Herausgegeben von der Akademie für Sexualmedizin

Inhalt 90 Editorial Themenschwerpunkt 91 Internet-Sexualität: Spektrum und Chancen Nicola Döring 106 Die kriminogenischen Qualitäten des Internets – Zur Sammlung und Verbreitung von Missbrauchsbildern von Kindern Max Taylor, Ethel Quayle 114 Porno, Dating, Beziehungswünsche: Sexualität und Partnerschaft im Internet Christoph J. Ahlers 119 Prostitution bei Studentinnen – Resultate einer Online-Studie Johann F. Kinzl, Verena Eisenmann, Martina Brancalion 126 Internet 2010 – Informationsgesellschaft 2020 Klaus Rebensburg 139 Internet und neue Medien: Perspektiven für die Sexualmedizin Klaus M. Beier, Laura F. Kuhle Orginalarbeiten 147 Sexualmedizin in der hausärztlichen Praxis: Gewachsenes Problembewusstsein bei nach wie vor unzureichenden Kenntnissen Dagmar A. Cedzich, Hartmut A. Bosinski Humboldt-Dialog 160 Begrüßung und Einführung zum Humboldt-Dialog und der Verleihung des Stiftungspreises Klaus M. Beier 163 Begrüssungsworte im Namen der -Gesellschaft Thomas Lackmann 164 Laudatio auf Jürgen Trabant anlässlich der Verleihung des Stiftungspreises der Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung Peter Bieri 166 Zweiheit in der Sprache Jürgen Trabant 170 Laudatio auf Heino Meyer-Bahlburg anlässlich der Verleihung des Stiftungspreises der Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung Hartmut A.G. Bosinski 173 Die Zweiheit im Geschlecht? Heino F. L. Meyer-Bahlburg Aktuelles 179 Rezensionen, Jahresinhaltsverzeichnis

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Liebe Leserinnen und Leser der Sexuologie, schon allein deswegen, weil sie kaum über die grundle- genden Informationen über die neusten Entwicklungen einige von Ihnen werden in der letzten Zeit auf den Feuil- verfügen, von der Zeit sich damit intensiver zu beschäfti- letonseiten der großen Tages- und Wochenzeitungen auf gen, ganz abgesehen. den Begriff des „Cyber-Groomings“ und die damit ver- Wenn wir mit diesem Heft einen Schwerpunkt zum bundenen Diskussionen über dessen Strafbarkeit gesto- Thema „Sexualität und Internet“ anbieten, sind wir uns ßen sein. Der Sachverhalt als solcher bezieht sich auf die dessen bewußt, dass wir nur einen winzigen Teil der Ent- Nutzung des Internets, um Kontakt zu Kindern herzustel- wicklung vorstellen können. Die Beiträge gehen vor allem len, sich mit ihnen zu verabreden, damit es letztlich zu auf die 34. Tagung der Akademie für Sexualmedizin vom Sexualkontakten kommt. Rein rechtlich gesehen scheint Mai diesen Jahres zurück. Neben den Beiträgen, die sich die Frage der Strafbarkeit klar: 2003 wurde mit Pargraph mit den Gefahren beschäftigen, werden auch Möglich- 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB ein Tatbestand beschrieben, wo- keiten angedacht, mittels der neuen Medien – zumindest nach zu bestrafen ist, wer durch eine „Schrift i.S.v. § 11 perspektivisch – präventive, diagnostische und therapeu- Abs. 3 StGB“ auf ein Kind einwirkt, um es zu sexuellen tische Aufgaben der Sexualmedizin in einem breiteren Handlungen zu veranlassen. „Schrift“ meint hier auch die Umfang bewältigen zu können. Kommunikation über das Internet. Hinweisen möchten wir auch auf die Beiträge unter Die Diskussion zeigt aber, dass diese Formulierungen dem Themenfeld „Humboldt-Dialog“, die auf die dies- keinesfalls alle Möglichkeiten, die sich mit den modernen jährige Verleihung des Stiftungspreises der Wilhelm von Kommunikationstechnologien bieten, im Sinne einer Humboldt-Stiftung zurückgehen und und dem Motto Strafverfolgung abdecken können, einmal ganz davon „Zweiheit und Freiheit“ stehen. abgesehen von der faktischen Realisierbarkeit. Auch wenn mit Wilhelm von Humboldt ein Name Hinzu kommt noch etwas anderes: Für die Adres- aufgerufen wird, der in die Vergangenheit verweist, schla- saten des „Cyber-Groomings“ – die sog. „Digital Natives“, gen die an sein Denken anschließenden Beiträge eine Kinder und Jugendliche, die mit den neuen Technologien Brücke in die unmittelbare Gegenwart (auch) der moder- in einer bislang unvorstellbaren Selbstverständlichkeit nen Technologien: „Zweiheit“ rekurriert auf ein Wesens- aufwachsen – bildet die virtuelle Welt des Internets auch merkmal des Menschen, das der Sozialität, die sich in den so etwas wie ein Paralleluniversum zur realen Welt, in unterschiedlichsten Varianten realisieren kann und für dem sie das Gefühl haben, unter sich zu sein, aber auch die eben auch das Internet in all seiner Ambivalenz ein ihre elementaren Bedürfnisse nach Nähe realisieren. Leh- ideales Medium ist. rer und Eltern bekommen von all dem selten etwas mit, Rainer Alisch, für die Redaktion

40. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe Die Psyche im Spiegel der Hormone 23.–26.02.2011

International School Hamburg Hemmingstedter Weg 130 • 22609 Hamburg

Künstlerin: Ingrid Brandstetter Anmeldung und Informationen: www.conventus.de/dgpfg2011 Workshops I Hormonelle und psychische Aspekte von Geschlechtsidenti- 4 Luna Yoga oder Hormon Yoga zur Regulierung und Vorbeugung tät und -entwicklung von hormonellen Störungen II Körpergefühl und Verhütung im Jugendalter – aktuelle 5 Gynäkologische Grundkenntnisse für Psychotherapeuten und Daten aus der Studie Jugendsexualität und Konsequenzen andere Interessierte für die gynäkologische Praxis 6 Non-verbale Kommunikation in der berufl ichen und persönlichen III Psychoneuroendokrinologie der Elternschaft Kontaktaufnahme IV Schilddrüse und Psyche 7 Beziehungsbühne Kreißsaal – die Bedeutung der Beziehung und V Psychosoziale Beratung bei Wunsch nach Gametenspende Kommunikation für die Sicherheit der Geburtsgestaltung 8 Sind es nur die Hormone? – Einzel- und Paarinterventionen bei Gruppenarbeiten psychosomatischen Störungen während Schwangerschaft und 1 Unerfüllter Kinderwunsch Wochenbett 2 Übungen zur Kommunikation bei schwierigen Themen 9 Sexualmedizin in der gynäkologischen Praxis 3 Was das Herz begehrt – Weiblichkeit und Menopause im 10 Tango –Tanz der Hormone Spielfi lm

Sexuologie 17 (3–4) 2010 90 / Akademie für Sexualmedizin http://www.sexualmedizin-akademie.de/sexuologie Themenschwerpunkt Sexuologie

Internet-Sexualität: Spektrum und Chancen

Nicola Döring

Internet sexuality: Scope and opportunities die mit unterschiedlichen sexuellen Online-Aktivitäten verbunden sind. Eine solche medien- und kommunikati- onswissenschaftlich sowie medienpädagogisch fundierte Abstract Betrachtungsweise der Internet-Sexualität trägt dazu bei, The scope of online sexual activities (OSA) is broad. It covers mediendeterministische Bedrohungsszenarien zu überwin- sexuality-related information, entertainment, contacts, com- den. Stattdessen rücken individuelle und kollektive sexu- munities, products and services. Both in the mass media and elle Handlungsmöglichkeiten im Internet stärker in den scientific literature internet sexuality is often portrayed as Fokus, die als Beitrag zur Wahrnehmung positiver sexueller predominantly dangerous and related to severe clinical and Menschenrechte verstanden werden können. forensic problems. The majority of internet users report neu- Schlüsselwörter: Sexuelle Aktivitäten, Internet, Sexualaufklä- tral or positive outcomes of their self-directed sexual online rung, Erotika, Masturbation activities, though. Sexual health promotion in an Internet era needs to target problematic sexual online behavior with appropriate diagnostic and therapeutic tools. At the same time, it is necessary to both investigate and foster non-pro- Einleitung blematic, sexually constructive online sexual activities. This article first explains the concept of sexuality-related online Neben ihrer Fortpflanzungsfunktion hat Sexualität für literacy and then describes the opportunities that diffe- die allermeisten Menschen vor allem eine Lust-, Bezie- rent types of online sexual activities offer. This perspective hungs- und Identitätsfunktion. Alle vier Sexualfunkti- – informed by media studies and communication science as onen werden durch das Internet und seine vielfältigen well as media education – helps to overcome media-deter- Angebote unterstützt (vgl. Sielert, 2005, für eine weitere minis-tic threat scenarios. Instead, it stresses the exertion of Auffächerung der Funktionen siehe Starke, 2008): positive sexual human rights on the Internet and beyond, with an emphasis on both individual and collective agency. u Fortpflanzungsfunktion: Wir können uns online Keywords: Sexual activities, internet, sex education, erotica, beispielsweise über Möglichkeiten der Schwanger- masturbation schaftsverhütung oder der Reproduktionsmedizin informieren. Zusammenfassung: u Lustfunktion: Wir können im Internet sexuell expli- Das Spektrum sexueller Online-Aktivitäten ist groß. Es um- zite Geschichten, Bilder und Filme passend zum ei- fasst sexualbezogene Information, Unterhaltung, Kontakte, genen Begehren lustvoll rezipieren – oder auch selbst Gemeinschaften, Produkte und Dienstleistungen. In der produzieren und mit anderen teilen. breiten Öffentlichkeit sowie in der Fachliteratur erschei- u Beziehungsfunktion: Wir können mittels computer- nen sexuelle Internet-Aktivitäten oft als gefährlich und vermittelter Kommunikation bestehende sexuelle mit gravierenden klinischen und forensischen Problemen Beziehungen pflegen und neue erotische Kontakte verknüpft. Doch die Mehrheit der Internet-Nutzer_innen knüpfen. erlebt ihre selbst gestalteten sexuellen Online-Aktivitäten als u Identitätsfunktion: Wir können im Online-Austausch harmlos oder bereichernd. Im Sinne einer Förderung sexuel- mit Gleichgesinnten unsere sexuellen Identitäten er- ler Gesundheit ist es notwendig, sexuelles Problemverhalten kunden und bestätigen. im Internet zu erkennen und zu behandeln. Gleichzeitig ist es erforderlich, nicht-problematisches, sexuell konstrukti- Sexualbezogene Internet-Nutzung ist heute keine exo- ves Online-Verhalten wissenschaftlich zu untersuchen und tische Randerscheinung, sondern alltäglich: Die meisten zu fördern. Der Beitrag erläutert zunächst das Konzept Deutschen – insbesondere nahezu alle Jugendlichen und der sexualbezogenen Internet-Kompetenz und beschreibt jungen Erwachsenen – sind inzwischen online. Und die dann anhand konkreter Internet-Beispiele die Chancen, Mehrzahl der Onliner_innen dürfte laut Forschungsstand Sexuologie 17 (3–4) 2010 91–105 / Akademie für Sexualmedizin http://www.sexualmedizin-akademie.de/sexuologie 92 Nicola Döring

zur Internet-Sexualität das Netz auch schon in der einen schichten per Screen-Reader vorlesen lassen, ein entspre- oder anderen Weise sexualbezogen genutzt haben (vgl. chendes Medienangebot in Braille-Schrift liegt nicht vor; Döring, 2008, 2009b). Die regelmäßigen bevölkerungs- vgl. Noonan, 2007). repräsentativen Erhebungen zur Internet-Nutzung in Das seit 2005 sich entwickelnde Web 2.0 („Mitmach- Deutschland (z.B. ARD/ZDF-Onlinestudie, JIM-Studie) Web“) erleichtert es den Internet-Nutzer_innen, nicht sparen das Thema Sexualität bislang leider aus. Genaue nur vorhandene Inhalte zu rezipieren, sondern auf ent- Daten zur Verbreitung und Häufigkeit unterschiedlicher sprechenden Online-Plattformen auch eigene Beiträge Formen der sexuellen Internet-Nutzung in Deutschland (z.B. selbst produzierte erotische Geschichten, Fotos, sind deswegen aktuell nicht verfügbar. Filme, authentische Erfahrungsberichte, so genannter Der vorliegende Beitrag widmet sich den Chancen User-generated Content) zu veröffentlichen und mit der Internet-Sexualität, von denen insbesondere diejeni- anderen zu diskutieren. Man spricht von Partizipations- gen profitieren, die über sexualbezogene Internet-Kom- kultur (participatory culture), um die Tendenz zu be- petenz verfügen. Dabei wird ein breites Spektrum sexual- schreiben, dass immer mehr Mediennutzer_innen – ent- bezogener Internet-Aktivitäten in Blick genommen und sprechende Motivation und Kompetenz vorausgesetzt anhand zahlreicher konkreter Internet-Angebote veran- – sich auf unterschiedlichen Online-Plattformen auch als schaulicht. Denn kritische Distanz und Gegenstandsferne Medienproduzent_innen betätigen (Jenkins, 2009). Ver- sind weder geeignet, um konstruktive Aneignungsweisen gleichbare öffentliche und halböffentliche soziale Räume wissenschaftlich zu untersuchen, noch um sie praktisch für einen offenen Austausch über sexuelle Inhalte existie- zu fördern. ren außerhalb des Internet kaum.

Keine Chancen ohne Risiken Die Chancen der Internet-Sexualität Den konstruktiven, gesundheitsförderlichen Potenzia- Unter allen Medien nimmt das Internet eine besondere len sexualbezogener Internet-Nutzung stehen selbstver- Stellung ein, wenn es um die Gestaltung sexueller Kul- ständlich auch Risiken gegenüber. Diese ergeben sich aus turen und individueller sexueller Lebensweisen geht. Die problematischen Internet-Inhalten (z.B. Fehlinformati- notwendige Betonung der Chancen der Internet-Sexu- onen) und/oder problematischen Nutzungsmustern (z.B. alität ist jedoch nicht mit einer Negierung von Risiken exzessive Vielnutzung). Das Extrem bilden illegale Ange- gleichzusetzen, vielmehr gehen beide in der Regel Hand bote und Aktivitäten (z.B. Verbreitung oder Abruf von in Hand. Kinderpornografie), die strafrechtlich verfolgt werden. Von ernsthaften Gefahren ist jedoch – offline wie online – meist nur eine sehr kleine Minderheit betroffen. Ent- Diskretion und Vielfalt im Internet sprechende Präventions-, Diagnose- und Interventions- Ansätze für deviante und pathologische sexualbezogene Es ist kein Wunder, dass Sexualität im Internet eine so Internet-Nutzung liegen vor und sollen an dieser Stelle wichtige – wenn auch keinesfalls eine zentrale – Rolle nicht vertieft werden (z.B. Cooper, 2000, 2002). spielt: Jedes neue Medium wird auch sexuell angeeignet, Vielmehr sollen jenseits des forensischen und kli- das war bei Buchdruck, Fotografie oder Video nicht an- nischen Bereiches im Folgenden die zahlreichen kons- ders. Zudem ist das Internet aufgrund seiner medialen truktiven Potenziale der Online-Sexualität beschrieben Besonderheiten gut geeignet für die von Neugier wie werden. Diejenigen Internet-Nutzer_innen, die sich aus Unsicherheit, Faszination wie Abscheu, Stolz wie Scham der Bandbreite sexueller Online-Angebote das sie Inter- geprägte Auseinandersetzung mit dem Sexuellen. Denn essierende aussuchen und mehr oder minder reflektiert das Internet bietet relativ kostengünstig (Affordability) damit umgehen, berichten oft von überwiegend positiven jederzeit und überall (Accessibility) diskreten Zugang Effekten (z.B. Ray, 2007; Jacobs, 2007, Hald & Malamuth, (Anonymity) zu sexualbezogenen Inhalten (so genannte 2008; Weinberg et al., 2010 ). Triple-A-Engine der Internet-Sexualität, Cooper, 1998). Diese positiven Wirkungen der Internet-Sexualität Dabei ist der online verfügbare Pool an sexuellen Res- zu beschreiben und zu betonen, bedeutet nicht, Negativ- sourcen und Kontakten von historisch einmaliger Größe wirkungen zu verleugnen. Die Frage: Ist Internet-Sexua- und Vielfalt. Internet-Inhalte lassen sich durch das digi- lität schädlich oder nützlich, ist falsch gestellt. Sinnvoller tale Format komfortabler und vielfältiger verwalten und ist es zu fragen, wie einerseits Negativwirkungen erkannt bearbeiten und sind Menschen mit Handicaps eher zu- und verhindert und andererseits Positivwirkungen iden- gänglich (z.B. können sich Blinde erotische Online-Ge- tifiziert und gefördert werden können. Während den Internet-Sexualität: Spektrum und Chancen 93

