererseits könnte durch Er soll zu einer Weiterentwicklung die Förderung des ausschließlich des europäischen Bewusstseins bei Gemeinsamen die Mannigfaltigkeit den Bürgern beitragen. Damit ver- der europäischen Kulturen gefährdet pflichtet sich die Gemeinschaft, die und die Kulturen langfristig zu einer Verbreitung der jeweiligen Kultur europäischen „Monokultur“ werden. der einzelnen Mitgliedstaaten durch Das Gemeinsame und die Vielfalt Austausch-, Kooperations- und In- stehen in einem festen Zusammen- formationsprogramme zu unterstüt- hang. zen. Dieser Tätigkeitsbereich zielt in diesem ersten Absatz wird also hauptsächlich auf das materielle durch die dialektische Verbindung Kulturerbe von europäischer Bedeu- der Vielfalt mit dem Gemeinsamen tung, jedoch sollen auch die nicht- eine ausgewogene Kulturpolitik materiellen Hinterlassenschaften der Europäischen Gemeinschaft ge- wie Dialekte, Sprachen und Tradi- fördert, welche nationalen Kultur- tionen mit diesem Passus geschützt belangen den Vorrang vor gemein- werden. Auch die einzelnen Mit- samen Aktivitäten gibt. Dies kommt gliedstaaten können von der Europä- darüber hinaus in der Pluralform ischen Gemeinschaft gefördert wer- „Kulturen“ und der Formulierung den, wenn es um die Erhaltung des „einen Beitrag“ zum Ausdruck, da „kulturellen Erbes von europäischer die Mitgliedstaaten – nicht die Ge- Bedeutung“ geht, wie es bereits der meinschaft – in erster Linie für ihre Europarat in seiner Kulturkonven-

75 Kultur in der Polit i k

tion festgelegt hat. Der nichtkom- menarbeiten. Der Absatz macht merzielle Kulturaustausch umfasst deutlich, dass sich die Gemeinschaft internationale Kulturaktivitäten, die nicht auf innere Kulturpolitik be- keinen materiellen Nutzen erzielen. schränkt. Damit wird der Gemein- Soll ein Projekt kommerzielle Ziele schaft die Möglichkeit gegeben, als haben, so kann es von der Gemein- internationaler Akteur bei kultur- schaft folglich nicht gefördert wer- politischen Fragen aufzutreten. Die den. Dies ist insofern von Bedeu- Kooperation mit internationalen tung, als damit eine Orientierung Organisationen und Drittländern be- kultureller Aktivitäten am Markt tont in aller Deutlichkeit: Eu- nicht unterstützt wird. Schließlich ropa hat kulturpolitisch über seine wird als der letzte Punkt der kultu- Grenzen hinaus zu wirken. Außen- rellen Gemeinschaftstätigkeit das kulturpolitik ist, wie es nun auch die literarische und künstlerische Schaf- Verfassung für Europa vorsieht, eine fen genannt. Hiermit ist die Gemein- legitime Aufgabe der Gemeinschaft. schaft verpflichtet, das nationale (4) Die Gemeinschaft trägt bei ihrer und zugleich das europäische Schaf- Tätigkeit aufgrund anderer Be- fen im Bereich der Kunst zu unter- stimmungen dieses Vertrags den stützen. Damit wird auch der Be- kulturellen Aspekten Rechnung, reich der qualitativ gehobenen Kunst insbesondere zur Wahrung und För- berücksichtigt. Die klassischen derung der Vielfalt der Kulturen. Bereiche, das Buch und die bilden- Diese Querschnittsformel, die so- de Kunst, sind in diesem Zusam- genannte „Kulturverträglichkeits- menhang von besonderer Relevanz, klausel“, ist deshalb so wichtig, weil doch wird der audiovisuelle Bereich sie die allgemeine Dominanz der ebenfalls genannt. Dies unterstreicht Ökonomie der EU relativiert: In al- noch einmal das erweiterte Ver- len Tätigkeitsbereichen der Gesell- ständnis von Kultur, das auch das schaft soll die Kultur herausgehoben Entwicklungspotenzial im Bereich der Neuen Medien einschließt. (3) Die Gemeinschaft und die Mitglied- staaten fördern die Zusammenarbeit Kultur gilt als besonderer Wert, mit dritten Ländern und den für den der nicht reproduzierbar oder Kulturbereich zuständigen internati- durch Geldwert ersetzbar ist onalen Organisationen, insbesonde- und daher nicht den Gesetzen re mit dem Europarat. Die Gemeinschaft wird hiermit zu des freien Marktes unterworfen einer selbstständigen Auswärtigen werden soll. Also werden für Kulturpolitik befugt. Im Bereich der Kultur Ausnahmeregelungen Kulturpolitik kann sie mit Dritt- geschaffen, die im Sinne der ländern und internationalen Orga- nisationen wie der UNESCO und französischen „exception cultu- namentlich dem Europarat zusam- relle“ gesichert sind.

76 berücksichtigt werden. Juristisch Kultur in der Polit i k gesehen legitimiert und sanktioniert die Kulturverträglichkeitsklausel die bisher praktizierte Berücksichtigung der kulturellen Aspekte im Rahmen der Gemeinschaftsaktionen. Sie ist eine ausdrückliche Verpflichtung, kulturellen Aspekten in allen Tätig- Im Artikel 92 (Amsterdam 87) wird keitsbereichen Rechnung zu tragen dagegen die Förderung der Kultur und verschafft diesen damit ein als mit dem Markt vereinbar erklärt. verstärktes Gewicht. Vor dem Ver- Hiermit wird die Förderung der Kul- trag von Maastricht war die Kultur tur, die von europäischer Bedeutung als primäres Recht nicht geschützt. ist, ermöglicht; was noch deutlicher Ungeachtet dessen, dass der Europä- global geregelt wird durch die „Viel- ische Gerichtshof dennoch fast im- faltskonvention“, an deren Zustan- mer zugunsten der Kultur entschie- dekommen die EU als Gemeinschaft den hat, war dies kein vollständiger bedeutenden Anteil hat. Schutz. Diese Situation der Unsi- (5) Als Beitrag zur Verwirklichung der cherheit hat sich erst mit der Rati- Ziele dieses Artikels erlässt der Rat fizierung des Maastrichter Vertrags – gemäß dem Verfahren des Arti- und der damit erfolgten expliziten kels 251 (Maastricht 189b) und nach Festlegung des Stellenwerts der Kul- Anhörung des Ausschusses der Re- tur im Gemeinschaftsrecht geändert. gionen – Fördermaßnahmen unter Die Kulturverträglichkeitsklausel Ausschluss jeglicher Harmonisie- als Proprium betont zugleich noch rung der Rechts- und Verwaltungs- einmal den Stellenwert dieses Ver- vorschriften der Mitgliedstaaten. trags im Prozess der Europäischen Union – von der Wirtschaftsgemein- Mit diesem abschließenden Absatz schaft zur politischen und Kultur- wird die „Kulturhoheit“ der Mitglied- gemeinschaft. Darüber hinaus wird staaten akzentuiert. Beschlüsse im Be- der Gemeinschaft ein erheblicher reich Kultur müssen einstimmig gefällt Ermessensspielraum hinsichtlich der werden; das wird sich erst nach einer Frage, was eigentlich Kultur sei, zu- Ratifizierung der Verfassung für Euro- gebilligt. Die Kultur gilt als beson- pa ändern. derer Wert, der nicht reproduzierbar und nicht durch Geldwert ersetzbar Europäische Kulturpolitik ist und daher nicht den Gesetzen des auf dem Prüfstand freien Marktes unterworfen werden soll. Also werden für Kultur Aus- Grob gesagt geht es um vier Essenti- nahmeregelungen geschaffen, die im als einer EU-Kulturpolitik, die auf den Sinne der französischen „excepti- Prüfstand gehören: Erstens um die Inten- on culturelle“ – wie in der späteren sivierung des Dialogs mit allen am Kul- „Vielfaltskonvention“ der UNESCO turbetrieb Beteiligten, zweitens um eine (2005) – gesichert sind. klare Prioritätensetzung bei Kulturför- Der freie Warenverkehr kann dann dermaßnahmen, drittens um die Über- behindert werden, wenn die Waren prüfung der kulturellen Aktivitäten der Kulturgüter sind. Kein Kulturgut EU auf die gesetzten Ziele und viertens soll allein Objekt des Warenverkehrs um die Zusammenarbeit mit Drittländern werden, und diese Begrenzung soll sowie um die Entwicklung einer gemein- nicht als Diskriminierung gelten. schaftlichen Kulturaußenpolitik. Eine so

77 Kultur in der Polit i k Europa“ (2006) belegt, auch ein enormes Wachstumspotenzial birgt, überdeutlich ins Blickfeld. Doch jetzt käme es entscheidend dar- auf an, vier notwendige Schritte zu ge- hen: Erstens müssten in der Vertiefung der Schlüsselrolle, die Kultur und Kunst verstandene europäische Kulturpolitik im Projekt Europa zukommt, neue kul- kann und will nationale Kulturpolitik turpolitische Prioritäten gesetzt werden. nicht ersetzen, sondern ihr eine zusätz- Zweitens müssten die Dialogmöglich- liche europäische Dimension verleihen, keiten ausgeweitet werden – sowohl im auch im Bereich des Auswärtigen. Aller- innereuropäischen Bereich des größeren dings sind die einzelnen Befugnisse im Europa (zusammen mit dem Europarat) Artikel 128 (Amsterdam 151) so allgemein als auch in Drittländern. Drittens müsste gehalten, dass der Gemeinschaft prak- der nicht kommerzielle Kulturaustausch tisch ein unbegrenztes Tätigkeitsfeld im gestärkt und viertens Modelle gemein- kulturellen Bereich zur Verfügung steht. samer Auswärtiger Kulturpolitik entwi- Nutzt sie dieses? ckelt werden. Im Blick auf die Zukunft ist für eine Schließlich ist die sträfliche Vernach- eigenständige europäische Kulturpolitik lässigung ihrer Verpflichtung, die Kultur der EU die genannte Kulturverträglich- als Gemeinschaftsaufgabe adäquat zu för- keitsklausel das Herzstück des Kultur- dern, deutlich gemacht, indem die EU für artikels, der im Amsterdamer Vertrag das nun angelaufene Programm „Kultur gleichzeitig noch deutlich erweitert und 2007“ jährlich für alle 27 Mitgliedsländer präzisiert wurde. Wenn nun die Gemein- nur etwa so viele Mittel zur Verfügung schaft die Pflicht hat, in all ihren Poli- stellt, wie der durchschnittliche öffent- tikbereichen dem speziellen Charakter liche Zuschuss für eine Staatsoper jähr- der Kultur Rechnung zu tragen, dann lich beträgt. kann nicht genug betont werden, dass damit faktisch die allgemeine Dominanz Kulturelle Zukunft des Ökonomischen in die Schranken ver- wiesen wurde. Das wurde mit der durch- Es gibt allerdings Anzeichen dafür, gesetzten Beibehaltung des „nationalen dass sich die EU-Kommission der Defizi- Rechts“ auf Buchpreisbindung beispiel- te – der inhaltlichen wie der materiellen haft bewiesen. Gleichzeitig legt dieser Ar- – im Kulturbereich bewusst ist. In Brüssel tikel den Grundstein für eine singuläre spricht man nun darüber, dass ein Para- europäische Kulturpolitik der Nachhal- digmenwechsel in der Kulturförderungs- tigkeit. Diese selbst allerdings ist in An- politik angezeigt ist; so expressis verbis sätzen – im Blick auf die Realisierung auf der Konferenz „Culture: a sound in- der beiden Programme „Kultur 2000“ und „Kultur 2007“ – noch keineswegs erreicht. Im Gegenteil: Seit sich die Kul- Seit sich die Kulturdirektion turdirektion der EU in ihrer Prioritäten- setzung voll in den Lissabon-Prozess ein- der EU in ihrer Prioritäten- bringt, rückt die Kulturwirtschaft mit setzung voll in den Lissabon- ihren Leistungen, die, wie die soeben vor- Prozess einbringt, rückt die gelegte Studie „Die Kulturwirtschaft in Kulturwirtschaft mit ihren Leistungen überdeutlich ins Blickfeld.

78 vestment for the EU“ (Dezember 2006), die Kulturakteure aus ganz Europa zum Dialog mit der Kommission versammel- te. Dort formulierte Kommissionspräsi- dent José Manuel Barroso hinreichend klar: Die Kultur ist für die Gemeinschaft nicht ein Luxus, sondern eine existen- zielle Notwendigkeit, und: Europas Zu- kunft hängt von der Kultur ab – wenn der kulturelle Europäisierungsprozess nicht gelingt, so ist man nun überzeugt, glückt auch der politische nicht. Nach der Auswertung von Befra- gungen von europäischen Kulturorga- nisationen – Tenor: Welcher Stellenwert kommt Kultur und Kunst im Europäi- sierungsprozess zu? Was soll und kann die EU dafür leisten? – war auch für die Kommission klar erkennbar: Es müssen neue Aufgaben- und Zieldefinitionen er- arbeitet, ggf. neue Instrumente entwi- ckelt und verbesserte Förderkriterien erarbeitet werden, um das kulturelle Po- tenzial Europas auszunutzen. In einer für das Frühjahr 2007 vorgesehenen „Mittei- lung zu kulturellen Dimension der EU“ will die Kommission – rechtzeitig noch zur deutschen Ratspräsidentschaft – ihre Überlegungen zu einer „neuen“ Kultur- politik vorlegen. Ein Paradigmenwechsel ist notwendig und möglich.

Olaf Schwencke ist Professor für Kulturwis- senschaften an der Universität Wien. Er lehrt Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Europawissenschaft am Europa- zentrum der Berliner Universitäten. 1972 - 1984 war er Mitglied des Bundestags und des Europäischen Parlaments; 1992 - 1996 Präsi- dent der Hochschule der Künste Berlin (HdK). Veröffentlichungen vor allem zu Themenkom- plexen der Kulturpolitik.

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Struktur nährt Kultur Zahlreiche Studien und Berichte weisen darauf hin, wie wichtig Kultur für die regionale Entwicklung ist. Sie schafft Jobs, macht Regionen attraktiver und steigert die wirtschaftliche Dynamik. Welche Rolle wird die Kultur künftig in den Strukturfonds der EU einnehmen? Von Christine Beckmann

23,36 Milliarden (in Preisen von 2004). Die Erweiterung der EU 2004 ist mit ein Grund für die Neuorientierung der Kohäsionspolitik. Durch den Beitritt är- merer Länder haben sich die Entwick- lungsabstände schlagartig verdoppelt, sodass die EU vor besonderen Heraus- forderungen in Hinblick auf globale Wettbewerbsfähigkeit und internen Zu- sammenhalt steht. Die Kohäsionspolitik soll einen wichtigen Beitrag zu den in Göteborg formulierten Umweltzielen so- wie zur sogenannten Lissabon-Strategie leisten, nach der die EU bis 2010 zum dy- n der europäischen Strukturpolitik namischsten und wettbewerbsfähigsten steckt viel Geld: Rund ein Drittel des wissensbasierten Wirtschaftsraum der EU-Haushalts fließt in die Kohäsions- Welt werden soll. Dabei bleiben nach- I 1 politik der EU, knapp die Hälfte kommt haltige Entwicklung und Umweltschutz der Agrarpolitik zugute. Die strukturelle aber weiter wichtig. Die Strukturpolitik Entwicklung der Mitgliedstaaten und ih- soll die regionale Entwicklung in Euro- rer Regionen werden in diesen Politik- pa fördern sowie den wirtschaftlichen bereichen abgestimmt. Die Mittel dafür und sozialen Zusammenhalt stärken, in- kommen aus den Strukturfonds, dazu ge- dem sie die Kluft zwischen den europä- hören zum Beispiel der Landwirtschafts- ischen Regionen und sozialen Gruppen sowie der Kohäsionsfonds. Die Minister verkleinert. der EU-Mitgliedstaaten wollen mit den Eine rechtliche Legitimation und zu- Mitteln für Strukturentwicklung vor- gleich Verpflichtung zur gemeinschaft- rangig die ärmsten Regionen in Europa lichen Kulturförderung gibt es erst seit stärken. Das bedeutet für Deutschland Einführung des Artikels 151 im Vertrag seit diesem Jahr Einbußen aus den Struk- von Maastricht, seit 1997 gibt es auf dieser turfonds: Erhielt Deutschland zwischen rechtlichen Grundlage eigens der Kultur 2000 und 2006 im Durchschnitt 34 Mil- gewidmete Förderprogramme. Das zen- liarden Euro pro Jahr, sind es 2007 nur trale Kulturförderprogramm der EU ver-

82 Kultur in der Polit i k

fügt für die Jahre 2007 - 2013 über ein re- von Landesinitiativen sind, aber auch lativ kleines Budget: 400 Millionen Euro kultur- und medienwirtschaftliche Un- zuzüglich der Beiträge aus den assoziier- ternehmensgründungen. Da der EFRE ten Staaten für kulturelle Kooperations- der größte der Strukturfonds ist, hat projekte zwischen 31 Ländern. Sowohl er auch für den kulturellen Bereich die wegen dieser finanziellen Schranken des größte Bedeutung. Kulturförderprogramms der EU als auch Die Gemeinschaftsinitiative INTER- wegen seiner Einschränkung auf Koope- REG III diente der ausgewogenen wirt- rationsprojekte sind die Strukturförder- schaftlichen und sozialen Entwicklung programme, über die Investitionsmittel in der EU, indem sie die Zusammenar- vergeben werden können, für den kultu- beit von Regionen förderte. Hauptziel rellen Sektor überlebenswichtig. von INTERREG Ausrichtung A („grenz- übergreifende Zusammenarbeit“) war die Struktur finanziert Kultur Förderung einer integrierten Regional- entwicklung zwischen Grenzgebieten. Kulturprojekte können mit Struktur- Europaweit gab es mehr als 50 INTER- fondsmitteln gefördert werden, sofern sie REG-Programme der Ausrichtung A. zu den Zielen der Struktur- und Regio- Eines der Anliegen war eine intensivere nalpolitik beitragen. In den vergangenen Identifikation der Bürger mit der Grenz- 20 Jahren hatten in Deutschland fünf bis region. Dafür kann die grenzüberschrei- zehn Prozent der aus den Strukturfonds tende Zusammenarbeit von öffentlichen gespeisten Projekte kulturelle Bezüge. und privaten Organisationen im Kultur- Was wurde bisher in Deutschland aus den bereich nützlich sein: der Aufbau von Strukturfonds-Programmen gefördert?2 Netzwerken für Kulturaustausch, Auf- Der Europäische Fonds für regionale bau und Erweiterung von Museen sowie Entwicklung (EFRE) fördert in erster Li- Touristik- und Kulturzentren, gemein- nie die Entwicklung und strukturelle An- same Marketing-Konzepte und grenzü- passung der Regionen mit Entwicklungs- berschreitende Medien. rückstand3 sowie die wirtschaftliche und Im Rahmen von Ausrichtung B („trans- soziale Umstellung der Gebiete mit Struk- nationale Zusammenarbeit“) wurde die turproblemen.4 Im Rahmen der soge- Zusammenarbeit zwischen nationalen, nannten ZIEL 1- und ZIEL 2-Programme regionalen und lokalen Behörden im werden im Wesentlichen Investitionen Gebiet der EU sowie den angrenzenden zur Erschließung des kulturellen Erbes Regionen gefördert. Verschiedene Ver- sowie zur Erhaltung, Restaurierung und waltungseinheiten schlossen sich zu 13 Umnutzung denkmalgeschützter Objekte Regionen zusammen und entwickelten gefördert. Diese haben einen positiven transnationale Kooperationsprogramme. Einfluss auf Ansiedlung und Entwick- Kulturprojekte beschränkten sich meist lung der gewerblichen Wirtschaft und auf den Bereich des Kulturerbes: etwa fördern den Kulturtourismus. Gefördert Restaurierungen, der Aufbau von Netz- werden Projekte mit überregionaler Be- werken, die der Entwicklung von Stan- deutung sowie Maßnahmen, die Bestand- dards rund um Konservierungsfragen teil regionaler Aktionsprogramme oder oder der Verbreitung von Best Practices

83 Kultur in der Polit i k

dienten. Zudem Studien, Seminare, Kon- zierungsmaßnahmen für Künstler und ferenzen, Katalogisierungen von kultu- Kulturschaffende, die zum Aufbau wirt- rellen Bauwerken und Anlagen sowie die schaftlicher Geschäftsbereiche bei frei- Integration kulturellen Erbes in geogra- en Kulturträgern beitrugen. Auch neue fische Informationssysteme und neue Ausbildungsgänge im Bereich der Kunst- Konzeptionen für das Management von und Kulturerhaltung, berufliche Wei- Kulturerbe. terbildung im Kulturmanagement, die Ausrichtung C („interregionale Zu- Entwicklung von Kurzzeit- und Langzeit- sammenarbeit“) zielte auf Vernetzung, studienangeboten in kulturellen Fächern. also den Informations- und Erfahrungs- Daneben wurden Existenzgründungen austausch im Bereich der Regionalpolitik sowie die Qualifizierung von Arbeitslo- und ihrer Instrumente zwischen Gebie- sen für kulturelle Tätigkeiten finanziell ten in der EU und Nachbarländern ohne unterstützt. gemeinsame Grenze. Kultur spielte hier Die Gemeinschaftsinitiative EQUAL eine Nebenrolle. Förderfähig waren Er- förderte neue Methoden zur Bekämpfung fahrungsaustausch zwischen Regionen von Diskriminierung und Ungleichheit sowie Netzwerke zum Beispiel im Be- auf dem Arbeitsmarkt mit Partnerschaften zug auf Strategieentwicklung und Pro- von Akteuren auf dem Arbeitsmarkt, soge- jektumsetzungsmethoden in den Berei- nannten Entwicklungspartnerschaften. chen Stadt- und regionale Entwicklung Ob ein Projekt gefördert wurde, hing vom oder Kulturmanagement. arbeitsmarktpolitischen Nutzen ab. Zwar Zwölf deutsche Städte nahmen an der wurde diese Möglichkeit kaum genutzt, kleinsten Gemeinschaftsinitiative UR- förderfähig aber waren etwa berufliche BAN II teil. Auch wenn dieses Programm Weiterbildungen zum interkulturellen spezieller und damit weniger umfang- Lernen und im Kulturmanagement, zur reich war als zum Beispiel INTERREG Integration von Migranten sowie die Ent- III, so war der kulturelle Schwerpunkt wicklung neuer Arbeitsfelder für Künst- bemerkenswert: Fast die Hälfte der Pro- ler im Dienstleistungssektor. jekte war kulturbezogen, etwa der Auf- bau kultureller Infrastrukturen durch Förderungen aus dem die Neunutzung historischer Gebäude Landwirtschaftsfonds oder der Aufbau von Kultur- und Frei- zeiteinrichtungen insbesondere für jün- Die Programme für die Entwicklung gere Menschen und Migranten. des ländlichen Raums wollten die Land- wirtschaft nicht nur modernisieren und Förderungen aus dem Sozialfonds umstrukturieren. Im Mittelpunkt stan- den ebenso alternative Beschäftigungs- Aufgabe des Europäischen Sozialfonds möglichkeiten, eine nachhaltige Um- (ESF) war und ist es, Beschäftigung zu weltpolitik und die Verbesserung von fördern. ESF-Mittel flossen unter an- Lebens- und Arbeitsbedingungen. Die derem in Projekte, die den kulturellen Förderungen aus dem Europäischen Bereich als Arbeitsmarkt und Standort- Ausrichtungs- und Garantiefonds für die faktor etablieren, zum Beispiel Qualifi- Landwirtschaft (EAGFL) dienten der aus-

84 gewogenen Entwicklung des ländlichen Kultur in der Polit i k Raumes im Gemeinschaftsgebiet, unter anderem durch Maßnahmen wie Dorf- erneuerung und -entwicklung, Projekte zum Schutz des Kulturerbes sowie der Entwicklung des Fremdenverkehrs in ländlichen Regionen. Die Gemeinschaftsinitiative LEA- kleinere tourismusrelevante Infrastruk- DER+ (mit Mitteln aus dem EAGFL) för- turprojekte wie die Erhaltung regional- derte Kooperationen in ländlichen Gebie- typischer Bauten, der Aufbau von Kultur- ten, um neuartige, integrierte Strategien straßen und die künstlerische Gestaltung für eine nachhaltige Entwicklung zu rea- des öffentlichen Raums, Symposien und lisieren. Dabei bezog man die Menschen Studien (zum Beispiel zu Kultur und Tou- vor Ort mit ein, man setzte besonders rismus, Kultur und ländliche Entwick- auf Partnerschaften und Netzwerke für lung), soziokulturelle Aktivitäten und den Austausch von Erfahrungen. Geför- Kulturveranstaltungen zur Vermittlung dert wurden im Kulturbereich besonders der Identität einer LEADER-Region.

Im Vergleich: Strukturfondsförderung in den Jahren 2000-2006 und 2007-2013

2000-2006 (Gesamtbetrag 213 Mrd. Euro) 2007-2013 (Gesamtbetrag 308 Milliarden+ 69,75 Milliarden Euro)

Ziele Prioritäten Finanzinstrumente Ziele Prioritäten Finanzinstrum. Milliarden Euro

Kohäsionsfonds Umwelt, Verkehr Kohäsionsfonds Konvergenz Innovation, Umwelt EFRE 251,1 (Mitgliedstaaten (Regionen mit / Risikoprävention, ESF mit BSP < 90Pro- Pro-Kopf-BIP < 75 Zugänglichkeit, zent des EU-Durch- Prozent des EU- Infrastrukturen, schnitts) Durchschnitts und Humankapital, diejenigen, die vom Verwaltungskapa- statistischen Effekt zitäten infolge der Erwei- Ziel 1 (Regionen Regionen mit EFRE, ESF terung betroffen Verkehr, Umwelt, Kohäsionsfonds mit Pro-Kopf-BIP < Entwicklungsrück- EAGFL, Garantie sind) erneuerbare Ener- 75 Prozent des EU- stand und Ausrichtung, gien Durchschnitts) FIAF

Ziel 2 (Gebiete mit wirtschaftliche und EFRE; ESF Regionale Wett- Innovation, Um- EFRE 49,1 Strukturproble- soziale Umstellung bewerbs-fähigkeit welt/Risikopräven- ESF men) und Beschäftigung tion, Zugänglich- - regionale Ebene keit, Europäische - nationale oder Beschäftigungs- regionale Ebene strategie

Ziel 3 Beschäftigungsför- ESF Bildungssysteme, derung

INTERREG III Zusammenarbeit EFRE Europäische territo- Innovation, Um- EFRE von Regionen riale Zusammenar- welt/Risikopräven- 7,7 beit tion

URBAN Stadtentwicklung EFRE Zugänglichkeit, Kultur, Bildung

EQUAL Bekämpfung von ESF Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt

Leader+ nachhaltige Ent- EAGFL, Ausrichtung Entwicklung des Umstrukturierung ELER 69,75 wicklung in länd- ländlichen Raums des Agrarsektors, lichen Gebieten (inkl. LEADER) Schutz von Umwelt (Bestandteil der und Landschaft, Gemeinsamen Lebensqualität und Agrarpolitik, GAP) wirtschaftliche Di- versifizierung

Quelle: Europäische Kommission – inforegio: Die Kohäsionspolitik am Wendepunkt 2007, 2004, S. 4 und 8 [modifiziert v. Verf.]

85 Kultur in der Polit i k aus den Strukturfonds aus. In der Ver- ordnung über deren Nutzung für 2000 - 2006 wurde Kultur als Entwicklungs- faktor einbezogen: „Die kulturelle Ent- wicklung, die Qualität der natürlichen Umwelt und der Kulturlandschaft, die qualitative und kulturelle Dimension In der Reform der Strukturfonds 2007 der Lebensbedingungen sowie die Ent- ist die augenfälligste Änderung die Re- wicklung des Tourismus verhelfen den duktion auf drei Förderlinien: Das neue Regionen in wirtschaftlicher und sozialer ZIEL 1 wird das Ziel Konvergenz. Wie Hinsicht zu größerer Anziehungskraft, früher soll es die ärmsten Regionen wirt- indem sie zugleich dauerhafte Arbeits- schaftlich an den europäischen Durch- plätze schaffen.“5 schnitt heranführen. Das neue ZIEL 2 ist die Regionale Wettbewerbsfähigkeit und Kultur als Industrie? Beschäftigung, also die Förderung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen In Großbritannien hat die öffentliche Wandels, um im globalen Wirtschafts- Anerkennung und Förderung kommerzi- wettbewerb mithalten zu können. Das eller Kultur eine lange Tradition, auch das neue ZIEL 3 ist die Förderung der terri- Konzept der „Cultural Industries“ stammt torialen Kooperation. Dazu gehören Er- von hier. In Deutschland hatte der Begriff fahrungen mit der Gemeinschaftsinitia- der Kulturindustrie etwas Anrüchiges, seit tive INTERREG: Es gibt weiter die drei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno Förderlinien für grenzübergreifende (A) ihn Ende der 60er Jahre mit der nivellie- und transnationale (B) Zusammenarbeit renden und sinnentleerenden Massenpro- zwischen Regionen sowie für interregio- duktion von Kulturgütern gleichsetzten. nale Netzwerkbildung zwischen Gebieten In Großbritannien erschien er in einem ohne gemeinsame Grenze (C). Die Erfah- ganz anderen Licht. Auf der Basis des ak- rungen der anderen Gemeinschaftsiniti- tuellen internationalen Diskurses schla- ativen werden in die neuen Programme gen Andreas J. Wiesand und Michael integriert, aber nicht als gesonderte För- Söndermann in einer Studie über die derprogramme weitergeführt. Triebkraft des Kreativsektors für Vielfalt, Wachstum und Beschäftigung in Europa Stütze für die Strukturentwicklung eine Definition für den Kultur-/Kreativ- sektor vor. Aus der Perspektive der Wirtschafts- Diese Definition erfasst alle professi- und Struktur-, Sozial- und Beschäfti- onellen Aktivitäten in öffentlichen und gungspolitik ist Kultur zweitrangig, so- privaten Organisationen und Einrich- wohl auf europäischer Ebene als auch bei tungen, einschließlich benachbarter Bund, Ländern und Regionen. In den Mi- Felder wie Design und Kulturtourismus.6 nisterien, die in Deutschland die Fonds Die Kulturwirtschaft ist in dieses Sche- verwalten, werden kulturelle Maßnah- ma mit einbezogen, da die kommerzielle men und Projekte im Rahmen der Struk- Schiene die allgemeine Entwicklung von turförderung relativ gering geschätzt; Kultur und Medien stark beeinflusst. Um- obwohl de facto aus den Strukturfonds gekehrt ist die freie Kunst wichtig für wesentlich mehr Mittel in kulturelle Pro- die Kulturwirtschaft und für öffentliche jekte fließen als aus dem eigentlichen Aktivitäten. Daher ist eine Beteiligung Kulturförderprogramm. der öffentlichen Hand in diesem Geflecht Dagegen spricht sich die Europäische nicht nur vielfach gegeben, sondern auch Kommission für die Kulturförderung gerechtfertigt.

86 Kultur in der Polit i k

Sozialer und wirtschaftlicher Motor Lebens in den Städten und Regionen zei- gen die Bedeutung der Kultur: Kultur- Die Kulturwirtschaft als eigenstän- aktivitäten generieren indirekt Umsät- digen Wirtschaftszweig ins Recht zu ze und Arbeitsplätze in Bereichen wie setzen, ist dank neuerer Daten nicht Übernachtung, Verpflegung und Trans- schwer: Die neun Kernbranchen der Kul- port. Das kulturelle Angebot einer Stadt turwirtschaft7 erwirtschafteten 2003 in oder Region begünstigt Investitionen, Deutschland Umsätze von 73,7 Milliar- die Ansiedlung von Firmen und quali- den Euro; europaweit liegen sie damit fizierten Arbeitskräften. Ein vielseitiges an der Spitze. Zur Bruttowertschöpfung lebendiges kulturelles Milieu fördert die in Deutschland trug der kommerzielle Identifikation ihrer Einwohner. Vorhan- Kulturbetrieb 35 Milliarden Euro bei (1,6 dene Infrastrukturen können im Zuge Prozent des Bruttoinlandsprodukts). Die des Strukturwandels in Landwirtschaft Summe liegt zwischen der Energiewirt- schaft (30 Milliarden Euro) und der che- mischen Industrie (44 Milliarden Euro). The “Creative Sector“ – Rechnet man den öffentlichen Kultur- Arts, Media and Heritage in a European Perspective8 betrieb hinzu, käme man auf eine Brut- towertschöpfung von rund 41 Milliarden Informal Arts Euro. Zum Vergleich: Die Autoindustrie Activities kommt auf 64 Milliarden Euro. (e.g. Amateurs, Applied Arts Communities) Support & Neben gravierenden Unterschieden (e.g. Architecture, Design Services zwischen kommerzieller Kultur- und including Computer (e.g. Foundations, Games Associations) Medienindustrie und dem öffent- lichen Kunst- und Kulturbetrieb Culture & Media Public or Subsidized haben sie zwei beschäftigungsre- Industries “Core“ Arts Work- Arts, Media & Heritage levante Gemeinsamkeiten: Beide (e.g. Books, Art Market, force Bodies Film, Entertainment, Private (Independent and (e.g. Museums, Theatres, Kultursegmente sind arbeitsin- Radio/TV) Employed Public Broad-casting) tensiv. Gerade in Deutschland Artists, Media Freelances) schafft die öffentlich geförderte Kultur viele Jobs. Zwischen 1996 und Related In- dustries/ Crafts Public Administra- 2001 hat die Zahl der Beschäftigten im (e.g. Printing, Music tion & Funding Kultursektor um 20 Prozent zugenom- Instruments, „Cultural (incl. Arts Agencies) Tourism“) Cultural men. Während in anderen Branchen Education & Stellen abgebaut werden, stagnierte die Training (e.g. Art Academies, Zahl der Beschäftigten (inklusive Un- Music Schools) ternehmer und Selbständige) im Kultur- sektor. Die öffentliche Kulturförderung auf staatlicher und europäischer Ebene Mainly commercial activities Mainly non-profit and informal activities trumpft aber nicht nur mit direkten Ef- Mainly public funding fekten der Kulturwirtschaft. Auch indi- Quelle: Developed from models proposed at the Unesco-Conference “The Interna- rekte soziale und wirtschaftliche Neben- tional Creative Sector” (Austin, 2003), in NRW-Culture Industries Reports (1992- effekte eines vielfältigen kulturellen 2005) and in the 1st Austrian Creative Industries Report (2004).

87 Kultur in der Polit i k

und Industrie kulturell neu genutzt wer- fördern. Die EU will mit ihrer Förderung den. zur Schaffung eines europäischen Kul- Bereits vor 20 Jahren nahm das Inter- turraums die Kulturpolitik der Mitglied- esse von Politik und Wirtschaft an der staaten unterstützen. Die Programme Kultur zu. Dieses Interesse hat im Lau- sehen die Förderung von internationa- fe der 80er Jahre zu intensiverer Förde- lem Austausch und Zusammenarbeit von rung auf allen Ebenen geführt, zugleich Kulturschaffenden sowie die Zirkulation wuchs die Sorge vor ihrer Instrumen- von Werken und Produktionen vor. talisierung, insbesondere der Künste, Im Rahmen der Strukturpolitik al- für ökonomische und regionalpolitische lerdings wird Kultur auf die Produkte, Ziele. So fordert der Sozialwissenschaft- insbesondere künstlerische und architek- ler Dieter Kramer: „[... Es kann] nicht nur tonische Werke, reduziert. Programma- um eine für andere Zwecke instrumenta- tisch rückt schwerpunktmäßig das kul- lisierte Kunst und Kultur gehen, [...] erst turell Überlieferte ins Blickfeld. „Alle ein autonomer, seinen eigenen Gesetzen Sponsorentätigkeit, alle Umwegrentabi- folgender, freier Kunst- und Kulturpro- lität, alle Wahrnehmung von Standort- zess [leistet] einen wirklichen Beitrag zu vorteilen durch Kultur kann (zum Bei- Lebensqualität und Zukunftsfähigkeit spiel in den großen Ausstellungen) nur von Individuen und Gesellschaft.“9 Dies funktionieren, weil der Kulturbetrieb aus ist ein wesentliches Anliegen der Kohä- einem riesigen, jahrhundertealten Fun- sionspolitik der EU. dus schöpft. [...] Die aktuelle Kulturpo- litik darf sich nicht darauf beschränken, Nährboden für Kreativität vorhandene Schätze zu nutzen, sondern und Innovation muss dafür sorgen, dass ein neuer Fundus gebildet wird.“ Akteure und Leistungen Eine besondere Leistung des Kul- des Kultursektors bedingen und brauchen tursektors ist, dass er persönliche Fä- sich gegenseitig: Kunst, die noch nicht higkeiten und Einsatzbereitschaft des kommerzialisierbar ist, braucht öffent- Einzelnen mobilisieren und damit als liche Gelder; die kommerzielle Kultur Motor für Innovation fungiert. Die „äs- schöpft aus diesem Potenzial, öffentlich thetischen Irritationen“ von Künstlern geförderte Kulturaktivitäten und -ein- und Intellektuellen haben sich in der Ge- richtungen brauchen ein potentes Publi- schichte immer wieder als innovativ er- kum und profitieren von einem kultur- wiesen. Innovation braucht Kreativität wirtschaftlichen Umfeld. Rezipierende und „zur Infrastruktur für Kreativität wie produzierende Individuen brauchen gehört nicht nur das kulturelle Erbe, son- „anregungsreiche Milieus“, die öffent- dern auch ein breites anregungsreiches lich oder kommerziell finanziert sein kulturelles Milieu.“ können. Öffentliche Kulturförderung auf loka- In integrierten Strategien für Stadt- ler und regionaler Ebene muss günstige und Regionalentwicklung mit kultur- Bedingungen schaffen: Räume für Kul- und wirtschaftspolitischen Ansätzen turproduktion und -rezeption bereithal- wird auf verschiedenen Ebenen für die ten, sowie Austausch und Kooperation Kulturförderung argumentiert: Neben

88 den messbaren Effekten auf Beschäfti- Kultur in der Polit i k gung und wirtschaftliche Wertschöpfung ist es durchaus legitim und sinnvoll, die „Nebennutzen“ kultureller Aktivität in Betracht zu ziehen. Dabei darf jedoch nicht aus dem Blick geraten, dass die Teilhabe am kulturellen Leben – ob pro- duzierend oder rezipierend, verwaltend men dem Kultursektor als Ganzem ge- oder anderweitig gestaltend – im Wesent- dient haben, was programmatisch nicht lichen nicht ökonomische Effekte hat, die vorgesehen ist. Es kann keine Strategie ihrerseits für die gesellschaftliche Ent- für wirtschaftliche Entwicklung geben, wicklung wichtig sind: Persönliche Ent- die für alle Länder und Regionen gilt; faltung und Entwicklung des Einzelnen insbesondere im Hinblick auf den kul- sind Grundlage für Kreativität, Verände- turellen Part. Deswegen handelt die EU rung und Vielfalt in der Gesellschaft. bei der Kulturförderung nach dem Sub- Auf europäischer Ebene legt Artikel sidiaritätsprinzip und dezentralisiert die 151,4 des Gemeinschaftsvertrags fest, dass europäische Strukturentwicklungspoli- die „Gemeinschaft den kulturellen As- tik zunehmend. Dennoch können die pekten bei ihrer Tätigkeit aufgrund ande- Strukturfonds-Programme mit ihren rer Bestimmungen dieses Vertrags Rech- spezifischen Möglichkeiten die gemein- nung zu tragen habe“. Zum einen müssen schaftlichen Ziele der Kulturförderung alle politischen Richtungsentscheidungen der EU unterstützen; hier besteht Defi- auf Artikel 151 geprüft werden. Und diese nitions- und Abstimmungsbedarf. „Kulturverträglichkeitsklausel“ fordert, im Rahmen der Programme anderer Po- Christine Beckmann studierte Kultur- und litikfelder auch Kultur zu fördern. Dafür Kunstwissenschaft sowie Französisch; 1995-2000 Kulturbeauftragte der Gemeinde sind Abstimmungen verschiedener Gre- Worpswede; freiberufliche Tätigkeiten als mien in mehreren Politikbereichen nötig. Kulturberaterin, u. a. für das European Forum Kulturelle Angelegenheiten sind Sache for the Arts and Heritage (EFAH). Seit 2004 der Mitgliedstaaten, in Deutschland fal- wissenschaftliche Mitarbeiterin der Kulturpo- len sie unter Länderhoheit. Die Auffas- litischen Gesellschaft e. V., Referentin im Cul- tural Contact Point Germany. Publikationen sungen, inwiefern es eine europäische zur europäischen Kulturförderung, Chancen, Kulturpolitik geben sollte, driften weit Grenzen und Organisation regionaler Vernet- auseinander. Bemerkenswert ist, dass zung und kommunaler Kulturarbeit. die Strukturfonds in den vergangenen Jahren in der Summe der Einzelmaßnah-

1 Aus dem Kohäsionsfonds werden Verkehrs- und Umweltinfrastrukturen in u.a. Verlagsgewerbe, Film-, Rundfunkwirtschaft, Kulturschaffende und den Mitgliedsstaaten finanziert, deren BIP pro Kopf weniger als 90 Prozent KünstlerInnen aller Sparten, Einzelhandel mit Kulturgütern, Architekturbü- desjenigen der EU beträgt. ros, Designwirtschaft. 2 Vgl. Kulturpolitische Gesellschaft e.V. / Deutscher Kulturrat e.V. (Hg.): turfonds, Amtsblatt der Gemeinschaften L 161 vom 26.06.1999, S. 1. 2002, S. 159ff. 8 Andreas Wiesand / Michael Söndermann: The ‘Creative Sector’ – An Engine 3 Regionen mit einem Pro-Kopf-BIP unter 75 Prozent des EU-Durchschnitts. for Diversity, Growth and Jobs in Europe, September 2005, S. 15 [Abbildung 4 Regionen mit einem Pro-Kopf-BIP über diesem Durchschnitt. reproduziert d. Verf.]. 5 Europäische Kommission: Verordnung (EG) Nr. 1260/1999 des Rates vom 21. 9 Dieter Kramer: Handlungsfeld Kultur. Zwanzig Jahre Nachdenken über Juni 1999 mit allgemeinen Bestimmungen über die Strukturfonds, Amtsblatt Kulturpolitik, hrsg. v. Kulturpolitische Gesellschaft e.V., Essen 1996, S. 30. der Gemeinschaften L 161 vom 26.06.1999, S. 1. 6 Ebd. [Übersetz. d. Verf.] Nicht enthalten sind Software- und Spielindustri- en, Werbemärkte sowie Forschung und Entwicklung. 7 Vgl. Michael Söndermann, Arbeitskreis Kulturstatistik: Kulturwirtschaft. Statistische Eckdaten, veröffentlicht im November 2005, (http://www. kulturmanagement.net/downloads/soendermann-kulturwirtschaft1.pdf):

89 Partnerschaft statt Repräsentation Welche Erwartungen gibt es gegenüber natio- nalen kulturellen Mittlerorganisationen in Europa? Der British Council passt sich dem Wandel an: bei den internationalen Prioritäten Großbritanniens und seiner Strategie im Bereich Public Diplomacy. Vom traditionellen Kulturins- titut zum Partner für Kulturbeziehungen – ein neuer Ansatz für internationale kulturelle Bezie- hungen im 21. Jahrhundert. Von Michael Bird

als jetzt. Wir gehören zu einer stärker zu- sammenrückenden wirtschaftlichen und politischen Gemeinschaft. In Großbritan- nien wächst aufgrund von Billigflügen, Massentourismus, gemeinsamem Markt und einer immer selbstbewussteren ge- samteuropäischen Herangehensweise in Bildung und Erziehung, Wissenschaft und Kultur die Vertrautheit mit anderen europäischen Kulturen. Nur noch wenige Probleme lassen sich innerhalb eines Landes lösen, wo innerstaatliche und internationale The- men immer stärker miteinander verkettet uropa verändert sich und mit ihm sind. Im britischen Staat mit seiner mul- die kulturellen Mittlerorganisati- tikulturellen Gesellschaft befasst sich der Eonen seiner Mitgliedstaaten. Eine British Council mit mannigfachen The- wachsende Union mit 27 Mitgliedsländern men, um die Nationen und Bevölkerungs- und Migrationsbewegungen, wie es sie gruppen im Land sowie Großbritannien seit dem Zusammenbruch des Römischen selbst zu vertreten. Die Erwartungen ge- Reiches nicht mehr gegeben hat, Span- genüber einer kulturellen Mittlerorgani- nungen und Terrorangst nach dem 11. sation wie dem British Council richten September sowie eine wachsende Kon- sich nach Veränderungen auf der Ma- kurrenz durch China und Indien lassen kroebene. Dazu gehört der Druck, ein das sichere und stabile Europa, das uns „gutes Preis-Leistungsverhältnis“, „Er- nach dem Fall der Berliner Mauer und folge“ und „fertige Ergebnisse“ zu de- dem Ende des Kalten Krieges vorherge- monstrieren. sagt wurde, rückblickend wie eine schöne Dadurch ist eine Debatte darüber ent- Wunschvorstellung erscheinen. Die Ge- standen, ob die Arbeit der nationalen kul- schichte scheint sich zu beschleunigen, turellen Mittlerorganisationen in Europa ein Endpunkt ist nicht in Sicht. möglicherweise obsolet sei oder ob sie – Die Beziehungen Großbritanniens zu wie ich glaube – mehr denn je gebraucht den anderen EU-Staaten waren nie enger wird.

90 In einem im März 2006 publizierten Auswärtige Kulturpolitik und im Juni 2006 aktualisierten Weiß- buch mit dem Titel Active Diplomacy for a Changing World1 hat das britische Außen- ministerium die Trends ermittelt, die in den kommenden zehn Jahren den Lauf der Welt und die Rolle Großbritanniens Europa: „Für Großbritannien sind die im internationalen Umfeld beeinflussen veränderten internationalen Rahmenbe- werden. Die im Weißbuch definierten Pri- dingungen richtungweisend für den ho- oritäten beziehen sich auf die gesamte bri- hen Stellenwert, den Pflege und Ausbau tische Regierung, und der British Coun- unserer Partnerschaften einnehmen ... cil betrachtet sie als Leitlinien für seine Unsere bedeutendsten Partner sehen wir Arbeit: in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten. Die - weltweiter Schutz vor globalem Ter- EU wird auch künftig die absolut wich- rorismus und Massenvernichtungs- tigste Verpflichtung Großbritanniens waffen sein.” - Verringerung der Bedrohung Groß- Großbritannien gehört zu Europa, die britanniens durch internationale Nachbarn sind unentbehrliche Partner Kriminalität – beispielsweise durch im Umgang mit gemeinsamen sozialen, Drogenhandel, Menschenschmuggel politischen und wirtschaftlichen Her- und Geldwäsche ausforderungen – innerhalb Europas und - Verhinderung und Lösung von Kon- weltweit. Bei der neuen Strategie geht es flikten durch ein starkes internatio- weniger um eine auf Konkurrenzdenken nales System beruhende Diplomatie als vielmehr um - aufbau einer effektiv arbeitenden einen neuen Stil gemeinschaftlicher di- und global wettbewerbsfähigen EU plomatischer Aktivitäten. in einem sicheren Umfeld Bilaterale Aktivitäten werden nach wie - unterstützung der Wirtschaftstä- vor einen gewissen Raum einnehmen, tigkeit Großbritanniens durch eine aber Großbritanniens Partner in europä- offene, expandierende globale Volks- ischen Ländern arbeiten mehr und mehr wirtschaft durch Wissenschaft, In- auf multilateraler Ebene. novation und gesicherte Energiever- sorgung Public Diplomacy - Klimasicherheit durch Förderung eines schnelleren Übergangs zu einer Im Hinblick auf die britische Ausle- nachhaltigen globalen Wirtschaft gung von Public Diplomacy haben entschei- mit verringerten Kohlendioxidemis- dende Entwicklungen stattgefunden – die sionen Lageüberprüfung zur Public Diplomacy in - Förderung nachhaltiger Entwick- Großbritannien durch ein Team unter der lungshilfe und Abbau von Armut Leitung von Lord Carter of Coles („Carter – unterstützt von Menschenrechten, Review“) gibt darüber Aufschluss.2 Eben- Demokratie, beispielhafter Staats- falls von großer Bedeutung waren die Ent- führung und Umweltschutz scheidungen des britischen Public Diplo- - steuerung der Migration und Be- macy-Ausschusses, zu dem die wichtigsten kämpfung illegaler Einwanderung britischen Akteure der Public Diplomacy zählen, auch der British Council. Die internationalen Prioritäten Groß- Der Carter Review besagt, dass Pu- britanniens fokussieren die Partner- blic Diplomacy von den britischen Steu- schafts- und Kooperationsabkommen in erzahlern finanziert wird (und Minister

91 Auswärtige Kulturpolitik British Council ist der Begriff der Gegen- seitigkeit3. Im 21. Jahrhundert müssen auf diesem Prinzip beruhende Beziehungen zwischen Briten und den Einwohnern anderer Länder auf Gleichberechtigung und Vertrauen aufbauen. Letzteres wird gestärkt, wenn Großbritannien zugleich der Regierung dem britischen Parlament mit der Stärkung der Wahrnehmung bri- darüber Rechenschaft ablegen) und sie tischer Vorstellungen und Leistungen für daher die Ziele der britischen Regierung diese anderen Länder offen ist. Das Prin- unterstützen soll. Lord Carter definierte zip der Gegenseitigkeit ermöglicht den Di- Public Diplomacy als „Tätigkeit, die Indi- alog mit anderen Ländern und zeigt, dass viduen und Organisationen im Ausland es bei einer Verbesserung der Kommuni- informiert und einbezieht, um das Ver- kation um mehr geht als um reine Infor- ständnis von Großbritannien und dessen mationsübermittlung. Einflussnahme so zu verbessern, dass es Es geht darum, Menschen auf der mit den mittel- und langfristigen staatli- ganzen Welt und in Großbritannien chen Zielen im Einklang steht“. Gleich- Chancen anzubieten, in einen Dialog zu zeitig wurde im Carter Review die opera- treten und so Vertrauen aufzubauen. Au- tive Unabhängigkeit des British Council ßerdem bindet das Prinzip der Gegensei- und die redaktionelle Unabhängigkeit des tigkeit Menschen in Großbritannien in BBC World Service betont. Der Public Di- internationale Fragen ein und gibt ihnen plomacy-Ausschuss hat sich im Anschluss dadurch die Möglichkeit, von Menschen darauf verständigt, dass es Aufgabe der in anderen Ländern zu lernen und sie zu britischen Public Diplomacy sei, die inter- respektieren. Es geht um die Suche nach nationalen Prioritäten Großbritanniens neuen und offenen Formen der Kontakt- zu verfolgen. aufnahme mit der Weltgemeinschaft. Durch das Prinzip der Gegenseitigkeit Der British Council bis 2010 erreichen wir Millionen von Menschen, da es gleichermaßen darum geht, wie wir Vor dem Hintergrund dieser Entwick- mit Themen anderer und unseren eigenen lungen hat der British Council eine an- Themen umgehen. Dies gilt sowohl für spruchsvolle Strategie für das Jahr 2010 unsere Kunden wie für unsere Partner. formuliert. Dabei geht es um Klarheit über Unser Engagement für regionale Partner- und Gründe unserer Aktivitäten. Es ist schaften und die geteilte Verantwortung unsere Aufgabe, für beide Seiten förder- für unsere Arbeit stellen unsere globale liche Beziehungen zwischen Menschen Bedeutung in über 100 Ländern weltweit in Großbritannien und anderen Ländern und innerhalb der Nationen und Bevölke- aufzubauen und die Wertschätzung für rungsgruppen Großbritanniens sicher. das kreative Gedankengut und die Leis- Das Prinzip der Gegenseitigkeit ermög- tungen Großbritanniens zu steigern. Wir leisten unseren Beitrag zu den Prioritä- ten Großbritanniens auf internationaler Ebene durch Verbesserung der Wahrneh- Bei der neuen Strategie geht es mung Großbritanniens in anderen Län- nicht um eine auf Konkurrenz- dern – eine Voraussetzung für ein besseres denken beruhende Diplomatie, gegenseitiges Verständnis und infolge ei- sondern um einen neuen Stil ner gegenseitigen Verbundenheit. Ein grundlegender Aspekt der Strategie gemeinschaftlicher diploma- 2010 sowie der Kultur und der Werte des tischer Aktivitäten.

92 Auswärtige Kulturpolitik

licht uns, das Potenzial und die Kreativität len: „Die ideologischen Spannungen, unserer eigenen Mitarbeiter freizusetzen, die sich im frühen 21. Jahrhundert da unser Engagement für ethnische und wahrscheinlich am stärksten auf kulturelle Vielfalt, die Wertschätzung der westliche Kulturen auswirken wer- Diversität und gemeinsame Verantwor- den, haben ihren Ursprung in Reli- tung auf unsere Beziehungen zu unseren gion und Kultur … Der Botschaft der externen Partnern wie auf interne Struk- Extremisten etwas entgegenzusetzen turen anwendbar sind. und den Dialog zu fördern, wird im In- und Ausland eine Schlüsselrolle Britische Strategie für Europa spielen. Wir müssen enger mit den verschiedenen Bevölkerungsgruppen Von März bis Juni 2006 wertete der in Großbritannien und Europa zu- British Council seine Strategie4 im Hin- sammenarbeiten …” blick auf Zielsetzung und Prioritäten der 3. Globale Wettbewerbsfähigkeit. Organisation sowie deren Umsetzung in Der Bedarf an neuen Qualifika- Europa aus. Mehr als 250 wichtige Kon- tionen, Bildung, beruflicher Aus- takte des British Council wurden nach ih- bildung und Innovation für eine rer Einschätzung der Herausforderungen erfolgreiche Zukunft Europas und und Chancen sowie ihren Erwartungen Großbritanniens in einer von Globa- an den British Council in Europa be- lisierung geprägten Welt: „In einer fragt. Diese Untersuchung mündete in Situation des stetig wachsenden glo- eine neue Strategieausrichtung für Eu- balen Wettbewerbs müssen wir un- ropa. Der Kern besteht in gemeinsamen sere Stärken in der Wissenschaft und Belangen von Großbritannien und seinen im Bildungswesen fördern …” europäischen Partnern, aus denen sich 4. Klimasicherheit. vier Hauptaufgabenbereiche herauskris- „Der Klimawandel ist eine ernste tallisieren: Bedrohung für die internationale Si- 1. Migration, Mobilität und Arbeit. cherheit. Klimasicherheit muss daher im Jahr 2005 lebten 34 Prozent aller ein zentrales Anliegen der Außenpo- 191 Millionen Migranten weltweit in litik sein.” Europa5, und dieser Prozentsatz wird weiter ansteigen: „Migration wird Europäische Kontakte des British neue wirtschaftliche Möglichkeiten Council sprachen sich für eine Stärkung schaffen und zur gesellschaftlichen der britischen Stimme in Europa und ei- und kulturellen Dynamik beitragen. nen besseren Ideen- und Erfahrungsaus- Aber sie wird auch zu Spannungen tausch mit seinen europäischen Partnern zwischen Staaten und verschiedenen aus. Unsere neue Strategie befasst sich mit Bevölkerungsgruppen führen.” diesen gemeinsamen Fragestellungen so- 2. Kultur, Identität und Extremismus. wie internationalen Prioritäten Großbri- Die Herausforderungen, die sich tanniens anhand von vier strategischen durch Migration, unterschiedliche Themenbereichen. Sämtliche Aktivitäten Identitäten, den Islam und das Er- des British Council in Europa werden im starken der extremen Rechten stel- Rahmen dieser Themenbereiche geplant.

93 Auswärtige Kulturpolitik

- offenes Europa: Wir setzen uns Veranstaltungen und Aktivitäten finan- für einen offenen Dialog zu bür- zieren. gerlichem Engagement, interkul- Vielmehr wird er zu einem Partner im turellem Dialog, ethnischer und Bereich Kulturbeziehungen, der den Zu- kultureller Vielfalt sowie zum Zu- gang zu globaler Fachkompetenz ermöglicht sammenhalt in Europa ein. und bei weitreichenden flächendeckenden - Wettbewerbsfähiges Europa: Wir Aktivitäten mitwirkt, die über die jewei- fördern die Entwicklung des europä- ligen Landesgrenzen hinaus ein Echo fin- ischen Bildungs- und Qualifikations- den. Wir wollen die Europäer der nächsten pools als Antwort auf die Herausfor- Generation zusammenbringen und Großb- derungen des globalen Wettbewerbs. ritannien ins Zentrum des internationalen - Kreatives Europa: Wir unterstützen Dialogs rücken. Wir werden europaweite die für eine erfolgreiche Zukunft und globale Großprojekte entwickeln, die entscheidende wissenschaftliche und mit Hilfe strategischer Partnerschaften künstlerische Kreativität. und gemeinsamer Finanzierungsverein- - europa und die Welt: Wir stellen uns barungen geplant und realisiert werden. gemeinsam mit europäischen Part- Wir werden unseren Englischunterricht nern globalen, uns alle betreffenden und unsere Sprachprüfungen in Europa Herausforderungen wie der Klimasi- ausbauen, um das Erlernen von Englisch cherheit. als Kernqualifikation für jeden jungen Eu- ropäer zu unterstützen. Im Zuge der neuen Strategie ist es Kernaufgabe des British Council in Eu- Berlin als Magnet? ropa, Partnerschaften und Netzwerke ins Leben zu rufen – als Teil einer Vision, das Berlin ist die größte Stadt Deutsch- Europa der nächsten Generation gemein- lands und ein Magnet für Europäer, ein sam zu gestalten. Im Einklang mit dem Dreh- und Angelpunkt des europäischen Wunsch der britischen Regierung wei- British-Council-Netzwerks, der uns stets tet der British Council seine Aktivitäten neue, für Großbritannien und Europa re- zur Schaffung europäischer Netzwerke levante Themen aufzeigt. mit Großbritannien als Hauptpartner- Bei der Gestaltung des Europas der land aus. Die Organisation wird größere Zukunft sind Deutschland und Großbri- Netzwerke britischer Partner und anderer tannien naturgemäß Partner. Wir seh- Akteure in ihre Arbeit einbeziehen, um ei- en es als zentrale Aufgabe, Netzwerke nen wechselseitigen Gedanken- und Mei- mit deutschen Vertretern der nächsten nungsaustausch zu intensivieren. Generation aufzubauen, die nach Part- Dies bedeutet eine grundlegend ver- nerschaften mit Großbritannien suchen, änderte Strategie der Arbeit des British und gleichzeitig die Schlüsselposition Council. Er wird nicht mehr als tradi- Deutschlands innerhalb Europas als ein tionelles Institut für kulturelle Bezie- Land zu nutzen, das sowohl nach Osten hungen mit einem Standardangebot als auch nach Westen ausgerichtet ist und aus den Bereichen Kunst, Wissenschaft mit Berlin über einen Anziehungspunkt und Bildung fungieren sowie bilat-erale für kreative junge Menschen aus aller

94 Welt verfügt. Das Entscheidende an un- Auswärtige Kulturpolitik serer „deutschen“ Arbeit ist unsere Fähig- keit, Menschen innerhalb und außerhalb von Regierungskreisen, Entscheidungs- träger und nachfolgende Generationen mit ihren Freunden und Kollegen in na- hezu jedem Land Europas zusammen- zubringen: Zum einen werden wir mit 90er Jahren als „Showcase“ für das mo- Hilfe staatlicher Fördermittel einfluss- derne Großbritannien geplant wurde, da reiche und engagierte Partnerschaften dieses Modell im Zeitalter des Internets und Netzwerke mit den Europäern der ausgedient hat. nächsten Generation aufbauen, die sich Wir müssen nicht mehr in dieser Form mit ganz Europa betreffenden Fragestel- sichtbar sein und unsere Serviceleistungen lungen sowie gemeinsamen Themen au- mit direktem Zugang für alle Vorbeige- ßerhalb Europas befassen. Zum andern henden präsentieren. Stattdessen halten werden wir durch Dienstleistungen jün- wir es für notwendig, einen anspruchs- gere Bevölkerungsgruppen erreichen, vollen Ort der Begegnung für die Interakti- denen wir ermöglichen, die englische on mit Europäern der nächsten Generation Sprache zu erlernen, an britischen Uni- zu gestalten. Wir arbeiten an Projekten, versitäten zu studieren und britische Qua- die sich über eine ganze Region erstre- lifikationen zu erwerben. Dieses Spek- cken und diese gesamte Region beteiligen. trum wird durch unser Medienangebot, Ein geringerer Teil der von der britischen Online-Dienste sowie von uns betreute Regierung bereitgestellten Finanzmittel EU-finanzierte Programme zur Bildungs- fließt in Programme, die sich an ein allge- und Mobilitätsförderung ergänzt. Für den meines Publikum wenden, beispielsweise British Council in Deutschland und an- an die gesamte Bevölkerungsgruppe der deren europäischen Ländern ist dies eine Jugendlichen. Dafür investieren wir mehr Neuausrichtung. Primäre Aufgabe ist es in die Schaffung von Netzwerken junger nicht mehr, das Bild von Großbritannien Europäer. in Deutschland zu beeinflussen. Billig- fluglinien erfüllen diese Aufgabe nun tag- Partner in und für Europa ein, tagaus. Die Fußballweltmeisterschaft hat innerhalb eines Monats mehr für das Die Verschiebung der bilateralen zur Deutschlandbild in Großbritannien getan multilateralen Kulturarbeit beinhaltet als die Arbeit von Kulturinstituten über auch engere Partnerschaften mit ande- viele Jahre hinweg. Wir ziehen aus un- ren europäischen Kulturinstituten und serem Gebäude in Berlin aus, das in den Dachorganisationen. Die Partnerschaft mit dem Goethe-Institut ist für Ersteres ein ausgezeichnetes Beispiel. Ein Beispiel für die zweite Kooperationsform ist die Er wird nicht mehr als traditi- Initiative EU National Institutes for Cul- onelles Institut für kulturelle ture (EUNIC), ein Zusammenschluss von 19 europäischen Kulturinstituten. Zielset- Beziehungen mit einem Stan- zung ist die Kooperationsförderung inner- dardangebot aus den Bereichen halb und außerhalb Europas. Der British Kunst, Wissenschaft und Bil- Council war maßgeblich an der Gründung dung fungieren sowie bilaterale dieser Kooperationspartnerschaft beteili- gt. EUNIC arbeitet eng mit der Europä- Veranstaltungen und Aktivi- ischen Kommission zusammen (General- täten finanzieren. direktion Bildung und Kultur) und befasst

95 Auswärtige Kulturpolitik

sich derzeit mit drei großen gesamteuro- dass unser Ansatz indirekt viel stärker päischen Projekten – interkultureller Di- dazu beitragen wird, das Bild von Großb- alog, Migration und neue EU-Kulturpo- ritannien in seiner Rolle als ernstzuneh- litik 2007 - 2013. Die Initiative arbeitet mender Partner in Europa zu fördern. auf Landesebene über nationale Gruppen Unsere einstige Aufgabe in Europa hat von EUNIC-Mitgliedsinstituten. Der Bri- sich überholt, neue Aufgaben stehen uns tish Council arbeitet zudem mit anderen bevor. Um diese Aufgaben zu erfüllen, europäischen Organisationen an EU-Pro- steht der British Council unserer Ansicht grammen zur Bildungs- und Mobilitäts- nach für eine neue Art Organisation für förderung wie Comenius, Erasmus und kulturelle Beziehungen des 21. Jahrhun- Youth Action mit. Obwohl das Konzept der derts. Gleichzeitig kann man diesen Rich- „Partnerschaft“ in mancherlei Hinsicht tungswechsel auch als eine Rückkehr zu berechenbar und damit einfach ist, sind den Wurzeln des British Council sehen wir überzeugt, dass unsere Verpflichtung – jener Organisation, die im Jahre 1934 zu Partnerschaften eine Verknüpfung von ins Leben gerufen wurde, um angesichts Zielen und Bestrebungen und die partner- wachsender Intoleranz in Europa den of- schaftliche Zusammenarbeit einen Prüf- fenen Dialog und freien Gedankenaus- stein für das Prinzip der Gegenseitigkeit tausch zu fördern. darstellt, weil sie uns verpflichtet, unsere Michael Bird ist Direktor des British Council Arbeit mit thematischen Schwerpunkten in Deutschland. Er studierte in Cambridge, der anderen abzustimmen. Harvard und Voronezh. Seit 1985 beim British Council, wurde er zur Zeit von Glasnost und Fazit Perestroika nach Moskau versetzt. Ab 1991 beriet er in Brüssel britische Universitäten und Forschungseinrichtungen zu Forschungs- Der British Council in Deutschland und Mobilitätsprogrammen der EU. 1993 und Europa definiert den Begriff „Kul- baute er eine neue Niederlassung des British turinstitut“ neu. Während wir unser Ex- Council in St. Petersburg auf. 1997 war er als pertenwissen und unsere Autorität im in- Direktor des British Council in der Ukraine ternationalen Kontext von Bildung und maßgeblich daran beteiligt, dass der British Council und das Goethe-Institut ein gemein- Kunst beibehalten, werden wir Moderator sames Haus in Kiew bezogen. 2001 bis 2005 für Debatten, eine Netzwerkorganisati- war er Direktor des British Council in seinem on und Initiator europaweiter Partner- Geburtsland Schottland. schaften. Wir möchten Großbritannien ins Zentrum europäischer Beziehungen rücken und das Land unterstützen, eu- ropäische Partner zu mobilisieren, um gemeinsame europäische und globale Themen aufzugreifen. Wir sind sicher,

1 Active Diplomacy for a Changing World, FCO Crown Copyright, 2006. 2 Review of Public Diplomacy, FCO, 2005. 3 Mutuality, Trust and Cultural Relations, Counterpoint, 2004. 4 Options for Change, British Council, 2006. 5 International migration and development, Report of the Secretary-General, UN, 2006.

96 Raus aus dem Huntington-Szenario Harte Politik und Wirtschaft waren in der EU-Mittelmeerpartnerschaft seit dem Beginn des Barcelona-Prozesses 1995 gefragt. Erst der Schock des Karikaturenstreits hat die Aufmerksamkeit auch auf weiche Themen gelenkt. Sind die Kul- turbeziehungen zwischen der EU und den süd- lichen Mittelmeeranrainern mehr als bloß eine rhetorische Beschwörung des Dialogs? Von Traugott Schöfthaler

In Europa erinnert sich die nicht mehr ganz junge Generation noch daran, wel- che Dynamik 1975 der sogenannte Korb 3 von Helsinki entwickelte, bis schließlich 14 Jahre später die Mauern und System- grenzen fielen. Ich erinnere mich noch sehr gut an Demonstrationen in der DDR unter dem Motto „Danke, Erich”. Kein DDR-Bürger musste das Gefängnis fürch- ten, nur weil er Poster mit Zitaten aus der Helsinki-Charta öffentlich zur Schau stellte. Die Helsinki-Charta hat nicht die Mauer niedergerissen, aber sie hat dem Drängen nach Menschenrechten und ie Barcelona-Erklärung ist eine Kulturaustausch eine Legitimität gege- Kopie der Helsinki-Charta von ben, gegen die schwer anzukommen war. D1975. Die im November 1995 von Das größte Hindernis zum Erfolg war die den damals 15 EU-Mitgliedstaaten und ih- Kurzatmigkeit vieler Westeuropäer, die ren damals zwölf Mittelmeerpartnern (in- die Helsinki-Bürgerkomitees als naiv be- zwischen haben Malta und Zypern die Sei- lächelten und einfach nicht an die Mög- ten gewechselt) verabschiedete Erklärung lichkeit zur Beendigung des Kalten Kriegs ist ein zukunftsweisendes Dokument, das glauben wollten. 1985 haben unsere Nach- sich bewusst an ihrem Vorgänger orien- barn in Polen, der Tschechoslowakei und tiert: Kapitel 1 legt Prinzipien für poli- in Ungarn den Helsinki-Prozess gerettet: tische und Sicherheitspartnerschaft fest; Hätten sie nicht insistiert, wäre Helsinki Kapitel 2 steckt Ziele für Freihandel und nach zehn Jahren vermutlich vom Westen wirtschaftliche Entwicklung, und Kapi- aufgegeben worden. tel 3 handelt von den „weichen Themen” Die mit der Barcelona-Erklärung be- im Sinne des erweiterten Kulturbegriffs. gründete Europa-Mittelmeer-Partner- Bildung, Kulturerbe und Kreativität, Wis- schaft verbindet die nunmehr 27 EU-Mit- senschaft, Medien, Jugend, Frauen, Men- gliedstaaten und zehn südliche Nachbarn, schenrechte – Austausch und Verständi- von Marokko über Ägypten, Israel, Jorda- gung stehen im Fokus. nien und Syrien bis zur Türkei. Es ist die

97 Auswärtige Kulturpolitik Kulturbeziehungen durch die Arabische Liga. Wenn alle an den Tisch geladen werden, kommen auch alle, fast immer, ganz gleich, ob es sich um gemeinsame Lehrerfortbildung, um Kulturfestivals, um Hochschulzusammenarbeit oder re- gionale Netzwerke handelt. So weit trägt weltweit einzige politische Konstellation, die Parallele zu Helsinki auch unter heu- in der Palästina (unter dem Namen „pa- tigen Bedingungen. Boykotte und Absa- lästinensische Autonomiegebiete“) vollen gen sind jedoch fast schon die Regel, wenn Mitgliedstatus besitzt und nicht auf der es sich um Projekte kleineren Zuschnitts Beobachterbank Platz nehmen muss. handelt. Bei der 2006 gestarteten ersten Der Aufnahmeantrag Mauretaniens ist Serie von 28 Förderprojekten, die nach seit November 2006 abgesegnet, Libyen der Formel 2+2 (mindestens zwei europä- ziert sich noch etwas, Südosteuropa fehlt. ische und zwei südliche Partner) konzi- Zwar hat das Präsidium Bosnien-Herzego- piert werden, sind fünf israelische Part- winas grundsätzlich einen Aufnahmean- ner beteiligt. Die Bereitschaft arabischer trag beschlossen; EU-Europa hat jedoch Partner zur Mitarbeit an diesen Projekten ein großes Problem mit seiner seit 2007 begrenzt sich jedoch auf Palästina und neu konzipierten „Europäischen Nach- Jordanien. Insgesamt bleibt die „Europa- barschaftspolitik“: Die Gruppe der Bei- Mittelmeer-Partnerschaft“ noch weitge- trittskandidaten (zu der Südosteuropa ge- hend im Bereich der Rhetorik. hört) wird separat behandelt. Gegenstand Die Ursachen hierfür liegen nicht al- der Nachbarschaftspolitik sind Staaten, lein in den politischen Konflikten und die voraussichtlich keine Beitrittschance der sie verschärfenden Krise in den kul- erhalten. Die bilateralen Beziehungen zur turellen Beziehungen mit der arabischen EU werden in Assoziierungsabkommen Welt, für die wütende Proteste gegen die geregelt. Entsprechend unwohl fühlen Mohammed-Karikaturen Anfang 2006 sich unsere türkischen Partner, wenn sie nur ein Symptom waren. Die Frage ist, ob in der Europa-Mittelmeerpartnerschaft EU-Europa wirklich bereit zu einer Part- zur „anderen Seite“ gerechnet werden. Als die Euro-Mediterrane Anna-Lindh- Stiftung für Kulturdialog, die 2005 ge- gründete jüngste gemeinsame Einrich- Die Helsinki-Charta hat nicht tung des Barcelona-Prozesses, im Februar die Mauer niedergerissen, aber 2006 einen Internet-Kulturdialog für jun- sie hat dem Drängen nach ge Menschen zwischen 18 und 25 startete, Menschenrechten und Kul- musste auf türkischen Druck der mit einer Unterteilung in EU und Partner verse- turaustausch eine Legitimi- hene Ausschreibungstext zur Förderung tät gegeben, gegen die schwer von Nord-Süd-Partnerschaften geändert anzukommen war. Das größte werden. Hindernis zum Erfolg war die Andere Probleme sind nicht so leicht zu lösen. Allen voran natürlich der Nah- Kurzatmigkeit vieler Westeuro- ostkonflikt, dessen friedliche Beendi- päer, die die Helsinki-Bürgerko- gung 1995 so nahe schien. Heute ist die mitees als naiv belächelten und Anna-Lindh-Stiftung die einzige Institu- einfach nicht an die Möglich- tion, die so etwas wie Kulturbeziehungen zwischen Israel und allen arabischen keit zur Beendigung des Kalten Staaten organisiert, trotz Boykotts der Kriegs glauben wollten.

98 Auswärtige Kulturpolitik

nerschaft auf gleicher Augenhöhe mit sei- fen statt, 2006 zu Fragen der Umwelt, In- nen südlichen Nachbarn ist, wie sie 1995 formation, Gleichstellung von Mann und in Barcelona vereinbart wurde. Frau, Industrie und Verkehr. 2007 sol- len sich erstmals die Kulturminister (in Europa und das Griechenland) und die Hochschulminis- Mittelmeer als Partner ter (in Ägypten) treffen. Nachdem im ers- ten Jahrzehnt der EMP Politik, Sicherheit, Faktisch ist die Europa-Mittelmeer- Handel und wirtschaftliche Entwicklung Partnerschaft (EMP) zu einem Instrument die Zusammenarbeit dominierten, sollen der EU-Außenpolitik geworden, gestaltet jetzt die „weichen Themen“ aus Korb 3 durch die Europäische Kommission un- auch auf Ministerebene behandelt wer- ter rotierendem Vorsitz der EU-Präsident- den. Der Schock der Karikaturenprotes- schaft. Nahezu alle Budgetentscheidungen te sitzt tief. Die Hochschulminister wer- werden innerhalb der EU-Strukturen ge- den die Erweiterung des Europäischen troffen und folgen den administrativen Hochschul- und Forschungsraums auf die und Finanzregularien der Kommission. Mittelmeerpartner diskutieren, die Eu- Alles gilt als „Projekt“, weitgehend auf ropäische Kommission wird ein neues sich gestellt, das Verbot der „Doppelfinan- Stipendienprogramm für Studenten und zierung“ behindert Synergien zwischen Nachwuchswissenschaftler auflegen, das Projekten und Programmen, die von der Europäische Rahmenprogramm zur For- EU gefördert werden. Dies lässt wenig schungsförderung nach Süden geöffnet. Raum für kohärente Strategien und kaum Die Kulturminister werden gemeinsame Platz für gemeinsame Entscheidungsfin- Schritte zur Ratifizierung und Umset- dung zwischen Nord und Süd. Die Spra- zung der UNESCO-Konvention zur kultu- che der Entwicklungshilfe teilt Partner rellen Vielfalt und zur Verwirklichung des in Geber und Empfänger. Aktionsprogramms der UN-Allianz der Es ist daher wenig hilfreich, die bis- Zivilisationen diskutieren und in diesem herigen Ergebnisse der EMP an den Zie- Zusammenhang die weitere Perspektive len der Barcelona-Erklärung zu messen. der Anna-Lindh-Stiftung für Kulturdia- Angemessener ist es, von einer EU-Mit- log festlegen. telmeerpolitik zu sprechen und politische Zur Erfolgsbilanz gehört auch, dass Ziele der EU zum Maßstab zu nehmen. die EU mit allen Mittelmeerpartnern bi- Zu den wichtigsten Ergebnissen gehö- laterale Assoziierungsabkommen unter- ren die Schaffung eines politischen In- zeichnet hat. Dies hat Folgen insbesondere strumentariums mit regelmäßigen Tref- für Handel und Wirtschaft. In den letzen fen – etwa alle sechs Wochen – zwischen zehn Jahren ist das Handelsvolumen der den Außenministerien auf der Ebene der Mittelmeerländer mit der EU in allen Fäl- Hohen Beamten und Botschafter (Euro- len auf weit über 50 Prozent gestiegen. Med-Komitee), mit routinemäßiger Be- Die EU ist, insbesondere über das Mittel- teiligung aller Partner einschließlich meer-Finanzierungsinstrument der Euro- Israel, Palästina und Syrien. Einmal päischen Investitionsbank, zum größten jährlich treffen sich die Außenminister, ausländischen Investor in allen Mittel- periodisch finden andere Ministertref- meerländern geworden. Die Chancen ste-

99 Auswärtige Kulturpolitik und die Anna Lindh-Stiftung hinzu, ge- folgt von Grundsatzerklärungen über die Notwendigkeit zum Engagement im Bil- dungsbereich, mit einer Reihe bilateraler Förderzusagen für Schulbauprojekte. Na- hezu alle der 35 EMP-Außenminister ha- ben bei ihrer Jahreskonferenz Ende 2006 hen gut, dass das ehrgeizige Ziel erreicht in Tampere einen Aufschwung der Kul- wird, bis 2010 eine Europa-Mittelmeer- turbeziehungen und neue Anstrengungen Freihandelszone zu schaffen. für einen Kulturdialog gefordert. Europa beginnt zu verstehen, dass tra- Arabische Krisenprävention? ditionelle Foren des Kulturaustauschs und des Kulturdialogs im Verhältnis zur ara- In der Debatte über den Wert der EMP bischen Welt weitgehend fehlgeschlagen wird regelmäßig kritisch angemerkt, der sind. Das erste EU-Forum zum Kulturdi- Barcelona-Prozess habe nichts zur Lösung alog mit der Organisation der Islamischen des Nahost-Konflikts beigetragen. Dies ist Konferenz (OIC) im Frühjahr 2002 in richtig, doch ist das EMP-Instrumentari- Istanbul endete ohne substanzielle Ergeb- um dazu nicht in der Lage. Der israelisch- nisse. Die Absage des zwei Jahre später arabische Konflikt ist nicht der einzige, geplanten Folgetreffens führte sogar zu indem die EU nur ein Akteur in einem einem folgenschweren Eklat. Da die isla- „Quartett“ ist. Die EMP verfügt nicht ein- mischen Staaten in Europa kein Gehör für mal über hinreichend politische Autorität, ihre Forderung nach einer gemeinsamen um einen vergleichsweise kleinen Kon- Erklärung gegen Islamophobie und Dis- flikt wie den Zypernstreit beizulegen. kriminierung des Islam fanden, brachten Der Geist der Barcelona-Erklärung sie einen Antrag bei der VN-Menschen- lebt in ihrem dritten Kapitel zu Bildung, rechtskommission ein, ein Jahr später Wissenschaft, Kultur und Medien, bis gefolgt von einem gleichlautenden An- jetzt der arme Vetter der politischen und trag in der UNO-Vollversammlung. Bei- wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Die de Male musste abgestimmt werden. Der häufigsten Stichworte im dritten Kapitel Antrag wurde mit Mehrheit von zwei Drit- sind „Kultur“ und „Zivilgesellschaft“. Es teln beschlossen. Alle EU-Mitgliedstaa- musste erst jedermann deutlich werden, ten gehörten zum unterlegenen Drittel. dass sich die kulturellen Beziehungen Der Westen war 2005 noch nicht bereit, zwischen Europa und insbesondere sei- die Diskriminierungsempfindungen der nen arabischen Nachbarn dramatisch ver- Muslime angemessen zu würdigen, son- schlechtert haben, dass vertieftes Miss- dern beharrte darauf, Islamophobie müsse trauen zwar nicht den Handel, aber die stets zusammen mit Christianophobie und politischen Beziehungen gefährdet, bevor Antisemitismus gesehen werden. Dies hat die Kultur jetzt erstmals in den Vorder- sich mittlerweile geändert. Das in Wien grund der EU-Mittelmeerpolitik rück- angesiedelte EU-Zentrum zur Beobach- te. Bis 2005 war das EuroMed-Kulturer- tung von Rassismus und Xenophobie hat beprogramm fast das einzige regionale eine viel beachtete Studie zur Islamo- Kulturprojekt, abgesehen von einem Pro- gramm zur Fortbildung von Jugendleitern sowie sehr begrenzten Projektmitteln in Insgesamt bleibt jedoch die der Hochschulzusammenarbeit (TEM- „Europa-Mittelmeer-Partner- PUS/MEDA) und nach einigen Jahren be- endeten Programmen im Medienbereich. schaft“ noch weitgehend im Be- 2005 kamen ein Journalistenprogramm reich der Rhetorik.

100 Auswärtige Kulturpolitik

phobie in Europa veröffentlicht. Die Ver- Alexandria ist bisher die einzige von allen bitterung ist jedoch insbesondere bei den Partnern kofinanzierte und im Süden der arabischen Nachbarn Europas geblieben. Region eingerichtete EMP-Institution. Sie Die EU-Kommissarin für Außenbezie- entwickelt Ideen für einen substanziellen hungen und Nachbarschaftspoltik, Beni- Kulturdialog und vermittelt insbesonde- ta Ferrero-Waldner, fordert bis 2008 die re jungen Menschen die hierfür benötig- Schaffung von Frühwarn- und Krisenbe- ten Fähigkeiten. Die Stiftung hat im Au- wältigungssystemen, die verhindern sol- gust 2005 ihre Arbeit aufgenommen als len, dass wie bei den Karikaturenprotesten Netzwerk von 35 nationalen Netzwerken, erneut Probleme kulturellen Nichtverste- die Ende 2006 rund 1.200 Institutionen hens außer Kontrolle geraten. und Organisationen aus den Bereichen Tausende von Dialogveranstaltungen Bildung, Kultur, Wissenschaft, Medien, in den letzten beiden Jahrzehnten brach- Frauen und Jugend verbinden. ten Vertreter von Religionen oder Kul- Erstes gemeinsames Produkt war eine turen zusammen. Sie endeten in der Re- mit Praxisbeispielen bestückte Studie zur gel mit wenig substanziellen Erklärungen Rolle von Bildung, Kultur und Medien bei über gemeinsame Werte, konnten jedoch der Veränderung von Einstellungen und keine gemeinsame Sprache für kulturelle Verhaltensweisen zwischen Männern und oder religiöse Unterschiede finden, die Frauen. Gemeinsam mit dem Europarat die Sollbruchstellen kultureller Nord- und der Bildungs- und Kulturorganisati- Süd-Probleme, aber auch von Auseinan- on der Arabischen Liga (ALECSO) hat die dersetzungen zwischen kulturellen oder Stiftung im Mai 2006 ein Euro-Mediter- religiösen Gemeinschaften in fast jedem ranes Lehrerfortbildungsprogramm ge- der EMP-Länder sind. Erst jetzt verbrei- startet, das Lehrerinnen und Lehrer aus tet sich die Einsicht, dass der Kulturdia- Nord und Süd in die Vermittlung kultu- log aus dem Huntington-Szenario ausbre- reller Vielfalt und interreligiöser Toleranz chen muss, wenn er etwas bewegen will. einführt. Tausend junge Künstler aus der Kultur darf nicht reduziert werden auf Region werden Ende Oktober 2007 zur Kulturerbe, sondern muss – im Sinne der erstmals außerhalb Europas veranstal- Definition von Lebensqualität im UNDP- teten BJCEM-Kunst-Biennale in Alexan- Bericht – über menschliche Entwicklung dria unter dem Motto „Unsere kreative auch als Gestaltungsraum für jeden Bür- Vielfalt“ erwartet, eine Hommage an ger mit seinen vielfachen kulturellen Zu- den unter diesem Titel vor zehn Jahren gehörigkeiten und Präferenzen verstan- veröffentlichten Bericht der Weltkom- den werden. Es ist daher wichtig, dass mission „Kultur und Entwicklung“, der die Konvention über kulturelle Vielfalt im den aktuellen internationalen Vereinba- Mittelpunkt der ersten EuroMed-Kultur- rungen zum Schutz und Respekt kultu- minsterkonferenz 2007 steht. reller Vielfalt den Boden bereitet hat. Die Barcelona-Erklärung bleibt von Bedeu- Die Anna-Lindh-Stiftung vermittelt tung, insbesondere mit dem bisher nicht in Programme umgesetzten politischen Die Euro-Mediterrane Anna-Lindh- Bekenntnis aller EMP-Partner zur Siche- Stiftung für Kulturdialog im ägyptischen rung des Respekts kultureller Vielfalt und

101 Auswärtige Kulturpolitik

religiösen Pluralismus in der gesamten Zum Bericht der UN-Kommission zur Region. Richtig verstanden sind die neue- „Allianz der Zivilisationen“ hat die Stif- ren Deklarationen und Übereinkommen tung ihren Beitrag geleistet. Wichtigstes zur kulturellen Vielfalt des Europarats, Element ist das Eintreten gegen Miss- der Arabischen Liga, der ALECSO und brauch kultureller oder religiöser Argu- der OIC samt ihrer Kulturorganisation mente für politische Ziele. Im ernsthaf- (ISESCO) und allen voran natürlich der ten Dialog mit seinen südlichen Nachbarn UNESCO ein Potenzial, aus dem sich hat Europa Chancen, zu einem realisti- Mittel zur Heilung der vergifteten Kul- scheren Bild seiner eigenen kulturellen turbeziehungen zwischen Europa und Vielfalt zu kommen. Für die kulturellen seinen südlichen Nachbarn gewinnen Beziehungen zum Mittelmeerraum ist lassen. es unerlässlich, in Europa mehr Wissen Die Euro-Mediterrane Anna-Lindh- über die kulturelle Komplexität der Part- Stiftung für Kulturdialog ist eine typische ner zu vermitteln. Wenn Europa sich in Top-Down-Kreation von Regierungen. Krisensituationen mit Beschwörungen Sie hat jedoch bereits Mechanismen zum der „europäischen Werte“ einigelt, wie Wirken in die Zivilgesellschaft entwi- im Karikaturenstreit geschehen, werden ckelt, gemeinsam mit drei anderen Eu- unnötig neue Zäune errichtet. Die Werte roMed-Netzwerken, dem der politikwis- der Europäischen Menschenrechtskon- senschaftlichen Institute (EuroMeSCo), vention von 1953 sind seit 1966 auf dem dem der wirtschaftswissenschaftlichen Vormarsch – dank der Menschenrechts- Institute (FEMISE) und der Euro-Medi- konventionen in den Vereinten Nationen, terranen NRO-Plattform mitsamt dem des sogenannten Wirtschafts- und Sozi- parallel eingerichteten Netzwerk der Ju- alpakts über bürgerliche sowie dank po- gendorganisationen. Die Stiftung betei- litischer, sozialer, wirtschaftlicher und ligt sich am Aufbau einer permanenten kultureller Rechte. interuniversitären Plattform für die Die permanente Wiederholung des Be- EuroMed-Region, die die Erweiterung griffspaars „Europa“ und „der Islam“ ist des europäischen Hochschul- und For- eine Dichotomie, die historische wie ge- schungsraums in den Süden unterstüt- genwärtige islamische Elemente der eu- zen und der direkten Hochschulzusam- ropäischen kulturellen Vielfalt ausgrenzt. menarbeit über das Mittelmeer hinweg Der Schritt zum Missbrauch für das poli- Auftrieb geben soll. Die Gründungsver- tische Ziel, die Türkei aus der EU heraus- sammlung wird voraussichtlich im Juni zuhalten, ist nicht weit. Die Europa-Mit- 2007 in Alexandria stattfinden. Mit dem telmeer-Partnerschaft ist eine geeignete DAAD und dem British Council enga- Plattform, um Kulturbeziehungen auf giert die Stiftung sich insbesondere für gleicher Augenhöhe zu entwickeln. die Demokratisierung des Zugangs zu In- formationen über akademische Mobilität Traugott Schöfthaler, Dr. phil., ist seit Novem- an arabischen Hochschulen. 2007 wird ber 2004 Gründungsdirektor der Anna-Lindh- Stiftung in Alexandria. ein Ausbildungsprogramm für Personal künftiger akademischer Auslandsämter in Alexandria starten.

102 EUphorie in Kroatien Kultur und Identität sind untrennbar miteinander verknüpft. Wie also soll man sich in einem Europa der Vielfalt europäisch fühlen? Ein erster Schritt ist die Ein- sicht, dass nicht nur politische und wirtschaft- liche Fragen auf der europäischen Agenda stehen dürfen, sondern ebenso kulturelle und ethische Werte. Welchen Weg wählt Kroatien, um die Öffentlichkeit für einen EU-Beitritt zu gewinnen? Von Marija Pejčinović Burić

Philosophen eingehend analysiert. Eine allgemeingültige Definition gibt es den- noch nicht und es ist fraglich, ob es sie überhaupt geben kann. Kultur und Iden- tität sind nicht nur Gegenstand abstrakter Gedankengebäude, sie sind im Alltag der Menschen fest verwurzelt. Wie könnte man in diesem Sinne den „europäischen Weg“ definieren? Kultur spielt eine tragende Rolle bei der Weiterentwicklung von Wissen, bei Verständigung und Vermittlung von Werten und einem Zugehörigkeitsge- fühl, für die Demokratie und Anerken- U-Kommissionspräsident José nung von Menschenrechten. Nicht zu- Manuel Barroso eröffnete die ers- fällig taucht sie auch in der Präambel Ete Konferenz „Europa eine Seele der EU-Verfassung auf, in der die Mit- geben“ 2004 mit den Worten: „Die EU gliedstaaten dazu aufrufen, die Solidari- hat ein Stadium in ihrer Geschichte er- tät zwischen ihren Völkern zu vertiefen reicht, in dem ihre kulturelle Dimension und gleichzeitig ihre Geschichte, Kultur nicht mehr geleugnet werden kann.“ In und Traditionen zu respektieren und zu der Tat sind wir mit der EU-Erweiterung wahren. Diesem Appell folgt eine Ein- nach Mittel- und Osteuropa Zeugen eines leitung, die klarstellt, dass eine europä- gewachsenen Europa mit mehr Zustän- ische Bürgerschaft die nationale Staats- digkeiten, Ausdrucksmöglichkeiten und angehörigkeit nicht ersetzen, sondern kulturellen Traditionen geworden. ergänzen soll, sowie der Vorsatz, die Bedenkt man aber, dass der Kulturbe- Identität und Unabhängigkeit Europas griff mit dem Identitätsbegriff untrenn- zu stärken, um Frieden, Sicherheit und bar verbunden ist, kommt man bei Fra- Fortschritt in Europa und der Welt ga- gen zur europäischen Identität nicht um rantieren zu können. Die Präambel und den kulturellen Hintergrund herum. So- die gemeinsamen Klauseln des Vertrags wohl Kultur als auch Identität werden unterstreichen damit die Wichtigkeit von Wissenschaftlern, Gelehrten und der Verknüpfung und Unabhängigkeit

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von Kultur, Identität und der Union als Dokument einer Institution, die sich in Garant für den Frieden. der Praxis schon etabliert hat. Ebenso war Die Idee einer europäischen Bürger- die Einheit in der Vielfalt schon im Um- schaft beweist das Vorhandensein ge- lauf, bevor sie in die Verfassung mit auf- meinsamer Grundwerte, die gleichzeitig genommen wurde. Dennoch ist der Blick die Eckpunkte des gesamten Integrati- in die Zukunft von der Notwendigkeit onsprozesses darstellen, ebenso wie die geprägt, unsere Perspektiven angesichts friedenssichernde Funktion der EU. Auch der gescheiterten Verfassungsreferenden wenn die meisten Europäer das Trauma in Frankreich und den Niederlanden sowie des Zweiten Weltkriegs nur aus Erzäh- der EU-Erweiterung zu überdenken. lungen kennen, ist er ein Teil der kol- lektiven Erinnerung. Die Bedeutung Kultur als Sahnehäubchen? des Friedens ist für Kroatien nach dem Krieg auf dem Balkan ein unschätzbar Obgleich es klare Anzeichen und so- wertvolles Gut. Aber auch für viele ande- gar Fakten gibt, die untermauern, dass re Länder in der Welt, deren Alltag von die Erweiterung 2004 ein politischer und Kriegen und Tragödien bestimmt wird, wirtschaftlicher Erfolg war, sehen wir ist Europa eine Oase des Friedens. uns mit einer Müdigkeit, wenn nicht ei- Was Identitätsfragen anbelangt, ist ner direkten Ablehnung der weiteren In- klar, dass die Union in der Praxis ebenso tegration konfrontiert. Vielleicht liegt es wie in ihren Statuten gleichviel Wert auf daran, dass die EU sich von vorneherein die jeweiligen Identitäten der Mitgliedstaa- stark auf die ökonomische, institutionelle ten und eine europäische Identität legt. und administrative Integration konzent- In diesem Sinne lautet der erste Artikel rierte und dabei kulturelle und ethische des Verfassungsvertrags: „Die Union soll- Werte vernachlässigte. Vielleicht sollte te die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor die Union sich auf ihre gemeinsamen der Verfassung ebenso respektieren wie Werte und ihr Kulturerbe besinnen, um deren nationale Identitäten, die sich in ih- das Vertrauen der Bürger in die Zukunft ren grundlegenden politischen und verfas- eines vereinten Europa zu stärken. sungsgebenden Strukturen wiederfinden.“ Zudem profitiert auch die Wirtschaft Hieraus resultiert auch die Bedeutung von von der Kultur. Einer Studie der Kom- Symbolen. Bilder- und Zeichensymbole mission zufolge trug der Kultursektor sind der Kitt, der Europa zusammenhält 2,6 Prozent zum europäischen Bruttoin- und einen kollektiven Erinnerungsschatz landsprodukt bei und beschäftigte 2004 schafft. Beispielhaft ist das Motto der EU nahezu sechs Millionen Menschen. Hier „Einheit in der Vielfalt“. Das erste Mal sind indirekte und nicht messbare Beiträ- wurde dieser Leitspruch offiziell im Ver- ge aus kulturellen Aktivitäten noch nicht fassungsvertrag erwähnt, der nicht nur mit einbegriffen. Die Zahlen entsprechen einen Blick in die Vergangenheit, sondern besonders im Bereich Wachstum und Ar- auch in die Zukunft richtet. Interessanter- beit den Zielen der Lissabon-Agenda. Al- weise reflektiert das formelle Motto eine les in allem scheint es, dass die Einbin- alte Tradition vieler europäischer Rechts- dung von Kultur zur Überwindung der systeme: die Aufnahme in ein rechtliches emotionalen Lücke zwischen den Euro-

104 päern und dem europäischen Integrati- Auswärtige Kulturpolitik onsprozess – auch das Ziel der Initiati- ve „Europa eine Seele geben“ – nur eine Win-win-Situation ergeben kann. Was tut Kroatien als Beitrittskandidat in einem fortgeschrittenen Stadium der Beitrittsverhandlungen in dieser Hinsicht? Die Partnerschaft zwischen der Europä- Ein Roland für Europa ischen Union und Kroatien hat sich nach dem Beginn der Beitrittsverhandlungen Ein bekanntes Projekt ist das Nationale im Oktober 2005 intensiviert. Der Bei- Forum zum EU-Beitritt, dessen regelmä- trittsstatus an sich und der Verhandlungs- ßige Treffen das Themenspektrum des status tragen zu einer besseren Kommu- Integrationsprozesses in Kroatien abde- nikation bei, die sich der Verständigung cken und eine kontinuierliche öffentliche mit EU-Mitgliedern angleicht. Debatte garantieren. Das Forum bietet Die öffentliche Rückendeckung ist das Politikern und Medien in verschiedenen Herzstück der Beitrittsverhandlungen Regionen die Möglichkeit zum Austausch und Ausgangspunkt für die Ausarbei- über Themen wie Verbraucherschutz, Mo- tung eines strategischen Plans und je- bilität der jungen Generation, kleine und des weitere Vorgehen. Deshalb hat die mittlere Unternehmen oder Schutz des kroatische Regierung Ende 2005 und Urheberrechts. Dennoch ist uns bewusst, das kroatische Parlament Anfang 2006 dass Kroatien nicht nur wirtschaftliche die Kommunikationsstrategie mit dem und politische Fragen des Beitritts kom- Ziel, die kroatische Öffentlichkeit über munizieren muss; eine tragende Rolle die EU und die Vorbereitungen auf eine spielen kulturelle und ethische Werte ei- Mitgliedschaft zu informieren, formu- ner erweiterten Union. Kultur kann ein liert. Dazu gehört die Bereitstellung leicht Mittel sein, um Stereotypen zu bekämp- verständlicher und zugänglicher Infor- fen und heikle Themen wie den Verlust mationen für die Bürger und der Kon- eines Teils der nationalen Souveränität takt zur Öffentlichkeit über Medienbe- abzufedern. Daher ist kulturelle Zusam- richterstattung, regelmäßige öffentliche menarbeit in allen Formen essenziell. Ein Debatten, Infotelefone und ausgewählte gutes Beispiel für die traditionelle Teil- Projekte wie die Feierlichkeiten zum Eu- habe Kroatiens am gemeinsamen euro- ropatag. Besondere Aufmerksamkeit ver- päischen Erbe und seiner Einbindung in dienen junge und spezielle Zielgruppen den aktuellen kulturellen Austausch ist in der kroatischen Gesellschaft und in das Projekt „Roland’s European Paths“, bürgerlichen Einrichtungen. Außerdem das vom zivilgesellschaftlichen Europa- wird die dezentralisierte Kommunikati- haus Dubrovnik geleitet wird. Aus dem on über Aktivitäten auf regionaler und Projekt sind eine Monografie und eine lokaler Ebene gefördert. multimediale Präsentation hervorgegan- gen, die die Traditionen vieler europä- ischer Städte und Dubrovnik aufgreifen. Außerdem stellte man aus diesem Anlass Die Einbindung von Kultur zur an prominenten Orten Statuen des ritter- Überwindung der emotionalen lichen karolingischen Hüters von Recht Lücke zwischen den Europäern und Gerechtigkeit auf. Autoren aus ver- und dem europäischen Inte- schiedenen europäischen Ländern leis- teten ihren Beitrag zu dem Buch, das in grationsprozess kann nur eine fünf Sprachen veröffentlicht wurde (kro- Win-win-Situation ergeben. atisch, deutsch, italienisch, französisch

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und englisch). Hier schließt sich der Kreis pa und seine Identität mittels Kunst und der Symbolik. Die Roland-Statuen, die über sprachliche und nationale Grenzen man an den verschiedensten und abge- hinweg erfolgreich diskutieren können. legensten Orten wie Bremen, Dubrovnik Diese beiden Projekte sind ein kroa- und Riga aufstellte, legen Zeugnis von tischer Beitrag zur Vermittlung der See- der gemeinsamen Vergangenheit sowie le Europas, für die Kroaten ebenso wie gegenwärtigen europäischen Werten ab. für andere Europäer. Sie zeigen unsere Der kroatische Roland in Dubrovnik steht Überzeugung, dass die Zukunft Europas noch als Einziger außerhalb der Union, nicht nur im Wohlstand liegt, sondern ist aber auf dem besten Weg zu seinen rit- dass es ebenso um den Erhalt und die terlichen Namensvettern in der EU. Weiterentwicklung gemeinsamer Wer- te inmitten der Vielfalt geht. Kultur ist Bilder für die Zukunft zweifellos einer dieser Werte, ebenso wie der Frieden als Voraussetzung für eine Erwähnenswert ist auch das kulturelle blühende Kultur. Projekt „Europe 2020“, ein paneuropä- An dieser Stelle will ich einen Ge- ischer Wettbewerb für die Gestaltung von danken von Johan Huizinga aufgreifen, Plakaten, das die europäischen Visionen einem niederländischen Historiker, der von Künstlern verbildlichen soll, und das treffend das späte Mittelalter beschrieb, vom Ministerium für Auswärtige Ange- die „Heimat“ unseres doppelt symbo- legenheiten und Europäische Integration lischen – des künstlerischen und bewah- sowie dem kroatischen Designer-Verband renden – Roland: „Wir wissen es nur zu organisiert wird. Der erste Wettbewerb gut: Wenn wir unsere Kultur bewahren fand 2002 statt, und der Erfolg ermutigte wollen, müssen wir immer weiter an ihr uns, 2005 einen weiteren unter dem Titel arbeiten.“ „Europe 2020 – Today for Tomorrow“ auszuschreiben. Beide Male wurden mehr Marija Pejčinović Burić ist Staatssekretärin als 200 Arbeiten von Designern aus mehr im Ministerium für Auswärtige Angelegen- heiten und Europäische Integration, Zagreb, als 20 europäischen Ländern eingereicht, Kroatien. Studium der Wirtschaftswissen- die ein großes Spektrum an Visionen für schaften in Zagreb. 1991 bis 1994 General- die europäische Zukunft eröffneten. Die- sekretärin im Europahaus, Zagreb, 1995 bis se Vielfalt an Ideen und Ausdrucksweisen 1997 Direktorin. 2000 bis 2004 stellvertre- beinhaltet verschiedene kulturelle Bezü- tende Ministerin für Europäische Integration, zuständig für Information, Bildung und Trai- ge und nationale Traditionen, die sich ning. Autorin zahlreicher Artikel zum Thema in jeweils eigenen Formen der „Vielfalt Europäische Integration. in der Einheit“ widerspiegeln. Die Er- gebnisse von „Europe 2020“ wurden in nicht weniger als 17 europäischen Städten von Kopenhagen bis Sofia vorgestellt. Die Ausstellungen geben Denkanstöße, die uns alle und unsere gemeinsame euro- päische Zukunft betreffen. Sie bestärken auch unseren Glauben, dass wir Euro-

106 Brot und Spiele Erst litten die ungarischen Intellektuellen unter dem Kommunismus und dem Kalten Krieg. Nun fühlen sie sich durch Wertewandel und Kulturverlust im Zuge der Gloablisierung bedroht. Von Europa forden sie ein stärkeres Eintreten für die künstlerische Freiheit und gegen die Tyrannei des Massengeschmacks. Von Gyula Kurucz

sich ihr Schaffen nur in dem kulturellen Gefüge und der schützenden Obhut des „Mutterlands” vorstellen konnten. Der geopolitischen Zwangslage stand also eine starke geistige Motivation gegenüber. Die nomadischen Ungarn haben seit dem 10. und 11. Jahrhundert überaus bewusst und nicht ohne Blutopfer das Christen- tum und die europäische Kultur ange- nommen. Sie haben mit viel Engagement romanische, gotische und barocke Kul- turphasen ebenso verarbeitet wie die Re- naissance und der Aufklärung folgende Strömungen. ie ehemalige Mittelmacht Un- Die ungarische Geisteselite strebte garn verlor im Zuge des Frie- seit den 20er Jahren ein wirksames Mit- Ddensvertrags von Trianon, der tel gegen die Phantomschmerzen an – die 1921 unter anderem die Amtsenthebung Schaffung einer eigenen Kulturblüte. der Habsburger bewirkte, zwei Drittel Daraus entsprangen einmalige Spitzen- seiner historischen Fläche und über ein leistungen in Musik und Literatur, bil- Drittel der Bevölkerung. Alles, was in tau- denden Künsten und Wissenschaft so- sendjähriger Geschichte organisch auf- wie das hohe Niveau des ungarischen gebaut worden war, lag nun brach, vom Schul- und Hochschulwesens. Diese Un- Eisenbahn- und Straßennetz bis zu den garn wollten sich mit einer kulturellen regionalen Verwaltungseinheiten, dem Weltklasseleistung aus der politischen Komitatensystem. Millionen zerrissene und militärischen Notlage befreien. Sie Familien blieben zurück, hilflos stand wollten die europäische Tradition mit un- die Politik der allgemeinen Verbitterung verwechselbarem ungarischem Akzent und Verzweiflung gegenüber. erneuern. Es war eine verzweifelte Bitte Die Kulturschaffenden des Landes um Akzeptanz und Entschuldigung – in versuchten, trotz der widrigen Umstän- dem festen Glauben, dass ein ungarischer de wieder etwas aufzubauen. Viele flo- Patriot immer ein überzeugter Europä- hen in das geschrumpfte Ungarn, da sie er und Weltbürger zugleich ist, dass alle

107 Auswärtige Kulturpolitik Alle geistigen Leistungen wurden nach ideologischer Zugehörigkeit und Nütz- lichkeit gewertet. Die Sprachrohre der politischen Macht waren stärker als die Schätze der Kultur und Kunst. Trotzdem brachte die schonungslose kommunistische Diktatur in der östli- Spitzenleistungen aus dem europäischen chen Hälfte Europas etwas Schönes her- Kulturgut und der ungarischen Tradition vor. Es wurde bewiesen, dass der Terror zugleich entspringen – und dass Eigen- die Tradition der Werte nicht ausmer- heiten und Gemeinsamkeiten nur Hand zen kann, besonders nicht bei den kulti- in Hand gehen können. vierten Schichten und den Kulturschaf- Das Christentum war bis zur Aufklä- fenden. Der Gegner – die kommunistische rung der kreative Rahmen der geistigen Diktatur – schien derart fremd, uneuro- Schöpfung auf unserem Kontinent. Maß- päisch und minderwertig, dass sie die an- und modellgebend ließ es zugleich immer spruchsvollen Menschen zum Widerstand Raum für Einzigartigkeit. Jene, die den „zwang”. Dichter, Musiker und bildende traditionsbildenden Begriff des Christen- Künstler wollten und konnten nicht „so- tums aus der Europäischen Verfassung zialistisch-realistisch” schaffen. Sie wur- und aus dem gemeinsamen europäischen den diskriminiert und in den Untergrund Kulturschatz gestrichen haben, haben zur getrieben. Die „Produkte” der Mitläufer Kastration unserer Kultur beigetragen. waren aber so schwach und falsch, dass sie sogar Laien abstießen. Die Unterdrü- Kultur trotz Kommunismus ckung und die überzeugende Qualität der und Kaltem Krieg „guten Kunst” führten in vielen Ländern zu Aufständen. Die blutige Revolution Der Nazismus schwappte auch nach von 1956 in Ungarn erzwang von den Ungarn, obgleich das Land lange Wider- Machthabern eine gewisse Lockerung. stand leistete. Die schillerndsten Figuren Der Aufstand 1968 in Prag führte zu ei- flohen in den Westen oder nach Ameri- ner brutalen Reaktion, setzte aber erneut ka, wo sie maßgeblich an der Enstehung ein Beispiel. Die polnische Widerstands- der Atombombe und der von Hollywood bewegung wurde vorrangig nicht von und amerikanischer Orchesterkultur mit- den Intellektuellen, sondern der katho- wirkten. Die ersten Zerstörungswellen im lische Kirche hervorgerufen. Sie stärkte 20. Jahrhundert waren der Nationalsozia- die tschechische Untergrundbewegung lismus mit dem Holocaust und der Kom- ebeonso wie die immer legaler werdende munismus mit seinem Macht- und Missi- ungarische Kulturopposition. onsbewusstsein. Aber auch der Kalte Krieg Dies war die frohe Erkenntnis: Nie- mit seiner geteilten Weltordnung war le- bensgefährlich für die Kultur. Vor dem Zweiten Weltkrieg waren die Jene, die den traditionsbilden- Grenzen durchlässig, alle europäischen den Begriff des Christentums Kulturströmungen in Paris, Rom, Berlin oder München zogen die besten Künst- aus der Europäischen Verfas- ler Europas an sich. Diese Leistungen sung und aus dem gemein- bereicherten die europäische und die samen europäischen Kultur- Weltkultur. Im Kalten Krieg war man schatz gestrichen haben, haben gezwungen, in Gegenpositionen zu den- ken, die Werturteile hingen von einer zur Kastration unserer Kultur krankhaft überbewerteten Politik ab. beigetragen.

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mand kann die traditionellen Wertvor- Verlockungen der Massenkultur, sie be- stellungen der Menschen ersticken. Die gnügen sich nicht mit oberflächlichen Mo- Diktatur und das lächerliche „Kultur- dewellen und Glücksverheißungen. Der angebot” der roten Ideologie stand den globalisierte Markt- und Konsumzwang hochwertigen Werken der Oppositio- widerspricht einem traditionellen kul- nellen und den zensierten Spitzenleistun- turellen Wertebewusstsein, er schwächt gen der westlichen Kultur gegenüber. In – zwangsläufig und im eigenen Interes- der „Unfreiheit” war nur der „Konsum” se – die individuelle Überzeugung und der edlen Werke von Schriftstellern, Mu- vermittelt naturgemäß keine tiefere Kul- sikern und Künstlern möglich. Es wur- tur. Die globalisierte Welt braucht geld- de unheimlich viel Kunst „verbraucht”, orientierte, in ihrem Kulturgeschmack dazu kam die heldenhafte Aura der dem schwache Massen, die jeder Konsum- System trotzenden Künstler. Sie wurden kampagne hilflos ausgeliefert sind. Sie Volkshelden und trugen – besonders in duldet keinen Widerstand der gebildeten Ungarn und in Polen – maßgebend zum Individuen, ob Kulturschaffende oder an- Sturz des Kommunismus bei. spruchsvolle Kulturgenießer. Das Kapital der Globalisierung stützt Demokratie und Globalisierung die Kultur aber auch in zwei Weisen. Zum einen mittels Sponsoring der „mo- Dann fand die große, oft idealisierte dernsten” kommerziellen Kunsttrends im Wende statt. Doch aus dem Westen kam Sinne einer „Wegwerfzivilisation” und nicht der jahrzehntelang entbehrte geisti- im Dienste des beschleunigten Konsums. ge Ansturm, sondern der Kampf um mate- Zum anderen mittels der Unterstützung rielle Güter. Und zunächst nicht Europa, der klassischen Kultur aus der Einsicht sondern Amerikas dritte Klasse. Die Dis- heraus, dass die internationale Elite diese kussion über Werte lag bald nicht mehr dauerhaft wertschätzen wird. in den Händen einer neugierigen freien Die Globalisierung produziert so ein Presse, sondern war an verschiedene In- neues Modell der Zweiklassengesell- teressen gebunden. Die Wertschöpfungen schaft, eine neue Variante des Römischen wurden auf wenige Orte konzentriert, Reichs, indem mit „panem et circenses” und Ostmitteleuropa war in seinen Wert- die Massen stillgehalten, aber gleichzeitig urteilen bald so ratlos und falsch orien- irrsinnige Gewinne abgeworfen werden. tiert wie der Westen. Dazu kommt die Ideologie des (Massen-) Die zweite Gefahrenquelle ist die Glo- Individualismus, der „Selbstverwirkli- balisierung. Die anfangs amerikanische, chung” durch Parfümsorten etc. Alles aber unidentifizierbar „internationale” wird flüchtig und relativ. Dieses Rad der Macht der Multis hat ein prinzipielles Sinnlosigkeit dreht sich rasend schnell, Interesse an dem globalen Kulturverlust jeder neue Trend wird konsumiert und der Weltbevölkerung. Menschen mit ei- schnell wieder vergessen. Und neben- genem Geschmack und Werturteilen sind bei wird unsere Umwelt durch sinnlose schwer zu manipulieren, sie haben feste Abschöpfung abgetötet: Weil etwa das Vorstellungen, was ihnen gefällt und was Auto „das” Konsumobjekt der Welt ist sie kaufen möchten. Sie durchschauen die und jeder fünfte Arbeitnehmer in dieser

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Industrie angestellt ist, kann selbst die Abertausende (kulturell) halb gebildete intelligenteste Regierung der Welt dem „Spezialisten“. nicht viel entgegensetzen, will sie nicht Europa sollte zu einem gemeinsamen enorme Arbeitslosigkeit in Kauf nehmen. Verständnis gelangen, was wir zur Er- Wir haben in den letzten Jahrzehnten ei- haltung und Pflege unserer kulturellen nen erschreckenden Rückzug der Kultur Identität brauchen: Die Erarbeitung ei- in die Elite erlebt. Gleichzeitig verliert die ner wertorientierten Synthese des spe- Kultur ihre breiteren Massen. zifisch europäischen Kulturguts. Ohne detailschwer zu sein, muss sie das ganze Wertbewusstsein tut not kulturelle Gut verständlich und attrak- tiv darstellen. Sie soll die Identitätsbil- Ich nahm einmal an einem Kultur- dung und das Zusammengehörigkeitsge- kongress der Europäischen Union teil. fühl stärken. Zudem bräuchten wir ein Mit Entrüstung hörte ich, dass die west- europäisches Geschichtsbuch und einen lichen Vertreter meinten, Solidarität und Kulturführer als Pflichtlektüre in allen soziale Marktwirtschaft seien das eigent- europäischen Schulen. liche europäische Gemeingut. Wie kann Ohne ein stärkeres Wertebewusstsein man die doppelte Antike, die Romanik, der europäischen Staaten gegenüber ih- Gotik, Renaissance, das Barockzeitalter, ren traditionellen Kultur- und Kunst- die Aufklärung, die weltbestimmenden werten wird es keine Zukunft geben. Werte der Kunst im 19. und im 20. Jahr- Eine Erneuerung der Kultur ist nur durch hundert als das spezifisch Europäische das Bewusstsein der eigenen kulturellen vergessen? Vergangenheit denkbar. Inmitten des ori- Keiner starken Weltkultur würde ein- entierunglosen Pragmatismus sollte man fallen, sich so schnell aufzugeben. Ein ein Wert- und Wissensminimum bestim- Europa ist ohne gemeinsame Kulturtra- men, um dauerhafte Werte von flüchtigen dition und bescheidenes Wertebewusst- Modeströmungen trennen zu können. sein undenkbar. Während wir uns auf Das Tor zu einer tiefsinnigen, lebenslus- dem Reichtum des Kulturerbes ausruhen, tigen und kultivierten Freiheit. geben wir unsere Schätze auf unerklär- liche Weise leicht auf. Was der Bürger in Europa sieht, ist der erbitterte Kampf Gyula Kurucz studierte Germanistik und Lite- um Wirtschaftsmacht, Finanzen und Gü- ratur in Debrecen. Ab 1968 arbeitete er in Bu- dapest als Redakteur, Dramaturg und Lehrer. ter. Was Monnet sagte (oder nicht sagte), 1980-89 war er Chefredakteur des Hungarian gilt heute mehr als je zuvor: Die Erschaf- Book Review. Er gehörte zu den Mitbegrün- fung Europas muss bei der Kultur an- dern der ersten oppositionellen Partei UDF fangen. Der Bologna-Prozess in der Bil- (1987) und wurde 1990 einer der ersten nicht dung aber ist eine Kapitulation vor dem kommunistischen Diplomaten in Berlin. Bis 1995 war er Direktor des Ungarischen Kultur- globalen Diktat. Mit dem umfassenden zentrums (Haus Ungarn) in Berlin. 2001 bis Wechsel zur Bachelor-Bildung verzichten 2006 leitete er das Ungarische Kulturinstitut wir auf die profunden Kenntnisse eines in Stuttgart. Er ist Herausgeber und Verfasser Fachgebiets, auf die Vermittlung des da- diverser Publikationen zu Politik, Kultur- und zugehörigen „Weltbilds“, wir entlassen Zeitgeschichte.

110 Wir müssen Leib und Seele immer zusammenhalten. Es hat keinen Sinn, sonntags über Kultur zu reden und montags bis freitags über Wirtschaft, Politik und Militär. Ideen sind wichtig. Sie brauchen Träger. Und als Träger brauchen sie das Europa der Bürger.

Georg Boomgarden, Staatssekretär des Auswärtigen Amtes

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Kultur in Europa –

Europa in der Kultur

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Kultur in Europa –

Europa in der Kultur

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Der sprachlose Kontinent Die Zeitungen haben noch kein Mittel gefunden, um der europäischen Sprachenvielfalt Herr zu werden. Stattdessen bekämpfen Politiker und Journalisten sich gegenseitig. Von Peter Preston

Italiener, Spanier und mancher Franzo- se und Grieche saßen nun in den vorde- ren Reihen. Ich hatte mich weiter hinten eingereiht, zwischen Schweden, Dänen und Holländern. Wir grummelten und ärgerten uns angesichts der leeren und inhaltslosen Rhetorik. Europa hatte sich auf natürliche Weise aufgeteilt, in Pre- diger und Pragmatiker. Unser Journalis- mus hatte keinen bestimmten Stil oder eine gemeinsame Geschichte. Wir Jour- nalisten hatten kaum Mittel, um uns un- tereinander zu verständigen, geschwei- ge denn mit den Lesern jenseits unserer ch beginne mit einer persönlichen nationalen Grenzen. Anekdote, die mein europäisches IDenken geprägt hat. Vor 30 Jahren Beseeltes Europa? bekam ich als neuer junger Redakteur ei- ner britischen Zeitung meine erste Ein- Haben sich die Dinge seither verän- ladung als Referent bei einem internati- dert? Ein wenig, vielleicht. Nach der onalen Presseseminar. Das schöne und Befreiung von Francos Diktatur haben anspruchsvolle Motto der Konferenz die Spanier einige bemerkenswerte Zei- drehte sich um Freiheit, Demokratie und tungen von großem Renommee hervor- das gedruckte Wort, und es lockte altein- gebracht. gesessene Journalisten aus ganz Europa Der Luftverkehr hat in beachtlichem nach Rom, wo unsere italienischen Gast- Maße zugenommen, in London ersteht geber zuerst abstrakte Grundsatzreden man am Kiosk schon früh am Morgen hielten, um dann italienische Politiker die druckfrische Zeitung aus Ljublja- ans Rednerpult zu bitten, die ihre schö- na. Einige Fernsehsender wie Euronews ne Sprache in blumiger Prosa zur Schau haben sich ihren Platz in der interna- stellten. Nach dem Tee am ersten Tag be- tionalen Nachrichtenwelt geschaffen. merkte ich, dass sich offenbar eine Sitz- Deutsche, italienische, spanische und ordnung herauskristallisiert hatte. Die französische Nachrichtenagenturen ha-

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ben an Einfluss gewonnen (während die Öffentlichkeit verkümmern die wich- Bedeutung amerikanischer Agenturen tigsten Instrumente der Union. Ohne schrumpft) und Reuters ist nach wie vor sie rückt Europa nicht zusammen und die führende Agentur weltweit. Doch ist erstarrt im Status quo. Ohne sie gibt es nicht alles Gold, was glänzt. Im Herzen keine Annäherung, ohne sie erstickt das Europas klafft ein düsteres und bedroh- Projekt einer gemeinsamen Union. Wer liches Informationsloch. Ein Geflecht wird die Debatte um eine europäische aus Ländern und Sprachen ist zu einem Verfassung wiederbeleben? Es gibt nie- großen – und in der Tat faszinierenden manden, der sich auf dem Kontinent Ge- – wirtschaftlichen und politischen Netz hör verschaffen kann, da keine Stimme geknüpft, innerhalb einer Union, die im- solche Distanzen überwindet. mer wieder die Welt verblüfft. Abgese- hen von farblosen Zusammenkünften Regionalpatriotische Presse in Brüssel hat die Union offenbar kei- ne Mittel, um ihre Hauptpersonen in Um Fehler ausfindig machen zu kön- den Einigungsprozess mit einzubinden nen, muss man zunächst die Differenzen oder Millionen von Bürgern eingehend erkennen. Die Beschäftigten bei den Zei- zu informieren. Obwohl von ihnen ihre tungen selbst, abgesehen von Beamten eigene Zukunft abhängt. Das ist keine aus Brüssel abgesehen, haben Mühe, die- aufstrebende Vereinigung, das sind kei- se Notwendigkeit zu erkennen. Eine ne Vereinigten Staaten von Europa, die Zeitung ist eine Zeitung und nichts an- mit den USA um das „United“ wettei- deres. Nein, keinesfalls. Man darf sie fern. Es ist eine Ansammlung einander nicht losgelöst von ihrem Kontext be- freundlich gesinnter Staaten ohne jedes trachten. Die Zeitungslandschaft der Interesse an einer tiefer gehenden Ver- meisten großen europäischen Staaten ständigung. zeichnet sich weniger durch eine nati- Nur hin und wieder macht sich im An- onale als durch eine regional geprägte satz etwas bemerkbar, das man als „eu- Presse aus. Deutschland brüstet sich mit ropäische öffentliche Meinung” bezeich- großen Namen in Frankfurt, Hamburg, nen könnte. Aber ohne diese Form von Berlin und München. Aber eigentlich sind es Blätter, die vorrangig Interessen ihrer jeweiligen Region bedienen und Das ist keine aufstrebende Ver- sich so ihre Nischen sichern. Dasselbe einigung, das sind keine Ver- Bild zeichnet sich in Italien ab. In Rom, einigten Staaten von Europa, Turin und Mailand werden die größten Zeitungen publiziert. Sobald der TGV die mit den USA um das „Uni- ein paar hundert Kilometer von Paris ted“ wetteifern. Es ist eine An- entfernt an Geschwindigkeit verliert, ge- sammlung einander freundlich winnen die großen regionalen Zeitungen gesinnter Staaten ohne jedes In- die Oberhand: Midi Libre, Sud-Ouest und alle anderen, Le Monde schafft es teresse an einer tiefer gehenden nicht über Lyon hinaus. Diese Struktu- Verständigung. ren haben mit der Zeit einen Mangel an

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Konkurrenz und demzufolge direkter Interessen, die ihnen ihr Überleben si- Konfrontation bewirkt. Auch wenn die chern. Daneben klaffen die Differenzen einflussreichen Blätter in Deutschland in der Sprache und einer Presse, deren oder Italien unterschiedliche Perspek- Zugang den meisten Europäern verwehrt tiven verfechten, beziehen sie sich in bleibt. Für die Mehrheit der Europäer ist erster Linie auf ihre Heimatregion. In sie im wörtlichen Sinne unlesbar. Filme diesem Sinne gleichen sie den großen und Fernsehserien werden synchroni- Stadtzeitungen in Los Angeles, Atlanta siert. Zeitschriften machen aus Hola! ein und Chicago. Sie sind der lokalen Sache Hello! und Exportschlager trumpfen mit treu und spiegeln den Kanon der ent- internationalen Filmstars, Matadoren, sprechenden Interessen. Royals und Playboys. Zeitungen hin- Nicht ohne Konsequenzen. Beispiels- gegen haben noch kein passendes Re- weise der Glaube, man müsse nur die zept gefunden. Sie sind abhängig von mächtigsten Entscheidungsträger der der Sprache, von den jeweiligen Rezi- Umgebung erreichen, um dann Tausen- pienten und vom Gemeinwesen. Wenn de anderer Leser mit weniger Macht und etwa deutsche Zeitungen versucht ha- Einfluss in eine Nebenrolle zu drängen. ben, ihre Formate und ihr Personal in Im Gegenzug ist die Verbreitung rela- anderen EU-Ländern salonfähig zu ma- tiv eingeschränkt und die große Masse chen, haben sie oft einen herben Rück- greift nur selten zur Zeitungslektüre. schlag erlitten. Die Leserschaft von Zeitungen ist im Man denke nur daran, wie langsam internationalen Maßstab nicht ausge- die spanische Zeitung „El Sol“ in Madrid prägt, ebenso wenig wie das politische Fuß fasste. Rupert Murdoch mag vier der Bewusstsein. Demografische, geogra- einflussreichsten Zeitungen in Großbri- fische und gesellschaftliche Faktoren ha- tannien besitzen, aber er überlässt die ben ihre Rolle und ihr Image geprägt. Gestaltungs- und Personalfragen seinen Blickt man in Länder mit anderen Ar- Managern vor Ort in den Docklands von beitsstrukturen, stellt sich die Situation London. Er kann Filme und Fernsehsen- anders dar. Manche sind so klein, dass dungen rund um den Globus verkaufen. die „lokale“ Presse auch internationale Er kann sich gigantische Internetfirmen Schlagkraft hat: In Kopenhagen oder wie MySpace einverleiben. Aber was die Amsterdam kristallisiert sich die Selbst- Zeitungen betrifft, tastet er ihre Eigen- definition durch redaktionelle Politik arten nicht an. Noch mehr Unterschiede und Debatten heraus und beruht nicht, gefällig? Geschichte, Geografie, Publi- wie aktuell vielerorts zu beobachten, auf kum, Sprache, Personal und Stil haben einem Konsens. Nahezu 30 Millionen wir abgehakt und dabei nur wenig Ge- Europäer lesen im Alltag eine Zeitung meinsamkeiten gefunden. Dazu kommt und definieren sich selbst – vom Glauben oft eine ernüchternde Haushaltslage. über Status, Job, Geschlecht und Ehrgeiz Manche Länder sind groß, mit entspre- – über „ihre“ Zeitung. Die Industrie ist chend reichweitenstarken und reichen vollkommen anders strukturiert, ebenso Zeitungsverlagen. Sie leisten sich Kor- wie die publizierten Zeitungen: in Bezug respondenten in Paris, Berlin, Madrid auf das Design und auf die jeweiligen und London ebenso wie in Washington

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und Moskau. Sie öffnen die Türen zur uns durchs Dunkel, dazu verdammt, mit Welt. Aber wie steht es um die Verleger der Brüsseler Brille nur einen flüchtigen in kleineren Staaten, sei es im Baltikum Blick auf die Wirklichkeit zu erhaschen. oder in einem Splitterstaat des ehema- Es gibt keine direkten Kommunikati- ligen Jugoslawiens? onskanäle. Wir verfügen nicht über ver- Dort ist die Bevölkerung, die einen gleichbare Basisinformationen und kön- unterstützt, kleiner und weniger gut be- nen so nicht mitreden, wenn es um die tucht: Dann werden die Mittel für ei- Definition von Demokratie geht. Fast nen Europakorrespondenten in Brüssel zwei Jahrzehnte ist es her, seit Helmut zur Quadratur des Kreises. Also sind Schmidt die Idee hatte, europäische Re- Nachrichten aus den restlichen 24 EU- dakteure an einen See in Hamburg ein- Ländern – oder der Gruppe der EU-As- zuladen und das Problem zu erörtern. Er piranten – jeweils dünn gesät und be- wollte ein Magazin ins Leben rufen, das schränken sich auf die bezahlbaren in viele Sprachen übersetzt europäische Nachrichtenagenturen in wenigen Spra- Themen in jedem europäischen Land be- chen. So werden oft sogar grundsätz- handelt. Damit wollte er eine Plattform liche Fragen nicht grenzüberschreitend schaffen, auf der Europa über sich selbst diskutiert. Die USA werden fast rund spricht. Aber wer sollte die Federfüh- um die Uhr von nationalem Fernsehen, rung für solch ein Projekt übernehmen? nationalem Kabelnetz und nationalen Und wer sollte es finanzieren? Das Pu- Bloggern zusammengehalten. Nach die- blikum pflichtete der Vision des ehema- sen Ressourcen sucht man in Europa ver- ligen deutschen Kanzlers wohlweislich gebens. bei und ließ es in Forschungsstudien ver- sanden, über die nie berichtet wurde. Fehlende Kommunikationskanäle Kurz, es war kein Wille zum Fortschritt vorhanden. Aber ich war immer noch der Was weiß Bratislava von Helsinki und Meinung, dass etwas unternommen wer- Athen von Riga? Es sind nicht nur Poli- den musste, und mit größter Anstren- tiker, die sich nicht um die Kommuni- gung riefen wir „Guardian Europe“ ins kation scheren: Die grundlegende und Leben, eine umfangreiche wöchent- tägliche Berichterstattung fehlt vollkom- liche Beilage aus Meinungsartikeln von men. Es sind keine Reporter vor Ort. Es Schwesterverlagen auf dem ganzen Kon- gibt keine bequeme Lösung. Wir tasten tinent, die diese wiederum aufgreifen und für sich selbst nutzen konnten. Das Die USA werden fast rund um Heft war praktisch, interessant und kam bei der Leserschaft gut an. Und es war die Uhr von nationalem Fernse- exorbitant teuer. Die Werbeagenturen hen, nationalem Kabelnetz und waren auf nationale Märkte eingestellt nationalen Bloggern zusammen und nicht auf die Entwicklung grenz- gehalten. Nach diesen Ressour- überschreitender Konzepte (und sind es zu einem großen Teil immer noch nicht). cen sucht man in Europa verge- Die Übersetzungskosten überstiegen das bens. Budget. Großbritannien schlitterte in

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eine Rezession und setzte Hoffnungen teressieren sich für das Preisniveau der in Projekte, die zum Scheitern verurteilt Agrarprodukte in der Region, für den waren. Das war das Ende von „Guardian Bau neuer Brücken und Straßen, für Le- Europe“. Es lebte unter einem anderen benshaltungskosten und lokale Tarifver- Namen in den spätern 90er Jahren als einbarungen. All das ist unverständlich Teil einer täglichen weltweiten Presse- genug. Es ist das, was die Leser aus ihren schau wieder auf, aber auch diese Ver- Zeitungen erfahren möchten. Es macht sion überlebte keine weitere Kürzungs- die Nachrichtenversorgung seitens der runde. Kommission zu einer bilateralen Ange- Derweil kristallisierte sich der Kern legenheit, zu einer engen und engstirni- des Dilemmas klar heraus. Wie kann gen Beziehung zwischen dem Brüsseler ein Teil Europas sich in die Debatten Beamtenapparat und zupackenden Pu- eines anderen Teils einmischen oder blizisten, die das reibungslose Funktio- auch nur seine Belange wahrnehmen? nieren der EU ermöglichen, ohne es zu Wie soll eine Annäherung funktionie- hinterfragen. Aber dieses System ver- ren, wenn wir von den Ereignissen jen- breitet keine Informationen. Es unter- seits unserer Grenzen keine Ahnung ha- stellt, dass Europa ein Gemischtwaren- ben? Natürlich übertreibe ich. Euronews laden aus speziellen Deals, Bedürfnissen Cable ist immer noch auf Sendung. Die und Interessen ist. Herald Tribune und die Financial Times Keine dieser Routinen funktioniert gehören zur morgendlichen Lektüre ei- in anderen Ländern mit anderen Arten ner ausgewählten Leserschaft in allen medialer Berichterstattung. Großbri- wichtigen Hauptstädten. Zahlreiche tannien fungiert gleichzeitig als gutes wissenschaftliche Publikationen grei- und schlechtes Beispiel. Beinahe unbe- fen Kernideen auf und bauen sie aus. Das merkt hat sich der Zwitter eines Bun- Internet hat schon jetzt ein unerschöpf- desstaats herausgebildet: Schottland, liches Potenzial für einen gegenseitigen Wales und Nordirland haben eigene Nährboden. Parlamente und eigene direkte Sprach- Aber bislang sind diese Beispiele weit- gehend bedeutungslos. Keines der Me- dien hat es vermocht, der europaweiten öffentlichen Meinung Raum zu geben, Betrachtet man die Referenden und ohne sie kann es keine europaweite in den Niederlanden und in Demokratie geben. Frankreich und malt sich aus, Wir täuschen uns, wenn wir mei- was passiert wäre, wenn Ab- nen, solch eine öffentliche Meinung sei auf Knopfdruck machbar. In den Pres- stimmungen je relevant wären, sestuben von Brüssel sitzt ein Teil des zeichnet sich ein Phänomen Problems. Die meisten Reporter hier ar- ab, das über einen vorüberge- beiten für die regionale Presse, für die henden Rückschlag hinausgeht: Seismografen opportunistischer Mei- nungen, die ich weiter oben beschrie- anhaltender Stillstand und Ver- ben habe. Was ist ihre Mission? Sie in- wirrung.

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rohre nach Brüssel. Und sie haben kein Die öffentliche Meinung zählt. Man be- Problem mit Finanzspritzen aus Brüssel. trachte den Irak, Iran, Libanon und Af- Wenn Europa den Bau einer Brücke in ghanistan, wo zahlreiche Truppen aus Schottland unterstützt, weist ein Schild Europa sich auf verschiedenen Gebieten am Straßenrand auf den Geldgeber hin. einsetzen. Auch hier zählt die europä- In England passiert das nicht sehr oft. ische Meinung. Etwas boshaft ausge- Hier ist Europa eine Art dreckiges Ge- drückt könnte man George W. Bush als heimnis. Hier sind es die Schwächen der Wegbereiter einer neuen europäischen Union und ihr Stillstand, an denen sich Gemeinschaft betrachten. Und dann ist die Kolumnisten laben. Hier interes- da natürlich, ganz zentral, die Verfas- siert sich die kämpferische Presse nicht sungsfrage. für die kleinen Schritte in Brüssel und Betrachtet man die Referenden in den konzentriert sich auf Szenarien, in de- Niederlanden und in Frankreich und nen die nationale Souveränität bedroht malt sich aus, was passiert wäre, wenn wird. Kein Wohlwollen in Sicht, der An- Abstimmungen jemals relevant wären, reiz ist anders gepolt und spiegelt und zeichnet sich ein Phänomen ab, das über bedingt zugleich die nationale Debat- einen vorübergehenden Rückschlag hin- te. Fragt man einen britischen Verleger ausgeht: anhaltender Stillstand und Ver- nach den Gründen, wird er wohl von wirrung. Wettbewerb sprechen und von der Not- Natürlich hält Europa seinen Dauer- wendigkeit seines Blattes, etwas Eigenes lauf noch eine Weile durch, heißt So- hervorzubringen, das ihn von der Kon- fia und Bukarest willkommen, setzt kurrenz abhebt. Wieder einmal sind die Zagreb und Ankara auf die Warteliste. Strukturen schuld und die Abneigung Aber auf diese Weise verliert Europa zum Konsens. Darf man dennoch auf seine Bedeutung. Es wird träge, hält bessere Zeiten hoffen? Einsicht ist je- als Sündenbock für alle Missstände her denfalls der erste Weg zur Besserung. und macht nur selten positive Schlag- Und einige Beispiele aktueller Bericht- zeilen. Es hat gleichzeitig an Schwung- erstattung, so düster sie auch sein mag, kraft und Unvermeidbarkeit verloren. lassen den Beginn einer Entwicklung Das war schon den Gründervätern der erahnen. Union ein Dorn im Auge. Es gibt kei- ne Alternative zur schrittweisen An- Zukunft europäischer näherung. Die Erkenntnis kommt (zu) Kommunikation spät: Jetzt erleben wir das Ausmaß ei- ner fehlenden öffentlichen Meinung. Man betrachte nur die Einwanderer- Die nahe liegende Beschuldigung an ströme nach Westeuropa aus den östli- die EU nach der Abstimmungsnieder- chen EU-Ländern und darüber hinaus. lage lautete, sie habe den Draht zu ih- Man betrachte im Besonderen die Frage ren Bürgern verloren – und in der Tat der türkischen EU-Mitgliedschaft. Dann deutet alles darauf hin. Man kann sich ist die grenzüberschreitende Rede bei sehr wohl fragen, wie der schwerfällige uns – europaweit – von Kultur, Religion, Brüsseler Bürokratieapparat die Bürger Ängsten, Hoffnungen und Versöhnung. erreichen soll.

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Was tun? Die Gefahr liegt wie immer me des amerikanischen Films, des ame- darin, einfache Antworten auf komplexe rikanischen Fernsehens, amerikanischer Fragen zu suchen. Aber es gibt aussichts- Thesen, die so auf keinem anderen Kon- reiche Maßnahmen. Zunächst müsste tinent außer Australien und Südosta- sich die Kommission (und das Parlament sien vorkommt? Die größte Gefahr liegt in Straßburg) dem Journalismus, insbe- jedoch in gegenseitigen Schuldzuwei- sondere dem Fernsehjournalismus, öff- sungen. Brüssel schanzt Journalisten die nen. Im Moment stößt sie die Zuschau- Schuld an Fehltritten und Auslassungen er ab und entzieht einer nachfolgenden zu. Die Journalisten geben Brüssel die Berichterstattung in den Zeitungen den Schuld. Und die Politiker prangern an, Boden. Des Weiteren wären Übersetzer- wer oder was gerade nahe liegt. dienste notwendig, die nicht Stunden Ein Umdenken wäre möglich, wenn und Tage damit zubringen, Finnisch ins man nur anerkennen wollte, was den Slowakische zu übersetzen, sondern die Weg versperrt. Es wäre möglich, wenn Bürger mit der täglichen Übersetzung Europas Politiker ein aufrichtiges In- der wichtigsten und kontroversesten teresse an der Herausbildung einer eu- Meinungsartikel der europäischen Pres- ropäischen öffentlichen Meinung an den se auf dem Laufenden halten. Wenn di- Tag legen würden. Und es wäre möglich, ese jeden Morgen im Internet publiziert wenn sich Zeitungsjournalisten und würden, inklusive Raum für Blogger, Fernsehreporter zu einer besseren Zu- wäre die erste Hürde überwunden. sammenarbeit genötigt sähen, weil ihr Zudem ist es unabdingbar, ein Selbst- Publikum sie erwartet. Wir bewegen uns bewusstsein an den Tag zu legen, das den also in einem Teufelskreis von Verant- ärgsten Feind, die Apathie, bekämpft. wortlichkeiten, der sich langsam dreht In den USA sitzen ebenso viele Korre- und vielleicht zum Stillstand kommt. spondenten der gewichtigsten britischen Aber wenn wir das Dilemma dahinter Zeitungen wie in der ganzen EU. Hier erkennen, erkennen wir vielleicht auch darf mit Recht nach dem Sinn gefragt Wege, aus diesem Kreis auszubrechen. werden. Wie würden Leserumfragen Nur wenn wir die Sache aktiv angehen, dazu ausfallen? Hier stellt sich eine kommen wir voran. schwerwiegende Frage. Warum ist die Berichterstattung über eine fremde Ge- Aus dem Englischen von Jenni Roth sellschaft so tief greifend, während un- sere eigene Gesellschaft weitgehend un- Peter Preston war von 1975 bis 1995 Heraus- beachtet bleibt? Warum vernachlässigen geber von „The Guardian” in London, bevor er Chefredakteur des „Guardian” und des Magazine von politischer Bedeutung in „Observer” wurde. Zur Zeit arbeitet er als Ländern wie Großbritannien die euro- Kolumnist für beide Publikationen und leitet päische Dimension beinahe willfährig? die Stiftung des „Guardian“, die Journalisten Warum wird die Union auf das Abstell- aus Osteuropa, Afrika und dem Nahen Osten gleis geschoben? Warum sollte man dar- ausbildet. auf warten, dass die Praxis bestätigt, was Forschungsergebnisse schon lange ankündigen: eine europäische Übernah-

122 Europa auf dem Bildschirm Eine europäische Identität gibt es nach Meinung der Autorin nicht, ein europäisches Mediensystem oder eine fundierte europäische Öffentlichkeit sei auch nicht in Sicht. Noch seien die nationalen Gren- zen meist auch die Grenzen der Medienmacht. Die wirkliche europäische Öffentlichkeit existie- re nur im politischen Dunstkreis von Brüssel: Bei Politikern, EU-Beamten, Lobbyisten und Korre- spondenten. Von Deirdre Kevin

stützung für das Projekt kann nur erzielt werden, wenn die europäischen Institu- tionen oder nationalen Regierungen die Medien nutzen. Aber worum genau geht es, welche medialen Botschaften erhal- ten die Bürger von der EU und ihren na- tionalen Regierungen? Der Politik- und Wirtschaftsexperte Tom Garvey (2005) unterscheidet bei der Unterstützung der EU zwischen den „Herzen“ (Werten) und dem „Verstand“ (Wirtschaft). Hier stellt sich die Frage, wo die Kommunikation ihre Schwerpunkte setzt.

m Zuge der Diskussionen um die Zu- Europäisches Mediengeflecht kunft Europas hat sich die Erwar- Itung an die Medien herauskristalli- Im Zuge der Erweiterung der Union siert, den Integrationsprozess positiv zu zu einer „breiteren und tieferen“ Gemein- beeinflussen. Nachvollziehbar ist, dass die schaft haben sich die Diskussionen und Medien die Öffentlichkeit über europä- Initiativen mehr und mehr auf drei Pro- ische Themen informieren sollen, ein Dis- blemfelder konzentriert: das demokra- kussionsforum zu europäischen Themen tische und das Kommunikationsdefizit bieten und ihre Aufgabe journalistischer der EU sowie die Rolle der Medien bei der ethischer Standards gemäß erfüllen. An- Vermittlung von Europa. In Bezug auf De- dere wiederum erwarten, dass die Medi- mokratie und Regierungen auf EU-Ebene en den europäischen Integrationsprozess spielt auch die Kommunikation zwischen aktiv begleiten und fördern sollen. Das der EU und ihren Bürgern sowie den eu- eine schließt das andere nicht zwangs- ropäischen Medien, der europäische Jour- läufig aus: Indem die Bürger über Europa nalismus und die Berichterstattung über informiert werden, fördern die Medien europäische Angelegenheiten sowie die automatisch die Herausbildung eines eu- Kommunikation innerhalb der europä- ropäischen Bürgertums, ob mit oder ohne ischen Politikfelder eine Rolle. Folgen für die Politik. Wirkliche Unter- Die Medien, besonders Filme, eignen

123 Med ien das meistgenutzte Medium. Die Bürger haben seit 1979 durch die Wahlen zum Europäischen Parlament größere Mit- sprachemöglichkeiten. Die Kernbotschaft steckt im Grad des Interesses und der Teil- habe: Wahlergebnisse werden als Indika- toren für das gesamte Projekt gewertet, sich bestens zur Vermittlung politischer während Wahlkampagnen und Wahler- und kultureller Informationen über an- gebnisse offenbar wenig über die öffent- dere europäische Länder und Kulturen. liche Unterstützung der EU-Politik ver- Ausschlaggebend ist auch die Gestalt der raten. Niedrige Wahlbeteiligungen auch europäischen Kommunikationssysteme: bei anderen Referenden und die häufige die politische Ökonomie der Medien, die Ablehnung der Integration schüren zeit- Art und Weise, wie verschiedene Rezipi- weise die Angst, dass es keinen Konsens enten diese Medien nutzen, sowie der poli- über Europa gibt, dass die Bürger außen tische und demokratische Kulturrahmen. vor bleiben und dass daher mehr Infor- Die Erläuterung der genannten Punkte mationen über weitere Kommunikations- wird hoffentlich konkreter zeigen, wie wege verbreitet werden müssten. sehr die Rollen der Medien im europä- Die EU-Institutionen haben versucht, ischen Integrationsprozess auseinander- des Kommunikationsdefizits auf verschie- klaffen können. denen Wegen Herr zu werden. Eine Poli- tik der Offenheit und Transparenz in Be- Hierarchische oder gleichwertige zug auf den Zugang zu Informationen und Kommunikation? Dokumenten – es wurden Informations- kampagnen durchgeführt (Bürgerrechte, Dem sogenannten demokratischen De- Euro, Erweiterung); der audiovisuelle fizit der aktuellen europäischen Politik Service der Europäischen Kommission wurde vor allem durch den Verfassungs- unterfüttert die Berichterstattung der EU prozess Tribut gezollt. Bis zur Einheit- mit Video, Bild und Ton, und die Kommis- lichen Europäischen Akte 1986 (der die sion führte 1995 den Europa-Server ein. Zusammenarbeit einläutete) und dem 1999, nach dem kollektiven Rücktritt der Maastricht-Vertrag von 1992 (der mit dem Kommission, versuchte man, die Presse Mitentscheidungsverfahren das EP mit und Kommunikationsdienste zu verbes- dem Rat auf eine Stufe stellte) hatte das sern und zu stärken. Europäische Parlament eine rein bera- Die Bedeutung des investigativen tende Funktion, und bis 1979 wurde das Journalismus sowie der Zusammen- Parlament nicht einmal direkt gewählt. arbeit der Europakorrespondenten in Zur selben Zeit hat sich seit der Ent- Brüssel während der Krise ist nicht zu wicklung des Eurobarometers in den 70er unterschätzen. Diese Erkenntnis hat Jahren ein starkes Interesse am öffent- zu einer Professionalisierung der Spre- lichen europäischen Bewusstsein, am Ver- cher der Europäischen Kommission ge- ständnis über Europa und die Einstellun- führt, und die Kommission führte, ver- gen gegenüber dem Kontinent sowie dem gleichbar mit nationalen Regierungen, Integrationsprojekt herausgebildet. Das ein Nachrichtenmanagement. Zwischen Eurobarometer unterstreicht weiter das 2004 und 2006 entwickelte man Infor- Gewicht der Massenmedien, insbesonde- mations- und Kommunikationsstrategien, re des Fernsehens als Informationsquelle deren Ergebnisse in einem „Weißen Pa- über die EU.1 Trotz des sprunghaften An- pier zu einer europäischen Kommunika- stiegs der Internetnutzung ist das Fernse- tionspolitik“ festgehalten wurden. Darin hen, gefolgt von der Presse, immer noch enthalten sind außerdem weitere Ideen

124 für Initiativen wie etwa „going local“ – Med ien ein Aufruf zu einer stärkeren Verknüp- fung von regionalen und lokalen Medien – und die optimale Nutzung von Infor- mations- und Kommunikationstechnolo- gien. Andere Projekte stellen Mittel für europäische Programme bereit: Derzeit kofinanziert das Europäische Parlament Medien die Förderung einer nationalen „informative und bewusstseinsfördernde Identität auf europäische Ebene übertra- Fernsehprogramme”.2 Der Einfluss von gen? Es gibt Fürsprecher eines europä- Informationskampagnen und Kommu- ischen Mediensystems, das allen Bürgern nikationsstrategien auf das Wissen und zur Verfügung steht. Bisher sind solche Einstellungen der Bürger zu Europa ist Gedankenspiele aber nicht umgesetzt schwer abzuschätzen, nicht zuletzt, weil worden; ein Hauptgrund ist die Sprach- wissenschaftliche Erhebungen hierzu barriere. Nachrichten-, Musik- und Sport- quasi nicht existieren. sender mit internationalem Publikum wie Euronews, BBC World, CNN und Publi- Informationspool europäische Medien kationen wie der Economist oder die In- ternational Herald Tribune richten sich Zur Rolle der Nachrichtenmedien und in erster Linie an Eliten aus Politik und deren Berichterstattung über EU-Ange- Business und dienen gleichzeitig Europa- legenheiten, insbesondere im Hinblick korrespondenten als wichtige Informati- auf die wachsende Bedeutung der EU in onsquelle. der nationalen Politik gibt es zahlreiche Seite an Seite mit den Politikern agie- Studien.3 Ein Gros konzentriert sich auf ren mehr als 1.000 EU-Korrespondenten die Rolle der Medien in einer demokra- und mehr als 2.000 Lobbyisten. Nach tischen Gesellschaft: die Versorgung der einem Bericht des Europäischen Parla- Bürger mit politischen und wirtschaft- ments von 2003 arbeiten 70 Prozent der lichen Informationen sowie einem Dis- Lobbyisten in Brüssel für Wirtschafts- kussionsforum für besagte Themen. Sie unternehmen, und nur 20 Prozent reprä- überwachen die Akteure in Politik und sentieren Nichtregierungsorganisationen Wirtschaft und sichern so die Demokra- (inklusive Gewerkschaften, Öffentliches tie. Auch zum Journalismus auf EU-Ebe- Gesundheitswesen, Umweltgruppen etc.). ne und zur Nachrichtenproduktion wur- Ergebnisse vergleichender Studien über den einige Studien durchgeführt. Eine europäische Nachrichten und Programme weitere Schlüsselfrage für die Forschung innerhalb nationaler Grenzen geben Auf- ist die Herausbildung einer europäischen schluss über die Medientypen, die ten- Identität – inwieweit können europäische denziell mehr Informationen zu Europa liefern (Qualitätspresse und öffentlich- rechtlicher Rundfunk), über die Länder Der Einfluss von Informati- mit hervorstechender Berichterstattung onskampagnen und Kommu- (Deutschland, Frankreich und Skandi- navien), über die besonderen Hindernisse nikationsstrategien auf Wissen beim Handling europäischer Themen in und Einstellungen der Bürger den Medien (komplexe Sachverhalte, zur Europa ist schwer abzu- fehlendes Interesse der Blattmacher und schätzen, nicht zuletzt, weil des Publikums, zähe Legislative), und schließlich untermauert sie die Annahme, wissenschaftliche Erhebungen dass die EU hauptsächlich in Politik- und hierzu quasi nicht existieren. Wirtschaftsressorts stattfindet.

125 Med ien glieder waren die Europäischen Gemein- schaften eine Nachkriegslösung, die Krieg zwischen den Mitgliedstaaten verhindern und sie wirtschaftlich als Kriegsmotoren durch die Kohle- und Stahlindustrien ver- binden sollte. Spätere Mitgliedstaaten tra- ten vor allem aus wirtschaftlichen Grün- Trotz des breiten Spektrums natio- den der Union bei, ethische Aspekte waren naler Eigenheiten und Trends – journalis- zweitrangig. Diese historisch begründete tische Kultur, brisante Themen, Medien- Unterstützung der EU beeinflusst immer landschaften – bleiben die maßgeblichen noch nationale Denkweisen und das Wäh- Faktoren dieselben: Medienmärkte ver- lerverhalten. 1998 fanden Wissenschaftler sorgen die Bürger oder den Konsumenten. bei einer Untersuchung zur Debatte über Dabei beeinflusst der öffentliche Dienst eine einheitlichen Währung in Europas und redaktionelles Ethos ersteres, zweites elitären Kreisen heraus, dass Europa für beruht auf Spekulationen über Interessen- die britischen Eliten das „Andere“ und profile oder auf Umfrageergebnissen. Pau- damit eine Bedrohung der britischen Sou- schal ausgedrückt bestätigen die Studien veränität repräsentierte. Für die deutsche die sogenannte Nachrichtenwerttheorie, Elite war Europa eine positive Alternative nach der unter anderem Nachrichten für zum „anderen“ deutschen Nationalismus. ein Individuum nur von Interesse sind, Der traditionelle britische Skeptizismus wenn sie sein eigenes Leben betreffen: je und die strategische Distanzierung von näher, desto relevanter; nationale Regie- Europa hält trotz des Engagements der rungsformen und deren Folgen betreffen derzeitigen Regierung an, die Tendenz am ehesten die eigene finanzielle Lage, wird von der Regenbogenpresse verstärkt. Beschäftigung, Gesundheit und Bildung. Zwei britische Forscher wollten wissen, Hier stößt die Macht der Medien an ihre wie dieser Pressesektor die Öffentlichkeit Grenzen; abgesehen von der Bemühung beeinflusst. In einer Reihe von Interviews um Genauigkeit und Qualität im Sinne mit Leitern von EU-Vertretungen in den von Analysen, Kommentaren und Hin- Hauptstädten der Mitgliedsländer sagen tergrund ist ihre Rolle als unabhängiger nur die britischen Vertreter, dass die Be- und unparteiischer Wächter politischer schäftigung mit „Euromythen“ in den Prozesse eingeschränkt. Medien einen großen Teil ihrer Arbeit Erschwert wird der Prozess dadurch, ausmacht. dass der Umgang und die Verarbeitung der Auch wenn der Erweiterung 2004 zu- Informationen durch das Publikum kaum stimmende Referenden vorausgingen, zei- berechenbar ist. Die Erhebungen des Eu- gen folgende Umfragen, dass die Zufrie- robarometer sind dabei ein hilfreiches, denheit und Unterstützung in den neuen aber unzureichendes Instrument.4 Ländern zurückgegangen ist. Kann man also davon ausgehen, dass diese Länder Mediale Europabilder allein auf wirtschaftlichen Profit hoff-

Wenn die Medien sich weitestgehend am Bedürfnis des Publikums orientieren, könnte man davon ausgehen, dass sie nati- Nachrichten sind für ein Indivi- onale und individuelle Haltungen gegenü- duum nur von Interesse, wenn ber Europa beeinflussen. Die Idee der euro- sie sein eigenes Leben betref- päischen Integration hat für verschiedene Nationen immer auch verschiedene Be- fen. Hier stößt die Macht der deutungen. Für die sechs Gründungsmit- Medien an ihre Grenzen.