Risiken und Gefahren der Online-Sexualität in diversen Medienregulierung und Nutzerbildung als zwei zentrale Fachdisziplinen sowie in den Massenmedien viel Auf- Strategien vorgestellt, um positive Medienwirkungen zu merksamkeit geschenkt wird – teilweise bis hin zur Mo- begünstigen. Anschließend wird genauer erläutert, was ralpanik etwa angesichts angeblicher „sexueller Verwahr- Nutzerbildung in Form einer Förderung sexualbezogener losung“ einer Internet-geprägten „Generation Porno“ Internet-Kompetenz bedeutet. (vgl. Siggelkow & Büscher, 2008, kritisch dazu Schetsche & Schmidt, 2010) – werden diesbezügliche Chancen bis- lang deutlich seltener umfassend gewürdigt. Es mehren Interaktionale versus deterministische sich jedoch die Beiträge, die diese Forschungslücke mo- Medienwirkungsmodelle nieren und daran arbeiten, sie zu schließen. Die Feststellung, dass Online-Sexualität (ebenso Ob sexualbezogene Internet-Nutzung negative, neutrale wie Offline-Sexualität) sowohl mit Risiken als auch mit oder positive Effekte nach sich zieht, ist nicht durch das Chancen einhergeht, gilt nicht nur auf individueller Ebe- Medium und seine Inhalte vorbestimmt. Entsprechende ne (wo z.B. bei der Online-Suche nach Liebes- und Sexu- mediendeterministische Aussagen werden heute in der alpartnern Lust und Frust oft eng nebeneinander liegen), Medien- und Kommunikationswissenschaft sowie in der sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene. Aktuelle Dis- Medienpsychologie zurückgewiesen zugunsten interakti- kurse rund um die – maßgeblich auch durch das Internet onistischer Wirkmodelle. Dementsprechend entscheidet vorangetriebene – „Sexualisierung“ und „Pornografisie- erst das Zusammenspiel diverser Faktoren in der Person, rung“ der westlichen Welt werden hochgradig kontrovers der Situation und der Umwelt darüber, wie welche In- geführt: Die einen warnen vor Werteverfall und Verro- ternetangebote von wem wahrgenommen und verarbei- hung, die anderen loben Liberalisierung und Emanzipati- tet werden und welche Effekte dies nach sich zieht (vgl. on. Doch auch hier gilt kein Entweder-Oder, sondern ein Döring, 2003). Sowohl-als-Auch: Das Internet kann – je nach Nutzungs- Ein und dasselbe Medienangebot bzw. dieselbe Ange- form – sexuelle Menschenrechte fördern und bedrohen botsgattung (z.B. kostenlose Online-Plattform mit Porno- (vgl. Döring, 2009b). Für eine entsprechende ethische filmclips) kann dementsprechend ganz unterschiedliche Bewertung ist deswegen von Pauschalaussagen Abstand Auswirkungen auf Individuen haben, je nach Art und zu nehmen und differenziert zu betrachten, wer in wel- Umständen der Nutzung: Während beispielsweise heim- chem Kontext das Internet wie sexualbezogen nutzt. liche und exzessive Online-Porno-Nutzung bei dem einen So kann das Internet im Zuge der Verbreitung ille- Paar zu Beziehungskonflikten und sexuellen Problemen galer Pornografie oder Homosexuellen-feindlicher Het- beiträgt, kann ein anderes Paar im Zuge einvernehm- ze zur Verletzung sexueller Menschenrechte beitragen. licher gemeinsamer Nutzung neue Anregungen finden Gleichzeitig kann es zur Wahrung sexueller Menschen- und sexuelle Intimität steigern. Während die Konfron- rechte beitragen, weil es die Verbreitung ethisch reflek- tation mit idealisierten Körperinszenierungen im Porno tierter alternativer Pornografien sowie die Vernetzung bei der einen Frau soziale Vergleichsprozesse anstößt von Homosexuellen-Initiativen weltweit erleichtert. Se- und körperbezogene Selbstwertprobleme aktualisiert, be- xueller Selbstausdruck, selbstgewählte sexuelle Kontakte, trachtet eine andere Frau entsprechende Darstellungen die Suche nach sexuellem Vergnügen und Befriedigung, nicht vergleichend, sondern identifikatorisch und stärkt all diese – durch das Internet oftmals erleichterten Aktivi- im Zuge der selbstbestimmten, orgiastischen Rezeption täten – werden in der aktuellen internationalen Diskussi- ihr positives Körpergefühl. Während sich der eine Mann on um sexuelle Gesundheit und sexuelle Menschenrechte in einer Singlephase sehr intensiv der Online-Pornogra- ausdrücklich stärker hervorgehoben (so genannte positive fie zuwendet und einerseits Lust, andererseits aber auch sexuelle Menschenrechte) und als wichtige ethische Zielen Frust empfindet, weil ihm seine aktuelle Partnerlosigkeit den Schutzrechten an die Seite gestellt (WAS, 2008: 7f.). immer wieder vor Augen geführt wird, nutzt ein anderer Mann entsprechende Angebote nur sporadisch und kann überhaupt keine besonderen Auswirkungen von Online- Pornografie auf seine Sexualität feststellen. Voraussetzungen für positive Effekte der Nimmt man diese interaktionale (statt mediende- Internet-Sexualität terministische) Perspektive ein und betrachtet die breite Internet-Population, so lässt sich einerseits fragen, wel- che konkreten personalen, situationalen und Umweltfak- Negative Wirkungen der Internet-Sexualität sind kein toren mit welcher Art der sexualbezogenen Internet-Nut- Automatismus – positive aber auch nicht. Nach einer zung und welchen Negativeffekten zusammenhängen. Diskussion gängiger Medienwirkungsmodelle werden Mit Blick auf die Förderung sexuellen Wohlbefindens in 94 Nicola Döring

der Bevölkerung ist es jedoch ebenso wichtig, diejenigen beispielsweise die Förderung von „Pornografie-Kompe- Faktoren zu kennen und erforschen, die solche Formen tenz“ bei Jugendlichen gefordert, etwa indem man ihnen der sexualbezogenen Online-Nutzung begünstigen, die durch Gespräche mit Eltern, Lehrer_innen oder anderen positive Effekte für die Beteiligten nach sich ziehen. – vielleicht auch geeigneteren – Bezugspersonen vermit- telt, dass pornografische Darstellungen „unrealistisch“ und kein Maßstab für das eigene Sexualleben sind (vgl. Sexualbezogene Medienregulierung und Gernert, 2010; Grimm et al., 2010). Nutzerbildung Doch sexualbezogene Internet-Kompetenz meint mehr – und anderes – als bloße kritische Distanz. Wer Generell werden zum Schutz vor potenziellen negativen über Medienkompetenz (media literacy) verfügt, soll in Medienwirkungen zwei einander ergänzende Ansätze der Lage sein, mit Medien als selbst- wie sozialverant- verfolgt, die auch auf Internet-Sexualität anzuwenden wortlich handelnder Mensch zielgerichtet erfolgreich sind: Medienregulierung und Nutzerbildung. umzugehen (vgl. Baacke, 1997; Groeben, 2004; Hugger, 2008). (Selbst-)Reflexion und Intentionalität sind somit Medienregulierung: Der Umgang mit sexuell expliziten wesentliche Elemente der handlungstheoretisch begrün- Internet-Inhalten unterliegt diversen rechtlichen Re- deten Medienkompetenz. Die normative Forderung nach gelungen und technischen Restriktionen. Die Online- Medienkompetenz basiert auf dem anthropologischen Verbreitung von Gewalt- und Tier-Pornografie ist in Grundwert des gesellschaftlich handlungsfähigen Sub- Deutschland und den meisten anderen Ländern straf- jekts. Dementsprechend wird ein aktives Menschenbild rechtlich verboten. Bei Kinder- und Jugendpornografie zugrunde gelegt, das Menschen nicht auf pure Verhal- ist nicht nur die Verbreitung, sondern auch der Online- tensreaktionen festlegt, sondern ihnen eine – mehr oder Abruf strafbar. Das Anbieten und Nutzen von Raubko- minder große – Deutungs- und Gestaltungsmacht im pien legaler Pornografie im Internet werden verstärkt Verhältnis zu ihrer Umwelt zuschreibt. Im Hinblick auf verfolgt. Die Nutzung sexueller Internet-Angebote am Medienumwelten bedeutet dies, dass Menschen als aktive Ausbildungs- oder Arbeitsplatz ist untersagt und wird Mediennutzer_innen und nicht als passives, beliebig beein- in der Regel automatisch protokolliert. Zusätzlich be- flussbares Publikum verstanden werden. An die Stelle der schränkt der Kinder- und Jugendmedienschutz den Zu- Frage: Was machen die Medien mit den Menschen? Tritt gang Minderjähriger zu sexuellen Hardcore-Darstellun- somit im handlungstheoretischen Paradigma die Frage: gen in Printmedien, auf Trägermedien, in Rundfunk und Was machen die Menschen mit den Medien? Während es Internet. Medienregulierung stößt jedoch – insbesondere in den Zuständigkeitsbereich der Kommunikations- und in Zeiten des Internet – an ihre Grenzen. So ist es bei- Medienwissenschaft sowie der Medienpsychologie fällt, spielsweise für Jugendliche trotz Jugendschutzgesetzen die vorfindbaren Handlungsweisen der aktiven Medien- und Filtersoftware z.B. auf dem heimischen Rechner nutzer_innen sowie deren Effekte zu beschreiben und zu bekanntlich leicht möglich, bei Interesse pornografische erklären, zielt die Medienpädagogik darauf ab, die Hand- Online-Inhalte zu finden. lungsfähigkeit der Mediennutzer_innen einzuschätzen und gezielt zu verbessern. Nutzerbildung: Auch wenn Medienanbieter nicht aus der Verantwortung entlassen werden können und sollen (z.B. Online-Plattformen, die sich an Kinder und Jugendliche Sexualbezogene Internet-Kompetenz richten, pornografiefrei zu halten), besteht in Wissen- schaft, Politik und Pädagogik heute weitgehend Einigkeit, Sexualbezogene Internet-Kompetenz, also die Fähigkeit, dass eine Stärkung der Mediennutzer_innen hinsichtlich selbst- und sozialverantwortlich mit sexuellen Internet- ihrer Medienkompetenz notwendig ist, um mit den viel- Angeboten umzugehen, setzt einerseits die bereits ange- fältigen medialen Angeboten der Internetgesellschaft sprochene Medienkompetenz voraus, andererseits auch selbstbestimmt und verantwortungsvoll umgehen zu sexuelle Kompetenz sowie -Kompetenz. können, Gefahren zu vermeiden, aber auch Chancen zu nutzen. Dies gilt auch hinsichtlich sexualbezogener Inter- Medienkompetenz: Der erfolgreiche Umgang mit sexuel- net-Nutzung. Wo Medienregulierung an Grenzen stößt len Internet-Angeboten beinhaltet unterschiedliche Gra- (und eine weitere Medienregulierung weder möglich de des Engagements und reicht von der Bewertung über noch sinnvoll ist), ist verstärkt die Selbstregulierung der die Nutzung bis zur eigenen Gestaltung. Unabhängig Nutzer_innen gefragt, etwa indem sie bestimmte Online- vom Grad der Beteiligung ist ein Grundstock an Medien- Angebote bewusst meiden oder im Falle einer Konfron- wissen bzw. Medienkunde notwendig, um handlungsfähig tation kritisch einordnen. Dementsprechend wird heute zu sein (z.B. Genre-Kenntnis, Medialitäts-Bewusstsein, Internet-Sexualität: Spektrum und Chancen 95 technische Bedienkompetenz etc.). Da der Umgang mit Das Spektrum der Internet-Sexualität Medien mit Gefahren einhergehen kann, ist Kritikfä- higkeit ein wichtiger Bestandteil von Medienkompetenz (Baacke, 1997). So können sexuelle Internet-Angebote Mit Internet-Sexualität (Internet Sexuality; OSA: Online beispielsweise als geschlechter- oder altersdiskriminie- Sexual Activities) sind grundsätzlich alle sexualbezo- rend, als sachlich falsch, überteuert oder unästhetisch genen Inhalte und Aktivitäten gemeint, die im Internet kritisiert werden. Doch der Umgang mit Medien ist auch zu beobachten sind. Es handelt sich also in zweifacher mit Chancen verbunden. Um sie zu erschließen ist neben Hinsicht um einen sehr weiten Sammelbegriff: Zum ei- der Kritik- auch die Genussfähigkeit notwendig (Groeben, nen werden ganz unterschiedliche sexualbezogene Phäno- 2004). So können sexualbezogene Internet-Angebote bei- mene adressiert (z.B. Sexualaufklärung, Sexpartnersuche, spielsweise ästhetisches, humoristisches, intellektuelles Pornografie), zum anderen sind ganz unterschiedliche oder auch sexuelles Vergnügen bereiten, sofern die Nut- Internet-Dienste und -Anwendungen beteiligt (Websites, zer_innen über entsprechende Lesarten und Nutzungsfä- Online-Chatrooms, Online-Foren, Peer-to-Peer-Tausch- higkeiten verfügen. Da der Umgang mit Medien in pri- börsen, Webcams, Online-Shops, Online-Spiele etc.). vate und öffentliche Diskurse eingebunden ist, gehört zur Pauschale Aussagen über „die“ Internet-Sexualität sind Medienkompetenz auch die Fähigkeit zur Anschluss- oder deswegen nicht sinnvoll. Meta-Kommunikation (z.B. für positive und/oder nega- Es bietet sich an, sexuelle Internet-Aktivitäten inhalt- tive Erfahrungen mit sexualbezogener Internet-Nutzung lich nach sechs Handlungsfeldern zu klassifizieren, die bei Bedarf die richtigen Ansprechpartner finden und die auch außerhalb des Internet differenziert werden (Dö- eigenen Anliegen geeignet artikulieren können). Eine ring, 2008, 2009b): solche Fähigkeit zur medienbezogenen Meta-Kommu- nikation ist gleichzeitig zentrale Voraussetzung für die u Sexuelle Information und Beratung Weiterentwicklung der eigenen Medienkompetenz (z.B. u Sexuelle Unterhaltung und Stimulation durch soziale Unterstützung bei Problemen, Feedback, u Sexuelle Kontakte und Beziehungen Orientierung an Vorbildern etc.). u Sexuelle Dienstleistungen u Sexuelle Produkte Sexuelle Kompetenz: Wer die eigenen sexuellen Bedürf- u Sexuelle Szenen und Minderheiten nisse besser kennt und artikulieren kann, wird auch ge- zielter und bewusster mit sexuellen Internet-Angeboten Selbst begrenzte Teilbereiche – wie z.B. sexualbezogener umgehen können (zur sexuellen Kompetenz bzw. sexuel- Erfahrungsaustausch in Online-Foren (innerhalb der Ka- len Bildung, siehe z.B. Valtl, 2008). tegorie „Information und Beratung“) – sind nicht pau- schal zu bewerten, weil hier große Unterschiede zwischen Gender-Kompetenz: Wer die eigene Geschlechtsiden- den Foren bestehen hinsichtlich Teilnehmerkreis, The- tität sowie gesellschaftliche Geschlechterrollen im Zu- men, Kommunikationskultur usw.: Während ein Mann, sam-menhang mit Sexualität stärker reflektiert, entspre- der zwar seine gute Ehe lobt, aber über die jahrelange chende Standpunkte sowie individuelle und kollektive Lustlosigkeit seiner Frau klagt, in einem Forum Dut- Handlungsstrategien entwickelt hat, kann wiederum zende mitfühlender und lösungsorientierter Antworten mit Geschlechterfragen im Zusammenhang mit sexuel- von Frauen und Männern erhält, die ähnliche Schwierig- ler Internet-Nutzung effektiver umgehen: Er oder sie ist keiten überwunden haben, bildet sich in einem anderen z.B. mit Reaktionsmöglichkeiten auf Geschlechterdiskri- Forum bei ähnlicher Fragestellung schnell der Konsens, er minierung in Online-Communities vertraut, kann sich solle sich doch einfach trennen. In wieder einem anderen bei Bedarf geschlechtsrollenkonträres Online-Verhalten Forum bekommt ein Fragesteller mit vergleichbarem An- zugestehen oder kennt Internet-Angebote, die den her- liegen zu hören, allein aus der Formulierung seiner An- kömmlichen heterosexuellen und geschlechterhierar- frage wäre schon abzuleiten, dass er sexuell rücksichtslos chischen Verhältnissen Alternativen entgegensetzen (zu sei und seine Frau ohnehin nicht wirklich liebe. Soll man dem verhältnismäßig neuen, bislang nicht systematisch nun empfehlen, bei sexuellen Problemen auf Online-Fo- auf sexuelle Handlungsfelder, sondern eher auf Be- ren zurückzugreifen? Ja, denn soziale Unterstützung ist rufs- und Bildungskontexte angewendeten Konzept der auf diese Weise erreichbar, allerdings wiederum nur bei Gender-Kompetenz, siehe z.B. Metz-Göckel & Roloff, entsprechender sexualbezogener Internet-Kompetenz. 2005). Die beginnt beispielsweise mit der Kenntnis geeigneter Foren und deren jeweils forumsspezifischen Teilnehmer- kreisen und Verhaltensregeln. 96 Nicola Döring

Im Folgenden werden sexuelle Internet-Aktivitäten männliche Jugendliche sich dort im Zuge der sexuellen entsprechend der genannten sechs Handlungsfelder kurz Selbst-Sozialisation vermitteln, entsprechen völlig der vorgestellt, anhand konkreter Internet-Beispiele illus- heutigen Konsensethik, wie die folgenden Auszüge aus triert und hinsichtlich ihrer Chancen diskutiert. Dabei einem Diskussionsstrang illustrieren: wird auch darauf verwiesen, welche sexualbezogenen In- ternet-Kompetenzen notwendig sind, um positive Erfah- Fragestellerin: rungen zu machen. Die in jedem Handlungsfeld ebenfalls Hallo, ich habe mal eine Frage. findet ihr zu einer vorhandenen Risiken werden – wie bereits betont – kei- guten Beziehung gehört Analverkehr? ich bin mit nesfalls negiert, sind aber nicht Thema dieses Beitrags. meinem Freund schon lang zusammen, haben schon viel ausprobiert und auch das. ich mag es nicht besonders, er meint, das macht fast jeder. Sexuelle Information und Beratung im Internet Antwort 1: Dein Freund labert Scheiße, das sagt er nur, um Nahezu alle Onliner_innen suchen gelegentlich nach Dich zu überreden sexuellen Informationen im Internet, denn das geht Antwort 2: schnell, ist diskret und angesichts der Materialfülle häu- Sehe ich genauso. Es gibt beim Sex kein „muss“, fig zielführend (Döring, 2009b): Sie informieren sich entweder man hat Spaß an gewissen Praktiken oder beispielsweise über Verhütungsmethoden, sexuell über- man lässt es eben weg. Mache nichts, wonach du tragbare Krankheiten oder sexuelle Techniken. Meist keine Lust hast. startet eine entsprechende Recherche mit der Suchma- Fragestellerin: schine Google. Sie ist umso erfolgreicher, je gezielter mit ich denke das ja auch. Vom Prinzip her finde ich es Suchbegriffskombinationen operiert wird. Eine viel ge- nicht schlimm, aber „Lustvoll“ ist es auch nicht. hab nutzte Quelle sexueller Informationen ist die Online-En- ihm das aber auch gesagt und es stört ihn nicht. ich zyklopädie Wikipedia. Auch Sexualaufklärungs-Websites wollte nur mal wissen, ob das wirklich schon eher von Behörden, gemeinnützigen Verbänden und Vereinen etwas „Besonderes“ ist. werden angesteuert (z.B. BzgA: www.loveline.de; Aids- Antwort 4: hilfe: www.aidshilfe.de, www.pflege-deinen-schwanz.de; Ich habe eine arschgeile Beziehung und sicherlich ProFamilia: www.profamilia.de). keinen Analverkehr. Also, nein, er gehört nicht zu Neben reinen Informations-Websites existiert auch einer guten Beziehung. interaktive Online-Beratung. Bei Sextra.de kann man an- Antwort 11: onym eine Frage stellen und erhält binnen 24 Stunden Zu einer guten Beziehung gehört Sex den beide eine individuelle Antwort von ausgebildeteten ProFami- wollen. lia-Berater_innen. Kids-Hotline.de bietet Jugendlichen Sexualberatung über Online-Foren, die von supervi- Der Wunsch nach bildlichem Aufklärungsmaterial – ins- dierten Peer-Berater_innen betreut werden. Andere se- besondere zu Sextechniken – wird u.a. in den Forumsdis- xualbezogene Online-Foren wie z.B. auf der Website der kussionen immer wieder laut. Hier bietet die kommerzi- Jugendzeitschrift Bravo (www.bravo.de: Community: elle Erotikbranche, die neben Männern zunehmend Paare Forum „Sex“) oder der Frauenzeitschrift Brigitte (www. und Frauen als Zielgruppen adressiert, mittlerweile eine brigitte.de: Bfriends: Forum „Sex und Verhütung“) wer- wachsende Zahl an expliziten Aufklärungsvideos, nicht den nicht von Profis, sondern von Laien moderiert. Sie selten von Regisseurinnen (z.B. Carol Queen; Tristan bieten durch das zum Teil mehrjährige Engagement von Taormino für Vivid Entertainment). Der feministische Stamm-User_innen unmittelbare emotionale Anteilnah- Sex-Shop Good Vibrations listet in seinem Online-Shop me, soziale Unterstützung und teilweise sehr hochwertige beispielsweise 59 solcher Filme auf, bietet kurze Beschrei- Informationen. So hat das Sex-Forum der Brigitte nach bungen und Kundenrezensionen sowie kostenpflichtigen zahlreichen kontroversen Online-Diskussionen zum Download (www.goodvibes.com: Sex Education Videos). Umgang mit Pornografie in der Paarbeziehung alltags- Häufiger greifen interessierte User_innen jedoch auf kos- nahe und beziehungsförderliche Tipps unter dem Titel tenlose Mainstream-Pornoclips oder auf Amateurpor- „Männer und Pornos (Versionen für Frau und Mann)“ nografie zurück, um sich anzuschauen, wie bestimmte zusammengestellt, die mittlerweile mehr als 350.000 Mal Techniken oder Stellungen funktionieren. Online-Foren abgerufen wurden (Stand: August 2010). können dann dazu genutzt werden, einschlägige Inter- Im Sex-Forum der Bravo fallen die Beiträge oft deut- netquellen auszutauschen und Seherfahrungen kritisch lich knapper aus als im Brigitte-Forum und oft wird ge- einzuordnen, etwa wenn es darum geht, welche Darstel- witzelt und provoziert. Aber die Werte, die weibliche und lungen weiblicher Ejakulation (Porno-Subgenre „Squir- Internet-Sexualität: Spektrum und Chancen 97 ting“) im Film nun realistisch oder mit anderen Flüssig- werteten (Carroll et al., 2008). Gemeinsame Rezeption keiten simuliert sind. kann im Sinne der Beziehungsfunktion der Sexualität die Kompetente Nutzung sexualbezogener Online-In- Kommunikation über sexuelle Wünsche und deren Um- formationsangebote umfasst hinsichtlich Medienkunde setzung erleichtern und somit sexuelle Intimität steigern z.B. Kenntnisse über qualitativ hochwertige Internet- (Weinberg et al., 2010). Adressen für das jeweilige Anliegen oder über differen- Die Vielfalt und gezielte Durchsuchbarkeit sexuell zierte Suchstrategien. Hinsichtlich Medienkritik ist z.B. expliziter Internet-Angebote erlaubt es, Inhalte passend die Überprüfung der Quellen wichtig. So ist ein Blick ins zum eigenen Begehren auszuwählen. Auch für seltenere Web-Impressum notwendig, um festzustellen, dass Auf- oder ungewöhnlichere Fantasien lassen sich passende klärungs-Websites wie Laralove.de oder FemaleAffairs.de Darstellungen finden. Dies wiederum kann im Zusam- von Pharmaunternehmen betrieben werden. Das Mitle- menhang mit der Identitätsfunktion von Sexualität eine sen und ggf. auch Mitschreiben in sexualbezogenen On- Chance sein, etwa wenn den Beteiligten die Muster ih- line-Foren kann inspirierend und unterhaltsam sein, zur res Begehrens bewusster werden, sie wissen, dass sie mit Genussfähigkeit gehört hier das Akzeptieren forumsty- ihren Fantasien nicht allein sind, Scham- und Schuldge- pischer Kommunikationsstrukturen (z.B. die Fähigkeit, fühle reduziert und sexuelle Selbstakzeptanz gesteigert gezielte Provokationen zu erkennen und zu ignorieren). wird. Das Pornoschauen in der (in der Regel geschlechts- Informationen aus dem Internet gilt es im Zuge der An- homogenen) Gleichaltrigengruppe trägt bei Jugendlichen schluss-Kommunikation in den Alltag zu integrieren und auch dazu bei, sich erwachsener zu fühlen sowie die eige- mit anderen Informationsquellen abzugleichen (z.B. im ne Geschlechts- und sexuelle Identität zu stärken, indem Gespräch mit Ärzt_innen, Freund_innen etc.). man Normabweichendes (z.B. schwule, genderqueere oder transsexuelle Pornografie) kollektiv lächerlich oder „eklig“ findet. Sexuelle Unterhaltung und Stimulation im Internet Sowohl im Alltag als auch in der Fachliteratur sind wertende Pornografie-Definitionen verbreitet, denen ge- Sich im Internet sexuell stimulierende Darstellungen mäß ästhetisch („geschmacklos“, „niveaulos“ etc.) und anzuschauen, gehört für einen großen Teil der männ- vor allem ethisch abgelehnte („menschenverachtende“, lichen Onliner zum Alltag. Die Gruppe der Nutzerinnen „frauenfeindliche“ etc.) sexuell explizite Darstellungen ist hier (noch) deutlich kleiner. Online-Erotika und als „pornografisch“, alle anderen als „erotisch“ etikettiert -pornografie werden überwiegend zur Selbstbefriedigung, werden (vgl. Selg, 2003; Zillmann, 2004; Rückert, 2000). manchmal auch im Rahmen der Paarsexualität und von Objektive Kriterien für eine entsprechende Abgrenzung Jugendlichen oft unter Freunden genutzt. Dass Pornogra- liegen jedoch nicht vor. Oft basiert die Unterscheidung fie durch das Internet öffentlich sichtbarer geworden ist, eher auf persönlichen Geschmacksurteilen oder auch hat einerseits Klagen über Negativfolgen einer „Pornogra- auf ideologischen Vorurteilen gegenüber bestimmten fisierung“ von Jugend und Gesellschaft heraufbeschwo- Ausdrucksformen sexuellen Begehrens (z.B. wenn se- ren. Andererseits ermöglichen erst Ent-Tabuisierung xuell explizite Darstellungen aus der BDSM-Kultur, die und Online-Publikationsmöglichkeiten, dass wir uns mit ausdrücklich der Konsensethik verpflichtet ist, pauschal sexuell expliziten und potenziell stimulierenden Darstel- als gewalthaltige, menschenverachtende oder frauen- lungen privat und öffentlich differenzierter und ehrlicher feindliche Pornografie eingeordnet werden). Auf die Ab- befassen und vermehrt Alternativen zur herkömmlichen grenzung zwischen „guter“ Erotik und „schlechter“ Por- Mainstream-Pornografie verfügbar werden. nografie wird deswegen in der empirischen Forschung Die erregungssuchende Rezeption sexuell expliziter zunehmend verzichtet zugunsten der neutralen Bezeich- Online-Inhalte dient der Lustfunktion der Sexualität. nung „sexuell explizites (Internet-)Material“ SE(I)M Mit der Popularisierung erotischer und pornografischer (z.B. Peter & Valkenburg, 2010). Internet-Inhalte geht eine Normalisierung der historisch Gleichzeitig mehren sich so genannte pornogra- als krankhaft und defizitär verurteilten Masturbation fie-positive Stimmen und Initiativen, die den Porno- bzw. Solosexualität einher. Anhand einer Gelegenheits- grafie-Begriff positiv besetzen und für sexuell explizite stichprobe us-amerikanischer Studierender zwischen 18 Geschichten, Bilder und Filme in Anspruch nehmen, und 26 Jahren zeigte sich beispielsweise, dass 87% der deren Produktionsbedingungen und Inhalte ausdrück- jungen Männer und 31% der Frauen mindestens einmal lich ethischen Kriterien folgen. Aus der Kritik an her- pro Woche (Online-)Pornografie nutzten, wobei 67% kömmlicher, vorwiegend auf ein heterosexuelles männ- der Männer und 49% der Frauen – trotz des religiös-kon- liches Publikum zugeschnittener, industriell produzierter servativen kulturellen Umfeldes – Pornografienutzung Mainstream-Pornografie (die allzu oft hegemoniale ausdrücklich als akzeptablen Bestandteil der Sexualität Männlichkeit, Sexismus, Rassismus, Heteronormativität 98 Nicola Döring

usw. inszeniere) wird die Notwendigkeit der verstärkten 2009). Motive der Kontaktsuche (z.B. Einstellen expli- Produktion und Erforschung von Non-Mainstream-Por- ziter Selbstportraits auf Online-Dating- und Swinger- nografien bzw. Post-Pornografien abgeleitet (vgl. Hardy, Plattformen), der medialen Exploration (z.B. Interesse 2008; Stüttgen, 2009). Dies betrifft vor allem die (in sich an Aktfotografie), der sexuellen Exploration (z.B. Erkun- wiederum stark ausdifferenzierten) Bereiche wie: dung exhibitionistischen und voyeuristischen Vergnü- gens) sowie kommerzielle Interessen (z.B. Vermarktung u feministische / Frauen-Pornografie (z.B. www.can- von pornografischen Eigenproduktionen, oft zusammen didaroyalle.com, www.erikalust.com, www.petrajoy. mit Telefon- und Cam-Sex; z.B. www.mydirtyhobby. de), com; www.redtube.de) kommen zum Tragen. Nicht u schwule / lesbische / transgender / queere Pornogra- zuletzt können explizite Selbstpublikationen auch zur fie (z.B. www.pinkwhite.biz, www.nofauxxx.com) Selbstwertstärkung beitragen, etwa wenn Personen dies- sowie seits wie jenseits gängiger Schönheitsnormen in entspre- u authentische/Amateur-Pornografie (z.B. Laien-Pro- chenden Online-Communities positive Rückmeldungen duktionen: www.redtube.de; www.ishotmyself.com, für ihre Fotos und Videos bekommen. Bei heterosexuellen professionelle Dokumentarfilme: www.comstock- Paaren scheint entsprechend traditionellen Geschlechts- films.com). rollen häufiger der Mann die Frau zu fotografieren oder zu filmen (Schetsche, 2010: 328). Es entwickelt sich aber Die feministische Pro-Porno-Position wurde bereits in auch eine Kultur sexueller Selbstdarstellung von hetero- den 1980er Jahren im Zuge der so genannten „feminis- sexuellen Jungen und Männern, die sich als Sexobjekte in tischen Pornokriege“ (z.B. PorNO-Kampagne der femi- provozierenden Posen und erotischer Bekleidung für den nistischen Zeitschrift „Emma“ im Jahr 1987) in Theorie begehrlichen weiblichen Blick in Szene setzen (z.B. als und Praxis vertreten (z.B. Gründung des lesbischen Por- „Macho-Man“ oder „Indie-Boy“; Richard, 2010: 191). no-Labels „Fatale Media“ im Jahr 1985, www.fataleme- Neben Foto- und Video-Produktionen sind Ama- dia.com). Sie ist somit keineswegs eine Neuerfindung des teur_innen unter anderem auch im Bereich von Zeich- oft als unpolitisch gescholtenen aktuellen „Third Wave nungen und computergenerierter Pornografie (CG- Feminism“, sondern vereint Feministinnen beider Ge- Porn, z.B. www.renderotica.com) sowie sexuell expliziten nerationen (vgl. Duggan & Hunter, 2006). Im Jahr 2006 Geschichten aktiv. Es existieren diverse Plattformen, auf wurde zum ersten Mal der internationale Feminist Porn denen selbstgeschriebene sexuell explizite Texte ausge- Award (www.goodforher.com/feminist_porn_awards) tauscht und hinsichtlich ihrer Qualität diskutiert wer- und 2009 zum ersten Mal der feministische Pornofilm- den, wobei sich offenbar Frauen und Männer beteili- preis Europas „PorYES“ verliehen (www.poryes.de). gen (z.B. www.asstr.org, www.literotica.com; Paasonen, Die Distributions- und Diskussionsmöglichkeiten im 2010). Im Bereich der Fankulturen existiert „Slash“ als Internet haben wesentlich zur Sichtbarkeit von ethisch Fanfiction-Subgenre, das der Beschreibung (homo-) und politisch reflektierten Non-Mainstream-Pornogra- sexueller Interaktionen zwischen Serien-Charakteren fien beigetragen. Keinerlei systematische Daten, sondern gewidmet ist (z.B. Raumschiff Enterprise: Kirk/Spock) nur anekdotische Evidenzen liegen zu den Nutzer_in- und maßgeblich von jungen Frauen produziert wird (z.B. nengruppen der verschiedenen Subgenres vor: So wird http://de.groups.yahoo.com/group/Adult_Fanfictions/; so genannter feministischer oder Frauen-Porno wegen www.slashfiction.de). Eine Slash-Autorin beschreibt auf seiner Qualität auch gerne von heterosexuellen Männern ihrer Homepage den Reiz des Genres so: geschaut, während Schwulenpornografie unter pornoin- teressierten homo- wie heterosexuellen Frauen nicht un- „Zwei gutaussehende, gutgebaute Kerle im Bett ohne beliebt ist. gutaussehende weibliche Konkurrenz sind besser als Internetspezifisch ist neben der großen Vielfalt des nur ein Kerl.“ Zudem seien die Serienhelden keine Angebots auch die Möglichkeit der eigenen aktiven Par- „fremden“ Männer, sondern bereits vertraut: „Viel- tizipation an sexueller Kultur: Internet-Nutzer_innen leicht wollen wir die Jungs, die’s da treiben, einfach können nicht nur vorhandene explizite Inhalte rezipie- kennen und mögen, mitsamt Fehlern, Schwächen ren, sondern Eigenproduktionen publizieren und mit und Macken ... und noch zusätzlich ein Universum, anderen diskutieren. Sexuell explizite Fotos und Filme Geschichten erzählt bekommen und genießen ...“ von Amateuren werden im Internet beispielsweise ne- Slash gelte jedoch als Porno und Schmuddelthema, ben Mainstream-Pornoclips auf den einschlägigen Platt- weshalb sie als Slash-Autorin lieber unerkannt blei- formen (z.B. www.youporn.com, www.xhamster.com) be: „Wenn man das offen zugeben würde, wäre man oder auch über persönliche Homepages verbreitet (vgl. gezwungen, ewig zu erklären, zu argumentieren und Eichenberg & Döring, 2006; Jacobs, 2007; Hardy, 2008, müsste Blicke oder Naserümpfen aushalten, und Internet-Sexualität: Spektrum und Chancen 99