126 ten? Während der Kampagne zum Ver- Med ien trag von Nizza, als die irischen Wähler das erste Mal gegen eine weitere Integration stimmten, lancierten beide Seiten vielsa- gende Slogans. Die Pro-Fraktion skan- dierte: „Uns geht es mit Europa besser“. Die Neinsager prophezeiten: „Ihr werdet Arbeit, Geld und Macht verlieren“ oder zu Digital Terrestrial Television (DTT), „Goodbye UN, hello NATO“. An dieser also digitalem Fernsehen – ein Viertel der Stelle manifestiert sich die Unterschei- irischen Haushalte Sky Digital Television dung zwischen dem Erobern der „Her- mit bis zu 206 Programmen. Im Licht die- zen“ und des „Verstands“ der Bürger. Oft ser Angebotsexplosion für das nationale richten sich alle Hoffnungen auf das Auf- EU-Publikum ist die Frage aufgetaucht, blühen der Wirtschaft, was allzu oft Ent- inwieweit die traditionell identitätsstif- täuschungen nach sich zieht. Wenn Euro- tende Rolle der Medien (sei es national pa und die Integration innerhalb der EU oder europäisch) im demokratischen Le- für die Öffentlichkeit zwei Paar Schuhe ben der Bürger eingeschränkt oder aus- sind, ist es auch schwierig, einen gemein- geweitet werden sollte. Man richtet den samen Nenner von Meinungen und Ein- Blick dabei meist auf Medienformate, stellungen zu definieren. Während diese die sich vorwiegend mit politischen und Wahrnehmung durch die Medien forciert wirtschaftlichen Themen beschäftigen, sein mag, ist sie sicherlich von politischen also ÖRS (aufgrund spezifischer Aufga- Eliten und deren Agenda gefärbt. Es sind ben und Verpflichtungen) und die „Qua- nicht nur die Medien, die den Informati- litätspresse“. onsfluss filtern, sondern ebenso die poli- ÖRS nehmen in europäischen Ländern tischen Akteure. weiter eine privilegierte Position ein, be- sonders in Skandinavien und Nordeuro- Wegweiser europäische Medien? pa. In manchen Ländern haben besagte Systeme aber auch eine geringe Reichwei- Die europäische Öffentlichkeit findet te, etwa Estland, Ungarn, Lettland und nur in nationalen (Medien-)Grenzen statt, Litauen. Für viele dieser Länder ist der ein paneuropäisches Mediensystem mit Wandel vom staatlichen Fernsehen zum einem Massenpublikum existiert nicht. ÖRS problembehaftet, und im Zuge der Die europäischen Mediensysteme haben Privatisierung – oft dank ausländischen in den vergangenen Jahren einen grund- Kapitals – haben die ÖRS es verpasst, ei- legenden Wandel erfahren, insbesondere nen wettbewerbsfähigen Service zu etab- im Hinblick auf das Angebotsspektrum. lieren. Andere finanzierten sich größ- In den 70er Jahren begnügten sich die tenteils mit Werbung oder staatlichen meisten Menschen mit nur zwei Fernseh- Geldern statt mit Gebühren und gefähr- kanälen, die zudem meist in öffentlich- deten somit ihre politische und finanzielle rechtlicher Hand waren. Dank technolo- Unabhängigkeit wie in Spanien oder Por- gischer Neuerungen, Deregulierung und tugal. In den skandinavischen und nord- Globalisierung der Märkte hat dieses Bild europäischen Ländern gibt es eine hohe sich geändert. In Irland existierte 1975 nur Zahl an Zeitungslesern und Publikum für ein öffentlich-rechtlicher Sender, bis in öffentlich-rechtliche Programme. Daher den späten 70er Jahren ein zweiter öffent- ist es nicht verwunderlich, dass in der lich-rechtlicher Sender (ÖRS) und 1998 dortigen Berichterstattung europäische ein kommerzieller Sender das Angebot Themen eine größere Rolle spielen, auch erweiterten. Im Jahr 2006 abonnierte – wenn das nicht automatisch die Zustim- wohl begünstigt durch den freien Zugang mung zur europäischen Integration oder

127 Med ien Die Medienpolitik der EU hat sich dar- auf konzentriert, als Gegengewicht zu den USA eine starke europäische Medi- enindustrie aufzubauen. Sie unterstützt Filmschaffende und unabhängige europä- ische Fernsehproduktionen. Dennoch hat die EU erst vor kurzer Zeit die politische eine ausgeprägte europäische Identität und kulturelle Vielfalt der nationalen Me- bedeutet. diensysteme für sich entdeckt. Mit Blick Zudem unterscheiden sich die Me- auf den kulturellen Austausch existieren diensysteme in der EU in Bezug auf ihre sehr wohl kulturelle und sprachliche Ver- Größe (80 Millionen potenzielle Medi- bindungen zwischen den kleineren EU- enkonsumenten in Deutschland bis zu Staaten und ihren größeren Nachbarn, 380.000 in Malta) sowie auf Sprache und die den nationalen Fernsehmärkten eine Gebrauch. Ausschlaggebend sind auch die gewisse Durchlässigkeit erlauben. Das be- Besitz- und Kontrollstrukturen: politisch inhaltet den Empfang von französischem, (Italien, Frankreich, Griechenland), religi- holländischem und deutschem Fernsehen ös (Malta, Slowenien, Griechenland), indus- in Belgien, von deutschen Programmen in triell (Italien, Frankreich, Griechenland), Österreich, britisches Fernsehen und bri- in ausländischer Hand (Ungarn, Slowakei, tische Presse kursieren in Irland, russische Polen, Lettland, Estland, Litauen, Slo- Medien werden in den baltischen Staaten wakei, Dänemark, Tschechische Republik) genutzt, die Zyprioten sehen griechische oder multimediale Konglomerate (Italien, Programme, in Malta sind italienische Großbritannien, Portugal, Griechenland, Medien beliebt. Oft wird das als Problem Spanien). Diese Faktoren beeinflussen den betrachtet, da diese Marktaufteilungen Raum, in dem die Bürger sich über die EU die Werbeeinnahmen beeinflussen und informieren, aber auch, inwiefern Medien Ängste vor kultureller Dominanz hervor- zur nationalen Demokratie beitragen.

Abb. 1: Die Stellung der öffentlich-rechtlichen Sender in den EU-Märkten Zuschauer-Quote ... in den EU-Staaten ... der zwei wichtigsten Privatsender ... der ÖRS in den EU-Staaten*

Sehr hoch 60-75% Dänemark 72% Tschechische Republik 65%, Ungarn 61%

Hoch 50-60% Polen 54%, Österreich 52% Portugal 57%, Litauen 55%, Finnland 52%

Mittel-hoch Italien 49%, Finnland 44%, Frankreich 43%, Niederlande 47%, Estland 44%, Frankreich 40-50% Belgien Flandern 41%, Deutschland 41%, 44%, Deutschland 43%, Slowenien 42%, Ita- Irland 40%, Schweden 40% lien 41%, Lettland 40% Mittel35-40% Niederlande 38%, Großbritannien 38%, Slo- Griechenland 37%, Malta 37.5%**, Belgien wenien 35% Flandern 36%, Polen 36%, Schweden 35%, Großbritannien 34%*** Niedrig- mittel Malta 33%, Tschechische Republik 31%, Spani- Wallonisches Belgien 30% 25-35% en 30%, Portugal 28%

Niedrig Wallonisches Belgien 19%, Lettland 19%, Österreich 10%, Dänemark 15%, Irland 13%** 10-20% Estland 18%, Ungarn 18%, Zypern 17%, Grie- chenland 15%, Litauen 12% *Im Fall von Italien und Irland handelt es sich lediglich um ein Programm. ** Österreich, Deutschland kommen auf eine Quote von 37%; Irland und GB auf mehr als 40%; Malta, Italien 19%; Wallo- nisches Belgien, Frankreich 30%; Russland 40% ***dazu gehört das britische private ITV Netzwerk mit öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen Zahlen von 2004 (AT, BE, CY, DA, FIN; GR; IT); von 2003 (CZ, EE, FR, DE, IE, LT, SI, SE); von 2002 (LV, NL)

Quelle: Kevin et al (2004)

128 rufen. Der Austausch in Europa ist aber Med ien eng begrenzt, und gerade die privaten Sen- der verraten eine Dominanz US-amerika- nischer Formate. Während Wettbewerb normalerweise größere Auswahl für die Zuschauer bedeutet, fürchtet man einen Qualitätsverlust im Zuge der Konkurrenz mit den privaten Sendern (geringere In- formationen die Bürger erhalten, und das formationsdichte, Dokumentarfilme). beinhaltet sowohl kulturelle als auch po- Auch im Kino dominieren amerika- litische und wirtschaftliche Sachverhalte.

Abb. 2: Aufteilung der Kinobesucher in der Europäischen Union (EU25) geordnet nach Herkunftsländern der FIlme

Herkunftsland USA USA/ Frank. GB Dt. Italien Spanien Rest-Europa Europa % aller Besucher 59,7% 11,7% 9,5% 6,1% 4,5% 2,2 2,1 2,1 Quelle: European Audiovisual Observatory (2004). Vorläufige Angaben für 2004. nische Produktionen, und das Interesse Ein wichtiger erster Schritt ist die Stär- an Ländern mit gefestigten Filmindustri- kung öffentlich-rechtlicher nationaler en wie Frankreich, Deutschland, Großb- Medien, um einen Nährboden für De- ritannien oder Italien beschränkt sich mokratie und Integration in Europa zu meist auf ein nationales Publikum. schaffen. Das wäre die beste Grundlage für eine europäische Öffentlichkeit, die Ausblick letztlich zu einer stärkeren Identifikation mit Europa führen kann. Die Perspektiven einer europäischen Aus dem Englischen von Jenni Roth Öffentlichkeit oder einer Diskussions- plattform auf europäischer Ebene sind in Deirdre Kevin ist Medienberaterin. Ihre Schwerpunkte als Medienwissenschaftlerin naher Zukunft eher mager, auch wenn liegen in der politischen Kommunikation, Ent- das Internet als weltumspannendes Medi- wicklung einer europäischen Öffentlichkeit um auf dem Vormarsch ist. Die wirkliche sowie Medienpolitik. Sie hat u. a. die Euro- europäische Öffentlichkeit existiert im päische Kulturstiftung und Medienanstalten politischen Dunstkreis von Brüssel: Poli- in Europa beraten. Sie hat mehrere Publika- tionen herausgegeben, etwa Europe in the tiker, EU-Beamte, Lobbyisten und Korre- Media: A Comparison of Reporting, Represen- spondenten. Wie diese Strukturen in den tation and Rhetoric in National Media Systems nationalen Mediensystemen kommuni- in Europe (2003). Mit ihrem Masterabschluss ziert werden, ist ausschlaggebend für die in European Economic and Public Affairs ar- Wirkungskraft der Medien zugunsten ei- beitete sie am schottischen Stirling Media Research Institute und am Europäischen Me- ner europäischen Zusammengehörigkeit. dieninstitut, Düsseldorf. Einstellungen zur EU, zur europäischen Integration und die Identifikation mit Eu- Quellenangaben ropa sind komplex und davon abhängig, AIM Research Consortium (ed) (2007, forth- wie (nationale) Eliten europäische The- coming): Understanding the Logic of EU Re- men vermitteln. Daneben spielen persön- porting from . Analysis of Interviews with EU Correspondents and Spokespersons. liche Erfahrungen eine wichtige Rolle, Adequate Information Management in Europe was auch die kulturellen Erfahrungen mit (AIM) – Working Papers 2007/3. Bochum/Frei- den europäischen Nachbarn einschließt. burg: Projekt. Der Medienkontext in den europäischen Anderson, P. J. & Weymouth, A. (1999): In- Ländern entscheidet, welche Art von In- sulting the public? The British Press and the

129 Med ien

European Union. London: Longman. Relations. 1999; 5: 147-187. Baisnée, O. (2002): Can Political Journalism Schlesinger, P. and Kevin, D. (2000): Can the Exist at the EU level? In: R. Kuhn and E. Neveu European Union Become a Sphere of Publics? (eds.), Political Journalism. New Challenges, In: Erik Oddvar Eriksen and John Erik Fossum New Practices, pp. 108-127. London: Rout- (eds.): Democracy in Europe: Integration ledge, S. 108-127. through Deliberation? London: UCL Press, S. Blumler, J. (ed) (1983): Communicating to 206-229. voters: Television in the First European Parlia- Siune, K. (1993): The Danes said no to the mentary Elections. London: Sage. Maastricht Treaty: the Danish referendum of De Vreese, C. (2003): Framing Europe: Televi- June 1992. In: Scandinavian Political Studies, sion News and European Integration. Amster- 16(1), S. 93-103. dam: Aksant. Slaatta, T. (1999): Europeanisation and the European Audiovisual Observatory (2004): Norwegian news media: Political discourse Major Markets Buoyant in 2004 as European and news production in the transnational Union Cinema Admissions Top 1 Billion Miles- field. Oslo: University of Oslo. tone. Press release, 4 May 2004. Strasbourg: Trenz, Hans-Jörg (2004): Media coverage of EAO. European Governance: Exploring the Europe- European Parliament (2003): Lobbying in the an Public Sphere in National Quality Newspa- European Union: Current Rules and Practices. pers. In: European Journal of Communication, Constitutional Affairs Series AFCO 104 EN. 19 (3), S. 291-319. Luxembourg. Garvey, T. (2005): Hearts and Minds. In: Insti- tute for European Affairs (ed): Where to Now: Ideas on the Future of Europe. Dublin: Institu- te for European Affairs, S. 51-73. http://www. iiea.com/newsxtest.php?news_id=56. Kevin, D., u. a. (2004): Final Report of the Stu- dy on the Information of the Citizen in the EU: Obligations for the media and the institutions concerning the citizien‘s right to be fully and objectively informed. Prepared on behalf of the European Parliament by the European Ins- titute for the Media. Düsseldorf, 2004, Stras- bourg: EPRA. http://www.epra.org. Kevin, D. (2003): Europe in the Media: Repor- ting, Representation and Rhetoric. New Jer- sey/London: Erlbaum. Meyer, C. (1999): Political Legitimacy and the Invisibility of Politics: Exploring the Europe- an Union’s communication deficit. Journal of Common Market Studies, 37(4), S. 617-639. Morgan, D. (1995): British media and Europe- an Union news: The Brussels News Beat and 1 2004 war das Fernsehen mit 73 Prozent die Primärquelle für die Befragten its Problems. In European Journal of Commu- (EU 15) und 79 Prozent bei den Neuen Mitgliedsstaaten (NMS). Die Tages- presse war die Hauptinformationsquelle für 54 (EU 15) und für 51 Prozent der nication 10(3), S. 321-343. NMS. Das Radio kam auf 35 Prozent in der EU 15, aber auf 51 Prozent bei den Primetrica Limited (2004): The Media Map NMS. Das Internet erreichte 16 Prozent (EU 15) und 18 Prozent bei den NMS. Quelle: Eurobarometer 61. Yearbook 2004. UK: Primetrica Ltd. 2 Vgl.: http://ec.europa.eu/communication_white_paper/doc/white_pa- Risse, T., Engelmann, D., Knopf, H., & Ro- per_en.pdf. 3 scher, K. (1998): To Euro or not to Euro? The http://www.aim-project.net/doku/ ; vlg. auch Blumler et al, 1983; Siune, 1993; De Vreese, 2003; Kevin, 2003; Trenz, 2003. EMU and Identity Politics in the European 4 Gemäß Eurobarometer besteht jede Umfrage aus etwa 1.000 Face-to-face- Union. In: European Journal of International Interviews pro Mitgliedstaat (außer Deutschland: 2.000, Luxemburg: 600, UK: 1.300, inkl. 300 aus Nord-Irland).

130 Die neueste GeschichteDachzei le von Europa ist aufgrund seiner zwei Weltkriege die historische Zäsur, die alle Planeten auf der Erde prägt. Trotz des beispiel- haften Wiederaufbaus schwelen in Europa im- mer noch Konflikte. Wie kann die europäische Ge- meinschaft in diesem Sinn mit gutem Beispiel voraus- gehen und zu einer Kultur des Friedens in der Welt beitragen?

Danilo Santos de Mirando, Direktor des Serviço Social do Comercio São Paulo

131 Versöhnen statt Spalten Die Europäer reden nicht nur übereinander, sondern auch miteinander. Zumindest was die Akteure der Filmbranche betrifft. Der europäische Film hat nicht nur als kultureller Gegenpol zu Hollywood Fuß gefasst, er gewinnt auch immer mehr Einfluss als Wirtschaftsfaktor. Von Michael Schmid-Ospach

das Nachsehen. Was an europäischen Projekten gefällt, wird notfalls einfach noch einmal gedreht, wie z. B. der Film „Bella Martha“, der in den USA unter dem Titel „No Reservations“ herauskommt, mit Catherine Zeta-Jones statt Martina Gedeck in der Titelrolle. Auch „Caché“ von Michael Haneke wird nachgedreht, in diesem Remake wird die Handlung sogar von Paris in die USA verlegt.

Film auf Weltreise

Doch auf der Berlinale konnte man ohannes Rau – ein strikter Befürwor- sehen, dass hier einiges in Bewegung ter Europas – hat einmal gesagt: „Eu- ist: Die USA strecken nicht nur bei Film- Jropa kann in meinen Augen nur dann vorlagen ihre Fühler nach Europa aus. gelingen, wenn wir nicht das spaltende Viele europäische Schauspieler und an- ‚eure unsere Kultur’, sondern das versöh- dere Kreative bevölkern inzwischen das nende ‚eure und unsere Kultur’ zu seiner internationale Parkett. Martina Gedeck Grundlage machen, wenn wir in seiner ist zum Beispiel in „The Good Shepherd“ Vielfalt keine Gefahr, sondern die Grund- zu sehen, Moritz Bleibtreu in „The Wal- lage seiner Einheit sehen.“1 Die Verhält- ker“ und in „La Masseria dello allodole“, nisse auf der Weltkarte des Films sind Daniel Brühl in „2 Days in Paris“, Julia definitiv im Umbruch: Hier in Europa Jentsch in „Obsluhoval jsem anglického relativiert sich die Vorherrschaft Holly- krále“, André Hennicke in „In Memo- woods gerade in letzter Zeit zusehends. ria di me“, Jasmin Tabatabai und Sibel Amerika, immer noch einer der größten Kekilli in „Fay Grim“, Christian Oliver Absatzmärkte, gibt sich nach wie vor ver- in „The Good German“ oder Benno Für- wöhnt: Synchronisierte Fassungen wer- mann in „Kruistocht in Spijkerbroek“. den von der Masse nicht geschätzt. Wer Auch internationale Filmteams werden also in Europa nicht in englischer Spra- immer selbstverständlicher, und was die che dreht, hat, was diesen Markt angeht, Auswahl der Drehorte angeht, haben wir

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schon seit Jahren eine hohe Vernetzung vermeldete dazu: „Weil Hollywood fürs nicht nur Europas, sondern aller Film- Fernsehen fast nur noch Serien herstellt nationen. und damit weltweit Erfolg hat, sind die Dabei wird das Netzwerk für den Film ‚Disasters Movies‘ aus Deutschland fast überhaupt zunehmend dichter. Für ei- konkurrenzlos.“2 Wirft man einen Blick nen europäischen Anbieter bedeutet das auf die Verkaufserfolge einheimischer natürlich zuerst, seine regionalen und Produktionen im europäischen Wett- nationalen Möglichkeiten vorzustellen bewerb, zeigt sich, dass die Fiktion ins- - und im Gegenzug, auf der Nachfrage- gesamt mittlerweile eines der stärksten seite, die Möglichkeiten auf dem europä- Produkte ist. Der Kinofilm „Der Unter- ischen Markt auszuschöpfen. In enger gang“ verkaufte sich in 145 Länder, der Zusammenarbeit mit „German Films“, Event-TV-Zweiteiler „Dresden“ konnte in der Auslandsvertretung des deutschen 68 Länder verkauft werden und „Stauf- Films, sind wir auf allen internationa- fenberg“, ebenfalls ein TV-Event und wie len Festivals präsent und arbeiten weit „Dresden“ NRW-gefördert, verkaufte über Europa hinaus mit verschiedensten sich in 82 Länder. Filmschaffenden zusammen. Ich möchte anhand von zwei Beispie- len aus unserer täglichen Praxis die brü- Erfolgsfaktor Europa ckenbauende Wirkung von Filmarbeit in Europa und den Erfolg der europäischen Zahlreiche Kinoproduktionen, die Zusammenarbeit zeigen. Denn die fol- von der Filmstiftung unterstützt wur- genden Kinoereignisse sind hundertpro- den, sind auf europäischen Festival- und zentig europäischer „Bauart“ und haben Kinoleinwänden erfolgreich, darunter auf vielfältige Weise in Europa und weit z.B. Tom Tykwers „Das Parfum“, Sven über Europas Grenzen hinaus Furore ge- Taddickens „Emmas Glück“, Andreas macht. Dresens „Sommer vorm Balkon“, Philip Das erste Ereignis, ein echter Block- Grönings „Die große Stille“ oder interna- buster, ist die bisher teuerste deutsche tionale Koproduktionen wie der Gewin- Kinoproduktion: Die gleichnamige Ver- ner von Cannes, Ken Loachs „The Wind filmung des Romans „Das Parfum“ von that Shakes the Barley“, die mehrfach Patrick Süskind, der bereits Jahre zu- ausgezeichnete israelisch-deutsche Ko- vor in über fünfzig Sprachen übersetzt produktion „Sweet Mud“ von Dror Shaul, wurde. Diese Constantin-Eichinger-Pro- Maria Speths Drama „Madonnen“ oder duktion, von Tom Tykwer inszeniert, er- die Tragikomödie „Armin“ des kroa- reichte am Startwochenende in deutschen tischen Regisseurs Ognjen Svilicic. Kinos bereits weit über eine Million Zu- Auf deutschen Kinoleinwänden be- schauer – was rund 1.500 Besucher pro herrschten im „goldenen Filmherbst“ Kopie bedeutet. Innerhalb von 50 Tagen letzten Jahres fünf deutsche Titel die waren bereits über fünf Millionen Kino- Top Ten. Auf den internationalen Märk- besucher zu verzeichnen. Steven Spiel- ten wiederum verkauften sich die deut- bergs Dreamworks-Verleih brachte ihn schen TV-Event-Movies fast wie „warme in die US-Kinos, und auch in Japan ist Semmeln“. Die Frankfurter Rundschau er inzwischen zu sehen. Ein großar-

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tiger Erfolg für die Produktionsfirma in deutschen Kinos, in Österreich und und ein jüngstes Beispiel dafür, dass ein in der Schweiz platzierte er sich auch in Film beides sein kann, ein Blockbuster, Russland am Startwochenende als Nr. 1 sprich Massenunterhaltung, und ein Kul- der Kinocharts. turereignis. Das zweite filmische Ereignis meines Aber auch ein Beispiel dafür, dass die Exkurses scheint das genaue Gegenteil Filmwelt internationaler wird. Gedreht des ersten zu sein und ist dennoch in- wurde, und das nicht nur aus Kostengrün- nerhalb eines halben Jahres von einem den, in den verschiedensten Ländern. In nicht nur europäischen, sondern inter- Barcelona setzte der Bürgermeister groß- nationalen Publikum begeistert aufge- zügige Sperrungen durch. In Frankreich, nommen worden. Die Rede ist von dem in dem Land, in dem sich im Film die filmstiftungsgeförderten und mit zahl- Dinge ereignen, wurden dann doch nur reichen Preisen auf europäischen und die Lavendelfelder gedreht, weil das Land internationalen Festivals geehrten Do- „produktionstechnisch zu teuer“ sei, so kumentarfilm „Die große Stille“ von der Produzent. In Rumänien wurden die Philip Gröning, der unter anderem den 1.400 Kostüme geschneidert, in Tsche- World Cinema Documentary Jury-Preis chien die Modelle gebaut sowie die di- des Sundance-Filmfests und den Europä- gitalen Effekte hergestellt. Hierzulande ischen Filmpreis – Prix Arte 2006 – als waren es 15 Drehtage in den Münchner bester Dokumentarfilm erhielt. Die Do- Bavaria-Studios, und die umfangreiche kumentation erzählt vom Leben in einem Postproduktion fand ebenfalls in Mün- französischen Kartäuserkloster. Das The- chen statt, mit der „immerhin 80 Leute ma ist deshalb so zündend und grenz- über zwölf Monate beschäftigt waren“. übergreifend, weil es mit viel Liebe – und Und nicht zu vergessen, der Produzent unglaublichem persönlichen Engagement Bernd Eichinger kommt aus Bayern und – von einem Leben erzählt, das so ganz der Regisseur Tom Tykwer aus Nord- anders funktioniert als das Leben seiner rhein-Westfalen. Auch die Schauspieler- Zuschauer. Der Film zeigt inhaltlich, riege ist international gecastet, das Spiel aber auch formal, dass es eben nicht nur des britischen Hauptdarstellers und des so geht, wie uns das erfolgreiche Holly- internationalen Ensembles ist aus einem wood manchmal glauben machen will. Guss, Grenzen sind hier nicht spürbar. Das individuelle und gute Storytelling, Tom Tykwer komponierte auch die das Hollywood lange Zeit zur alleinigen Musik (zusammen mit zwei Partnern), Heimat der Stars machte, hat eine neue die die Berliner Philharmoniker unter Wahlheimat in Europa gefunden. der Leitung des britischen Dirigenten Si- mon Rattle einspielten. Die CD zum Film Förderpool Europa war bereits bei Kinostart im Handel er- hältlich. Der Film sollte – auch das ein Doch es bleibt nicht bei einem Blick Novum – in Deutschland Premiere ha- über die Grenzen. Seit einigen Jahren ben. Zu guter Letzt wurde „Das Parfum“ mehren sich die ganz praktischen Ak- bereits weit vor Kinostart in zahlreiche tivitäten, die die noch jungen Verbin- Länder verkauft. Nach seinen Erfolgen dungen zwischen dem Filmland Frank-

134 reich und dem Filmland Deutschland Fi lm intensivieren. Abgesehen davon, dass „Die fabelhafte Welt der Amélie“ zur Hälfte in Deutschland entstand und der filmstiftungsgeförderte „Good Bye, Le- nin!“ ein Millionenpublikum in Fran- kreich im Jahr 2003 erreichte, fand im gleichen Jahr zum ersten Mal das „Ren- stützung der europäischen Filmproduk- dez-Vous Franco-Allemand du Cinéma“ tionen“ verbessert werden können. in Lyon statt. Das „Rendez-Vous“ gibt es Vorausgegangen waren diesen film- seitdem jährlich, jeweils abwechselnd in relevanten Ereignissen zwei Abkom- Frankreich und Deutschland unter Vor- men, die Deutschland und Frankreich sitz der französischen Präsidentin und im Jahr 2001 abgeschlossen haben: Das Filmproduzentin Margaret Menegoz eine, „Filmabkommen“ genannt, regelt – und es erfährt zunehmend Anerken- ganz allgemein und in 15 Artikeln nebst nung. Jedes Jahr lockt es mehrere hundert Anhang die deutsch-französische Koope- Filmschaffende in das jeweilige Land. ration und sieht neben Koproduktionen Die französisch-österreichisch-deutsch- auch die Zusammenarbeit in Fragen der italienische Koproduktion „Caché“ eben Aus- und Fortbildung und des kulturellen dieser Produzentin Margaret Menegoz Erbes vor. Das andere ist ein ergänzendes (Regie: Michael Haneke) gewann 2005 Abkommen, das „Mini-Traité“, und be- unter anderem den europäischen Film- trifft Fördermittel und Vergabemoda- preis sowie den Regiepreis in Cannes und litäten. Über einen Fördermittelantrag war ein wichtiges Thema beim deutsch- für deutsch-französische Koprodukti- französischen Filmtreffen. onen entscheidet eine paritätisch besetzte deutsch-französische Kommission. Film als Kunstform Ein weiteres Zeichen dafür, dass die Europäer inzwischen mehr miteinander Inzwischen gibt es auch eine 1. Master- reden als übereinander, wurde auf dem class der deutsch-französischen Filmaka- internationalen Filmfestival in Rom ge- demie, angesiedelt in Ludwigsburg und setzt, das 2006 zum ersten Mal stattge- an der Filmhochschule La Fémis in Paris, funden hat. Dort unterzeichneten die deren Tutoren nun ebenfalls ein deutsch- italienischen, französischen, spanischen französisches Filmtreffen planen. Zudem und deutschen Partnermetropolen des hat Kulturstaatsminister Bernd Neu- CRC-Netzwerkes (Capital Regions for mann hochoffiziell eine Arbeitsgruppe Cinema) einen Vertrag zur Vorbereitung zum Thema „Kulturelle Vielfalt in Euro- gemeinsamer Fördermaßnahmen für eu- pa“ eröffnet, in der deutsche und franzö- ropäische Koproduktionen. sische Abgeordnete zum Beispiel darüber Ein weiterer Beweis dafür, dass die reden, wie groß der „Einfluss der neu- Europäer mehr miteinander reden als en Medien auf die kulturelle Vielfalt“ ist übereinander, war das internationale oder wie die „Möglichkeiten zur Unter- Filmfestival in Rom. Dort unterzeich- neten die italienischen, französischen, spanischen und deutschen Partnermet- Ein Film kann beides sein, ein ropolen des CRC-Netzwerks (Capital Blockbuster – sprich Massenunter- Regions for Cinema) einen Vertrag zur haltung – und ein Kulturereignis. gemeinsamen Förderung europäischer In der Filmwelt ist internationale Koproduktionen. Arbeitsteilung mehr denn je eher Fakt ist, dass Europa bei den interna- die Regel als die Ausnahme. tionalen Filmemachern nicht mehr als

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„Europudding“3 verschrien ist, die wirt- bieten und so eine kritische Wahrneh- schaftlichen und künstlerischen Syner- mung befördern, wenn eines nicht ver- gieeffekte werden zunehmend geschätzt. gessen wird: Dass – ob Hollywood oder Hierfür ist maßgeblich die kontinuier- Bollywood oder Wooden Europe – die liche und auch strukturierende Arbeit Qualität von Filmen ein Anspruch sein europäischer Filmförderungen verant- muss, der nicht aufgegeben werden darf. wortlich, deren Engagement der letzten Film als reines Wirtschaftsgut demon- Jahre sich zunehmend bemerkbar macht. tiert seine Funktion als Kunst, als Kul- Kulturelle und nationale Vielfalt braucht turereignis und zerstört damit seine In- Zeit, bis sie zu einer belastbaren europä- tegrität. ischen Einheit zusammenwächst. Seit 1992 ist Michael Schmid-Ospach ARTE- Beauftragter des WDR und Vorsitzender des Globales (Film-)Dorf Aufsichtsrats der Filmstiftung NRW in Düs- seldorf, deren Geschäftsführer er seit 2001 Internet und Digitalisierung machen ist. Der Autor studierte in Köln Theaterwis- es möglich, dass Filme in Sekunden- senschaft, Germanistik und Psychologie. schnelle von einem Ort zum anderen ge- Von 1977 bis 1990 war er Leiter der Abteilung Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des WDR, schickt werden können. Dies ist einer der dann übernahm er die stellvertretende Fern- Beschleunigungsfaktoren für das Ent- sehdirektion und für die nächsten zwei Jahre stehen des oben schon angesprochenen auch die Leitung der Hauptabteilung „Zentra- globalen bzw. in unserem Fall erst ein- le Aufgaben”. Schmid-Ospach ist Programm- mal europäischen „Dorfes“, in dem Film bereichsleiter Kultur und Wissenschaft Fernsehen des WDR und Mitglied zahlreicher – ob Dokumentation, Fiktion oder auch Medien- und Kultureinrichtungen. Grenzgänger zwischen den Genres und filmischen Welten – alles sein kann, im besten Fall ein kritisch-aufklärerisches Werk. Das heißt vor allem eines: Der eu- ropäische Film ist auf dem Vormarsch. Film als Kunstform, als kulturelles Ereig- nis und immer mehr als Wirtschaftsgut gewinnt weiter an Bedeutung. Das wird zusätzliche Kompetenzen al- ler beteiligten Länder erfordern – von der Herstellung bis zur Rezeption. Es macht auch einen geschärften Blick auf Medien- macht und deren Kontrolle notwendig, damit nicht noch einmal passieren kann, was in Italien unter Berlusconi geschah: Dass der mächtigste Politiker im Land die Medien kontrolliert. Ein „globales Dorf“ kann diese Dinge aufgrund der Souverä- 1 am 11.06.2001 i. Aachen anlässlich der Ausstellungseröffnung: „Krö- nungen. Könige in Aachen“. nität der Staaten nicht verhindern, aber 2 FR 08.11.06. sicher ein differenziertes Meinungsbild 3 vgl. WZ 6.9.2006.

136 Vorhang auf für das Nischenkino Fortschritt und Technologie haben unsere kulturellen Konsumgewohnheiten verändert. Selbst an den entlegensten Orten sind wir weltweit vernetzt und sämtliche Kulturgüter jederzeit online verfügbar. Nur europäische Filme aus Nischen- segmenten sind im globalen Netz kaum einge- speist. Dabei schlummert in ihnen ein Markt- potenzial, das Blockbustern aus Hollywood Konkurrenz macht. Von Dina Iordanova

Vorausgesetzt, die Medienreichweite ist groß genug, um im Rahmen der Globa- lisierung die Konzentration auf schmale Zuschauersegmente und Nischen zu er- möglichen. Und vorausgesetzt, dass, wie Michael Gubbins als Herausgeber von „Screen International“ meint, „die Welt nicht homogener, sondern von indivi- duellen Konsumenten mit individuellen Wünschen geprägt sein wird“. In diesem Zeitalter neuer Techno- logien und des Triumphs von Nischen- segmenten jenseits „geografischer Ty- rannei“ tun sich faszinierende neue s ist nicht lange her, seit der In- Möglichkeiten auf. Die starren Distri- ternet-Visionär Manuel Castells butionskanäle begünstigten das Vollpro- Eden Wandel der Medienwelt als gramm gegenüber den Spartensendern, „außergewöhnlichen glokalen Wandel“ erstickten alternative Konzepte im Keim – die Globalisierung, die mit einer zeit- und zwangen so über viele Jahre hinweg gleichen Konzentration auf ein schmales das europäische Kino in sein Schatten- Zuschauersegment einhergeht – bezeich- dasein. Heute stellt sich die Situation nete und erkannte, dass diese neue Me- anders dar. Aber werden die Chancen dienwelt durch Massenproduktion Kos- auch in Europa wahrgenommen? Nicht ten spart und von Synergien zwischen wirklich. Es deutet nicht viel darauf hin, verschiedenen Ausdrucksformen profi- dass Europas Kulturpolitik die Gunst tiert. der Stunde nutzt, um den öffentlichen Es dauerte nur fünf Jahre, bis sei- Raum in Europa und darüber hinaus zu ne Aussage zur allgemein anerkannten stärken und jene Zielgruppen anzuspre- Wahrheit wurde. Die Kreativindustrie chen, die sich für die Vielfalt der Kul- weiß heute, dass Blockbuster nicht der turen in Europa interessieren. einzige Weg sind, Geld zu machen und Europa verfügt heute über die nö- es ebenso möglich ist, mit Nischenfil- tige Technologie, um Nischenmärkte men kommerziell erfolgreich zu sein. und breit gestreute Interessen zu bedie-

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nen und erlaubt es, die Vorherrschaft und Amazon mit Büchern beliefert: er ist der Blockbuster zu überwinden und die sich bewusst, dass sein Geschäft schwer- Vielfalt filmischer Möglichkeiten zu er- lich überleben könnte, wenn er einzig schließen. Es fehlt jedoch an entspre- auf Kundschaft aus dem Dorf angewie- chenden politischen Strukturen und sen wäre. Auf dem Rückweg genieße ich Strategien, die uns erst zum Nutznie- den Anblick der Seevögel und beobachte ßer der „außergewöhnlichen Trans- Ebbe und Flut, manchmal bekommt man formation“ – so Castells – machen. Die sogar Seehunde zu Gesicht. Reichweite des europäischen Films wird Inzwischen ist die E-Mail mitsamt durch wirre Distributionsstrategien und zweier quadratischer Kuverts von Love- eine undurchsichtige öffentliche Ord- film angekommen: DVDs, deren Ver- nung eingeengt. sand mir schon gestern per E-Mail an- Vor zehn Jahren wäre mein heutiger gekündigt worden ist. Abends werde ich Alltag als Hirngespinst abgetan worden, die Filme auf dem Plasmabildschirm an- obgleich Marshall McLuhan ihn als Ers- sehen, um mir am Tag danach ein paar ter schon in den früher 60er Jahren in Notizen zu machen, die Filme dann wie- seiner Medientheorie beschrieben hat. der eintüten und sie in den Briefkasten Ich lebe in einem kleinen Dorf an der an der Ecke einwerfen. Der nächste Ostküste Schottlands, 45 Meilen von DVD-Versand über meine Registrierung Edinburgh, mit einem Büroblick auf das auf der Homepage von Lovefilm wird in Meer. Zu Hause habe ich Breitbandver- zwei Tagen eintreffen. netzung und kann meine Recherchen Am Nachmittag erledige ich Ver- und den Großteil meiner Arbeit mit dem waltungsaufgaben per E-Mail, bereite herrlichen Blick auf das Meer erledigen. meine Vorlesungen vor, korrigiere Ar- Morgens spaziere ich in der frischen Bri- beiten der Studenten und gebe ihnen se am Strand entlang. Wieder daheim, ein elektronisches Feedback, lasse mir logge ich mich auf Screen Daily ein von einem IT-Experten digitale Unter- (dem täglich aktualisierten Ableger von richtsoptionen erklären und verfasse No- Screen International, der die aktuells- tizen für die Vorlesung am folgenden ten Nachrichten aus der Filmwelt prä- Tag zum Thema WebCT, einem virtu- sentiert) und überprüfe das Echo der ellen Lernprogramm meiner Universität. gestrigen Pressemitteilung über mein Am Ende des Tages kann ich die letzten neuestes Projekt zum indischen Film Änderungen der Aktienkurse verfolgen, in den Zeitungen von Mumbai. Dann sowohl auf dem Computer als auch auf arbeite oder schreibe ich eine Stunde, den entsprechenden Kanälen des Satel- beantworte inzwischen eingetroffene E- litenfernsehens und kann meine Ein- Mails oder spreche live auf Skype mit käufe virtuell erledigen (die Ware wird Freunden in Hongkong und Paris. In am folgenden Tag von einem großen Su- der Arbeitspause laufe ich ins Dorfzent- permarkt geliefert, 30 Autominuten von rum, um Eier, frischen Lachs und Ha- hier). All diese Dinge kann ich von zu ferkekse zu kaufen. In der Post treffe Hause aus erledigen, während ich die ich den örtlichen Buchhändler, der von wunderschöne Umgebung des Dorfs ge- hier internationale Kunden über eBay nieße, mit der sauberen Luft und der

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Nähe zur Natur und meine Kontakte im Als Professorin für Film sehe ich je- Land und über die Grenzen hinaus pfle- den Tag mindestens einen Film an, gehe ge. Ich kann in dieser ländlichen Idylle aber kaum mehr ins Kino. Das nächste von Schottland sitzen und gleichzeitig so Kino in St. Andrews spielt nur Holly- aktiv mit der Welt in Kontakt treten, als woodfilme, die mich selten interessieren. wäre ich im Zentrum von London – nur Das nächstgelegene Art-House-Kino ist ganz ohne Stress. Das Hirngespinst ist in Dundee, 45 Fahrminuten entfernt. Da Realität geworden. wartet man lieber zwei Monate, bis der In meinem Dorf gibt es keine Video- Film auf DVD erscheint. Nicht weit von thek, die Tante-Emma-Läden unter den hier findet in Edinburgh das wichtiges Videotheken sind zugrunde gegangen. Filmfestival in Großbritannien statt. Zwei Lebensmittelgeschäfte vor Ort, die Leider im August, gerade dann, wenn ehemals auch DVDs verliehen (nur Hol- die langen sonnigen Tage an der Küste lywood-Produktionen), haben das Ge- dazu verlocken, den stickigen Kinosä- schäft eingestellt: Die Leute bestellen len fernzubleiben. Daher bin ich nur bei ihre Videos jetzt entweder per Satellit der Eröffnung dabei und sehe ein paar oder sind Abonnenten bei Online-DVD- Filmvorführungen. Ich bin immer noch Clubs mit einem größeren Angebot und bei internationalen Festivals mit von der unschlagbaren Preisen. Eine Videothek Partie (Rotterdam, Berlin, usw.), meist mit Hollywoodfilmen in der Nähe der jedoch mit der Absicht, Filme zu sehen, Universitätsstadt St. Andrews musste die ich sonst nie in die Hände kriegen dem Untergang des Geschäfts tatenlos würde. zusehen. Die einzige überlebende Vide- Es mag sein, das mein Dorf nicht den othek ist jene, die sich auf Art-House- Durchschnitt repräsentiert. Etwa ein Filme spezialisiert hat: ein Phänomen, Drittel seiner 1.500 Einwohner arbei- das deutlich dem angeblichen Trend der tet an Schottlands ältester Universität in Übernahme kleiner Geschäfte mit alter- St. Andrews, ein weiteres Drittel bilden nativem Filmangebot durch große Hol- pensionierte Intellektuelle – Autoren, lywoodketten entgegenläuft. Künstler oder Musiker; nur ein Drittel ist in der Landwirtschaft, der Fischerei oder bei lokalen Dienstleistungsunter- nehmen tätig. Aber genau das ist es, was Die einzige überlebende Vi- mein Dorf zu einem so anschaulichen deothek ist jene, die sich auf Beispiel macht: Die Mehrheit der Ein- Art-House-Filme spezialisiert wohner ist ein potenzieller Konsument des europäischen Nischenkinos, sie zie- hat: ein Phänomen, das deut- hen ernsthafte europäische Filme den lich dem angeblichen Trend der Blockbustern aus Hollywood vor, und Übernahme kleiner Geschäfte die meisten verfügen über die nötigen mit alternativem Filmangebot technischen Voraussetzungen. Dennoch haben sie keinen Zugang zum europä- durch große Hollywoodketten ischen Kino. Wir haben den Traum eines entgegenläuft. Lebens auf dem Land verwirklicht und

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genießen die Privilegien eines Lebens kommen). Willkommen im Zeitalter der in der Natur, während wir gleichzeitig Nischenmärkte, die dank des Massen- Nutznießer der Globalisierung sind: Wir konsums gedeihen und auf dem Gesamt- haben Zugang zu Kunst und Kultur, den markt allmählich an Boden gewinnen. man früher nur inmitten großer Städte Millionenschwere Werbebudgets für die hatte. Entfernungen spielen keine Rol- Fernsehausstrahlung von Hollywood- le mehr, das entlegene Dorf entbehrt Blockbustern sehen sich mit ernsthafter Kultur ebenso wenig wie Europas fre- Konkurrenz von Mundpropaganda auf quentierteste Metropolen. Wir werden Yahoo oder anderen Chaträumen kon- Zeugen, wie die Blockbuster- und Mas- frontiert. sendistributionsära einem neuen Zeit- Im Zeitalter des Long Tail ist Mund- alter weicht, in dem unsere Nischenin- propaganda ebenso wichtig wie Wer- teressen unabhängig von Raum und Zeit bung. Unternehmen wie Lovefilm und genauso erfolgreich bedient werden kön- Amazon müssen nicht länger für rie- nen. Das Internet bietet nach Castells sige Lager aufkommen und gleichzei- „einen horizontalen, unkontrollierten tig ihren Laden mit einer großen Aus- und relativ preisgünstigen Kommuni- wahl an Produkten aufstocken, die den kationskanal“, sei es für die „face-to- Kunden möglicherweise interessieren. face“-Kommunikation oder für die Kom- Heute müssen sie ihr Angebot nur noch munikation zwischen einem Sender und auflisten und es „on demand“ verfügbar vielen Empfängern. machen. Zudem fungieren ihre Websites als Austauschforen, wo man wie bei eBay Long Tail im Überfluss die Möglichkeit hat, klein anzufangen und sein Geschäft global auszuweiten. Willkommen im Zeitalter des Long Neue Technologien verändern kulturelle Tail1. Willkommen in der Welt des Über- Konsummuster und erlauben neben dem flusses! Der Long Tail, den der Wire- Vollprogramm umfassende Spartenpro- Journalist Chris Anderson vor einigen gramme. In Andersons Long-Tail-Uni- Jahren thematisierte, beschreibt die versum wird Broadcasting zur „Welt kulturellen Konsumgewohnheiten im der Mängel“ (mit der begrenzten Aus- elektronischen Zeitalter. Unser Film- wahl von gestern) und zum Gegenpol der horizont ist nicht mehr auf das Kino- „Welt im Überfluss“ (als heutiger Welt programm vor Ort oder drei Fernsehk- des Nischenmarketings). Im Long Tail anäle beschränkt – wir haben Zugang „ist der Großteil der Produkte nicht beim zu rund hundert Programmen und zum Laden um die Ecke, sondern bei Unter- Internet: Auf YouTube kann man nahe- nehmen wie Lovefilm, Amazon oder zu jede Produktion, die es aus diesem eBay verfügbar. Letztere arbeiten mit oder jenen Grund nicht ins Fernsehpro- Beständen „on demand“ und haben nicht gramm geschafft hat, aufstöbern, herun- nur „schon bestehende Märkte ausge- terladen oder bestellen (legal und illegal weitet“, sondern neue Nischen erschlos- – legal, wenn sie zur Verbreitung frei- sen, die in stetem Wachstum begriffen gegeben sind und illegal, wenn sie für sind. Erstmals in der Geschichte sind die Massenvermarktung nicht in Frage Blockbuster und Nischen wirtschaftlich

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gleich lukrativ. Die große Zahl der Ni- liche Netzwerke und Kontakte zu den schenprodukte macht ihre relativ kleine Filmemachern angewiesen, da es kei- Verkaufsquote wieder wett – sie sind zu nen Mechanismus gibt, der mir das Re- einer wirtschaftlich gewinnbringenden pertoire dieser Filme frei Haus liefern Angelegenheit geworden. „Plötzlich ist würde. Popularität kein Garant mehr für Pro- Nachdem ich mich in den vergan- fitabilität“, wie Anderson beobachtet. genen zwei Jahren für das ehrgeizige Erst die Verfügbarkeit von Nischenpro- Projekt einer umfassenden DVD-Samm- dukten hat das schlummernde Bedürfnis lung in meinem Fachbereich eingesetzt nach nicht kommerziellen Inhalten ans habe, habe ich die Frustrationen und Licht gebracht. Einschränkungen am eigenen Leib er- Wenn die Nachfrage sich an Nischen fahren, mit denen man es beim Stöbern orientiert, wird der Service verbessert nach europäischen Filmen zu tun hat. und ein positiver Rückkopplungsprozess Ich habe über die Jahre einige Erfah- in Gang gebracht, der in den nächsten rungen gesammelt und bin mit den vor- Jahrzehnten ganze Industriezweige – handenen Kanälen vertraut. Dennoch und die Kultur – umwälzen wird. ist es arbeitsreich und mühselig, an viele der Filme von führenden europäischen Grenzen ziehen Filmemachern überhaupt heranzukom- men – sie sind schlicht nicht verfügbar. Dennoch hat der europäische Film Der Regisseur Tony Gatlif ist ein Bei- keinen leichten Stand in der Welt des spiel. Nur einer seiner Filme, Exils, ist in Überflusses. Nur wenige europäische Großbritannien erhältlich. Die franzö- Filme sind im Long Tail verfügbar, im- sische Seite von Amazon führt nur einen mer noch binden Vertriebsabkommen Bruchteil seiner Filme auf DVD (meist ohne die Vision, europäische Grenzen ohne Untertitel, während DVD-Neuer- zu überschreiten, ihnen die Hände. Für scheinungen aus Hollywood mit mehr Experten wie mich, die sich mit dem ost- als zwölf Untertiteln publiziert werden, europäischen Film beschäftigen, aber in von Finnisch bis Bulgarisch). Großbritannien leben, ist es frustrierend Zwei Filme von Volker Schlöndorff und zeitraubend, mit den neuesten Ent- sind in Großbritannien im Umlauf, wer wicklungen im Filmgeschäft besagter eine Kopie von Homo Faber (eine Kopro- Region Schritt zu halten. Was Neuheiten duktion von vier europäischen Ländern, betrifft, bin ich immer noch auf persön- inklusive UK) sucht, muss auf Second- hand-Angebote hoffen. Mehr als 30 Pro- zent aller britischen Filme wurden nie vertrieben, es gibt keine umfassende Erst die Verfügbarkeit von Sammlung britischer Filme. Kopien Nischenprodukten hat das weiterer Schlüsselproduktionen gibt es schlummernde Bedürfnis nach nur per illegalem Download aus dem In- ternet. Wenn ich manche dieser Filme nicht kommerziellen Inhalten herunterlade und sie für den Unterricht ans Licht gebracht. nutze, weigern sich meine Kollegen aus

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dem IT- und Medienservice, mir zu hel- Die Vertriebswege orientieren sich fen – schließlich betreibe ich Piraterie. immer noch an nationalen Grenzen (ob- Ich kann mich genau erinnern, gleich sie für ein „sans frontiers“ gera- wie vor wenigen Jahren eine deutsche dezu prädestiniert wären). Es ist unab- DAAD-Lektorin an unserer Universi- dingbar zu verstehen, dass weder der tät ein Seminar zum deutschen Film Kinosaal noch Festivals Zugang zum eu- veranstaltete, aber über die üblichen ropäischen Film gewähren. Immer mehr Vertriebswege keinen frühen Film von Menschen leben im Long Tail, und für Wim Wenders organisieren konnte und den europäischen Film ist es an der Zeit, schließlich auf eBay „Alice in the Cities“ sich neben Bollywood und japanischen ersteigern wollte. In den Unterrichtspau- Animationsfilmen seinen Platz zu re- sen lief sie zu ihrem Computer, um die servieren. neuesten Gebote zu überbieten. Am Ende Aus dem Englischen von Jenni Roth überstieg das versteigerte Band ihr Bud- get und sie musste aussteigen. In der Uni- Dina Iordanova leitet den Fachbereich Film versitätssammlung gibt es auch heute an der Universität von St. Andrews in Schott- land, wo sie auch dem Zentrum für Filmstu- keinen einzigen frühen Wenders-Film, dien vorsteht. Sie hat sich intensiv mit der nicht anders sieht es an den meisten an- Filmszene in Osteuropa und auf dem Balkan deren britischen Hochschulen aus. Wen- beschäftigt und leitet Projekte im Bereich ders ist seit nunmehr zehn Jahren Präsi- des inter- und transnationalen Kinos. For- dent der European Film Academy. Man schungsschwerpunkte sind das Kino auf meta-nationaler Ebene sowie Nischenseg- braucht nicht viel Fantasie, um sich vor- mente. zustellen, wie wenig präsent erst Filme von Regisseuren sind, die nicht wie Wen- Quellenangaben ders von einem Bekanntheitsbonus pro- Anderson, Chris (2006): The Long Tail. How fitieren. Endless Choice is Creating Unlimited De- mand. London: Random House. Castells, Manuel (2001): The Internet Gala- Raus aus der Nische xy. Reflections on the Internet, Business, and Society, Oxford: Oxford University Europäische Förderinstitutionen en- Press. gagieren sich für eine beachtliche Reihe Gubbins, Michael (2006): Bringing it Home, in:Screen International, 8. Sept., S.2. von Netzwerken zu traditionellem Film McLuhan, Marshall (1962): The Gutenberg und für Festivals – beides Darstellungs- Galaxy. London: Routledge & Kegan Paul. formen mit begrenzter Reichweite. Dass gerade die Verbreitung im Zeitalter des Long Tail ausschlaggebend ist, davor verschließen die Verantwortlichen ihre Augen. Die Förderer bevorzugen Pro- jekte mit städtischem Publikum und vernachlässigen den technologischen

Fortschritt, der den Vertrieb von Ni- 1 Der Begriff des “Long Tail” geht auf Chris Anderson zurück. Er beschreibt die meist auf Mausklick verfügbaren Nischenprodukte, die im Einzelhandel schenproduktionen auch an abgelegenen nicht unbedingt erhältlich sind, und die dennoch lukrativer sein können als Orten erlaubt. Massenware.

142 Die Macht der Bilder Hollywood-Filme er- zählen die Geschichte des Aufstiegs vom Teller- wäscher zum Millionär immer wieder neu. Der Amerikanische Traum, der den Glauben der US- amerikanischen Gesellschaft an die Verbesse- rung des Lebens durch harte Arbeit und Willen spiegelt, wird inzwischen auf der ganzen Welt geträumt. Und wer träumt den Europäischen Traum? Überlässt Europa das Schlachtfeld der Bilder den anderen? Von Wim Wenders

deren Licht, aber immer als Paradies, als ein Traum der Menschheit, als ein Hort des Friedens, des Wohlstandes, der Zivilisation. Die, die schon lange in Europa leben, scheinen seiner überdrüssig. Die, die nicht hier sind, die woanders leben, wol- len um jeden Preis her, oder hinein. Was ist das, dass die einen haben, aber nicht mehr wollen, und wonach sich die anderen so sehnen? Oder, um mich sel- ber an die Nase zu fassen: Warum ist mir Europa so „heilig“, kaum dass ich es aus der Ferne sehe, und warum so profan, as ist Europa?“ „Wie ist Eu- alltäglich, geradezu langweilig, kaum ropa?“ Man könnte meinen: dass ich wieder hier bin? WEuropa ist im Eimer, fucked, foutue. Wenn Sie an das Verfassungs- Als ich ein Junge war, träumte ich von desaster denken, an seine tatsächliche einem Europa ohne Grenzen. Nun reise politische Macht, an die mangelnde Be- ich quer hindurch, virtuell und realiter, geisterung seiner Einwohner für „die ohne je meinen Pass zu zeigen, zahle europäische Sache“ in der letzten Zeit. sogar mit einer Währung, aber wo ist „Die Europäer“ haben Europa bis oben meine Emotion geblieben? Hier, in Ber- hin... Andererseits ist Europa der Him- lin, bin ich Deutscher, inzwischen von mel auf Erden, das gelobte Land, sobald ganzem Herzen. Aber kaum ist man in sie es einmal von außen betrachten. In Amerika, sagt man nicht mehr, man sei den vergangenen zwei Monaten habe aus Deutschland, Frankreich oder wo ich Europa aus Chicago und New York auch immer. Man kommt aus „Europa“ gesehen, aus Tokio, aus Rio, aus Aus- oder kehrt dorthin zurück. Für die Ame- tralien, mitten aus Afrika heraus, aus rikaner ist das der Inbegriff von Kul- dem Kongo, oder noch vorige Woche aus tur, Geschichte, Stil, „Savoir vivre“. Das Moskau. Einzige, was ihnen einen Minderwertig- Europa erschien jeweils in einem an- keitskomplex einjagt. Und zwar einen

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permanenten. Und auch aus Asien oder Macht wie die des Bildes. Bücher, Zei- gar anderen Teilen der Welt aus gesehen tungen, Theater... nichts kommt auch erscheint Europa wie eine Bastion von nur annähernd heran an die Macht der Menschheitsgeschichte, Würde, und, ja, bewegten Bilder, des Kinos und des Fern- wieder dieses Wort: der Kultur. sehens. Warum ist nicht nur in Europa, Europa hat eine Seele, oh ja, die muss sondern in der ganzen Welt „ins Kino man unserem Kontinent nicht erst ge- gehen“ synonym mit „einen amerika- ben. Die hat er schon. Das ist nicht sei- nischen Film sehen“?! Weil die Ameri- ne Politik und nicht seine Wirtschaft. kaner schon vor langer Zeit begriffen Das ist in erster Linie seine Kultur. Ich und das radikal umgesetzt haben, wo- renne offene Türen ein. An dieser Stelle mit die Menschen bewegt werden, wo- hat das der Präsident der Europäischen mit man sie zum Träumen bringt. Der Kommission vor zwei Jahren selber ganze „Amerikanische Traum“ ist eine schon deutlich gesagt. Ich zitiere nur Erfindung des Kinos, den inzwischen das Ende seiner Rede: „Europe is not only die ganze Welt träumt. about markets, it is also about values and Ich will das nicht diskreditieren. Aber culture. And allow me a personal remark: die Frage stellen: Wer träumt den Euro- in the hierarchy of values, the cultural ones päischen Traum? Ein konkretes aktu- range above the economic ones. If the eco- elles Beispiel fällt mir dazu ein: In den nomy is a necessity for our lives, culture is nächsten zwei Monaten oder so wer- really what makes our life worth living.” den 20, 30 oder auch 50 Millionen Eu- Ich könnte andere Teile seiner denk- ropäer ein und denselben Film sehen. würdigen Rede zitieren, am liebsten In jedem Programm, in den Nachrich- die ganze, weil er mir aus dem Herzen ten – ich habe mich durch ganz Europa spricht. Bloß: Nach außen hin, zu seinen gezappt – wurde von einer Filmpremi- Bewohnern, agiert Europa nach wie vor ere in London berichtet. Es ging, wie als eine in erster Linie wirtschaftlich Sie sicher ahnen, um James Bond, je- gesonnene Macht, mit politischen und nen hehren britischen Gentleman, einen finanziellen Argumenten, nie mit kul- Kämpfer für Recht und Unrecht, der die turellen. Europa argumentiert nicht mit Welt schon seit 40 Jahren vor dem Un- Emotionen! Wer liebt denn sein Land tergang rettet. Erinnern Sie sich an den wegen seiner Politik oder wegen seines wunderbaren Schotten, der diesen eu- Marktes? Kein Mensch! Direkt hier ne- ropäischen Helden einmal verkörpert benan ist der „Showroom“ der Europä- hat, an Sir Sean Connery? Oder an den ischen Gemeinschaft, so wie es davon in hocheleganten, kultivierten Iren, Pierce jeder Hauptstadt einen gibt. Was liegt Brosnan? Jetzt werden Millionen von da aus? Landkarten, Broschüren, Wirt- schaftsinformationen, Materialien zur Geschichte der Europäischen Union. Al- Der „Amerikanische Traum“, les langweilig, tote Hose! Wer fühlt sich den inzwischen die ganze Welt da repräsentiert oder angesprochen?! Wir leben im Zeitalter des Bildes. Kei- träumt, ist eine Erfindung des ne andere Kultur hat heutzutage so viel Kinos.

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Europäern, alle zur gleichen Zeit, über nen Ideen und Gefühle uns vor Augen Weihnachten und das Neujahr hinaus halten können! einen Kleingangster sehen, der aussieht, Es gibt keinen mächtigeren Botschaf- man wird mir das verzeihen, wie der ter von Spanien in der Welt als Pedro russische Präsident, wie Vladimir Pu- Almodóvar, von Großbritannien als ei- tin. Dieser neue Bond geht wohl ziem- nen Ken Loach, von Polen als einen An- lich brutal und rücksichtslos vor. Was drzej Wajda oder einen Polanski. will uns das sagen? Was erzählt uns da Obwohl er schon seit 13 Jahren tot diese amerikanische Produktion? Gut, ist, definiert ein Federico Fellini nach das ist jetzt überspitzt, aber der Kern wie vor die italienische Seele. Genau das dahinter bleibt ziemlich wahr: Uns gehö- tut das europäische Kino: Es formt und ren unsere eigenen Mythen nicht mehr. bildet unser Bewusstsein von uns selbst Nichts formt eine heutige Phantasie so und voneinander! Es schafft eine euro- eindringlich und ausdrücklich und lang- päische Idee, einen europäischen Wil- fristig wie das Kino. Aber wir haben das len, eben jene europäische Seele, von der nicht mehr im Griff, das gehört uns nicht hier die Rede ist. Aber schauen Sie sich mehr. Unsere ureigenste Erfindung ist doch an, welchen Platz wir diesem un- uns entglitten. serem Schatz geben, welche Rolle das im Im europäischen Kino – und das gibt europäischen Kulturleben noch spielt, es, trotz allem!, das wird in rund 50 euro- welche stiefmütterliche Aufmerksamkeit päischen Staaten produziert – haben un- das politische Europa nach wie vor nicht sere eigenen europäischen Geschichten nur dem Kino, sondern überhaupt der keinen wichtigen Rang mehr! Kultur schenkt. Dabei ist das der Kitt, In diesen Bildern des Europäischen der Klebstoff, der Zusammenhalt euro- Kinos könnte sich eine ganze neue Ge- päischer Gefühle! neration von Europäern wiederfinden, All diese Länder, die sich nach Eu- könnte sich Europa definieren, emoti- ropa sehnen, auch all die neuen oder zu- onell, kräftig, nachhaltig, könnten eu- künftigen Beitrittsländer aus dem Os- ropäische Gedanken in die Welt getra- ten, sie könnten sich auf der einen Seite gen werden, könnten wir unser höchstes vorstellen, uns von sich erzählen, uns Gut, unsere KULTUR, ansteckend kom- für sich einnehmen, und auf der ande- munizieren, die „Open Society“, die Kul- ren Seite von der europäischen Sache tur des Dialogs und des Friedens und der und der europäischen Seele empfangen Menschlichkeit, aber wir haben uns die- werden, wenn wir nur unsere gegensei- se Waffe aus der Hand nehmen lassen. tigen Botschafter stärken würden, wenn Ich sage bewusst Waffe, weil Bilder die wir in Europa auch an die Kraft der Bil- mächtigsten Waffen dieses 21. Jahrhun- der glauben wollten. Aber hier wird ein derts sind. Es wird kein europäisches schwerwiegender Fehler gemacht. Hier Bewusstsein geben, keine Emotionen wird mit Politik und mit Wirtschaft zu diesem Kontinent, keine zukünftige argumentiert, nicht mit Emotionen. europäische Identität, keine Bindung, Nebenan, im Showroom, hängen die ohne dass wir unsere eigenen Mythen, langweiligsten Karten der Welt herum, unsere eigene Geschichte, unsere eige- während in den wichtigsten Botschafts-

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räumen, den Kinos und den Fernsehern, kann sie geradezu greifen, die Europä- die Bilder-Weltmacht USA die Menschen er sehnen sich danach, aber man lässt in den Bann zieht, auch die Europäer. sie links liegen und überlässt das Feld Diese Generation, die gerade von Eu- der Bilder weitgehend den anderen. Ich ropa entzogen wird, die wird das eines hoffe, man erkennt in Europa nicht zu Tages zu einem schweren Vorwurf an spät, welches Schlachtfeld man da recht die europäische Politik machen: War- widerstandslos räumt. um habt Ihr zugelassen, dass uns Eu- ropa langweilt?! Warum habt Ihr uns Der vorliegende Text ist eine leicht gekürzte mit Politik vollgelabert, statt uns un- Fassung der Rede des Autors auf der Berliner Konferenz „Europa eine Seele geben“ im No- seren herrlichen Heimatkontinent ans vember 2006. Herz zu legen und uns zu zeigen! Eu- ropa HAT eine Kulturgeschichte, HAT Wim Wenders ist Regisseur, Fotograf und seine heutige Lebenskultur, HAT seine Professor für Film an der Hochschule für Bil- politische Kultur. dende Künste in Hamburg. George Soros nennt es „The Open So- ciety“. Gerade weil Amerika in letzter Zeit so versagt hat in der Darstellung sei- ner moralischen und politischen Werte, steht Europa heute in der Welt umso be- deutender da, ist umso mehr Vor-Bild. Aber: Dieses Vorbild ist kraftlos, wenn es nicht mehr auf die Macht sei- ner eigenen Bilder vertraut! Die offene Gesellschaft wird niemanden mitreißen, hinreißen, begeistern, solange sie abs- trakte Idee bleibt. Sie muss an Emoti- onen gebunden werden. Diese europä- ischen Emotionen liegen vor uns, man

146 Wenn Europa nicht ein Phantom der Vergangenheit sein will, sollten wir uns an die alte Bedeutung von „Seele“ er- innern: Mut. Eine Seele für Europa bedeutet dann, sich neuen Herausforde- rungen zu stellen, beson- ders den verschiedenen Gesichtern des Islam, die meist europäisiert sind und das heutige Europa prägen. Und es kann sei- ne Botschaft einer offenen und sich gegenseitig befruchtenden Gesellschaft in die Welt tragen.

Nilüfer Göle, Soziologie-Professorin, Paris

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Das Ende der nationalen Bildungsbastion Behörden und Bildungseinrichtungen werden sich darüber bewusst, dass Veränderungen im Bildungssystem nicht im Korsett nationaler Gren- zen stattfinden sollen und können. Europa rückt als international anerkannter Bildungsstandort zunehmend in den Mittelpunkt der Aufmerksam- keit. Von Guy Haug

Dieses Tabu wurde zum ersten Mal in den entscheidenden Erklärungen von Sorbonne (1998) und Bologna (1999) ge- brochen, in denen ein hohes Konver- genzniveau (ohne Uniformierung) in der Hochschulbildung gefordert wurde. Der folgende Bologna-Prozess mit aktuell 45 teilnehmenden Staaten in ganz Europa hat neue Türen geöffnet. Später könnten diese neuen Perspektiven dank des Arbeitspro- gramms „Education & Training 2010“ (E&T 2010), das die Konvergenz der Bil- dungssysteme aller EU-Länder im Sinne gemeinsamer europäischer Ziele vorsieht, is Mitte der 80er Jahre war Bil- auf andere Ebenen und Arten von Bildung dung in der Tagesordnung der erweitert werden. BEU quasi unsichtbar, Bildungs- Das Programm wurde von den europä- politik war eine nationale Angelegenheit, ischen Regierungschefs beim Gipfeltreffen das Interesse reichte nicht einmal bis zu in Lissabon verabschiedet, das im März den Nachbarländern. Die erste Genera- 2000 einen Meilenstein für das Europa tion von Mobilitätsprogrammen der EU der Zukunft setzte: die EU formulierte das (Erasmus, Comett, Lingua und etwas spä- ehrgeizige Ziel, die weltweit fortschritt- ter Tempus) brachte Bewegung in festge- lichste Wissensgesellschaft zu werden, die fahrene Traditionen: durch relativ weit- bessere Jobs schaffen, soziale Integrität läufige innereuropäische Mobilität haben fördern und gleichzeitig nachhaltig und sie die Bildungssysteme aus ihrer natio- umweltfreundlich wirtschaften würde. nalen Isolation gelöst – zunächst im Hoch- Zur selben Zeit räumte der Europäische schulwesen, später mit Socrates auch im Rat ein, dass die Lissabon-Strategie von Schulsystem –, wagten jedoch nicht, dar- einem grundlegenden Wandel im Sozial- auf hinzuweisen, dass Mobilität nur dann system (insbesondere in Beschäftigung funktionieren könne, wenn die einzelnen und Bildung) sowie von einer besonde- Schul- und Bildungssysteme besser aufein- ren Förderung von Wissenschaft und In- ander abgestimmt würden. novation abhängig sein würde. Daraufhin

150 formierte sich ein Prozess, aus dem sich in Bi ldung weniger als zwei Jahren politisch gefärbte Aktionspläne entwickelten, die im Früh- jahr 2002 in Barcelona vom Europäischen Rat verabschiedet wurden: Einerseits das erste EU-Arbeitsprogramm zur Förderung gemeinsamer Ziele der Bildungssysteme, inzwischen bekannt als E&T 2010. Ande- umgesetzt werden sollen, knüpfen an die rerseits eine Übereinkunft zur Notwen- drei strategischen Ziele Qualität – Zugang digkeit, die Investitionen für Forschung – Offenheit an. Dabei wurden zu jedem und Innovation von 1,9 auf drei Prozent Punkt konkrete Aktionsmaßnahmen for- bis 2010 nach oben zu schrauben. muliert und Indikatoren erarbeitet, die den Fortschritt beurteilen: Ein Rahmen für europäische Ziele Education & Training 2010: Drei Das E&T-2010-Arbeitsprogramm ist als strategische Richtlinien langfristiges Politikprojekt der EU und ihrer Mitgliedstaaten in europäischen Höhere Qualität und Effizienz der Bil- Bildungseinrichtungen erstaunlich unbe- dungssysteme kannt. Dabei enthält es drei Innovationen - bessere Ausbildung von Lehrkräften von strategischer Bedeutung: - orientierung an den Anforderungen Erstens definiert das Programm eine einer Wissensgesellschaft Reihe gemeinsamer europäischer Ziele, - garantierter Zugang zu Informations- an denen sich die Bildungspolitik und ihre und Kommunikationstechnologien Umsetzung auf nationaler Ebene orien- (ICT) tieren sollten. Das ist eine Neuerung, die - Förderung technischer Studiengänge das Subsidiaritätsprinzip nicht unter- - effizientere Ausschöpfung vorhande- gräbt (nach dem die Mitgliedstaaten al- ner Ressourcen. lein für Bildungspolitik und -strukturen zuständig sind), aber eine neue Dimension Leichterer Zugang zu allen Bildungs- der Zusammenarbeit im Interesse jedes systemen Landes und der Europäischen Union als - schaffung eines offenen Lernambientes Ganzem eröffnet. Das Aktionsprogramm - lernen attraktiver machen betrifft alle Ebenen der Aus-, Fort- und - Förderung einer aktiven Bürgerschaft Weiterbildung auch jenseits der formellen und des sozialen Zusammenhalt. Bildungssysteme mit einer Perspektive, die auf lebenslanges Lernen ausgerichtet Öffnung der Bildungssysteme ist. Die 13 konkreten Ziele, die bis 2010 nach außen - stärkere Verknüpfung von Lernen mit Arbeit, Forschung und Gesell- Die EU formulierte das ehr- schaft geizige Ziel, die weltweit fort- - Förderung von Unternehmergeist und Fremdsprachenunterricht schrittlichste Wissensgesell- - bessere Mobilität und Austausch schaft zu werden, die bessere - stärkere europäische Zusammenar- Jobs schaffen, soziale Integrität beit (innerhalb von Europa und welt- fördern und gleichzeitig nach- weit). haltig und umweltfreundlich Zweitens wollten die Minister nicht wirtschaften würde. nur der „Einladung“ des Europäischen

151 Bi ldung Studenten, Stipendiaten und Forscher wird.

Drittens haben sich die Mitgliedstaaten zum ersten Mal in der Geschichte der EU auf europäische Ziele im Bildungsbereich festgelegt und die Dokumentation ihrer Rates für eine engere Zusammenarbeit entsprechenden Fortschritte zugesagt. folgen: Sie untermauerten ihre Absichten Fünf quantitative Ziele wurden für die mit großer Eigeninitiative und schraubten EU als Ganzes definiert. Sie betonen die die Ziele zwecks Qualitätssteigerung und Fortschritte, die dank abgestimmter Be- internationalem Ansehen als „Hort der mühungen bis 2010 erreicht werden soll- Qualität“ noch höher. Sie unterstrichen ten und darauf zielen, die Zahl der Schul- zudem, dass Europa – das seinen Status abbrecher zu reduzieren, grundlegende als beliebtestes Ziel ausländischer Studie- Wissenslücken zu schließen, die Abnei- render längst an die USA abgeben muss- gung gegen wissenschaftliche und tech- te – bis 2010 wieder zur ersten Wahl bei nologische Fächer abzubauen, die Quote Studenten, Professoren und Forschern aus von Hochschulabsolventen oder die Teil- anderen Weltregionen avancieren sollte. nahme an weiterbildenden Angeboten zu Diese Statements signalisieren eine Kehrt- erhöhen. Dennoch ist es nicht gelungen, wende in der Bildungspolitik und haben sich auf ein Mindestniveau der Bildungs- Politiker ermutigt, die europäische und ausgaben zu einigen, etwa auf einen Pro- internationale Dimension kultureller, zentsatz des Bruttoinlandsprodukts. sozialer und bildungspolitischer Heraus- forderungen im Rahmen des Arbeitspro- Europäische Zielsetzungen gramms stärker zu beachten. Das E&T- („benchmarks“) 2010-Arbeitsprogramm sollte den Weg für folgende Ziele ebnen: - schulabschluss: bis 2010 sollte der Anteil junger europäischer Schulab- - ein hohes Qualitätsniveau, das Eu- brecher auf unter zehn Prozent ge- ropa in Sachen Bildungssysteme und drückt werden -einrichtungen zum weltweiten Maß- - Mathematik, Naturwissenschaften stab für Qualität und Relevanz macht und Technologie: die Zahl der Di- - eine ausreichende Vereinbarkeit der plomanden in diesen Fächern sollte europäischen Bildungssysteme, um EU-weit bis 2015 um mindestens 15 größere Mobilität zu schaffen und so Prozent gehoben und die Frauenquo- die Vielfalt in Europa vom Nachteil te erhöht werden zum Vorteil zu machen - höhere Schulbildung: bis 2010 sollten - realistische Aussichten für alle, die in mindestens 85 Prozent der 22-jäh- Europa jegliche Art von Bildung ge- rigen EU-Bürger eine Sekundaraus- nossen haben, auf dem europäischen bildung abgeschlossen haben Arbeitsmarkt oder von weiterführen- - Grundausbildung: bis 2010 sollte der den Bildungsmaßnahmen zu profitie- ren - Zugang aller Europäer zu lebenslan- Die Mitgliedstaaten haben sich gen Bildungsmöglichkeiten in ganz zum ersten Mal in der Ge- Europa schichte der EU auf europäische - ein Europa, das offen für Kooperati- onen mit anderen Weltregionen und Ziele und deren Dokumentation bis 2010 beliebtestes Ziel mobiler im Bildungsbereich festgelegt.

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Anteil der 15-Jährigen mit unzurei- der Lehrerausbildung, die Definition von chenden Lesekenntnissen im Ver- Kernkompetenzen in einer Wissensgesell- gleich zum Jahr 2000 um mindestens schaft, die optimale Nutzung von Informa- ein Fünftel reduziert werden tions- und Kommunikationstechnologien, - lebenslanges Lernen: bis 2010 soll- die Förderung der Naturwissenschaften, ten durchschnittlich mindestens 12,5 die Verbesserung von Beratertätigkeiten Prozent der arbeitenden EU-Bürger und Führungskräften, das Ausarbeiten zwischen 25 und 64 Weiterbildungs- eines schlüssigen Qualifikationsrahmens, maßnahmen in Anspruch nehmen. angemessene Autonomie der Schulen etc.). Die Maßnahmen haben einen gegensei- Diese Zielsetzungen („benchmarks“) tigen Lerneffekt: Schlüsselfragen und die erlauben jedem EU-Land und der EU als Effizienz politischer Maßnahmen können Ganzem sich am europäischen Durch- im Ländervergleich erläutert und ausge- schnitt und mit den internationalen Spit- wertet werden. zenreitern zu messen (vergleichbar mit Am besten lässt sich der Prozess an dem PISA-Projekt der OECD, das Lese- einem Meilenstein im Bildungssystem und EDV-Kenntnisse in verschiedenen erkennen: die Definition der Rolle von Ländern vergleicht). Der Abstand zu den Lehrkräften und deren Ausbildung. Für Zielen und der Fahrplan für den Erfolg diesen Bereich interessierte sich eine der unterscheiden sich von Land zu Land. Arbeitsgruppen, die im Rahmen des Bil- Aber die „benchmarks“ sind nicht nur dungsprogramms 2010 gebildet wurden. technische Instrumente zur Unterstüt- Im Licht der neuen Herausforderungen zung von Reformen: sie treffen eine kla- an die Lehrkräfte (sei es in der Vorschu- re politische Aussage, da ein erfolgreicher le, in der Grund- oder weiterführenden Auftritt der EU als Ganzes von den An- Schule sowie in der technischen, beruf- strengungen aller in allen Ländern ab- lichen oder fachlichen Ausbildung) hat hängt – Aspekte, die man bislang in der sich aus dem Dialog zwischen den EU- EU nicht mit Bildung und Ausbildung in Mitgliedern und Akteuren aus dem Bil- Verbindung brachte. dungssektor eine neue Vision für die kom- menden Jahrzehnte herauskristallisiert. Schulbildung Sie basiert auf einem neuen europäischen Profil, das sich an den Schlüsselqualifika- Die Liste der vereinbarten europä- tionen der Zukunft orientiert. Lehrkräfte ischen „benchmarks” offenbart die Kon- sollten einen Hochschulabschluss vorwei- zentration des Bildungsprogramms 2010 sen, lebenslang lernen und einen Teil ihrer auf die Schulbildung. Es umfasst aber auch Ausbildung im Ausland absolvieren. Un- Qualitätsförderung und Attraktivität der ter den Schlüsselqualifikationen, über die Berufsausbildung als Teil des Kopenha- jeder Lehrer verfügen sollte, stechen drei gen-Prozesses. Mehrere Arbeitsgruppen hervor: die Fähigkeit, mit Wissen, Infor- haben Experten und Entscheidungsträger mationen und Technologien umzugehen; zusammengebracht, um die größten De- soziale Kompetenz (im Umgang mit Schü- fizite in der Schulbildung und in Schlüs- lern, Kollegen und anderen Partnern); das selbereichen zu definieren (Mängel bei Vermögen, mit und in der Gesellschaft zu

153 Bi ldung zungen des Bologna-Prozesses entspre- chen, sondern dass die EU sich für eine weiterführende und tiefergehende Mo- dernisierung der Hochschulbildung und Forschung einsetzt. Diese Tatsache ver- leiht der traditionellen Rolle der EU eine politische Dimension in Hochschulfragen arbeiten – auf lokaler, regionaler, natio- (bei der Zusammenarbeit und Mobilitäts- naler, europäischer und globaler Ebene. programmen) sowie in der Forschung Diese Prinzipien dienen als Richtlinie für und Innovation (bei der Reihe der Rah- einen zukunftsweisenden Dialog und Re- menprogramme). Die Agenda der EU für formvorhaben in jedem Land und jeder die Modernisierung der Hochschulland- Institution, indem sie Interessenvertretern schaft wurde durch das Arbeitsprogramm und Entscheidern einen überarbeiteten, E&T 2010 ermöglicht. Es wurde in zwei offenen, dynamischen und europaweiten wichtigen Mitteilungen der Europäischen Bezugsrahmen bieten. Kommission auf den Weg gebracht: 2005 bekannte „Mobilising the brain- Universitäten: Höhere Bildung power of Europe” den Rückstand europä- und Forschung ischer Universitäten in Bezug auf Zugang, Image und Bedeutung. Die Mitteilung Auf Universitätsebene, sei es in Bezug stellte die Hauptgründe für die Fragmen- auf Hochschulbildung, Forschung oder In- tierung, Unterfinanzierung und Über- novation, ist die Feststellung wichtig, dass regulierung heraus und skizzierte einen die EU-Agenda für die Modernisierung der Plan zur Umsetzung der Lissabon-Stra- Universitäten als Teil der Lissabon-Strate- tegie an den Universitäten. Es setzt einen gie nunmehr mit dem strukturellen Wan- Schwerpunkt auf folgende Reformlinien: del im Zuge des Bologna-Prozesses über- die Renovierung der Lehrpläne und For- einstimmt und ihn so verstärkt. Die Ziele, schungsprogramme an Universitäten; eine die dem Bologna-Prozess zugrunde liegen klarere Abgrenzung von Institutionen; (Arbeitsfähigkeit, effizientes Lernen, Mo- bessere Verwaltungsmodelle für Systeme bilität) sind gleichzeitig Kernpunkte der und Institutionen; größere Investitionen EU. Bologna bedient sich diverser Instru- in Hochschulwesen und Forschung, die mente, die als Teil von EU-Programmen einer konkurrenzstarken und schnellle- entwickelt wurden, etwa die ECTS Cre- bigen Wissensgesellschaft gerecht werden. dits oder das ENQA-Netzwerk für Qua- Diese Prioritäten wurden vom Europä- litätssicherungsagenturen. Im Gegenzug ischen Rat gefördert, der zu weiteren Ini- unterstützen diverse EU-Aktivitäten den tiativen der Stärkung und Modernisierung Bologna-Prozess, sei es durch neue oder im Hochschulsystem auffordert. wieder aufgelegte Programme wie Eras- mus Mundus oder Marie Curie, oder das E&T-2010-Arbeitsprogramm. Bestärkt Die EU formulierte das ehr- wird der Prozess durch den grenzüber- geizige Ziel, die weltweit fort- schreitenden Vergleich von Lehrplänen und Kernkompetenzen in verschiedenen schrittlichste Wissensgesell- Fächern („Tuning“-Programm) oder die schaft zu werden, die bessere Empfehlung zur Stärkung der Zusam- Jobs schaffen, soziale Integrität menarbeit von Qualitätssicherungsagen- fördern und gleichzeitig nach- turen. Daraus wird ersichtlich, dass nicht nur haltig und umweltfreundlich die strukturellen Reformen den Zielset- wirtschaften würde.