dazu bin ich irgendwie nicht bereit, weshalb eben in Beteiligung an einem Online-Forum für Fernsehserien- meinem realen Leben niemand weiß, was ich im In- fans, einer Online-Community für Pferdefreunde oder ternet so mache.“ einem Online-Spiel ungeplant ergibt (Döring, 2010b). Nicht ganz so trennscharf ist indessen die Abgrenzung Die Vorstellung, im Internet gäbe es nur die altbekannte zwischen der Anbahnung von Liebes- und Sexbezie- Mainstream-Pornografie und die sei ohnehin Männersa- hungen im Internet, auch wenn die mehr als 2.500 ver- che, ist in Öffentlichkeit und Fachliteratur nach wie vor schiedenen deutschen Such-Plattformen diesbezüglich verbreitet, zeugt indessen von mangelnder sexualbezo- grob in verschiedene Gruppen einzuteilen sind (Pflitsch gener Internet-Kompetenz, insbesondere von fehlender & Wiechers, 2009; www.singleboersen-vergleich.de): Medienkunde, wie die hier aufgeführten Praxis-Beispiele und wissenschaftlichen Studien belegen (Innala, 2007). u Online-Partnervermittlungen (z.B. www.parship.de, Informationen über (Non-)Mainstream-Internet-Por- www.elitepartner.de): Hier beantworten die Kon- nografien findet man mittlerweile in Ratgeber-Büchern taktsuchenden einen umfassenden Persönlichkeits- (z.B. Blue, 2006; Lust, 2009) und natürlich im Internet fragebogen und erhalten dann Zugang ausschließlich selbst (z.B. kommentierter Pornofilm-Katalog mit kos- zu den Online-Profilen (Foto, Steckbrief) jener Teil- tenpflichtigem Download-Angebot bei www.goodvibes. nehmer_innen der gewünschten Geschlechts- und com: Movies; Empfehlungsliste auf der Website von Vio- Altersgruppe, die laut Testergebnis gut zu ihnen let Blue: www.tinynibbles.com/smartporn). passen (so genanntes Matching). Online-Partnerver- Zusammengefasst liegen die Chancen der Internet- mittlungen zielen primär auf die Suche nach festen Pornografie darin, lustvolle (statt schambesetzte) Solose- Lebenspartnern ab und haben etwas mehr weibliche xualität zu normalisieren, Anregungen für die Partnerse- als männliche Teilnehmer. xualität zu finden, vielfältige sexuelle Darstellungen auch jenseits der Mainstream-Pornografie verfügbarer und u Online-Kontaktbörsen (z.B. www.friendscout24.de, bekannter zu machen, sowie nicht-kommerzielle sexuell www.neu.de): Hier können und müssen die Teilneh- explizite mediale Ausdrucksformen und Eigenkreationen mer_innen nach verschiedenen Suchkriterien (z.B. von Frauen und Männern zu fördern. Obwohl die Be- Geschlecht, Alter, Wohnort, Körpergröße, Hob- teiligten mehrheitlich subjektiv positive Effekte der On- bies) eigenständig aus dem Pool aller verfügbaren line-Pornografie erleben (Hald & Malamuth, 2009), ist Online-Profile sie interessierende Kontaktpartner auch zu beachten, dass diese oft nur ein geringes Ausmaß auswählen. Die Premium-Mitgliedschaft für On- haben und Medieneinflüsse im Kontext der zahlreichen line-Kontaktbörsen ist etwas preisgünstiger als für anderen Faktoren, die sexuelles Erleben und Verhalten Online-Partnervermittlungen und es werden neben beeinflussen, stets zu relativieren sind. Lebenspartnern auch häufiger unverbindlichere Flir- ts und Affären gesucht.

Sexuelle Kontakte und Beziehungen im Internet u Plattformen für sexuelle Kontakte (Adult Dating, z.B. www.poppen.de, adultfriendfinder.com): Hier ste- Via Internet können sexuelle Kontakte angebahnt wer- hen sexuelle Motive des Kennenlernens im Vorder- den, die entweder auf Treffen außerhalb des Netzes hin- grund. Auf den Online-Profilen präsentieren sich auslaufen (Offline-Sex) oder als computervermittelte die Teilnehmer_innen unter anderem mit erotischen sexuelle Interaktionen gestaltet werden (Online-Sex, Fotos und Angaben zu ihren sexuellen Präferenzen. virtueller Sex, Cybersex: CS). Im Unterschied zu sexuel- Geschlechtsrollenkonform sind auf den Sexkontakt- len Dienstleistungen finden diese Kontakte ohne finan- Plattformen mehr männliche als weibliche Teilneh- zielle Interessen statt. Bei den im Internet angebahnten mer registiert. Sexkontakten kann es sich um flüchtige Begegnungen handeln, es können aber auch langfristige persönliche u Plattformen für spezielle Zielgruppen (Nischen-An- Beziehungen entstehen bzw. bestehende Bindungen on- bieter): Hier werden bestimmte Zielgruppen adres- line gepflegt werden (z.B. wenn Menschen in Fernbezie- siert, und zwar zum einen sexuelle Minderheiten hungen das Internet nutzen, um einander in sexuellen (z.B. www.gayromeo.com; www.lesarion.de; www. Chats oder Videokonferenzen nahe zu sein). sklavenzentrale.de), zum anderen aber auch diverse Bei der Anbahnung von neuen sexuellen Kontakten weitere Bevölkerungsgruppen, z.B. Übergewichtige, und Beziehungen im Internet ist die gezielte Partnersuche Alleinerziehende; gläubige Christen oder Singles aus über entsprechende Such-Plattformen abzugrenzen vom der Gothic-Szene. beiläufigen Kennenlernen, das sich z.B. im Rahmen der 100 Nicola Döring

Laut einer bevölkerungsrepräsentativen Studie der On- gefiltert werden. Somit ist es normal, dass Kontakte line-Partneragentur Parship.de haben unter den heute auch schnell – und nicht selten kommentarlos – wieder 38 Millionen partnerschaftlich gebundenen Personen abbrechen. Wer diesen Mechanismus nicht akzeptiert in Deutschland 6 Millionen (16%) ihren Partner online und jedes Mal persönlich beleidigt und gekränkt ist, den kennengelernt. 84% von ihnen sind „zufrieden oder sehr Kontaktpartner belagert und inquisitorisch nach „Grün- zufrieden“ mit ihrer Beziehung gegenüber 77% der her- den“ fragt, wird emotional bald zermürbt. Ebenso sind kömmlichen Paare (Parship, 2010). Derartige Daten, die im Sinne von Gender-Kompetenz die geschlechtsrollen- auf eine größere Beziehungszufriedenheit der Online- spezifischen Mechanismen zu beachten, die auf hetero- Paare hindeuten (siehe auch Baker, 2005) sind jedoch sexuellen Kontakt-Plattformen wirken: Männern wird mit Vorsicht zu interpretieren, da Kontrollvariablen (Be- auch online traditionell eher die Aufgabe zugeschrieben, ziehungsdauer, Bildungsstand etc.) nicht berücksichtigt den ersten Schritt zu tun. Dementsprechend klagen viele wurden. In einer Befragung von 1.276 Online-Dating- Männer über die „Arroganz“ oder „Unhöflichkeit“ der Nutzer_innen durch Singlebörsen-Vergleich.de zeigte Frauen, wenn diese ihre Kontaktanfragen unbeantwortet sich, dass die große Mehrheit (68%) sich schon real mit lassen. Gleichzeitig monieren wiederum viele Frauen, dass Online-Kontakten getroffen hatte. Diese berichteten wie- sie massenhaft und wahllos von Männern angeschrieben derum mehrheitlich (74%) von Sex mit einer (26%) oder werden. So wird sich die sportliche 30-Jährige, die sich in mehreren (48%) Internet-Bekanntschaften. Lediglich bei einer Online-Singlebörse umschaut, kaum bemüßigt füh- 26% mündete noch kein Internet-Date in eine sexuelle len, einem übergewichtigen 50-jährigen Familienvater zu Begegnung (Singlebörsen-Vergleich, 2010). Komfort und antworten, der anfragt, ob sie nicht Nacktfotos tauschen Effizienz des sexuellen „Online-Cruisings“ haben dazu ge- möchte. Umgekehrt werden viele männliche Kontaktsu- führt, dass mittlerweile nicht nur homo-, sondern auch cher nicht mehr bereit sein, individuell zugeschnittene heterosexuelle Internet-User_innen häufiger auf spon- Anfragen zu verfassen, wenn sie ohnehin meist unbe- tane Sexpartner-Suche gehen (Couch & Liamputtong, antwortet bleiben, und stattdessen ihr Anliegen lieber 2008). Die Verfügbarkeit des Internets auf mobilen End- gleich möglichst breit streuen. Wer diese Mechanismen geräten (z.B. Smartphones) unterstützt diesen Trend, einbezieht, kann sich bewusster dazu verhalten und bei- weil im Zuge des Mobile Dating gezielt sexsuchende Per- spielsweise auch mit geschlechtsrollenkonträrem Verhal- sonen mit passendem Online-Profil identifiziert werden ten erfolgreich sein. Wem es gelingt, sich eine spielerische können, die sich aktuell in räumlicher Nähe aufhalten. Haltung zu bewahren und immer wieder Abstand zum Der Erfolg der Online-(Sex-)Partnersuche ist eben- Geschehen zu gewinnen, kann Online-Dating eher als so wenig kontrollierbar wie der Erfolg der Offline-Part- bereichernde Ergänzung herkömmlicher Kontaktmög- nersuche. Zufall und Glück spielen in beiden Fällen eine lichkeiten erleben. Rolle. Zudem unterscheiden sich die Chancen der Part- Die emotionalen Risiken der Enttäuschung und Ver- nersuchenden sehr stark in Abhängigkeit vom eigenen letzung durch ausbleibende Antworten, Absagen, geplatzte „Marktwert“. Schließlich spielt die Online-Dating-Kom- Dates, mangelnde Verbindlichkeit oder das Gefühl, von petenz eine zentrale Rolle. Das beginnt mit der Gestal- zu vielen oder unangemessenen Botschaften überfordert tung des eigenen Online-Profils: Online-Profile, die den zu werden usw. sind im Alltag deutlich präsenter als die konventionellen Schönheitsidealen entsprechende Fotos in den Medien stark übertriebene Gefahr, beim Internet- und originelle, positive Selbstbeschreibungen enthalten, Date an Kriminelle zu geraten. Dennoch sollten Sicher- kommen am besten an. Fotolose und wortkarge oder heitsvorkehrungen getroffen werden: Online-Profile soll- floskelhaft formulierte Profile haben dagegen weniger ten kritisch gelesen und die Angaben im Zweifelsfall aktiv Chancen. Eine übertriebene Anspruchs- und Erwartungs- verifiziert werden. Der Mail- und Telefonkontakt sollte haltung (z.B. die Vorstellung, die bezahlte Mitgliedschaft über separate und im Notfall (z.B. Stalking) abschaltbare auf einem Dating-Portal würde sozusagen automatisch Adressen und Telefonnummern (Prepaid-Handy) erfol- schnelle und erfolgreiche Kontakte garantieren) sorgt gen. Private oder berufliche Anschriften sollten nicht zu für Enttäuschungen. Letztlich sind herkömmliche soziale früh preisgegeben werden, Verabredungen zunächst an Fertigkeiten auch bei der gezielten Online-Kontaktan- öffentlichen Orten stattfinden und Safer-Sex-Prinzipien bahnung gefragt (z.B. Höflichkeit, Humor, Perspektiven- beherzigt werden. Entsprechende Hinweise zur Förde- wechsel, Geduld etc.). rung der Online-Dating-Kompetenz sind mittlerweile in Ebenso sind Kenntnis und Reflexion der Besonder- zahlreichen Ratgeber-Büchern und auch im Internet zu heiten des Online-Dating notwendig (Döring, 2010b): Da finden (z.B. www.singleboersen-vergleich.de/tipps.htm; in der unverbindlichen Suchphase meist mehrere Platt- Tipps für die Generation 50+: Fischbach & Hegmann, formen gleichzeitig genutzt und viele Kontakte parallel 2008). Die Wahrscheinlichkeit positiver Online-Dating- aufgenommen werden, muss bei der Kontaktvertiefung Erfahrungen wächst mit der Erfahrung der Beteiligten: Internet-Sexualität: Spektrum und Chancen 101