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2006 veröffentlichte die Kommission Ausland oder in der Industrie absolvieren; als Antwort auf den Antrag des Europä- die Möglichkeit, studentische Darlehen ischen Rats eine weitere Mitteilung, „Deli- auch über Ländergrenzen hinaus in An- vering on the modernisation agenda of Eu- spruch zu nehmen; die Anerkennung aka- ropean universities”. Zum wiederholten demischer Abschlüsse zu erleichtern; eine Mal wurde festgehalten, dass das enorme Ausbildung im Umgang mit geistigem Ei- Potenzial europäischer Universitäten in gentum, Unternehmertum und Teamwork Regulierungswut und anderen Hürden als Teil einer wissenschaftlichen Karriere erstickt. Um das Wissensreservoir, die etc. Diese Änderungen in der Schul- und Talente und die vorhandene Energie voll Weiterbildung und Forschung markieren auszuschöpfen, ist ein unmittelbarer, tief- eine neue Ära. Seit der Verabschiedung greifender und koordinierter Wandel von- des Arbeitsprogramms E & T 2010 haben nöten: Die Regulierung der Hochschul- sich Bildung, Forschung und Innovation systeme muss gelockert, ihr Management allmählich aus ihrem stiefmütterlichen und ihre Verwaltung den aktuellen Er- Dasein gelöst und sind zu Anliegen der fordernissen angepasst werden. Jede Ein- europäischen Tagesordnung avanciert. richtung sollte eine ihrem Land oder ihrer Während die politischen Maßnahmen Region angemessene Mischung aus Bil- im Sinne des Subsidiaritätsprinzips in die- dung, Forschung und Innovation finden. sem Feld weitgehend unter der Obhut nati- Das erfordert eine differenzierte Heran- onaler Regierungen bleiben, erörtert man gehensweise. Ziel ist es, die Rolle der eu- sie neuerdings im Rahmen einer neuar- ropäischen Universitäten in der globalen tigen Zusammenarbeit und macht sich für Wissensgesellschaft zu stärken. gemeinsame europäische Ziele stark. Nur so kann Europa wirtschaftlich mithalten und Lehre und Forschung auf Aus dem Englischen von Jenni Roth ein Spitzenniveau hieven. Das Papier stellt auch eine kurze Liste von Kernmaßnah- Guy Haug ist unabhängiger Experte für euro- päische und internationale Bildungspolitik mit men auf, die überall umgesetzt werden soll- Schwerpunkt auf der Hochschulpolitik. Er hat ten: mehr Autonomie und Verantwortung entscheidend bei der Gestaltung des Bologna- der Universitäten; effizientes Management Prozesses mitgewirkt. Zudem hat er für die Eu- von Ausgaben und größere Verantwort- ropäische Kommission die Zielsetzungen für lichkeit für eine nachhaltige universitäts- Hochschulen im Rahmen der Lissabon-Strate- gie mit ausgearbeitet. interne Finanzierung; die Überarbeitung nationaler Studiengebühren und Förde- Quellenangaben rungsstrukturen mit dem Ziel, Zugangs- Alle Dokumente, auf die hier Bezug genom- und Erfolgschancen aller qualifizierten men wird, können nachgelesen werden unter: Studenten unabhängig von ihrer Herkunft (Aus-)Bildung (http://ec.europa.eu/education/ policies/2010/et_2010_en.html); Forschung/ zu erhöhen; die flexiblere und interdis- Innovation (http://europa.eu/scadplus/leg/ ziplinäre Gestaltung von Stundenplänen, en/lvb/i23010.htm); Lissabon Strategie und um so die Ansprüche der Erwerbstätigen Bologna Prozess (http://www.bologna-ber- sowie einer alternden Bevölkerung in Eu- gen2005.no). ropa zu erfüllen; eine höhere Zahl von Studenten, die mindestens ein Semester im

155 Lernen mit der Zeit Ein Lehrer würde sich nach einer Zeitreise aus den 50er Jahren in die Gegenwart weiter zurechtfinden. Ein Chirurg hingegen wäre hilflos angesichts neuer Techno- logien. Hat die Schule Reformen nicht nötig oder hinkt sie dem künftigen Gesellschaftsmodell hinterher? Während Asien im OECD-Vergleich aufholt, erkennen die Europäer erst allmählich, dass Schule auch soziale Kompetenzen vermitteln muss. Von Andreas Schleicher

tumsimpulse auf Mechanisierung und Wettbewerbsvorteile auf „economies of scale“. Heute kommen Wachstumsimpul- se aus Digitalisierung und Miniaturisie- rung, Wettbewerbsvorteile beruhen auf Innovation und Zeitnähe. In der Indus- triegesellschaft war das Firmenmodell der Einzelbetrieb, heute sind es flexible Allianzen der Mitbewerber. In der Indus- triegesellschaft war Vollbeschäftigung das politische Ziel, heute ist es „employ- ability“: Menschen dazu befähigen, ih- ren Horizont in einer sich ständig verän- dernden Gesellschaft zu erweitern. In der ildung spielt seit Menschengeden- Industriegesellschaft hatten Berufspro- ken eine wichtige Rolle. Warum file eine klare Identität im berufsspezi- Baber wird Bildung gerade heute fischen Kontext und formale Qualifika- zum zentralen Schlüssel für die europä- tionen waren der Schlüssel zum Erfolg. ischen Staaten, und zwar nicht nur für Heute sind es Konvergenz, Transformati- den Erfolg des Einzelnen, sondern auch on und lebensbegleitendes Lernen. für Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit Neue Technologien haben diese Ent- der Staaten insgesamt? Klar ist, dass sich wicklungen entscheidend mitbestimmt, die Rahmenbedingungen der mensch- wie Thomas Friedmann in seinem Buch lichen Lebens- und Arbeitswelt grund- „The world is flat“ anschaulich be- legend verändert haben. In der Industrie- schreibt, dessen Überlegungen dieser gesellschaft bis in die zweite Hälfte des Artikel an vielen Stellen widerspiegelt: 20. Jahrhunderts waren Märkte stabil, Seit den 80er und 90er Jahren konnten der Wettbewerb national ausgerichtet, Menschen dank PC ihre Arbeit in digi- Organisationsformen hierarchisch. In taler Form verfassen; das World Wide der Wissensgesellschaft sind Märkte dy- Web begann Informationen, die bis da- namisch, der Wettbewerb global und hin verstreut auf Computern gespeichert Organisationsformen vernetzt. In der waren, zu organisieren, zu systematisie- Industriegesellschaft basierten Wachs- ren und vor allem global zugänglich zu

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machen. Und schließlich boten Produkte neuer Absatzmärkte. Jedoch hieß das für wie Word, Excel oder PayPal Standards Europa im Wesentlichen nur steigende für vernetztes Arbeiten. Gleichzeitig führ- Nachfrage nach Menschen mit hohem te die Deregulierung in der Telekommu- oder mittlerem Qualifikationsniveau, nikationsbranche zur „dot-com bubble“: denn die Arbeitsplätze für einfache Tätig- Investoren zahlten Milliarden an die Te- keiten blieben in den Abnehmerländern. lekommunikationsunternehmen, die sich Natürlich schaffen technologische ihrerseits hohe Gewinne erhofften und in Neuerungen alleine noch keine Produk- Kommunikationstechnologie und Glasfa- tivitätsfortschritte. Aber deren Nutzung serkabel investierten, um die Staaten und ermöglicht neue Arbeitsstrukturen, Ar- Kontinente zu vernetzen. In der Folge san- beits- und Verhaltensweisen. Im Ergeb- ken die Kosten für Telefon und Internet nis entstand dadurch um die Jahrtau- so drastisch, dass viele der Technologie- sendwende eine globale Plattform, die firmen, die für die weltweite Vernetzung es Nutzern überall auf der Welt ermög- gesorgt hatten, selbst an dieser Entwick- lichte, Wissen auszutauschen, mit ande- lung zugrunde gingen. Aber die vernetzte ren Menschen zu kommunizieren, zu ar- Welt, niedrige Kommunikationskosten beiten oder zu konkurrieren. Personen, und die Verbreitung neuer Technologien Firmen oder auch Staaten rund um den ermöglichten neue Formen der globalen Globus konnten im Rahmen von komple- Zusammenarbeit. xen Ketten kooperieren und am globalen Es folgte der Börsencrash in der Tech- Wettbewerb teilnehmen. Als Folge dieser nologiebranche, der entgegen landläufiger Entwicklungen kann jede Arbeit und jede Auffassung die Globalisierungsprozesse Dienstleistung, die irgendwie zerlegbar jedoch nicht abgeschwächt, sondern erst und digitalisierbar ist, heute vom besten richtig angefacht hat. Die Firmen fingen und effizientesten Anbieter überall auf der an zu sparen und versuchten, ihre Pro- Welt durchgeführt werden. Eine große dukte billiger zu produzieren. In einer Herausforderung für die Gesellschaften technologisch vernetzten Welt ergaben Europas liegt allein darin, dass sich drei sich vielfältige Möglichkeiten, einfache Milliarden Menschen in Ländern wie Chi- Produktionstätigkeiten oder Serviceleis- na, Indien, Russland und Osteuropa oder tungen in Länder wie China oder Indien Brasilien, die bis vor Kurzem von der glo- zu verlagern. Die europäischen Staaten balen Gemeinschaft ausgeschlossen wa- standen plötzlich im Wettbewerb mit ren, weil sie in hierarchischen und ver- Staaten, die einfache Qualifikationen zu tikalen politischen und wirtschaftlichen erheblich niedrigeren Kosten anboten. Strukturen lebten, dank technologischer In Europa begann die Arbeitslosigkeit Möglichkeiten heute aktiv in die vernetzte unter gering qualifizierten Menschen Welt einbringen können. Der Kollaps der zu steigen. Andere Wirtschaftsbereiche Sowjetunion, Indiens Abkehr von einer verschwanden komplett, weil die Infor- nach innen gerichteten autarken Wirt- mationstechnologie sie überflüssig mach- schaft und Chinas wirtschaftliche Öff- te. Natürlich profitieren die europäischen nung haben die globale Gesellschaft und Staaten auch von der Globalisierung, ins- Wirtschaft über Nacht auf sechs Billionen besondere durch die Erschließung großer Menschen erweitert.

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Sicher dominiert China heute nur den abschlüssen im Zeitverlauf deutlich, wie Produktionsbereich, aber der Wettbewerb die Bildungssysteme in der industrialisier- durch niedrige Fertigungskosten ist für ten Welt in den letzten Jahrzehnten aus- China lediglich ein Übergang. Die län- gebaut wurden: In den 60er Jahren lag gerfristige Strategie Chinas ist es, den Deutschland bei den Abschlussquoten im Wettbewerb gegen die westlichen Indus- Universitätsbereich gut im Mittelfeld der triestaaten nicht am unteren, sondern am OECD-Staaten. In den 70er Jahren holten oberen Ende der Leistungspalette zu ge- jedoch viele Staaten auf, in den 80er Jah- winnen, und dazu setzt China konsequent ren ging der dynamische Aus- und Umbau auf Bildungsinvestitionen. der tertiären Bildungssysteme weiter und Die PISA-Resultate Hongkongs, die in den 90er Jahren legten einige Staaten von keinem westlichen Staat übertroffen noch einmal deutlich zu. Korea als Land, werden, geben uns schon heute einen Ein- das in den 60er Jahren das Bruttoinlands- druck davon, was China eines Tages – bei produkt von Afghanistan erwirtschaftete, einer weiteren politischen Öffnung – leis- ist von einem der letzten Plätze im OECD- ten könnte. Auch erste Pilotstudien selbst Vergleich in die internationale Leistungs- in ärmeren westlichen Regionen Chinas spitze vorgestoßen. Deutschland dagegen zeigen ein PISA-Leistungsniveau, das zu- ist auf den 23. Platz unter den 30 OECD- mindest im Fach Mathematik mit Europa Staaten zurückgefallen – nicht, weil die mithält. Diese Veränderungen hin zu ei- Hochschulbeteiligung in Deutschland zu- ner globalen Wissensgesellschaft haben rückgegangen ist, sondern weil sowohl die entscheidenden Einfluss auf die Bildungs- universitäre als auch die nichtuniversitäre landschaft. Im Folgenden werden diese tertiäre Bildungsbeteiligung in so vielen kurz skizziert, um so Handlungsfelder Staaten in diesem Zeitraum so viel schnel- und sich daraus ergebende Herausforde- ler gestiegen ist. rungen aufzeigen zu können. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass die europäischen Staaten heute Bildungspolitisches Nachsehen? nicht mehr mit Schwellenländern kon- kurrieren, die geringe Qualifikationen Es gibt verschiedene Möglichkeiten zur zu geringen Kosten anbieten, sondern mit Bewertung des vorhandenen Bestands an Ländern wie China oder Indien, die mehr Kenntnissen und Fähigkeiten einer Be- und mehr nach Spitzenqualifikationen völkerung. Meist wird der jeweils höchs- streben. In der Vergangenheit konnten te erreichte Bildungsabschluss der Er- die Bildungssysteme Europas sich auf wachsenenbevölkerung gemessen, wobei sich selbst beziehen, in einer vernetzten dieses Maß lediglich formale Qualifikati- Welt dagegen muss die nationale Sicht- onen berücksichtigt, deren Aussagekraft weise durch eine globale Sichtweise er- über die Qualität der Bildung an sich be- gänzt werden, und man muss sich darüber grenzt ist und zudem nur bedingt inter- im Klaren sein, dass unzureichende Bil- national vergleichbar ist. Legt man einen dungsinvestitionen sinkende Lebensqua- solchen quantitativen Vergleichsmaßstab lität bedeuten, sowohl für den Einzelnen zugrunde, so zeigen etwa Veränderungen als auch für Staaten, die am Übergang der Abschlussquoten bei den Universitäts- in die Wissensgesellschaft scheitern. Die

158 OECD-Indikatoren zeigen, dass für Ab- Bi ldung solventen des Tertiärbereichs die Arbeits- marktbeteiligung deutlich höher und das Arbeitslosigkeitsrisiko deutlich geringer ist als für Personen ohne Tertiärabschluss, insbesondere in späteren Lebensjahren. Ebenso gilt, dass in allen OECD-Staaten in den 90er Jahren mindestens die Hälfte dern wie China oder Indien auf eine der Zunahme des Bruttoinlandsprodukts sinkende Nachfrage nach höheren Qua- pro Kopf auf einen Anstieg der Arbeits- lifikationen in Europa zu schließen, unter produktivität und damit im Wesentlichen der Annahme eines Nullsummenspiels: auf ein besseres Bildungsniveau zurück- Eine Arbeitskraft, die ein wissensbasier- zuführen ist. tes Produkt schafft, etwa ein Buch oder Es gibt auch keine Anzeichen, dass der eine Dienstleistung als Berater, kann ihr dynamische globale Ausbau des tertiären Produkt an umso mehr Menschen verkau- Bildungssystems zu einer „Inflation“ der fen, je größer der Markt ist. Deswegen Qualifikationen führt. Ganz im Gegen- werden die Chancen für die gut Gebil- teil, unter den Staaten, in denen der An- deten weiter steigen, während die Risiken teil der 25- bis 64-Jährigen mit tertiären für Menschen mit unzureichender Ausbil- Abschlüssen seit 1995 um mehr als fünf dung zunehmen. Prozentpunkte gestiegen ist – Australi- en, Dänemark, Frankreich, Irland, Ja- Lernen fürs Leben pan, Kanada, Korea, Spanien oder Eng- land – haben die meisten Staaten sinkende Unstrittig ist auch, dass sich strate- Arbeitslosenquoten sowie steigende Ein- gische Zielsetzungen für Bildungsre- kommensvorteile unter den Tertiärabsol- formen nicht auf den quantitativen Aus- venten verzeichnet. In Deutschland stieg bau der Bildungssysteme beschränken der Einkommensvorteil einer tertiären dürfen – nach dem Motto: Mehr vom Ausbildung zwischen 1998 und 2003 von Gleichen. Kurzsichtig wäre es auch, Bil- 30 auf 53 Prozent, auch dies ein wichtiger dungssysteme nach dem gegenwärtigen Indikator dafür, dass die Nachfrage nach Arbeitskräftebedarf, und damit in die Ver- Spitzenqualifikationen deutlich schneller gangenheit, auszurichten. Viele der er- gewachsen ist als das Angebot. folgreichen Bildungssysteme orientieren Völlig falsch wäre es, aus der stei- sich heute an der traditionellen Ausbil- genden Zahl von Spitzenkräften in Län- dung. Sie zielt darauf ab, den gegenwär- tigen Qualifikationsbedarf des Arbeits- markts abzudecken, um strategisch in die weiterführende Bildung junger Men- Korea als Land, das in den 60er schen zu investieren. Nur so lernen die- Jahren das Bruttoinlandspro- se, ihren eigenen Horizont beständig zu dukt von Afghanistan erwirt- erweitern und den wirtschaftlichen und schaftete, ist von einem der letz- sozialen Wandel der Gesellschaft aktiv zu gestalten. ten Plätze im OECD-Vergleich Die wichtigste Herausforderung für Bil- in die internationale Leistungs- dung ist, Menschen darauf vorzubereiten, spitze vorgestoßen. Deutsch- aktiv und selbstbestimmt an der Gesell- land dagegen ist auf den 23. schaft teilzuhaben und sie mitzugestalten, und dabei unterschiedliche Dimensionen Platz unter den 30 OECD-Staa- des Handelns – kognitive, moralische und ten zurückgefallen. soziale – in ihrer eigenen Bedeutung zu

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sehen und zu nutzen. Die OECD geht von mative Festlegungen an ihren Implikati- drei Kategorien von zukunftsweisenden onen in der Wirklichkeit messen. Wenn Schlüsselkompetenzen aus, die ein breites man, wie eingangs beschrieben, davon Spektrum an Unterrichtsinhalten voraus- ausgeht, dass in einer globalen vernetzten setzen und etwa sozialen oder musischen Welt jede Arbeit, die digitalisierbar ist, Kompetenzen ähnliche Bedeutung ein- überall auf der Welt verfügbar ist – und räumen wie kognitiven: Zunächst treten das bedeutet beim gegenwärtigen Lohn- Menschen mit der Welt durch kognitive, niveau oft außerhalb von Europa – dann soziokulturelle und physische Medien und muss man im Umkehrschluss fragen, wel- Mittel in Verbindung. Diese Art der Inter- che Tätigkeitsfelder für Europas Zukunft aktion bestimmt, wie sie die Welt deuten bleiben: Welche Arbeiten lassen sich nicht und Kompetenzen darin erwerben. Das ohne weiteres digitalisieren, automati- allein garantiert aber nicht den Erfolg sieren oder outsourcen? Welche Kompe- junger Menschen. Die Globalisierung ist tenzen sind für diese Tätigkeiten nötig heute nicht mehr primär eine Frage der und wie lassen sie sich bewerten? Interaktion von Staaten, wie in den ver- Im Bereich der ersten der drei oben ge- gangenen Jahrhunderten, oder eine Fra- nannten Kompetenzklassen legen Schu- ge der Interaktion multinationaler Unter- len traditionell großes Gewicht auf ana- nehmen, wie in den letzten Jahrzehnten, lytische Fähigkeiten, mit denen fachliche sondern zunehmend eine Frage, wie sich Probleme zerlegt und dann gelöst wer- der Einzelne konstruktiv in die Wissens- den. Auf der anderen Seite wird immer gesellschaft einbringen kann. Vorausset- deutlicher, dass die großen Durchbrüche zung dazu sind Kompetenzen, mit denen und Paradigmenwechsel heute meist dann Menschen sich in einer sich beständig ver- entstehen, wenn es gelingt, verschiedene ändernden Welt immer wieder neu positio- Aspekte oder Wissensgebiete, zwischen nieren, eigenständig und verantwortungs- denen Beziehungen zunächst nicht offen- bewusst handeln. Mit denen sie aktiv an sichtlich sind, zu synthetisieren. Beispiele verschiedenen Lebensbereichen teilneh- sind der Sozialarbeiter in der Schule oder men und mitgestalten, Rechte, Interessen, der Computerspezialist, der das mensch- Grenzen und Bedürfnisse erkennen und liche Genom systematisiert und gemein- verantwortlich wahrnehmen. Und anhand sam mit Pharmaunternehmen die gewon- derer sie individuellen Plänen und Pro- nenen Erkenntnisse in neue Medikamente jekten einen größeren Bezugsrahmen ver- umsetzt. Die Fähigkeit zur Synthese ver- leihen. Drittens müssen Menschen in der schiedener Gebiete wird an Bedeutung Lage sein, tragfähige Beziehungen aufzu- bauen, zu kooperieren und in Teams zu arbeiten, mit Konflikten umzugehen und sich in multikulturellen und pluralisti- Die Fähigkeit zur Synthese ver- schen Gesellschaften konstruktiv einzu- schiedener Gebiete wird an Be- bringen. Die zunehmende Heterogenität deutung gewinnen, da sie sich ist nicht ein Problem, sondern ein Poten- zial der Wissensgesellschaft. nicht ohne weiteres digitalisie- Natürlich müssen sich derartige nor- ren oder automatisieren lässt.

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gewinnen, da sie sich nicht ohne weiteres tems zu Beginn des Arbeitslebens ein ste- digitalisieren oder automatisieren lässt. tig wachsendes Arbeitslosigkeitsrisiko in Je komplexer die Arbeitswelt wird, und späteren Lebensjahren gegenüber. Offen- je mehr der Umfang kodifizierten Wis- bar gelingt es besagten Absolventen we- sens zunimmt, umso mehr werden außer- niger, sich später den rasch wandelnden dem Menschen an Bedeutung gewinnen, Anforderungen der Arbeitswelt anzupas- die die Komplexität nicht nur verstehen, sen. Die Gründe sind offensichtlich: Jedes sondern gleichzeitig in die Sprache ande- Gehalt spiegelt sowohl die transversalen rer Fachgebiete übersetzen können und wie auch arbeitsplatzspezifischen Fähig- damit für Menschen anderer Fachrich- keiten wieder. Geht ein Arbeitsplatz ver- tungen und oft im lokalen Kontext ver- loren, weil sein berufsspezifisches Aufga- ständlich machen. Dazu gehört wesent- benprofil nicht mehr benötigt wird – etwa lich auch die Fähigkeit, Informationen weil Technologien dieses Profil ersetzen –, sinnvoll zu filtern, relevante Informati- dann haben Menschen mit diesem be- onen von weniger relevanter Information rufsspezifischen Aufgabenprofil einen zu unterscheiden etc. schweren Stand. Selbst wenn sie einen Bei der zweiten Kompetenzklasse kann neuen Job mit einem neuen Aufgabenbe- man beobachten, dass in unserer Gesell- reich finden, wird der neue Arbeitgeber schaft nicht mehr Generalisten oder Spe- nur die transversalen Fähigkeiten vergü- zialisten die entscheidende Rolle spielen ten, während spezielle Fähigkeiten, die werden, sondern Menschen, die zwischen am neuen Arbeitsplatz nicht mehr zur Gel- diesen beiden Ebenen vermitteln. tung kommen, sich zumindest im Gehalt Natürlich sind Generalisten mit einem nicht niederschlagen werden. großen Wissensradius und transversalen Im Bereich der dritten Kompetenzklas- Handlungsspielraum weiter wichtig. Auch se verlangen komplexere Wirtschaftsbe- Spezialisten werden innerhalb ihrer Pro- ziehungen und Handelsketten, dass Men- fession weiterhin Anerkennung finden. schen komplexe Prozesse innerhalb ihres In einer komplexen, sich verändernden Arbeitsfeldes und zwischen verschiedenen Welt kommt es jedoch zunehmend auf die Arbeitsfeldern im Zusammenspiel mit an- Fähigkeit an, sich vertieftes Fachwissen deren Menschen und Gruppen wirksam in neuen Zusammenhängen zu erwer- orchestrieren. Ebenso gewinnen interper- ben, den eigenen Horizont durch lebens- sonelle Kompetenzen an Bedeutung, mit begleitendes Lernen beständig zu erwei- denen globale Prozesse, Produkte oder tern, neue Rollen einzunehmen und sich Dienstleistungen im jeweiligen lokalen ständig neu zu positionieren. Vor diesem Kontext personalisiert werden. Hintergrund muss auch der Erfolg der Wie leistungsfähig China oder Indien deutschen Berufsausbildung neu bewer- auch immer sein werden – auch in Eu- tet werden: Die duale Berufsausbildung ropa haben in diesem Sinne gut ausge- als Alternative zur akademischen Aus- bildete Menschen in Zukunft gute und bildung genießt international hohe An- wachsende Chancen. erkennung für die wirksame Integration Erfolgreiche Bildungssysteme legen junger Menschen in den Arbeitsmarkt. nahe, dass eine systemisch verankerte, Jedoch steht dem Erfolg des dualen Sys- tief greifende Verbesserung der Unter-

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richtsqualität nicht auf mehr Vorgaben unzureichend verknüpft. beruht, sondern auf wirksame Anreize, Moderne Bildungssysteme müssen sich mit denen Lehrer und Schulen von- und die Frage stellen, wie sie Wissen nicht miteinander lernen und die ihnen Ent- bloß vermitteln, sondern als Motor für wicklungsperspektiven bieten. Entwicklung und Innovation dienen. Es Vielfalt wird hier nicht mit instituti- gibt kaum ein Unternehmen, das einen oneller Fragmentierung und Selektions- so hohen Anteil hoch qualifizierter Men- mechanismen beantwortet, sondern mit schen beschäftigt wie das Bildungssys- einem konstruktiven Umgang mit den tem. Aber dieses Potenzial wird heute oft verschiedenen Fähigkeiten, Interessen nur zur Vermittlung vorgefertigter Lehr- und sozialen Kontexten. Angesichts der pläne genutzt, nicht aber als gestalten- wachsenden Komplexität moderner Bil- de Kraft im Bildungssystem. Stellen Sie dungssysteme kann ein einzelner Bil- sich einmal einen Chirurgen und einen dungsminister nicht die Probleme von Lehrer aus den 60er Jahren vor, die eine Zigtausenden Schülern und Lehrern lö- Zeitreise in das Jahr 2006 machen. Der sen. Wohl aber können Zigtausend Schü- Chirurg, der zu seiner Zeit mit dem im ler und Lehrer die Probleme des einen Studium erarbeiteten Wissen und einem Bildungssystems lösen, wenn sie vernetzt Instrumentenkoffer als Einzelperson er- an der Lösung der Probleme arbeiten und folgreich sein konnte, ist heute in eine das Bildungssystem die dazu notwendigen dynamische Profession eingebettet. Er Vernetzungs- und Unterstützungsstruk- arbeitet an einem hoch technologisier- turen bietet. ten Arbeitsplatz, den er nur als Teil eines Deshalb muss das Arbeitsfeld Schule in komplexen Teams bewältigen kann. Der eine wissensbasierte Profession verwan- Chirurg wird schnell erkennen, dass ein delt werden, in der nicht nur Wissen von Zeitsprung über ein halbes Jahrhundert oben nach unten vermittelt wird, sondern unmöglich ist. Der Lehrer der 60er Jah- in der die Beteiligten selbst aktiv in die re findet sich vermutlich noch zurecht, Gestaltung der Bildungseinrichtungen weil sich das Arbeitsumfeld Schule und eingebunden sind und um die Wirkungen die dahinter stehenden Anreiz- und Un- ihres Handelns wissen. Was wissen Eltern terstützungssysteme vergleichsweise we- wirklich darüber, was und wie unsere Kin- nig verändert haben. der lernen? Wie profitiert ein Lehrer im Das Arbeitsumfeld Schule kann man Klassenzimmer von den Erfahrungen des kurzfristig durch die Festlegung von Bil- Lehrers im Nachbarklassenzimmer? Was dungsstandards und Verantwortungs- weiß die Schule vom Umgang der Nach- mechanismen verändern, längerfristig barschule mit ähnlichen Problemen? Wo aber nur durch eine stärkere Professio- könnte Deutschland heute stehen, wenn nalisierung der Bildungseinrichtungen. Kompetenz im Bildungssystem wirksam Oftmals genießen Lehrer in Deutschland vernetzt wäre? Oft ist die Schule für El- zwar eine gute Erstausbildung, aber man tern eine „black box“, oft stehen Lehrer lässt sie danach als Einzelkämpfer allein als Einzelkämpfer vor den Problemen im im Klassenzimmer, ohne ihre fortlaufen- Klassenzimmer, meist bleiben Lehrpläne, de Professionalisierung zu unterstützen. Rückmelde- und Unterstützungssysteme Länder wie Frankreich haben vorwiegend

162 auf die Zentralisierung von Bildungspro- Bi ldung zessen gesetzt, das aber letztlich auf das Ausführen von Vorschriften beschränkt. Das mag ein sinnvoller Schritt zu Min- deststandards und mehr Kohärenz im Bil- dungsangebot sein, bindet die Beteiligten aber nur unzureichend ein, um hier wirk- lich weiterzukommen. England war mit anschlussfähigem Wissen und die Ver- zentralen Gestaltungsinstrumenten recht mittlung effektiver Lernstrategien, und erfolgreich, ein wissensreiches Berufsfeld genau das spiegelt sich in den PISA-Ergeb- zu schaffen, in dem Bildungsstandards, nissen wider. Je mehr Menschen jedoch Unterstützungs- und Rückmeldesysteme heute Eigenverantwortung für ihre Kar- eng mit der Arbeit der Lehrer verknüpft riereplanung sowie wirtschaftliche und wurden. Langfristiges Ziel und Merkmal soziale Absicherung übernehmen müssen, der heute erfolgreichsten Bildungssyste- umso mehr müssen Schulen nicht nur not- me ist es aber, Professionalisierung und wendiges Fachwissen vermitteln, sondern eine wissensreiche Arbeitsumgebung zu die Fähigkeit zur Veränderung stärken; verknüpfen, und damit sowohl eine gute jungen Menschen das Rüstzeug mit auf Lernumgebung als auch ein attraktives den Weg geben, ihr Wissen aktiv zu nut- Arbeitsumfeld für zukünftige Lehrer zu zen und zu erweitern. schaffen. Das zeichnet Länder wie Finn- Dafür brauchen wir Schulen, die sich land, Japan oder Kanada, die beim PISA- weniger an fachbezogenen Lehrplänen Vergleich gute Bildungsleistungen und und dafür mehr an strategischen Bil- eine ausgewogene Verteilung von Bil- dungszielen orientieren und Lehrer, die dungschancen erzielten, aus. Diese Län- diese Ziele verbindlich, kreativ und indi- der können einen Orientierungsrahmen viduell in Lernmethoden für den einzel- für zukünftige Anstrengungen bieten. Die nen Schüler umsetzen können, indem sie Herausforderungen dafür sind groß: Lernpfade individualisieren und Schüler Traditionell lernen deutsche Schüler im dabei unterstützen, durch eigenständi- Rahmen von Lehrplänen, die Bildungsin- ges Denken und Handeln selbstständig halte detailliert festschreiben. Maßstab und kooperativ zu lernen. Nur wer kla- für Erfolg ist dann die Akkumulation von re Erwartungen hat, diese in Form von Fachwissen, nicht die Verankerung von strategischen Bildungszielen formuliert und den Entscheidungsträgern und Han- delnden – Schulen, Lehrern, Schülern und Eltern – auch vermitteln kann, wird Erfolgreiche Bildungssyste- zur Leistungsbereitschaft motivieren. Deutschlands Schulen nutzen Klassen- me legen nahe, dass eine syste- arbeiten und Zensuren vorwiegend zur misch verankerte, tief greifende Kontrolle, etwa um Leistungen zu zerti- Verbesserung der Unterrichts- fizieren und den Zugang zu weiterer Bil- qualität nicht auf mehr Vorga- dung zu rationieren. Die Zukunft aber braucht moderne Evaluation und motivie- ben beruht, sondern auf wirk- rende Leistungsrückmeldungen, die Ver- samen Anreizen, mit denen trauen in Lernergebnisse schaffen, und Lehrer und Schulen von- und mit denen Lernpfade entwickelt, indivi- miteinander lernen und die ih- dualisiert und begleitet werden können. Das deutsche Bildungssystem setzt auf nen Entwicklungsperspektiven frühe Auslese im Rahmen des dreiglied- bieten. rigen Schulsystems und damit verbun-

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den auf einförmigen Unterricht in leis- zungssysteme auszeichnet. tungshomogenen Lerngruppen. Schüler In Deutschland hört man oft das Argu- mit besonderen Bedürfnissen, etwa mit ment, all das sei mit den heutigen Lehrern Migrationshintergrund, werden dabei nicht möglich und es müsse sich zunächst oft auf Schulformen mit niedrigeren An- die Lehrerausbildung ändern, bevor sich forderungen abgeschoben, in denen der die Schulen ändern. Ein Vergleich mit der Staat Jugendliche ohne Perspektive auf Wirtschaft zeigt die Absurdität dieser Ar- die Arbeitslosigkeit vorbereitet. Erfolg- gumentationsweise: In den 70er Jahren reiche Bildungssysteme dagegen gründen stellte Nokia, die Mobiltelefonfirma im auf einem konstruktiven und individu- PISA-Siegerstaat Finnland, noch Autorei- ellen Umgang mit Leistungsunterschie- fen her. Wo stünde Nokia heute, wenn den und Begabungen, mit dem Ziel, man damals gesagt hätte, man würde ger- Schülern durch individuelle Förderung ne in der Hochtechnologie arbeiten, aber Perspektiven für die Gestaltung ihrer ei- die Ingenieure könnten das nicht? Deshalb genen Zukunft zu eröffnen. Die verschie- müsse man warten, bis die Ingenieure in denen Interessen und Fähigkeiten müs- Pension sind, dann neue Ingenieure aus- sen als Potenzial der Wissensgesellschaft bilden, erst dann könne man etwas Neues wahrgenommen werden. Schließlich sind schaffen. Dieses Schema prägt heute das Lehrer und Schulen in Deutschland oft Bildungssystem. Andere Staaten dagegen nur die letzte ausführende Instanz eines haben ein Arbeitsumfeld Schule mit der komplexen Verwaltungsapparates. In Zu- Schule als Lernorganisation geschaffen, kunft wird sich die Relevanz und Effizi- mit professionellem Management, das sich enz dieser Verwaltung, ob Kommunen, durch interne Kooperation und Kommu- Länder oder Bund, daran messen müssen, nikation, etwa in den Feldern strategische wie gut sie die Schulen beim Erreichen Planung, Qualitätsmanagement, Selbste- vereinbarter Bildungsziele unterstützt valuation und Weiterbildung auszeichnet, und welchen zusätzlichen Wert sie sel- aber auch durch Dialog nach außen mit ber schöpft, also über das hinaus leistet, den verschiedenen Interessengruppen, was die Schule als selbständige und päd- vor allem mit den Eltern. agogisch verantwortliche Einheit leisten kann. Die viel diskutierte Frage, wie Ver- antwortung zwischen Bund und Ländern aufzuteilen ist, ist dabei irrelevant. Wir Je mehr Menschen heute Eigen- brauchen ein Arbeitsumfeld für Lehrer, verantwortung für ihre Karri- dessen Attraktivität und Ansehen nicht ereplanung sowie wirtschaft- allein auf dem Beamtenstatus beruht, son- dern auf Kreativität, Innovation und Ver- liche und soziale Absicherung antwortung, ein Arbeitsumfeld, das sich übernehmen müssen, umso durch mehr Differenzierung im Aufga- mehr müssen Schulen nicht nur benbereich, bessere Karriereaussichten, notwendiges Fachwissen ver- eine Stärkung der Verbindungen zu ande- ren Berufsfeldern, mehr Verantwortung mitteln, sondern die Fähigkeit für Lernergebnisse und bessere Unterstüt- zur Veränderung stärken.

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Natürlich stehen moderne Schulen kunft ungewiss. Sie werden nur beste- heute vor hohen Anforderungen und Wi- hen, wenn sie die Zukunft mit all ihren dersprüchen. Man erwartet Innovation Unwägbarkeiten erfolgreich definieren. und Flexibilität und verschafft ihnen dazu Dafür ist es notwendig, über die Opti- wachsende Freiräume für die Gestaltung mierung des bestehenden Bildungssys- der Lernumgebung. Auf der anderen Seite tems hinaus strategische Perspektiven für erwartet man Verlässlichkeit in den Er- Bildungsreformen zu schaffen und über gebnissen und Risikominimierung. Es die Transformation der dem eigenen Bil- gibt Ansätze, Lernen zu individualisieren dungssystem zugrunde liegenden Schul- durch neue Unterrichtsformen und viel- und Systemfaktoren nachzudenken. Da- fältigere Bildungswege. Auf der anderen von bleibt der bildungspolitische Diskurs Seite müssen sich moderne Bildungsein- in Deutschland, aber auch in vielen an- richtungen aber als vernetzte Lernorgani- deren europäischen Staaten, trotz vieler sationen entwickeln und Chancengerech- Reformen weit entfernt. tigkeit sichern. Die Rolle interpersoneller Kompetenzen wird zunehmend betont, Andreas Schleicher ist Statistiker und Bil- zertifiziert werden meist jedoch nur Ein- dungsforscher und leitet bei der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- zelleistungen von Schülern. wicklung (OECD) die Abteilung für Indikatoren Die Ergebnisse von Bildungsprozes- und Analysen im Direktorat für Bildung. Er ist sen werden zunehmend anhand kogni- internationaler Koordinator des Programm tiver Leistungen bewertet, während El- for International Student Assessment (PISA- tern heute wachsende Erwartungen an Studien). 1993 bis 1994 arbeitete er für die International Association for Educational Schulen haben, die weit über kognitives Achievement in den Niederlanden. 1994 wech- Lernen hinausgehen. Dennoch zeigen die selte er als Projektmanager an das Centre for Erfahrungen vieler Staaten – aber auch Educational Research and Innovation (CERI) vieler erfolgreicher deutscher Schulen der OECD nach Paris. Ab 1995 konzipierte er – dass eine hohe Qualität von Bildungs- dort die PISA-Studien. leistungen sowie eine ausgewogene Ver- teilung von Bildungschancen durchaus in überschaubaren Zeiträumen erreicht werden können. China und Indien werden ihre Bil- dungsanstrengungen konsequent aus- bauen und haben den entscheidenden Vorteil, dass sie sich an den Erfahrungen der westlichen Welt orientieren können. Für diese Länder ist die Zukunft relativ klar, sie werden in einigen Jahren viele der Kompetenzen einbringen, die das Leben heute in Deutschland und Europa prägen. Für die Länder Europas, die jahrhunder- telang an der Spitze bildungspolitischer Entwicklungen agierten, bleibt die Zu-

165 Studieren ohne Grenzen? Grenzüberschreitend studieren war bisher nur eine große Vision. Die Bologna-Erklärung und der Lissabon-Prozess waren erste Meilensteine für eine transparentere und vergleichbarere europäische Hochschulland- schaft. Von einer perfekt funktionierenden stu- dentischen Mobilität kann dennoch noch nicht die Rede sein. Von Franziska Muche

Institutionen nur stark begrenzte Kompe- tenzen haben und viel Diplomatie nötig ist, um die Dinge zu bewegen. Ein solches Mantra ist ausgesprochen „praktisch“ als Einleitung und Begründung für Aus- schreibungen, Projektvorschläge, Pro- gramme usw. Insofern hat es seinen Sinn – auch wenn jeder weiß, dass die Autoren der konkreten Ziele den Mund vielleicht (bewusst?) etwas voll genommen hatten. In der weiteren europäischen Agenda, dem Lissabon-Prozess, ist Bildung nur ein Teilbereich. Dahinter stehen vor allem ar- beitsmarktpolitische und wirtschaftliche 010 ist die magische Zahl, ja beinahe Beweggründe und Europas allgemeine 2ein Mantra in Brüsseler Kreisen: Bis Stellung in der Welt. Um diese Stellung zu 2010 sollen die Bologna-Reformen über- verbessern, muss die Bildung ihren Teil all abgeschlossen sein; bis 2010 soll Eu- beitragen: sie soll qualitativ hochwertiger ropa „zum wettbewerbsfähigsten und und effektiver werden, allgemein zugäng- dynamischsten wissensbasierten Wirt- lich und weltweit attraktiv. schaftsraum der Welt“ geworden sein Was passiert tatsächlich im Euroland? und europäische Bildung eine „weltweite Wie weit ist die Integration im Hochschul- Qualitätsreferenz“. Die Superlative hat bereich fortgeschritten, und wie wirkt man nach und nach klammheimlich un- sich dies auf Mobilitätsstrukturen aus? ter den Tisch fallen lassen – nun ist die Grundsätzlich kann man zwei Entwick- Rede davon, eine dynamische und wett- lungen beobachten: bewerbsfähige Wissensgesellschaft zu Erstens hat sich die europäische Hoch- werden. Und dass es eigentlich schon zu schullandschaft seit der Verabschiedung spät ist, diese Ziele zu erreichen. der Bologna-Erklärung 1999 stark ver- Auch wenn ihre wortwörtliche Umset- ändert. Ebenso bemerkenswert wie die zung unwahrscheinlich ist: Mantras sind objektiven Veränderungen ist dabei ein manchmal nötig und wichtig, um so mehr zunehmender Mentalitätswandel – weg in einem Bereich, in dem die europäischen von einer reinen „Austauschmentalität“

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hin zur „Bologna-Mentalität“ gemein- Alles begann mit der Unterzeichnung samer Strukturen. zweier Erklärungen – 1998 an der Sor- Zweitens hat sich der Schwerpunkt der bonne, 1999 in Bologna. Durch einen klar Bologna- und Lissabon-Prozesse weitge- gesetzten Zeitplan (bis 2010) und regel- hend hin zur Strukturreform verlagert, mäßige Nachfolgekonferenzen (in Prag, während er in den Anfängen der Euro- Berlin, Bergen und 2007 in London) wur- päisierung der Hochschulbildung auf der de Bologna zu einem Prozess mit klar ge- Mobilitätsförderung lag. steckten Zielen und Elementen. Bologna verfolgt eine interne und eine externe Der Weg nach Bologna Agenda: einerseits ist dies durchaus die europäische Integration im Hochschulbe- Der Bologna-Prozess wird häufig als reich sowie eine verbesserte Vorbereitung europäischer Integrationsprozess in der von Hochschulabsolventen für den euro- Hochschulbildung dargestellt und inso- päischen Arbeitsmarkt. Andererseits soll fern mit den europäischen Institutionen die Attraktivität europäischer Hochschul- – gemeinhin unter „Brüssel“ zusammen- bildung weltweit verstärkt werden. gefasst – in Verbindung gebracht. Dabei Zur Erreichung dieser Ziele setzt kommt es allerdings oft zu mehreren man auf eine Reihe von Elementen: am Missverständnissen: bekanntesten ist wohl die Vereinheitli- Bologna sprengt längst die Grenzen chung der Hochschulabschlüsse in Bache- der EU. Aus 29 Unterzeichnerstaaten sind lor, Master und Doktor. Hand in Hand mittlerweile 45 geworden – unter anderem damit gehen die Einführung des „Euro- Russland, Georgien und der Vatikan, mit päischen Systems zur Übertragung und dem, streng genommen, sämtliche katho- Akkumulierung von Studienleistungen“ lischen Hochschulen weltweit dem Bo- (ECTS), des Diplomzusatzes (Diploma logna-Prozess angehören. Supplement) sowie eine Verbesserung Im engeren Sinn haben die europä- der gegenseitigen Anerkennung von Stu- ischen Institutionen nichts mit dem Bo- dienleistungen und die Förderung von logna-Prozess zu tun: im Bildungsbereich Qualitätssicherung und Akkreditierung liegen fast alle Kompetenzen bei den Mit- auf verschiedenen Ebenen. Aus dem Zu- gliedstaaten. Bologna ist ein intergouver- sammenspiel dieser Elemente sollen eine nementaler Prozess, aus Brüsseler Sicht erhöhte Transparenz der Hochschulsyste- also ein „bottom-up“-Prozess, auch wenn me, Qualität und gegenseitiges Vertrauen er von den Hochschulen selbst oft als „top- entstehen. Das große Ziel, vor allem seit down“ – da von der Regierungsebene ini- der letzten Ministerialkonferenz in Ber- tiiert – empfunden wird. gen, ist die Schaffung eines Europäischen Bologna ist nur ein Rahmenwerk. So Qualifikationsrahmens, in dem aus all gibt es keine Vorschriften etwa für die Ein- diesen Elementen auf Lernergebnissen führung dreijähriger Bachelorprogramme aufbauende Referenzpunkte für jedes Bil- und zweijähriger Masterstudiengänge. dungsniveau definiert werden. Eine solche Regelung kann von Regie- Wo stehen die einzelnen Länder und rungen einzelner Mitgliedstaaten bindend Hochschulen Europas nun im Bologna- eingeführt werden, muss aber nicht. Prozess? Der zweijährliche Trends-Report

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verfolgt diese Entwicklung. Die letzten Konzentration auf die Reformagenda zu Daten stammen aus dem Frühjahr 2005. beobachten: in Brüsseler Kreisen spricht Der Trends-Report und andere Studien man immer weniger von Bologna und im- zum Bologna-Prozess zeigen folgende mer mehr von der „Education-and-Trai- Tendenzen: ning-2010“-Agenda, dem bildungsbezo- genen Teil des Lissabon-Prozesses oder - Fast alle Länder haben zumindest von Hochschulreformen. mit der Einführung eines Bachelor- Was ist nun der Platz der Mobilität in Master-Systems begonnen. Der Stand alldem? Grundsätzlich ist Mobilitätsför- der Einführung kann allerdings derung eines der Ziele und „Aktionsli- stark variieren, so ist der Prozess nien“ des Bologna-Prozesses. Einige der etwa in den Niederlanden oder in Strukturreformen sollen Mobilität zwi- Norwegen abgeschlossen, während schen verschiedenen europäischen Län- er in Spanien oder Frankreich gerade dern und Hochschulen sowie nach Europa erst beginnt; erleichtern, zum Beispiel: vergleichbare - Die meisten Hochschulen benutzen Abschlüsse, übertragbare Studienleistun- ECTS und stellen einen Diplomzu- gen durch ECTS, verbesserte Anerken- satz aus; nung von Studienleistungen sowie der - europäische Qualitätsstandards, ein Diplomzusatz. Register von Qualitätsagenturen und Das Ziel der Mobilitätsförderung steht ein Europäisches „Quality Label“ allerdings im Widerspruch zu einer häu- sind in Planung; fig geäußerten Befürchtung: nämlich - 36 von 45 Unterzeichnerstaaten ha- der, dass zumindest die Kurzzeitmobili- ben die Lissabon-Erklärung über die tät unter den straffer organisierten Stu- Anerkennung von Qualifikationen diengängen leiden könnte. Die folgenden im Hochschulbereich in der europä- Abschnitte werden sich näher mit studen- ischen Region ratifiziert; tischer Mobilität in der EU und mit dem - hochschulen haben sich die Reform Einfluss des Bologna-Prozesses auf diese zu eigen gemacht: im Vergleich mit Mobilität befassen. früheren Studien wird Bologna nicht mehr als „von oben oktroyiert“ emp- Wo studiert Europa? funden; - obwohl in vielen Fällen die Re- Studentische Mobilität hat in der EU formen zur Lösung existierender mittlerweile eine lange Geschichte: Ers- Probleme herangezogen wurden, gibt te Initiativen gehen auf verschiedene Ab- es immer noch viel ungenutztes Po- kommen über die Anerkennung von Stu- tential (z. B. ein bloßes Umbenennen dienleistungen und Abschlüssen in den von Studienabschnitten); 50er Jahren zurück. Die Schaffung des - in vielen Fällen behindern mangeln- Erasmus-Programms 1987 war ein Mei- de Hochschulautonomie und feh- lenstein, der neuen Schwung in die För- lende finanzielle Mittel die Umset- derung studentischer Mobilität brachte. zung der Reformen. Ursprüngliches Ziel des Programms war, Alles in allem ist eine zunehmende zehn Prozent aller Studierenden Europas

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für eine begrenzte Zeitspanne zu einem - Vertikale und horizontale Mobilität: Auslandsstudium in einem anderen euro- Ersteres bezieht sich auf Mobilität päischen Land zu bewegen. Oft wird das für volle Studiengänge mit dem Ziel, Erasmus-Programm als „Systemprovoka- einen Abschluss zu erwerben, letzte- tion“ bezeichnet: erst die Notwendigkeit, res auf zeitlich begrenzte Mobilität sich mit der Eingliederung Studierender ohne formellen Abschluss im Aus- aus den verschiedenen Ländern Euro- land. pas auseinanderzusetzen – sowie mit der Anerkennung und Übertragbarkeit ihrer Wie ist nun die Datenlage zu studen- Studienleistungen –, ebnete den Weg für tischer Mobilität in Europa? Was kann die späteren Strukturreformen im Rah- man zu den einzelnen „Mobilitätskate- men des Bologna-Prozesses. Parallel zu gorien“ sagen? Die Academic Cooperation den europäischen Initiativen haben sich Association (ACA) hat 2004/05 in Zusam- auch verschiedene Akteure auf nationaler menarbeit mit dem International Cent- und zum Teil regionaler Ebene für die re for Higher Education Research Kassel studentische Mobilität engagiert – mit (INCHER) eine Studie zur studentischen Stipendien- und Austauschprogrammen, Mobilität in 32 europäischen Ländern Hochschulmarketing etc. durchgeführt.1 Die Studie, Eurodata, ist Wie viele „internationale“ Studieren- ein erster Versuch, europäische Mobili- de gibt es nun in Europa? Wie steht es tätsdaten zu bündeln und einen Gesamtü- mit der innereuropäischen Mobilität, wie berblick zu geben. Dies ist allerdings nur viele Nichteuropäer wählen den Konti- begrenzt möglich, da die verfügbaren Da- nent als Studienziel? Dies sind hochrele- ten zum Teil kaum vergleichbar sind. vante Fragen, die leider bisher nur unge- Die einzelnen EU-Mitgliedstaaten de- nügend beantwortet sind. finieren und messen den Anteil interna- Zunächst einmal muss zwischen ver- tionaler, ausländischer oder mobiler Stu- schiedenen Arten von Mobilität unter- dierender auf verschiedene Art und Weise. schieden werden: Mal wird differenziert, ob Studierende tatsächlich mobil sind (d.h. das Land der - innere europäische Mobilität und vorhergehenden Qualifikation ist aus- zwischen Drittstaaten und Euro- schlaggebend), mal geht es nach Natio- pa: Ersteres ist im Zusammenhang nalität; mal wird Mobilität im Rahmen mit der europäischen Integration im organisierter Programme mitgezählt, Bildungsbereich interessant, letzte- mal nicht. Die Unterschiede sind zum res mit der Attraktivität des europä- Teil gravierend: der Anteil ausländischer ischen Hochschulraums insgesamt; Studierender, die vor Aufnahme ihres Stu- - „Free mover” und organisierte Mo- diums bereits im Studienland leben, also bilität: Ersteres bezieht sich auf indi- Bildungsinländer, liegt bei bis zu 40 Pro- viduell mobile Studierende, letzteres zent. Hinzu kommen teilweise beacht- auf Mobilität im Rahmen von Aus- liche Zahlen von Studierenden mit einem tausch- und Stipendienprogrammen, einheimischen Pass, die vor Aufnahme bi- und multilateralen Abkommen, des Studiums im Ausland gelebt haben Doppeldiplomprogrammen etc.; – also mobil sind. Auch separate Daten

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für Bachelor- und Masterstudenten sind Die häufigsten Herkunftsländer sind in den meisten Fällen nicht verfügbar: Deutschland, Frankreich, die Türkei diese Fallen in dieselbe „Studienniveau- und Griechenland; kategorie“. Auch viele kurzzeitig mobile - Die größten Gruppen von Europä- Studierende finden höchstwahrscheinlich ern, die in einem anderen europä- ihren Weg in die Statistiken nicht. ischen Land studieren, kommen aus Eine ACA-Studie2 liefert einen Über- Griechenland und Deutschland (je- blick über existierende Daten von Eu- weils über vier Prozent) sowie rostat, OECD und UNESCO; sie nimmt Frankreich (vier Prozent); eine Reihe von Ländern mit einer rela- - Die größte Gruppe nichteuropä- tiv kompletten Datenlage unter die Lupe ischer Ausländer kommt aus Asien und zeigt die genannten Probleme beim (allein sechs Prozent aus China), die Ermitteln europäischer Mobilitätszahlen nächstgrößte aus Afrika. Die größ- auf. Gesamteuropäische Aussagen können ten Gruppen ausländischer Studie- bisher nur zur Zahl ausländischer Stu- render in einzelnen europäischen dierender, also der Inhaber eines aus- Ländern sind chinesische und grie- ländischen Passes, gemacht werden (nur chische Studierende in Großbritan- zehn der 32 untersuchten Länder erheben nien und türkische und chinesische Daten zur studentischen Mobilität im en- Studierende in Deutschland; geren Sinne). - 13 europäische Länder nehmen mehr ausländische Studierende auf als Folgende Tendenzen zeichnen sich da- sie aussenden: die großen Länder bei ab: (Deutschland, Frankreich, Spanien - Weltweit gibt es über zwei Millionen und Großbritannien) sowie Öster- ausländische Studierende; reich, Belgien, die Schweiz, Tsche- - Davon studieren rund 1,1 Millionen chien, Dänemark, Ungarn, die Nie- in den 32 untersuchten europäischen derlande, Portugal und Schweden. Ländern, 54 Prozent davon sind Großbritannien hat den niedrigsten Nichteuropäer; Anteil mobiler nationaler und aus- - Frankreich, Deutschland und ländischer Studierender: auf zehn Großbritannien sind Zielland für 60 ausländische Studierende in Groß- Prozent aller internationalen Studie- britannien kommt nur ein britischer renden; Student im Ausland. - insgesamt studieren 575.000 Stu- dierende aus den 32 untersuchten Für das Ziel der europäischen Integra- europäischen Ländern im Ausland tion sind diese Zahlen eine gute Neuigkeit (drei Prozent). 80 Prozent davon – Europa scheint ein für die Europäer studieren in einem anderen euro- attraktiver Studienort zu sein. Auch was päischen Land, weitere 13 Prozent die weltweite Anziehungskraft Europas studieren in den USA. Zielländer der betrifft, klingt es gut, sagen zu können: meisten europäischen Studierenden Europa als Gesamthochschulraum liegt (zusammen etwa 40 Prozent) sind als Studienziel sogar knapp vor den USA. Deutschland und Großbritannien. Bei genauerer Betrachtung ist das Bild

170 allerdings weniger rosig: das tatsächlich Bi ldung attraktive Europa besteht aus drei Län- dern, von ausgeglichenen Mobilitätsflüs- sen, sowohl innerhalb als auch nach Eu- ropa, kann nicht die Rede sein. Allgemein kann man davon ausge- hen, dass die Programmmobilität nur ei- nen kleinen Bruchteil der Gesamtzahlen die verkürzten und gestrafften Studien- ausmacht: die allermeisten mobilen Stu- zeiten einen Auslandsaufenthalt nicht er- denten sind „Free movers“. In den ver- schweren. Verschiedene Modelle werden gangenen Jahren ist viel spekuliert wor- erwogen, um einem möglichen Rückgang den, wie sich die Einführung der neuen entgegenzuwirken – integrierte Auslands- Hochschulabschlüsse auf studentische aufenthalte, Doppeldiplome und ande- Mobilität auswirken wird – welche Art der res. Mobilität wird begünstigt, welche mögli- Gleichzeitig gilt das mehr oder weniger cherweise erschwert? Damit beschäftigt offene Ziel der europäischen Akteure, ver- sich der folgende Abschnitt. tikale Mobilität zu fördern: Studierende sollen zunehmend ihren Bachelor an ei- Studieren bewegt ner Hochschule erwerben und den Master an einer anderen, am besten im Ausland. Im Herbst 2001 gab es ein Jubiläum, So soll die innereuropäische Mobilität ge- das in den Korridoren der Europäischen fördert und auch die Zulassung nichteu- Kommission ausgiebig gefeiert wurde: der ropäischer Studierender in ein höheres (oder die) millionste Erasmusstudent(in) Studienniveau erleichtert werden. hatte sein/ihr Auslandsstudium ange- Diese Entwicklung entspricht nun treten (wer genau er oder sie nun war, aber nicht unbedingt dem Ziel der Hoch- konnte aufgrund der dezentralisierten schulen und des akademischen Perso- Datenverarbeitung zum Leidwesen der nals: laut einer Studie von Alesi, Bürger, Feiernden nie ermittelt werden). Bei den Kehm und Teichler erwarten Hochschu- Jubiläumsfeiern wurde dann gleich das len, dass zwischen zwei Dritteln und 90 nächste hehre Ziel gesetzt: bis 2010 sollten Prozent der Bachelorstudenten für einen drei Millionen Erasmusstudenten erreicht Masterstudiengang an der Hochschule werden. Angesichts diverser Budgetkür- verbleiben. Dies zeugt erstens von einer zungen scheint dieses Ziel nun in weite immer noch mangelnden Wertschätzung Ferne gerückt – und nicht nur deshalb. In des Bachelors als berufsqualifizierendem Europas Hochschulen, auf Konferenzen Abschluss; zweitens sind gute Master- und Seminaren wird kräftig spekuliert: studenten (und eventuell künftige Dok- immer wieder kommt die Frage auf, ob toranden) natürlich begehrt und sollen aus Sicht der Hochschulen und des aka- demischen Personals nicht unbedingt ihre Bei genauerer Betrachtung ist eigenen Wege gehen. das Bild allerdings weniger ro- Eine weitere Schwierigkeit ist das Ge- wicht, das der Dauer der Studiengänge sig: das tatsächlich attraktive beigemessen wird: die Anerkennung von Europa besteht aus drei Län- Dreijahres-Bachelors ist nicht immer eine dern, von ausgeglichenen Mobi- Selbstverständlichkeit, sowohl außerhalb litätsflüssen – sowohl innerhalb von Europa (Beispiel USA) als auch an eu- ropäischen Hochschulen. In vielen Län- als auch nach Europa – kann dern hat die Einführung der Bologna- nicht die Rede sein. reformen zu einer theoretisch stärkeren

171 Bi ldung nügenden Datenlage, auch diese Studie nur Tendenzen und Vermutungen untersuchen und nicht konkrete Ergebnisse. Die Ergebnisse der Studie legen nahe, dass die Befürchtungen eines negativen Einflusses der neuen Studienstrukturen auf Mobilitätszahlen unbegründet sind. Durchlässigkeit von Universitäten und Nur in Deutschland und Ungarn teilt etwa Fachhochschulen geführt. In der Praxis die Hälfte der Befragten diese Sorge. Als soll dies jedoch häufig durch verschärf- wichtigste Maßnahmen zur Sicherung te inhaltliche Anforderungen erschwert und Förderung von Mobilität wurden werden, die sehr eng auf dem Bachelor- ein größeres Gewicht auf Auslandspha- profil einer bestimmten Hochschule auf- sen und eine verbesserte gegenseitige bauen. Dies ist vielleicht für die Qualitäts- Anerkennung von Studienleistungen ge- hüter beruhigend – mobilitätsfördernd ist nannt. Im Gegensatz zu Spekulationen es nicht. In vielen Fällen, wie zum Bei- und Brüsseler Wunschträumen erwarten spiel in der Diskussion der US-amerika- zwei Drittel der Befragten keine Zunah- nischen Hochschulen um die Akzeptanz me der vertikalen Mobilität (Bachelor im des Dreijahres-Bachelors, zeichnet sich Inland, Master im Ausland). früher oder später eine stärkere Wertung Heißt das nun, das doch alles anders von Inhalten und Resultaten, statt von der kommt, als man dachte, spekulierte oder Studiendauer ab. Aber der Weg dahin ist befürchtete? Für eine endgültige Antwort für Europa noch lang. auf diese Frage ist es noch zu früh. Die Grundsätzlich kann ein langsamer Zeit wird sie bringen – vorausgesetzt, die Mentalitätswandel beobachtet werden: Datenerfassungsmechanismen werden während vor einem Jahrzehnt Interna- europaweit durch folgende, in der Euro- tionalisierung noch mit Erasmus gleich- data-Studie vorgeschlagene Maßnahmen gesetzt wurde (und in einigen Ländern/ verbessert: Hochschulen noch wird), geht es nun mehr und mehr um andere Themen. Bo- - erfassung von Mobilitätsdaten im logna3 ist eines davon, die Steigerung von engeren Sinne und nicht nur der Na- Qualität und internationaler Attraktivität tionalität der Studierenden (mit an- ein anderes. Internationalisierung wird deren Worten, eine Unterscheidung von mehr und mehr Hochschulen als in Bildungsinländer und Bildungs- Strukturprozess angesehen und in das ausländer) Gesamtprofil der Hochschulen integriert. - volle Erfassung von begrenzten Stu- Mobilität, früher das hohe Ziel der Inter- dienzeiten im Ausland (mindestens nationalisierung, wird dabei zum Teil- ein Semester) bereich und Werkzeug des Internationa- - Differenzierung zwischen Bachelor- lisierungsprozesses. und Masterstudierenden All dies sind Spekulationen und Dis- - Verbesserung der Datenerfassung kussionen. Gibt es schon konkrete Beob- für Doktoranden und andere Post- achtungen des Einflusses von Bologna auf graduierte. studentische Mobilität? Die Antwort ist ein „jein“: zwar hat der DAAD 2005 eine Stu- Mobilität, früher das hohe Ziel die in Auftrag gegeben, die „transnationale der Internationalisierung, wird Mobilität“ in Bachelor- und Masterstudien- zum Teilbereich und Werkzeug gängen in elf europäischen Ländern unter- sucht. Allerdings kann, aufgrund fehlender des Internationalisierungspro- Zeitreihen und der oben erläuterten unge- zesses.

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Diese Maßnahmen ermöglichen es, verändert, verkrustete Strukturen wer- über europäische Mobilitätsflüsse und den aufgebrochen. Dabei hat sich in den den Einfluss der Bologna-Reformen auf letzten Jahren und Monaten ein weiterer studentische Mobilität nicht nur zu spe- Schritt ergeben. kulieren. Der Weg dahin ist aber noch weit. Theorie und Praxis

Ein weites Feld, ein langer Weg? Seit der Bologna-Erklärung 1999 war die Attraktivität europäischer Hochschul- Der Bologna-Prozess wird, vor allem bildung und ihre Stellung in der Welt innerhalb der europäischen Institutionen, ein wichtiges Thema – konkret gesche- immer mehr als Werkzeug angesehen, um hen aber war lange nichts, zu beschäftigt andere, weniger abstrakte, ergebnisorien- waren die europäischen Länder mit der tiertere Ziele zu erreichen. Dazu gehört internen Umsetzung der Reformen. Auch die Lissabon-Agenda, die im Zusammen- die EU-Programme hatten – bis auf einige, hang mit dem Bildungsbereich steht und meist bilaterale Programme mit anderen den europäischen Arbeitsmarkt fördern Ländern und Regionen – einen vornehm- soll. 2006 wurde zum „Jahr der Mobi- lich innereuropäischen Fokus. In jüngster lität der Arbeitnehmer“ gekürt, die all- Zeit hingegen steht zunehmend Europas gemein noch als ungenügend angesehen Stellung in der Welt im Rampenlicht. Eine wird. Nur etwa 1,5 Prozent der EU-Bür- Manifestation dieser Neuorientierung ist ger leben und arbeiten in einem anderen die Einrichtung einer Arbeitsgruppe zur Mitgliedsland – eine Zahl, die sich laut Erarbeitung einer konkreten Strategie Eurostat in den letzten 30 Jahren kaum für die Förderung der Außendimension verändert hat. des Bologna-Prozesses. Eine weitere ist Mangelnde Motivation und Gelegen- das Erasmus-Mundus-Programm, ein heiten, ungenügende Information sowie gut dotiertes Stipendienprogramm, mit zahlreiche administrative Hürden stehen dem außereuropäische Studierende ei- einer tatsächlichen Mobilität auf dem Ar- nen Master an mindestens zwei europä- beitsmarkt immer noch im Wege. ischen Hochschulen absolvieren können. Die Lage spitzt sich noch weiter zu, Offenes Ziel des Programms ist, Profil wenn es um die Mobilität von Nicht-EU- und Stellung der Hochschulbildung in Bürgern innerhalb des europäischen Ar- der EU weltweit zu verbessern. Hinzu beitsmarkts geht. Dabei ist die Möglich- kommen von verschiedenen EU-Ländern keit, Arbeitserfahrung zu sammeln, von gemeinsam organisierte und von der EU- höchster Relevanz für nichteuropäische Kommission geförderte europäische Bil- Studierende: erst damit wird ein europä- dungsmessen, eine EU-Ausschreibung ischer Abschluss in ihren Heimatländern für die Konzeption eines europäischen wirklich wertvoll.4 Hochschulmarketings sowie verschie- Kurz und gut: es gibt noch viel zu dene Aktivitäten auf nationaler und ins- tun auf der Baustelle des europäischen titutioneller Ebene. Bildungsraums. Nichtsdestoweniger ist Bologna selbst geht über die EU weit vieles in Bewegung, vieles hat sich bereits hinaus, und hat weltweit vielerorts für

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Interesse gesorgt. Um nur einige Bei- allzu langer Zeit noch unmöglich schien, spiele zu nennen: in die Tat umgesetzt. Tatsächlich kam es bis vor kurzem einem Selbstmordversuch - Die Projekte Tuning Latin America gleich, im Zusammenhang mit dem Bo- und 6x4 fördern an Bologna ange- logna-Prozess von einer „Harmonisierung lehnte Strukturreformen an Latein- Europäischer Hochschulbildung“ zu re- amerikas Hochschulen; den. Immerhin - jetzt riskiert man dabei - Die australische Regierung hat ein nicht mehr Kopf und Kragen. Konsultationspapier herausgegeben, das hervorhebt, wie wichtig es für Franziska Muche ist Senior Officer bei der australische Hochschulen ist, nicht Academic Cooperation Association (ACA) in Brüssel. Die ACA ist ein europäischer Dach- den Anschluss an die Entwicklun- verband von 24 nationalen akademischen gen im europäischen Bildungsraum Mittlerorganisationen, wie etwa dem DAAD zu verlieren; in Deutschland. Das Schwergewicht der Tä- - Zwölf Mittelmeeranrainerstaaten tigkeit von ACA liegt im Bereich der europä- haben die sogenannte Catania-Er- ischen und internationalen Hochschulzusam- menarbeit und der Förderung von Innovation. klärung unterzeichnet, in der das Ziel formuliert wird, einen euro- mediterranen Hochschulraum zu schaffen; - Die Einführung von Dreijahres-Ba- chelors in zahlreichen europäischen Ländern hat für ausgiebige Aner- kennungsdebatten in den USA ge- sorgt.

Wie wird es weitergehen mit Bologna? Ein großes Fragezeichen ist, ob dies die Geschichte einer Außendimension, der ex- ternal dimension von Bologna wird – oder eher eine eternal expansion, eine immer weitergehende Ausweitung des Prozesses, als „Übersetzungswerkzeug“ und -rah- men für Mobilität, Anerkennung von Stu- dienleistungen und Vergleichbarkeit von Hochschulsystemen. Bisher ist die Teil- nahme am Bologna-Prozess auf die Mit- 1 Die 32 untersuchten Länder sind die 25 EU Mitgliedstaaten, die vier EFTA- Staaten, die (ehemals) drei Beitrittskandidaten (Rumänien, Bulgarien und gliedstaaten des Europarats beschränkt. die Türkei) und die Schweiz. Siehe Kelo, Teichler und Wächter: EURODATA Wahrscheinlich ist, das der Prozess ir- – Student mobility in European higher education, Bonn: Lemmens 2006. 2 Die ACA ist ein europäischer Dachverband von 24 nationalen akademischen gendwann an seine – geographischen und Mittlerorganisationen. 3 im Sinne der Förderung von Mobilität, von internationaler Wettbewerbsfä- inhaltlichen – Grenzen stößt. Allerdings higkeit und von Beschäftigungsfähigkeit. hat Bologna jetzt schon viele Grenzen 4 Perceptions of European higher education in third countries, EU-Commis- sion, 2006, http://europa.eu.int/comm/education/programmes/mundus/in- überschritten und vieles, was vor nicht dex_en.html.

174 Es gibt Physik, und alle, die Physik treiben, sind Physiker und darin gerade nicht mehr durch ihre Kulturen geprägt und erst recht nicht legiti- miert. Dass wir alle gleicher- maßen kulturell geprägt sind, ist so, wie wir einen Stoff- wechsel haben, so wie eben unser Nervensystem funktio- niert. Wahrheits- und Schön- heitsfragen sowie Güte sind nicht von der Kultur entwi- ckelt. Es ist europäisch, nicht sich in kultureller Legitima- tion durchzusetzen, sondern die Einheit jenseits der kultu- rellen Differenzen zu sehen.

Bazon Brock, Ästhetik-Professor, Wuppertal

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Sprechen Sie Europäisch? Die Sprachenpolitik der EU muss ein komplexes Gewirr von natio- nalen und regionalen Amts- und Arbeitssprachen – aber auch von Migrations- und Minderheiten- sprachen – so ausbalancieren, dass der Zusam- menhalt der Gemeinschaft nicht gefährdet, son- dern gefördert wird. Von Ulrich Ammon

in der Regel einer behutsamen und um- sichtigen Sprachenpolitik. Sie ist beson- ders wichtig für eine Gemeinschaft so vieler Staaten mit einer derart großen Zahl von Sprachen wie die EU. Allem Anschein nach sind sich die EU-Politiker dessen auch bewusst – entgegen verbrei- teter anders lautender Kritik. Vor dem genaueren Blick auf diese Sprachenpoli- tik sei zunächst die sprachliche Situation in der EU in Grundzügen vorgestellt. Die EU hatte im Jahr 2006 rund 457 Millionen Einwohner und bestand aus 25 Mitgliedstaaten, zu denen im Jahr ind das Osmanische oder das 2007 zwei weitere hinzukommen. Von Habsburger Reich letztlich an diesen 27 Staaten haben 23 nur eine na- Sihrer Vielsprachigkeit zerbro- tionale Amtssprache, drei Staaten (Bel- chen? Wurden dadurch die kulturellen gien, Finnland, Irland) haben zwei und und religiösen Unterschiede zugleich ein Staat (Luxemburg) hat drei. Zugleich als ethnische und somit – im Zeitalter erstrecken sich einige nationale Amts- des Nationalismus – als unversöhnlich sprachen auf mehrere Mitgliedstaaten: empfunden? Gesicherte Antworten sind Deutsch, Englisch, Französisch, Nieder- schwierig. Kein Zweifel besteht jedoch ländisch und Schwedisch. Jede nationale daran, dass Sprachunterschiede Gräben Amtssprache in der EU ist mit ihrer Ge- in einer Gesellschaft vertiefen können. sellschaft durch und durch verwoben. Allerdings nicht unbedingt bis zum Sie ist vorrangiges Erkenntnis- und Bruch. Möglich ist auch die versöhn- Kommunikationsmittel in staatlicher lichere Form kultureller und sprach- Verwaltung, Politik und Schulen sowie licher Autonomie, wie wir sie im heu- Muttersprache (teilweise als Dialekt) des tigen Belgien und Spanien finden oder in Großteils der Bevölkerung und Symbol der als Beispiel harmonischen Mit- und der nationalen Identität – wie Einbürge- Nebeneinanders gepriesenen Schweiz. rungstests verraten, deren Sprachprü- Gelungene Versöhnungen bedürfen fungen nicht nur praktische Gründe

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haben. Gelegentlich verbindet sich – im Deutschland als weitere Minderheits- Falle mehrerer nationaler Amtsspra- sprachen Dänisch, Friesisch und Roma- chen – die nationale Identität speziell ni (die frühere Bezeichnung „Zigeune- mit einer davon, der eigentlichen „Na- risch“ ist heute politisch inakzeptabel), tionalsprache“, wie in Luxemburg mit die aber allesamt auch in mindestens dem Letzeburgischen oder in Irland mit einem anderen EU-Mitgliedstaat gespro- dem Gälischen. Dass die Sprachenpolitik chen werden. Friesisch wird oft auch in der EU auf die nationalen Amtssprachen drei verschiedene Sprachen aufgeteilt: größte Rücksicht nehmen muss, liegt auf Westfriesisch, Saterfriesisch und Nord- der Hand. friesisch, von denen letztere beide auf Deutschland beschränkt sind. Das Bei- Nationale und regionale spiel des Niederdeutschen verrät zudem, Amtssprachen dass die Unterscheidung von (eigenstän- diger) Sprache und „nur“ Dialekt einer Den nationalen Amtssprachen im Sprache nicht immer einfach ist. Viele Status verwandt sind die regionalen Deutsche halten das Niederdeutsche für Amtssprachen, die nicht im ganzen einen Dialekt der deutschen Sprache, Staat, sondern nur in einem kulturell aber es ist heute sowohl von der EU als und sprachlich autonomen Teil davon auch von Deutschland offiziell als ei- Amts- und Schulsprache sind. Auch die genständige Sprache, und damit nicht regionalen Amtssprachen sind in vie- eigentlich zur deutschen Sprache gehö- len Fällen grenzüberschreitend, bei oft rig, anerkannt. wechselndem Status. So ist Deutsch in Südtirol regionale Amtssprache, in Ös- Migranten- und terreich nationale Amtssprache und in Immigrantensprachen Frankreich Minderheitssprache ohne amtlichen Status. Die Verbundenheit Neben den alteinheimischen (autoch- verschiedener Staaten durch dieselbe thonen) Sprachen gibt es eine große Zahl Sprache trägt zur Komplexität der Spra- von Neuankömmlingen. Überall in der chensituation in der EU bei. EU, wenn auch in unterschiedlicher Kon- Allerdings sind auch viele Sprachen zentration, leben Migranten und Immig- auf einen einzigen Staat beschränkt – ranten, von denen viele – zu Hause und wenn man von Migranten absieht, etwa unter ihresgleichen – ihre mitgebrachte Finnisch, Lettisch oder Tschechisch. Es Sprache sprechen. Über die Zahl der au- gibt sogar Sprachen, die auf einen Teil tochthonen Sprachen in der EU sind sich eines Staates eingeschränkt sind. Bei- Wissenschaftler näherungsweise einig. spiele sind regionale Amtssprachen wie Verschiedene Zählungen konvergieren Galizisch in Spanien. Hauptsächlich je- bei ungefähr 70. Bei den allochthonen doch sind es Minderheitssprachen ohne Sprachen (der Migranten und Immig- amtlichen Status. Beispiele in Deutsch- ranten) sind Zahlenangaben jedoch ein land sind Sorbisch oder Niederdeutsch, Lotteriespiel, die je nach veranschlagter deren Verbreitung auf Deutschland Mindestsprecherzahl oder Regelmäßig- beschränkt ist. Daneben existieren in keit und Domänen des Gebrauchs weit di-

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vergieren. Bei entsprechenden Kriterien des Erhalts der Vielsprachigkeit. Der für die Zählung gehen sie in die Hunder- Bewusstmachung dieses Wertes diente te. Allerdings stechen einzelne Sprachen 2001 auch das Europäische Jahr der durch Zahlenstärke und Verbreitung her- Sprachen, zu dem die EU zusammen vor, besonders Türkisch. Es versteht sich mit dem Europarat aufrief. Auch hier von selbst, dass die EU auch diese alloch- standen die autochthonen Sprachen im thonen Sprachen bei ihrer Sprachenpo- Vordergrund, obwohl viele allochtho- litik nicht ignorieren darf, zumal ihre ne Sprachen stärker gefährdet sind. Am Sprecher sich ohnehin benachteiligt füh- akutesten bedroht sind die Minderheits- len. Jedoch gewährt sie ihnen geringere sprachen. Allerdings mag es für den Zu- Rechte als den autochthonen Sprachen, sammenhalt der EU noch wichtiger sein, weil – so in der Regel die Begründung dass das Bekenntnis zur Vielsprachigkeit – Migranten und Immigranten freiwillig auch in Richtung der Mehrheits- und der in ihre heutigen Wohngebiete gekommen staatlichen Amtssprachen vernommen sind und von vornherein mit mindestens wird. Paradoxerweise sind nämlich ge- partieller sprachlicher Anpassung rech- rade bei den Sprechern mancher großen nen mussten. Sprachen die Verdrängungsängste am Die Sprachenpolitik der EU muss größten. ein komplexes Gewirr divergierender Beispiele dafür sind vor allem Frank- Interessen so ausbalancieren, dass der reich und Deutschland. In beiden Län- Zusammenhalt der Gemeinschaft nicht dern grassiert die Sorge um die Zurück- gefährdet wird, dass die Arbeit in den drängung der eigenen Sprache durch die EU-Institutionen und deren Zusammen- politische und wirtschaftliche Entwick- arbeit mit den Mitgliedstaaten effektiv lung, aber auch die Sprachenpolitik der bleibt, und dass die rechtlich gewährleis- EU. Es ist nicht die Angst, die eigene tete grenzüberschreitende Mobilität der Sprache, Französisch oder Deutsch, kön- Bürger und die Entwicklung einer EU- ne demnächst „aussterben“, zumindest weiten politischen Öffentlichkeit durch nicht unter Menschen mit Realitätssinn, Sprachschranken möglichst wenig be- wohl aber die Sorge um Statusverluste hindert wird. Diese Ziele erscheinen auf den ers- ten Blick so unvereinbar, dass der abge- griffene Vergleich mit der Quadratur des Es ist nicht die Angst, die eige- Kreises nahe liegt. Er ist jedoch falsch, ne Sprache, Französisch oder denn die Aufgabe ist zwar gigantisch, Deutsch, könne demnächst aber nicht unlösbar. Einige Brennpunkte dieser Politik, die zum Teil Dilemmata „aussterben“, zumindest nicht gleichen, sollen hier skizziert werden. unter Menschen mit Realitäts- sinn, wohl aber die Sorge um Viele Länder, viele Sprachen Statusverluste der Sprachen – Die EU betont in fast allen sprachen- mit nachhaltig negativen Folgen politischen Verlautbarungen den Wert für das eigene Land.

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der Sprachen – mit nachhaltig negativen sich gemeinsam um eine für jede Sei- Folgen für das eigene Land. te „zufriedenstellende Lösung“ bemü- Schon seit einem Jahrhundert sieht hen sollen. Die Außenminister Frank- Frankreich die Weltstellung seiner Spra- reichs und Deutschlands, Védrine und che durch die Konkurrenz des Eng- Fischer, haben im Jahr 2001 auch durch lischen bedroht. Nun fürchtet es um de- gemeinsamen Einspruch den Vorschlag ren Stellung in Europa, vor allem seit des Stellvertretenden Kommissionsprä- Großbritannien und Irland Mitglieder sidenten Kinnock zu Fall gebracht, Ar- der EU geworden sind (Beitritte 1973). beitspapiere für Beratungen künftig nur Davor war in den EU-Institutionen die noch in Englisch vorzulegen. Vorrangstellung des Französischen un- Der Gemeinsamen Sprachenweisung angefochten. Vielleicht war das zwei- war vorausgegangen (unter der Ratsprä- malige Veto Frankreichs gegen den EU- sidentschaft Schwedens, im Frühjahr Beitritt Großbritanniens auch durch 2000), dass informelle Expertenge- Sprachängste motiviert. Jedenfalls ist es spräche nicht ins Deutsche gedolmetscht ein offenes Geheimnis unter EU-Beam- werden sollten. Deutschland erklärte ten, dass der damalige französische Prä- sich damit einverstanden, aber unter sident Pompidou dem britischen Minis- der Bedingung, solche Sitzungen dann terpräsidenten Heath beim EU-Beitritt gleich auf eine einzige Arbeitssprache seines Landes das Versprechen abrang, zu beschränken, was von der Mehrheit britische EU-Beamte müssten stets auch akzeptiert wurde. Als diese Arbeitsspra- Französischkenntnisse haben. Dennoch che wurde – wie zu erwarten – Englisch hat sich Englisch in den EU-Institutio- gewählt. nen schnell als Arbeitssprache etabliert, Das Vorgehen Deutschlands war im und der Beitritt der skandinavischen, Grunde ein Schachzug in einer schon aber auch der ostmitteleuropäischen länger währenden Auseinandersetzung Länder hat die Stellung des Englischen um die Stellung der deutschen Sprache so gestärkt, dass Frankreich um seine in den EU-Institutionen. Sie begann eigene Sprache besorgt ist. mit den Bemühungen der christlich-li- beralen Regierung Kohl (ab 1982) um Angst vor Statusverlust die Stärkung dieser Stellung, nachdem die vorausgehenden deutschen Regie- Symptomatisch dafür ist die „Ge- rungen den Vorrang des Französischen meinsame deutsch-französische Spra- und später auch des Englischen bereit- chenweisung“, eine Art Sprachenbünd- willig akzeptiert hatten. Die Vereini- nis, das Frankreich im Juni 2000 mit gung Deutschlands (1989) und später Deutschland schloss, worin sich beide der Beitritt Österreichs (1995) erschienen Länder zur gegenseitigen Stützung ih- als Basis für eine stärkere Stellung des rer Sprachen in den EU-Institutionen Deutschen. Im Jahr 1993 wurde Deutsch verpflichten. Spezieller geht es dabei zur dritten internen Arbeitssprache der „um Schwierigkeiten, was das Dolmet- Kommission erklärt, neben Französisch schen angeht“ bei „informellen Treffen“, und Englisch. Allerdings folgte dem Sta- bei denen die Minister beider Länder tus nie die entsprechende Funktion: In

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der Praxis ist Deutsch als Arbeitsspra- des Sprachenstreits in der EU. che der Kommission peripher geblieben. Italien und Spanien sowie gelegent- Auch sonst waren die Bemühungen der lich die Niederlande haben für ihre Spra- deutschen, teilweise auch der österrei- chen ebenfalls Ansprüche auf den Ar- chischen Regierung zur Stärkung der beitssprachenstatus erhoben. Erstere deutschen Sprache in den EU-Instituti- hatten beim Harmonisierungsamt für onen wenig erfolgreich. Daran änderten die Binnenwirtschaft in Alicante auch auch einzelne Kraftakte wenig, wie der Erfolg, das damit fünf Arbeitsspra- Boykott informeller Ministertreffen chen hat. Außerdem sorgten Italien durch Deutschland und Österreich, bei und Spanien wiederholt für das Schei- denen Finnland zu Beginn seiner Rats- tern entsprechender Bemühungen der präsidentschaft im Herbst 1999 kein deutschsprachigen Länder, indem sie Dolmetschen für Deutsch anbot. Zwar gleichzeitig Forderungen für ihre Spra- wurde dieses Dolmetschen dann durch- chen erhoben, deren Erfüllung die ef- gesetzt, aber sonstige Stellungsverbesse- fektive Arbeit unmöglich gemacht hätte. rungen blieben aus. Ohnehin ist der Dolmetsch- und Über- Für die EU-Institutionen ist die Spra- setzungsapparat der EU der größte und chenfrage geregelt durch die Verord- teuerste weltweit (rund 1.650 ständige nung Nr.1 des Rates von 1958, der beim und zahlreiche freie Übersetzer sowie Beitritt neuer Staaten weitere Sprachen 500 ständige und 2.700 freie Dolmet- hinzugefügt wurden. Jeder Staat kann scher im Jahr 2006). letztlich selbst entscheiden, welche sei- ner nationalen Amtssprachen zugleich Arbeitssprache oder Fremdsprache? „Amts- und Arbeitssprachen“ der EU werden sollen. Woraus entspringt das große Interesse In diesen erscheinen die „Verord- am Arbeitssprachenstatus für die eigene nungen und Schriftstücke von allge- Sprache? Vermutlich aus der Annahme, meiner Geltung“ und das Amtsblatt der die nicht ganz von der Hand zu weisen EU, und sie werden gedolmetscht in den ist, dass die EU-Arbeitssprachen die zu- förmlichen Debatten und Sitzungen des künftigen Regierungssprachen des zu- Europäischen Parlaments und Rats. An- sammenwachsenden Europas sein wer- sonsten erlaubt allerdings Artikel 6 der den und dass ihre Bedeutung dann weit Verordnung Nr.1, dass die einzelnen Or- über den Rahmen der Regierung hinaus- gane „in ihren Geschäftsordnungen fest- reicht. Damit verbinden sich praktische legen, wie diese Regelungen der Spra- Kommunikationsvorteile für die Mutter- chenfrage im einzelnen anzuwenden sprachler. Aber es ist mindestens ebenso sind“, der somit die Grundlage für die eine Frage des Prestiges – mit vielleicht Unterscheidung zwischen (eigentlichen) weitreichenden Folgen. Davon könnten Arbeitssprachen und den nicht in den womöglich in Zukunft Entscheidungen Beratungen verwendeten (bloßen) Amts- anderer Länder über fremdsprachliche sprachen bildet. Diese Unterscheidung Schulcurricula oder die Fremdsprachen- und die Zugehörigkeit zu den Arbeits- wahl von Lernern abhängen. Die Regie- sprachen ist seit langem ein Brennpunkt rungssprachen der EU oder eines wie

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auch immer vereinigten Europas haben Verordnung Nr. 1 zur Sprachenfrage nur gute Chancen, weltweit als Fremdspra- vom Rat einstimmig geändert werden chen gelernt zu werden. Und für ein Land kann, sondern würde vermutlich zur ist es ein großer Vorteil, wenn die eige- Zerreißprobe der EU. Die Besänftigung ne Sprache möglichst weithin als Fremd- mit der ständigen Beschwörung des Er- sprache gelernt wird. So pflegen etwa die halts der Vielsprachigkeit bei gleichzei- deutschsprachigen Länder ihre Kontakte, tigem Verzicht auf eine übergreifende auch wirtschaftlicher Art, ins Ausland klare Regelung der Arbeitssprachfrage zu erheblichen Teilen über Personen, die ist daher vielleicht die einzige sprachen- Deutsch als Fremdsprache gelernt haben. politische Option der EU, von der sie sich Die Zahl solcher Personen könnte schwin- deshalb auch nicht durch Kritik abbrin- den, wenn Deutsch zukünftig in Europa gen lässt. Auf die Entstehung einer EU- keine prominente Rolle mehr spielt, zu- übergreifenden Lingua franca hat die mal Deutsch – wie übrigens auch Itali- EU sprachenpolitisch sowieso kaum di- enisch – als staatliche Amtssprache au- rekten Einfluss. Ob neben Englisch an- ßerhalb Europas kaum verankert ist, im dere Sprachen auf Dauer eine nennens- Gegensatz zu Englisch, Französisch oder werte Rolle als EU-Arbeitssprache oder Spanisch. Mit der Stellung von Deutsch eine transnationale Funktion als Lingua als EU-Arbeitssprache steht also für die franca behalten, ist ungewiss. deutschsprachigen Länder Einiges auf Alle Mitgliedstaaten haben durch dem Spiel. ihre Schulpolitik den Weg für den Vor- rang des Englischen in Europa geebnet, Englisch als Lingua franca? denn überall ist Englisch entweder erste Fremdsprache oder zumindest als solche Eine Lösung der Konflikte ist bislang wählbar, und die Schüler machen davon nicht in Sicht. Sie ist umso schwieriger, lebhaften Gebrauch. Die zukünftig noch als die kleineren Mitgliedstaaten, die für breitere Kenntnis des Englischen wird die eigene Sprache keine Aussicht auf nicht nur seine Rolle als Lingua fran- Arbeitssprachenstatus sehen, zu einer ca weiter stärken, sondern vermutlich einzigen Arbeitssprache (Englisch) hin auch auf die EU-Arbeitssprachen durch- tendieren, was für sie am einfachsten schlagen. wäre. Eine klare Entscheidung ist der- Um die (bloßen) Amtssprachen der EU zeit nicht nur formal unmöglich, weil die gibt es keine vergleichbaren Konflikte, höchstens gelegentliches Kopfschütteln hinter den Kulissen, als Malta für das Maltesische und dann verspätet auch Ob neben Englisch andere Spra- Irland für das Irische diesen Status ver- chen auf Dauer eine nennens- langten, obgleich beide Staaten mühelos werte Rolle als EU-Arbeitsspra- auf Englisch kommunizieren könnten. che oder eine transnationale Der Status wurde trotz Dolmetsch- und Übersetzungskosten gewährt – in der Funktion als Lingua franca be- Hoffnung, dass nicht Luxemburg auch halten, ist ungewiss. noch Letzeburgisch ins Spiel bringt.

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Europäische Sprach-Charta am 15. 6. 1999). Allerdings hat Frank- für Regionen und Minderheiten reich trotzdem – unter dem Eindruck der Charta – seinen Sprachminderheiten Eine innere Angelegenheit der Mit- mehr Rechte als früher eingeräumt, vor gliedstaaten sind Auseinandersetzungen allem die Einrichtung zweisprachiger um den Status einer nationalen Amts- Schulen. – Schließlich haben sich EU sprache. Gelegentlich berühren sie aber und Europarat auch für die allochthonen auch die EU, wie beim Katalanischen, Minderheitssprachen eingesetzt und die dem wegen der Zahlenstärke – größer Mitgliedstaaten zu Achtung und Rück- als bei mancher EU-Amtssprache – auch sicht aufgefordert. – Durch diese Maß- auf EU-Ebene gewisse Sonderrechte ein- nahmen wurden das Bewusstsein von geräumt wurden. Auch für Konflikte den Minderheitssprachen verbreitert zwischen nationalen Amtssprachen in und die Rechte ihrer Sprecher gestärkt. mehrsprachigen Mitgliedsländern, wie Die Chancen des Erhalts oder gar der vor allem in Belgien zwischen Flamen Ausweitung ihres Gebrauchs bleiben je- und Wallonen, ist die EU nicht direkt doch ungewiss. zuständig. Erst gewissermaßen am unteren Ende Ulrich Ammon ist Professor für Germanisti- der Statushierarchie, bei den Minder- sche Linguistik mit dem Schwerpunkt Sozi- olinguistik an der Universität Duisburg-Es- heitssprachen, mischt sich die EU wie- sen. Er war Gastprofessor u. a. in den USA, der ein, indem sie die Mitgliedstaaten zu Australien, Japan und Österreich. Zu seinen deren Schutz aufruft. An diesen oftmals wichtigsten Publikationen gehören: „Dia- kleinen Sprachen erweist sich am ein- lekt, soziale Ungleichheit und Schule“ 1972; druckvollsten, was Erhalt von Vielspra- „Die internationale Stellung der deutschen Sprache» 1991; „Ist Deutsch noch interna- chigkeit bedeutet. Die wichtigste Maß- tionale Wissenschaftssprache?“ 1998 und - nahme ist die von EU und Europarat zusammen mit Hans Bickel, Jakob Ebner u.a. gemeinsam verabschiedete Europäische - „Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Charta der Regional- oder Minderhei- deutsche Sprache in Österreich, der Schweiz tensprachen (1992 beschlossen, 1998 in und Deutschland sowie in Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol“ 2004. Kraft gesetzt). Sie enthält eine umfang- reiche Liste von 39 Sprachrechten, wie Einbeziehung in Schulen und Medien oder vor Gericht, woraus die Mitglied- staaten eine Mindestauswahl garantie- ren sollen. Allerdings war die Charta im Jahr 2006 erst von acht Mitgliedstaaten ratifiziert, darunter auch Deutschland. Frankreich hat auf die Charta mit ei- ner Verfassungsänderung reagiert, die Französisch zur Sprache der Republik erklärte und die Charta mit der Verfas- sung unvereinbar machte (so auch die Erklärung des Conseil Constitutionnel

184 Glückliches Babel Die Vielfalt der Sprachen Europas ist kein Fluch, im Gegenteil: Sie ist die zwingende Voraussetzung dafür, dass aus unserer Zukunft nicht eine genaue Kopie unserer Gegenwart wird. Von Etienne Barilier

Schweiz vier Sprachen gesprochen wer- den; aber der einzelne Schweizer verwen- det oft nur eine davon, und auch die nicht immer besonders gut. Das liegt nicht an fehlenden Fremdsprachenkenntnissen. Die Blockade ist emotionaler Natur, die Ignoranz freiwillig gewählt: Der West- schweizer weigert sich, die Sprache der Deutschschweiz zu sprechen, die das Idi- om der Mehrheit und damit potenziell be- drohlich ist; und der Deutschschweizer ist zwar grundsätzlich bereit, Französisch zu sprechen, antwortet dem Romand, der glaubt, ihm mit drei gestammelten Wör- uropa glaubt gerne, dass die tern in der Sprache Goethes eine Freude Schweiz ein Land der aktiven zu machen, aber nur höchst widerwillig Eund blühenden Mehrsprachigkeit auf Hochdeutsch. Einen Deutschschwei- ist und dass alle ihre Einwohner sämt- zer auf Hochdeutsch anzusprechen, ist liche Landessprachen beherrschen. Und etwa dasselbe, wie mit ihm zu reden, ohne vielleicht sagt sich Europa auch, dass die ihn dabei anzuschauen. Schweiz in dieser Hinsicht ein Vorbild Die freiwillige Ignoranz und die da- ist, von dem man sich einiges abschauen durch entstehenden Verständigungs- könnte. Denn ist es nicht das Geheim- probleme sind in gewisser Weise wichtige nis des Zusammenhalts der Eidgenossen- Grundpfeiler der Schweiz. Man darf nicht schaft, dass ihre Bürger in der Lage sind, vergessen, dass die Eidgenossenschaft die internen Sprachbarrieren zu überwin- das Ergebnis einer Vereinigung unab- den? Und ist es nicht auch diese Fähigkeit, hängiger Stände ist, die sich nur zusam- die von den Bürgern Europas verlangt mengeschlossen haben, um das bleiben wird, wenn sie ein echtes Zusammenge- zu können, was sie sind. Anders gesagt hörigkeitsgefühl entwickeln wollen? ist die Eidgenossenschaft ein Pakt, der Allerdings gilt es in Bezug auf die hel- jedem seiner Vertragspartner das Recht vetische Mehrsprachigkeit einiges klar- und das Privileg garantiert, sich von den zustellen. Es stimmt zwar, dass in der anderen zu unterscheiden; das Recht und

185 Sprache stimmt mit weniger Überzeugung zu. Am Ende nimmt man eine Position in der Mitte ein, zwischen der Angst, einen Vorteil zu verlieren, und der Furcht, einen Nachteil zu übersehen, und schließt mit seinem fremdsprachigen Gegenüber ein – im wahrsten Sinne des Wortes – still- das Privileg, sich dem anderen nicht an- schweigendes Abkommen. zupassen, ihn nicht zu verstehen und von Den Schweizer Parlamentariern geht ihm nicht verstanden zu werden. Was alle es ein wenig wie den Protagonisten des be- Schweizer verbindet, ist ihr gemeinsames rühmten „Gefangenendilemmas“, das in Recht, sich gegenseitig den Rücken zu- der Wirtschaftstheorie gerne zitiert wird: zudrehen. Der Schweizer Staat existiert Da keiner der Häftlinge weiss, was der trotz, ja in gewissem Maße sogar dank der andere tun wird, ist die Kooperation für gegenseitigen Taubheit zwischen den ver- beide das kleinere Übel. schiedenen Bevölkerungsgruppen – und Wenn man die parlamentarischen De- das gilt nicht nur für den Staat, sondern batten in der Schweiz zum Beispiel mit auch für die Nation. Schließlich ist es ja jenen in der französischen Nationalver- nicht so, dass den Schweizern jegliches sammlung vergleicht, wird sofort klar, Gefühl nationaler Zugehörigkeit und jeg- worin der Vorteil liegt, Schweizer zu sein. licher Patriotismus fremd wären, das hat Die französischen Abgeordneten können vor Kurzem die Fußballweltmeisterschaft sich mühelos miteinander verständigen, eindrücklich bewiesen. Patriotismus geht was schreckliche Folgen hat: Sie gehen über Wörter und Sprache hinaus, er mani- mit offenem Visier aufeinander los und festiert sich manchmal auch in Gesängen sind sich immer bewusst, dass jedes ih- oder in einem Jubelschrei. Patriotismus ist rer Voten in all seinen inhaltlichen und prälinguistisch oder translinguistisch, je stilistischen Feinheiten verstanden und nach Betrachtungsweise. Natürlich ist der sowohl lautstarke Zustimmung ihrer Schweizer Patriotismus gemäßigt und zu- Mitstreiter als auch scharfe Ablehnung rückhaltend, so wie alle Schweizer Emo- ihrer Gegner auslösen wird. Ihre Positi- tionen. Aber er existiert. onen sind eindeutig und absolut unmiss- verständlich und somit auch unvereinbar. In Nebel gehüllt Das französische Parlament ist zum ewi- gen Disput, das schweizerische zum ewi- Apropos Zurückhaltung: Möglicher- gen Ringen um gegenseitiges Verständnis weise besteht ein subtiler Zusammenhang verdammt. Auch in seiner Muttersprache zwischen dieser schweizerischen Tugend und der Scheu der Schweizer vor den an- deren Landessprachen. Die bewusste Un- wissenheit über den anderen – und das Am Ende nimmt man eine Po- meine ich durchaus ernst – wirkt sich sition in der Mitte ein, zwi- positiv auf die Politik des pragmatischen schen der Angst, einen Vorteil Kompromisses aus, eine Kunst, die die Schweizer meisterhaft beherrschen. Die zu verlieren, und der Furcht, Debatten der Parlamentarier in Bern sind einen Nachteil zu übersehen, stets in einen leichten Nebel gehüllt. Man und schließt mit seinem fremd- wird vorsichtig und höflich, wenn man es sprachigen Gegenüber ein – im mit einer Fremdsprache zu tun bekommt und das Gesagte nur ungefähr versteht. wahrsten Sinne des Wortes Man protestiert mit weniger Elan und – stillschweigendes Abkommen.

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ist der Schweizer Redner meistens weni- wie seinem helvetischen Pendant, und ger gewandt und präzise als sein franzö- es macht sich auch in Europa ein alles sischer, deutscher oder italienischer Kolle- erleichternder Hang zu Kompromissen ge – als ob er wüsste, dass Präzisierungen breit … sinnlos sind, da sie bei seinen fremdspra- chigen Zuhörern ohnehin nicht ankom- Europa als Idee men, dass sprachliche Nuancen nichts zu gütlichen Einigungen und pragmatischen Doch halt: Es stimmt schon, dass ein Lösungen beitragen und dass es besser ist, mehrsprachiger Staat oder eine mehr- sich auf der sprachlichen Ebene nicht all- sprachige Nation auch dann existieren zu gut zu verstehen, um gut miteinander kann, wenn sich die Bürger kaum aus auszukommen. „Wir verstehen uns gut, ihrem sprachlichen Schneckenhaus hin- weil wir einander nicht verstehen“, sa- auswagen, aber ebenso wahr ist es auch, gen die Schweizer gerne im Scherz. Doch dass Europa, zumindest in meinen Augen, in dieser Aussage steckt mehr als nur ein nicht wirklich existieren kann, wenn die Körnchen Wahrheit. verschiedenen europäischen Länder keine Es steht dem Leser dieses Textes frei, Kenntnisse der Sprachen ihrer Nachbar- ihn als humoristische Glosse zu interpre- länder besitzen (und die Pflege ihrer eige- tieren. Ich glaube aber durchaus, dass das nen Sprache vernachlässigen, was oft da- Beispiel der Schweiz klar beweist, dass ein mit einhergeht). Kurz gesagt: Wenn sich Staat und auch eine Nation mehrsprachig die Bürger Europas zur gegenseitigen Ver- sein kann, ohne dass alle seine Bürger ständigung mit „Basic English“ zufrie- mehrsprachig sein müssen. Wenn aber die dengeben, hat Europa seine Raison d’être Qualität der sprachlichen Verständigung verloren – und ich meine damit nicht nur zwischen den Bürgern keine zwingende das kulturelle Europa, sondern Europa Voraussetzung für die Existenz von Staa- als Ganzes und Europa an sich. ten oder sogar Nationen ist, könnte man Weshalb? Eben weil Europa weder eine daraus schließen, dass sie für ein Gebilde Nation noch ein Staat ist. Eine gewisse wie Europa noch weniger Bedeutung hat. Geringschätzung anderer Sprachen, die Schließlich hat sich Europa, was auch im- für eine Nation oder einen Staat keine Ge- mer man sich genau darunter vorstellt, nie fahr darstellt, kann sich auf europäischer als „Nation“ verstanden und beschränkt Ebene verheerend auswirken. sich, was Patriotismus angeht, auf „Ver- Europa kann seinen Zusammenhalt fassungspatriotismus“. Inwiefern sollte nicht auf dem kollektiven Bewusstsein also die aktive Mehrsprachigkeit für das abstützen, das einer Nation als Kitt dient. europäische Zusammengehörigkeitsge- Europa, es sei noch einmal betont, ist kei- fühl und das Wohlergehen des politischen ne Nation und wird nie eine sein. Europa Europas notwendig sein? Vielleicht er- ist mehr als ein Amalgam von Einzelinter- wachsen dem Europäischen Parlament, essen, Europa ist eine Idee – und genau das dessen Mitglieder sich, ähnlich wie ihre ist zugleich seine Stärke und seine Schwä- Kollegen in Bern, stets in einem leichten che. Was der europäischen Idee Kraft gibt sprachlichen Nebel bewegen, aus diesem und geben wird, was sie aufrecht hält und Umstand ja sogar die gleichen Vorteile halten wird, sind weder die Artikel einer

187 Sprache und Nationen Europas bezeichnen, der von diesem Prozess profitiert hat. Doch Geld ist zwar wie die Sprache ein Mit- tel des Austauschs, gleichzeitig aber auch das Gegenteil der Sprache, zumindest der sinnstiftenden und emotionalen Sprache. Geld steht für den rein quantitativen, un- Verfassung noch patriotische Gesänge, missverständlich definierten Austausch, sondern das Teilen einer gemeinsamen während die menschlichen Werte, die von Vision (eigentlich sollte und möchte ich der Sprache transportiert, geformt und sagen, einer gemeinsamen Liebe) für die ständig neu erschaffen werden, rein qua- menschliche Person, Freiheit, Würde und litativer Natur sind: Je reicher die Sprache Perfektibilität. ist, desto weniger ist sie quantifizierbar. Doch inwiefern macht es diese gemein- Die Sprache – jede Sprache – ist der same Vision oder Liebe erforderlich, dass Hort des Sinnes und damit auch der Dop- sich die Europäer ihrer Sprachenvielfalt peldeutigkeit, der Ironie, der Andeutung, bewusst sind und entsprechende Kennt- der Distanzierung, der Verschleierung, nisse besitzen? Nun, zum Wohl des Men- des Augenzwinkerns. Ein Satz ist immer schen und seiner Freiheit, Würde und mehr als nur eine Aneinanderreihung von Perfektibilität müssen Fähigkeiten gehegt Wörtern; in jedem Satz in jeder Sprache und gepflegt werden, die untrennbar mit schwingt eine ganze Welt mit, mit all ih- der Sprachkultur und der Liebe zur Spra- ren hellen und dunklen Seiten, mit Inspi- che verbunden sind: Kreativität und Sinn rationen, Bekenntnissen und Geheimnis- für Nuancen, Vielfalt und Qualität. Mit sen; die Sprache ist der Schmelztiegel des „Sprache“ meine ich natürlich nicht die Sinnes: Sie fordert mit jedem Satz den Er- mehr oder weniger technische, nüchterne fahrungsschatz der Welt heraus, stellt ihn und standardisierte Form der Kommu- in Frage und schafft neue Zusammenhän- nikation, wie sie im Rahmen von wirt- ge. Sie übermittelt und lässt Neues entste- schaftlichen Beziehungen Verwendung hen; sie ist Aussage und Appell; sie stellt findet. Nein, ich meine damit die Spra- fest und lässt hoffen. Und sie tut dies al- che als intimer Schatz, als schillerndes les zugleich. Jeder Satz eines Menschen Spiegelbild menschlicher Erfahrungen, ist Wunsch, Möglichkeit und Befehl in als aktive Bewahrerin unserer Kultur und einem. Er enthält in seiner Beschreibung unserer Geschichte; als geheimnisvoller Ort, wo sich das Alte mit dem Neuen ver- bindet, das Erbe mit der Schöpfung, das Geld ist zwar wie die Spra- Erhaltene mit dem Gegebenen, das Wis- che ein Mittel des Austauschs, sen mit der Liebe. gleichzeitig aber auch das Ge- Das Geld und die Sprache genteil der Sprache. Es steht für den rein quantitativen Aus- Viele Sprachen, eine Währung. Es ist tausch, während die mensch- bemerkenswert, und äußerst bezeichnend, dass der Prozess der Vereinheitlichung lichen Werte, die von der Spra- Europas mit dem Geld begann – und da- che transportiert, geformt und mit auch gleich wieder endete. Geld, das ständig neu erschaffen werden, Instrument des materiellen Austauschs rein qualitativer Natur sind: Je schlechthin, konnte leicht vereinheitli- cht werden. Man könnte es sogar als ein- reicher die Sprache, desto weni- zigen realen Aspekt im Leben der Völker ger ist sie quantifizierbar.

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dessen, was ist, stets auch den Traum oder die Welt zu verändern, zu verbessern, zu die Hoffnung dessen, was nicht ist. erforschen und neu zu erfinden. Diese Damit dürfte klar sein, was nicht nur einsprachige Menschheit hätte sich selbst von der Unkenntnis anderer Sprachen un- nicht als Menschheit der Möglichkeiten seres Kontinents zu halten ist, sondern betrachtet; sie hätte nie daran gedacht, auch von der Vernachlässigung der eige- aus ihrer Situation auszubrechen; kurz nen Sprache und dem schrecklichen Hang gesagt, sie hätte nie davon geträumt, den Europas (und, noch schrecklicher, der Turm von Babel zu errichten. Um den An- Schweiz) zur Akzeptanz der Verwendung trieb für ein solches Unternehmen zu ha- von „Basic English“, einer Untersprache, ben, hätte sie der später verhängte Fluch die nichts anderes als eine linguistische schon im Voraus ereilen müssen … Einheitswährung ist, die Transaktionen Die Vielfalt der Sprachen ist also ein wie am Bankschalter ermöglicht. Die Fluch? Nein, natürlich nicht – im Gegen- künstlichen „Kommunikationssprachen“ teil. Die Vielfalt der Sprachen ist die zwin- (was falsch ausgedrückt ist, denn sie die- gende Voraussetzung dafür, dass aus un- nen nicht wirklich der Kommunikation, serer Zukunft nicht eine genaue Kopie sondern nur dem Austausch von verbalen unserer Gegenwart wird. Die Sprachen er- Waren) sind Antisprachen, denn ihre zu- öffnen in ihrer Vielfalt dem Menschen die gleich gewollte und als notwendiges Übel Möglichkeit, von Dingen zu sprechen, die hingenommene Dürftigkeit und ihr ver- noch nicht Realität sind, die Möglichkeit, zweifeltes Streben nach Eindeutigkeit be- selbst zum Schöpfer und Gestalter zu wer- raubt sie jeder Möglichkeit, etwas Neu- den. Und diese Möglichkeit zu pflegen, es, noch nie Dagewesenes zu erschaffen ist die Essenz des menschlichen Wesens – genau das, was die natürlichen und ge- – und insbesondere Europas, wo sich der pflegten Sprachen ausmacht. Mensch seit jeher als entwicklungs- und vervollkommnungsfähiges Wesen sieht. Der Turmbau zu Babel Aber wie sieht „die Vielfalt der Spra- chen pflegen“ in der Praxis aus? Es wäre Ist eigentlich schon einmal jemandem utopisch, von den Europäern zu verlan- aufgefallen, dass die biblische Geschich- gen, dass sie alle schon in jungen Jahren te vom Turmbau zu Babel einen großen damit beginnen, sämtliche europäischen Widerspruch enthält? Wenn die Men- Sprachen zu erlernen. Es geht nicht dar- schen früher tatsächlich auf der ganzen um, Sprachgenies heranzuzüchten. Ziel Welt nur eine Sprache gesprochen hätten, müsste es vielmehr sein, dass alle europä- hätten sie niemals den Bau eines solchen ischen Länder der Verwendung von „Basic Turms in Angriff genommen! Denn eine English“ eine klare Absage erteilen und einsprachige Menschheit wäre eine blo- sich stattdessen verstärkt um die liebevolle ckierte, erstarrte Menschheit ohne Wün- Pflege ihrer eigenen Sprache kümmern, sche und Pläne gewesen, die sich mit der ohne dabei zu vergessen, so oft wie mög- Welt, wie sie ist, zufriedengegeben hätte, lich einen vergleichenden Blick auf die ohne danach zu streben, bis zum Himmel anderen Sprachen Europas zu werfen. vorzudringen, um sich auf eine Stufe mit Daran ist nichts Widersprüchliches – Gott zu stellen; ohne danach zu streben, denn, ich möchte es an dieser Stelle noch

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einmal betonen, je mehr man seine ei- affections, passions? fed with the same gene Sprache liebt und je besser man sie food, hurt with the same weapons, sub- kennt, desto empfänglicher ist man für ject to the same diseases, healed by the die Geheimnisse und den Reichtum einer same means, warmed and cooled by the anderen Sprache. same winter and summer, as a Christian is? If you prick us, do we not bleed? if you Der vergleichende Blick tickle us, do we not laugh? if you poison us, do we not die?“ Mit „alle europäischen Länder“ meine Das ist das wahre, des echten Europas ich natürlich auch die Schweiz. Und wenn würdige Englisch! Wer diese Worte ge- ich schon gezwungen bin, anzuerkennen, hört hat, wird nicht automatisch ein über- dass ein Land auch existieren kann, ohne zeugter Europäer. Aber die überzeugten seine Sprachen zu pflegen, so stimmt es Europäer, da bin ich mir sicher, haben mich doch traurig, dass die Schweiz ihre irgendwann einmal diese und andere Sprachen zu wenig pflegt und liebt und Worte in anderen Sprachen gehört und somit in jenem Sinn, den ich darzulegen sie sind ihnen mehr wert als die Einheits- versucht habe, nicht besonders europä- währung, als ihr Staat und sogar als ihre isch ist. Unser Land wäre für die Zukunft Nation; diese Worte sind Europa; sie sind Europas ein schlechtes Vorbild, wenn es das, was Europa werden und was es geben dem Kontinent nicht glücklicherweise kann, sich selbst und der ganzen Welt. einige grosse Vermittler und Übersetzer geschenkt hätte, grosse Europäer wie Ja- Aus dem Französischen von Reto Gustin kob Burckhardt, Johann Jakob Bachofen, Guy de Pourtalès, Denis de Rougemont … Der Schriftsteller und Essayist Etienne Bari- Wenn Sie finden, dass der „vergleichende lier, geboren 1947, hat rund vierzig Romane („Le chien Tristan“, „La créature“, „Le dixième Blick“ auf andere Sprachen, den ich er- ciel“, „L‘énigme“ …) und Essays verfasst. Zwei wähnt habe, furchtbar abstrakt klingt, seiner Essays sind musikalischen Themen kann ich Sie beruhigen: Ich meine damit gewidmet („Alban Berg“ und „B-A-C-H“). An- zum Beispiel, dass in der Schule die Leh- dere befassen sich mit Literatur, Philosophie rer so früh wie möglich damit beginnen oder Politik, insbesondere mit Europa. Dies gilt auch für „Contre le nouvel obscurantis- könnten, ihren Klassen hin und wieder me“ (Europäischer Essaypreis 1995), das in die schönsten Texte aus den verschie- deutscher Übersetzung erschienen ist („Ge- denen europäischen Sprachen vorzule- gen den neuen Obskurantismus“, Suhrkamp sen, eingeleitet durch ihre Übersetzung 1999). und gefolgt von Erklärungen, falls nötig. So könnten französische, deutsche oder Schweizer Kinder schon früh Zeilen wie diese hören: „O noche que guiaste, O no- che amable más que la alborada, O noche que juntaste Amado con amada, Amada en el amado transformada.“ Oder: „I am a Jew. Hath not a Jew eyes? hath not a Jew hands, organs, dimensions, senses,

190 Globalisierung geschieht! Die EU muss in die Offensive, um sie mitzu- gestalten. Sie ist nicht das trojanische Pferd der Globalisierung, sondern unsere Antwort darauf ... Europa ist der tiefe Humanismus des Erasmus ebenso wie die scharfe Ironie des Voltaire. Es ist die Freiheitsliebe aus Schillers Don Carlos und Beethovens Fidelio ebenso wie die Toleranz von Lessings Nathan dem Weisen.

Benita Ferrero-Waldner, EU-Kommissarin für Außenbeziehungen

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Wie klingt Europa? MP3, Internet, Handys und Heimkino haben die Musikwirtschaft erobert. Um die Herausforderungen der künftigen Mu- sikwelt zu meistern, sind EU-Kulturprogramme ein Schritt hin zu einer besseren Verbreitung von Werken und Künstlern, zu erweitertem Aus- tausch und Kooperationen. Für eine nachhaltige europäische Musikpolitik müssten die nichtmedi- alen Industrien aber besser eingebunden werden. Von Jean-François Michel

oder Platten ausländischer Künstler kau- fen, zeigen, dass Musik nationale Gren- zen überwindet und ein gemeinsames Europa schafft. Musik hat einen bedeu- tenden Anteil an der sozialen Integration von Minderheiten in Europa.

Musik für kulturelle Vielfalt in Europa

600.000 Menschen in der EU leben von der Musikindustrie, deren Umsätze weltweit 40 Milliarden Euro überstei- gen. Kunst muss an die Öffentlichkeit ge- ultur hat viele emotionale Facet- bracht und zugänglich gemacht werden, ten, aber Musik bewegt uns im um künftigen Interpreten den Zugang KInnersten. Sie spricht eine uni- zu Künstlern zu gewähren und das ge- verselle Sprache, mit der sich besonders wünschte Publikum anzusprechen. Die die jüngere Generation verständigt und Kulturindustrie ist unverzichtbar, um war die erste Form von Kunst, mittels Kunst zu etablieren, sie zu verbreiten und derer die Menschen sich ausdrückten. zu umwerben. Es ist unabdingbar, dass Sie ist omnipräsent, spiegelt mensch- Verleger und Plattenkonzerne ihre Aufga- liche Kulturen und deren Daseinsbe- be der Förderung von Kreativität ebenso rechtigung rund um den Globus wider. wie diverse Aktienhändler auf dem Musik- Musik war von jeher ein Kern im kultu- parkett, die alle ihren Teil dazu beitragen, rellen Leben Europas und ist auch heute das Publikum zu erreichen, ernst nehmen. die Kunstform, in der jüngere Menschen Die Anstrengungen der Aktieneigner spie- bevorzugt ihre Kreativität und nationale len sich im Rahmen der Kulturwirtschaft Besonderheiten ausleben. ab, die je nach Geschäftsbereich variieren. Stärker als je zuvor ist Musik dafür Die industrielle Reproduktion eines kul- prädestiniert, den interkulturellen Dia- turellen Produkts trägt dazu bei, die kul- log zu beleben. Millionen von Menschen, turelle Vitalität und die Vielfalt in Europa die zu internationalen Festivals pilgern am Leben zu erhalten.

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Dabei spielt der Musiksektor für die nanziert werden, sei es im Bereich des wirtschaftliche Entwicklung der EU Informationsaustauschs, der Unterstüt- eine ebenso wichtige Rolle wie für die zung von Livemusik oder der Förderung kulturelle Vielfalt. Er spielt sich in einer professioneller Musikschaffender in Eu- begrenzten Zahl multinationaler Kon- ropa. In Bezug auf die transnationale zerne – die Musikindustrie wird von vier Mobilität der Beschäftigten im Kulturbe- Unternehmen dominiert – ab, und in ei- reich, zielen Projekte wie das European ner großen Anzahl kleinerer Firmen, Talent Exchange Programme und der die Platten produzieren, veröffentlichen European Tour Support darauf ab, die und vertreiben, während andere Kon- Mobilität von Beschäftigten sowie von zerte und Touren organisieren. Immer Künstlern zu erleichtern. mit dem Ziel vor Augen, dem Publikum Das europäische Talentaustauschpro- die Chance einzuräumen, neue Künstler gramm ETEP und das Förderprogramm und Kulturzweige zu entdecken. ETS1 unterstützen die transnationale Verbreitung von künstlerischen Werken Die Stimme des Musikgeschäfts und kulturellen Erzeugnissen, indem sie Touren im Ausland unterstützen. Das Das European Music Office ist eine Projekt Exchange of Information ver- internationale Non-Profit-Organisation, mittelt Experten und Künstlern wissens- die internationale und nationale Musiko- werte Informationen, um die Mobilität rganisationen sowie Verbände im europä- innerhalb Europas zu verbessern. Vorha- ischen Musikgeschäft zusammenführt. ben wie die Einrichtung eines Büros in Gemeinsam mit seinen Mitgliedern und New York und China sind Beispiele für anderen Handelsorganisationen sowie internationale Mobilität und interkultu- nationalen Instituten vermittelt es die rellen Dialog. Das EMO ist auch in Sa- Vielfalt der europäischen Musik und chen Lobbyismus für europäische Ein- vertritt deren Interessen in Europa und richtungen und nationale Regierungen darüber hinaus. Die europaweiten Ak- aktiv. Im Rahmen des neuen EU-Kultur- tivitäten knüpfen an die Ziele der Euro- programms 2007-2013 will das EMO im päischen Union im Kultursektor an: eine Rahmen von Projekten besonders Initi- leichtere Verbreitung von Werken, der ativen unterstützen, die der Förderung Austausch von Künstlern, Kreativen und der Kulturindustrien und deren Pro- Produktionen, Kooperationen jeglicher grammen dienen. Art sowie die Mobilität von Musikschaf- fenden, indem der Zugang zu Neuentde- Ein europäisches Programm ckungen von Künstlern und Kulturen in für Musik ganz Europa erleichtert wird. Das EMO ermutigt auch zum Aufbau professio- Das Kernziel des EMO ist die Konzep- neller Netzwerke und Einrichtungen im tion und Umsetzung einer abgestimm- Europäischen Musiksektor. ten Musikpolitik durch die EU und deren Mit der European Music Platform Mitgliedstaaten – eine spezifische und koordiniert das EMO außerdem euro- notwendige Hilfe für den europäischen päische Projekte, die von der EU kofi- Musiksektor. Nur so können die Ziele der

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EU in diesem Bereich erreicht werden. bände (IFPI) der weltweit viertgrößte Die Europäische Kommission, das Eu- Musikmarkt (nach den USA, Japan und ropäische Parlament sowie der Rat der Großbritannien) mit einem Handelsum- Europäischen Union arbeiten gerade an satz von knapp zwei Milliarden Dollar, einer neuen Generation von Kultur- und was 6,4 Prozent der weltweiten Verkäu- Medienprogrammen. Die Einführung fe entspricht. Frankreich verbuchte mit dieser Programme von 2007 bis 2013 ist einem Einbruch um 21,4 Prozent im unabdingbar für die Entwicklung der ersten Jahresdrittel 2004 seinen stärks- kulturellen Szene Europas und die Ver- ten Verkaufsrückgang auf den Platten- besserung der Mobilität von Produkten, märkten, der das vorherige sechsjährige Services ebenso wie für Künstler und Wachstum von durchschnittlich drei Kulturschaffende. Diese neue Generati- Prozent zunichte machte. Bei der Ver- on kultureller und audio-visueller Pro- teilung nach Musikgenres bestimmt die gramme wird auch für die Zweige der nationale Popmusik mit 37,6 Prozent den europäischen Kulturindustrie von Vorteil Gesamtumsatz. Allgemein gesprochen sein, die nicht im Medienbereich aktiv ist Frankreich seit 1999 noch vor Großb- sind und bislang in regionale Korsette ritannien das europäische Land, in dem gezwängt sind, sowohl auf dem europä- die lokalen Repertoires zusammenge- ischen als auch dem Weltmarkt. nommen das stärkste Gewicht haben. Außerdem muss eine wirksame und Im Jahr 2003 vermerkte die „National ernst zu nehmende europäische Strate- Union of Phonographic Publications“ ein gie der Musikförderung im Speziellen konstantes Wachstum in diesem Markt- und der Musikindustrie im Allgemeinen segment, das in absoluten Werten 60 Pro- auf Initiativen vertrauen, die einerseits zent – gegenüber insgesamt 35,5 Prozent die geistigen Urheberrechte stärken, und für internationale Genres und 4,5 Prozent andererseits das Problem der Piraterie in für klassische Musik – ausmachte. den Griff kriegen. In jedem Fall ist offensichtlich, dass das Programm 2007-2013, wie es jetzt dasteht, keinen bemerkenswerten Fort- Diese neue Generation schritt erzielen kann, da die Pilotprojekte bewiesen haben, dass die nichtmedialen kultureller und audio-visueller Industriezweige auf mehr Unterstützung Programme wird auch für angewiesen sind und flexible Finanzie- die Zweige der europäischen rungsoptionen benötigen. Aus diesem Kulturindustrie von Vorteil Grunde spricht sich das EMO nach dem Vorbild des MediaPlus-Programms für sein, die nicht im die Schaffung eines spezifischen Pro- Medienbereich aktiv sind und gramms für die Kulturindustrie aus. bislang in regionale Korsette gezwängt sind, sowohl Frankreich Im Jahr 2003 war Frankreich nach auf dem europäischen als Angaben der Internationalen Phonover- auch dem Weltmarkt.

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Deutschland anderen europäischen Ländern zurück- In den vergangenen sechs Jahren ist bleiben. – Bei den Internetanschlüssen der Anteil der deutschen Musikkäufer rangiert Spanien in Europa nur auf dem kontinuierlich gesunken. Waren es im zwanzigsten Platz, hinter verschiedenen Jahr 1997 noch 52,6 Prozent, sank die neueren EU-Mitgliedern wie Slowenien, Quote im Jahr 2003 auf 40,1 Prozent. der Tschechischen Republik und Est- Hatte Deutschland bis vor einigen Jah- land.3 ren den Spitzenplatz in Europa inne, führte der dramatische Umsatzeinbruch Großbritannien zu einem Abstieg auf den dritten, und Das Vereinigte Königreich macht 9,3 weltweit fünften, Platz. Prozent der weltweiten Musikverkäufe Seit 1996 hat die IFPI den „Platinum und rund 15 Prozent des globalen Mu- Europe Award“ an viele deutsche Alben sikmarktes aus.4 Im Jahr 2000 wurde die mit mehr als einer Million in Europa ver- dortige Musikindustrie auf einen Wert kaufter Exemplare vergeben, die aller- von 3,624 Milliarden Pfund geschätzt. dings vornehmlich in deutschsprachigen Rund 130.000 Menschen sind in der Bran- Ländern abgesetzt wurden. Andere Ver- che beschäftigt, jährlich erscheinen etwa triebsformen für Populärmusik stecken 5.000 neue Singles und 20.000 Alben, in Deutschland noch in den Kinderschu- und als Repertoire-Quelle liegt Groß- hen, in krassem Gegensatz zum Absatz britannien nur noch hinter den USA. Die von klassischer Musik, bei der Deutsch- Musikindustrie wird von einer Reihe mul- land aus ökonomischen wie auch bil- tinationaler Konzerne – Warner’s, EMI, dungs- und kulturpolitischen Gründen Universal, BMG und Sony – beherrscht, eine herausragende Rolle einnimmt. aber 90 Prozent des Musikgeschäfts wer- den von kleinen und mittleren Unterneh- Spanien men bestritten. Ihr Erfolg beruht auf der Mit 1,7 Prozent des weltweiten Mu- Qualität und Vielfalt der im Land hervor- sikmarkts nimmt Spanien den neunten gebrachten Talente. Platz ein, nach den USA, Japan, Groß- Nach Angaben der IFPI ist Großbri- britannien, Deutschland, Frankreich, tannien einer der wenigen Musikmärkte Australien, Kanada und Italien. Spani- auf der Welt, in dem der reine Umsatz im ens Pro-Kopf-Kaufkraft bewegt sich mit Jahr 2003 leicht um 0,1 Prozent wuchs 22.403 US-Dollar deutlich unter der an- (auf 3,216 Milliarden US-Dollar, was derer europäischer Länder (im Vergleich rund 1,632 Milliarden Pfund entspricht). dazu: US-Dollar 26.345 in Frankreich, Der Musikkonsum machte insgesamt 2,1 US-Dollar 26.751 in Italien). Der Spa- Milliarden Pfund aus, womit die Briten nier gibt im Jahr im Durchschnitt mit nach den Pro-Kopf-Ausgaben für Musik am wenigsten in Westeuropa aus, am nur hinter den Norwegern rangieren. wenigsten waren es 2004 10,50 Euro.2 Insgesamt bewies die britische Platten- Handy-Telefone (GSM and 3G), MP3, industrie 2003 eine anhaltende Stärke, Internet, DVD und Heimkino werden obwohl die gesamten Industriegewinne auch in Spanien immer populärer, ob- leicht auf 1,177 Milliarden Pfund zu- wohl die Marktdaten im Vergleich zu rückgingen.

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Trotz wachsenden Wettbewerbs in fen erstmals ihre britischen Kollegen. der Unterhaltungsindustrie konnte das Zugleich wurde eine „neue britische Musikgesamtgeschäft 2003 vier Prozent Invasion“ auf den Überseemärkten aus- wettmachen, auch die Gewinne aus den gemacht, besonders in den USA, wo im Plattenverkäufen stiegen zum ersten Mal Jahr 2003 vor allem Künstler wie Franz nach fünf Jahren wieder um 3,7 Prozent. Ferdinand, Joss Stone and „The Dark- Allein die Verkäufe von Single-CDs stie- ness“ großen Erfolg hatten. gen nach ihrem Volumen um 15,4 Pro- zent und 8,1 Prozent nach ihrem Wert.5 Aus dem Englischen von Den sinkenden Single-Verkaufszahlen Stephan Hollensteiner war die Plattenindustrie zum Beispiel mit einer Preissenkung besonders für Jean-François Michel ist Generalsekretär CDs begegnet. Gleichzeitig verdoppel- des European Music Office in Brüssel. Er leitet das Französische Musikexportbüro, ist ten Musik-DVDs in Großbritannien Mitglied im Expertenteam des Haut Conseil ihren Marktanteil und stellten 2003 Culturel Franco-Allemand sowie Manager bereits vier Prozent des nationalen Mu- von JFM Consultant (früher Mediactiv). Von sikmarkts dar, in dem die Download- 1984 bis 1992 war er Direktor des Fonds Verkäufe im Jahr darauf zwei Millionen pour la Création Musicale (FCM) in Paris. Von 1975 bis 1984 initiierte er kulturelle Aktivi- Einheiten erreichten. täten in Paris, wie das Kulturzentrum Forum Obwohl der Anteil des internationa- des Halles, einen Jazzclub und ein Choreo- len Repertoires auf dem Markt kontinu- grafie-Studio in La Défense. ierlich angewachsen ist, bleibt britische Musik im eigenen Land wie auch welt- weit sehr gefragt. Im Jahr 2003 verbuch- ten britische Interpreten – klassische Musik und Sammelalben ausgenommen – allein 47 Prozent der Einzelkünstler- verkäufe, knapp vor den US-Künstlern mit jeweils 34,6 Prozent und 45,4 Pro- zent. 2006 überflügelten die US-Inter- preten bei den nationalen Plattenverkäu-

1 Die European Music Platform hat unter Leitung des European Music Office (EMO) mit Hilfe der Europäischen Kommission das European Tour Support Programm, das Europatourneen europäischer Künstler anregen soll, auf den Weg gebracht. 2 Anuario SGAE de las Artes Escénicas, Musicales y Audiovisuales 2005. 3 Internet World Statistics, 2004 & 2005. 4 Figures from the Department for Culture, Media and Sport (DCMS), Creative Industries. 2004. 5 BPI Quarterly Market Review – August 23 2004.

198 Haben wir den Blues? Wie wird das Musikge- schehen in Europa beeinflusst? Mit der Globali- sierung rücken gesellschaftliche Veränderungen durch Musik sowie deren identitätsstiftende Funktion ins Blickfeld von Forschern. Wie wir- ken sich technologische Entwicklungen auf tra- ditionelle Plattenfirmen und Musikkonsumenten aus? Bleibt die Dominanz englischsprachiger Pop- musik ein Axiom der globalen Musiklandschaft? Von Jonas Bjälesjö

und Finnland – allesamt Länder, die in Europa in der Popmusik sonst weniger tonangebend sind. Der Musikwettbewerb genießt in verschiedenen Ländern jeweils einen anderen Status und unterschied- liche Aufmerksamkeit – immerhin neh- men beinahe alle europäischen Länder daran teil, was die angelsächsische Domi- nanz in ihre Schranken weist. Zwar wird meist auf Englisch gesungen, aber viele Länder nutzen die Plattform, um natio- nale Attribute und kulturelle Besonder- heiten zu präsentieren. Der Grand Prix Eurovision de la Chanson hat etwa den er wird den nächsten Eurovi- neuen osteuropäischen EU-Ländern den sion Song Contest gewinnen? Weg auf europäische Bühnen geebnet. WWird es wieder Vorwürfe ge- Auch wenn übergreifende europäische ben, die baltischen Staaten schanzten sich Produktionen rar gesät sind, fördern di- gegenseitig die Stimmen zu? Während verse Förderprogramme die Ausschöp- sich im Grunde ein europäischer Kern fung und Verbindung der vielfältigen mu- in der Pop- und Rockmusik seit den 50er sikalischen Potenziale. „Muzone“ etwa Jahren nur schwer ausmachen lässt, ist ist ein Musikausbildungsprogramm in der Eurovision Song Contest beispielhaft Zusammenarbeit mit dem EU-Leonar- für den Anspruch, die europäische Viel- do-Programm, dem europäischen Ak- falt in ihren nationalen Ausprägungen tionsprogramm der Berufs- und Hoch- zu repräsentieren. schulbildung, das die Zusammenarbeit Der Eurovision Song Contest wird in in der Berufsbildungs- und Hochschul- Zusammenarbeit von Fernsehsendern politik auf europäischer Ebene fördern innerhalb der European Broadcasting soll. Die Festival-Organisation „Youro- Union seit 1956 jährlich veranstaltet. Be- pe“ setzt sich für den Musikaustausch merkenswert ist die Bandbreite der Sie- ein und nicht zuletzt trifft sich die euro- gerländer seit 2000: Dänemark, Estland, päische Musikindustrie regelmäßig auf Lettland, Türkei, Ukraine, Griechenland verschiedenen Branchenmessen wie der

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„Midem“ in Cannes und der „Popkomm“ Europäische Popmusiker produzieren in Berlin. also durchaus auf Weltniveau, sind aber inhaltlich oft spezifisch an die jeweilige Eine Volksmusik für Europa? Nation gebunden. Ebenso kann Musik mit außereuro- Alle europäischen Länder pflegen ihre päischen Wurzeln weltweit erfolgreich Traditionen einheimischer Musik. Volks- sein. Hip-Hop ist nur ein Beispiel. Auch musik war – und ist es in bestimmten wenn es afro-amerikanische Wurzeln Ländern auch heute noch – ein wichtiges hat, ist es unter Jugendlichen in Europa Ausdrucksmittel, um lokal, regional oder sehr verbreitet, oft unter Immigranten. national verankerte Identitäten zu schaf- Hip-Hop spricht viele Sprachen, sowohl fen. Bestimmte Volksmusik wie etwa die im Vergleich zwischen einzelnen europä- irische konnte sich bis zu einem bestimm- ischen Ländern, als auch an unterschied- ten Grad im übrigen Europa durchsetzen, lichen Orten innerhalb der europäischen meist war und ist volkstümliche Musik Länder. aber eine nationale Angelegenheit. Die In der Entwicklung Europas spielt Erweiterung der Europäischen Union hat das Verhältnis zwischen Musik, Ethik, die Verwendung und Bedeutung der na- Nationalismus, sozialem Hintergrund, tionalen Volksmusik kaum beeinflusst, Alter, Geschlecht und Ort eine wichtige sie hat lediglich in gewissen Regionen, Rolle. Diese Faktoren sind Orientierungs- Ländern oder Städten an Bedeutung ge- punkte für Individuen, soziale Gruppen wonnen. Dass Volksmusik zu einer eu- und Regionen. Ein durch Musik gewach- ropäischen Identität beitragen kann, fin- senes Zugehörigkeitsgefühl fordert Nor- det etwa der Ethnologieprofessor Jonas men und Werte der Gesellschaft heraus Frykman: „Man hat auf die ‚Regionen und schafft alternative, kulturelle Aus- Europas’ gesetzt. Dort vollzieht sich eine drucksweisen und Stile. Soziale Gemein- Verschmelzung von lokalen und europä- schaften sind oft wichtige Ausdrucksfo- ischen Traditionen. Seit Beginn des Mill- ren für Randgruppen und können – als enniums spielen Ort, Heimat und Wur- Voraussetzung für die Herausbildung lo- zeln eine immer größere Rolle“. kaler Nuancen – Widerstand gegen ho- Es gibt auch europäische Popmusik, mogene Tendenzen innerhalb der Kul- die aufgrund von Sound, Genre, Stil und turindustrie erzeugen. Besonders in der Image innerhalb der Landesgrenzen marktführend ist. Trotz ihres Potenzials zur globalen Popularität und ohne deut- Markt und Publikum beschrän- liche geografische Verbindung wird diese Popmusik selten außerhalb der eigenen ken sich größtenteils auf die na- Landesgrenzen gehört. Nicht ohne Grund: tionalen Grenzen, da die Texte Markt und Publikum beschränken sich oft in der Muttersprache ver- größtenteils auf die nationalen Grenzen, fasst werden und sich zudem oft da die Texte oft in der Muttersprache ver- fasst werden und sich zudem meist auf in- auf nationale Probleme bezie- ländische Probleme beziehen. hen.

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heranwachsenden Generation gibt es eine auch die Forschung verstärkt für den Zu- Menge weiterer Beispiele von musik- und sammenhang von gesellschaftlichen und lebensstilorientierten Gemeinschaften in popmusikalischen Veränderungen sowie Europa, die Netzwerke schaffen und sich den Stellenwert der Selbstdarstellung von austauschen. Dieses translokale Netz- Menschen und Identitätsbildung. Diskus- werk wird etwa durch persönliche Kon- sionen um Popmusik drehen sich oft dar- takte und Besuche aufrechterhalten so- um, wie globale Prozesse sich auf loka- wie durch Konzerte, Festivals, Fanzines, ler Ebene bemerkbar machen. Wie gehen Maillisten, Webseiten, Clubs etc. Welche die Menschen mit Musik um, wenn sie Voraussetzungen und Prozesse beeinflus- die lokalen Bedingungen und eigene Er- sen das Musikgeschehen der Gegenwart fahrungen mit ihr verknüpfen? Welchen und Zukunft in Europa? Einfluss haben diese Prozesse auf die Identitätsbildung? Der Ort kann als Teil Pop- und Jugendkultur in Europa globaler Tendenzen und Auffassungen und nicht als deren Gegensatz betrach- Jugendkulturen weltweit zeichnen tet werden. Daraus resultiert ein loka- sich durch räumliche Offenheit aus, ler und globaler – also glokaler – Pro- durch eine Mischung aus lokalen, glo- zess. Popmusikalische Entwicklungen balen und kulturellen Mustern sowie sind „translokal“ , da sie gleichzeitig von sozialen Einflussfaktoren. Mythologie, weltweiten, kulturellen Einflüssen und Erzählung und Geschichte von Popmu- Homogenisierungstendenzen und gleich- sik lebt vom Bezug zu Veranstaltungen, zeitig von lokalen Variationen und Viel- Ereignissen, Momenten, Personen und falt gesteuert werden. Orten, aus denen sich Musik- und Le- Kulturelle Verhaltensmuster junger bensstile herausbilden. Gleichzeitig ist Menschen in Europa bilden sich in einem Jugendkultur im Allgemeinen und Pop- offenen Raum gegenseitiger Beeinflus- musik im Besonderen ein Beispiel für sung und sozialen Beziehungen. Sie ver- einen postmodernen Zustand, in dem suchen, diesen Raum gegenüber ihrer Zeit, Raum und Standort kontinuierlich Umgebung abzugrenzen. Für viele junge zu komplexen Mustern ver- und wieder Menschen ist die Organisation ihres Exis- entflochten werden. tenzraums eng mit dem Identitätsaufbau Die Soziologen Mike Featherstone und verknüpft. Die räumliche Konstruktion Scott Lash fassen es so zusammen: „Heut- ist ein wichtiger Faktor in der Entwick- zutage grenzen Kulturen sich intern ab. lung sozialer Identität, die Hand in Hand Extern sind sie in Netzwerke anderer mit der Identifikation mit einem Ort geht. Kulturen eingebunden, was die Defini- So sind Menschen nicht nur „Festivalbe- tion von Grenzen erschwert.“ Der Me- sucher“, „Punks“ oder „Hip-Hopper“, sie dienforscher James Lull bezeichnet die übernehmen diese Rollen zu jeder Zeit an lokale Umformung globaler Ansichten jedem Ort. Besonders in der Popmusik und Produkte als „kulturelle Reterrito- haben Jugendliche und deren Ausdrucks- rialisierung“. weisen ein starkes Potenzial ebenso für Mit dem Siegeszug der Globalisierung globale Grenzenlosigkeit, als auch für die auch in der Popmusik interessiert sich Anpassung an lokale Eigenheiten.

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Die Dominanz von englischspra- tieren neue Perspektiven der Distributi- chigen, anglo-amerikanischen Ländern on für neue, unbekanntere Künstler. Die in der Popmusik ist unverkennbar, so- Differenz zwischen Musikproduktion wohl was die Präsenz in den Medien, als und -verbrauch schrumpft weiter, denn auch die Verkaufszahlen und Konzert- die aktuelle Technik ermöglicht sowohl besuche betrifft. Das Angebot diverser erweiterte Möglichkeiten zur Produkti- Musikkanäle im Fernsehen konzentriert on in Eigenregie, als auch neue Formen sich auf amerikanische und britische Mu- des Musikkonsums durch neue digitale sik, je nach Ausstrahlungsland mit regi- Formate in Form von Musikdateien und onalen Unterschieden, da die Pop- und digitalen Vertriebstechniken – Mobilte- Rockmusik historisch in den USA und lefone, MP3-Player, iPod etc. gewinnen Großbritannien wurzelt. Betrachtet man an Einfluss. Über den digitalen Markt etwa Programme europäischer Musik- sagt John Kennedy vom Internationalen festivals mit abwechslungsreichen, nicht Phonoverband IFPI: „Heutzutage wan- genrespezifischen und popmusikalischen delt sich die Musikindustrie zunehmend Angeboten, stellt man oft fest, dass der in ein digital literarisches Gewerbe. [...] überwiegende Teil der Hauptacts und Das digitale Musikbusiness wächst wei- bekannten Künstler aus den USA und ter. Das Handelseinkommen hat sich Großbritannien stammt.1 2006 auf etwa zwei Milliarden Dollar verdoppelt – das macht etwa zehn Pro- Hörgewohnheiten im Wandel zent unserer Verkäufe aus. Wir erwarten, dass bis 2010 mindestens ein Viertel aller „Neue digitale Übertragungskanäle Musikverkäufe weltweit digital abgewi- katapultieren den Musikkonsum auf ein ckelt werden.“ hohes Niveau. Die Konsumenten wün- Durch neue Vertriebstechniken und schen sich stärker als je zuvor vielfäl- Konsummuster verändert sich auch die tige Zugänge zur Musik.“2 Technische soziale Funktion der Musik. Sozial ver- und digitale Entwicklungen verändern netzte Webseiten erleben einen Boom, hier Musikproduktion und -vertrieb auch in kann man sich selbst darstellen oder Mu- Europa und zwingen die Industrie, neue sikwerke oder Interessen präsentieren. Die Geschäftsmodelle zu entwickeln und ihre „Explosion“ von Webseiten wie YouTube, Arbeit umzustrukturieren. Parallel zum LastFM und allen voran MySpace mit über Musikgeschäft ändern sich Hör- und Kon- 60 Millionen registrierten Anwendern im sumgewohnheiten. Heutzutage führen September 20063 haben ein weites Kon- nicht mehr nur Plattenfirmen die Ent- taktnetzwerk sowohl für Künstler als auch wicklung an, verschiedene IT-, Telekom- Musikhörer und Plattenfirmen geschaf- munikations- und Medienfirmen haben fen. Diese Webseiten funktionieren wie das Zepter übernommen. Damit haben Communities für Fans und Musikinter- sich die Machtverhältnisse zwischen essierte. Künstler wie die Arctic Monkeys Musikfirmen, Produzenten und Konsu- und Lilly Allen sind durch Myspace po- menten demokratisiert, es ist bedeutend pulär geworden. „Manche Bands haben einfacher und billiger, Musik zu produ- sogar begonnen, ausschließlich ‚virtuelle‘ zieren und zu vermarkten. Daraus resul- Konzerte zu geben; Ben Folds veranstal-

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tete eine virtuelle Releaseparty in der vir- zwischen 2005 und 2006 um 89 Prozent tuellen 3D-Welt ‚Second Life‘ im Oktober gestiegen. Neben dem Herunterladen ein- 2006 und veröffentlichte auf diesem Weg zelner Lieder und Mastertones werden sein Album ‚supersunnyspeedgraphic, the auch Downloads für Klingeltöne, digi- LP!’. Damon Albarns neues Projekt ‚The tale Alben und Musikvideos beliebter. Die Good, The Bad and The Queen‘ haben ei- Anzahl verkaufter MP-3-Geräte – allen nen exklusiven MySpace-Auftritt im De- voran der iPod von Apple – wuchs im Jah- zember 2006”. re 2006 um 43 Prozent. Auch Mobiltele- Die Digitalisierung bietet den Fans fone werden immer mehr zum zentralen schnellere Aktualisierungen und einen Musikträger und -spieler. Nokia hat im engeren Austausch untereinander, etwa, Oktober 2006 sein Musikwarenzeichen wenn es um Karriereneuigkeiten oder Xpress Music auf den Markt gebracht, banale Geschichten aus dem Leben des das es ermöglicht, bis zu 1.500 Lieder Idols geht. MySpace bietet die Möglich- auf Mobiltelefone herunterzuladen. No- keit, Neuigkeiten und Geschichten über kia wird zudem als Ergänzung zum Te- Lieblingskünstler zu veröffentlichen. lefonmarkt einen Music Store lancieren. Plattenfirmen in Europa nutzen soziale Laut Ed Averdieck, Managing Director Netzwerk-Webseiten, um Kontakte zwi- bei Nokia Music Service, dominiert in schen Fans und deren Künstlern zu knüp- Zukunft Multifunktionalität. Mobilität fen und wecken so das Interesse auch für ist das Schlüsselwort sowohl für Produ- andere Musikstile. Die Webseite Last FM zenten als auch für Konsumenten. Jean- hat etwa ein „Taste-o-meter“ lanciert, Francois Cecillon, Vorsitzender von EMI das wie ein „Dating-Service“ funktio- Music Continental Europa, behauptet: niert und auf musikalischen Vorlieben „Immer mehr Konsumenten nutzen ihre beruht. Telefone, um Musik zu hören oder Musik, Downloads von einzelnen Songs sind um ihren Handys eine eigene Note zu ge- auf dem Vormarsch. Laut IFPI sind sie ben. Musik ist ein zentrales Thema in der Mobiltelefonie geworden [...].“ Aber die größten Diskussionen drehen sich immer Plattenfirmen in Europa nutzen noch um den umfassenden Zugang und das illegale Herunterladen von Musik, soziale Netzwerk-Webseiten, in Form von P2P-Dateien-Sharing. Die um Kontakte zwischen Fans illegale Piraterie wird als Hauptbedro- und deren Künstlern zu knüp- hung für die Musikindustrie und Künst- fen und wecken so das Interesse ler angesehen, weil hier Urheberrechte ausgehöhlt werden. Aber vermutlich wer- auch für andere Musikstile. Die den auch die großen Majorplattenfirmen Webseite Last FM hat etwa ein bald den Erwerb uneingeschränkter Di- „Taste-o-meter“ lanciert, das gitaldateien zulassen. Die meisten Inde- wie ein „Dating-Service“ funk- pendent-Labels verkaufen ihre Musik bereits in MP3-Formaten, die ohne Ko- tioniert und auf musikalischen pierschutz heruntergeladen und kopiert Vorlieben beruht. werden können.

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thetisch und ökonomisch relevant, kul- Sony BMG turell bedeutsam und massentaugliches Warner Music Group 15% 25,61% Medienprodukt. „Musik sind komplexe Systeme sozialer Anwendungen und Be- deutungen mit Ritualen und Regeln, Hi- EMI Group 9,55% erarchien und Systemen zur Glaubwür- digkeit. Musik kann aktive Kunstform sein und auch passive Konsumerfahrung [...] Ferner geht es im populären Teil nicht Independent Labels 18,13% nur um den Markterfolg kultureller Pro- dukte wie den Verkauf von CDs, Musik- 31,71% videos, Konzerten. Es geht um Trends, um soziale Zusammenhänge, in denen Universal Music Group die Fans sich bewegen und deren Bin- Aufteilung des globalen Musikmarkts - dungen an eine bestimmte Musik, um Nielsen Sound Scan 2005 menschliche Beziehungen. Es gibt keine formelle Definition von Popmusik.“ Das wäre eine kleinere Revolution und die Rückwirkungen wären für den ge- Aus dem Schwedischen samten Musikmarkt, europa- wie welt- von Birgit Wittlinger weit, zu spüren. Die Monopolstellung der Majorfirmen, die bislang rund 80 Prozent Jonas Bjälesjö studierte an der Universität Linköping Geschichte, Politik und Soziologie. des Weltmusikmarkts beherrschen, wäre Er ist Vorsitzender des Swedish Rockarchive, Vergangenheit. schwedischer Partner im europäischen Leo- nardo-Projekt Muzone sowie Mitglied in der Zukunftsmusik IASPM-Norden (International Association for the Study of Popular Music). Diverse For- schungsprojekte und Veröffentlichungen zum Popmusik in Europa ist ein Teil einer Thema Jugend und Musik in der Europäischen globalen Industrie und die vier großen Union. In seiner empirischen Promotion zum Majorfirmen EMI, Sony BMG, Universal Rockfestival „Hultsfred“ analysierte er die und Warner dominieren den Weltmarkt. Bedeutung von Musik für kulturelle Prozesse Aber dennoch prägen viele kleine – nicht auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene. immer kommerziell gepolte – Labels die Musikindustrie4. Die meisten Firmen sind Teile in einem kulturindustriellen Kon- glomerat, das sich durch ein komplexes Muster von Allianzen, Zusammenarbei- ten, Partnerschaften, Zusammen- und Teilhaberschaften, Joint Ventures etc. 1 Der Vergleich bezieht sich auf Festivals, die nicht auf der Webseite der auszeichnet. Aber Musik ist mehr – sie Interessenorganisation für europäische Festivals, Yourope (www.yourope. org), auftauchen. untermauert Identität, Sinn und ange- 2 IFPI: 07 Digital music report s. 4. messenes soziales Verhalten. Popmusik 3 Fiveeight Music, September 2006, nr 58. 4 In Schweden haben z.B. 99,4% aller Firmen innerhalb der Musikindustrie ist Kultur und Massenware zugleich, äs- bis zu 19 Angestellte. (Nielsén 2006:17).

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205 Europa liest Literatur aus Europa ist welt- bekannt und beliebt. Von einer gegenseitigen Durchdringung der literarischen Welt in Europa kann jedoch keine Rede sein. Fehlende Förder- mittel und hohe Übersetzungskosten verhindern einen umfassenden literarischen Austausch mit unseren Nachbarn. Ob die Buchreihen diverser Zeitungsverlage Abhilfe oder einen europäischen Literaturkanon schaffen können, ist fraglich. Von Albrecht Lempp

nur einigermaßen zuverlässigen – unab- hängigen und weitgehend anerkannten – Statistiken selbst zum Kernbereich des Themas Buch – Buchmarkt, Gebraucht- buchmarkt, Übersetzungen, Kultur und Markt, oder Innovation.“ Und weiter: „Paradoxerweise hat das Buch – als traditionell wichtiges histo- risches Medium – kein (institutionelles) Gedächtnis in Europa.“1 Dagegen könnte man vielleicht noch polemisieren. Aber seit die UNESCO aufgehört hat, neue und neu heraus- gegebene Titel zu zählen und seit sich n der überhitzten Netzwerkkultur 2001 der Weltverband der Verleger IPA unserer Zeit, in der wir in Echtzeit (International Publishers Association) Ioder zumindest zeitnah Zeitzeugen der Titelzählerei angenommen hat, be- von allem überall sein können, besteht kommen wir zwar, wie der Börsenverein kein Zweifel: Uns geht nicht nur die des deutschen Buchhandels vermeldet, Übersicht verloren, sondern auch das zeitnahe Daten, aber bei weitem nicht Gespür für die Linearität der Gescheh- so vollständig.2 Ein Blick in die Statis- nisse. Das traditionelle Lesen eines Ro- tiken der IPA treibt einem die Tränen mans steht dazu quer – vom Schreiben in die Augen. des Romans einmal ganz abgesehen. Und Doch es ist nicht der Mangel an sta- doch bleibt das Buch ein immens wich- tistisch gesichertem Material, der mir tiger Teil unseres Lebens, unserer Kul- eine Beschränkung auf ausgewählte tur, unserer Wirtschaft und manchmal Themen nahelegt, sondern die Vielzahl sogar unserer Politik. der Themen, die eine ausführliche Dis- Umso mehr überrascht es, dass das kussion verdient hätten, die hier aber Buch gleichwohl nur bruchstückhafte höchstens als Negativliste Erwähnung Spuren in der Statistik hinterlässt, so finden können. Die Popularität eines dass wir uns mit der Feststellung an- Dan Brown oder eines Harry Potter zum freunden müssen: „Es gibt keine auch Beispiel böte Material für eine horizon-

206 tale Darstellung in diesem Report. Die Literat ur Wirkung solch exorbitanter Erfolge auf Buchmärkten, deren statistischer Kun- de pro Jahr vielleicht 0,8 Bücher kauft, kann für die Verbreitung der nationalen Literatur ähnlich verwüstend sein, wie es der Auftritt des Kartoffelkäfers für die nächste Ernte ist. diese zumindest nicht nutzen?“, oder an- Zu den neuen Phänomenen, die lang- ders: „Gibt es eine Tendenz zum (euro- sam auch die zahlenmäßig kleineren päischen) Einheitskanon, in dem glei- Buchmärkte verändern, auf den großen chermaßen Autoren aus Europa Ost und schon unübersehbar und mitbestimmend Europa West vertreten sind, oder bleibt sind, gehören die Bücherregale voll mit der Buchmarkt eine Domäne kunter- Mangas, die von den meist jugendlichen bunter Vielfalt?“ Lesern wie selbstverständlich von hin- Eines ist klar, von Anfang an: Wer ten nach vorne gelesen werden. Der nicht glaubt, wir könnten in Übersetzung al- mehr so junge Leser reibt sich die Augen les Wichtige lesen, was unsere europä- und kann kaum den Bogen schlagen von ischen Mitbürger veröffentlichen, deren der Flut japanischer Comichefte zu Chi- Sprachen wir nicht können, ist auf dem na und Südkorea als den Ländern, die Holzweg. Was uns in Übersetzungen pro Jahr die meisten Buchlizenzen bei zur Verfügung steht, sind Bruchteile deutschen Verlagen erwerben. von Bruchstücken. Ein schneller Blick auf die unzuverlässigen Tabellen der Ti- Literatur von Staats wegen telproduktionen in einigen EU-Ländern und auf den Anteil der Übersetzungen Doch lassen wir Asien und Dan an dieser Produktion zeigt schnell, dass Brown diesmal außen vor und richten wir nicht über Masse, sondern über Ni- unser Augenmerk auf zwei hausgemach- schen reden (in die, das sei zugegeben, te Phänomene. Beide haben Anteil dar- Massenphänomene wie oben erwähnt an, in welchem Umfang die Literaturen mit der Wucht einer Lawine einschla- Europas in den Haushalten ihrer lesen- gen können): Knapp 160.000 Titel ge- den Bürger zur Verfügung stehen. Bei ben britische Verlage pro Jahr heraus beiden ist zugleich die Frage angebracht, (2004). In Deutschland, dem zweitgröß- ob Intention und Wirkung in einer ir- ten Produzenten neuer Bücher, sind es gendwie nachvollziehbaren Weise mit- etwa halb so viele: knapp 80.000 Neu- einander verquickt sind. erscheinungen bzw. fast 90.000 Buch- Die erste Frage könnte in etwa lau- titel insgesamt (2005). Im unteren Mit- ten: „Was wird von Staats wegen für telfeld liegen unter anderen Polen mit die Verbreitung der eigenen Literatur gut 20.000 (davon 12.000 Neuerschei- in Übersetzung getan?“, oder anders: nungen), Dänemark so um die 15.000 „Wie wirkt es sich auf den Markt und und Portugal mit rund 12.000. Wie ge- die Verbreitung der nationalen Litera- sagt: so ungefähr und nicht immer wird turen aus, wenn Regierungen das Buch in den Statistiken zur Titelprodukti- als Sympathieträger in der Außenwer- on unterschieden zwischen erstmals bung einsetzen?“ Erschienenem, Wiederaufgelegtem, Die zweite Frage könnte lauten: „Was Nachgedrucktem etc. Der Anteil von und wieviel des jeweils nationalen Lese- Belletristik und Jugendbuch macht in schatzes steht den übrigen Lesern in der allen Fällen einen hohen Anteil dieser Europäischen Union zur Verfügung, die Titel aus, im Schnitt zwischen 10 und keine Fremdsprachen beherrschen oder 20 Prozent.