Eine Mindestzahl an Verabredungen ist ebenso notwen- ter 20 Jahre) berichteten 13% der männlichen und 7% dig wie die Fähigkeit und Bereitschaft dazuzulernen und der weiblichen Jugendlichen, dass sie in den letzten 12 das eigene Dating-Verhalten zu modifizieren (Gibbs et Monaten Sex-Chat-Rooms besucht hatten, Online-Por- al., 2006). nografie hatten dagegen 72% der männlichen und 24% Im Zuge der Online-Suche nach Offline-Sex kann es der weiblichen Befragten heruntergeladen (Boies, 2002: bei den anbahnenden Mail-, Chat- oder Telefon-Kontak- 82). Frauen haben offenbar eine stärkere Vorliebe für Cy- ten bereits zu mehr oder minder offen sexuellen Interak- bersex als Männer (Cooper et al., 1999; Döring, 2000). tionen kommen (Cybersex, Telefonsex). Ein Teil der On- In einer schwedischen Stichprobe von Onliner_innen, line_innen strebt jedoch gar keine Sex-Treffen außerhalb die das Internet sexualbezogen nutzten, gaben rund ein des Internet an, sondern beschränkt sich bewusst auf vir- Drittel der Frauen und Männer Cybersex-Erfahrungen tuelle Sexualkontakte. Beim Cybersex suchen die Beteilig- an (Daneback et al., 2005). Mit Ausnahme der jüngsten ten sexuelle Erregung und Befriedigung, indem sie mehr Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen waren in allen an- oder minder explizite digitale Text-, manchmal auch deren Altersgruppen die Frauen Cybersex-aktiver als die Bild- und/oder Video-Botschaften füreinander produzie- Männer (25–34 Jahre: Frauen: 35%, Männer: 30%; 35–49 ren und in schnellem Wechsel miteinander austauschen, Jahre: Frauen: 37%, Männer: 25%; 50–65 Jahre: Frauen: nicht selten wird dabei masturbiert. Eine Reihe sexueller 22%, Männer: 13%). Risiken sind beim Cybersex – ebenso wie beim Solosex Zusammenfassend lässt sich festhalten: Interessierte – eliminiert (z.B. ungeplante Schwangerschaften, sexuell Internet-Nutzer_innen können mit Hilfe entsprechender übertragbare Krankheiten, körperliche Übergriffe, soziale Online-Dating-Plattformen sehr viel leichter und ge- Stigmatisierung). zielter Offline-Sexualkontakte anbahnen als außerhalb Im Unterschied zum Solosex bietet Cybersex jedoch des Netzes (z.B. in Bars, Diskotheken). Zwar haben ge- Gratifikationen von Partnersex wie sexuelle und emoti- mäß dem „Matthäus-Effekt“ (wer hat, dem wird gege- onale Intimität. Die Besonderheit des Cybersex besteht ben) insbesondere Personen mit ohnehin hoher sexu- darin, dass sexuelles Erleben und sexuelle Fantasien in eller Attraktivität gute Chancen, auch im Internet viele einem für Face-to-Face-Situationen untypischen Aus- Partner_innen zu finden. Darüber hinaus ergeben sich maß in Worte gefasst werden, wodurch ein hohes Maß aber auch für bislang benachteiligte Gruppen neue Kon- an Intimität und Erregung entstehen kann. Mediale Dis- taktchancen, etwa für Personen mit besonderen Vorlie- tanz, Anonymisierbarkeit und Schriftlichkeit tragen dazu ben, die im Internet gezielt Gleichgesinnte treffen kön- bei, Hemmschwellen abzubauen und besonders offen zu nen, während sie offline öfter isoliert bleiben, oder für kommunizieren. Sexuelle Neigungen und Vorlieben, die Personen, die im unmittelbaren Umfeld starker sozialer außerhalb des Netzes aus Angst vor Ablehnung verheim- Kontrolle unterliegen. Zudem hat sich mit dem Cybersex licht werden, können im Netz eher ausgelebt werden, eine neue Form der sexuellen Begegnung etabliert, die es was oft als befreiend erlebt wird und die Selbstakzeptanz erlaubt, sexuelle Intimität in einem körperlich risikolosen steigern kann (McKenna et al., 2001). Online-Sex bietet und spielerischen Rahmen zu gestalten und dabei eigene die Möglichkeit, in einem eher spielerischen und sicheren Handlungsspielräume zu erweitern. Rahmen neue sexuelle Erfahrungen zu sammeln oder häufiger mit unterschiedlichen Partner_innen sexuell aktiv zu werden. Cybersex ist nicht körperlos, denn zum Sexuelle Dienstleistungen im Internet einen werden körperliche Merkmale und Reaktionen in der Cybersex-Interaktion symbolisch inszeniert und zum Das Internet dient einerseits der Vermarktung herkömm- anderen werden sexuelle Erregung und Befriedigung kör- licher Offline-Sexarbeit (z.B. Werbung für Bordelle und perlich erlebt. Escorts, Organisation von Sextourismus) und ermög- Cybersex ist nicht als defizitärer Ersatz für „echten licht andererseits neue Formen der Online-Sexarbeit Sex“ einzuordnen, sondern als eine spezifische sexuelle (v.a. Live-Sexshows via Webcam, z.B. www.livejasmin. Ausdrucksform zu verstehen, die sich mit unterschied- com, wo Frauen, Männer und Paare kostenpflichtige lichen Funktionen und Bedeutungen in das Sex- und Be- Live-Shows offerieren). Internet-Nutzer_innen haben ziehungsleben der Beteiligten einfügt und die herkömm- dadurch erweiterte Möglichkeiten, sexuelle Dienstleis- liche Paarsexualität eher ergänzt als ersetzt. Insgesamt ist tungen in Anspruch zu nehmen oder selbst anzubieten. es eine deutlich kleinere Gruppe von Internet-Nutzer_ Im Unterschied zur Pornografie, die aus vorproduzierten innen, die für sexuelle Stimulation aktiv soziale Cyber- sexuellen Texte, Bildern oder Filmen besteht, beinhaltet sex-Kontakte herstellt im Vergleich zu den eher passiven die Sexarbeit einen interpersonalen Kontakt in Echtzeit Konsument_innen von Online-Pornografie. In einer zwischen Kunden und Sexarbeiter_innen (z.B. können studentischen Stichprobe aus Kanada (Durchschnittsal- bei einer Live-Sexshow im Internet die Gäste den Dar- 102 Nicola Döring

steller_innen vorgeben, was diese vor der Web-Kamera marktung nicht-digitaler Produkte (z.B. Vibratoren, Kon- tun sollen). dome, Aphrodisiaka, Reizwäsche, Erotik-Zeitschriften Chancen dieser Entwicklung bestehen beispielsweise und DVDs, letztere werden neuerdings auch verstärkt darin, dass über Online-Foren für Prostitutionskunden als Internet-Download angeboten). Online-Sex-Shops diese Zielgruppe direkt erreichbar ist – beispielsweise für existieren teilweise als Webpräsenzen bestehender Off- Safer-Sex-Informationen. So hat die Initiative Sexsicher. line-Sex-Shops (z.B. die bereits zitierte Online-Präsenz de Safer-Sex-Informationen speziell für Prostitutions- www.goodvibes.de des feministischen Sexshops „Good kunden erstellt, dabei deren Informationsbedarf einbe- Vibrations“ in San Francisco), teilweise aber auch als ei- zogen, zielgruppenspezifisches Vokabular gewählt und genständige Internet-Shops (z.B. www.eis.de). durch Kooperation mit den Webmastern dafür gesorgt, Die Vorteile für die Kundschaft bestehen darin, dass dass auf einschlägigen deutschsprachigen Freier-Com- im Internet eine größere Auswahl, mehr Hintergrundin- munities (z.B. bordellcommunity.com) mit Werbeban- formationen, günstigere Preise und ein angenehmeres, nern auf www.sexsicher.de verlinkt wird (Langanke & diskretes Einkaufserlebnis geboten wird als im herkömm- Ross, 2009). Professionelle Sexarbeiter_innen berichten, lichen Offline-Sexshop. dass sich ihre Arbeitsbedingungen verbessert haben, seit Online-Sexshops von und für Frauen boomen (z.B. sie nicht mehr auf der Straße oder im Bordell tätig sind, www.annsummers.com, www.marg.at, www.femmefa- sondern per Webcam arbeiten (Podlas, 2000). tale.de). Sie bieten ein breites und qualitativ hochwertiges Das Internet trägt durch die Sichtbarkeit und leichte Angebot, lassen Dildos und Vibratoren als modische Life- Erreichbarkeit von kommerziellen Sex-Cams zur Nor- style-Produkte erscheinen und vermitteln neue, teilweise malisierung von Sexarbeit bei. Weil die Einstiegshürde auch selbstbestimmtere Bilder weiblicher Sexualität (Att- z.B. beim Betreiben einer Sex-Cam relativ niedrig ist und wood, 2005). Möglicherweise ist es unter anderem die- die mediale Distanz ein Arbeiten ohne jegliche mit Kör- ser auch Internet-getriebenen Normalisierung von Sex- perkontakt verbundene Risiken ermöglicht, beteiligen spielzeug zu verdanken, dass sich erstmals im November sich auch viele Amateur_innen, die wiederum den Profis 2009 der Verbraucherschutz (Ökotest) den Vibratoren Konkurrenz machen. Eine stärkere Ent-Stigmatisierung zuwandte, was angesichts der tatsächlichen Schadstoff- von Sexarbeit könnte die sozialen Lebensbedingungen belastung bei bestimmten Herstellern offenbar überfällig von Profis und ihren Angehörigen verbessern und gesell- war. schaftlicher Ausgrenzung entgegen wirken. Die Rolle der Amateur_innen, die durch Online-Verkauf von Ama- teurpornografie, durch eigene Sex-Cams oder Telefon- Sexuelle Szenen und Minderheiten im Internet sex-Angebote neuerdings verstärkt am Markt teilnehmen (Ray, 2006) sowie im Rahmen von Fan-Treffen teilweise Menschen mit seltenen sexuellen Orientierungen oder die Grenze zur Prostitution verwischen, ist heute weitge- Vorlieben – ob bi, lesbisch oder schwul, Swinger oder hend unklar. Fetisch, BDSM oder Trans* –, die in ihrem sozialen Die Abwägung der Internet-bedingten Chancen und Umfeld außerhalb des Netzes manchmal kaum Gleich- Risiken ist im Bereich sexueller Dienstleistungen auf- gesinnte vorfinden, können sich im Internet vergleichs- grund der hohen Komplexität des Gegenstandes beson- weise einfach und kostengünstig organisieren. Dies gilt ders schwierig. Zudem sind Fragen rund um die Kom- insbesondere auch für sehr kleine Spezialkulturen (z.B. merzialisierung von Sexualität aus ideologischen Gründen rund um spezielle Fetische), deren Mitglieder geografisch hochgradig kontrovers und werden oft mit pauschalen weit verstreut und meist nicht öffentlich sichtbar sind. Pro- und Kontra-Positionierungen anstelle differenzier- Sexuelle Szenen und Minderheiten nutzen das Internet ter Analysen beantwortet. Gleichzeitig handelt es sich sowohl für die interne Vernetzung als auch für die öf- hier um den bislang von der empirischen Forschung am fentliche Selbstdarstellung. Dies beinhaltet beispielsweise meisten vernachlässigten Bereich der Internet-Sexualität. Informationsaustausch, soziale Unterstützung, politische Interessenvertretung usw. (Hillier & Harrison, 2006; Dö- ring, 2009a). Sexuelle Produkte im Internet Internet-Nutzer_innen haben die Möglichkeit, sich diskret über entsprechende sexuelle Spezialkulturen zu Internet-Nutzer_innen können sich über sexuelle Hilfs- informieren und sich ihnen bei entsprechendem Interesse mittel und Spielzeuge informieren und diese Produkte zunächst anonym und unverbindlich online anzuschlie- diskret online kaufen. Während es sich bei kommerzieller ßen. Die Internet-Plattformen sexueller Minderheiten Online-Pornografie um digitale Güter handelt, konzent- ergänzen teilweise bestehende Offline-Gemeinschaften rieren sich Online-Sex-Shops in der Regel auf die Ver- (z.B. Internet-Präsenzen von gemeinnützigen Vereinen, Internet-Sexualität: Spektrum und Chancen 103 z.B. transmann.de), teilweise handelt es sich aber auch Mit dem Spektrum und den Chancen sexueller On- um genuine Online-Angebote (z.B. www.lesarion.de: line-Aktivitäten vertraut zu sein, ist in der sexualmedizi- 114.000 Mitglieder, www.gayromeo.com: 1 Million Mit- nischen und sexualtherapeutischen Praxis zumindest aus glieder, www.sklavenzentrale.com: 153.000 Mitglieder, drei Gründen vorteilhaft, die abschließend noch einmal Angaben laut Plattform-Anbieter, Stand: August 2010). zusammengefasst seien: Online-Plattformen sexueller Szenen können Angebote zu allen bislang genannten Aktivitätstypen integrieren u Begleitung der sexualbezogenen Internet-Nutzung von (z.B. auf die jeweilige sexuelle Präferenz zugeschnittene Patient_innen: Sexualbezogene Online-Erfahrungen, Sexualaufklärung und Beratung, Erotika und Pornogra- die zunehmend mehr Patient_innen bereits mitbrin- fie, sexuelle Kontakte und Beziehungen, sexuelle Dienst- gen, lassen sich umso besser einordnen und verste- leistungen, Sexprodukte). hen, je genauer man über die verschiedenen Formen Die Teilnahme an entsprechenden Online-Gemein- sexueller Internet-Nutzung informiert ist. Günstig schaften kann zur Selbstakzeptanz beitragen und ein Co- ist es, wenn Patient_innen sich mit ihren sexualbe- ming-Out außerhalb des Netzes vorbereiten (McKenna zogenen Online-Erfahrungen bei Bedarf anvertrau- & Bargh 1998). Auch Angebote für Angehörige gehören en können, ohne befürchten zu müssen, auf Unver- zum Spektrum. Meist sind die Online-Plattformen die ständnis zu stoßen. Ebenso ist es wünschenswert, erste Anlaufstelle, bevor dann (z.B. über Stammtische, wenn Patient_innen, die im Zuge ihrer sexuellen Gesprächskreise, Partys) reale Kontakte in der Szene fol- Internet-Aktivitäten wiederholt auf ähnliche Schwie- gen. Insbesondere für Menschen, die durch soziale Kon- rigkeiten stoßen (z.B. im Zusammenhang mit ständi- trolle oder Wohnort keinen Zugang zu den jeweiligen gen Zurückweisungen oder Resonanzlosigkeit bei der urbanen Szenen haben, bieten die entsprechenden Com- Online-Partnersuche) professionell darin unterstützt munities im Internet eine wichtige Quelle sozialer Un- werden, ihr sexuelles Online-Verhalten zu reflektie- terstützung (z.B. homosexuelle Jugendliche in ländlichen ren. Anstatt – wie unter Betroffenen nicht unüblich Regionen oder mit Migrationshintergrund). – das Problem auf „das Internet“ oder „die Fakes“ zu schieben, können sich stets nach dem selben Muster wiederholende negative Online-Erfahrungen als Ka- talysator oder Brennglas bestehender psychosozialer Fazit für Forschung und Praxis Probleme begriffen und bearbeitet werden. Vielleicht handelt es sich aber auch nur um mangelnde sexual- Es ist eine wichtige Aufgabe für Forschung und Praxis, bezogene Internet-Kompetenz. Hierbei kann es sinn- dazu beizutragen, dass Mädchen wie Jungen, Männer voll sein, die betreffenden Online-Aktivitäten sehr wie Frauen noch besser darin unterstützt werden, die genau zu betrachten und zu besprechen (z.B. Gestal- Potenziale des Internet zur Förderung sexuellen Wohl- tung des Online-Profils, Interpretation versendeter befindens auszuschöpfen. Dies darf sich nicht auf Ge- oder erhaltener E-Mail-Botschaften, Umgang mit zu fahrenwarnungen beschränken. Gefragt sind auch Be- wenigen oder zu vielen eingehenden Nachrichten). kanntmachung qualitativ hochwertiger sexualbezogener Online-Angebote sowie eine Förderung der sexualbezo- u Sexualbezogene Internet-Empfehlungen für Patient_ genen Internet-Kompetenz. Denn auch im Internet gibt innen: Patient_innen und Klient_innen können im es weder gute Sexualaufklärung noch aufregende Sex- Zuge der Arbeit an Problemlösungen gezielt auf pas- Dates einfach so „per Mausklick“. Notwendig ist Medi- sende sexualbezogene Internet-Angebote aufmerk- enkunde, zudem Kritik- und Genussfähigkeit sowie die sam gemacht werden, sofern sie diese nicht ohnehin Fähigkeit zur Anschluss-Kommunikation mit jeweils bereits nutzen. Je weniger Internet-Kompetenz die relevanten Bezugspersonen. Neben diesen Bestandteilen jeweiligen Zielgruppen – beispielsweise vereinsamte der Medienkompetenz tragen auch sexuelle Kompetenz ältere Menschen mit Technikangst, homosexuelle und Gender-Kompetenz dazu bei, sexualbezogene On- Jugendliche aus bildungsfernen Milieus etc. – mit- line-Aktivitäten individuell fruchtbar zu machen. Me- bringen, desto genauere Empfehlungen (z.B. auch thoden der Online-Forschung (z.B. Feldbeobachtung in für konkrete Plattformen und Suchstrategien) sind Online-Communities, Online-Inhaltsanalysen, Online- notwendig. Interviews, Online-Fragebögen) sind besonders einschlä- gig, um sexualbezogene Formen der Internet-Nutzung u Mitwirkung als Experte an sexualbezogenen Internet- und deren konstruktive Potenziale wissenschaftlich ge- Angeboten: Insbesondere auf Online-Plattformen zur nauer zu untersuchen. Sexualaufklärung, in Peer-Beratungs-Foren oder in Communities sexueller Spezialkulturen artikulieren 104 Nicola Döring

sich immer wieder medizinische und/oder psycho- und Forschungsstand. In: Jörg Metelmann (Hrsg.), Porno- therapeutische Fachfragen. Hier können – in Abspra- Pop II. Im Erregungsdispositiv. Würzburg: Königshausen & che mit den entsprechenden Betreibern der Dienste Neumann. Döring, N., 2010b. Wie wir Liebes- und Sexpartner im Internet – Expert_innen wertvolle Beiträge liefern (z.B. Chat- finden. Der aktuelle Forschungsstand. psychosozial 9/2010 Sprechstunden abhalten, Foren moderieren, Fachin- Duggan, L., & Hunter, N., 2006. Sex Wars. Sexual Dissent and formationen zuliefern oder vorliegende Online-In- Political Culture. New York: Routledge. formationen überprüfen). Eichenberg, Ch., Döring, N., 2006. Sexuelle Selbstdarstellung im Internet. Ergebnisse einer Inhaltsanalyse und einer ex- plorativen Befragung zu privaten Websites. Zeitschrift für Sexualforschung 19(2): 133–153. Literatur Fischbach, L., Hegmann, E., 2008. Liebe aus dem Netz. On- linedating mit 50+. 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Autorin Prof. Dr. phil. habil. Nicola Döring, Institut für Medien und Kommunikationswissenschaft, Technische Universität Ilmenau, Ehrenbergstraße 29, D-98693 Ilmenau, Email: [email protected], Web: www.nicola-doering.de Themenschwerpunkt Sexuologie