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Diesen im Einzelfall durchaus impo- EU mit Muttersprachlern zahlenmäßig nierenden Größen die Zahl der Überset- am stärksten vertretene Deutsch, dann zungen gegenüberzustellen, ist nicht nur Spanisch, Französisch und Italienisch, erhellend, sondern auch ernüchternd: dann verlässt einen schnell der Mut, Rund 50 Prozent aller Übersetzungen in mit Prozentzahlen arbeiten zu wollen. eine andere europäische Sprache stam- Und es tröstet dann auch nicht, darauf men aus dem Englischen bzw. Ameri- zu verweisen, dass beispielsweise Alba- kanischen. Insider sprechen sogar mit nien durch die Bücher Ismail Kadares, ziemlich überzeugendem Material von die relativ häufig übersetzt werden, ers- bis zu 70 Prozent. Ein Blick in das pol- tens hinreichend gut vertreten ist und nische Zahlenmaterial scheint das zu be- Albanien zweitens nicht zur EU gehört stätigen: Nach den von der Nationalbib- und seine Sprache und Literatur deshalb liothek geführten Statistiken betrug die nicht mitgezählt werden muss ... Zahl der Übersetzungen aus dem Eng- Der Anteil der Übersetzungen an der lischen (Amerikanischen) 2004 stolze jeweiligen Buchproduktion ist im üb- 3.180 Titel, was knapp 60 Prozent der rigen sehr unterschiedlich und, wenig Übersetzungen insgesamt ausmachte. überraschend, auf den vergleichsweise Fast die Hälfte davon waren belletris- kleinen Märkten wie dem holländischen tische Titel (1.602). Übersetzungen aus oder ungarischen relativ hoch (20 bis 60 dem Deutschen bildeten mit 577 Titeln Prozent), auf den großen dagegen eher die zweitstärkste Gruppe (11 Prozent), niedrig (Großbritannien unter 2 Prozent). von der rund ein Viertel zur Belletristik Vor allem Deutschland, aber auch Spani- zu rechnen ist (116 Titel). en, nehmen mit ihrer großen Buchpro- Der Rest verteilt sich auf die übrigen duktion und einem dafür überraschend Sprachen. Das sind allerdings nicht nur hohen Anteil an Übersetzungen (2003 in 15 oder 20 (und auch nicht die offiziellen Deutschland über 12 Prozent, derzeit um 21 Sprachen, die mit Gälisch inklusive die 7 Prozent) eine gewisse Sonderstel- ab 2007 die Gruppe der Amtssprachen lung ein, die sie für Autoren und Überset- in der EU ausmachen), sondern zumin- zer aus funktional sekundären Sprachen dest theoretisch gut und gerne fast 100. attraktiv machen. Natürlich können wir Manx, Gagausisch Es ist nur allzu offenbar: Wir sind weit oder Asturisch beim Literaturvergleich entfernt von einer echten Durchdringung weglassen und selbst die Zahl der Über- der literarischen Welten, davon, dass al- setzungen ins Rätoromanische, Katala- nische oder Obersorbische muss nicht Wir sind weit entfernt von einer zum Maß der Dinge in der europäischen Übersetzerpraxis erhoben werden, doch echten Durchdringung der lite- selbst dann sind es mehr als 30 Sprachen, rarischen Welten, davon, dass auf die sich die restlichen 30 bis 40 Pro- allen EU-Lesern der Zugang zent der Übersetzungen verteilen. Ak- zur Gedankenwelt der Kultur- zeptiert man, dass sich unter diesen ver- bleibenden 30 Prozent die „Starken“ der schaffenden Europas gleicher- Zweiten Liga befinden, also das in der maßen offen steht.

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len EU-Lesern der Zugang zur Gedan- ein einziges Wort aus sechs Buchstaben kenwelt der Kulturschaffenden Europas hätte übersetzen können. Wie gut, dass gleichermaßen offen steht. es kein Vier-Buchstaben-Wort war. Vielleicht ist das weiter nicht schlimm Welche Kosten entstehen können, und die Unken haben recht, wenn sie wenn man der sprachlichen Vielfalt sagen: „Das Buch als Medium für den Europas außerhalb der schöngeistigen sprach- und grenzüberschreitenden Literatur gerecht werden will, haben Gedankenaustausch funktioniert nicht die Budapester ohne böse Hintergedan- mehr.“3 Erwähnenswert scheint es in je- ken gleich auch noch aufgeschrieben: dem Falle. Während „Kultur 2000“ im Jahre 2003 den Betrag von zwei Millionen Euro für Literaturförderung in Europa Übersetzungen an Verlage ausschüttete, kostete die Bereitstellung nicht in An- Und doch bleibt das Buch ein wich- spruch genommener Dolmetscher- und tiges Produkt im Warenkorb Auswär- Übersetzerkapazitäten in den EU-Ein- tiger Kulturpolitik und wird das Buch richtungen Rat, Kommission und Parla- von den Regierungen mal mehr, mal we- ment zusammen 10 Millionen Euro. niger als Sympathieträger im Ausland Die Kosten der Eurokratie sind ein eingesetzt. Sogar die Europäische Uni- Dauerthema und nicht deshalb führe ich on leistet dazu ihren Beitrag durch ent- diese Beispiele an, sondern weil der Kos- sprechende Förderprogramme – wenn tenfaktor Übersetzung immer wieder für auch noch zaghaft, wenn auch noch eher Unruhe auf dem Buchmarkt sorgt und symbolisch. die Verbreitung der Literaturen Europas Im Rahmen des EU-Programms „Kul- möglicherweise behindert. Erst kürzlich tur 2000“ hat die Kommission während platzte dem Münchener Autor und Verle- der sechsjährigen Laufzeit insgesamt ger Michael Krüger angesichts der For- 8.576.671 Euro für 338 Übersetzungs- derungen literarischer Übersetzer nach projekte ausgegeben. Wie eine Auswer- besserer Entlohnung der Kragen und ge- tung des Budapest Observatory zeigt, reizt rechnete er öffentlich vor, wie er haben davon 187 Verleger aus 19 EU-Län- kalkuliert. Der Deutsche Börsenverein dern profitiert. Nur Luxemburg, Malta, äußerte darauf gar die Vermutung, dass Zypern, Belgien und Portugal gingen der Rückgang im Lizenzgeschäft 2005 leer aus. Es bedarf keiner langen Aus- ursächlich mit dieser und ähnlichen Dis- führungen, um zu sehen, dass diese Auf- kussionen in Verbindung stehe.4 wendungen in der translatorischen Ge- samtbilanz so geringfügig sind, dass sie Förderungswürdige Bücher? kaum ins Gewicht fallen: Ein bisschen mehr als 4.000 Euro pro Jahr und Pro- Wenn beim Vorwurf, die Überset- jekt standen zur Verfügung. Statistisch zungskosten brächten den Verleger ins gesehen entfiel nach einer Analyse des Armenhaus, der Beitrag aus Brüssel also segensreichen Budapest Observatory in kaum zur Entlastung reicht, so kann dies den Jahren 2000 bis 2005 damit auf jeden bei den nationalen Förderprogrammen Bürger gerade mal so viel Geld, dass er durchaus der Fall sein. Im Einzelnen

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sind die Aufwendungen pro Land sehr als Geldgeber ins Bild zu treten. Die Ein- unterschiedlich. Eine bereinigte Statis- trittskosten sind gering: 500 bis 1.000 tik, die einen sinnvollen Vergleich zu- Euro reichen oft schon. Dadurch stehen lässt, liegt nicht vor. Wenn wir den Fo- häufig Zweit-, Dritt- und Viertmittel zur kus auf die neuen Mitgliedsländer und Verfügung, die dem Verleger am Ende hier vor allem auf den MOE-Raum ge- tatsächlich die gesamten Übersetzer- richtet lassen, können die von Alexand- und Lizenzgebühren abnehmen – und ra Büchler zusammengetragenen Daten manchmal noch die Druckkosten. Zwölf im Rahmen des Programms Literature Fördereinrichtungen aus zehn Ländern, Across Frontiers am Mercator Centre der denen im Impressum einer 300 Seiten University of Wales hilfreich sein. starken Anthologie gedankt wird, sind Danach stellt Polen derzeit mit Ab- zwar nicht die Regel, können aber vor- stand die meisten Mittel bereit – 2005 kommen. waren es 273.890 Euro – während die Insgesamt lässt sich seit Ende der 90er baltischen Staaten mit Summen in den Jahre eine deutliche Professionalisie- Größenordnungen von jeweils 20.000 rung der Einrichtungen und Programme bis 30.000 Euro arbeiten. In Ungarn hat- feststellen, die der Förderung des Buchs te die zuständige Stiftung beim Kultur- und seiner Übersetzung dienen – gera- ministerium 2003 noch 120.000 Euro de auch bei den neuen Mitgliedstaaten zur Verfügung, 2005 waren es nur noch in der östlichen EU. Von nicht zu un- knapp über 80.000 Euro.5 terschätzender Bedeutung beim Auf- Bezogen auf die Buchproduktion (ohne oder Ausbau dieser Programme war Übersetzungen aus einer Fremdsprache) dabei der Anreiz, den der Börsenverein liegt also der Förderanteil statistisch bei des deutschen Buchhandels durch sein fünf bis 18 Euro pro Titel. Bei einem an- Gastlandprogramm auf der Frankfurter zunehmenden Förderbedarf von 1.000 Buchmesse bietet: Die Übersetzerfonds Euro bis 10.000 Euro für Übersetzerho- Litauens, Polens oder Ungarns sind alle norare und/oder Lizenzkosten pro Buch im Zusammenhang mit einem solchen ist das zuerst einmal noch keine glückli- Gastlandauftritt eingerichtet worden che Situation. Wenn man sich jedoch um- und haben sich in gegenseitigem Ab- gekehrt vor Augen hält, dass bei Überset- gleich, in gegenseitiger Konkurrenz und zungen zwischen kleinen Märkten zwei durch gemeinsame Auftritte auf interna- neue Buchtitel schon eine Steigerung um tionalen Buchmessen entwickelt. Wie 50 Prozent der jährlichen Übersetzungen direkt der Zusammenhang ist, belegte aus einer Sprache ausmachen können, im Juni 2006 die Türkei, als im Kontext dann erscheint eine sinnvolle Förderung ihrer Einladung als Gastland für 2008 in solchen Größenordnungen durchaus bekannt gegeben wurde, das türkische realistisch. Kulturministerium plane, seinen Über- Hinzu kommt, dass es beim Kultur- setzungsfonds zu intensivieren. produkt Buch der Auswärtigen Kultur- Neben der reinen Übersetzungsför- politik auch für die Kulturinstitute der derung kümmern sich die nationalen einzelnen Länder im Ausland reizvoll Buch- oder Literaturzentren in der Re- sein kann, als Mitwirkender und damit gel auch um andere Aspekte der Buch-,

210 Literatur- und Leseförderung bzw. der Literat ur Dokumentation. Dadurch werden sie zu einer wichtigen, wenn nicht gar zur ersten Anlaufstelle und Informations- quelle für ausländische Journalisten, Verleger und Veranstalter literarischer Programme. Nicht selten hinkt der Anspruch hin- einzuschwören, bleibt das Wissen um ter der Realität zurück, wird der Auf- die eigene Beschränkung. Sehen wir es wand der Dateneingabe und -pflege sportlich: Finanziert wird der Einzug unterschätzt. Nicht alle Websites und der Olympioniken ins Stadion. Ob es Me- Datenbanken sind durchgehend auch daillen gibt und die Leistungen in Er- in einer Fremdsprache (meist Englisch) innerung bleiben, ist eine ganz andere verfügbar, nur die polnische und die est- Sache. Anders ausgedrückt: Die einge- nische Datenbank lassen eine Volltext- forderte Teilnahme am sogenannten eu- suche nach den verfügbaren Überset- ropäischen Diskurs intellektueller oder zungen heimischer Werke zu, berichtet literarischer Eliten ist durch die Bereit- Alexandra Büchler.6 stellung einer Übersetzung noch nicht Selbstverständlich sind diese Dienst- garantiert. leistungen keine Spezialität der MOE- Staaten, doch konnte man hier in den Bücher aus der Zeitung letzten zehn Jahren besonders ein- drucksvoll beobachten, wie der Autor Die 1975 auf der KSZE-Tagung in und sein Werk in den Dienst und die Helsinki in Korb 3 gemachten Aussa- Obhut der Auswärtigen Kulturpolitik gen zur kulturellen Vielfalt in Europa gestellt bzw. genommen wurden, wie wurden oft als Argumentationshilfe für konsequent darauf hingearbeitet wird, die Forderung genutzt, wichtige Bücher den „Standortnachteil“ der eigenen Lite- jeweils gewissermaßen gekreuzt in alle ratur auf fremdsprachigen Märkten von großen und kleinen Sprachen Europas Staats wegen auszugleichen. zu übersetzen. Immer wieder taucht in Die Vorarbeit haben die alten und den Debatten zur kulturellen Vielfalt älteren EU-Mitglieder geleistet. Bei ei- Europas auch die Idee des nationalen ner Analyse der nationalen Förderpro- Kanons auf, der – edel übersetzt und edel gramme und -einrichtungen fällt auf, gebunden – allen Bürgern Europas das dass sich so etwas wie eine Norm durch- geistige Gut seiner vielen Nachbarn er- gesetzt hat, die historisch gesehen wohl schließen soll. stark von den skandinavischen Pro- Während einige dieser Vorhaben im grammen beeinflusst wurde, insbeson- Keller der Auftraggeber endeten und so dere vom norwegischen NORLA.7 Doch mancher Groschen in gutgemeinte Pre- bei aller Begeisterung darüber, dass es stigeprojekte versenkt wurde, die weit gelungen ist, die Buch- und Literatur- am Markt vorbei gedacht waren, genügt zentren auf das skandinavische Modell ein Blick in die Buchhandlungen oder der Übersetzungs- und Buchförderung virtuellen Verlagskataloge um zu se- hen, wie der Markt selbst den Auftrag aus Korb 3 interpretiert und gewinnbrin- Dabei geht es nicht um den gend umgesetzt hat. europäischen Diskurs über Der Schlüssel zur massenhaften Ver- breitung des Buchs auch in Übersetzung Ideenwelten. schien gefunden, als die italienische Zei- Es überwiegt Bebildertes. tung La Repubblica 2002 begann, der

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Zeitung im Huckepackverfahren ein turwissenschaftliche Autoritätsperson Buch beizugeben. Keine staatlichen hinter der Auswahl steht. Förderprogramme, sondern die schiere Und trotzdem oder gerade weil diese Masse macht die Bücher billig und legt Reihen gewissermaßen anonym und da- sie dem Zeitungsleser gleich in die Hand. bei doch mit viel Sorgfalt und auch mit Zwanzig Millionen Bücher wurden so Blick auf den lokalen Markt zusammen- unter dem Reihentitel „Bibliothek des gestellt werden, ist es interessant zu seh- 20. Jahrhunderts“ verkauft, 112 Millio- en, worin und inwieweit sie sich in den nen Euro Einkünfte erzielt. jeweiligen Ländern gleichen oder un- Natürlich geht es dabei nicht um den terscheiden. Erscheint Graham Greene europäischen Diskurs über Ideenwelten. in der Auswahl Estlands genauso wie in Es überwiegt Bebildertes: Enzyklopä- der Portugals oder Irlands? Ist „Catch- dien, Führer durch virtuelle oder echte 22“ ein Titel, den (fast) alle lesen? Sind Bildergalerien, die Tierwelt, der Nacht- es vor allem Nobelpreisträger? Haben himmel, es geht um Lehrreiches, Far- schwergewichtige, aber schwierige Bü- biges und Kunstsinniges, um Krimis und cher wie „Ulysses“ beim Zeitungspubli- Abenteuerromane. Aber eben auch um kum eine Chance? gute Literatur und Jugendbücher. Meine Neugier galt zuerst ganz pri- Die Idee hat Schule gemacht. Es ist, als vat dem Vergleich der ersten derartigen hätten sich die Studienräte dieser Welt Reihen der Münchener Süddeutschen daran gemacht, das Minimum unseres Zeitung SZ und der Warschauer Gazeta Lesepensums abzustecken und es uns via Wyborcza, denn es war mir aufgefallen, Morgenzeitung einzuflößen. In ganz Eu- dass von den 40 Titeln der polnischen ropa. Allerdings (noch) mit unterschied- Serie und den 50 der deutschsprachigen lichem Erfolg: Während in Frankreich nur drei Titel in beiden Reihen identisch die Zahl der Serien, die so entstanden, weiterhin klein ist, boomt der Markt mit Buchbeilagen in Polen, und auch Portu- gal und Belgien sind mit Erfolg dabei. Meist gibt es eine Serie, die Während sich die Briten zwar mit DVDs sich Klassiker des 19. Jahrhun- und anderen Beigaben beim Zeitungskauf eindecken können, konkurrieren in Spa- derts oder 20. Jahrhunderts nien oder Deutschland mehrere Buchrei- nennt und in der die wichtigs- hen gleichzeitig miteinander. ten Prosawerke aus aller Welt Neben viel Enzyklopädischem und vorgestellt werden. Die inoffizi- Historischem gibt es meist eine Serie, die sich Klassiker des 19. Jahrhunderts oder elle Spielart eines literarischen Klassiker des 20. Jahrhunderts nennt Kanons. Wobei kein solcher und in der die wichtigsten Prosawerke Anspruch formuliert wird und aus aller Welt vorgestellt werden. Die keine literaturwissenschaftliche inoffizielle Spielart eines literarischen Kanons. Wobei kein solcher Anspruch Autoritätsperson hinter der formuliert wird und auch keine litera- Auswahl steht.

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waren: „Der Name der Rose“ von Um- fünf Euro erbost), die mit einer bewusst berto Eco, „Tortilla Flat“ von John Stein- getroffenen Auswahl nichts zu tun ha- beck und „Eine Liebe Swanns“ von Mar- ben. Und trotzdem: Interessant ist doch, cel Proust. Es mag naiv erscheinen, aber wenn Vladimir Nabokov (mit „Lolita“ ich hatte mit einem viel höheren Anteil natürlich) und George Orwell mit „1984“ „deckungsgleicher“ Titel gerechnet. es in die polnische Liste geschafft haben, Beim weiteren Vergleich zeigte sich, in die deutsche aber nicht. dass zusätzlich acht Autoren in beiden Wenn man sich ein wenig umschaut, Reihen vertreten waren, jedoch jeweils findet man Orwell auch in der Slowakei, mit unterschiedlichen Titeln: Günter Italien und Spanien – allerdings mit Grass hat in der SZ-Reihe seinen Platz „Mein Katalonien“ in der Zeitung El mit „Katz und Maus“ gefunden, wäh- País, mit „Farm der Tiere“ in der itali- rend die polnischen Leser sich an der enischen Repubblica. Der gesellschaft- „Blechtrommel“ erfreuen können. Von liche Gegenentwurf in Gestalt des Ro- Herman Hesse liest der deutsche Le- mans „Schöne neue Welt“ von Aldous ser „Unterm Rad“, der polnische den Huxley wiederum taucht nur in der „Steppenwolf“, bei Franz Kafka ist es Reihe von El País auf. In allen hier ver- „Amerika“ auf deutsch, „Der Prozeß“ glichenen Reihen ist Joseph Conrad da- auf polnisch, bei Graham Greene „Der bei, allerdings mit sehr unterschied- dritte Mann“ deutsch, „Das Herz aller lichen Titeln; häufig auch Heinrich Dinge“ polnisch, Milan Kundera er- Böll (ebenfalls mit wechselnden Titeln). scheint mit „Die unerträgliche Leich- Michail Bulgakows „Meister und Mar- tigkeit des Seins“ in der deutschen Rei- garita“ ist beliebt (Polen, Spanien, Ita- he, mit „Der Scherz“ in der polnischen, lien, Slowakei) genauso wie die durchs Joseph Conrad mit „Herz der Finsternis“ Kino berühmt gewordenen Bücher „Der deutsch, „Der Geheimagent“ polnisch große Gatsby“ von Scott Fitzgerald und und schließlich Julio Cortázar mit „Der „Der englische Patient“ des Kanadiers Verfolger“ auf deutsch und „Rayuela. Michael Ondaatje. Himmel und Hölle“ auf polnisch. Dort, wo derartige Reihen Erfolg ha- Klar, dass die polnische Liste mehr ben, werden schnell neue Titel in im- polnische Schriftsteller enthält als die mer neuen Kombinationen nachgescho- deutsche (Gombrowicz, Iwaszkiewicz, ben, zu einer Häufung von auswärtigen Kapu´sci´nski, Konwicki, Lem, Miłosz). Neuentdeckungen hat das noch nicht Der einzige Pole in der deutschen Liste geführt, eher schon pflegt man die „si- dagegen heißt Andrzej Szczypiorski und cheren“ Klassiker: Die ungarische Ta- fehlt in Polen. geszeitung Népszabadság hat es mit der Natürlich lässt sich so eine Liste nach Klassik des 19. Jahrhunderts versucht. vielen Richtungen hin vergleichen und Doch mal abgesehen von Dostojew- immer ist einem bewusst, dass hier auch ski, Turgenew, Sienkiewicz, Tolstoj Dinge am Werk sind (etwa die Verfüg- und Tschechow überwiegt Westliches. barkeit der Abdruckrechte, denn natür- Auch Tolstoj und Dostojewski in einer lich sind die Buchverlage über diese „Bil- Auswahl von 50 Romanen ins Katalo- ligangebote“ zum Preis von meist vier bis nische belegen nur, was jeder weiß, dass

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es ein paar russische Autoren gibt, die ein überzeugendes Verhältnis von Preis zur Weltliteratur des 19. Jahrhunderts und Qualität. gehören. Doch danach ist Schluss: Kein Probieren könnte trotzdem nichts Autor des 20. Jahrhunderts aus „Ost“ schaden. Aber vielleicht bürden wir dem befindet sich in der originären Kanon- Buch, der Literatur einfach zuviel auf, Reihe Italiens, in Spanien gibt es Bul- wenn wir sie auf dem Weg nach Euro- gakows „Meister und Margarita“ – der pa zu unserem Packesel für kulturelle Standardklassiker; Nabokov ebenfalls, Vielfalt und interkulturellen Diskurs manchmal Solschenizyn. machen. Noch deutet aber nichts darauf hin, Egal ob staatlich befördert oder kom- dass sich der „Literaturkanon West“ merziell zu Reihen geordnet. Vielleicht um Autoren des 20. Jahrhunderts aus wäre es gut, sich statt der Buchproduk- den neuen Mitgliedsländern zu einem tion einmal die Lesegewohnheiten anzu- „west-östlichen Literaturkanon“ erwei- schauen. Im nächsten Europa-Report. tern würde. Fast beruhigend klingt da eine Leserzuschrift von Herrn Mahr aus Albrecht Lempp ist seit 2003 Vorstands- der Schweiz, der im Spiegel schreibt: „In mitglied und geschäftsführender Direktor der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusam- der Berliner Buchhändlerschule 1953 menarbeit. Er ist Doktor der Geisteswis- bis 1956 verglichen wir eine Weltlitera- senschaften, Slawist, Kulturmanager und turgeschichte von 1928 mit den Titeln übersetzt polnische Literatur ins Deutsche. von 1955. Die Literaturgeschichte von Mitglied des Rates der Kulturstiftung Haus Eduard Engel hatte den treffenden Titel Europa und des Vereins Villa Decius. Tätig- keit am Deutschen Polen-Institut in Darm- ‚Was bleibt? Die Weltliteratur.‘ Es blie- stadt und am Adam-Mickiewicz-Institut als ben in den 27 Jahren keine fünf Prozent. dessen stellvertretender Direktor, Begrün- Wo über die Jahre so viel variabel ist, der der Arbeitsgruppe Literatur „Pols- bleibt Ignoranz tolerabel.“8 ka2000”. Und ob der Ruf nach Buchreihen ei- nen Wert hat, die eine bessere Durchmi- schung zeigen, die dazu beitragen, dass sich neue „Kanons“ herausbilden und dem literarischen Bewusstsein des euro- päischen Lesers einen weiteren Horizont verschaffen, darf vorsichtig bezweifelt werden. Die zuständigen Marktstrate- 1 Wischenbart, Rüdiger: „Das Spielfeld ist zerrissen: Der globalisierte gen sagen unverblümt, dass es hier zu- Buchmarkt.” Artikel vom 09.05.2006 in perlentaucher.de. 2 Buch und Buchhandel in Zahlen 2005. Hrsg. vom Börsenverein des deut- erst einmal nicht ums Lesen geht: „Der schen Buchhandels. Frankfurt/Main 2005, S. 72. 3 Wischenbart, wie Anm. 1. Reiz, zehn bis 35 Bücher zu einem be- 4 F.A.Z. vom 11.1.2006, S. 31 bzw. Buch und Buchhandel in Zahlen 2006, S. 69. stimmten Thema zu sammeln, hängt 5 Vorgestellt auf einer Tagung von Next Page Foundation und Kulturkontakt nicht davon ab, ob der Käufer diese le- Austria zum Thema „Promoting translations – ideas, practices, innovations” am 23./24. Juni 2006 in Wien. 9 sen will oder nicht.“ Was eine erfolg- 6 „Promoting translations ...”, wie Anm. 7. 7 Norwegische Literatur im Ausland, Belletristik & Fachliteratur. reiche Reihe ausmacht, sind vielmehr 8 Leserzuschrift in Spiegel 43/2006 auf einen Artikel zum Buchmarkt aus eine gutgemachte Werbung, ein funk- Spiegel 41/2006. 9 Selbstdarstellung der Paperview Group aus Belgien auf ihrer Homepage tionierender Vertrieb, das Konzept und www.paperviewgroup.com.

214 Ein (Literatur-)Haus für Europa Literaturhäuser sind das Modell der Literaturver- mittlung der Zukunft. In Deutschland hat man erkannt, dass nicht nur Kulturinteressierte, sondern auch alle Bereiche der Kommunen von den Häusern profitieren und dass es gilt, das Potenzial für ein länderübergreifendes Netzwerk auszuschöpfen. Von Florian Höllerer

das Nadbałtyckie Centrum Kultury (Bal- tisches Kulturzentrum) in Danzig und nicht staatliche Häuser wie das Pogra- nicze (Grenzland) in Sejny, die als Stif- tungen organisiert sind. Wie traditionell in allen osteuropäischen Ländern sind überdies auch die Häuser der Schriftstel- lerverbände bedeutende Veranstaltungs- zentren. Quer durch Europa ließe sich so lange fortfahren, mit Häusern unter- schiedlichster Art wie der Villa Gillet in Lyon, der Maison de la Poésie in Paris, der Casa delle letterature in Rom, Brüssels Internationalem Literaturhaus, das 2004 iteraturhäuser haben in den ver- unter dem Namen Passa Porta gegründet gangenen zwanzig Jahren in wurde, der Amsterdamer SLAA, die sich LDeutschland, Österreich und der mit dem Kulturzentrum De Balie zusam- deutschsprachigen Schweiz einen wahren mengetan hat, dem ersten dänischen Li- Gründungsboom erlebt. Ausgehend von teraturhaus, das 2005 nach dem Vorbild Berlin wurden nicht nur alle Großstädte der deutschsprachigen Literaturhäuser in vom Literaturhausfieber gepackt, sondern Kopenhagen entstand, oder dem in nächs- von Jahr zu Jahr auch immer mehr mittel- ter Zukunft zu eröffnenden Literaturhaus große Städte wie Kiel, Darmstadt, Magde- in Oslo. burg, Wiesbaden, Rostock oder Nürnberg. Alle diese Häuser fügen sich in ganz Ja, man kann sagen, dass Literaturhäuser eigene Traditionen kultureller, wirt- ein selbstverständliches Element der ur- schaftlicher, gesellschaftlicher Art: Zum banen Kulturlandschaft geworden sind Beispiel wird die französische Buch- und – so wie Theater, Museen, Konzerthäuser Lesungslandschaft stark von den unab- oder Kinos. hängigen und schon immer einfluss- Unabhängig davon existieren überall reichen Buchhändlern geprägt. Eine in Europa Häuser der Literatur. Blickt Situation, die sich in Italien, wo unter man zum Beispiel nach Polen, so finden anderem auch Zeitungskioske verstärkt sich große kommunale Einrichtungen wie am Buchmarkt teilhaben, anders darstellt.

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Hier ist es vor allem das erfolgreiche Li- Voraussetzung ist ein intakter Span- teraturfestival in Mantova, das Maßstä- nungsbogen zwischen Programmbereich be setzt. Unterschiede über Unterschiede und Gastronomie, das Gefühl, dass das Li- auch, was die traditionellen Formate von teraturhaus bereits mit Betreten des Loka- Literaturveranstaltungen angeht: Zuzu- les (und der Buchhandlung) beginnt; und hören, wie ein Autor eine gute Stunde lang nicht erst im Veranstaltungssaal. Genau aus einem Buch liest, ist im deutschspra- dies aber ist die Achillesferse des ganzen chigen Raum – von Stadtbüchereien, über Konzepts: Viele Häuser hatten in ihrer Buchhandlungen zu Szenecafés – eine völ- Geschichte erheblich damit zu kämpfen, lig normale Veranstaltungsform; für ein Gastronomiebetreiber zu finden, die Cha- spanisches, französisches oder portugie- rakterstärke und Sensibilität für die Li- sisches Publikum dagegen mehr Ausnah- teraturhausidee mit Wirtschaftlichkeit in me denn Regel. Einklang zu bringen wussten. Funktio- Schon die Ahnung zahlreicher Eigen- niert indes dieses heikle Gefüge, so kön- arten bewahrt davor, vom Bekannten nen Literaturhäuser auch in stadtplane- ohne Weiteres auf das Fremde zu schlie- rischen Überlegungen eine wichtige Rolle ßen, etwa ein deutsches Literaturhaus spielen und dazu beitragen, alte, brach- eins zu eins auf eine englische oder un- liegende oder neue, zu Sterilität neigende garische Umgebung übertragen zu wol- Stadtteile zu prägen und zu beleben. len. Allerdings kann gerade das Andere, Die Verankerung der Literaturhäuser das Nichtübertragbare, jenen zündenden im städtischen Leben hängt zu einem Funken schlagen, der der eigenen Ent- großen Teil auch mit den Gründungsge- wicklung eine unerwartete und neue schichten und Organisationsformen zu- Wendung gibt. In diesem Sinne sei aus- sammen. Literaturhäuser sind als Ver- gehend von der Literaturhäuserrevolution ein, seltener als Stiftung aufgestellt und im deutschsprachigen Raum von einigen agieren als solche unabhängig. Zumeist Eigenarten und Perspektiven berichtet, haben sie mehrere hundert, wenn nicht aufgegliedert in drei Punkte: tausend Mitglieder und werden flankiert von unterstützenden Freundeskreisen. Bürger in Bewegung

Gelegen in repräsentativen Gebäuden der Innenstadt bilden Literaturhäuser zu- Gelingt es, die Literaturhaus- meist ein Ensemble aus Veranstaltungs- idee wirtschaftlich zu gestal- und Ausstellungsräumen, einem Restau- ten, können die Häuser auch rant und Café sowie einer Buchhandlung. In diesem Zusammenspiel haben sie sich in stadtplanerischen Über- zu wichtigen urbanen Treffpunkten ent- legungen eine wichtige Rol- wickelt, zu Orten des Stadtgesprächs, le spielen und dazu beitragen, in denen verschiedene gesellschaftliche alte, brachliegende oder neue, Gruppen sich austauschen und bürger- schaftliche Initiativen und Kooperations- zu Sterilität neigende Stadtteile ideen ihren Ausgang nehmen. zu prägen und zu beleben.

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Zwar wurde ihre Gründung – die Bereit- viertens die Einnahmen aus Eintritts- stellung der Immobilie im Besonderen geldern. Nehmen wir das Literaturhaus – fast immer von der öffentlichen Hand, Stuttgart als Beispiel, so machen all diese das heißt den Städten, manchmal auch Einnahmen zusammen gut zwei Drittel den Ländern, unterstützt. Die Initiative des Gesamtetats aus. Der Restbetrag wird allerdings lag mehrheitlich im privaten aus öffentlichen Quellen abgedeckt, vor Bereich: Kulturschaffende, Verleger, li- allem durch den festen städtischen Jah- teraturinteressierte Bürger waren es, die, reszuschuss und Projektmittel des Bun- unterstützt von juristisch und wirtschaft- deslandes. Auch wenn das Verhältnis lich beratenden sowie politisch einfluss- zwischen öffentlicher und privater Finan- reichen Stadtpersönlichkeiten, den Pro- zierung von Stadt zu Stadt stark variieren zess zur Hausgründung in Gang brachten. kann, gehört diese Art Mischkalkulation Benefizprogramme, die von namhaften zu den Grundprinzipien des Literatur- Schriftstellern und sympathisierenden hauskonzepts. Die materielle Verantwor- Kultureinrichtungen anderer Sparten tung ist breit in die Gesellschaft verteilt. mitgetragen wurden, entwickelten sich in vielen Fällen zu erfindungsreichen Programm mit Langzeitwirkung Fundraising-Kampagnen. Beflügelt durch ein wachsendes Medieninteresse sowie In den letzten zehn Jahren ging der durch Anschubfinanzierungen von Stif- Trend in der Kulturpolitik dahin, die tungen und Unternehmen entstanden Grundfinanzierung von Kultureinrich- schließlich Bürgerbewegungen mit ge- tungen zurückzufahren zugunsten von sellschaftlichem Gewicht, die sich die Projektförderung und der Finanzierung Literaturhaussache finanziell und ideell einmaliger Großereignisse. Der daraus so zu eigen machten, dass sie den Häusern resultierende Vorteil: mehr Flexibilität, auch nach ihrer erfolgreichen Gründung mehr Handlungsspielräume. Gewohn- treu blieben. heitsrechte werden aufgebrochen, durch Der Besitz des Hauses, beziehungswei- Dauerförderungen blockierte Haushalte se seine mietfreie oder -pflichtige Nut- dynamisiert. Gerade im Bereich der Li- zung, stellt eine zentrale Säule für die Fi- teratur hat diese Tendenz indes auch nanzierung des laufenden Betriebs dar. gewichtige Nachteile. Gefährdet ist die Die Einnahmen aus der Verpachtung des Nachhaltigkeit und die Kontinuität der Restaurants sowie der Buchhandlung flie- Arbeit. Neues nicht nur anstoßen, son- ßen zumeist direkt in das Hausbudget. Au- dern auch fortentwickeln, Themen und ßerdem werden die Veranstaltungsräume Debatten über längere Zeit aus wechseln- auch an externe Veranstalter, kulturelle den Blickwinkeln betrachten, mit Auto- (Vereine, Stiftungen, Lesekreise...) und ren im Gespräch bleiben und ihre Ent- nichtkulturelle (Fachkongresse, Hoch- wicklung über Jahre verfolgen: Werte, zeiten...) vermietet. Die zweite wichtige auf die sich langfristiges Vertrauen und Säule sind Stiftungszuschüsse, Spenden Treue des Publikums gründen. Literatur und Sponsoring. Drittens schlagen die auf Schiffen, in Flughäfen, zoologischen Jahresbeiträge der Vereinsmitglieder so- und botanischen Gärten oder Einkaufs- wie die des Freundeskreises zu Buche, passagen kann ein belebendes Element

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sein, in Überdosis aber auch ermüdend ben, die dem Kino- oder Theaterbesuch und kontraproduktiv. nicht nachstehen. Und auf das Publikum Was nachhaltige Langzeitwirkung zuzugehen, heißt gerade nicht, gefällig zu angeht, haben die Literaturhäuser beste werden, der Literatur ihre anarchischen Voraussetzungen: Wie Theater, Opern, Widerhaken zu glätten. „Anspruchsvoll“ Konzerthäuser oder Museen vertrauen ist nicht das Gegenteil von „populär’“ – sie auf das Intendantenprinzip, bemühen Nachhaltige Gunst des Publikums wird sich also um ein persönliches, experimen- es ohne nachhaltige Forderung des Pu- tierfreudiges Profil, das der Schwerfäl- blikums nicht geben. ligkeit und Halbherzigkeit von Gremien- Auch tagsüber zeigen Literaturhäuser entscheidungen entgeht. Grundsätzlich Präsenz und beschreiten vor allem zwei besteht der Anspruch, nicht nur passiv auf Wege: Ausstellungen und Schreibwerk- die von Verlagen vorbereiteten Leserei- stätten. Bei ersteren reicht die Spannbreite sen zu reagieren, sondern Programme von der Comicpräsentation im Veranstal- selbst zu gestalten, eigenwillig und risi- tungssaal bis hin zu groß angelegten und kobereit: zum Beispiel durch Themen- extern kuratierten Wanderausstellungen, monate, Aufträge zu Originalbeiträgen, mit Themen wie „Hannah Arendt“ oder ungewöhnliche Podiumskonstellationen „Die Kinder der Manns“, die in separa- oder ausschweifende Veranstaltungsrei- ten Galerieräumen zu sehen sind, von Be- hen, die einem Autor, einer Gattung oder gleitprogrammen flankiert werden und einem Thema über Monate treu bleiben. auch überregional auf Resonanz stoßen. Dreh- und Angelpunkt des Programm- Attraktiv sind sie auch für Schulklassen repertoires bleibt in allen Häusern die und ziehen so schon heute die Besucher klassische Lesung mit anschließendem von morgen ins Haus. Das gilt auch für Gespräch, moderiert von stadtbekannten die Schreibwerkstätten, die sich in den Kritikern oder Schriftstellerkollegen. Das meisten Häusern an Jugendliche, in ei- reicht von der Präsentation eines jungen nigen auch an Erwachsene richten. Hier ortsansässigen Kriminalautors über eine sind in den letzten Jahren große, oft stif- ukrainische Lyriknacht bis zu Auftritten tungsfinanzierte Projekte entstanden, die von Publikumsmagneten wie Imre Ker- mit Schulen kooperieren, Publikationen tész, Jonathan Franzen, Michel Houelle- entstehen lassen, übernationale Kontakte becq oder Orhan Pamuk, für die die Häu- suchen und dabei Autoren der Stadt über ser (mit ihren etwa zweihundert Plätzen) längere Zeiträume als Dozenten in die Ar- dann in fünf mal so große Theater oder beit des Hauses einbinden. Konzerthäuser umziehen müssen. Vorbei sind die Zeiten, in denen man Auf Bindungssuche zu Literaturveranstaltungen mehr aus Edelmut oder Pflichtgefühl ging, selbst- Das wichtigste Wort in der Literatur- verständlich ohne Eintritt zu bezahlen. hausarbeit lautet Kooperation. Die al- Das Publikum hat über lange Prozesse lerwenigsten Abende finden ohne Ver- – vor allem der Mundpropaganda – die anstaltungspartner statt. Das kann ein Sicherheit gewonnen, im Literaturhaus ausländisches Kulturinstitut sein, ein strahlende und unikale Abende zu erle- Verlag, ein Universitätsinstitut oder eine

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Stiftung, aber auch Rundfunksender, die punkt der Stadt besonders entgegen. Gesprächsreihen aus den Häusern über- Auch über den Mikrokosmos der ein- tragen, Zeitungen, die gemeinsam mit zelnen Stadt hinaus ist die Suche nach den Häusern Essays in Auftrag geben, Synergien groß. Chemisch gesprochen ein großes Museum, das Schriftsteller ihr sind Literaturhäuser Moleküle mit freien, Lieblingsbild erklären lässt, ein Theater, ungesättigten Bindungen. Durch die ste- das eine Lesung von Michael Frayn mit- tige Aufnahme von Impulsen aus anderen veranstaltet, während im eigenen Haus Städten und Ländern spielen sie als Initi- sein Stück „Kopenhagen“ auf dem Pro- atoren und Ideengeber im Stadtgespräch gramm steht, ein Opernhaus, das sich eine belebende Rolle. Häuser wie in Berlin anlässlich der Uraufführung von Bruno das Literarische Colloquium, das auch ein Madernas „Hyperion-Projekt“ an einem Stipendiatenprogramm unterhält, oder Hölderlin-Abend beteiligt, Anwaltskanz- die Literaturwerkstatt, pflegen über lan- leien, die eine Podiumsdiskussion zum ge Jahre Beziehungen zu ausländischen, Verbot von Maxim Billers Roman „Esra“ speziell europäischen, Einrichtungen und unterstützen, ein Filmbüro als Partner verfügen so über einen fruchtbaren Er- eines Poetry-Film-Festivals und so fort, fahrungsschatz. und so fort. Intensive Kooperationserfahrungen Das bedeutet nicht, dass Literaturhäu- haben auch jene acht großen deutschspra- ser zu Gemischtwarenläden werden, die chigen Literaturhäuser – Berlin, Ham- in ständiger Überschreitung der eigenen burg, Frankfurt, Salzburg, München, Kompetenz alles und nichts veranstalten. Köln, Stuttgart und Leipzig –, die sich Gerade ein hochkarätiger Kooperati- unter dem Namen „literaturhaeuser.net“ onspartner erlaubt es den Häusern, sich zu einem Verbund zusammengeschlossen auf das eigene Kernprofil zu konzentrie- haben. In München wurde eine paritä- ren, auch wenn der einzelne Abend die tisch finanzierte Geschäftsstelle einge- Grenzen der Literatur hin zur Musik, zur richtet, die die gemeinsamen Aktivitäten Architektur, zur Religion, zur Bildung der Häuser koordiniert und die Internet- oder zur Politik überschreitet. Dass sich seite „www.literaturhaeuser.net“ betreut. durch die beidseitige Bewerbung eines ge- Die erste gemeinsame Aktion aller Häu- meinsamen Abends die Zuschauerkreise ser, „Poesie in die Stadt!“, die sich nun zweier Einrichtungen und zweier Inter- jeden Sommer mit wechselnder Thematik essengebiete begegnen und ihre Kräfte und wechselndem Geldgeber wiederholt, bündeln, kommt dem Selbstverständnis bestand darin, in ganz Deutschland mehr des Literaturhauses als geistigem Knoten- als dreitausend Großplakate mit Gegen- wartslyrik zu kleben. Über die Jahre gab es dann diverse Formen der Zusammenar- Literaturhäuser sind keine beit: Lesereisen mit wichtigen, vom gro- Gemischtwarenläden, die in ßen Publikum noch unentdeckten Auto- ständiger Überschreitung der ren (vor Jahren etwa Richard Powers oder Kiran Nagarkar) oder das Projekt „Trans- eigenen Kompetenz alles und nationale“, für das zu einem Zeitpunkt nichts veranstalten. und zu einem Thema (eben transnationale

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Literatur) in allen Häusern bewusst ver- ein Tagebuch zu schreiben. Dieses war schiedene Abende veranstaltet wurden. dann tagtäglich zweisprachig im Internet Alljährlich auf der Leipziger Buchmesse nachzulesen. Im Gegenzug kamen sieben vergibt das Netzwerk überdies den „Preis indische Autoren als Stadtschreiber in die der Literaturhäuser“, mit dem Autoren für deutschen Städte. Entstanden sind Texte, besonders gelungene Literaturveranstal- die geprägt sind von der ungeschützten tungen ausgezeichnet werden. Unmittelbarkeit des täglichen Schreibens Als Vorteil erweist sich, dass sich für einerseits und der durch die Länge des die Häuser im Zusammenschluss andere Aufenthalts bedingten Verschiebungen Möglichkeiten der Geldakquise auftun. der Sichtweise andererseits. Zwei Jahre Das betrifft vor allem die großen Stif- zuvor fand das Stadtschreiberprojekt in tungen, staatliche und private, die froh Zusammenarbeit mit sieben arabischen sind, mit einem zentralen Ansprechpart- Städten statt, Kandidat für 2008 ist die ner und einer einzigen Bewilligung in ver- Türkei. schiedenen Landesteilen lokal angebun- Insgesamt sind das nun drei gute Grün- dene Projekte zu finanzieren. So fließen de, warum dem Literaturhausmodell die über das Netzwerk immer mehr Gelder Zukunft gehört. Eines aber tritt aus allen in die Städte, die ohne das Literaturhaus Punkten klar zu Tage: Literatur ist nicht vorbeigeflossen wären; kein unwichtiges das schwache Pflänzchen, dem die Städte Argument gegenüber der kommunalen aus Artenschutzgründen Häuserreservate Politik. Auch die Öffentlichkeitsarbeit der bewilligen müssten. Im Gegenteil. Feste Häuser wird, gerade bei überregionalen Wurzeln verankern die Literatur in der Zeitungen und Funkhäusern, mit den ge- Gesellschaft und befördern deren Zusam- meinschaftlich durchgeführten Projekten menhalt nachhaltig und langfristig. Am erleichtert. Seit mehreren Jahren hat „li- meisten profitieren die Städte selbst von teraturhaeuser.net“ zudem einen Vertrag den Literaturhausgründungen. Was sie der Medienpartnerschaft mit dem Fern- investieren, erhalten sie in vielfacher Wei- sehkanal ARTE unterzeichnet. se und Menge zurück. Was die europäische und generell in- ternationale Vernetzung angeht, ist das Florian Höllerer ist seit 2000 Leiter des Lite- Potenzial indes längst noch nicht aus- raturhauses Stuttgart. Er studierte Germanis- tik und Romanistik, war zwei Jahre assistant geschöpft. Hier steht die Literaturhäu- instructor an der Princeton University; erhielt ser-Gemeinschaft vor großen Heraus- den Ehrenpreis der Lyoner Académie des Sci- forderungen. Ein Schritt in die richtige ences, Belles Lettres et Arts und hatte zuletzt Richtung ist das aufwändige Stadtschrei- eine Projektstelle am Goethe-Institut Brüssel berprojekt, das „literaturhaeuser.net“ zum Kulturstadtprogramm Bruxelles 2000 inne. nun zum zweiten Mal gemeinsam mit dem Goethe-Institut, ARTE, der Frank- furter Buchmesse und Einrichtungen des Partnerlandes durchgeführt hat: Sieben deutsche Literaturhausstädte entsandten letztes Jahr je einen Autor für einen Monat in eine indische Stadt, mit dem Auftrag,

220 Die Aussicht auf eine Mitgliedschaft ist ein vielversprechendes Mittel zum Zweck von „Open Societies“. Wenn Europa politisch geschlossen auftritt – wie beim Iran – kann es andere, auch die USA, überzeugen, ihre starre Haltung zu überdenken. Aber die EU nutzt diese Chance viel zu selten.

George Soros, Investmentbanker und Förderer einer „offenen Gesellschaft“

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Eine Bühne für europäisches Theater Euro- pa ist die Heimat des Theaters. Festivals als offene Ereignisse der Begegnung bieten eine ideale Platt- form des Kulturaustauschs: Künstler präsentieren hier verschiedene Disziplinen und wecken so das Interesse an ihrem Werk, dem Publikum steht ein außergewöhnliches kulturelles Angebot zur Verfügung, und nicht zuletzt fungieren Festivals als Motor für die regionale Wirtschaft. Von Bernard Faivre d´Arcier

wollte. Aber es stellte sich heraus, dass unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in verschiedenen Ländern und zum glei- chen Zeitpunkt Festivals entstanden. Das lyrische Festival in Aix-en-Provence ist nur ein Jahr nach Avignon entstanden, Edinburgh und Recklinghausen sind ge- nauso alt. Darum kann man von einem gleichermaßen sozialen und historischen Phänomen sprechen, das dem Zeitgeist entsprach und das in innigem Zusammen- hang mit unserer Freizeit- und Medien- gesellschaft stand und steht. Seitdem haben sich die Theaterfesti- bwohl man dem Wort Festival vals so sehr vermehrt, dass sie kaum mehr zuweilen einen alten Ursprung zählbar sind. Jüngste Statistiken bezif- Ozuweist (indem man an Bayreuth fern ihre Zahl in Westeuropa auf mehr oder Orange erinnert), ist der Begriff re- als 3.000 und klassifizieren sie nach den lativ jung. Er geht einher mit Zivilisation unterschiedlichsten Kategorien: Größe, und Freizeitaktivitäten, den Ausflügen im Datum, Sparte etc. Immer wird dabei so Sommer und der Expansion der Medien. getan, als ob es sich um ein gefundenes Im Falle etwa von Avignon, dem ältes- Fressen für den Tourismus und die lokale ten und bekanntesten der europäischen Wirtschaft handelte. Ungarn zum Beispiel Theaterfestivals, hätte sich sein Grün- hat sich bewusst tausend Kulturaktivi- der, der Schauspieler und Regisseur Jean täten zum Ziel gesetzt, die von den loka- Vilar, im Jahre 1947 niemals den Erfolg len Autoritäten freudig als „Festival“ ge- und vor allem die Ausbreitung des Fes- tauft werden. Löst sich das Festival so im tivalphänomens vorstellen können. Sei- Tourismus auf? Gibt es nicht viel zu viele nem Geist nach war das Festival nur eines Festivals? Ist das Publikum des Konzepts von verschiedenen Mitteln, um das jun- nicht schon müde geworden? Zunehmend ge Publikum zusammenzubringen und scheint man gesättigt von dem, was inzwi- ihm die ästhetischen und moralischen schen mehr eine Formel als eine Geistes- Werte nahezubringen, die es befördern haltung ist. Denn Europa stellt eine un-

224 glaubliche Anzahl von Äußerungen aller Theater Arten zur Schau! Faktisch sollte man den Begriff Festi- val für die kulturellen Ereignisse reser- vieren, die an Kreativität und internati- onaler Innovation orientiert sind. Denn die wahre Rolle eines Festivals ist es, die Künstler Projekte und Aktionen in An- hen die Anzahl der Besucher oder, um mit griff nehmen zu lassen, die sie im Rahmen Brecht zu sprechen, erweitern den „Ring der herkömmlichen Institutionen nicht der Kenner“. aufführen könnten. Man kann freilich In anderen europäischen Ländern das magische Etikett nicht nur den im- kann man sich dennoch nicht gerade über mer spärlicheren wirklich schöpferischen eine Marktsättigung beklagen. Ganz Ost- Festivals verleihen. Man muss auch an- europa wendet seit langem die Festival- erkennen, dass Festivals weiterhin eine Formel an, aber die Gelegenheiten, Werke große Rolle in der Verbreitung der Werke von einem zum anderen Land in Umlauf selbst spielen. zu bringen, sind vor allem Richtung Os- Bekanntermaßen haben überall in Eu- ten nicht groß. ropa immer mehr Veranstaltungen Pro- Auch in diesem Teil Europas aber bleme mit ihrer Vermarktung, vor allem im wohnt man, von den baltischen Ländern öffentlichen Theater und ganz besonders in bis Bulgarien, von Rumänien bis Polen, den Ländern, in denen die vielen kleinen einer Vervielfältigung der Festivals bei. Gruppen vorherrschen, die von Projekt zu Hat die Form des Festivals also noch ei- Projekt arbeiten. Anders als in Deutsch- nen Sinn? Was ein Festival auszeichne- land oder den mitteleuropäischen Ländern, te, war sein Ausnahmecharakter. Festi- die über ein Repertoiretheater verfügen, in val rime avec carnaval et estival. (Festival denen die fest angestellten Schauspieler reimt sich auf Karneval und sommerlich.) die Sicherheit haben, eine ganze Saison Was den Erfolg und die Langlebigkeit (60 zu spielen. In Frankreich wiederum be- Jahre!) eines Festivals wie Avignon aus- steht ein ökonomisches Ungleichgewicht machte: ein drei oder vier Wochen langes zwischen Produktion und Verbreitung. Treffen im Sommer in einer historischen Ein stark gewachsenes Angebot, also eine Stadt, in der sich alle Theaterliebhaber Überproduktion, hat eine Verstopfung der ständig über den Weg laufen. Kommunikations- und Verbreitungskanä- Das ist das Bild, das die Öffentlich- le sowie eine gewisse Müdigkeit beim Pu- keit von einem Festival hat und es ist der blikum hervorgerufen. Grund, weshalb die großen europäischen Festivals führen solchen Veranstaltun- Metropolen, wegen ihrer Ausdehnung wie gen Sauerstoff zu, und einige wurden nur der Fülle der über das ganze Jahr ange- zu diesem Zweck geschaffen. Sie erhö- botenen Aktivitäten, sich schwer tun, die Identität ihres Festivals zu definieren. Es gibt keine europäische Großstadt, die Ganz Osteuropa wendet seit nicht ihr eigenes Festival hätte. Einige, von Brüssel bis Zagreb, belegen absichtlich langem die Festival-Formel an, fast den ganzen Kalender und verteilen das aber die Gelegenheiten, Werke Festival auf jeden Monat des Jahres. von einem zum anderen Land Man hat die Festivals – als Orte der in Umlauf zu bringen, sind vor sorglosen Feste – oft den „dauerhaften Institutionen“, den Hauptlieferanten der allem Richtung Osten nicht kulturellen Erziehung sowie der Werk- groß. treue und Strenge von Kulturaktivitäten

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gegenübergestellt. Diese Unterscheidung Wähler an kulturellen Aktivitäten laben, ist glücklicherweise nicht mehr eindeutig, freut sich also über jede gelungene Festi- weil zum einen die Festivals die Initiie- valreihe und schickt sich an, die Kosten rung und Erziehung des Publikums über- eines mehrtägigen Events mit dem Jah- nommen haben und schließlich den festen resbudget einer Kulturinstitution zu ver- Orten eine große Sichtbarkeit zuweisen, gleichen, indem er es durch die Anzahl und weil zum anderen die künstlerischen der von der kulturellen Muse geküssten Produktions- und Vertriebszentren zu- Nutzer teilt. Das ist der Grund des Er- nehmend Festivalelemente in ihre Jahres- folgs des Straßentheaters und des Zirkus, programme aufnehmen, um die Flamme ohne die es bis heute kein Festival gäbe. des Publikums neu zu entfachen. Nichts Der einfache Zugang zur Veranstaltung desto weniger aber erscheinen die Fes- erscheint den Lokalpolitikern so als eine tivals in den Augen eines Teils der kul- Bedingung, wenn nicht gar eine Garantie turellen Öffentlichkeit als leichtere und der Demokratisierung der Kultur. frivolere Veranstaltungen, die sich zu Zweitens vermittelt ein Festival den stark um ihr Medienbild sorgen und letzt- Eindruck oder die Illusion, die lokale Iden- endlich zu zahlreich sind, um dauerhaft tität zu stärken. Das Festival ist wie ein ernsthafte Arbeit zu verrichten. Balsam, der soziale Spannungen lindert, Wem und was nützen die Festivals die Gelegenheit zu neuen nachbarschaft- heutzutage? Lokalpolitikern zufolge gibt lichen Bindungen bietet und neue soziale es viele gute Gründe, in einer Stadt ein Mischungen erlaubt, haben sie auch nur Festival zu organisieren. einen Augenblick Bestand. Es kann auch Erstens, um der Demokratisierung den Identitätswünschen eines Stadtvier- der Kultur eine neue Chance zu geben. tels oder eines Berufsmilieus Ausdruck Das Festival scheint den Bürgern und Zu- verleihen. Man weiß zudem, dass einige schauern einen einfacheren Zugang zu Abgeordnete es gerne sehen, wenn sich ermöglichen als die kulturellen Institu- die Künstler stärker gesellschaftlich en- tionen, an denen man jeden Tag vorbei- gagieren, was zwangsläufig mit der Re- geht, aber in die man nicht eintritt (aus duzierung der Ungleichheiten in Kultur verschiedenen Gründen: Mangel an In- und Bildung zu tun hat. formationen, hohe Eintrittspreise, kul- Zum Dritten ist das jüngste, aber turelle Hemmnisse und die Angst, „zu zweifellos wirksamste Argument, dass dieser Welt nicht dazuzugehören“). Bei ein Festival dem Wirtschaftsleben gute einem Festival riskiert man mehr und mit Gelegenheiten bietet. Seit fünfzehn Jah- mehr Freude. Vor allem auf einem Frei- ren überzeugen mehr oder weniger vage luftfestival: Man nutzt das Wochenende Untersuchungen die Abgeordneten, aber und die Ferien aus, man knüpft Freund- auch die Händler und die lokale Wirt- schaften und trifft sich in der Gruppe. Die schaft davon, dass ein Festival vor allem Veranstaltungen erscheinen zugänglicher ein gutes Geschäft ist. Das betrifft weniger und man kann einfacher Kontakt mit den die vom Niedergang bedrohten Sektoren Interpreten oder Schauspielern knüpfen. als die Dienstleistungsbranche: von den Jeder lokale Abgeordnete, der sich darum Hotels bis zu den Parkplätzen, von den sorgt, dass sich möglichst viele Bürger und Cafés bis zur Reinigung, von den Souve-

226 nirgeschäften bis zu den Reisebüros. Man Theater sagt als Faustregel, dass bei den Festivals pro investiertem Euro drei, wenn nicht gar zehn zurückfließen – wenn man alles zusammenzählt: die Übernachtungsaus- gaben, die Veranstaltungsausgaben, die Reisekosten, die Gehälter, die Mieten von Wohnung und Material. Die Kommunen Künstlerisch in dem Sinne, dass das Fes- sind sich der Tatsache bewusst, dass ein tival, wenn es den Auftrag und die Mittel Festival oft als Beschäftigungsbörse dient, einer schöpferischen Aktivität hat, den wenn auch nur für eine Saison. Künstlern Arbeiten und Spielereien au- Obwohl die Arbeitsmöglichkeiten pre- ßerhalb ihrer Gewohnheiten und üblichen kär und wenig qualifiziert sind (Arbeiter, Orte erlaubt, was diesen wiederum eine Techniker, Kellner, Fahrer, Türsteher), Erneuerung und die Flucht aus der Rou- stellen sie eine Gelegenheit dar, die man tine ermöglicht. Bei einem Festival kann zum Wohl der Jungen ergreifen muss, eine Aufführung eine halbe Stunde oder seien sie Studenten oder Einsteiger in das die ganze Nacht andauern; sie kann auf Berufsleben. koreanisch oder auf türkisch sein; und sie Viertens ermöglicht das Festival der kann einen außergewöhnlichen Ort bele- Gemeinschaft, die es beherbergt, einher- ben, mit dem das Publikum bei einer nor- gehend mit der wirtschaftlichen Wohltat, malen Aufführung niemals in Berührung ein Bild von sich zu produzieren, das es käme. Ein Festival muss ein Ort des Wag- sonst niemals hätte. Das Festival ist so oft nisses sein. Es ist ein beiderseitiges kul- ein zentrales Element einer Tourismuspo- turelles Interesse, weil die Festivals auch litik, die über die Festivaldauer selbst hin- aus Sicht der Zuschauer Gelegenheit zur ausgeht. Eine Stadt kann so ein Prestige Entdeckung, zum Lernen und zur Diskus- aufbauen, das sie sonst – wenn überhaupt sion mit Gleichen darstellen. Auf Festivals – nur mit großen Ausgaben für Werbung finden formelle oder informelle Diskussi- und Öffentlichkeitsarbeit erreichen wür- onen statt, kursieren Worte, Gerüchte und de. Ein gutes Festival ruft eine größere Reputationen. Da die meisten Festivals in- und breitere Beachtung durch die Medien ternational offene Ereignisse der Begeg- als jede Werbekampagne hervor. nung sind, die verschiedene Ästhetiken Das ist der Grund, weswegen es un- zeigen, verschiedene Disziplinen mischen, ter den Festivalorten einen harten Kampf stellen sie privilegierte Momente dar – für darum gibt, nicht nur die für das Publi- die Künstler, um ihr Publikum wieder zu kum, sondern auch für die Medien geeig- finden, für die Kritik, um selbst kritisiert netsten Festivaldaten zu bekommen. zu werden. Es kommt den Zuschauern zu, Der fünfte Existenzgrund für die Fes- ihr Glück auf nicht immer ausgetretenen tivals ist der wichtigste, wird aber nicht Wegen zu finden, und es kommt den Ver- immer an der richtigen Stelle vorgetra- anstaltungen zu, jeden Abend aufs Neue gen: Ein Festival hat eine künstlerische ihr Publikum zu finden. und kulturelle Bedeutung ersten Ranges. Es gibt also eine Reihe von Gründen, immer neue Festivals zu schaffen. Die be- stehenden könnte man nach ihren vorherr- Die Kommunen sind sich der schenden Charakteristika klassifizieren: Tatsache bewusst, dass ein Fes- - Minderheiten-Festivals für Frauen, tival oft als Beschäftigungs- Homosexuelle, Senioren etc. - identitäts-Festivals um eine lokale börse dient, wenn auch nur für Gruppe oder regionale (ethnische) eine Saison. Kultur

227 Theater teuer, aber es ist nicht nur für Profis da. Im eigentlichen Sinne hat es seine Berech- tigung nur in einer Treuebeziehung zum Publikum. Publikum im Plural, um ge- nauer zu sein, denn man weiß seit lan- gem, dass das Publikum in Wirklichkeit ein Zusammenkommen von Einzelnen - touristische Festivals ist, die allesamt ihre unterschiedliche Ge- - originelle Festivals: Sie wollen sich schichte und Bildungswege haben. um jeden Preis von anderen unter- Das ist die eigentliche Schwierigkeit scheiden, eine Nische besetzen oder eines „schöpferischen Festivals“: sich an eine einzige künstlerische Richtung in ihrer Beziehung zur Kunst heterogene vertreten wie Debütfilme, Märchen Zuschauerkreise zu wenden. Deswegen oder Fotojournalismus ... Ein Festi- verlangt man von den Festivals eine wi- val könnte, um von sich reden zu ma- dersprüchliche Mission: das lokale Kul- chen, auch in einem Kahn, Heißluft- turleben zu beachten und sich zugleich ballon oder im Wald stattfinden. dem internationalen zu öffnen; die ältes- ten Kritikerhasen zu überraschen und zu- Dennoch müssen die Festivals den gleich den Jungen nicht die Türen zu ver- Ehrgeiz bewahren, ein zusammenhän- schließen; das Publikum zu binden und gendes Programm anzubieten, und das es zugleich zu erneuern; ein kohärentes sollte sie eher zu Generalisten als zu Spe- und strenges Programm zu entwickeln zialisten machen. Man muss sich klar ma- und zugleich das Festliche und Gesellige, chen, dass es offensichtlich im Theater also die Vergnügung, zu fördern. nicht mehr eine einzige vorherrschende Einige bedauern diese Expansion der Denkschule gibt (wie beispielsweise bei Massenkultur so sehr, dass die Bindung den früheren Meistern Grotowski, Bar- an die künstlerischen Werte nur noch ba, Vilar, Mnouchkine, Brook oder Hei- für eine Minderheit von Belang zu sein ner Müller), wie in der Musik, im Tanz scheint. Minderheit oder Elite? Diese Fra- oder in den Bildenden Künsten; keine ide- ge ist auf politischer Ebene relevant, denn ologische Richtschnur mehr, die einem man verwechselt schnell minoritär mit Festival eine einheitliche Doktrin geben elitär. Aber das Festivalpublikum besteht könnte. Die Begegnungsfestivals zeigen nicht in dem Sinne aus einer Elite, wie viele künstlerische Richtungen und ver- man das Wort zur Zeit der Klassenkämp- mischen sie – im besten Fall – oder lassen fe verwendete. Es sind nicht notwendi- sie – im schlechtesten – auseinanderlau- gerweise die reichsten und bestgestellten fen. Deswegen muss ein Festival im In- Gruppen, die das Publikum der Festivals nern immer den Anspruch haben, die Zu- ausmachen. Natürlich bleibt das Geld im- schauer zu begleiten, sofern es sie nicht zu mer ein Problem. Es kann objektiv die unermüdlichem „Zappen“ zwingen will. Praxis und den Konsum von Kultur ver- Es geht nicht darum, Glaubensbrüder zu hindern. Das größte Hindernis für den versammeln, aber jedem zu helfen, sich Zugang zur Kultur ist aber weniger finan- bewusst mit den mannigfaltigen Ten- ziell, sondern vor allem selbst kulturell. denzen der zeitgenössischen Kunst aus- einanderzusetzen. Das größte Hindernis für den Von der Elite zur Masse? Zugang zur Kultur ist aber we- Das Festival ist sicherlich ein mit den niger finanziell, sondern vor Künstlern geteiltes gemeinsames Aben- allem selbst kulturell.

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Mehr als das Wohlstandsniveau sind es wirkungen auf das lokale Kulturleben, als die Bezüge zur Kunst und ihren Werten man glauben mag: (wie Sensibilität, Emotionen, Phantasie sowie Wissen oder reiner Verstand), die - es hat eine starke Mobilisierungs- über das Interesse an den kulturellen Din- funktion, weil es eine medial gut gen entscheiden. De facto sind für den verwertbare Veranstaltungsform Kunstgenuss eine Ausbildung, ein kons- ist. Für die Medien ist es ein gefun- tantes Interesse und eine Akzeptanz ih- denes Fressen: Es kaut die Arbeit rer Rituale notwendig, unabhängig von von Presse und Fernsehen vor, häuft Sparte und Typologie der Kunst selber. Slogans und Logos an und stellt eine Die aktuelle Popmusik oder das soge- kritische Masse dar, die einfacher nannte alternative Theater sind ebenso zu identifizieren ist als eine isolier- konstitutiv für bestimmte getrennte Fan- te Veranstaltung oder ein sorgfältig gemeinden wie die Oper oder der klas- über eine Spielzeit verteiltes Jahres- sische Tanz. Umso besser übrigens, denn programm. Kunst passt nicht unbedingt mit Einstim- - ein Festival unterstützt das lokale migkeit und Konsens zusammen. Alles in Kulturleben und die lokalen Künst- allem erscheint die Explosion von Formen ler. Man hat oft über die Rivalität und unterschiedlichen Zuschauerkreisen geredet, die bei einigen Festivals zwi- nicht länger als ein Faktor der sozialen schen den von außen „importierten“ Kohäsion, sondern als Zeichen der kul- Künstlern und dem lokalen Angebot turellen Diversität, die man heute gerne besteht. Gewiss, auf der einen Seite voranbringt. integrieren einige Festivals bestimm- te lokale Künstler. Wo das nicht der Festivals und regionale Identität Fall ist, sieht man oft spontan ent- stehende Parallelveranstaltungen, Städte und Regionen (seien es franzö- die das sogenannte offizielle Festival sische Départements, italienische Provin- „besetzen“ oder ergänzen. Auch an- zen oder deutsche Länder) sind von der dere Künstler kommen zum Festi- Festival-Formel hingerissen. Die lokalen val, um sich bekannt zu machen und Gewählten stehen in vorderster Linie: Sie die Ansammlung von Zuschauern, sind die ersten Promotoren und zweifellos Journalisten und Profis auszunutzen. ersten Nutznießer dieser Festivals. Die Avignon ist ein gutes Beispiel dafür: Formel erscheint ihnen so verführerisch, Es waren die Schauspieltruppen der dass sie darüber teilweise die übrige Kul- Stadt, die „off“-Aktivitäten erfanden turarbeit des Jahres vergessen. Manch- und vor allem während der Festival- mal verwechseln sie Festival mit Fete zeit darboten. In Edinburgh überragt und tendieren dazu, das Ereignishafte das „Fringe“ wegen seiner unglaub- zu bevorzugen, das sie selbst in den Mit- lichen Fülle von Veranstaltungen so- telpunkt der Medien stellt und ihnen die gar das ursprüngliche Festival. Anerkennung der Zuschauer und Wäh- - ein Festival ist auch ein Anreiz für ler sichert, angefangen mit dem lokalen die lokale Szene, sich mit den an- Handel. Denn ein Festival hat mehr Aus- gereisten Künstlern zu vergleichen

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und zu messen, aber auch mit ihnen zur Kompetenz des künstlerischen Leiters zusammenzuarbeiten. Hier werden muss seine Unabhängigkeit sein. Er sollte die Künstler angeregt sich weiterzu- Gewissheit hinsichtlich seiner Vertrags- entwickeln und die Festivals arbei- dauer haben und kann sich nicht als loka- ten mit den lokalen Strukturen in ler Angestellter verhalten, darf aber auch verschiedener Intensität zusammen nicht als solcher betrachtet werden. (von der Miete der Locations bis zur In Europa, der Heimat des Theaters, Koproduktion). und in einer kulturellen Konsumgesell- - ein Festival erlaubt schließlich dem schaft, in der die Medien eine derartige – lokalen oder auswärtigen – Publi- Bedeutung erlangt haben, steht den Fes- kum, Stadt und Hinterland wieder tivals also eine rosige Zukunft bevor. zu entdecken und sich gemeinsame Räume auf eine andere Weise als im Aus dem Französischen Alltag anzueignen. Ein Kinofestival von Stephan Hollensteiner kann helfen, eine lokale Spielstätte voranzubringen. Ein Theaterfestival, Bernard Faivre d’Arcier war nach dem Studium die Sanierung von historischen Bau- der Betriebswirtschaftslehre zunächst für das französische Kulturministerium in den Berei- ten zu beschleunigen. Und das Publi- chen Theater, Kino und Audio-Visuelles tätig. kum kann so ungewöhnliche Orte, Er war mit zwei Unterbrechungen insgesamt unbekannte Gebäude und vergessene 16 Jahre lang Leiter des Festivals von Avignon Wege neu entdecken. sowie kultureller Berater des Premierminis- ters und Abteilungsleiter im Kulturministeri- um. Er hat den französischen Zweig des heu- Es ist daher nicht nötig, die Politi- tigen deutsch-französischen Kultursenders ker von der Nützlichkeit der Festivals zu ARTE initiiert und ist heute Berater zahlreicher überzeugen. Ihnen sollte aber geholfen Städte und Regionen. werden, ihr Projekt zu präzisieren, ihren Kurs im Hinblick auf künstlerischen An- spruch und Ausbildung des Publikums zu bewahren. Eine Stadt kann nicht einfach irgendetwas lancieren und ein Festival kann sich nicht einfach irgendwo etablie- ren. Deswegen ist es notwendig, dass die Region die Kulturschaffenden und Ver- mittler anspricht. Denn die Erfahrung lehrt, dass ein künstlerischer Leiter oft entbehrlich ist, sobald ein Festival es ver- steht, künstlerische Ansprüche und kultu- relle Aktion gleichermaßen zu verbinden. Der künstlerische Leiter ist angehalten, auf der einen Seite das Verhältnis zum Künstler zu pflegen, und auf der anderen Seite das Publikum zu informieren und zusammenzubringen. Das Gegengewicht

230 Vision der Oper Die Oper ist nicht nur Selbst- zweck gesellschaftlicherer Repräsentation, sie hat ihr grenzüberschreitendes Wirkungspotenzi- al entdeckt. Internationale Koproduktionen und Festivals machen sie zu einer vielversprechenden Diskussionsplattform für europäische und globale Themen aus Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Umwelt. Von Xavier Zuber

tisch-bürgerliche Formen wieder. Ange- fangen bei der Organisation des Apparats, der den künstlerischen Alltag bestimmt – von der hierarchischen Spitze des Inten- danten über den Generalmusikdirektor, die Sänger und Musiker bis hin zu den technischen Mitarbeitern. Es ist die Hi- erarchie, die es der Dichtung, der Musik und der bildenden Kunst erlaubt, nicht nur unter einem Dach zu arbeiten, son- dern sich gemeinsam zu einer Idee für ein Werk zu vereinen. Diese Idee wird im Verlauf eines künstlerischen Prozesses zu einer künstlerisch formulierten Visi- ortschritt Europa“ lautet der Ti- on, die unserem heutigen, bürgerlich ge- tel dieses Kulturreports, in der die prägten Menschenbild ein Gegenbild lie- FRolle der Kultur in Europa unter- fern will. sucht wird. Ich will diese gewichtige und Die „Entente“ der einzelnen Künste gleichzeitig abstrakte Thematik mit dem gleicht in der Praxis der Quadratur des Medium Oper verknüpfen. Kreises. Die Künstler, die sich unter dem Zuallererst ist Oper ein Ort der Kom- Dach der Oper versammeln, vertreten munikation nach innen wie nach außen. nicht selten unterschiedliche künstleri- Sie repräsentiert eine okzidentale Hoch- sche Meinungen und Haltungen. Doch kultur im Umgang mit dem Menschen. die Oper wäre nicht die Oper, wenn diese Die Oper ist aber auch eine Kunstgattung „Cohabitation“ der Künste nicht in eine innerhalb der Darstellenden Künste, de- produktive Auseinandersetzung münden ren Wurzeln 400 Jahre in die Vergan- würde, in der stets der singende Mensch genheit reichen und europäisch geprägt im Mittelpunkt steht. Die interpretato- sind: Sie steht für ein kostbares kultu- rische Arbeit an einem Werk wie „La Tra- relles Gedächtnis unseres „alten“, aber viata“ oder „Carmen“ ist ein Prozess, der doch so vielseitigen Europa. So finden sich in der Gegenwart abspielt. Das mo- sich noch heute in der Institution Oper derne Musiktheater, wie wir es etwa in aristokratisch-höfische, sowie demokra- Stuttgart verstehen, versucht, Werke aus

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dem Repertoire oder einen neuen Stoff Doch welche Themen sind es, die auf- aus dem Dunkel seiner (Entstehungs-) Ge- gearbeitet werden und es auf die Bühne schichte zu bergen und für die Gegenwart schaffen? Was verbindet und trennt die aufzuarbeiten. Menschen heute in Europa? Diese Fragen Im 20. Jahrhundert stürzte die Oper in bestimmen auch die inhaltlich-drama- eine Legitimationskrise. Hatte sie in der turgische Arbeit eines modernen Musik- Vergangenheit die Aufgabe, die jeweils theaters in Zeiten europäischer Partner- herrschende Gesellschaftsform zu reprä- schaften und Koproduktionen zwischen sentieren, so konnte sie diese nur bedingt den Opernhäusern und internationalen in Frage stellen. Eine kritische, unabhän- Festivals. Musik und Theaterprodukti- gige Position konnte das Sprechtheater onen unterliegen heute nicht nur mehr hingegen durch die sozialen Ereignisse dem Selbstzweck rein nationaler Reprä- der Demokratisierung und durch einen sentation. Vielmehr bilden sie die Pfei- kleineren und somit flexibleren Apparat ler moderner Foren, in denen Ereignisse leisten, was sich künstlerisch in den Re- aus der Gegenwart dargestellt und im An- formbewegungen des 20. Jahrhunderts schluss diskutiert werden. manifestierte. Der deutsche Nationalso- So fließen zwangsläufig auch globale zialismus bedeutete eine markante Zäsur Probleme in diese Arbeiten mit ein. Ein für die ästhetische Reform der Oper (des Beispiel, wie dies bei einem bekannten Theaters überhaupt). Dem Missbrauch des Werk aus dem Repertoire aussehen kann, deutschen Repertoires galt eine radikale möchte ich hier anführen. Befragung der Werke, wie es der Regis- Im Juni 2006 hatte in Hannover und seur und Festspielleiter Wieland Wagner danach in Barcelona die Oper „Wozzeck“ in Stuttgart mit den Werken seines Groß- von Alban Berg Premiere. Das Regieteam vaters tat. Nicht zu vergessen ist die ra- (mit mir als Dramaturg) um den katala- sante Entwicklung moderner Technolo- nischen Regisseur Calixto Bieito hat diese gien in den vergangenen 40 Jahren, die in Oper dazu genutzt, um auf den katastro- die heutige ästhetisch-interpretatorische phalen Zustand von Umwelt und Natur Arbeit eingeflossen ist.

Geist der Oper Und was verbindet und trennt So ist das Musiktheater von heute eine die Menschen heute in Europa? Möglichkeit, die Entwicklung unserer Diese Fragen bestimmen auch (Geistes-)Geschichte und der ihr inne- die inhaltlich-dramaturgische wohnenden Rolle für den Menschen zu diskutieren. Die Institution Oper bietet Arbeit eines modernen Musik- dafür Raum und Freiheit. Sie ist der Tem- theaters in Zeiten europäischer pel geistiger Auseinandersetzung zwi- Partnerschaften und Koproduk- schen Komponist, Autor und Regisseur. tionen zwischen den Opern- Das Stuttgarter Musiktheater ist in seiner künstlerischen Arbeit ein gutes Beispiel häusern und internationalen für diese Haltung. Festivals.

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hinzuweisen. Die Ausbeutung des Indi- Nachtfahrt in Szene. Diese handelt vom viduums, in diesem Fall Wozzecks, wird Unterbewusstsein des Fahrers, wobei der symbolisch zum Fanal unserer Zeit er- Sekundenschlaf zum Auslöser einer inne- klärt. Die Frage, die die Oper uns stellt ren Handlung wird. Die Gefahr des Un- (frei nach Büchner und Berg), lautet: falls wird so plötzlich gegenwärtig, dass Wie steht der Mensch zu seiner Umwelt? sein Hergang musikalisch zu einer sich Die Oper wurde als apokalyptische Vi- endlos wiederholenden Geschichte wird. sion unserer dahinsiechen Natur insze- Die Extremsituation dieser „zeitoper“, in niert. Es ist die Erweiterung des Stoffes der sich der singende Lenker – und mit in eine ökologische Dimension, die für die ihm der Zuschauer – befindet, macht die- Opernhäuser von Barcelona, Hannover se Nachtfahrt zu einem eindrücklichen und Madrid entwickelt wurde. In solchen Musiktheater zum Thema Mensch und Werken, wie sie die Opernliteratur anbie- Mobilität. tet, reichen die Themen stark in unsere Man kann und muss die Frage des vor- Gegenwart hinein. liegenden Reports natürlich auch zurück- geben: Welche Rolle spielen Oper und Mu- Ort der Begegnung siktheater für die politischen Institutionen der EU? Zugespitzt formuliert, inwiefern Die Staatsoper Stuttgart kümmert kümmert sich die EU-Administration um sich aber auch seit geraumer Zeit um die Kunstgattung Oper, als vermittelnde Tendenzen neuer Musiktheaterformen. Gattung neuer Ideen und Visionen? Wäre Im „Forum für Neues“ – so lautet seit es nicht auch eine Chance für Europa, Beginn der neuen Spielzeit der offizielle sich dadurch auszuzeichnen, wenn die Name für die Spielstätte auf dem Stutt- Identitäten unserer Staaten nicht nur aus garter Römerkastell, die vor drei Jahren wirtschaftlich-nationalen Faktoren, son- als „Forum Neues Musiktheater“ vom da- dern auch aus kulturellen Interessen be- maligen Opernintendanten Klaus Zehe- stünden? Könnten die Opernhäuser nicht lein ins Leben gerufen wurde – werden als europäische Stätten für Foren der Aus- Teams internationaler Herkunft zusam- einandersetzung und Begegnung ausge- mengeführt, um neue Werke des Musik- wiesen und unterstützt werden? Und sind theaters zu erarbeiten und aufzuführen. dafür nicht die schon heute existierenden In dem Forum, das auch als „Opernlabor“ Museen, Theater und Opern in Europa bezeichnet wird, steht der Komponist im prädestiniert? Mittelpunkt, der zusammen mit Auto- Bestimmte europäische Opernhäuser ren, Regisseuren und Bühnenbildnern arbeiten bereits in diese Richtung, etwa in ein Werk entwickelt. Dabei geht es um Hannover und Barcelona, sie fassen ihre Geschichten, die „auf der Strasse liegen“, Programme so zusammen, dass sich ein sprich zeitlich relevant sind. Eine solche thematischer Schwerpunkt als roter Faden Arbeit war zum Beispiel die „zeitoper“ durch ihr Konzept zieht, das auch thema- „Carcrash“ der Komponisten Willi Daum tisch gesellschaftliche Themen und Dis- und Ralf R. Ollertz, in dem das Auto in- kussionen der jeweiligen Städte und Län- haltlich das Zentrum des Werks darstellt. der berücksichtigt. Die Stuttgarter Oper Die Komposition setzt eine imaginäre arbeitet zurzeit mit dem Institut Français

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und anderen institutionellen Partnern an einem thematischen Schwerpunkt zum Thema „Französische Kultur in Deutsch- land“. Ist es nicht spannend, innerhalb des großen Repertoires der französischen Oper das Geschichtsbild in Frankreich und die Rezeption in Deutschland, bei- spielsweise in Héctor Berlioz’ „Les Troy- ens“ oder Claude Debussys „Pélleas et Mé- lisande“ zu diskutieren? Welche Menschenbilder liegen diesen Opern zugrunde? Welchem Kulturkreis entstammen sie? Auf welche musika- lischen Formen wird zurückgegriffen? Auf französische? Oder deutsche? Die- se Auseinandersetzung und Diskussion um europäische Eigenarten kann in der Oper aufs Spannendste erzählt werden. Der singende Mensch bewegt sich darin in einer Welt der Ideen und Utopien, die allesamt unsere Beziehung zur Gegenwart aufs Neue in Frage stellen. Die Gattung Oper und das aus ihr entwickelte moder- ne Musiktheater liefern durch das Primat der Musik eine emotionale Dimension, die lustvoll eine Gegenwelt behauptet und die als Vision unsere Zukunft gestalten hilft.

Xavier Zuber ist seit September 2006 Lei- tender Dramaturg an der Staatsoper Stutt- gart. Von 2001 bis 2006 arbeitete er mit dem Schwerpunkt Oper und zeitoper als Drama- turg an der Staatsoper Hannover. Von 1998 bis 2000 war er als Dramaturg für Oper und Tanztheater am Theater Basel engagiert, von 1996 bis 2005 Lehrbeauftragter im Fachbe- reich Szenographie an der Staatlichen Hoch- schule für Gestaltung in Karlsruhe.

234 Kultur basiert auf der Würde des Menschen. Ein friedlicher und kons- truktiver Dialog zwischen politischen, sozialen und kulturellen Akteuren ist unumgänglich. Der stän- dige Dialog ist der Beweis für Europas Seele und kein Zeichen von Schwä- che, sondern von Reife. 1+1 ist mehr als 2 – Synergien schaffen mehr Wissen und Verständnis. Das gilt eben- so für die Familie wie für die Gemeinde oder Bezie- hungen zwischen Nationen.

Ján Figel, EU-Kommissar für Bildung und Kultur

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Kunstwerk Europa „Europäische Kunst“ gibt es nicht, Kultur ist per se ein Unterscheidungsmerk- mal der Völker, wie sich etwa an den nationalen Pavillons bei internationalen Kunstevents wie der Biennale Venedig zeigt. Welche Rolle spie- len (nicht)staatliche Akteure im Kunstaustausch der alten EU-Länder? Wird hier das Potenzial der Kunst als Imagefaktor ausgeschöpft? Was tun die „Neuen“, um einen Fuß in die Tür des EU- Markts zu setzen? Von Ursula Zeller

spezifisch europäischen Werte zu benen- nen. Ein kleinster gemeinsamer Nenner wäre das Zulassen von Widersprüchen und Vielstimmigkeiten, die Achtung re- gionaler Kulturen und die Komposition eines Wertekanons, in dem Demokratie und Freiheit fest verankert sind. So schwierig es ist, gemeinsame kul- turelle Werte für Europa festzuschrei- ben, stellen wir auf der anderen Seite fest, dass Europa in der Praxis kulturell eng zusammengewachsen ist. So geben etwa Millionen europäischer Touristen ein Vermögen aus für Ausstellungen, Opern, uropa besteht nicht nur aus Märk- Konzerte, Theaterstücke und Filme in ten. Es besteht auch aus Werten und aus Europa. Sie reisen kreuz und Eund Kultur“, sagte EU-Kommis- quer von Event zu Event, von Festival zu sionspräsident Jose Manuel Barroso im Festival, um die für sie relevanten Kultur- November 2004 auf der Berliner Konfe- ereignisse zu erleben. Private Sammler renz „Europa eine Seele geben“. Die Fra- kaufen im großen Stil Kunstwerke für ge, welche Rolle die Kultur in der EU und ihre Kollektionen. Doch nicht nur in der für die EU spielen soll, wird in jüngster Hoch-, auch in der Populärkultur fügen Zeit wieder offen gestellt. Auf verschie- sich Großveranstaltungen in ganz Europa denen Ebenen innerhalb und außerhalb zu einem weltweit beispiellosen Kultur- der EU-Administration werden die kultu- fest zusammen. Diese bemerkenswerte rellen Werte Europas intensiv diskutiert, Wertschätzung von Kunst und Kultur be- auch weil man sie als Grundlage für eine scheren europäischen Städten eine Re- europäische EU-Außenpolitik betrachtet. naissance und locken Touristen, beinahe Aktualität erhalten diese Fragestellungen unabhängig von Brüsseler Einflussnah- auch angesichts des Umgangs mit der is- me. Denn die EU unterhält nur einen be- lamisch geprägten Welt und der innereu- scheidenen Kulturetat und kann nur in ropäischen Auseinandersetzung mit dem geringem Maße kulturell fördernd tätig Islam. Aber Europa tut sich schwer, die werden. Diese Wiedergeburt von Kunst

238 und Kultur zeigt, dass es in der Praxis so Kunst|A rchitekt ur|Mode etwas wie ein gemeinsames Verständnis von Kunst und Kultur in Europa gibt. Doch ist von hier der Weg zu einer ge- meinsamen Vorstellung von europäischer Kunst noch weit.

Europäische Kunst versus Ein historisches Beispiel kann dies Kunst in Europa verdeutlichen: die amerikanischen Künstler, die sich von Europa loslösten, Kultur ist per definitionem ein Unter- verabschiedeten sich von der dezidiert als scheidungsbegriff, d.h. die Kultur einer europäisch empfundenen Zentralpers- Nation unterscheidet sich von der einer pektive und entwickelten in den 40er und anderen. Für die Kunst als Funktion der 50er Jahren den Abstrakten Expressio- Kultur müsste Gleiches gelten. Gibt es nismus. Parallel entstand in Frankreich also eine europäische Kunst? Seit dem und Deutschland das Informel. Auf den Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert spre- ersten Blick scheinen sich beide Kunst- chen wir von europäischer Kunst: Die richtungen zu gleichen. Bei genauerer länderumspannende Architektur ist der Betrachtung sind jedoch ihre Voraus- am ehesten sichtbare Ausdruck dieses ge- setzungen, Inhalte und Ziele durchaus meinsamen europäischen Kulturraums. verschieden. Dies gilt auch für die fran- Die Kunstgeschichtsschreibung – also die zösische und deutsche Ausprägung. Aus nachträgliche Ein- und Zuordnung der unterschiedlichem Entstehungsort, un- Kunstentwicklung – kennt länderüber- terschiedlicher Tradition, Mentalität, greifende Stilrichtungen, aber auch re- Sprache und Denken erklären sich also gionale Schulen und lokale Eigenheiten die Unterschiede in den nationalen Aus- innerhalb Europas bis ins 20. Jahrhun- prägungen der Kunst. Diese Verschieden- dert. Danach greift dieser Ansatz retros- heiten mögen nicht immer sehr groß sein. pektiver Betrachtung nicht mehr, weil Deshalb diskutieren wir auch stärker den zu viele Neuerungen im Kunstgeschehen Antagonismus von westlicher und nicht- innerhalb eines globalen Entwicklungs- westlicher, und weniger jenen von euro- raums parallel laufen. Das bedeutet, dass päischer und etwa amerikanischer Kunst. je näher wir an die Gegenwart kommen, Trotzdem sind Differenzen in Form so desto mehr sich die Vorstellung von euro- genannter nationaler Idiome einer glo- päischer Kunst in einem internationalen balen Kunstsprache vorhanden. Dabei Kunstdiskurs verflüchtigt. stehen sich die nationalen Idiome Euro- pas aufgrund ihres gemeinsamen euro- päischen Kulturraums näher als die ein- zelnen den amerikanischen oder gar den Diese Wiedergeburt von Kunst asiatischen. und Kultur zeigt, dass es in der Doch wir beschäftigen uns mit den Praxis so etwas wie ein gemein- Unterschieden der nationalen Kunst- szenen innerhalb Europas nicht son- sames Verständnis von Kunst derlich. Das könnte daran liegen, dass und Kultur in Europa gibt. Definitionsversuche leicht auf nationale Doch ist von hier der Weg zu Stereotype zurückgreifen. Am ehesten einer gemeinsamen Vorstellung könnte ein Außenstehender die Gemein- samkeiten und Unterschiede in der eu- von europäischer Kunst noch ropäischen zeitgenössischen Kunst be- weit. schreiben.

239 Kunst|A rchitekt ur|Mode und unterstützen. Das ist Aufgabe der einzelnen Staaten. Die Funktion der EU liegt darin, den Austausch zwischen den nationalen Szenen zu befördern. Denn ihr Motto heißt ja gerade, die Vielfalt in der Einheit zu pflegen. Was tut die EU also zur Förderung des Kunstaus- Bestes Beispiel für die Unterschiede in tauschs? den nationalen Kunstszenen gibt die Bi- Die Tätigkeit der EU im Kulturbereich ennale in Venedig. Dort kommt der Wett- begann Ende der 80er Jahre mit der von streit der Nationen in der Bildenden Kunst der Kommission für punktuelle Aktionen und Architektur alle zwei Jahre zum Tra- gewährten Unterstützung. Sie wurde also gen. 1895 gegründet, nahmen zunächst erst vergleichsweise spät auf dem Feld der nur die Kernländer Europas teil – Eng- Kultur aktiv. Ursache dafür ist das Sub- land, Frankreich, Deutschland und Ita- sidiaritätsprinzip, das für die gesamten lien. Sie bauten sich Anfang des 20.Jahr- Aktivitäten der EU gilt: sie darf nicht auf hunderts in den Giardini eigene Pavillons, Gebieten tätig werden, für die einzelne in denen sie ihre Beiträge zeigten. Bald Nationen bzw. ihre Teile zuständig sind. kamen weitere europäische Länder hinzu, Da Kultur in den Zuständigkeitsbereich aber auch die USA, Länder Lateinameri- der einzelnen Nationen fällt, bewegen kas usw. Heute möchte fast jede Nation mit sich die Kulturprogramme der EU aus- einem eigenen Pavillon in Venedig vertre- schließlich auf Gebieten, die über deren ten sein. Aus Platzmangel in den Giardini Einflusssphäre hinweggehen: etwa im verteilen sich die nationalen Pavillons auf internationalen multilateralen Austausch Paläste und Kirchen in der ganzen Stadt. oder im Denkmalschutz. Die Bestimmun- In den vergangenen Jahren drängten vor gen des Kulturartikels im Maastrichter allem die Länder der ehemaligen Sowjet- Vertrag erweiterten die Aktivitätsräume union und die asiatischen Länder ver- der EU im Bereich der Kultur 1995 durch mehrt nach Venedig, um ihr gestiegenes die Programme zur Förderung der sekto- Selbstbewusstsein in der Kunst zu zeigen, ralen Zusammenarbeit: Ariane förderte und weil Europa in der zeitgenössischen den Buchsektor, Raphaël das Kulturerbe Bildenden Kunst immer noch eine wicht- und Kaléidoscope die Bühnenkünste. Zu ige Rolle spielt. Für die jungen Staaten Beginn lag der Förderschwerpunkt der Mittel- und Osteuropas bedeutet die Teil- EU auf einer Vielzahl kleiner, kurzzei- nahme an der Biennale einen wichtigen tiger Aktionen, die sich auf eine breite Schritt in den europäischen Kunstmarkt. Palette von Bereichen und Zielsetzungen Selbst wenn im Vergleich zur Gründung bezogen. Das Rahmenprogramm KUL- der Biennale der Wettstreit heute nicht TUR 2000 (2000 bis 2006) sollte dieser mehr ganz so ernst genommen wird, be- Streuung durch die Einführung eines müht sich doch jedes Land, die besten einheitlichen Instruments ein Ende be- Künstler ins Rennen um den Goldenen reiten. Es hat dies allerdings nur in be- Löwen für die beste nationale Präsentat- schränktem Maße erreicht. Der Grund ion zu schicken. In diesen Präsentationen werden die Unterschiede in der künstleri- schen Sprache offenkundig. Differenzen sind in Form Politische Kunst? so genannter nationaler Idiome Wenn es nationale Unterschiede in der einer globalen Kunstsprache Kunst gibt, sollte man sie auch pflegen vorhanden.

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dafür liegt einerseits in der notwendigen Projekte recht hoch: für einjährige Pro- einstimmigen Entscheidung, was Kom- jekte müssen Institutionen aus mindes- promisse bedingt und Prioritätensetzung tens drei Ländern, für mehrjährige Ko- verhindert. Andererseits gibt es keine eu- operationsprojekte Institutionen aus fünf ropäische Kulturgemeinschaft, die als Re- Ländern zusammenarbeiten. Das neue ferenzrahmen für Schwerpunktaktionen Programm KULTUR (2007 – 2013) hat dient. Immerhin sorgt das Programm die Teilnehmerzahl für mehrjährige Ko- für eine inhaltliche Unterfütterung der operationsprojekte sogar auf mindestens kulturellen Aktivitäten. Im Dezember sechs heraufgesetzt. Viele Organisationen 2006 beschloss der Kulturministerrat sind mit dem Management solch kom- das Nachfolgerahmenprogramm KUL- plexer Projekte schlicht überfordert. Die TUR (2007 – 2013). beantragte Finanzhilfe muss auch min- Durch das Programm KULTUR 2000 destens 50.000 Euro pro Jahr betragen und KULTUR (2007 – 2013) können und darf nur maximal 50 bzw. 60 Prozent auch Kunstprojekte unterstützt werden. des Gesamtbudgets betragen, die einzel- Für den Zeitraum 1996 bis 2000 lag die nen Institutionen müssen also mindes- Zahl der von der EU im Rahmen der Ge- tens 16.000 Euro pro Jahr bei einjährigen meinschaftsprogramme unterstützten Projektvorhaben einbringen. Das ist vor Kulturprojekte bei etwa 2.000. Über allem für die Institutionen aus den neuen den gleichen Zeitraum waren mehr als EU-Ländern eine hohe Hürde. Die För- 8.000 Projektpartner einbezogen, wo- derung von Kunstprojekten aus diesem bei durchschnittlich fünf Teilnehmer Programm wird zusätzlich dadurch er- aus den verschiedenen Ländern kamen. schwert, dass die meisten Kunstprojekte Die Fördersumme betrug in dieser Zeit mit kürzeren Vorbereitungszeiten und etwa 130 Millionen Euro. Das Kultur- flexibler in Bezug auf Konzeptions- und budget der EU lag 2005 bei 0,12 Prozent Realisierungsphasen geplant werden. In- des EU-Haushalts. Das ist recht wenig, sofern dienen diese Programme eher der wenn man bedenkt, dass Frankreich im Realisierung von Projekten großer Insti- selben Jahr ein Prozent seines Bruttoin- tutionen in Europa. landsprodukts für Kultur ausgab. Kul- So gilt noch heute, was der Ruffolo-Be- turförderung in der EU nimmt folglich richt aus dem Jahr 2001 über die kultu- in allen Sparten zahlenmäßig nur einen relle Zusammenarbeit feststellt: die Ent- geringen Stellenwert ein. Auch wenn die wicklung kultureller Aktivitäten läuft nur Fördersummen sich in den letzten Jah- über die Einbeziehung der Mitgliedstaa- ren leicht erhöht haben, ändert dies die ten. Gleichzeitig merkt er an, dass auf eu- Situation bis heute nicht grundsätzlich. ropäischer Ebene nur ein schwaches Ko- Viele Anträge werden deshalb gar nicht operationsniveau ohne Verbindung zu im Programm KULTUR 2000, sondern den länderübergreifenden Aktionen in in Bildungsprogrammen der EU einge- den Mitgliedstaaten selbst entstand. Das reicht. Entsprechend wenig können sich bedeutet, dass die EU-Kulturprogramme die Künstler bzw. die Kulturinstitutio- nicht die gewünschte Wirkung haben. nen von der EU erhoffen. Zudem liegen Auch die Erhöhung des Budgets in den die Hürden für die von dort geförderten nächsten Jahren bleibt in vergleichsweise

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geringem Rahmen. Insofern bleibt die EU- sische Moderne oder altmeisterliche Kunst Kulturpolitik auch in Zukunft von gerin- ausgerichtet. Sie agieren auf der Grund- gem Einfluss auf die Kunstentwicklung lage bilateraler Abkommen, die zeitwei- und -austauschaktivitäten in Europa. lige Ausleihungen von Kunstwerken und Menschen ermöglichen. Zunehmend be- Kunst ohne Grenzen teiligen sie sich an transnationalen Koo- perationen, um die notwendigen Gelder Obwohl die Europäer keine präzise, für Ausstellungen zusammenzubekom- abrufbare Vorstellung von einer euro- men. Gleiches gilt für die von den Regie- päischen zeitgenössischen Kunst haben, rungen direkt unterhaltenen National- funktionieren gerade in der Bildenden museen und -galerien. Kunst der Austausch und die Zusammen- National spielen außerdem die Kul- arbeit auf europäischer Ebene transnati- tur- und Außenministerien, private und onal oder multilateral bestens. öffentliche Stiftungen sowie verschie- Nicht nur im „staatlich“ organisierten dene Netzwerke eine Rolle. Besagte und geförderten Künstleraustausch, son- Ministerien veranstalten in aller Regel dern auch in der freien Ausstellungsszene jedoch Ausstellungen und Kunstveran- und dem Kunstmarkt. staltungen nicht selbst, sondern nutzen Es gibt eine Reihe von staatlichen und dafür spezialisierte Organisationen. Der nichtstaatlichen Akteuren im Kunstaus- staatlich organisierte Kunstaustausch tausch auf der Ebene der Städte, Museen etwa über Mittlerorganisationen und und Aussteller, die vom öffentlichen Sek- nationale Kulturinstitute in den einzel- tor, von privaten Förderern oder durch nen Staaten ist in den alten EU-Ländern Private Public Partnership (etwa mit Ban- jedoch eher nebensächlich. Im Wesent- ken) unterstützt werden. In fast allen EU- lichen kümmern sich diese Akteure um Ländern kommen dazu noch sogenannte die Fehlstellen im Kunstaustausch, sie Off-Spaces – Initiativen, die mit wenig fördern den Austausch gezielt dort, wo Geld, viel Engagement und Selbstausbeu- er hinkt. Außerdem betätigen sie sich tung Ausstellungsprojekte in freier Trä- kulturpolitisch: sie arbeiten mit an der gerschaft und in nichtinstitutionellem Erstellung der richtigen Rahmenbedin- Rahmen realisieren. – Obwohl die staat- gungen, nehmen Einfluss auf Politiker lichen Mittel und Sponsorengelder für und ihre Entscheidungen in der natio- die Realisierung ihrer Programme nur nalen Kulturpolitik. Diese soll Hinder- spärlich fließen. Trotzdem sind sie bes- nisse abbauen – etwa unterschiedliche tens vernetzt, aktiv und produktiv. Besteuerung von Künstlerhonoraren, Auf Länderebene – der Ebene der Pro- Ausstellungsgebühren usw. –, um den vinzen, Kantone, Counties – existieren Kunstaustausch in Schwung zu halten. staatlich unterhaltene Institutionen mit Andererseits sind die Mittlerorganisa- überregionalen Aufgaben. Entsprechend tionen auch in den alten EU-Ländern groß angelegt sind in der Regel die von zumeist an der Verbreitung ihrer nati- ihnen realisierten Ausstellungsprojekte. onalen Kunst interessiert. Staatenüber- Ihre Programme sind jedoch weniger auf greifende Kooperationen gibt es eher au- zeitgenössische Kunst, denn auf die klas- ßerhalb der EU. Eine Ausnahme bildet

242 CICEB (Consolatio Institutorium Cul- Kunst|A rchitekt ur|Mode turalium Europaeanorum inter Belgas), eine gemeinnützige Vereinigung der eu- ropäischen Kulturinstitute in Brüssel. Sie wurde 1999 zur Ergänzung des bi- lateralen Arbeitens gegründet und ent- faltet seither eine kooperative Dynamik auch über Brüssel hinaus. hingegen kaum staatliche Förderung, so In den neuen EU-Ländern obliegt dass sie in der Regel nicht übernational den Mittlerorganisationen – den na- agieren können. tionalen Kulturinstituten, aber auch speziellen Förderinstitutionen im Be- Vernetzte Kunst reich der zeitgenössischen Kunst – ein großer Teil des übernationalen Kunst- Netzwerkbildung ist eine der effizi- austauschs. Sie organisieren etwa die entesten Formen der Zusammenarbeit Auftritte ihrer Länder auf der Biennale in der heutigen Zeit. Aus diesem Grund Venedig als Teil ihrer wichtigsten Auf- entstand in den letzten zehn bis 15 Jahren gabe: den europäischen Markt und die eine ganze Reihe von Netzwerken unter- europäische Kunstszene für ihre Künst- schiedlicher Art, Größe und finanzieller ler zu erschließen. Dafür realisieren sie Ausstattung, die den Kunstaustausch auf Überblicksausstellungen in anderen EU- vielfältige Weise betreiben und fördern. Ländern. Ein bilateraler nationaler Aus- Nicht nur Museen und Kunstinstitutio- tausch allein reicht jedoch nicht aus, um nen schließen sich zu Netzwerken zu- erfolgreich die eigenen Künstler in die sammen, auch Künstler, Kritiker, freie europäische Kunstszene einzubringen. Kuratoren und sogar die Mittlerorgani- Sie müssen darüber hinaus Kuratoren in sationen. ihr Land einladen, die wichtige Ausstel- Die nationalen Kulturinstitute und lungsprojekte in Europa realisieren, Ate- Fördereinrichtungen im Bereich der Bil- lierbesuche organisieren und Künstler denden Kunst konzentrierten sich in der vorschlagen. Weitere Förderinstrumente Vergangenheit sehr stark auf die Förde- stellen Workshops, Ausstellungsförde- rung ihrer Künstler innerhalb und au- rungen und Stipendien für Artist-in-Re- ßerhalb Europas. Kooperationen waren sidencies-Programme dar. Die großen daher kein Thema. Erst in den letzten nationalen, staatlich geförderten Museen Jahren entstanden auch in diesem Be- und Galerien in den neuen EU-Ländern reich Netzwerke. Das umfangreichs- tragen zum Kunstaustausch noch nicht te ist EUNIC (EUropean National Ins- viel bei. Die meisten modernisieren ge- titutes of Culture), im November 2006 rade erst ihre personellen, finanziellen hervorgegangen aus dem 1999 gegrün- und räumlichen Strukturen. Kleinere, deten CICEB, dem zum Schluss zwölf alternative Einrichtungen bekommen europäische Kulturinstitute in Brüssel angehörten. EUNIC realisiert nicht nur gemeinsame multikulturelle Kulturpro- jekte in Brüssel, sondern zielt auf die Un- Obwohl die Europäer keine terstützung lokaler Zusammenschlüsse präzise, abrufbare Vorstellung von Kulturinstituten in der EU, aber auch von einer europäischen zeitge- außerhalb. nössischen Kunst haben, funk- Führende Organisationen des Kunst- austauschs aus ganz Europa haben sich tioniert der Austausch auf euro- 2006 zum neuen Netzwerk VOLTAGE päischer Ebene bestens. (Voice of leading transnational art-ex-

243 Kunst|A rchitekt ur|Mode det, ist hingegen ein vorwiegend ost- und westeuropäisches Kuratorennetzwerk mit mehr als 500 Mitgliedern, davon auch einige aus Japan, Australien und Ameri- ka. Es dient dem Programm- und Erfah- rungsaustausch für Museumsdirektoren, Kulturmanager und freie Kuratoren mit change groups in Europe) zusammenge- dem Ziel, die Debatte hinsichtlich der schlossen. Ziele sind eine bessere Kom- Konzeptionierung und Realisierung von munikation und grenzüberschreitende Kunstausstellungen zu unterstützen. Alle Kooperationen im Kunstaustausch sowie drei Jahre wechselt der Sitz in ein anderes eine stärkere Stimme der Kunst in der europäisches Land. Brüsseler Bürokratie. Zudem soll über Nicht nur die Kuratoren, Museen und eine Publikation der Unterstützungspro- Kunstinstitutionen, auch die Künstler gramme der einzelnen Organisationen haben sich übernational organisiert. Die mehr Transparenz für die nationalen IAA (International Association of Art) ist Förderstrukturen innerhalb der EU ge- die größte nichtstaatliche Organisation schaffen werden. von bildenden Künstlern mit weltweit Besonders der nichtstaatliche Sektor über 70 Nationalkomitees. Sie hat bera- hat zahlreiche Netzwerke ausgebildet. tenden Status bei der UNESCO in Paris. Auffällig ist, dass diese transnational, Sie zielt auf die Verbesserung der beruf- jedoch sowohl europa- als auch weltweit lichen, rechtlichen und sozialen Bedin- tätig sind. Meist jedoch ohne besonderes gungen für bildende Künstler. Um den europäisches Bewusstsein. Dazu gehört weltweit sehr unterschiedlichen Gege- die AICA (International Association of benheiten Rechnung zu tragen, wurde Art Critics), die internationale Kunstkri- die IAA-Arbeit bereits Anfang der 80er tikerInnenvereinigung. Diese Nichtregie- Jahre des 20. Jahrunderts regionalisiert. rungsorganisation wurde 1948/49 unter Diesen regionalen Ansatz baute die IAA dem Patronat der UNESCO gegründet mit der Gründung von IAA Europe ste- und fördert Kunstkritik weltweit, Sitz ist tig aus. Sie setzt sich zur Zeit mit Fragen in Paris. Der AICA gehören 4.200 Mit- zu Zoll- und Visabestimmungen sowie glieder in 64 nationalen Sektionen an. mit Förderungsmodellen von Kunst im Der bedeutendste Zusammenschluss öffentlichen Raum auseinander. unter den staatlichen wie nichtstaatli- Neben der IAA etablierte sich 1995 der chen Museen und Museumsfachleuten ECA (European Council of Artists), der quer durch alle Fachgebiete ist ICOM, der vor allem gegründet wurde, um Einfluss Internationale Museumsrat (Internatio- auf die politischen Institutionen in Eu- nal Council of Museums), mit über 21.000 ropa wie etwa die EU, den Europarat, die Mitgliedern in 140 Ländern. ICOM gehö- ren 113 Nationalkomitees und 30 interna- tionale Fachkomitees sowie zahlreiche Auf dem Kunstmarkt klaffen regionale und angegliederte Organisa- die größten Unterschiede zwi- tionen an mit Sitz in Paris. Traditionell engagieren sich die europäischen Sek- schen alten und neuen tionen sehr in dieser Organisation, je- EU-Ländern. In den neuen doch (noch) ohne spezifisch europäische Ländern ist der Kunstmarkt Agenda. erst im Entstehen, der staatliche Die IKT (International Association of Curators of Contemporary Art), in den Sektor ist hier fast noch allein 60er Jahren des 20. Jahrhunderts gegrün- bei Ankäufen tätig.

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UNESCO und andere relevante Organi- wusstsein für die Lebens- und Arbeitsbe- sationen nehmen zu können. Er vertritt dingungen dieser Berufsgruppe in Euro- spartenübergreifend die Belange der pro- pa schärfen, den Informationsaustausch fessionell tätigen Künstler in Europa in zu sozialen und rechtlichen Fragen sowie sozialen, rechtlichen und ökonomischen die Zusammenarbeit zwischen Künstlern Fragen. Ihre Repräsentanten aus derzeit wie zwischen deren Organisationen för- 24 Ländern Ost- und Westeuropas sind dern. Ziel ist es, Künstlerorganisationen selbst Künstler, die die übergeordneten aus möglichst allen EU-Staaten in dieses Organisationen ihrer Länder aktiv ver- Netzwerk einzubinden. treten. Die Geschäftsstelle sitzt in Ko- Ein weiteres Netzwerk mit starker penhagen. Verankerung in Europa ist Res Artis, Das 1994 in Belgien gegründete EFAH der größte Zusammenschluss von Artist- (European Forum for the Arts and Heri- in-Residence-Institutionen weltweit. Er tage) ist der größte spartenübergreifende vertritt mehr als 200 Zentren und Or- Zusammenschluss von kulturellen Netz- ganisationen in 40 Ländern, die Künst- werken, Organisationen und Experten aus lern die Möglichkeit geben, eine Zeit lang dem Bereich der Künste und des Kulturer- dort zu leben und zu arbeiten. 1993 als bes in Europa mit derzeit 75 Mitgliedsorga- freiwillige Vereinigung gegründet, re- nisationen aus zwanzig west- und osteuro- präsentiert und unterstützt Res Artis die päischen Staaten. Sitz der Geschäftsstelle angeschlossenen Zentren durch Infor- ist Brüssel. Das Forum arbeitet als Ver- mations- und Erfahrungsaustausch. Sie mittler im Feld der europäischen Politik wirbt für ein besseres Verständnis für die und Administration, soweit Interessen von wichtige Rolle, die diese Kunstzentren Künstlern und Kulturschaffenden tangiert für die Entwicklung der zeitgenössischen sind. Darüber hinaus versteht sich EFAH Kunst in allen Sparten auf der ganzen als Interessensvertretung des europä- Welt spielen. ischen Kultursektors gegenüber den Ent- scheidungsträgern auf allen politischen Die Schule der Kunst Ebenen. 2001 haben sich in Helsinki die bil- Weniger optimal läuft der Kunstaus- denden Künstler auf europäischer Ebe- tausch in der Ausbildung der Künstler: ne unter einem gemeinsamen Dach im hier binden die meisten Nationen nur EVAN (European Visual Artists‘ Net- Einheimische als Professoren in die work) zusammengeschlossen. Mitglieder Ausbildung ein. Stark zeigt sich die Ten- sind derzeit Künstlerorganisationen aus denz an Akademien in Italien und Frank- elf Ländern (Dänemark, Finnland, Groß- reich, viel weniger dagegen in Holland, britannien, Irland, Schweden, Öster- Deutschland oder Großbritannien. Zu- reich, Niederlande, Spanien, Norwegen, dem gibt es weitere Hindernisse. So for- Island und Deutschland). EVAN möchte dert etwa die französische Regierung in die politischen Entscheidungsprozesse einem Memorandum zur europäischen auf nationaler und europäischer Ebe- kulturellen Zusammenarbeit im Januar ne im Sinne der spezifischen Interessen 2004 unter anderem, „die Mobilität von bildender Künstler beeinflussen, das Be- Kulturvertretern und Kunstwerken in

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Europa zu fördern“, indem zum Beispiel In den alten EU-Ländern haben sich die sozialen und steuerlichen Statute der mehrere Kunstmärkte etabliert: der Künstler einander angenähert sowie die wichtigste ist sicherlich Basel, gefolgt von von den Mitgliedstaaten ausgegebenen London, Paris, Madrid, Berlin, Köln und Diplome gegenseitig anerkannt werden Bologna. Seit dem Zusammenbruch des sollten. Dies gehört zwar eher in den Be- Kunstmarkts in den 80er Jahren melden reich von Hochschulen und Bildung, hat diese Märkte steigende Besucher- und Ver- aber große Auswirkungen auf die Kunst- kaufszahlen. Wer auf den Kunstmärkten szenen und die Mobilität der Künstler in vertreten sein darf, ist übernational ge- den einzelnen Ländern. regelt: es dürfen nur Galerien mit einem regelmäßigen Ausstellungsprogramm, Kunst für den Markt einem Stamm von vertretenen Künst- lern und allgemeinen Öffnungszeiten Der Kunstmarkt funktioniert wie der für das Publikum teilnehmen. Eine ge- Kunstaustausch im allgemeinen sehr wisse Wettbewerbsverzerrung entsteht gut. Von einem Markt kann man nur dadurch, dass einige europäische Län- sprechen, wenn Künstler in einem Land der ihre kommerziellen Galerien bei der vorhanden sind, wenn Galerien zu ih- Teilnahme an Kunstmessen unterstüt- rer Betreuung und Vermittlung existie- zen. Dafür gibt es keine europaweite Re- ren, wenn es eine Schicht von privaten gelung, weil die Förderung unter dem und öffentlichen Sammlern gibt, die in Deckmantel kultureller und nicht wirt- der Lage sind, die zeitgenössische Pro- schaftlicher Subvention stattfindet. duktion auch zu kaufen. Auf dem Kunst- Sicher gibt es auch auf dem Kunst- markt klaffen die größten Unterschiede markt Hemmnisse, die beseitigt werden zwischen alten und neuen EU-Ländern. müssen. So fordert die französische Re- In den neuen Ländern ist der Kunstmarkt gierung in einem Memorandum zur Eu- erst im Entstehen, bilden sich erst lang- ropäischen Kulturellen Zusammenarbeit sam Käuferschichten für zeitgenössische im Januar 2004, die Attraktivität des Kunst heraus. Der staatliche Sektor ist europäischen Kunstmarkts zu steigern. hier fast noch allein bei Ankäufen tätig: Dort heißt es (S.15/16): „ ... Die Vitalität es gibt kaum zeitgenössische Galerien und Wettbewerbsfähigkeit des europä- oder private Sammler, die sich um die ischen Kunstmarkts werden durch ein jungen Künstler kümmern. Steuersystem beeinträchtigt, das insbe- In den alten EU-Ländern ergibt sich sondere im Vergleich zur Schweiz oder ein anderes Bild. Deshalb setzen die neu- den Vereinigten Staaten wenig vorteilhaft en EU-Länder alles daran, ihren Künst- ist. Mehrere im Laufe der 1990er Jahre lern den Zugang zu den Märkten in den verabschiedete Maßnahmen haben die alten Ländern zu öffnen – mittlerweile Ungleichgewichte verschlimmert: es han- mit einigem Erfolg. Aber auch die zuneh- delt sich dabei insbesondere um Bestim- mende Zahl von Galerien aus den neuen mungen bezüglich der Mehrwertsteuer EU-Ländern auf den Kunstmessen in Eu- bei der Einfuhr und der Harmonisierung ropa zeigt einen Aufwärtstrend mit Polen beim System des Folgerechts. Mehrere als Musterschüler. nationale Berichte haben erwiesen, dass

246 die Aufhebung der Mehrwertsteuer bei Kunst|A rchitekt ur|Mode der Einfuhr überaus vorteilhafte Aus- wirkungen auf die Dynamik des euro- päischen Kunstmarkts hätte, ... Die Um- setzung der Richtlinie 2001/84/EG des Parlaments und des Rats ... bezüglich des Folgerechts müsste Gegenstand einer Be- wertung und einer gemeinsamen Über- der Teilländer ihren Niederschlag fin- legung der Mitgliedstaaten werden. Die det. Geregelt wurde etwa, dass Urhebern Fachvertreter des Kunstmarkts sind näm- grundsätzlich angemessene Vergütungen lich der Meinung, dass dieser Textlaut zu zahlen sind und sie nicht in Knebel- so geartet ist, dass dadurch die Wettbe- verträgen dazu gebracht werden können, werbsfähigkeit des europäischen Markts ihr Werk unter Wert herzugeben. Euro- beeinträchtigt wird.“ paweit wurde auch die Schutzdauer ver- Neben Mehrwertsteuer und Folgerecht einheitlicht, die bis 70 Jahre nach dem bedroht aber noch eine weitere Entwick- Tod des Künstlers gilt. Es gab bisher ver- lung den Kunstmarkt: die zunehmende schiedene Richtlinien, wünschenswert Zahl von privaten Händlern, die auf den wäre ein einheitliches Urheberrecht. Kunstmärkten nicht mit Ständen vertre- Das größte Hindernis dabei besteht im ten sein dürfen und wollen. Sie haben ge- grundsätzlich unterschiedlichen Ansatz ringere Unkosten als die Galeristen, da sie der kontinentaleuropäischen und der an- kein jährliches Ausstellungsprogramm gelsächsischen Rechtsordnungen. Dort bieten und Künstler unterstützen müs- wird das Copyright nach wie vor primär sen. Sie drängen sich zwischen die Be- als Vermögensrecht angesehen, während ziehung von Galerie und Sammler, indem die anderen Rechtsordnungen nicht nur sie Kunstwerke direkt von den Künstlern die wirtschaftlichen Rechte des Urhebers, vermitteln und den Sekundärmarkt mo- sondern auch seine persönlichkeitsrecht- nopolisieren. lichen Interessen schützen („droit mo- ral“). Andererseits gibt es seit einiger Zeit Urheber der Kunst die Diskussion, ob der Urheberrechts- schutz nicht bereits zu stark ist und durch In der EU gibt es kein einheitliches Monopolisierung die gesamtgesellschaft- Urheberrecht, bestimmend sind die na- liche Entwicklung hemmt und teilwei- tionalen Gesetze. Allerdings werden die- se ja auch an den technischen Gegeben- se mehr und mehr von europäischen heiten vorbeigeht. Bestes Beispiel ist die Vorgaben durchdrungen. Im Urheber- Kopierschutzdebatte, in der mit den Digi- recht laufen besonders starke Harmoni- tal-Rights-Management-Systemen völlig sierungsprozesse ab, in denen die Lob- neue Mechanismen erdacht werden müs- byarbeit der Verwertungsgesellschaften sen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die Musik vielleicht ganz an- dere Regelungen braucht als die Bilden- Private Händler drängen sich de Kunst oder die Literatur. Denn viele der EU-Vorschriften gelten allgemein und zwischen die Beziehung von nicht spartenspezifisch. Galerie und Sammler, indem sie Kunstwerke direkt von den Kunst in Szene gesetzt Künstlern vermitteln und den „What our village needs now is a bien- Sekundärmarkt monopolisie- nial“ – so überschrieb Olav Westphalen ren. 2000 einen Comic, der das Fernsehin-

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terview eines abgerissenen Stadtverord- bleme gestellt. Für ihre Projekte ist we- neten vor der brennenden Kulisse seiner gen der geringeren Publikumsresonanz Stadt zeigt. Die Biennale als Rettung aus Sponsorengeld nicht so leicht zu akqui- der Not – fast möchte man daran glauben, rieren. Einen Ausweg bietet tatsächlich denkt man an den Boom dieses Ausstel- die Finanzierung über europäische und lungsformats. Denn ursprünglich war außereuropäische Kooperationen – aller- die Biennale ein westeuropäisches Pro- dings nur, wenn auch finanzkräftige För- jekt, das sich zum Exportschlager ent- deragenturen tätig sind oder sie tatsäch- wickelte. Die Biennalen haben sich über lich EU-Mittel akquirieren. Finanziell die ganze Welt verbreitet – vor allem seit „lohnt“ es sich aber nicht, mit außereu- den 90er Jahren des letzten Jahrhun- ropäischen Ländern zusammenzuarbei- derts. Es gibt ortsunabhängige Bienna- ten, hinter denen keine solchen Finan- len wie die manifesta und die Ars Balti- ziers stehen. Da bleibt nur, die wenigen ca, die jeweils an anderen Orten in der Mittel der Einzelnen in einer Kooperation EU stattfinden. Daneben hat aber auch möglichst synergetisch einzusetzen. Das fast jedes EU-Land eine eigene, interna- funktioniert jedoch zwischen Partnern tional agierende Biennale, manche sogar innerhalb wie außerhalb der EU gleich mehrere. Offensichtlich erweist sich das gut. Label „Biennale“ als besonders nützlich, um Aufmerksamkeit bei örtlichen Behör- Ursula Zeller ist Kunsthistorikerin und Lei- den sowie lokalen und überregionalen terin der Abteilung Kunst des Instituts für Auslandsbeziehungen. Von 1990 bis 1995 war Sponsoren zu erwecken. Also die idea- sie stellvertretende Leiterin der Galerie der le Grundlage für die Finanzierung gro- Stadt Stuttgart. Sie publizierte zahlreiche ßer internationaler Ausstellungsprojekte. Veröffentlichungen zur zeitgenössischen Das Label „Biennale“ macht Gelder für Kunst und organisierte Symposien zum The- die Präsentation zeitgenössischer Kunst ma Kunst und Kunstvermittlung in Mittel- und Osteuropa, Kunstaustauschprojekte und locker und schafft einen Treffpunkt mit Biennalen. Werkstattcharakter für Künstler aus al- len Teilen der Erde. Auf der anderen Seite gibt es in fast allen Ländern auch große Ausstellungs- events mit hoher Publikumswirksamkeit, die von Festivals und großen Ausstel- lungshäusern organisiert werden. Diese Blockbuster-Ausstellungen sind auch für Sponsoren attraktiv und erreichen da- durch einen hohen Finanzierungsgrad. Die kleineren Ausstellungshäuser, die in früheren Jahren auch immer wieder wichtige transnationale Ausstellungspro- jekte realisiert haben, werden allerdings durch die seit Jahren schrumpfenden öf- fentlichen Etats in der Tat vor große Pro-

248 Mode macht Europa Mode lebt von einem multikulturellen Nährboden. Sie veranschaulicht auf visuelle Weise, dass die europäische Kulturdynamik gerade nicht das Aufgeben oder Anpassen der nationalen Identität erfragt, um eine Einheit bilden zu können. – Ein elektro- nisches Expertengespräch über die Rolle der Mode in Europa und als kultureller Image- faktor. Von Ingrid Loschek und Sibylle Klose

des Hauses Nina Ricci, der Amerikaner Marc Jacobs de- signed die Mode des Luxuslabels Louis Vuitton, der Itali- ener Stefano Pilati entwirft das Prêt-à-porter des Hauses Yves Saint Laurent usw. Abgesehen davon ist der Englän- der Alexander McQueen auf den Pariser Schauen inte- griert und wird durch die italienische Gucci Group finan- ziert. Bereits seit den 80er Jahren zeigen die japanischen Avantgardedesigner, wie Issey Miyake, Rei Kawakubo und Yohji Yamamoto, ihre Kreationen selbstverständlich in Paris. Valentino, Ikone der einstigen römischen Alta Moda, zeigt seit einigen Jahren sowohl seine Haute Cou- ture, als auch sein Prêt-à-porter bei den Pariser Schauen, ebenso Prada ihre Zweitlinie Miu Miu sowie die Englän- der Hussein Chalayan und Vivienne Westwood. Giorgio Klose: Gibt es eine europäische De- Armani präsentiert seine Alta Moda als Gast der Haute signermode und spielen nationale Prä- Couture in Paris. Auch die intellektuellen Antwerpener gungen eine Rolle? Modedesigner, obgleich in Belgien ansässig, nehmen offi- Loschek: Das Modedesign ist heute ziell an den Pariser Defilées teil. – mehr denn je – von einer internatio- Ebenso zeigen deutsche Jungdesigner wie Bernhard nalen kreativen Szene geprägt. In den Willhelm, John Ribbe oder Newcomer wie C. Neeon in etablierten Pariser Modehäusern war Paris, während die Label Jil Sander und Strenesse Gab- und ist der kreative Stab internatio- riele Strehle in Mailand bei den Schauen vertreten sind. nal. Als berühmte Beispiele gelten der Die Auswahl wird einerseits durch die Pariser Mo- Gründer der Pariser Haute Couture, der dehäuser und Luxuskonzerne, andererseits durch die Engländer Charles Frederick Worth, Fédération Française de la Couture, du Prêt-à-porter des die Italienerin Elsa Schiaparelli oder Couturiers et des Créateurs de Mode getroffen. Eine ähn- der Spanier Cristobal Balenciaga, die lich national vielfältige Präsenz weisen weder die Londo- den Ruhm der Pariser Mode mitbegrün- ner oder Mailänder, noch die New Yorker Fashion Week deten. Heute ist dies nicht anders: der auf. Die starke internationale Präsenz an Designern Engländer John Galliano ist Creative besonders in Paris resultiert weniger aus einer multikul- Director des Hauses Dior, der Italiener turellen Ambition, als aus dem Anspruch an eine hohe Riccardo Tisci des Hauses Hubert de kreative und innovative Qualität der Designer, ungeach- Givenchy, der Belgier Olivier Theyskens tet ihrer Herkunft.

249 Kunst|A rchitekt ur|Mode auf England und Schottland, sei es, dass sie sich von Ge- mälden britischer Maler oder von schottischen Tartans inspirieren lässt oder mit dem schottischen Stoffherstel- ler Harris Tweed zusammenarbeitet. Die Japaner sind Meister des Drapierens. Der deutsche Designer Bernhard Willhelm – er graduierte in Antwerpen und zeigt in Pa- ris – greift gerne Landschaftsmotive und Sagen seiner Klose: Bewirken die multinationalen süddeutschen Heimat als Stickereien auf. Eva Gronbach, Designer, dass die Designermode in ebenfalls aus Deutschland, machte sich einen Namen allen europäischen Ländern ähnlich durch die Verwendung der deutschen Nationalfarben und aussieht? des deutschen Adlers sowohl als Ornament, als auch als Loschek: Diese internationale Zusam- eigenes Logo. menarbeit auf der Ebene des Gestal- tungsprozesses bedeutet noch lange Klose: Welchen Einfluss haben Designer bzw. Design- nicht, dass der Modestil in den europä- firmen in der stark kommerziell ausgerichteten Mode- ischen Großstädten und Ländern der branche? gleiche ist; im Gegenteil. Designer und Loschek: Kleidung einschließlich Accessoires ist ein Designfirmen präsentieren dort ihre Produkt, das durch einen Gestaltungsprozess realisiert Mode, wo sie das Gefühl haben, dass wird. Welche der Produkte akzeptiert und „Mode“ wer- ihre Designphilosophie und ihr Mo- den, legt allein „die“ Gesellschaft bzw. eine Gruppe der destil am besten ankommen bzw. am Gesellschaft, eine Sozietät, fest. Insofern unterliegt die besten passen. Mailand, Florenz, Rom semiotische Festlegung von „Mode“ einem kommunika- gelten nach wie vor als Ort tragbarer, tiv verhandelten, sozialen Prozess, der in jeder Region progressiver Eleganz (diesen Wider- unterschiedlich ist. Da Mode weit über das Gegenständli- spruch beherrschen „nur“ die Italiener), che des Produkts Kleidung hinaus geht, ist sie so viel- Paris wird als Ort steter Avantgarde fältig, vor allen Dingen durch die individuelle Art des geschätzt, Antwerpen ist bekannt für Kombinierens. Anders ausgedrückt: Kleidung ist ein Pro- höchst intellektuelles Modedesign, Lon- dukt, Mode ist ein Konstrukt. Mode gibt der Kleidung ei- don gilt nach wie vor als ausgeflippter, nen sozialen Zweck über Funktion und Ästhetik hinaus. unkonventioneller Ideengeber. Der Kleidung werden Schein und Illusion hinzugefügt, Deutschland bietet – aufgrund seiner die als Mehrwert oder Zusatznutzen, kurz als Mode defi- zahlreichen mittleren Großstädte – ein niert werden. differenziertes Modebild. Während der Süden von einem konservativen Schick Klose: Kritiker sprechen von einem Zustand der Ver- geprägt ist, ist die Berliner Szene für massung. Wie stark ist heute das Bild der europäischen Querdenken und Newcomerdesign be- Städte von Massenmode geprägt? kannt und Düsseldorf ist durch die cpd, Loschek: Denkt man an so funktionelle, alle Gesell- die weltgrößte Modemesse, stark wirt- schaftsgruppen übergreifende Kleidung wie Jeans und schaftlich orientiert. Gerade die europä- T-Shirts, ist das Bild ziemlich einheitlich. Andererseits ische Mode repräsentiert die viel zitierte produziert und organisiert der globale Raum hybride „Vielfalt in der Einheit“ nicht als hohle Identitäten, flexible Hierarchien und eine Vielzahl von Phrase, sondern tatsächlich. austauschbaren Verhältnissen. Gewiss, es gibt die Mas- senmode, aber auch sie ist vielschichtig, dank pluralis- Klose: Sind im internationalen Mode- tisch-liberaler Demokratien. design noch Tendenzen einer kultu- rellen, soziologisch-ethnologisch gebun- denen Mode – also lokale Signifikanten Gerade die europäische Mode repräsentiert – bemerkbar? Loschek: Ich denke, ja. Vivienne die viel zitierte „Vielfalt in der Einheit“ nicht Westwood bezieht sich immer wieder als hohle Phrase, sondern tatsächlich.

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Klose: Die angesprochene flexible Individualismus gleich mit drei personalisierten Kollek- Verflachung von Hierarchien ist ein tionslinien ab: Platinium, Identity und 3D. Ein innova- wichtiges Moment in der sich abzeich- tives, überregionales und damit internationales Konzept, nenden Modeentwicklung. Bereiche, die dass sich momentan sehr stark in der Herrenkonfektion modegeschichtlich eher elitär und seg- durchsetzt, aber auch im Accessoirebereich wie z.B. bei mentär geprägt waren, öffnen sich jetzt Schuhen. einem breiteren Markt. Loschek: Das Bedürfnis nach Indivi- Klose: Die Mode bewegt und dynamisiert sich durch dualität, nach dem Eigenen, dem Be- ihre eigenen Amplituden von Anpassung und Abgren- sonderen lässt den Kunden, besonders zung. Deshalb die Frage: Gibt es eine gemeinsame euro- jenen des Luxus-Genres, zum Designer päische Modegeschichte, oder umgekehrt, wie sehr gab seiner persönlichen Vorlieben wie auch es nationale Differenzierungen in der Geschichte der seines Geschmacks werden. Mit Hilfe Mode? neuer Technologien wie Bodyscan- Loschek: Mode war immer „global“. Sich nach der ning hat sich in den letzten Jahren die Mode der international tonangebenden Gesellschafts- personalisierte, computergestützte, in- schicht zu kleiden, galt als höchste soziale Anerkennung. dustrielle Maßkonfektion durchgesetzt Mode war weniger national als sozial eingeschränkt. (customizing). Aus einem angebotenen Führend in der Mode waren meist jene Länder, die auch Styling-Menü (Passform, Details, Mate- die politische Dominanz in Europa hatten. rialien, Futter, Verarbeitung etc.) wählt So kleidete sich der hohe Adel in der zweiten Hälfte der Kunde unabhängig von Saison, Jah- des 16. Jahrhunderts nach der spanischen Mode, um 1800 reszeit oder selbst Ladenöffnungszeiten zur Zeit Napoleons nach dem französischen Empire, im (Online-Shop) aus, was ihm gefällt. Pro- 19. Jahrhundert erfasste die deutsche Biedermeiermode sumer (producer – consumer) heißt das das aufstrebende europäische Bürgertum, der franzö- neue Kunstwort, das den zukünftigen sische Cul de Paris der Gründerzeit setzte sich bis Japan Kunden nicht nur als Konsumenten, durch und in den 50er Jahren eroberte Christian Diors sondern auch als „Produktgestalter“ de- New Look die Weltmetropolen. In der Vergangenheit finiert. Auch im Accessoire-Bereich hält jedoch hatten weitaus weniger Menschen als heute die dieses Konzept erfolgreichen Einzug Möglichkeit, sich nach der neuesten Mode zu kleiden. wie der „Shoe-Individualizer“ Selve aus Dennoch war das Bild der Großstädte keinesfalls eintö- München zeigt. nig, im Gegenteil, denn es war sowohl durch modische Das heißt aber nicht, dass es zu einer Kleidung, als auch durch vielfältige Trachten und farbige Verflachung der Luxusmarken kommt – Uniformen geprägt. Mit der Konfektionierung modischer im Gegenteil, der auf elitären Individu- Kleidung infolge verbesserter Schnittsysteme und der alismus setzende Luxusmarkt verzeich- Nähmaschine in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts net steigende Wachstumsraten. Giorgio konnten sich immer mehr Menschen, zumindest in den Armani Fatto a Manu Su Misura – das Großstädten, Mode leisten. Dadurch begann sich das Er- männliche Pendant zur italienischen scheinungsbild der Menschen anzugleichen. Haute Couture Line Armani Privé – fei- ert beispielsweise gerade sein Marktde- Klose: In jeder Metropole der Welt sieht man Luxus- büt. Dormeuil, traditioneller Stofflie- stores von Dior bis Armani. Ist die Luxusmode europä- ferant hochqualitativer Herrenstoffe isch geprägt und weltweit präsent und wodurch entstand deckt die Nachfrage nach luxuriösem dieser Stellenwert?

251 Kunst|A rchitekt ur|Mode Klose: Namhafte Designer entwerfen limitierte Minikollektionen für Beklei- dungskonzerne der Massenkonfekti- on (Karl Lagerfeld, Stella McCartney, Viktor & Rolf für den schwedischen Be- kleidungshersteller Hennes & Mauritz, Roland Mourent für Gap, Christopher Loschek: Wie so oft sind mehrere Gründe dafür aus- Kane für TopShop) oder Versandhäu- schlaggebend, abgesehen von rein wirtschaftlichen Grün- ser (Courrèges oder Christian Lacroix den. Zum einen entstanden in Paris die ersten Organi- für La Redoute), während gleichzeitig sationen sowohl für Modeschauen und Modemessen, als die Massenkonfektion in die Design- auch zum Schutz der Kreationen der Modeschöpfer: 1868 erriege aufsteigt: Top-Shop defilierte das Chambre Syndicale de la Couture Parisienne, 1914 zusammen mit namhaften britischen das Syndicat de Defense de la Grande Couture Française. Designern auf der London Fashion Ähnliche Institutionen wurden später in anderen europä- Week und präsentiert seine Kreationen ischen Ländern gegründet und ständig nach den aktu- mit eigenem Corner im Avantgarde- ellen Anforderungen erweitert. Zum anderen konzent- Lifestyle-Shop Colette in Paris. Selbst riert sich die modische Ausrichtung der Luxuskonzerne Sportmarken, vor Jahren im Bereich der wie LVMH, Pinault Group, AEFFE auf Frankreich und Designer- und Luxusmode undenkbar, Italien, da dort eine gewisse Selbstverständlichkeit im haben sich inzwischen den Laufsteg Umgang mit Luxus herrscht. Somit ist es in Frankreich und damit das Designrampenlicht ero- und Italien auch Familienunternehmen wie Hermès, bert. Und in internationalen, Trend an- Gucci, Prada, Fendi, Missoni, Ferragamo, Etro oder ein- gebenden Modemagazinen wirbt junge, zelnen kreativen Persönlichkeiten wie Gabrielle Chanel preisgünstige Massenmode neben ex- und Giorgio Armani möglich gewesen, ein Imperium zu klusiver, limitierter Designerauflage. gründen und zu erhalten. Ein weiterer Grund ist, dass Trotz dieser vermehrt horizonta- gerade in Europa – zumal in Frankreich – die Konzent- len Bewegungen hat die Europäische ration auf das Logo entstand. Wenngleich das Marken- Markenmode immer noch einen hohen bewusstsein in den 80er Jahren in den USA am stärksten Stellenwert, besonders im außereuropä- zelebriert wurde, so waren es großteils europäische Lu- ischen Ausland. Wie ist das zu erklären? xusmarken, denen die Bewunderung galt. Loschek: Zum einen steht europä- ische Markenmode, wie im Falle der Klose: Ja, die historisch gewachsene Struktur der Lu- erwähnten französischen und itali- xusmode in Europa ist sehr von Italien und Frankreich enischen, aber auch der englischen geprägt. Trotzdem hat es gerade in den letzen Jahren Luxusmarken wie Burberry oder der starke Bewegungen nicht nur im Bereich der Luxusmo- Schweizer Designcouture Akris, für de, sondern innerhalb der gesamten Segmentierungen Prestige, zum anderen steht sie, wie der Modeindustrie gegeben. Die ursprünglich sehr stark beispielsweise Boss, Escada oder Bogner vertikal strukturierte Mode (von der avantgardistischen oder Pringle of Scotland für hohe Qua- Luxusmode bis hin zur modischen Massenkonfektions- lität. Gerade Hugo Boss ist heute typisch ware) zeigte verstärkt horizontale Tendenzen und Be- für eine europäische Marke, da Kon- wegungen: Die Fusion bzw. Diffusion von Stil, Produkt, zernsitz und Führung in Deutschland Qualität, ja selbst vom Luxusbegriff, hat zur Verwi- sind, der Inhaber aber die italienische schung der tradierten Grenzen geführt. Marzotti Group ist. Loschek: Wie äußert sich das? Führend in der Mode waren meist jene Länder, die auch die politische Dominanz in Europa hatten.

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Klose: Yves Saint Laurent, Hubert de gns. Übertreibungen bis hin zur karikierenden Logoma- Givenchy, Thierry Mugler, Kenzo Ta- nia blieben nicht aus. Von den meisten Modefirmen wur- kada – Ikonen der europäischen Mode de in der Zwischenzeit erkannt, dass das Design noch – haben sich aus ihren Modehäusern vor oder zumindest gleichwertig zum Logo stehen muss. zurückgezogen, um einer jüngeren Die zu starke Konzentration auf das Markenzeichen hat Generation von Designern den Weg zu aber individuellen Designern eine Chance gegeben, jene ebnen. Diese Übernahme verläuft nicht Kunden anzusprechen, die nicht „Werbefigur“ sein wol- immer glücklich und hat bereits zu ho- len. Aus diesem Grund haben jene individuelle Designer- hen Fluktuationen in den Designstudios mode und kleine Designfirmen ein gutes Nischendasein, geführt. Einige europäische Modehäu- die vor allem im jeweils eigenen Land oder zumindest in ser scheinen deshalb verstärkt auf das Europa produzieren. Markenprofil des Hauses zu setzen und weniger auf das Designprofil. Hat die Klose: Hinzu kommt, dass gerade das Logo als Au- Markenmode die Designermode jetzt thentizitätszeichen einen großen Einfluss auf das globale abgelöst oder ist wieder ein umgekehr- Erleben der Mode hat, die sich dadurch aus dem lokalen ter Prozess im Gange? Was ist Marken- Marktkontext herauslöst. Das Logo wird Metapher für mode eigentlich? ein europäisches bis internationales Marken- bzw. De- Loschek: Das Namensschild, das Logo signgefühl mit grenzübergreifender Stilsprache und einer oder Label, ist primär ein semiotisches unmissverständlichen Dekodierung: wo immer ich mich und kein modisches Attribut. Es erzielt auf der Welt bewege, drei weiße Streifen (Adidas) oder einen hohen Wiedererkennungswert, so die Kombination der Buchstaben LV (Louis Vuitton) sind dass das Produkt für sich selbst wirbt inzwischen nicht nur international dekodierbar, sondern und weckt damit auch die Begehrlich- transportieren ihre markeneigenen Modeinhalte, ihre keit sowohl des Kaufens, als auch des „Lifestyle-Visionen“. Nachahmens. Logos und Embleme Loschek: In den letzten Jahrzehnten haben sich immer senden mit einem minimalen Aufwand mehr Luxus- und Designermarken von local labels zu ein Maximum an Botschaften zum Teil global players entwickelt, weltweit in Szene gesetzt durch weltweit aus, wie aus dem militärischen eigene, imposante Flagshipstores. Diese Omnipräsenz auf Uniformwesen bekannt. In der Mode dem internationalen Modemarkt hat allerdings auch dazu war bis in die 70er Jahre ein Namens- geführt, dass die Marken- bzw. Designermode nur noch schild, ein Etikett, prinzipiell innen selten mit ihrem Herkunftsland in Verbindung gebracht versteckt, hinter dem Produkt zurück- wurde. Das Bedürfnis nach Ursprung und Original hat stehend. In den 80er Jahren begann daraufhin zu einer Labelkorrektur bzw. Labelerweite- man, es außen sichtbar anzubringen. rung geführt, mit dem Ziel, die lokale Herkunft der Mar- Damit begann das Etikett das Produkt ke wieder hervorzuheben: Hermès Paris, Prada Milano, zu dominieren. Das Etikett als Authen- Burberry London, Donna Karan New York. tizitätsmerkmal wurde zum Label oder Markenzeichen, das heißt zum Zeichen Klose: Abgesehen von Marke und Design, was hat Eu- der Vermarktung und nicht des Desi- ropa an Gemeinsamkeit in der Mode heute? Loschek: Die Veränderungen der Zielgruppen – wie zum Beispiel der Hedonismus der Generation 50+ oder der Neokonservativismus des jungen Mittelstandes – sind in allen europäischen Ländern gegeben. Also muss und

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wird die gesamte europäische Modebranche darauf re- sondern eine umfassende stilistische agieren. Auch ist es das Problem der gesamten euro- Kollektionsbeschreibung, eine ästhe- päischen Modebranche (mit wenigen nationalen bzw. tische Interpretation, Vergleiche zu lokalen Ausnahmen), dass die Herstellung in asiatische anderem Modedesign, zu Architektur Länder vergeben wird. Die Probleme und Lösungen und zu Kunst, Definitionen von Mode scheinen also nicht nur auf ein Land, sondern auf ganz als Produktdesign und letztendlich eine Europa bezogen zu sein. Modekritik wie zum Beispiel bei Thea- ter- und Opernaufführungen üblich. Klose: Sie hielten 2005 Gastvorlesungen an der Helwan University in Kairo. Welchen Stellenwert hat europäische Klose: Welchen Stellenwert haben eu- Mode in einem zunehmend islamisch geprägten Land? ropäische Modemagazine? Loschek: Ich kann nur für Kairo sprechen. Dort geht Loschek: Bei den etablierten Modema- die weibliche Jugend der Mittelschicht genauso in Jeans gazinen dominieren die englischen und und Pullover wie in Europa, aber mit Kopftuch, das üb- französischen; die Modemagazine ande- rigens in sehr vielen modisch geprägten Arten drapiert rer europäischer Staaten sind stark von wird. Die Modedesignstudentinnen sind fast ausschließ- diesen Vorbildern geprägt, besonders lich an der europäischen Mode interessiert, kaufen west- was die eigentlichen Modethemen an- liche Modejournale und Trendkollektionsbücher. Sie wol- geht. Der Einfluss englischer und fran- len sowohl für den europäischen Markt entwerfen, als zösischer Magazine ist auch außerhalb auch für den ägyptischen, der im privaten Bereich durch- Europas sehr stark, so dass von einem aus europäisch orientiert ist. Aber auch hier gilt, dass europäisch geprägten Modejournalis- Design vorwiegend eine Produkterstellung der Metropole mus gesprochen werden kann. „Wall- ist, in der Peripherie gibt es Design nur als Import. paper“ und „I-D“ aus England gelten nach wie vor als intellektuelle Avant- Klose: Zur kulturellen Verständigung innerhalb und gardemagazine. Neue deutsche Mode- außerhalb Europas, welche Rolle spielen die Medien, journale sind international geprägt und können die Medien spielen? fast durchweg zweisprachig – deutsch Loschek: Theoretisch kommt dem Modejournalismus und englisch. Aber ihre Auflagen sind durch seine Beurteilung von Neuem eine große Verant- bescheiden, ihr Erscheinen oft nur vier- wortung zu. Da jedoch Mode als „populäre“ Kultur an- teljährlich. Zu den schon etablierten gesehen wird, ist ein Fachwissen zu wenig vorhanden. Newcomern „Achtung“ und „Deutsch“ Der britische Psychologe Edward de Bono erkannte, dass kommen Magazine wie „WeAr“, „Hek- Menschen dazu neigen, nicht vertraute Situationen in mag“, „Zoo Magazine“, „ModeDepe- vertraute Elemente zu zerlegen. Der Versuch, eine neue che“, „berliner“ (ausschließlich in Eng- Mode zu erklären, erschöpft sich großteils in der Verwen- lisch) und „Liebling“ (eine Zeitung); dung vertrauter Muster, weshalb häufig die Meinung von fast alle erscheinen in Berlin. Retro-Looks entsteht. Es gilt auch im Modejournalismus Neues neu zu interpretieren. Wünschenswert ist nicht Loschek: Welche Möglichkeiten bietet nur, Form und Material einzelner Kleider zu nennen, das Internet für die Mode? Klose: Damit wird ein sehr weites Feld angesprochen. Lassen Sie mich kurz auf das Internet als virtuelle Mo- deplattform eingehen. Das Internet bie-

256 tet einen sekundenschnellen, interkulturellen Einblick Kunst|A rchitekt ur|Mode in das Modeschaffen in den Metropolen und suggeriert ein vermeintliches Verstehen dessen, was gerade in, hip oder top ist. Was auch immer weltweit auf dem Lauf- steg gezeigt wird, kurze Zeit später ist es global abruf- bar. Doch was präsentiert wird, ist die Medienbühne der Mode, nicht die Mode selbst. Es ist eine flache Bildwirk- lichkeit mit scheinbarer Bildwahrheit, meist in Abwe- stündigen Shopping-Erlebnisses: Was senheit von Wortsprache. Der Bildschirm kann keinen beim Vorüberspazieren gefällt, kann sensuellen Zugang schaffen, die subtile Qualität des Desi- umgehend über das Berühren der inter- gns, die haptisch-taktile Materialität, die Bewegung der aktiven Glasoberflache gekauft werden, Kleidung am Körper, der Tragekomfort, alles bleibt nur selbst wenn das Geschäft geschlossen ist eine Ahnung. Das Internet ist ein globaler Bildinformati- – Lieferung frei Haus am andern Tag. onsträger der Mode, eine Form der Reproduktion, die das Original und das Erleben des Originals allerdings nicht Loschek: Und wie sehen Sie den Ein- ersetzen kann. fluss von Fernsehen, vor allem von Mu- Lokal designed – global abrufbar – lokal „gelesen“ und siksendern wie MTV? interpretiert – der Ort hat sich verflüchtigt und ist ersetzt Klose: Das Fernsehen geht in seiner durch die eigene kulturelle Sichtweise. Das Internet als Wirkung noch weiter, es spielt und Wirtschaftsmultiplikator allerdings hat dem Modedesign lebt uns Lifestyle und Kulturkreise vor neue Dimensionen eröffnet, besonders den jungen auf- und wird dadurch zum Katalysator von strebenden Designern, die es als Präsentations- und Ver- Moden, wie es einst Hollywood in sei- kaufsplattform nutzen. Damit hat der E-Commerce seine ner Goldenen Ära tat, die Fernsehserie ursprünglichen Zugangsbereiche verlassen, ist seinem „Dallas“ in den 80er Jahren oder „Sex Image als cheap common commerce entwachsen und hat in the City“ in den vergangenen Jahren. sich als virtuelles Schaufenster für Luxus- und Design- Es ist eine sehr eigene Form des Kultu- produkte profiliert und etabliert. Yoox, im Jahr 2000 ge- rerlebens bzw. der Kulturbegegnung: gründet, wurde ein Scheitern vorausgesagt – heute ist es mal der US-amerikanische (American eine der erfolgreichsten virtuellen Verkaufsplattformen Hardcore – 2006, American Beauty von Designer- und Luxusmodemarken im Internet. In- – 1999), mal der chinesische Lifestyle zwischen präsentieren sich auch Designhäuser mit eige- (In the Mood for Love - 2000, Fleurs de nem, virtuellem Ladentisch auf den hauseigenen Web- Shanghai - 1998, Goodbye my Concubi- sites, wie das italienische Label Marni oder der Pariser ne - 1993 etc.) zu Gast in europäischen Avantgarde-Lifestyle-Shop Colette. Das bedeutet inter- Wohnzimmern. kulturelles Einkaufen ohne Parkplatzsorgen. Das inter- Zum visuellen Subkultur-Surfen aktive Schaufenster von Polo Ralph Lauren auf Madison lädt MTV oder auch VH1 ein, ob Rap, Avenue in New York garantiert eine andere Art des 24- Hip-Hop, Elektro, die ausgestrahlten Musikvideoclips haben inzwischen die Wirkung von Modewerbespots mit Mu- sikuntermalung. Und da wundert es Zum einen steht europäische Markenmode, auch nicht, dass MTV seit drei Jahren wie im Falle der erwähnten französischen über eine eigene Modeplattform mit jährlicher Modenschau, „Designerama und italienischen, aber auch der englischen on stage“, verfügt. Nationale und in- Luxusmarken wie Burberry oder der Schwei- ternationale Jungdesigner können ihre zer Designcouture Akris, für Prestige. Zum extravaganten Designs online präsentie- anderen steht sie, wie beispielsweise Boss, Escada, Bogner oder Pringle of Scotland, für hohe Qualität.

257 Kunst|A rchitekt ur|Mode Loschek: Das Schaufenster der europäischen Mode ist der Einzelhandel. Was allerdings im internationalen Rampenlicht präsentiert worden ist, ist nicht unbedingt in den Auslagen wieder zu finden. Wie ist das zu erklä- ren? Klose: Der Einzelhandel „repräsentiert“ seine selek- ren und vermarkten. Gleichzeitig dient tierte Modeauswahl dem Endverbraucher und wird da- dieser Avantgardeshowroom als Outfit- durch unweigerlich zum „wirtschaftlichen“ Kurator der Archiv für die Auftritte der hauseigenen Mode – eine Rolle, die nicht zu unterschätzen ist, ähnlich Moderatoren. Die Designunikate aus wie die der Modejournalisten. Auch die für den inter- der MTV-Designerama-Kollektion sind nationalen Markt hergestellte Mode unterliegt immer inzwischen zu begehrten Sammelob- noch stark der lokalen und kulturellen Selektion durch jekten geworden. die Einkäufer. Der Handel „filtert“ und der Kunde setzt Dass die Verbindung von Musik, gleich: was im Laden hängt, ist unweigerlich Mode, was Look und Mode eine enorme kulturelle nicht im Laden hängt, kann deshalb auch keine Mode Durchsetzungskraft haben kann, haben sein oder existiert nicht. bereits die Beatles in den 60er Jahren Die gängigen Strategien des Modemarketings un- bewiesen. terstützen diese lokale Polarisierung der Mode und verengen dadurch die Möglichkeiten einer breiteren, Loschek: Sowohl Popmusik und kulturellen Diffusion. Denn dort, wo das mondäne, Mode, als auch Sport und Mode vermit- kosmopolitische Klientel angesiedelt ist, haben auch die teln ein sehr globales Bild. Popmusik Flagshipstores und Franchising-Niederlassungen der in- und Sport haben in der amerikanischen ternationalen Designer- und Modemarken zu sein, und Modekultur und somit auch im ameri- so drängeln sie sich auf den einschlägigen Einkaufs- kanischen Design einen hohen Stel- straßen der internationalen Metropolen. Dass es auch lenwert, wie sieht es in Europa aus? Ist anders geht, hat die Engländerin Rita Britton mit ihrer nicht Adidas ein gutes Beispiel dafür? Avantgardeboutique „Pollyanna“ in Barnsley, einer eher Klose: Der deutsche Sportmodeher- unbekannten wie unscheinbaren Industriekleinstadt in steller Adidas zeigt, dass das Konzept South Yorkshire in Mittelengland bewiesen. Internatio- international erfolgreicher Mode in in- nal renommiert für ihre Auswahl an Mode und Modede- terkulturellen Designsynergien liegt. Die sign, repräsentiert sie auf über 500 Quadratmetern nicht in Mittelfranken (Herzogenaurach) an- nur ausgewählte Kollektionen weltbekannter, etablierter sässige, internationale Sportmodemarke Designer, sondern auch junge neue Avantgarde wie Paul kooperiert global mit Designern. Im Ok- Harnden oder das italienische Label Carpe Diem. Seit tober 2002 begann die Zusammenarbeit fast vier Jahrzehnten zählt sie nicht nur zu den führen- mit dem japanischen Modedesigner Yohji den, sondern auch zu den ältesten unabhängigen Mode- Yamamoto für die Kollektion Adidas Y- geschäften weltweit und ist bekannt für ihren internati- 3, die bei den Prêt-à-Porter-Schauen in onalen Kundenkreis, der eben nicht nach London, Paris Paris präsentiert wird. Zusammen mit oder Mailand reist, um internationale Mode zu kaufen, der britischen Modedesignerin Stella Mc- sondern nach Barnsley. Ein anderes, neues Verkaufskon- Cartney wird Designsportmode für Lau- zept ist das der flexiblen, mobilen Verkaufsfläche, die fen, Fitness und Schwimmen entwickelt. entweder internationalen Kulturereignissen wie Kunst- Die Kooperation mit der amerikanischen happenings oder Avantgardemusikfestivals folgt oder Sängerin Missy Elliot, erster weiblicher kurzfristig in städtischen Szene- oder Trendvierteln auf- Superstar der US-HipHop-Szene, hat taucht. sich währenddessen auf unterschiedliche Kollektionslinien von urbaner Sportklei- dung über Streetwear-Style bis hin zu moderner Hip-Hop-Mode ausgeweitet.