Die kriminogenischen Qualitäten des Internets – Zur Sammlung und Verbreitung von Missbrauchsbildern von Kindern* Max Taylor, Ethel Quayle

Criminogenic qualities of the internet in the Die kontinuierliche Beteiligung einer großen Zahl von Menschen am Handel und am Austausch von Bildern, collection and distribution of abuse images auf denen der Missbrauch von Kindern dargestellt wird, of children scheint angesichts der verhängten hohen Strafen über- raschend. Der relativ hohe Level der Aktivitäten scheint auch merkwürdigerweise vom Risiko der Entdeckung Abstract unbeeinflusst zu sein, was vielleicht als Beweis für die The text focuses on a series of general suggestions for pre- Unzulänglicheit von Abschreckung als Mittel, um diese venting Internet crime in regard to the distribution of child Art von Straftaten zu verhindern, verstanden werden abuse images. Instead of the usual approach of addressing kann (vor allem auch mangels geeigneter präventiver the perpetrators’ deviant personality structure, it queries the Maßnahmen auf dieser Ebene). Vielleicht ist es aber auch particular criminogenic qualities which the Internet with its eine Reaktion auf so etwas wie die extrem gleichbleibende technological structure readies. Nachfrage. Aber vielleicht widerspiegelt diese andau- The authors point out that the speed of the Internet makes ernde große Teilnahme auch manche Eigenschaften des it into something like a wish-fulfilling machine; they work Internets im Zusammenhang mit der Art wie Individuen out the affordance character of Internet links, i.e. the inva- und das Internet zusammen agieren. riability of their command structure. Rather than dealing Die Ursachen für die Beschäftigung mit Internet- with social-based initiatives, the authors investigate the Bildern, die den Missbrauch von Kindern darstellen, sind technological means with which this misuse of the Internet vielfältig (Taylor & Quayle, 2003). Mit einigem Recht can be combated. lässt sich annehmen, dass ihre sexuellen Eigenschaften Keywords: Abuse images of children, criminogenic qualities, von primärer Bedeutung sind, aber das an sich erklärt internet, affordance, prevention initiatives nicht die Gesamtheit des Verhaltens. Zum Beispiel sind Sammlungen von vielen Tausenden von Bildern relativ Zusammenfassung häufig, und es ist schwierig zu verstehen, welche Form Der Text zielt auf eine Reihe von generellen Vorschlägen zur von sexueller Aktivität solche Riesensammlungen bewir- Verhinderung von Internetkriminalität im Zusammen­hang ken, zumal manche Täter berichten, dass sie innerhalb mit der Verbreitung von Missbrauchsbildern von Kindern­ ihrer großen Sammlungen eine viel kleinere Zahl von ab. Orientiert wird nicht wie bislang primär auf die deviante Bildern favorisieren. Wenn der Hauptzweck der Bilder Persönlichkeitsstruktur der Täter, sondern auf die besonde- in einer sexuellen Aktivität wie der Masturbation liegt, ren „kriminogenischen“ Eigenschaften, die das Internet auf- dann lässt sich fragen, warum die Täter unter hohem grund seiner technologischen Struktur bereithält. Neben der persönlichen Risiko große Sammlungen anlegen, die Tatsache, dass das Internet mittels seiner Geschwindigkeit so offensichtlich über die bloße sexuelle Stimulation hin- etwas wie eine „Wunscherfüllungsmaschine“ ist, wird auch ausgehen. Was liegt diesem Verhalten zugrunde, und wie der „Affordanz“-Charakter der Internet-Links – ihre invariante können wir es erklären? Aufforderungsstruktur – herausgearbeitet. Die Vorschläge Es gibt ohne Zweifel ein großes Spektrum von Ant- zur Prävention setzen somit auch nicht an sozialtechnischen worten auf diese Frage. Für einige „Sammler“ haben Initiativen an, sondern bei der Frage, mit welchen „harten“ ohne Zweifel die nicht-sexuellen Faktoren, wie beispiels- technologischen Mitteln eingegriffen werden kann. weise der soziale Kontakt eine große Bedeutung. Für an- Keywords: Missbrauchsbilder von Kindern, kriminogenische dere ist der Prozess des Sammelns an sich zentral (Taylor Qualitäten, Internet, Affordanz, Präventionsinitiativen & Quayle, 2003). Wie dies auch immer sein mag, dieser Text beruht auf der Annahme, dass es die speziellen Ei- genschaften des Internets selbst sind, die diese abartigen * Aus dem Englischen übersetzt und redaktionell bearbeitet von Margy Gerber und Rainer Alisch Verhaltensweisen hervorrufen. Sexuologie 17 (3–4) 2010 106–113 / Akademie für Sexualmedizin http://www.sexualmedizin-akademie.de/sexuologie Die kriminogenischen Qualitäten des Internets – Zur Sammlung und Verbreitung von Missbrauchsbildern 107

Ohne die Fragen des Kinderschutzes in Bezug auf Verhältnis, das bereits auf vielen Gebieten Aufmerksam- Herstellung, Handel und Sammeln von Missbrauchsbil- keit gefunden hat. Dies ist aber bislang nicht dazu benutzt dern vernachlässigen zu wollen, erscheint es zweckmäßig, worden, um die potentiellen kriminogenischen Eigen- dieses Verhalten nicht nur in der Perspektive des sexuel- schaften des Internets zu verstehen. len Missbrauchs per se zu betrachten, sondern es in einen allgemeineren Rahmen des Internet-Missbrauchs an sich zu stellen. Quayle und Taylor haben ein Model entwi- ckelt, mit dem sich das Verhaltens-Management von Tä- Kriminogenische Eigenschaften des Internet tern beeinflussen lässt. Dieses basiert auf Prinzipien des Cognitive Behaviour, die Interventionen ausdrücklich im Das Internet bringt enorme Nutzen und ist an sich na- Kontext des Internet-Missbrauchs positionieren. Taylor türlich nicht kriminalitätsverursachend. Es beinhaltet al- & Quayle (2006) haben diese Analyse ausgeweitet, um lerdings einige spezifische Eigenschaften, die zwar nicht den kriminellen Kontext hervorzuheben, wie er sich aus notwendigerweise zur Kriminalität führen, aber unter den der Perspektive der Rational Choice Theory ergibt (Cor- entsprechenden Gegebenheiten kriminelle Handlungen nish & Clarke, 1986). Diese Theorie hebt an Hand von begünstigen können. Aber was sind diese Eigenschaften? Faktoren, die den Entscheidungsprozess beeinflussen, auf Qualye und andere Mitarbeiter (2006) präsentieren eine die Bedeutung des situativen Kontextes ab, in dem sich Zusammenstellung von Effekten, die das Internet auf der Täter in der Periode unmittelbar vor und während Menschen haben kann, die bereits eine kriminelle Aktivi- der Tatzeit befindet. Diese Faktoren werden oft beschrie- tät aufweisen, nämlich problematisches Sexualverhalten. ben als stimulierende Eigenschaften („cue qualities“) der Das Internet vermag: Umweltereignisse und als Effekt dieser cues („Reize“) auf den Entscheidungsablauf. Dies kann von besonderer Be- u die Laune zu ändern deutung für das Verständnis von Verbrechen verbunden u das soziale Risikoverhalten zu reduzieren und Hem- mit Missbrauchsbildern von Kindern und Pornographie mungen abzubauen im allgemeinen im Internet sein (zur generellen Diskussi- u multiple Selbstdarstellungen zu ermöglichen on der Rational Choice Theory bezogen auf Internet-Ver- u gruppendynamische Prozesse sichtbar zu machen brechen vgl. Newman & Clarke, 2003). u ein Austauschmedium zu bestätigen, zu rechtfertigen Die Faktoren, die das individuelle Verhalten wäh- und anzubieten rend der Internet-Nutzung beeinflussen, sind vor allem u alte Vorstellungen der Regulierung zu hinterfragen perzeptiver Art, da die dominante Internet-Erfahrung u konventionelle Hierarchien zu stören und zu hinter- in den visuellen Darstellungen auf dem Bildschirm be- fragen. steht. Aber Bilder unterscheiden sich von anderen durch das Internet zugänglichen „Produkten“ dadurch, dass ihr Diese Liste, obwohl sie auf Individuen mit problema- „Besitz“, wenn die entsprechende Software vorhanden ist, tischem sexuellen Verhalten fokussiert, kann auch auf nicht nur in einer elektronischen Datei besteht, sondern andere kriminelle Sachverhalte übertragen werden und auch als physikalisches, ausgedrucktes Bild möglich ist. offeriert einige generelle Einsichten darüber, was krimi- Audiodateien teilen diese Eigenschaft ebenso wie Soft- nelles Verhalten erleichtert, falls die Absicht vorhanden ware. Außerdem kann der User sofort und ohne Um- ist, ein Verbrechen zu begehen. Darüber hinaus erlaubt stände in den Besitz dieser Bilder gelangen, gegenüber das Internet als „triple A engine“ (accessibility, afforda- Gegenständen, die er im Internet zwar bestellen kann, die bility, assumed anonymity) (Cooper, 1998) Menschen aber erst angeliefert werden müssen. unter Bedingungen der Anonymität und Straflosigkeit Der schnelle Zugang ist ohne Zweifel ein bedeutender zu agieren – was zu Risikoverhalten ermutigt und Stim- Faktor, um zu verstehen, warum der Handel mit Porno- mungswechsel begünstigt – ein weiterer genereller kon- graphie innerhalb des e-commerce eine führende Position textueller Faktor. einnimmt, nämlich weil diese Form des Verkaufs effektiv Aber wahrscheinlich ist es nicht sinnvoll, die oben und ohne Nachteil andere Formen der Warenlieferung beschriebenen Qualitäten des Internets als kriminoge- verdrängt. Die Tatsache, dass pornographisches Material nisch zu beschreiben. Verbrechen ereignen sich nicht in visueller Art ist, kann auch als relevant dafür angesehen einem Vakuum, und aus einer „crime control“ Perspek- werden, dass es visuell im Internet realisiert werden kann. tive sind wichtige Voraussetzungen für ein Verbrechen Die Prozesse, die dem Zugang und dem „downloading“ die Absicht, dieses zu begehen und der situative Kontext, von Pornographie zugrunde liegen, können als ein Bei- in dem die Absicht realisiert werden kann. Von Taylor & spiel für den Zusammenhang zwischen perzeptiven Rei- Quayle (2006) liegt eine Beschreibung vor, wie wir In- zen und Computer-Anwendungen gesehen werden, ein ternet-Kriminalität mit Begriffen des Suchens, der vor- 108 Max Taylor, Ethel Quayle

kriminellen Situation und der Gelegenheit innerhalb des wie „Angebotscharakter“, RA) (Gibson, 1979) zuwenden. Modells der Rational Choice Theory verstehen können Dieser Begriff ist von Joinson (2003) benutzt worden, um (Cusson, 1993). In diesem Sinne bezieht sich das Kon- einen Prozess zu beschreiben, in dem die Eigenschaften zept des „Suchens“ auf die individuelle Ausschau nach von Objekten und Umgebungen mit verschiedenen Ver- einer geeigneten vorkriminellen Situation, die mit dem haltensweisen verbunden werden, und um darauf auf- richtigen Anstoß zum Begehen einer Straftat führt. „Vor- merksam zu machen, dass manche Umgebungen eher als kriminelle Situationen“ sind ein Komplex von äußeren andere zu bestimmten Verhaltensweisen führen. Norman Umständen, die dem kriminellen Ereignis unmittelbar (1988) erweitert diese These, indem er annimmt, dass die vorausgehen und die Straftat mehr oder weniger schwie- Umwelt „natürliche Signale“ aufweist, die eine selbstver- rig, risikohaft oder profitabel machen (Cusson, 1993). ständliche Interpretation von Reizen als natürlichen Be- Taylor und Quayle (2006) haben die Bedeutung von dürfnissen erlauben. Norman zufolge sind „affordances“ „Suchen“ (im Sinne der Rational Choice Theory) als ein die „offensichtlich vorhandenen oder tatsächlich gege- die Rate limitierender Faktor in der Internet-Kriminalität benen Eigenschaften von Dingen, insbesondere also jene hervorgehoben. Das Suchen kann als Tätigkeit aufgefaßt Grundeigenschaften, die die potentiellen Gebrauchs- werden, die zwischen der Absicht, eine Straftat zu bege- möglichkeiten des Dinges genau vorgeben“ (9) (Einfü- hen einerseits und der Wahrnehmung einer kriminellen gung RA: Ein Stuhl hat z.B. den Angebotscharakter zum Gelegenheit durch das Erkennen von vorkriminellen Situ- Sitzen). So hat nach Norman ein Hyperlink eine hoch- ationen andererseits vermittelt. Obwohl das Internet ein gradig wahrnehmbare Affordanz-Eigenschaft, die auf den komplexes System ist, dem es an einer klaren, formalen hohen Grad der Leichtigkeit zurückzuführen ist, mit der Struktur mangelt, hält es dennoch viele Möglichkeiten be- sich das „pointing and clicking“ ausführen lässt. Das ein- reit, effektive Suchen durchzuführen. Die verschiedenen fachste Beispiel dafür ist die Leichtigkeit, mit der Kinder Suchmaschinen ermöglichen dies beispielsweise ebenso sehr effektiv und mit wenig formaler Unterweisung das wie die Suchkapazität der p2p-Netzwerke. Angesichts Navigieren durch und zwischen den Webseiten lernen. Es der Bedeutung der vermeintlichen „Abwesenheit eines lässt sich behaupten, dass im Sinne von Norman (Nor- kompetenten Wächters“ (Cohen & Felson, 1979), die die man 1988) das „clicking“ auf einen Hyperlink „natürliche „end2end“ Architektur des Internets charakterisiert (Salt- Signale“ bereithält, die eine Deutung als Reiz und somit zer et al., 1984), ist es dem User möglich, in scheinbar un- die entsprechende Nutzung ermöglichen. Hinzu kommt, gehemmte und unbehelligte Suchaktivitäten zu gelangen, dass das „clicking“ auf einen Link das erwünschte Bild um vorkriminelle Situationen zu identifizieren. sofort zugänglich macht, was unter Umständen sehr zu- Der Suchprozess, wie er hier aufgefasst wird, wird friedenstellend sein kann. durch die „scale free“ Qualitäten des Internets unterstützt Wie oben angedeutet, muss der Kontext dieses Ver- (Barabasi & Jeong, 2000) und durch die Rolle der „hubs“ haltens nicht nur erotisch oder sexuell sein. Menschen, als zentrale Elemente in der Internet-Navigation. Such- die sich große Sammlungen von Bildern zulegen, heben maschinen sind offensichtlich essentielle „hubs“, die dazu das Sammeln selbst, nicht die sexuellen Eigenschaften der da sind, zu filtern und den User zu weniger wichtigen Bilder, als Erklärung für ihre Ausdauer hervor (Taylor & „nodes“ zu lenken, die auf die für Suchwörter relevante Quayle, 2003). Für manche Sammler kann das Vervoll- Inhalte fokussieren. Obwohl Suchmaschinen die Suche ständigen einer Serie oder eines Satzes von Bildern von einschränken, können erfahrene User diese Begrenzung primärer Bedeutung sein. Außerdem kann die Anschaf- leicht umgehen. Die durch die kontinuierliche Verfeine- fung von Bildern, die man dann anderen Sammlern im rung des Suchens implizierte Suchhierarchie führt natür- Austausch anbieten kann, wichtig sein, auch wenn sie für licherweise zu vorkriminellen Situationen und Gelegen- den Sammler selbst keinen Reiz haben. heiten. Die vorkriminelle Situation ist demzufolge eine Die Sequenzen der Auswahl und die Handlungen, die Situation, in der das Potenzial eine Straftat zu begehen, der Straftäter während des kriminellen Ereignisses voll- präsent ist. Ob diese dann begangen wird oder nicht, führt und auch die Mittel, die er in einer vorkriminellen hängt von der Aktivität und der Reaktionsfähigkeit des Situation einsetzt, nennt man kriminelle Taktiken. Die potentiellen Straftäters ab. Die kriminogenische Qualität Taktiken werden durch die vorkriminelle Situation ge- des Internets, wenigstens was Missbrauchsbilder von Kin- prägt und widerspiegeln ihren situationsbedingten Kon- dern anbelangt, liegt somit in der besonderen Leichtigkeit, text, und was hier von primärer Bedeutung ist, die Affor- mit der ein potentieller Straftäter in einer vorkriminellen danz-Eigenschaften der umgebenden Stimuli. Natürlich Situation zu einem wirklichen Straftäter werden kann, ist das taktisch Mögliche durch die Struktur und die Form einzig und allein durch „pointing and clicking on a link“. der Umwelt, die Morphologie des aktuellen Verhaltens Dies wird verständlich, wenn wir uns dem Begriff der und seine Affordanz-Eigenschaften beschränkt. Im Falle „affordance“ (eingedeutscht „Affordanz“, meint so viel des Internets bestimmen die e2e-Architektur, die hierar- Die kriminogenischen Qualitäten des Internets – Zur Sammlung und Verbreitung von Missbrauchsbildern 109 chiefreien Netzwerkeigenschaften und die allgemeinen (1997) legten nahe, dass erhöhte sexuelle Erregung das Kommunikationsprotokolle des Internets diesen situa- Erkennen der Folgen eines sexuell bedrohenden, koer- tiven Kontext, genauso wie den sozialen Kontext, in dem zitiven (zwanghaften) Verhaltens reduziert (vielleicht das Individuum diesen Strukturen begegnet. deswegen, weil das Erkennen der Folgen mit dem emo- Wir neigen dazu, potentiellen Straftätern Motivati- tionalen Zustand unvereinbar ist [Boufford, 2002]). Dies onen zuzuschreiben, im Internet wie auch sonstwo. Was ist möglicherweise auch ein potentieller Faktor in Inter- den Zugang zu Missbrauchsbildern von Kindern anbe- net-Situationen mit dem angenommenen Fehlen von ef- langt, wird das Suchen nach vorkriminellen Situationen fektiver Überwachung und dem Einfluss der scheinbaren anscheinend am besten als eine Situation verstanden, Anonymität. In Übereinstimmung hiermit bringt Bouf- die im Kontext eines motivierten Straftäters stattfindet, ford Beweise für die Annahme, dass emotionale Zustände obwohl, wie oben erwähnt wurde, die Qualitäten dieser – wie ein Zustand sexueller Aggression – das Treffen von Motivation nicht offensichtlich sein müssen. Auf alle vernunftgeleiteten Entscheidungen beeinflussen können Fälle ist der Zugang zu Missbrauchsbildern von Kindern (siehe auch Carmichael & Piquere, 2004). nicht leicht, er setzt einige Anstrengung und Fähigkeiten Ähnliche Faktoren können behilflich sein, um uns auf Seiten des Nutzers voraus, um mögliche Links auf- sowohl die Beschäftigung mit Missbrauchsbildern ver- zufinden. Die Art der Motivation, die diesem Verhalten stehen zu lassen, wie auch das offenbare Zunehmen von unterliegt, ist, wie schon gesagt, weniger deutlich. Beson- äußerst risikohaftem Verhalten unter Schwulen-Com- ders was die sexuelle Motivation angeht, muss dies nicht munities, wie es von online dating services dokumentiert der einzige Faktor sein (Taylor & Quayle, 2003). Aber da wird (Bull et al., 2004). Von einer anderen Perspektive dieses Verhalten wahrscheinlich im Kontext der sexuel- aus machen Wright und Mitarbeiter (2004) auf die sich len Erregung stattfindet, können wir wohl annehmen, ändernden Auswirkungen von Impulsivität als Abschre- dass das Individuum aller Wahrscheinlichkeit nach aus ckungsfaktor bei der kriminellen Entscheidung aufmerk- vielerei Gründen hoch motiviert ist. Dies ist von einiger sam und schlagen ein umgekehrtes U-förmiges Verhältnis Bedeutung, denn eine im Zustand hoher Erregung ge- zwischen Abschreckungseffekten und Kriminalität vor. troffene Entscheidung, kann auf drei generelle Weisen Die bisherige Diskussion der Auswirkungen der beeinflusst werden (Lowenstein, 1996), nämlich: Erregung verblieb bislang weitgehend im spekulativen Theoretisieren und es bleibt zu zeigen, ob sich empirisch u durch fokussierte Aufmerksamkeit auf Faktoren, die demonstrieren lässt, dass diese Faktoren das Treffen von auf diesen Zustand bezogen sind, Entscheidungen hinsichtlich der Internet-Aktivität und u durch reduzierte Zeithorizonte, mit Fokus auf kurz- in Bezug auf Missbrauchsbilder beeinflussen. Aber letzt- fristige Faktoren, lich ist diese Diskussion suggestiv. Denn darüber hinaus u durch einen verengten Fokus der Aufmerksamkeit kann diese Diskussion auch implizieren, dass hinsichtlich nach innen, wo die Bedürfnisse des Individuums die jeglicher Umstände des sich Strafbarmachens im Zustand Oberhand über andere Entscheidungsfaktoren ge- der sexuellen Erregung jenseits der Internet-Aktivität winnen. ein noch komplizierterer Entscheidungsmodus ange- nommen werden muss. Denn in den zusätzlichen Eigen- Es kann davon ausgegangen werden, dass all diese Fak- schaften, die den „affordance qualities“ des „pointing and toren den Entscheidungsablauf in Suchsituationen, die clicking“ (mit denen man an die Bilder gelangt) zugrunde das Internet und die Missbrauchsbilder (und auch andere liegen (verbunden mit dem Effekt, dass die begehrten Bil- sexuell erregende Bilder) betreffen, beeinflussen können. der sofort verfügbar sind), sehen wir eine potenzielle en- Was die Faktoren selbst anbelangt, die bei Suchaktivi- orme Macht, die die Beschäftigung mit sexuellen Bildern täten (und wohl auch bei anderen Situationen) Entschei- im allgemeinen, einschließlich mit Missbrauchsbildern dungen beeinflussen, so kann wiederum einer erhöhten von Kindern, unterstützt. Die Bedeutung dieser Analyse sexuellen Erregung eine bedeutsame Wirkung zukom- besteht somit darin, dass sie auf den spezifischen Kon- men (die Unfähigkeit, die sexuelle Erregung zu befrie- text hinweist, in dem die Gelegenheit, Bilder zu erlangen, digen müsste gleichfalls hinzugefügt werden), was dann stattfindet. Sie verortet das Verhalten in den Faktoren, die auch eine Steigerung im Risikoverhalten und einen Wie- es beeinflussen und die wir wie folgt zusammenfassen: derholungszwang hinsichtlich der Suchaktivität auslösen kann, auch wenn in einem objektiven Sinne verhindernde u die Natur des situativen Kontextes, in dem sich kri- oder „escape“-Faktoren nicht überwunden werden kön- minelle Gelegenheiten ereignen, besonders die um- nen (mit der „escape“-Taste bricht man Programmabläu- weltkonstituierende Bedeutung des hohen Angebots- fe ab, RA). Dies ist offensichtlich der Fall, wenn sexuelle charakters von Reizen („high affordance cues“), die Erregung mit im Spiel ist. Lowenstein und Mitarbeiter den Zugang zu den Bildern ermöglichen, 110 Max Taylor, Ethel Quayle

u die unmittelbare und äußerst hervorstechende Ver- chen zu stoppen, bevor es sich ereignet stärkung hinsichtlich des Zugangs zu Bildern, u sekundäre Prävention, auf Menschen orientiert, die u die wahrgenommene (wenn nicht notwendigerweise ein hohes Risiko aufweisen, straffällig zu werden wirkliche) Abwesenheit von kompetenter Behütung u tertiäre Prävention, auf bekannte Straftäter bezogen. und Überwachung (im allgemeinen was das Internet betrifft und im besonderen was die Privatheit betrifft, Wir benutzen diese Kategorien, um die anschließende die mit der Internetnutzung verbunden ist), Diskussion zu strukturieren. Wie wir bereits vermerkt u Unempfindlichkeit gegenüber negativen Eigenschaf­ haben, begrenzen strukturelle Erkenntnishindernisse der ten, die sowohl von motivierenden Faktoren wie in Internetverbrechen verwickelten Individuen die An- auch von den starken „affordance qualities“ der Bild- wendung der sekundären und tertiären Präventionstra- schirm-Stimuli ausgehen. tegien. Hinzu kommt, dass das vorhandene, meist auf polizeilichen Ermittlungen beruhende Datenmaterial zeigt, dass die meisten der im Besitz von Missbrauchs- bildern überführten Personen keine bekannte kriminelle Verringerung von Kriminalität Vergangenheit haben. In Anbetracht dessen bringt eine herkömmliche Risikoeinschätzung wenig, was die Nütz- Die Erkenntnis, wie Kriminalität sich entwickelt und sich lichkeit der auf die sekundäre Prävention fokussierten In- am Leben erhält, ist selbstverständlich an sich von Inter- itiativen erheblich reduziert. Die tertiäre Prävention, die esse. Aber die Erkenntnis des sozialen Mechanismus, den auf bekannte Straftäter abhebt, könnte nützlicher sein, solchen Analysen offenlegen, kann dazu beitragen, effek- wenn wir zuverlässliche Angaben zur Wiederholungsra- tive Strategien zu entwickeln, mit denen sich Krimina- te von Straftaten hätten. Um effektiv zu sein, würde dies lität kontrollieren lässt. Die bislang präsentierte Analyse ein besseres Verständnis der unterschiedlichen Arten von bietet eine Erklärung für den Tathergang, vor allem was Straftaten voraussetzen, aber es mangelt bis jetzt an For- das Sammeln und Handeln von Missbrauchsbildern von schungen zur Rückfallrate von Straftätern. Obgleich es im Kindern anbelangt. gegenwärtigen Forschungsklima schwierig ist, gegen jegli- Wie lässt sich dies in präventive und kontrollierende che Präventionsstrategie zu argumentieren, weil einzelne Maßnahmen hinsichtlich der Internetkriminalität über- Erfolge dazu benutzt werden, Initiativen jeglicher Art zu setzen, speziell hinsichtlich der Internetkriminalität, die rechtfertigen, ist es für eine zukünftige Strategieentwick- sich auf Missbrauchsbilder von Kindern bezieht, und in- lung hinsichtlich der Kontrolle der Internet-Kriminalität wiefern haben solche Maßnahmen eine weitere Verwen- notwendig, dass diese Strategieentwicklung eine bestimm- dung? Obwohl wir das Internet dahin gehend beschrieben tere und beweisbar nachhaltige Begründung erhält. haben, dass es kriminogenische Eigenschaften hat, kann Die primäre Prävention, die dadurch gekennzeichnet dies als nicht angemessen und überzeugend erscheinen, ist, zukünftige Kriminalität zu verhindern, mag schwer andererseits besteht dennoch offensichtlich ein Grund zu evaluieren sein, aber sie scheint in Anbetracht der Sa- für die Annahme, dass Internetverfahren es erleichtern, che, die hier verhandelt wird, das größere Potential zu Verbrechen wie das Sammeln und Verteilen von Miss- haben. Normalerweise unterscheidet man bei der pri- brauchsbildern zu begehen. Vielleicht ist die Lösung, die mären Prävention zwischen sozialen und situationsori- kriminogenische Qualität des Internets nicht in den Pro- entierten Präventionsmaßnahmen. Soziale Präventions- zessen selbst zu sehen, sondern vielmehr in der Interakti- maßnahmen befassen sich mit der Neigung, eine Straftat on der Individuen mit diesen Prozessen. zu begehen und verstehen sich generell als Erziehungs- Dies erlaubt es, unsere Aufmerksamkeit weg von den strategien oder als Initiativen, die im Sinne eines „social imponderabelen und letztlich unveränderbaren Merkma- engineering“ konzipiert sind, und tendieren dazu, undif- len des Individuums, wie die Personalität oder solch va- ferenziert zu sein, was die Zielgruppe anbelangt. Sie sind gen Konzepten wie die sexuelle Devianz zu verlassen und für alle verfügbar, unabhängig vom speziellen Risiko. Das den Fokus sowohl auf den Kontext zu verlagern, in dem Fördern von „safe surfing“ für Kinder fällt wohl in diese das partikulare Verhalten sich erreignet wie auch darauf, Kategorie. Solche Initiativen haben ihre Berechtigung, welche Schritte zu vollziehen sind, um diesen Kontext aber sie sind von der Sache her langzeitorientiert und und damit auch das Verhalten zu verändern. es mangelt ihnen notwendigerweise an der Ausrichtung Brantingham und Faust (1976) bestimmen drei Ar- auf den spezifischen Fall oder Kontext. Es muss erwähnt ten der Verbrechensprävention, die sinnvoll erscheinen, werden, dass Initiativen dieser Art oftmals als ineffizient um diesen Ansatz zu verdeutlichen: betrachtet werden und von einem eingeschränkten Wert hinsichtlich der Verbrechensprävention sind. Im Kontext u primäre Prävention, darauf fokussiert, das Verbre- der internationalen Verfügbarkeit des Internets haben Die kriminogenischen Qualitäten des Internets – Zur Sammlung und Verbreitung von Missbrauchsbildern 111 solche Initiativen eine noch begrenztere Leistungsfähig- führt.“ Dieser Bemerkung liegt die Erfahrung zugrunde, keit. Ihre Popularität beruht wohl auf dem politischen dass die Festnahme von Internet-Kriminellen schwierig Imperativ, etwas Praktisches zu unternehmen anstatt das ist, und dass eine weit effektivere und effizientere Maß- Problem datenbasiert zu analysieren. nahme die Schaffung von präventiven Strukturen ist, was Im Kontrast dazu sind situationsorientierte Maßnah- sowohl auf die Missbrauchsbilder wie auch auf den e- men deliktspezifisch ausgerichtet und eng fokussiert. Sie commerce zutrifft. Die Emergenz von öffentlich-privaten thematisieren die unmittelbare Umgebung der Straftat Partnerschaften, um Kriminalität zu kontrollieren (Gart- und streben danach, die Gelegenheit zur Straftat zu redu- land, 2001; Newman & Clarke, 2003), reflektiert wahr- zieren und das wahrgenommene Risiko zu erhöhen. Die scheinlich den für die Zukunft effektivsten Weg. hier präsentierte Analyse ist selbstverständlich kongruent Was die gesteigerte Anstrengung als einen die Kri- mit der situationsgebundenen primären Situationsstra- minalität verhindernden Faktor anbelangt, kann eine tegie und unterstützt diese. Nachfolgend versuchen wir Zahl von strategischen Initiativen genannt werden. Die eine konkrete, situationsgebundene Präventionssstrate- effektivsten Maßnahmen fokussieren auf Funktionen, die gie zu entwerfen. mit dem „middle code layer“ des Internets verwandt sind, In ihrer Typologie der situationsbedingten, Delikt re- und sich so auf Aktionen beziehen, die von der Internet- duzierenden Techniken unterscheiden Cornish & Clarke Industrie vorgenommen werden müssen, wie z.B. von (2003) fünf breite Kategorien, von denen jede strategische den Internet-Providern (ISP), den „p2p networks“ und Unterkategorien enthält: den „Hosting Companies“. Auf einem einfachen Level kann sich das auf Strategien beziehen, um die Schwie- u die Anstrengung erhöhen rigkeit zu erhöhen, an das auf den Webseiten befindliche u das Risiko erhöhen Material zu gelangen, ohne notwendigerweise den Zu- u die Belohnung reduzieren gang zu blockieren. Dies ist vielleicht zu erreichen, indem u die Provokation reduzieren der Zugang zu den Ziel-Webseiten erschwert wird, etwa u alle Ausreden entfernen dadurch dass man den Zugang zu diesen blockiert, oder den Zugang zu verdächtigen Webseiten kontrolliert, und Im Folgenden stellen wir eine Reihe von potenziellen potentielle Straftäter abhält, indem man Informationssei- situationsbasierten Initiativen vor, womit wir das Pro- ten vor die pornographischen Seiten schaltet. Die Idee, blem der Missbrauchsbilder im Kontext der oben vor- den Nutzer-Aufwand durch Applikationen zu erhöhen, gestellten fünf Kategorien thematisieren, wie sie aus der erscheint wenig erfolgreich angesichts eines unregulier- bislang geleisteten Analyse dieses Papiers hervorgehen. In ten Software-Marktes und bringt lediglich einen Kom- Anbetracht der bisherigen Analyse ist es eindeutig, dass promiss zwischen der Benutzerfreundlichkeit und der bestimmte Techniken effektiver sind als andere, doch alle erhöhten Benutzer-Schwierigkeit. sind auf den spezifischen Kontext bezogen, in dem der in- Um das Risiko zu steigern, besteht wohl die beste Me- dividuelle Straftäter sich befindet. Damit ist es klar, dass thode darin, die Angst des Nutzers durch verstärkte Kon- eine bestimmte Technik nicht alles abdecken kann. Dies trolle (vielleicht dadurch, dass die ISP-Daten gesammelt macht es notwendig, dass ein ganzes Set von Initiativen und bekanntgemacht werden) zu erhöhen. Desgleichen entwickelt werden muss, anstatt spezifische Initiativen, wäre möglich, wenn die „natürliche“ Überwachung inso- die auf einem besonderen Fokus beruhen – um beispiels- fern unterstützt wird, dass z.B. nur überwachte Diskussi- weise die Justiz, das Internet, einzelne Interessengruppen onsgruppen erlaubt werden (oder ein zufallsgeneriertes – im engen Sinne zu implementieren. Die Bedeutung Programm zur Überwachung installiert wird). Eine signi- dieses Gedankens mit Bezug auf das Internet liegt darin, fikante Initiative, um das gefühlte Risiko zu erhöhen, kann dass einzelne Institutionen weder die Kapazität noch die darin bestehen, die gefühlte Anonymität zu reduzieren, tatsächliche Verantwortung haben, um ein breites Spek- was z.B. dadurch erreicht werden kann, indem die IP- trum von koordinierten Initiativen zu realisieren. New- Adresse des Nutzers im Web-Browser eingetragen wird man und Clarke (2003) vermerken mit Bezug auf den (was dazu führt, dass die Nutzer wissen, dass in jeglicher e-commerce: „Wenn wir an Polizeimaßnahmen in ihrem Internet-Kommunikation Details ihrer eigenen Identität traditionellen Sinne denken – die Kriminellen auffinden, preisgegeben sind). Ein besonderes Problem dabei be- sie fangen, sie verhaften und sie dem Justizsystem über- steht in der Nutzung von Anonymisierern und im Ge- stellen – dann scheint innerhalb der e-commerce Umge- brauch von Proxi-Adressen. Anonymisier-Services sind bung nur wenig Raum für diese Art von Polizeimaßnah- normalerweise kommerzielle Unternehmen, die einen men, oder wenn es diesen Raum gibt, dann wird diese Art legalen und legitimen Service anbieten, der missbraucht von Aktivitäten von der traditionellen Polizei in Zusam- werden kann, aber ihre Nutzung im Kontext des Zugangs menarbeit mit anderen, oft privaten, Agenturen ausge- zu Missbrauchsbildern bedeutet eine aktive Anstrengung, 112 Max Taylor, Ethel Quayle