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Das vom japanischen Designerla- den Modejournalisten als Flops der Saison betitelt wer- bel Comme des Garçons erstmals in den. Berlin präsentierte Konzept des „Gue- Das Gedrängel auf einen Modenschaulistenplatz ist rilla-Stores“ setzt auf Unberechenbar- groß und fast nicht mehr zu bewältigen. „Paris ist das keit – Mode als revolutionäre, urbane Opfer seines Erfolges!“, konstatiert Didier Grumbach, Untergrundbewegung mit taktischer Präsident der französischen Fédération de la Couture du Flexibilität und dem Einsatz von Über- Prêt-à-Porter: 84 Modenschauen in nur acht Tagen – ein raschungseffekten. Damit bekommt Modeparcours, der eigentlich nicht mehr zu bewälti- Exklusivität eine neue Definition. Ab- gen ist. Für junge, aufsteigende Designer, die nicht auf hängig von Mundpropaganda muss die dem offiziellen Modeterminkalender verzeichnet sind, Avantgardemode schnell „entdeckt“ ist es sehr schwierig, während dieser Zeit internationale werden, bevor sie wieder „verschwin- Beachtung zu finden. Es gibt bereits die ersten Überle- det“. Das italienische Modehaus Prada gungen, jungen europäischen wie auch außereuropä- (Improbable Classics) platziert sich etwa ischen Nachwuchsdesignern eine Präsentationsplattform mit einer temporären 10-Tage-Bou- während der zweimal jährlich stattfindenden Haute-Cou- tique-Installation auf der renommierten ture-Schauen zur Verfügung zu stellen. Im Januar 2007 Kunstmesse Art Basel, der größten Mes- wurden erstmals junge europäische Kreative eingeladen, se für Zeitgenössische Kunst mit einer die sich bereits durch ihre kreativen Unikatskollektionen eigens zusammengestellten Kollektion, oder limitierten Kleinserien einen internationalen Na- limitiert durch das Modeetikett Basel men gemacht haben, wie beispielsweise Boudicca (Eng- 2006. land), Cathy Pill (Belgien) oder Felipe Oliveira Baptista Mit diesem innovativen Konzept der (Portugal). mobilen Designerboutique als Kunst- Um auf den zweiten Teil Ihrer Frage zu kommen: Ge- installation stellt sich die Modemarke- rade der japanische Markt ist ein hoher Wirtschaftsfak- tingfrage nach dem optimalen Standort tor, wenn es um die Umsatzzahlen europäischer Jung- auf ganz neue Art. designer im außereuropäischen Ausland geht. Die Lust und der Mut der Japaner zum „Fun Fashion“ spiegelt eine Loschek: 1981 war es ein Muss für ja- große Offenheit für die Avantgardemode aus Europa wi- panische Designer nach Paris zu gehen, der. Allerdings wirkt die wirtschaftliche Designbegeiste- um sich einen Namen zu machen, heu- rung für europäische Mode in Japan nicht unbedingt zu- te ist es umgekehrt. Dennoch ist Paris rück ins Ursprungsland: ein medialer Bekanntheitsgrad – mehr denn je – das Zentrum für die in Japan lässt keinen Rückschluss darauf zu, demnächst kreative Avantgardemode. Wie schwie- auch als Newcomer-Star die europäische Modeszene ero- rig ist es für junge Designer, auf dem bern zu können – noch nicht. europäischen Markt Fuß zu fassen? Klose: Als Schlusspunkt im fast ein- Loschek: Aber an Präsentationsmöglichkeiten scheint monatigen internationalen Moden- es der Internationalen Mode nicht zu fehlen. Es gibt schaumarathon hat Paris tatsächlich heute weltweit bereits an die 40 nennenswerte Fashion einen besonderen Stellenwert! Hier Weeks, jedes Jahr kommen einige dazu. Sollten junge werden die endgültigen Bestellungen der weltweit angereisten Einkäufer ge- troffen, hier wird entschieden, welche Kollektionen favorisiert und welche von

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Designer dann nicht auf andere Mo- na (Nanjing) oder die Pariser Stoffmesse Première Vision destädte bzw. Modewochen ausweichen? als Première Vision International Shanghai. Die Dessous Könnten die „Fashion Weeks“ die Pari- China und Fashion China (Shanghai) werden von der ser Defilées nicht sogar entlasten oder IGEDO Düsseldorf organisiert und ausgerichtet. in die Schranken weisen? Klose: Die Mode kennt keine natio- Loschek: Das führt mich zurück auf den asiatischen nalen Grenzen, und viele Modedesigner Markt. Frau Klose, Sie haben sowohl in London, Paris als zeigen ihre Kollektionen nicht dort, wo auch in Shanghai Modedesign gelehrt. Welchen Stellen- sie entstehen. Es spricht nichts gegen wert hat die europäische Mode in der asiatischen Welt? ein Ausweichen, solange die Jungdesi- Klose: Die europäische Mode hat einen sehr hohen gner den Zeitrahmen von Präsentation Stellenwert, besonders im Luxussegment der Mode. Wirt- – Bestellung – Produktion – Ausliefe- schaftsprognosen sehen China in den nächsten zehn Jah- rung einhalten können. Je später die ren zur zweitgrößten Luxusnation hinter Japan aufstei- „Fashion Weeks“ liegen, desto schwie- gen und damit die USA auf den dritten Rang verweisen. riger wird diese organisatorische Zeit- Mit einem eurozentrischen Verständnis von Luxus planung. sprechen wir von einem Prozess des wirtschaftlichen Der inzwischen fast inflationäre Wachstums, vom Angleichen des Lebensstandards. Aber Boom von „Fashion Weeks“ zeigt, wie es geht auch um das Angleichen von kulturellen Konno- sehr die Mode eine öffentlich-kulturelle tationen und damit um eine interkulturelle Annäherung: Plattform bzw. das mediale Schein- Luxus, ursprünglich geprägt vom historisch-imperia- werferlicht sucht. Zur Aufgabe dieser listischen Verständnis, hat eine markante Zäsur während Fashion Weeks, sei es in Indien, Buenos der Kulturrevolution erfahren: traditionell als negative Aires oder Australien, gehört es, die na- Assoziation angesehen, wird sie gleichgesetzt mit Irritati- tionalen Jungdesigner und damit die na- on und Unruhe, Luxus als Kontrahent zu Genügsamkeit tionale Mode- und Textilherstellung zu und Einfachheit. Gebühren sollte er den Älteren als Zei- fördern und ins weltweite Blickfeld zu chen des Respekts. Das Bild heute hat sich in das exakte rücken. Bis auf einige Ausnahmen sind Gegenteil umgedreht: Luxus ist produktorientiert und die meisten dieser Modewochen staat- wird mit Konsum gleichgesetzt. Nicht die Älteren haben lich gefördert und vertreten damit auch ihn als Vorrecht, sondern die junge, verwöhnte Genera- die wirtschaftlichen wie kulturellen tion der Einzelkinder. Wir sehen das schnelle technische Landesinteressen. Wachstum, die rasende Geschwindigkeit, mit der sich die Internationale Modefachmessen, wie asiatische Modeindustrie entwickelt. Auf was weniger ge- beispielsweise die Berliner Avantgar- achtet wird, ist das kulturelle Verständnis dessen, was in demodemesse Bread & Butter, die in China wirtschaftlich passiert. diesem Jahr ihren Ausstellungsschwer- punkt definitiv von Berlin nach Barce- Loschek: Wie sind die Chancen für junge chinesische lona verlegt hat, arbeiten mit überregio- Avantgardedesigner auf dem eigenen Markt? nalen Modeausstellungskonzepten und Klose: Der chinesische Markt ist sehr westlich orien- sind daher sowohl in Berlin wie auch tiert, das Vertrauen in europäische Produkte scheint grö- in Barcelona vertreten, sie erhalten sich damit eine hohe, internationale Flexibi- lität, so auch die Ispo München (Inter- nationale Sportfachmesse), die Ispo Chi-

260 ßer zu sein als in eigene. Leider führt Kunst|A rchitekt ur|Mode das dazu, dass die eigene Kreativ- und Designszene kaum wahrgenommen wird, es sei denn, sie wird medienwirk- sam in Szene gesetzt, so wie es der Desi- gner Kun Lu zu tun weiß. Yiyang Wang mit den beiden Kollektionen Zuczug und Changang bleibt unauffällig, wird Klose: Eines der größten Hindernisse auf dem Weg aber als Insidertip gehandelt. zum kulturellen wie wirtschaftlichen Austausch zwi- schen Europa und der chinesischen Handelsnation ist Loschek: Und umgekehrt, wie sind die der mangelnde Rechtsschutz von Marken, Design und Chancen für westliches Modedesign auf Patenten, beziehungsweise der explizierte Verstoß gegen dem asiatischen Markt? das Urhebergesetz. Anfang des Jahres ging die trium- Klose: Das westliche Modedesign, phale Meldung durch die Schlagzeilen, dass erstmals die besonders das der französischen und europäischen Modehäuser Burberry, Chanel, Gucci, Pra- italienischen Luxusmarken, ist in der da und Louis Vuitton ein gemeinsames Prozessverfahren asiatischen Konsumwelt sehr gefragt, gegen Produktfälschungen am Zivilgericht im Peking ge- allerdings mit modifizierter Passform wonnen haben. Damit wurde erstmals erfolgreich gegen aufgrund unterschiedlicher Körperpro- die Produktpiraterie vorgegangen. Sie ist inzwischen zu portionen. Das Haus Givenchy verfügte den dringlichsten Angelegenheiten geworden, nicht nur über ein zweites, „asiatisches“ Schnit- auf Europaebene (Euratex - Brüssel), sondern auch auf tatelier (Givenchy Boutique) in Paris, internationaler. Die Modeverbände Italiens, Frankreichs andere Häuser kooperieren mit in Asien und der USA arbeiten an einem neuen Gesetzesvorschlag ansässigen Lizenznehmern (Givenchy zum Urheberschutz von Modedesign und Modedesignmo- Japan, Dior Japan). dellen, der dem US-Kongress vorgelegt werden soll. Auch In den letzten Jahren ist der chine- und besonders wird von der chinesischen Regierung ein sische Markt stark ins wirtschaftliche Entgegenkommen erwartet, da das chinesische Rechts- Interesse gerückt – die Nachfrage aller- system immer noch sehr lückenhaft ist. Didier Grum- dings nach standardisierten Körperma- bach, Präsident der französischen Fédération de la Cou- ßen und Größennormierungen bleibt ture du Prêt-à-Porter, vertritt an dieser Stelle einen sehr unbeantwortet, da nicht vorhanden. Vor deutlichen Standpunkt: „Solange nicht klare juristische wenigen Monaten hat nun das China Richtlinien vorliegen, kann ich keinem europäischen National Institute of Standardization Designer raten, sich auf den chinesischen Markt vorzu- (CNIS) in Kooperation mit Lectra be- wagen!“ gonnen, den chinesischen Konsumenten in mehr als zehn verschiedenen Pro- Loschek: Gibt es Chancen für chinesische Designer auf vinzen digital zu Leibe zu rücken. Die dem europäischen Markt? mit Hilfe des 3D-BodyScan ermittelten, Klose: Die asiatische Mode ist bereits gut durch japa- durchschnittlichen Standardwerte der nische oder auch südkoreanische Designerkollektionen chinesischen Körperproportionen (je in Paris vertreten. Anfang Oktober 2006 hat erstmals nach Altersgruppen) sollen zur landes- in der Geschichte der Pariser Modenschauen ein chine- weiten Angleichung von Größensätzen sischer Designer (Frankie Xie aus Peking) seine Kollekti- in der Bekleidungsindustrie führen. on Jefen im Rahmen der offiziellen Prêt-à-Porter-Moden- Selbst die Auto- und Möbelindustrie hat schauen in Paris vorgestellt. Der in Hangzhou und später bereits um die Statistiken angefragt. am Bunka College Tokio ausgebildete Modedesigner hat vor sechs Jahren seine Designerkollektion in Peking be- Loschek: Markenrechte – Produktpi- raterie – Urheberschutz von Modedesign sind aktuell heikle Themen, was meinen Sie dazu?

261 Kunst|A rchitekt ur|Mode das ModeMuseum in Antwerpen oder das Groningen Museum (NL) sammeln und stellen Designermode regelmäßig aus. Abgesehen davon bringen Modeaus- stellungen den hohen konzeptionellen, künstlerischen und handwerklichen Stellenwert von Mode einem breiteren gonnen und präsentiert seitdem auf der Publikum näher, als dies durch elitäre dortigen „Fashion Week“. Die Kollekti- Modenschauen der Fall ist. on ist erfolgreich mit etwa zwanzig ei- Klose: Ich kann Ihnen da nur bei- genen Boutiquen auf dem chinesischen pflichten. Die Notwendigkeit dieser For- Markt vertreten. Für März 2007 haben derung zeigt bereits erste akademische sich bereits weitere chinesische Desi- Ansätze, die es weiter auszubauen gilt: gner für den Pariser Laufsteg angekün- Seit gut einem Jahr hat die Universi- digt; Ekseption aus der Provinz Kanton ty of Arts London das Kuratieren von präsentiert bereits auf der Fashion Week Mode in ihr Masterprogrammangebot in Shanghai. aufgenommen (M.A. Fashion Curating). Loschek: Welches Fazit ziehen Sie? Andere europäische Universitäten bzw. Hochschulen weiten das Studienange- Klose: Es sind jetzt verschiedenste As- bot Curating auf die Bereiche modernes pekte wie auch Faktoren benannt oder Design bzw. moderne Kunst aus und kurz angerissen worden, die die Vielfäl- arbeiten an neuen Vermittlungsformen tigkeit und Vielschichtigkeit der Mode wie beispielsweise virtuellen Foren. sowohl als europäisches Kulturgut wie Gerade auf akademischer Ebene sind auch als internationalen Industrie- und innovative Ideen für einen erweiterten Handelssektor widerspiegeln. inter- und transkulturellen Austausch Frau Loschek, was ist aus Ihrer gefragt – erste Ansätze zeigen sich be- Sichtweise notwendig, um den kultu- reits in länderübergreifenden E-Lear- rellen Austausch und Dialog in den Mit- ning-Programmen. Die staatlichen Aus- telpunkt zu rücken? bildungssysteme für Mode sind häufig Loschek: Um Mode sowohl als Kul- an ihre landeseigenen Statuten gebun- turgut, als auch als Designprodukt ins den und stehen z.B. in Sachen Lehr- Bewusstsein zu bringen, ist es zwin- programmänderungen der Flexibilität gend notwendig, außergewöhnliches privater Ausbildungssysteme nach. Eine Modedesign sowohl in Museen für Kul- Hemmung, deren Lockerung wün- turgeschichte, als auch in Designmu- schenswert ist. seen zu integrieren. Damit bekommt die kreative Mode die Möglichkeit, Ingrid Loschek ist Professorin für Modege- sich vom reinen Kommerz und der im schichte und Modetheorie an der Hochschule für Gestaltung in Pforzheim, außerdem Auto- Nahen und Fernen Osten hergestellten rin zahlreicher Modefachbücher in München. Massenmode zu entkoppeln und sich Sibylle Klose M.A. Fashion (CSM) ist diplo- in ihrem ästhetisch und konzeptionell mierte Designerin und Professorin für Mode stark europäisch orientierten Design zu an der Hochschule für Gestaltung in Pforz- präsentieren. Darüber hinaus müssen heim; sie lebt und arbeitet als freiberufliche Modedesignerin in Paris. Modeausstellungen in der gleichen Viel- falt wie Kunstausstellungen in Europa kuratiert und weltweit gezeigt werden. Nur wenige Museen, zum Beispiel das Musée des Arts Décoratifs in Paris, das Victoria and Albert Museum in London,

262 Modewelt –Weltmode Große Mode hat europä- ische Namen, doch wie europäisch ist diese Mode noch? Im Zeitalter transnationaler Konzerne wer- den große Teile der Wertschöpfungskette in Billiglohnländer mit fragwürdigen Sozialstan- dards verlagert. Mit seiner Mode verkauft Europa nicht nur Kleidung, sondern einen Lifestyle mit hohem Imagefaktor. Doch zu welchem Preis? Von Daniel Devoucoux

ge. Wolfgang Joop eröffnet die Pariser De- filees mit seiner Biedermeier-Punk-Kol- lektion “Wunderkind“ – deutsche Mode wird zum Trend.

Identität und Konsum

Ein Modestück ist heute ein Alltagsge- genstand, und spätestens vor dem Spiegel müssen wir dazu Stellung beziehen. Es geht nämlich darum, wie wir uns selbst betrachten und wie wir uns vor der Welt präsentieren wollen. Mode ist ein Bild von uns, ein dynamisches Bild unseres Kör- er sagt, dass Mode weltfremd pers. Mode existiert, um gesehen zu wer- ist? Mit gedeckter Farbe und den – dies ist sozusagen ihre Hauptrolle Wstrengen Linien spiegelt sie – und braucht daher ein Publikum. das Weltgeschehen auf dem Laufsteg wi- Ein Modestück ist heute vor allem ein der und „weckt Sehnsucht nach Sicherheit Konsumgut wie jeder andere Gegenstand, und Ordnung“. „Wer Zeitungen liest“, genauer betrachtet aber weit mehr, weil sagt Karl Lagerfeld, „dem fällt nichts in es unmittelbar und permanent mit dem Rosa ein.“1 In Deutschland sorgte hin- Körper verbunden ist. Beide werden sym- gegen das Phänomen Anastacia für gute biotisch wahrgenommen. Nicht die Klei- Laune.2 Der Popstar aus Los Angeles dung ist modisch, sondern die Person. sollte die neue Modelinie „Anastacia by Mode kann aber ebenso einen Abstand S.Oliver“ präsentieren. Das Konzept, un- markieren: Abstand vom Umfeld, von den bekannte Modemarken wie S.Oliver aus Anderen oder von sich selbst. Die Bezie- Rottendorf bei Würzburg mit berühmten hung zur Mode ist ein langfristiger Pro- Stars zu verbinden, kommt aus Amerika. zess und beginnt in der Kindheit. Das Ausgehend von den Modebühnen oder der Interesse für ein Kleidungsstück fängt Straße überschwemmen in jeder Saison nicht erst mit dem Tragen an. Schon beim ganze Bildwellen unsere Alltagswelt. Und Einkauf entwickelt sich eine erste Bezie- im Herbst 2006 zeigt Deutschland Flag- hung zur Mode. Lustgefühle werden in

263 Kunst|A rchitekt ur|Mode und kulturellen Ordnung der globalen Gesellschaft zu tun. Die markantesten Spuren hat sie im Bereich des Medialen hinterlassen, so dass eine Geschichte der Mode zugleich auch Mediengeschichte schreibt. Mode stellte heute für die Kulturanth- Luxusgeschäften und Warenhäusern wie ropologen eine Körpertechnologie dar, auf dem Flohmarkt oder in Secondhand- für die Designer ein kreativ-künstleri- Geschäften geweckt. Das Einkaufen alter sches Verfahren, eine Weltanschauung Modestücke wird oft sogar zum erinne- und ein Geschäft, für die Soziologen ei- rungsprägenden Erlebnis. nen sozialen Prozess, für die Industrie Unser Modeverhalten bringt uns in Er- einen Produktionsvorgang, für den Han- innerung, wie sehr heute der Konsum die del ein Netzwerk finanziell lukrativen Kultur prägt. Die Mode gilt als einer der Austauschs, für Kinoregisseure ein fil- wichtigsten Konsumparameter. Ob Mode- misches Mittel, für die Medien ein Event konsum zuerst Mode, dann erst Konsum – und für kriminelle Organisationen eine ist oder umgekehrt oder beides zugleich, nicht zu unterschätzende Parallelwirt- bleibt offen. Jedenfalls geht das nach dem schaft und effiziente Geldwaschanlage. Krieg verbreitete Wort Konsum auf das la- Die Mode besitzt also viele Leben, je nach teinische „consumere“ zurück, das „ver- Perspektive verändert sich ihre Wahr- brauchen“ im Sinne von „gebrauchen“ nehmung. Nicht nur Stylisten, Laufste- meint, und andererseits birgt es auch ge, Models, Frisuren, Kosmetiker, Photo- den Sinn von „consumare“, was „vervoll- graphen, Agenturen oder „Petites Mains“ kommnen“ oder „vollbringen“ bedeutet. machen Mode, sondern Trendbüros, Me- Eine zwiespältige Sache also. Der Begriff dienwelten oder große Handelsketten. Mode stammt von „modus“ und ist älter. Mit der Mode verändern, ja verwandeln Noch um 1690 meinte „Mode“ zunächst wir uns. Jeder kennt die Szene aus „Pretty nicht Kleidermode, sondern eine Sitte, Women“, als Vivian Ward (Julia Roberts) eine Lebensart oder eine bestimmte Art, nach ihrem Misserfolg beim Modebum- Dinge anzufertigen.3 In den folgenden mel am Tag zuvor nun mit ihrem Prinzen Jahren vollzog sich ein Wandel, in dem Edward Lewis (Richard Gere) und einer der Begriff sich zur Kleidermode hin ver- soliden Kreditkarte sich in einer feinen festigt, allerdings ohne ihr ein Monopol Boutique des Hollywood-Boulevards ein- einzuräumen. Dies bedeutet aber nicht, kleiden lässt. Dies stellt die erste Stufe dass „Mode“ zuvor nicht existierte. Für ihrer Verwandlung von der Trash-Pros- die meisten Historiker taucht sie mit der tituierten zu einem Musterbeispiel des Schneiderkunst und der Schnitttechnik Modekonservatismus dar. Daher wird als technologischem Grundprinzip im die Mode auch von den einen als Maske- europäischen Hochmittelalter auf. Mode besitzt eine historische Dimension und einen geografischen Hintergrund. Sie Mode besitzt eine historische ist als Kleidungsphänomen eine europä- ische Erfindung, die sich aus einer pro- Dimension und einen geogra- gressiven Veränderung des Blicks entwi- phischen Hintergrund. Sie ist ckelt hat. als Kleidungsphänomen eine Dieser Wandel hat sowohl mit den im- europäische Erfindung, die sich mer komplexeren Großstadtstrukturen und der wirtschaftlichen wie technischen aus einer progressiven Verände- Entwicklung als auch mit der sozialen rung des Blicks entwickelt hat.

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rade betrachtet. Für andere stellt sie ein Stempel der Modernität Medium dar und wie alle Medien ist sie konstitutives und dynamisches Element Die heutige Mode ist – zumindest in der Kultur, das erst dazu beiträgt, sie zu Europa und Nordamerika - eine neuar- konstruieren. tige Verbindung mit der Technologie ein- Der soziale Mensch ist ein bekleide- gegangen, die zum wichtigsten europä- ter Mensch. Die Lust und der Anspruch, ischen Standortvorteil geworden ist. Aus den Körper zu gestalten sind ein Schlüs- dieser Verbindung entsteht zugleich eine sel zur Erfindung und Produktion des visuelle Kultur, die neue Sichtweisen bis Sozialen. Dabei dient Mode als subtiler in den Modebereich hinein erzeugt. Verhandlungsraum wirtschaftspoli- Lange wurde Mode ausschließlich tischer, moralisch-religiöser, sexueller, mit den Modedesignern in Verbindung ethischer, soziokultureller, alters- oder gebracht. Zwar steht die Designermode genderspezifischer Natur. Von allen wird noch im Mittelpunkt der Modediskurse, die Mode als Kommunikationsmittel be- schon allein wegen ihres hohen Reprä- trachtet und Kommunikation besteht zu sentationswertes, doch sie hat ihr Mo- 80 Prozent aus nonverbalen Elementen. nopol verloren. Die verschiedenen Mode- Abgesehen davon besitzt Mode, je nach tendenzen und Trends sind zu hybriden Kontext und Situation, eine narrative Formen verwachsen und entstammen Aussagekraft, die eng an den Träger oder unterschiedlichen soziokulturellen Räu- die Trägerin sowie an ihr kulturelles Um- men. Der große Unterschied liegt dar- feld gebunden ist. Unter Mode ist alles zu in, dass die Designer- und Stylistenmo- verstehen, was mit dem Aussehen und de heute noch handgefertigte Unikate Erscheinungsbild einer Person zu tun kreiert, während andere Modestile auf hat: Kleidungsstücke, Fuß- und Kopf- die serielle Produktion angewiesen sind, bedeckungen, Kosmetik, Bart, Haare und was allerdings nichts über die Origina- Frisuren, Accessoires, Schmuck, darüber lität besagt. hinaus Körperhaltung und Körperspra- Designermode ist zum Stempel der che. Man spricht hier von Lebensstil, ja Modernität geworden. Abgesehen davon von Lebensgefühl und Lebenswelt. We- wurde die westliche Mode selbst während niger wichtig als das Image ist also der ihrer ganzen Geschichte von Elementen Gebrauchswert bei Mode – wenngleich des Fremden durchdrungen, wie bereits Bequemlichkeit, Verarbeitung und Preis im Mittelalter durch den Import erlesener eine Rolle spielen. Auch die Position der Stoffe (wie Damast und Seide) oder Ele- Betrachter ist nicht neutral. In diesem menten für Farben (wie Henna, Indigo kommunikativen Schema spielen auch oder Safran). Die europäische Dimension Nähe und Distanz, Bewegungen oder des Phänomens Mode ist also von vorn- Körperbau- und Körpersprache eine Rol- herein relativ. le. Im Gegensatz zu früheren Epochen Die heutige Vernetzung auf lokaler aber ist heute das westliche Individuum und globaler Ebene stellt kein neuar- allein zuständig für die Verwaltung sei- tiges Phänomen dar, sondern schreibt ner Looks, seiner (Selbst)Bilder und sei- geschichtliche Prozesse fort. Der Textil- ner Lebensweise. handel geht bis in die Antike zurück und

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erzeugte kulturell bedeutsame Kommu- Und Mode beinhaltet ein Spiel sowohl nikationswege wie etwa die berühmte mit den Materialien als auch mit ihren Seidenstraße. kulturellen Bedeutungen, wie es der Mo- Neu ist die Form der Beziehung zwi- dedesigner Wolfgang Joop bei der Vor- schen lokal und global unter der allei- führung seiner Frühlingskollektion 2007 nigen Herrschaft des Markts. Dabei wäre zeigte, bei der er Parka-Jacken mit den es eine völlige Fehlannahme zu glauben, Blumendessins biedermeierlicher Sofabe- dass asiatische oder afrikanische Kulturen züge kombinierte. Gerade die kulturelle und ihre eigenen textilen Traditionen Umdeutung eines Kleidungsstücks ist ein sich mit dem westlichen Kleidungsmus- kreativer Akt. ter auch die Werte des Westens aneignen. Viel eher trifft zu, dass die Kleidungs- Technotextilien als neuer Standort- stile in die lokale soziokulturelle Matrix vorteil der Industriestaaten eingebettet, umgeformt und umgedeutet werden. Nicht nur in Indien wird „Klei- Der Imagewandel rührt heute vor allem dungsverhalten zu einer Arena, in der so- von den neuen Materialien, von Mikro- wohl individuelle als auch kulturelle Mo- fasern und Hightechtextilien her. In die- dernisierungskonflikte ausgetragen und ser Nische ist die deutsche und westeu- verhandelt werden. Und dabei wird die ropäische Textilindustrie seit einigen westliche Mode mit neuen Bedeutungen Jahrzehnten besonders erfolgreich. Sie versehen. Traditionelle Kleidungsformen verspricht sich davon einen neuen Auf- und westliche Mode werden als Optionen schwung und eine langfristige Sicherung – nicht als Alternative – gehandelt“. 4 des europäischen Textilstandorts. Mehre- Südafrikanische Kulturforscher sind re Eigenschaften machen diese Textilien davon überzeugt, „dass die kulturellen besonders attraktiv: Sortenvielfalt, Funk- Traditionen in den einzelnen Ländern tionalität, Flexibilität, Interaktivität, Pro- (Afrikas) so tief verwurzelt und so be- duktivität und Widerstandsfähigkeit. Die ständig sind, dass diese Eigenarten über- Faszination der Nanowelt gilt ebenso für dauern werden und die kulturelle Viel- Technotextilien. Die Marketingstrate- falt im Bereich der Mode auch weiterhin gien setzen dabei auf die Faszination und zu fantasievollen Kreationen“ inspirie- Aura technischer wie naturwissenschaft- ren wird.5 licher Bilder, die als neuer Mantel die „alte Designermode findet man heute nicht Mode“ eigentlich neu einkleiden. Ob der nur in Paris, Mailand, London, New York Konsument tatsächlich derart hochgerüs- oder Tokyo, sondern auch in Moskau, tete Mode, wie antibakterielle Kinderklei- Hongkong, Mumbay, La Paz, Thessalo- dung oder Sportkleidung mit Duftlotionen niki, Warschau oder Dakar. Historisch gegen den Schweiß benötigt, ist eine ande- betrachtet bildet die Mode in Europa re Frage. Der bisherige hohe Energiever- und Amerika den dynamischen Kern der brauch der Textilindustrie und die große Modernitätsvorstellungen. So kann die Belastung der Umwelt werden aber fort- Globalisierung der Mode als räumlich- gesetzt. Zu zählen scheint nur die europä- territoriale Technik wie als Instrument ische Standortsicherung, ohne Blick für der Stratifizierung verstanden werden. die globalen Folgen.

266 Modedesigner und ihre Kreationen Kunst|A rchitekt ur|Mode sind mittlerweile häufig zum Markenna- men für große Unternehmen geworden. Der italienische Luxuskonzern Prada, so die Presse vom 18. März 2006, verkaufte seine Tochtergesellschaft Helmut Lang an die japanische Gruppe Link Theory Holdings. Im Februar hatte der britische sich aber immer mehr auf eigene Marken Investor Change Jil Sanders Modeunter- wie Miu Miu zu konzentrieren. Zur It-Hol- nehmen als Tochtergesellschaft über- ding gehört Gian Franco Ferré, Finpart nommen. Diese Art von Transaktion ist Spa zählt Cerutti und weitere Marken zum heute üblich und deutet darauf hin, dass Bestand. Die Diesel-Group Movena, die die Mode längst als Gegenstand transna- auch für Vivienne Westwood und Unga- tionaler Konzerne verhandelt wird, vor ro fertigt, gehört zum Kleidungskonzern allem von westeuropäischen und ameri- Noventa usw. Die Gründe dafür sind viel- kanischen Luxusfirmen. In der Luxus- fältig: Den meisten Modeunternehmern branche sind die Marktführer ständig auf mangelt es an ausreichendem Kapital und der Jagd nach neuen Märkten. Als „Beu- aus Sicht der globalen Wirtschaftslogik te“ bieten sich vor allem kleine und mit- bleiben sie zu sehr auf die Gründerfigur telständische Unternehmen oder Häuser fixiert, oft ohne die Nachfolgerfrage zu an. Man nennt das Fusionen, aber manch- klären. mal fragt man sich, ob es sich wirklich Dennoch, die Nobelfirmen zeichnen ein um effektive ökonomische oder politische exklusives Image und eine konsequente Strategien handelt oder ob sich dahinter Qualitätskultur aus. Wenn sie in der Mar- nicht vielmehr ein klassisch männliches kenkommunikation zu regelrechten My- Verständnis von Macht verbirgt. So besitzt then und Traumbildern stilisiert werden, LVMH (Louis Vuitton Moet Hennessy) von spielt das moderne Modemarketing inter- Bernard Arnaud, dem weltweit größtem aktiv mit den Verbrauchern. Die Basis für Luxusproduzenten, u. a. Louis Vuitton, den Erfolg liegt in der Präsentation exzel- Kenzo, Donna Karan, Emilio Pucci, Cé- lenter Kollektionen, kombiniert mit einem line, Loewe, Givenchy, Berlutti und Fendi effizienten Marken- und Finanzmanage- (zusammen mit Prada), daneben noch die ment. „Richtig ist“, so Jil Sander, „dass Parfums Dior, Guerlain, Givenchy, Ken- ich einem ästhetischen Konzept folge. zo usw. Die Gruppe ist im Jahre 2001 ein (...) Ich will Mode machen, die von Drol- Joint Venture mit dem südafrikanischen ligem befreit ist. Etwas, das elegant und DeBeers-Schmuckkonzern eingegangen. modern ist, feminin, anmutig und nicht PPR (Pinaut-Printemps-Redoute) von Ber- ohne Würde.“6 Hinter einer Modemarke nard Pinaut, dem zweiten Luxusgiganten, stecken also Konzepte, die einer globalen besitzt seinerseits Gucci, Yves Saint-Lau- Vermarktung bedürfen. Trotz aller Fusi- rent, Alexander McQueen, Bottega Vene- onen bemüht man sich, die Exklusivität ta (Lederwaren), Sergio Rossi (Schuhe), und Homogenität der Luxuslabels zu be- Stella McCartney und Balanciaga. Prada wahren. Aus diesem Grund streben die mit dem Alleinherrscher Patrizio Bertelli „Edelkonzerne“ nach der totalen Kontrol- besitzt zwar Church und Fendi, versucht le, mittels Multibranding, Diversifikation und Anhäufung. Vermarktung und Distri- bution nehmen die Marktführer zuneh- Die europäische Dimension des mend selbst in die Hand, Lizenzen werden zurückgekauft. Kontrolliertes Wachstum Phänomens Mode ist von vorn- gilt in der Luxusbranche als oberstes Ge- herein relativ. bot. Eine Luxusmarke lebt von Exklusivi-

267 Kunst|A rchitekt ur|Mode sich als neues Zentrum für junge, krea- tive Designer und Stylisten. Berlin gilt als Ort bezahlbarer Eleganz. Zu Ähn- lichem kommt es in anderen Großstädten wie Marseille oder Thessaloniki und vor allem in Antwerpen, der wahren Haupt- stadt der jungen Mode. tät, auch wenn die Vorstellung von Luxus Mode verarbeitet und veranschauli- sich demokratisiert hat und neue Zielgrup- cht also quasi seismographisch die Folgen pen anspricht. Zu diesem Zwecke wird und kulturellen Transformationen der das Geschäft mit Accessoires verstärkt, Moderne. Sie illustriert die Geschwindig- das oft höhere Margen einfährt als das keit und die Reichweite des Wandels und klassische Modegeschäft. Die Mehrmar- die Veränderung im Inneren der Institu- ken-Strategie verlangt hohe Investitionen, tionen, aber auch die Widerstände und daher gehen immer mehr Firmen an die Verweigerungen. Bei ihrer Anpassung an Börse. Die Luxusbranche erweist sich als die Logik des Markts bleibt sie nicht ohne sehr konjunkturresistent, obwohl der 11. Nebenwirkungen. September 2001 eine Zäsur markiert hat. Man könnte mutmaßen, die Luxusindus- „Kollateralschäden“ trie habe es nicht nötig, in Billiglohnlän- dern produzieren zu lassen oder mit um- Am 11. April 2005 stürzte in Shahriy- weltbelastenden Verfahren zu arbeiten. ar in Bangladesch die Textilfabrik Spec- Doch Profitgier und Skrupellosigkeit sind trum Sweaters ein und forderte 64 To- hier genauso vertreten wie anderswo. Die desopfer und 74 Schwerverletzte. Der Haute Couture sorgte sich nach der Flut- Betrieb war als Ort übelster Ausbeutung katastrophe von New Orleans schon über bekannt. Schwere Verletzungen und Ver- den möglichen Mangel an Krokodilen, als brennungen waren keine Seltenheit, se- noch nicht einmal alle Menschen geret- xuelle Belästigungen üblich.7 Unterneh- tet waren. Denn 300.000 Kroko-Häute men wie Karstadt, Quelle, Steilmann, New kommen jedes Jahr zur Herstellung der Yorker oder Carrefour, die bei Spectrum Taschen, Schuhe, Gürtel oder Uhrarm- ihre Produkte herstellen ließen, verspra- bänder aus Louisiana. chen eine Entschädigung. Ein Jahr nach Daneben gibt es auch unabhängige De- der Katastrophe hatten nur drei die Zu- signer wie Giorgio Armani, der mit dem sage eingelöst. Auch Kinderarbeit unter Herrenschneider Ermenegildo Zegna schlechtesten Arbeitsbedingungen ist kei- 1999 ein Gemeinschaftsunternehmen ne Seltenheit, ein Teil gerät in eine Art gründete. Die italienische Mode gibt oh- Schuldknechtschaft.8 In vielen Textil- nehin den Ton an. In dem Land arbei- fabriken arbeiten Mädchen ab vierzehn ten mittlerweile 53 Mode- und Luxus- Jahren in Zwölfstundenschichten. Neun unternehmer, 25 von ihnen sind noch von zehn Herstellern in China, so die ONG unabhängig. Mailänder und Florentiner Clean Clothes Campaign, missachten die Modeunternehmen gehören zu den ex- internationalen Arbeitsnormen und die pansivsten in Europa. Und auch in Paris eigenen chinesischen Arbeitsgesetze.9 haben weiterhin zahlreiche unabhängige Allerdings gibt es Widerstände. In Couturiers und Modekreateure Erfolg. China gibt es seit Jahren massive Protes- Ein neues Phänomen machte sich in den te von Textilarbeiterinnen. Nachdem in vergangenen Jahren auch in Berlin be- Bangladesch bei einer Protestaktion in merkbar. Die Bundeshauptstadt, beson- der Fabrik FS Gazipur bei Dhaka – die ders die Viertel um die Kastanienallee unter anderem für die französische Su- – oft „Castingallee“ genannt –, etablierte permarktkette Auchan und den schwe-

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dischen Modekonzern H&M produziert wolle und Wolle. Jute, Seide, Bastfasern – ein Textilarbeiter von der Polizei getötet und Hartfasern machen etwa 9 Prozent wurde, kommt es im Mai und Juni 2006 der Weltproduktion aus. Damit hat sich zu heftigen Protesten. Besonders gewalt- die gesamte Textilproduktion innerhalb tätig wird es in der Freihandelszone Sa- von 40 Jahren versechsfacht. In der EU var, als die Polizei mehrere Hundert Per- liegt der Anteil der neuen Technotextilien sonen verhaftet.10 In der Industriestadt im Jahr 2006 bei gut 20 Prozent. Doch Ashulia zünden Tausende Fabriken an. während die europäische Bekleidungs- Die breite Öffentlichkeit bekommt kaum und Textilindustrie 1980 rund 4,2 Mil- etwas davon mit. Dafür machen sich die lionen Menschen beschäftigte, waren es großen europäischen und US-Beklei- 2004 nur noch gut 1,8 Millionen. dungsunternehmen Sorge über die Situ- In lokaler wie globaler Perspektive ation. Sie fordern die Regierung Bang- stellt die Mode- und Bekleidungsindus- ladeschs auf, den Streit baldmöglichst trie aus mindestens vier Gründen einen „friedlich und konstruktiv“ zu lösen. Zu interessanten Wirtschafts- und Image- den unterzeichnenden Unternehmern ge- faktor dar: hören Adidas, C&A Europa, Hennes & Erstens, weil diese Branche im Glo- Mauritz, Karstadt/Quelle, Levi Strauss balisierungsprozess eine Vorreiterrol- und Co, Nike, Carrefour, Li&Fung und le spielt. Bereits in den 70er Jahren, als Lindex.11 noch niemand von Globalisierung rede- te, begann sie mit der Produktionsver- Mode und Bekleidung lagerung. Zweitens, weil bis heute die Mode- und Was unterscheidet europäische und Bekleidungsindustrie in internationalen amerikanische Mode? Die einen spre- Handelsverträgen über eine Sonderstel- chen von Originalität, Einzigartigkeit lung verfügt. und Exklusivität (Gaultier), die anderen Drittens, weil sie durch die allgemeine von Integration und dem Bedürfnis nach Sensibilisierung für Umweltprobleme be- einem klassenübergreifenden Lifestyle sonders betroffen ist. Sie gilt als einer der (Tommy Hilfiger, Ralph Lauren, Donna größten Umweltverschmutzer der Welt, Karan). In der Produktionskette sind aber angefangen mit dem enormen Wasser- diese Unterschiede sekundär. Designer- verbrauch. mode, Bekleidung und Textilmarkt sind Und viertens, weil sie viele der (Ne- unzertrennlich. ben-)Wirkungen der Globalisierung ver- Der Mode- und Bekleidungsmarkt deutlicht. Je nach menschlichen, sozi- wächst seit Mitte des 19. Jahrhunderts. alen, kulturellen und Umweltfaktoren 2004 wurden weltweit etwa 67 Millionen gilt sie als besonders gelungen oder völ- Tonnen Textilrohstoffe produziert. Der lig gescheitert. Anteil an Chemiefasern – vor allem Poly- ester, Polyamid und PET-Fasern – hat sich Die Mode- und Bekleidungsindustrie stetig erhöht und umfasst schon mehr als umfasst heute ein breites Spektrum von die Hälfte der Welttextilproduktion, ge- Unternehmen, von den kleinen Hinter- folgt von zunehmend rückläufiger Baum- hofnähstuben bis hin zur transnatio-

269 Kunst|A rchitekt ur|Mode gegenläufige Tendenzen ausbildet, hat der englische Soziologe Roland Robertson den Begriff „Glokalisierung“ eingeführt. Die modewirtschaftliche Definition des Phä- nomens ist bescheidener und knüpft an damit einhergehende ökonomische Vor- stellungen an. Sie unterscheidet vor allem nalen Handelskette. Im internationalen zwischen der Globalisierung der Märkte Vergleich ist die deutsche und westeuro- und den Unternehmensstrukturen. päische Mode- und Bekleidungsbranche Das Welthandelsabkommen GATT, das durch eine relativ differenzierte Nachfra- seit 1947 den Freihandel sicherte, erlaubte ge charakterisiert. Rezession in Europa, auch Sonderbehandlung, die vor allem von EU-Osterweiterung, verschärfter Wett- der Mode- und Bekleidungsindustrie in bewerb, neue technologische Entwick- Anspruch genommen wurde (und sich in lungen und politische Veränderungen den Ausnahmeregelungen bis Ende 2008 haben die EU-Mode- und Bekleidungs- fortsetzt). Bis 1995 wurden den Textil- branche in den 90er Jahren massiv un- und Bekleidungsimporten aus Schwellen- ter Druck gesetzt. Mit dem auslaufenden und Entwicklungsländern in die EU und WTO-Welttextilabkommen Ende 2004, USA durch das Multifaserabkommen enge das über 40 Jahre prägend war, sind fun- Grenzen gesetzt. Die „Quoten“ sollten vom damentale Veränderungen in Gang ge- Welttextilabkommen (1995) in mehreren setzt worden. So sind theoretisch alle Stufen gelockert und schließlich aufgeho- bilateralen Beschränkungen der tex- ben werden. In der Praxis sieht es etwas tilen Massenproduktion gefallen, wovon anders aus. Die Industrieländer halten sich praktisch alle traditionellen Zentren der aber nicht an ihre Liberalisierungspolitik, Mode- und Bekleidungsindustrie in Eu- wenn sie keine Vorteile sehen. Um ihre ei- ropa betroffen sind. gene Bekleidungsbranche nicht in Gefahr zu bringen, liberalisieren sie wertmäßig Kleidungsstücke auf Reisen relativ unbedeutende Produktbereiche. Mit dieser Doppelmoral nimmt die Libe- Sportbekleidung, Jeans, T-Shirts, An- ralisierung zwar zaghaft zu, verhindert züge, Hemden und Röcke – ein Großteil aber nicht, dass Ende 2004 zwischen 70 dessen, was getragen wird, ist von einem und 89 Prozent der Quoten schlagartig regelrechten Reisefieber gekennzeichnet. wieder fallen. Das Stichwort Globalisierung ist seit den 90er Jahren ein Allzweckbegriff geworden Aus- und Verlagern und geht auf Marshall McLuhans Metapher vom „Globalen Dorf“ der Kommunikation Die Bekleidungsindustrie ist ein zurück. Der Begriff gibt unserer Epoche großes Mosaik von untereinander ver- einen Namen und hebt die weltweite Aus- bundenen handwerklichen Tätigkeiten weitung, Beschleunigung und Verdich- geblieben, in der das Nähen und Zusam- tung von Beziehungen hervor. Globalisie- mensetzen der Kleidung fast ein Fünf- rung stellt, darüber ist man sich einig, die tel der Arbeitskosten ausmachen. Dieser Bedeutung und die Souveränität des Nati- Umstand führt dazu, dass die Herstel- onalstaates sowie seines Gewaltmonopols lung in Länder mit niedrigen Produkti- und Steuerungsvermögens zugunsten des onskosten verlagert wird. Die Textilpro- Markts in Frage. Um zu betonen, dass das duktion ist dagegen ein Hightechsektor, Phänomen aber nicht einseitig zur pla- der besonders geschultes Personal und netarischen Vorherrschaft der westlichen eine komplexe technische Infrastruktur Kulturindustrie führt, sondern zahlreiche erfordert.

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Die Verlagerung in der Mode- und „fabriklose“ Firmen, konzentrieren die Bekleidungsindustrie erfolgte in meh- großen Handelshäuser eine Kaufmacht, reren Schüben. Der erste setzte ein in die ihnen enormen Einfluss auf die Be- den 50er Jahren von Westeuropa nach kleidungsfabriken sichert. Sie sind die Japan, in den 70er und 80er Jahren ging großen Gewinner der Liberalisierung und der Zug von Japan nach Hongkong, Tai- ihre radikalsten Verfechter. wan und Südkorea, und schließlich in den späten 80er und 90er Jahren wie- Ende des Welttextilabkommens derum von dort nach China, Südostasien und Sri Lanka und parallel dazu in den 2004 konkurrierten rund 160 Produk- 90er Jahren nach Mexiko und in die Ka- tionsländer in den Bereichen der Beklei- ribik bzw. Mittelamerika. Wo und wie dung, der Textilien und der Schuhe um die Produkte hergestellt werden, hängt die Gunst von drei Hauptmärkten – in von zahlreichen Parametern ab: Inves- etwa 30 Ländern. Der Beitritt Chinas in titionsanreize, Steuersystem, Möglich- die WTO (2002) verschärfte die Situati- keiten an Kapitalbeteiligung, Lohn- und on der Länder, die für den Wettbewerb Lebenskosten, Beschaffungskosten (Roh- weniger gerüstet waren. Vom Ende des stoffe, Hilfsstoffe, Betriebstoffe), Trans- Welttextilabkommens profitiert vor allem portkosten, politische Stabilität bzw. China, während die Produktion ande- Heimarbeitsproduktion, die Lage der rer Länder dramatisch zurückgeht.12 Der Menschenrechte in Off-Shore-Produkti- Konflikt führt zum Kompromissabkom- onen (Arbeitsbedingungen, Frauen- und men des 10. Juni 2005, das eine Lösung Kinderarbeitsbedingungen) usw. auf das Jahr 2008 vertagt.13 Anfang des 21. Jahrhunderts bildete Einer der großen Vorteile der chine- sich innerhalb der Globalisierung eine Art sischen – wie auch der indischen – Mode- Regionalisierung aus mit folgenden drei und Bekleidungsindustrie ist, dass sie großen Zentren: USA und Kanada mit der sämtliche Komponenten des Produktions- Karibik und Mexiko, Japan und Australi- zyklus umfasst, angefangen vom Anbau en mit Ost- und Südostasien und West- mit der Baumwolle bis hin zur Endbearbei- Osteuropa, der Türkei und Nordafrika, tung der Bekleidung samt dem Einnähen vor allem Tunesien und Marokko. Dabei der Namens- und Preisschilder. Auch ihr bleiben die wichtigen Unternehmen und Spektrum an Qualitätsmustern hat sich ausbildungs- und technologieintensiven rasch vergrößert.14 China zählt entspre- Produktionsteile in den Industrieländern chend zu den größten Importeuren von verortet. Während die großen Handels- Strickmaschinen und Webstühlen aus firmen die Abschaffung der Quoten ver- Italien, Belgien und Deutschland. Von langen, zugleich aber die Chancen des diesem Modernisierungsschub ist die Systems ausnutzen – durch zunehmende Bekleidungsindustrie aber kaum betrof- Internationalisierung ihrer Lieferketten fen. Sie besteht vor allem aus unzähligen – verlangen die Unternehmen mit eige- kleinen und mittleren Firmen, die über ner Produktion in den Industrieländern das ganze Land verteilt und in den Son- den staatlichen Schutz ihrer Produkti- derwirtschaftszonen an der südöstlichen on. Ohne eigene Produktionsstätten, als Küste konzentriert sind.15 Chinesische

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Arbeitskräfte gehören zu den billigsten um die eigene weiße Weste zu retten“.18 der Welt, Wanderarbeiter(innen) machen In der gleichen Zeit erzielen die Unter- den größten Teil aus. Chinesische Fir- nehmen Rekordgewinne.19 men interessieren sich seit einigen Jah- ren für alles, was mit Mode und Textil Produktionsstrategien zu tun hat, für englische, schweizerische, französische, ganz besonders für deut- Selbst für Karl Lagerfeld, einen über- sche Textil- und Großhandelsfirmen, vor zeugten Befürworter von Konkurrenz und allem jene mit berühmten Namen, ebenso Wettbewerb, ist „in der heutigen, sehr ka- für Firmen aus dem Textilmaschinen- pitalistischen Modewelt das ‚Spiel‘ mani- bausektor. Auch Indien oder in beschei- puliert“.20 Wie sieht dieses Spiel also aus? denerem Maße Rumänien gehören zu den Resümierend formuliert befürworten die Gewinnern der Umstrukturierung, die Strategien vor allem der Großhandelsket- andere Länder ziemlich teuer zu stehen ten eine Auslagerung der Produktion dort- kommt.16 hin, wo es am billigsten ist, verlangen die Die Ist-Löhne im Bekleidungsbereich Verkürzung der Produktionszyklen, die gehen alarmierend zurück. Besorgniser- Risikoverlagerung auf die Zulieferer und regend sind auch auf weltweiter Ebene die Minimierung der Produktionskosten. die Arbeitsbedingungen dieses Sektors. Dies führt zu aggressiven Einkaufsprak- Wer gegen die Zustände protestiert, wird tiken, die systematische Suche nach den meist bestraft, eingeschüchtert, beläs- billigsten Zulieferern, die Fabriken zu tigt, gekündigt und im manchen Fällen immer kürzeren Produktionsfristen und sogar ermordet.17 Die Arbeitszustände just-in-time-Logiken drängen. Moderne nehmen immer größere Dimensionen Technologien wie das Internet helfen den der Ausbeutung an. Die Verhaltensko- Großkonzernen. Genau definiert wird nur dizes, die einige dieser Konzerne re- noch, was, wann, wo, in welcher Quali- spektieren wollen, zeigen nur langsam tät, Farbe und Größe erforderlich ist. Es Wirkung. Zudem werden sie oft unter- gibt klare Preisvorgaben, „über die nicht graben. Wenn NGOs wie Clean Clothes verhandelt werden kann“.21 Campaign große Unternehmen wegen Dies alles bewirkt ein ausbeuterisches Sozialdumping anklagen, erfolgt die Management und einen Führungsstil, der Antwort nach einem fast standardisier- jede gewerkschaftliche Tätigkeit verhin- ten Muster: Sind die sozialen Missstände dert oder durch Einführung „schwarzer eindeutig belegt und „finden Resonanz Listen“ ausschaltet oder über die Arbeits- in der Öffentlichkeit, so verweisen die bedingungen entscheidet, so dass die Ar- Unternehmen zunächst auf firmeneige- beiter jederzeit schnell angeheuert wie ne Kodizes, die von den Zulieferern die entlassen werden können – etwa aus Mut- Einhaltung bestimmter sozialer Min- terschafts- oder Krankheitsgründen. Im deststandards verlangen. Bei anhalten- undurchsichtigen System von Zuliefer- der Kritik verweisen sie auf firmenin- und Subunternehmen spielen soziale und terne Kontrollverfahren oder kündigen ökologische Verantwortung nur für we- die vertraglichen Bindungen zu den in nige Firmen eine Rolle. Misskredit geratenen Zulieferern auf, Am Ende der Kette ist in der Tat der

272 Preis besonders hoch für die Beschäf- Kunst|A rchitekt ur|Mode tigten, vor allem in den Freihandelszo- nen. Außer meist desolaten Arbeitsbedin- gungen sind dies Gesundheitsprobleme, vor allem in Betrieben ohne Standards der Beleuchtungs-, Luft- und hygienischen Installationen, psychische und physische Bedrohungen, sexueller Missbrauch, Dis- Finanzierungsquellen liefert Thailand, kriminierung, schwere Arbeitsunfälle wo bereits Mitte der 90er Jahren Milli- und sogar Morde oder Entführungen. arden von Dollar aus dem Drogenhan- Dies ist das Unausgesprochene der Glo- del des Goldenen Dreiecks in die Tex- balisierung. Der Anteil an Frauen, die tilindustrie gesteckt und so kanalisiert als Näherinnen, Strickerinnen, Bügle- wurden.22 Dagegen wurde durch massive rinnen oder Packerinnen arbeiten, ist Billigimporte von Textilien als Mittel der derart hoch – zwischen 75 und 90 Pro- Geldwäsche des kolumbianischen Dro- zent –, dass man von einer Feminisie- genhandels die dortige Textilindustrie rung der Beschäftigung sprechen darf. um die Jahrtausendwende weitgehend Gearbeitet wird nach Akkordsystem, zerstört. bezahlt nach fertiggestellter Stückzahl. Ein Hauptmotiv, all das hinzunehmen, Falsch, frech, billig: Piraten- ist sicher der Wunsch vieler junger Frau- und Fälschermärkte en, der traditionellen Geschlechterrolle zu entfliehen. Diese aggressiven Strate- Eine andere unerwünschte Nebenwir- gien führen zur „Walmartisierung“ der kung der Globalisierung ist inzwischen Beschäftigung. So hat Bangladesch die zu einer Gefahr für die Industrie gewor- 72-Stunden-Woche legalisiert, die Phil- den: Fälschungen, Plagiate, Raubkopien ippinen haben in der Bekleidungsindus- und „Ideenklau“. Hier gerät vor allem, trie den Mindestlohn aufgehoben. Und aber nicht nur China ins Visier. So schloss auch die Chemiegiganten verdienen mit, der deutsche Textilverband im April 2006 auf den Baumwollfeldern und beim Ver- ein Abkommen mit China, um den Ide- edelungsprozess. enklau einzudämmen. Selbst der chine- sische Staatchef Hu Jintao rief 2006 auf Schattenwirtschaft in der Mode- und seiner USA-Reise zum verstärkten Kampf Bekleidungsindustrie gegen Produktpiraterie auf. Die Organisation für wirtschaftliche Der Raum der Schattenwirtschaft Zusammenarbeit und Entwicklung wird immer größer und de facto insti- (OECD) und andere Experten schätzen tutionalisiert, umso mehr als heute die die Schäden der Plagiate für 2004 auf transnationalen Unternehmern dazu ten- 450 bis 700 Milliarden Dollar, was bis dieren, die Bearbeitung ihrer Produkte zu neun Prozent des Welthandels aus- von Freihandelszonen in noch stärkere macht. Davon gehen 23,6 Prozent auf das informelle Sektoren (also eine undurch- Konto von China, 7,7 Prozent auf jenes sichtige Kette von Subunternehmern und von Hongkong. Fälschungen stammen Heimarbeiterinnen) zu verlagern. aus Thailand (23,5 Prozent), der Tür- Vom informellen zum kriminellen kei (10,2 Prozent) und Tschechien, aber Sektor ist es oft nicht weit. Komplexe Fi- auch aus Korea, Polen, Russland, Malay- nanzpläne und internationale Handels- sia, Vietnam und den USA (mit immerhin netzwerke, so Manuell Castells, binden 8,4 Prozent). In der türkischen Textil- die kriminelle Ökonomie geradezu an die industrie finden sich die weltweit größ- formelle Ökonomie. Ein Beispiel illegaler ten Markenfälscher. Im Jahr 2002 hat

273 Kunst|A rchitekt ur|Mode Ohne Verfall der Preise wäre dieses Kon- sumverhalten unvorstellbar. Der Trend geht zugleich in Richtung billigere Pro- dukte, selbst wenn man sie nach zwei- mal Waschen wegwerfen muss. Dazu kommt ein neues Kaufverhalten. 2004 hat der Bundesverband des deutschen der deutsche Zoll Sweatshirts, T-Shirts, Versandhandels eine Steigerung des In- Jeans und Schuhe im Gesamtwert von ternetumsatzes gegenüber dem Vorjahr mehr als 12,4 Millionen Euro beschlag- um 34 Prozent bekannt gegeben, eine nahmt, 2005 waren es 13,5 Millionen und Verdreifachung im Vergleich zum Jahr in der EU insgesamt über 100 Millionen, 2000. So ist eBay zu einem der größten die vom Zoll konfisziert wurden. Online-Modehändler geworden, 2006 Zwar hat China sehr strenge Gesetze bekam die E-Firma deswegen Schwie- gegen Fälschungen verfasst, problema- rigkeiten wegen Fälschungen von Seiten tisch ist aber „das mangelnde Rechts- der Luxusindustrie. Hinzu kommt, dass bewusstsein und die riesige Zahl von Kinder in den westlichen Ländern immer Fällen“, so Wolf-Rüdiger Baumann, reicher werden. 2005 verfügte jedes Kind Hauptgeschäftsführer des Gesamtver- zwischen 6 und 13 Jahren über mehr als bandes Textil + Mode. Die Problematik 1.000 Euro Taschengeld jährlich.23 Beim der Fälschung ist aber auch eine kultu- Einkauf von Sportschuhen und Kleidung relle Frage. Es handelt sich um eine west- sind Kinder markenbewusst. Mode macht liche Erfindung, deren Wurzeln in die Kritik nicht leicht: Konsumgenuss und spätmittelalterliche Zeit zurückgehen. Enttäuschung sind Zwillingsschwes- Die Abwertung des Kopierens als einer tern, mit denen Mode geschickt zu spie- minderwertigen Tätigkeit ist den meisten len weiß.24 Textilien und Bekleidung sind asiatischen Kulturen fremd. Was Piraten- auch Kulturgüter, also wichtige Bestand- hersteller in Ländern wie China dennoch teile der Kulturindustrie, die mit Kultur- schnell und klar verstanden haben, ist landschaften und Identitätsproduktion die wirtschaftliche Logik des Phäno- verbunden sind. Diese kulturelle Seite der mens, also die Verbindung zwischen Mode- und Bekleidungsproduktion mit westlichen Markenprodukten und groß- einer stärkeren regional-lokalen Veror- en Gewinnen. Trotz medienwirksamer tung wurde von der neoliberalen Globa- Schließungen von Pirateriefirmen in Pe- lisierung geopfert. Eine Verbindung mit king leben in einigen Provinzen ganze dem Globalen, die zu einer neuen Vielfalt Industriezweige davon. Langsam wächst führen könnte, wäre problemlos denkbar, aber das Bewusstsein, so die Meinung wird jedoch aus profitwirtschaftlichen von Branchenexperten, dass die reine Erwägungen nicht realisiert. Preisführerschaft langfristig nur einen Die EU bleibt dazu nach wie vor eine unzureichenden Wettbewerbsvorteil ga- nicht zu unterschätzende Größe im rantiert. Mode- und Textilwelthandel, nicht nur im Bereich des Konsums. Ihre Produkti- Verbraucher und globaler Kultur- onschancen liegen vor allem in der Quali- transfer? tät und in der räumlichen Nähe. Je kurz- fristiger die Modezyklen, umso riskanter Die Verbraucher spielen mit. Sie geben kann es sich erweisen, Waren aus China zwar weniger Geld für Mode und Beklei- oder Indien zu importieren, da allein die dung aus – 4,9 Prozent 2003 gegen 5,5 Fahrt nach Europa mit dem Container- Prozent im Jahr 2000 in Deutschland –, schiff zwei bis drei Wochen dauert. Zwar kaufen dafür aber mehr Kleidungsstücke. ginge dies zügiger mit dem Flugzeug,

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würde aber den Preis verteuern, trotz berücksichtigt werden. Die Durchset- rasch wachsender Flotten von Frachtflug- zung dieser Wirtschaft der Nachhaltig- zeugen. Bei derart niedrigen Löhnen wie keit stellt ein akutes Problem dar, weil die in der Mode- und Bekleidungsindustrie Kleidungsfrage aktuell bleibt, so lange es fällt allerdings der längere Transportweg Menschen gibt. bis jetzt kaum ins Gewicht. Dies könnte sich jedoch schnell ändern, denn Han- Daniel Devoucoux, geboren in Paris, Jahr- del bleibt teuer (im Durchschnitt rund gang 1950. Studium der Geschichte/Germa- nistik, Soziologie und Mathematik in Paris, ein Drittel des Wertes der transportierten Promotion im Fach Geschichte/Germanis- Ware) und die Kosten für Energie und tik an der Sorbonne, Paris. Seit 1996: Freie Sicherheit nehmen rasant zu. publizistische Tätigkeit und Lehrtätigkeit im Bis heute ist die EU nach Schätzung Bereich Kulturwissenschaft an verschiedenen der EU-Kommission der größte Textilex- Universitäten. Veröffentlichungs- und For- schungsschwerpunkte: Kulturanthropologie, porteur der Welt. Rechnet man die Fer- insbesondere der internationalen Beklei- tigungsindustrie mit ein, steht China an dungsgeschichte, Kleidung im Film/Medien, der Spitze. Es geht aber nicht darum, Film- und Mediengeschichte, Modetheorien. Indien oder China gegen Europa aus- zuspielen, sondern die Spielregeln so zu gestalten, dass es nicht mehr nur weni- ge Gewinner und äußerst viele Verlierer gibt und dass auch Umwelt, menschliche Lebensqualität und soziale Gerechtigkeit

1 Süddeutsche Zeitung 23-24.9.2006. 2 Alfons Kaiser: Ton in Ton. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 19.8.2006. 14 Im Vergleich exportierte die EU 19 Milliarden und die USA 5,5 Milliarden. 3 Furetière, Antoine: Dictionnaire. Paris. 1690, Bd. 2, Artikel „Mode“. Quelle WTO. 4 Mentges, Gabriele. In: Kulturaustausch. Die Welt als Laufsteg 4/2002, 15 Ein Zentrum der chinesischen Bekleidungsindustrie ist etwa das Bei Jiang S. 54. Delta (Pearl River). Die meisten Betriebe wurden aus Hongkong ausgelagert, 5 Elaine Salo: Die Bedeutung junger Modedesigner für die afrikanische Kultur lange bevor die Hafenstadt zurück an die Volksrepublik China ging. und Wirtschaft. In: Generation Mode. Ausstellungs-Katalog. Stadtmuseum 16 Wie die 23 Länder der Caribbean Basin Initiave und Mexiko oder die 37 Düsseldorf 2006, S. 38. Länder des African Growth and Opportunity Act (AGOA). 6 Contemporary Lady. Ein Interview mit Jill Sander von Stephanie Tosch. In: 17 Als die ArbeiterInnen eines großen Zulieferanten in Haiti, der für Levi Texte zur Kunst, Heft 56/Dezember 2004, S. 67 und 69. Strauss arbeitet, ihren Tageslohn von weniger als zwei Dollar mit legalen 7 Beide Arbeiterinnen der Firma erzählen, dass einer der Direktoren des gewerkschaftlichen Aktionen aufbessern wollten, gerieten sie unter Betriebs über ein gut ausgestatteten Raum verfügt, den er zu diesem Beschuss, Keaney, ebd. Zweck verwendete. Wenn eine junge Frau sich widersetzte, wurde sie sofort 18 Ferenschild, Sabine: Die OECD-Leitsätze für multinationale Konzerne – ein entlassen. Quick Fix. Inkota 3, 2006, S. 74-75. unzureichender Schritt zur Durchsetzung sozialer Standards. Berlin o.D. 8 Indien: Schule statt Kinderarbeit. Siegburg 2006, S. 46. 19 So 2004 Nike mit 1,45 Mrd. Dollars, Adidas mit 520 Mio., Puma mit 465,4 9 Tiefergehende Informationen zu den Arbeitsbedingungen der Bekleidungs- Mio. oder Reebok mit 265,7 Mio. arbeiterInnen in China im Dokumentarfilm „China Blues“ (2006) von Micha 20 Alles in allem. Interview Lagerfeld, ebd., S. 37. X. Peled. Vgl. Quick Fix: Die Suche nach der schnellen Lösung. Berlin 2005, 21 GMAC-Generalsekretär Loo aus Kambodscha. Die Zeit 4.5.2005. S. 27ff. 22 Chossudovski, Michel: Comment les mafias gangrènent l´économie 10 Clean Cloth Campaign Juni 2006; Terre des Femmes Juni 2006. moniale. In: Le Monde Diplomatique Dezember 1996, S. 24. 11 Diese Unternehmer ordnen nach Angabe der Tagezeitung „New Age 23 Frankfurter Allgemeine Zeitung, FAZ.net 2.8.2006. Kinder können Geld (Dhaka)“ etwa die Hälfte der Textilimporte Bengladeschs. Vgl. Twnetwork. ausgeben wie nie. de 23.6.2006. 24 Eine breite und starke anticonsumerist-Bewegung, besonders aktiv in den 12 So in Pakistan (-37 Prozent), in Sri Lanka (-25 Prozent), in Bangladesch USA und in Frankreich. Vgl. Le Monde, 26.9.2005. (-9 Prozent), aber ebenso in europäischen Ländern. EU-Presseerklärung. 17.5.2005. 13 Bis Juni 2006 gab es jedoch von der EU keine Aussage zur praktischen Umsetzung, eine Situation, die für einige kleine und mittlere Händler zum Ruin führte.

275 Rohbau Europa? Die Architektur auf der ganzen Welt hat ihre Wurzeln in Europa. So vielfältig wie ihre Kulturen ist die Baukunst, die sie hervorgebracht hat und die nicht zuletzt als Wirtschaftsfaktor eine wichtige Rolle spielt. Der europäische Einigungsprozess ist eine Chance für Architekten, Aufträge im Ausland einzuspielen, birgt aber auch die Gefahr einer Vereinheitlichung der Baustile. Von Hans Ibelings

ungarische Architekt Marcel Breuer un- angreifbar auf dem ersten Platz). In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat diese Zahl explosiv zugenommen, anfänglich vor allem mit Projekten von internatio- nalen Stararchitekten wie Renzo Piano, Norman Foster und Steven Holl, mittler- weile aber auch durch Architekten, die noch keinen Weltruf haben. Als weiterer Indikator dient die Zahl ausländischer Architekten in einem be- stimmten Land. Um wieder die Nieder- lande als Beispiel heranzuziehen: Bis vor kurzem war eine überwältigende Mehr- s gibt viele Gründe, warum Eu- heit der Arbeitnehmer in den Architek- ropa trotz der fortschreitenden turbüros niederländischer Herkunft und EErweiterung der Europäischen fast jedes Büro wurde von einem Nieder- Union und trotz des Engagements ver- länder geleitet. Inzwischen stocken die schiedener anderer paneuropäischer Or- Büros ihre Belegschaft von Tag zu Tag ganisationen (noch immer) keine Einheit mit internationalen Kräften auf. Neue, in geographischer, kultureller, sozialer, von ausländischen Architekten geführte politischer und wirtschaftlicher Bezie- Büros, kommen hinzu – vom spanischen hung bildet. Duo Helena Casanova & Jesus Hernan- Inmitten der Differenzen und Kontras- dez bis zu den Deutschen André Kempe te gibt es Kulturbereiche, die sich beson- & Oliver Thill. Die Niederlande mögen ders internationalisiert haben. Ein augen- angesichts des Rufs als architektonisches scheinlicher Indikator ist die Anzahl der Paradies – der ihnen seit den 90ern an- von ausländischen Architekten entwor- haftet – ein atypisches Beispiel sein. Ar- fenen Gebäude in einem Land. Die konnte chitekten, die trotz Mängel an Erfahrung man etwa in den Niederlanden bis in die wichtige Bauprojekte übernehmen, sind 80er Jahre des 20. Jahrhunderts an zwei kein außergewöhnliches Phänomen. Händen abzählen (mit drei Projekten aus Für diese Internationalisierung, die den 50er Jahren war der österreichisch- sich in den meisten europäischen Ländern

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beobachten lässt, gibt es verschiedene Er- schrift „A10 new European architecture“ klärungen. Eine allgemeine und ebenso trägt als einzige europäische Architektur- triviale Begründung ist, dass der Prozess zeitschrift seit 2004 mit Korrespondenten ein Resultat der Globalisierung ist, die von Norwegen bis in die Ukraine und mit ebenso wenig vor der Architektur wie vor Lesern aus allen europäischen Ländern anderen Lebensbereichen halt macht. Für dazu bei. die meisten Europäer spielt sich diese Glo- balisierung hauptsächlich innerhalb ihres Monokulturelle Architektur? Kontinents ab. So auch für europäische Architekten, ungeachtet der Verlockun- Die europäische Einheit, die sich in- gen aus Shanghai, Dubai oder anderen nerhalb der Architektur widerspiegelt, aufstrebenden Metropolen, die die Archi- birgt aber auch Risiken, wobei ich zwi- tekten magnetisch anziehen. schen einem sozialen und einem kultu- Europaweite Ausschreibungen für rellen Aspekt unterscheiden möchte. Der Bauprojekte, der Studentenaustausch im Historiker Tony Judt beschreibt treffend Rahmen des europäischen Erasmus-Pro- den sozialen Aspekt in seinem viel ge- gramms, internationale Zusammenarbeit priesenen Buch „Postwar“ über die Eu- von Universitäten und Forschungseinrich- ropäische Geschichte nach 1945. Er ver- tungen sowie der freie Personenverkehr, anschaulicht darin eine neue Spaltung der es ungemein erleichtert hat, in einem Europas zwischen einer kleinen Gruppe anderen EU-Land eine Arbeitserlaubnis kosmopolitischer Europäer auf der einen und Arbeit zu bekommen, haben zu ei- und einer größeren Gruppe europäischer ner unverkennbaren Europäisierung der Einwohner auf der anderen Seite, die sich Architektur geführt. kaum als Europäer fühlen. Viele Archi- Hinzu kommen auch Einrichtungen tekten und sicherlich ein Großteil der 20- wie der Mies-van-der-Rohe-Preis für das bis 40-Jährigen von heute sind durch ihre beste europäische Bauwerk, ausgeschrie- Ausbildung, ihre Arbeit, ihren Lebensstil ben von der Europäischen Union und Eu- und durch ihre Interessen „echte“ Eu- ropan, ein paneuropäischer Ideenwett- ropäer. Gleichzeitig entsteht durch diese bewerb für junge Architekten, bei dem kosmopolitische Ausrichtung auch das Ri- der Gewinner bei der Realisierung sei- siko, dass sie die Ziele und Ideen der Men- nes Projekts unterstützt wird. Daneben schen, für die sie Häuser planen und bau- gibt es eine große Anzahl internationaler en, nicht wirklich treffen. Der kulturelle und durchgehend europäisch orientierter Aspekt dieser Kehrseite ist, dass durch Initiativen, von Wonderland und Young die Internationalisierung der Architektur, European Architects (YEA) bis zum Zen- durch die größeren Arbeits- und Aktions- trum für Zentraleuropäische Architektur radien der Architekten und die gleichen (CCEA) in Prag plus einer großen Anzahl oder geteilten Architekturauffassungen an Architekturbiennalen, -triennalen und der kosmopolitisch orientierten Europäer -festivals, in Istanbul, Rotterdam, auf den eine Einheitlichkeit durch europaweite Kanarischen Inseln und in Oslo – um vier Moden und Trends entstehen kann, die zu nennen. All diese Projekte fördern ei- lokale und nationale Unterscheide auf- nen regen Kulturaustausch. Auch die Zeit- hebt.

277 Kunst|A rchitekt ur|Mode die Architekturentwicklung vorangetrie- ben haben. Die traditionelle Dominanz westeu- ropäischer Architektur wird künstlich dadurch verstärkt, dass sich die meistge- lesenen Historiker in Westeuropa und in den Vereinigten Staaten befanden und im- Diese Einheitlichkeit unterstreicht mer noch befinden. Die Konsequenz ist, den Zusammenhang, den es innerhalb dass eine Architekturgeschichte östlich der Architektur gibt und auch schon im- von Wien nicht existiert. Unbekanntes mer gegeben hat. Sie hat ihren Ursprung bleibt unbekannt – die Kehrseite des Er- darin, dass die Architektur schon seit folgs. Jahrtausenden eine ausnahmslos europä- Was für Ost- und Zentraleuropa gilt, ische Angelegenheit ist. Dies hat nichts gilt auch für die vermeintliche Periphe- mit Eurochauvinismus oder kulturellem rie des Kontinents. Dadurch nehmen Überheblichkeitsgefühl zu tun. Europa beispielsweise die polnische und tsche- wird schon seit Ewigkeiten durch die Ar- chische Avantgarde aus der Zeit zwischen chitektur bestimmt. den Weltkriegen, die griechische Moderne Jede allgemeine Architekturgeschichte der 60er Jahre, die slowakische und kroa- ist, explizit oder implizit, eine Geschichte tische Architektur der 60er und 70er Jah- der Architektur Europas. Wenn sich die re keinen festen Platz in den Geschichts- Stilrichtungen nicht in Europa selbst her- büchern ein. Dabei hätten sie diesen Platz ausgebildet haben, so ist Europa doch stets sehr wohl verdient. ihr Hauptreferenzpunkt oder wichtigs- ter Maßstab. Die Architekturgeschichte, Wirtschaftsfaktor Architektur die in den meisten Grundwerken behan- delt wird, konzentriert sich nach einem In der staatlich geförderten europä- kurzen Aufblühen im Mittleren Osten seit ischen Kulturlandschaft spielt die Archi- zwei Jahrtausenden auf Europa. Erst ab tektur neben Theatern und Museen nur dem 19. Jahrhundert bringt sich Nordame- eine Nebenrolle. Wirtschaftlich und ge- rika in die Geschichte ein, und ab Mitte sellschaftlich ist die Baukultur auf dem des 20. Jahrhunderts kommen Japan und Kontinent mit der höchsten Architekten- Lateinamerika mit ins Bild. Der Rest von dichte ein interessanter Zukunftsfaktor. Asien, Afrika und Australien müssen mit So ist es selbstverständlich, Archi- einer Statistenrolle vorlieb nehmen. tekten mit in die Planung öffentlicher Flächen und Räume, vom sozialen Woh- Eurozentristisches Bauen nungs- bis zum Städtebau, einzubeziehen. In den reichen Ländern befinden sich im In der Architekturgeschichte wird viel auf den Eurozentrismus hingewiesen und es wäre sicherlich angebrachter, auf ei- Auch wenn sie außerhalb der nen weltweit ausgeglichenen Geschichts- traditionellen Zentren wohnen verlauf hinzuweisen. Hierzu wurden in den vergangenen Jahren glücklicherweise und arbeiten, können Archi- auch einige Versuche unternommen. tekten heute noch bedeutender Erwähnenswert ist außerdem, dass vor Teil einer Subkultur innerhalb allem Westeuropa das Bild der europä- der kosmopolitischen kultu- ischen Architektur bestimmt hat. – Vor allem Nationen wie Italien, Frankreich rellen Oberschicht Europas und Deutschland, die jahrhundertelang sein.

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Kielwasser öffentlicher und halböffent- mehr notwendigerweise auf Hauptstädte licher Auftraggeber auch private Unter- konzentrieren (müssen), um eine führen- nehmen, die mehr und mehr die soziale de Rolle einzunehmen. Auch wenn sie au- Verantwortung erkennen, die Baupro- ßerhalb der traditionellen Zentren woh- jekte mit sich bringen. nen und arbeiten, können Architekten Der heutige Status der Architektur heute noch bedeutender Teil einer Sub- zeichnet sich nicht nur in gefestigten kultur innerhalb der kosmopolitischen Architekturländern wie Spanien oder kulturellen Oberschicht Europas sein. Ge- Frank-reich ab, sondern wird auch an- nau dies verbindet unsere Berufsgruppe derswo überdeutlich. In den letzten Jah- grenzüberschreitend. ren sorgte beispielsweise die irische Ar- Dank der heutigen Technologien und chitektur für Furore, machen estnische Mobilitätsmöglichkeiten muss niemand Architekten von sich reden, ist in Portu- mehr in einer Metropole leben, um ei- gal eine neue Generation von Architekten nen kosmopolitischen, großstädtischen nach oben gekommen, blüht Österreich Lebensstil führen zu können. Dies betrifft neu auf und zimmern junge Länder wie nicht nur die europäische urbane Kultur, Slowenien und Kroatien sich den Weg. sondern schlussendlich auch die gesamte Dass im Moment kein bestimmtes bebaute Umgebung. Wenn ein Dorf die Land, keine bestimmte Region oder Stadt Eigenschaften einer Großstadt annehmen den Mittelpunkt dieser neuen Architek- kann, und umgekehrt die Stadt einen dörf- tur formt oder von Medieninteresse ist, lichen Charakter aufweist, wenn kurzum zeigt, wie globalisiert unsere Welt heute der Gegensatz zwischen Stadt und Land, ist – klassische räumliche Unterschiede zwischen Metropole und Dorf unbedeu- zwischen Zentrum und Umland lösen tender wird, könnte das zu einer neuen sich auf. europäischen Geographie führen. Dank neuer Kommunikationswege löst sich dieser Unterschied weitestge- Aus dem Niederländischen hend auf, Zentrum und Umland sind aus- von Henning Schimpf tauschbar geworden: alles kann Zentrum sein und alles peripher. Bezeichnend ist Hans Ibelings, geboren 1963 in Rotterdam, ist in diesem Zusammenhang, dass diverse Architekturhistoriker und Autor mehrerer Bü- cher zum Thema zeitgenössische Architektur. tonangebende Architekten in den tradi- Von 1989-1999 Kurator des Niederländischen tionellen kulturellen Zentren der west- Instituts für Architektur, unabhängiger Autor europäischen Hauptstädte arbeiten, die (2000-2004), seit 2004 Redakteur und Her- beiden berühmtesten Architekturbüros ausgeber der Architekturzeitschrift “A 10 new von heute haben ihren Sitz in Rotterdam European architecture“ und seit 2006 Gast- professor an der EPFL, Lausanne. (Rem Koolhaas´ OMA) und Basel (Her- zog & De Meuron). Ebenso befinden sich verschiedene tonangebende Architektur- ausbildungen, Brutplätze für zukünftige Generationen, in peripheren Städten wie Göteborg, Graz oder Gleiwitz. Das zeigt einmal mehr, dass Architekten sich nicht

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