um sich eine Anonymität zu sichern, anstatt passiv eine tet werden. Es ist im Schulwesen eingesetzt worden (Van Anonymität in Anspruch zu nehmen. Vielleicht ist es Houten & Nau, 1980), und um Geschwindigkeitsbegren- auch eine Möglichkeit, den Zugang dazu zu erschweren zungen durchzusetzen (Ragnarsson & Bjorgvinsson, 1991; (zum Beispiel indem den eigentlichen Inhalten Warnhin- Rogue & Roberts, 1989), um die Helmpflicht bei Schul- weise vorgeschaltet werden). kindern durchzusetzen (Van Houten, Van Houten & Ma- Die letzte Strategie, das Risiko zu erhöhen, besteht lenfant, 2007), und um sportliche Leistungen zu steigern darin, die formale Überwachung zu stärken und dies (Anderson et al., 1988; Brobst & Ward, 2002). Es ist anzu- bekannt zu machen. Die behördliche Kontrolle von In- nehmen, dass die gleichen Prinzipien im Internet Erfolg ternet-Aktivitäten und „chat rooms“ stellt einen Aspekt hätten. Die Reduzierung der Sammelaktivität, die Störung davon dar (entweder durch offene oder heimliche Opera- des Handels, der Sammeln ermöglicht, durch die Über- tionen), aber eine substanziellere Initiative wäre die Kapa- wachung und Intervention in den p2p Netzwerkaustausch zität des ECHELON zu nutzen (vgl. http://de.wikipedia. der Bilder, scheinen angebracht. org/wiki/Echelon, RA) (Nabbali & Perry, 2003; 2004), Veränderungen innerhalb der Strategien die Kri- um Netzwerk-Aktivitäten zu überwachen, indem man minalität zu reduzieren, die sich darauf konzentrieren, auf Nutzer zielt, die spezielle Seiten besuchen, oder in- die Provokation zu reduzieren und die Ausreden zu dem man raffiniertere Analysen nutzt, um Nutzer direkt entfernen, folgen hauptsächlich den obigen Strategien. zu identifizieren, die Missbrauchsbilder empfangen oder Eine Reduktion der Provokation, die mit „peer pressu- weitergeben. Angesichts der vermuteten Kapazität von re“ verbunden ist, folgt sowohl aus einem Zugriff auf die ECHELON kann davon ausgegangen werden, dass dies Austauschforen wie auch aus der Steigerung der Anstren- technisch möglich ist, obwohl dies ohne Zweifel poli- gung, um an diese Bilder zu gelangen. Dazu kann man tische wie auch juristische Einwände gegen den Gebrauch noch strengere Vorschriften und Anweisungen festlegen, und die Bekanntmachung mit sich bringen würde. diese auch bekannt machen (wie z.B. Regeln und Bedin- Die Art und Weise der Prozesse, durch die der Zu- gungen für den ISP-Service), und dazu noch permanente gang zu den Missbrauchsbildern bestimmt ist, bedeutet, Warnungen einsetzen, die auf das Bewusstsein wirken dass eine Reduktion der Belohnung schwierig ist. Wie und somit die Ausreden für dieses Verhalten in Frage wir bereits diskutiert haben, sind die vom Nutzer erlebten stellen. speziellen Qualitäten der Missbrauchsbilder, wenn er sich Strategien, die bewirken, dass die Regeln eingehalten in einer vorkriminellen Situation befindet, mächtig, um werden, tragen ebenso dazu bei, dass die Ausreden für es in Begriffen der „affordance“ und der unmittelbaren den Zugriff auf Missbrauchsbilder ihre Plausibilität ver- Verstärkung zu sagen. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, lieren, obwohl wir erkennen müssen, dass es hinsichtlich dass diese Faktoren in einer bedeutsamer Weise modifi- dessen besondere Probleme gibt. Es ist nämlich evident, ziert werden können, ohne die grundlegenden Strukturen dass einige Individuen, die diese Bilder sammeln, sich zu verändern. Aber vielleicht wäre es eine realistischere der Problematik ihres Verhaltens bewußt sind und auch Strategie die Belohnung zu reduzieren, indem man die bereit sind, unter den richtigen Umständen um Hilfe zu Möglichkeiten, vorkriminelle Situationen zu finden, ein- bitten, um ihr Verhalten ändern zu können (vgl. Stop schränkt und verhindert. Taylor und Quayle (2006) ar- It Now, www.stopitnow.com, ein Angebot des Gesund- gumentieren, dass die Suche der Faktor ist, der im Ver- heitsministeriums, um den sexuellen Missbrauch von haltenszyklus den Zugang zu den Missbrauchsbildern Kindern zu verhindern). Aber eine Folge der öffentlichen einschränkt. Daher scheint die Intervention in diesen Aufmerksamheit hinsichtlich der Missbrauchsbilder von Prozess die effizientere Strategie zu sein. Die unmittelbare Kindern besteht in dem Anwachsen der juristischen und Intervention in die Reaktion der Suchmaschinen, wenn sozialen Sanktionen, die daraus folgen, wenn ein derar- unpassende Begriffe wie „Lolita“, „pre-teen” usw. einge- tiges Verhalten publik wird. Dies hat wiederum für den geben werden, ist eine evidente Strategie. Solche Interven- Teil der Betroffenen, die bereit sind, ihr Verhalten zu än- tionen könnten zum Beispiel die Weigerung sein, solche dern zur Folge, dass sie demotiviert werden. Initiativen Suchresultate auszuweisen, oder eine warnende Meldung, wie die „croga self-help site“ offerieren eine Strategie, dass das Eingeben solcher Begriffe zu illegalem Material die eine vertrauliche und anonyme Hilfe möglich macht führen kann, und eventuell mit Zusatz, dass die IP-Adres- (www.croga.org) und auf einer etablierten klinischen se des Nutzers erfasst worden ist (dies würde das Gefühl Praxis (vor allem CBT basiert) aufbaut. der Kontrolle erhöhen). Eine ähnliche Reaktion seitens Um das Verhalten in der virtuellen Welt des Inter- der p2p-Netzwerken würde das gleiche Resultat erreichen. nets zu verstehen, ist es nicht nötig neue Prinzipien zu Derartige Initiativen könnten sich auf Verhaltenskontrolle entwickeln. Wir müssen nur erkennen, dass die Struk- beziehen, die aus einem öffentlichen „posting“ resultiert. tur des Internets wie wir sie erfahren, Qualitäten hat, die Dies kann als ein effektives Mittel der Kontrolle betrach- unser Verhalten beeinflussen können. In diesem Papier Die kriminogenischen Qualitäten des Internets – Zur Sammlung und Verbreitung von Missbrauchsbildern 113 schlagen wir vor, dass wir unsere Analysen auf einen situ- Gartland, D., 2001. The Culture of Control: Crime and Social ationsbezogenen Kontext der Individuen stützen, wenn Order in Contemporary Society. Chicago: University of Chicago Press. sie sich in einer kritischen Entscheidungssituation be- Gibson, J.J., 1979. 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AutorInnen Prof. Dr. Max Taylor, Department of International Relations, University of St. Andrews, Scotland, Dr. Ethel Quayle, Department of Applied Psychology, University College Cork, Ireland, Email: [email protected] Themenschwerpunkt Sexuologie

Porno, Dating, Beziehungswünsche – Sexualität und Partnerschaft im Internet* Christoph Joseph Ahlers

Porno, dating, relationships: Sexuality and Web 2.0 – Internet im 21. Jahrhundert partnership in the internet 20 Jahre nach Einführung zur zivilen Nutzung und spä- testens seit dem Milleniumswechsel ist das Internet die Abstract zentrale Informations- und Kommunikationstechnologie In 2010, twenty years after the introduction of the civilian des 21. Jahrhunderts. Auf der informatorischen Seite ist Internet, and approximately ten years into its widespread use das Internet mit entsprechenden Computerprogrammen by the general public, the topic of sexuality plays an impor- (sog. Browsern und Suchmaschinen) zur größten, in der tant role in the use of this information and communication Menschheitsgeschichte jemals verfügbaren, dezentralen technology. In addition to an almost inexhaustible amount und ubiquitären Informationsquelle der Welt geworden. of information on the topic of sexuality in more or less lexical Nie zuvor war für so viele Menschen soviel Information quality, and markets (platforms) serving every imaginable an jedem Ort der Erde zeitgleich und überwiegend kos- sexual topic, what impresses most about the use of the tenlos verfügbar wie heute. Online-Dictionaries und En- Internet is its function for the consumption of erotica (i.e. zyklopädien ersetzen physische Bibliotheken und sind bei erotic posing) and pornography, for the arranging of sexual gegebenen technischen Voraussetzungen informations- contacts as well as for the initiation of sexual relationships. demokratisch überall für jedermann überwiegend kos- This article offers a cursory and consequently peripheral tenlos verfügbar.1 overview of the phenomenology of the use of the Internet Auf der kommunikationstechnischen Seite haben sich within the context of sexuality. Special attention is paid to die Möglichkeiten zum Informationsaustausch­ und zur platforms catering to singles’ dating and relationships. Kontaktaufnahme enorm erweitert und beschleunigt. Mit Keywords: Sexuality, internet, partnership platforms, commu- Internet-Telefonie (Skype) stehen global kostenlose Telefon- nication technologies verbindungen zur Verfügung. Mit mobiler Telefonie ent- wickelte sich als sog. Utility-Merge (Geräteverschmelzung) im Übergang vom 20. zum 21. Jh. der Desktop-Personalcom- Zusammenfassung puter zum Palmtop-Smartphone, einem handflächengroßen 2010, zwanzig Jahre nach Einführung des zivilen Internets und hosentaschentauglichen, mobilen Personalcomputer, und ca. zehn Jahre nach Beginn der Verbreitung in der mit dem nicht nur überall und jederzeit mobile Telefonate Allgemeinbevölkerung, spielt das Thema Sexualität bei der möglich sind, sondern, neben Kurznachrichten (Short- Nutzung dieser Informations- und Kommunikationstechno- Message-Service / SMS), Twitter und E-Mail, vor allem logie eine gewichtige Rolle. Neben einer schier unerschöpf- auch mobile Internetnutzung, mit allen zugehörigen Spe- lichen Fülle an Informationen zum Thema Sexualität in zialdiensten (sog. Applications, kurz Apps), Kommunikati- mehr oder minder lexikalischer Qualität, sowie Marktplätzen onsformen, wie Newsgroups, Foren, Chats und Bloggs. Das (Foren) und Informationstauschbörsen zu allen erdenklichen Entscheidende an dieser Weiterentwicklung besteht nicht sexuellen Themen, imponiert vor allem die Nutzung des allein im technologischen Fortschritt, sondern vor allem Internets zum Konsum von Erotika (sog. Erotic Posing) und in der Erweiterung von einer monodirektionalen Nutzung Pornographie, zur Herbeiführung von Sexualkontakten, so- (Abruf von Informationen) hin zur interaktiven Mitgestal- wie zur Anbahnung partnerschaftlicher Sexualbeziehungen. tungs- und Austauschmöglichkeit (Web 2.0). Der vorliegende Beitrag gibt einen kursorischen und entspre-

chend peripheren Überblick, über die Phänomenologie der * Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um einen Auszug aus einem Internetnutzung im Themenkreis von Sexualität. Besonderes gleichnamigen Vortrag vom 14.05. 2010 auf der 34. Jahrestagung für Augenmerk liegt dabei auf dem Bereich der Single- und Sexualmedizin in Potsdam. 1 Partnerbörsen. Der Brockhaus-Verlag hat, mit Ausnahme einer 30-bändigen Luxus- Edition für 3000,- Euro, 2008 nach zweihundert Jahren (1808-2008) Schlüsselwörter: Sexualität, Internet, Partnerschaftsportale, seine Brockhaus-Produktion in Buchform eingestellt; das Brockhaus Kommunikationstechnologien soll künftig nur noch als DVD bzw. Online-Enzyklopädie existieren. Sexuologie 17 (3–4) 2010 114–118 / Akademie für Sexualmedizin http://www.sexualmedizin-akademie.de/sexuologie Porno, Dating, Beziehungswünsche – Sexualität und Partnerschaft im Internet 115

Internet und Sexualität Weltweit wird nach Angaben der britischen Wo- chenzeitschrift „The Economist“ in der Pornoindustrie derzeit ein Umsatz von rund 97 Milliarden Dollar pro Im Oktober 2010 ergab die Eingabe des Suchbegriffes Jahr erwirtschaftet. In den USA sind es rund 14 Milliar- „Sex“ in der weltweit größten Suchmaschine Google in den Dollar pro Jahr. Das entspricht der Summe aller dort 0,10 Sekunden 546.000.000 Ergebnisse. Demgegenüber erwirtschafteten Beträge der Musik- und Filmbranche. resultieren aus der Eingabe des Suchbegriffes „Sexuali- Die Pornoindustrie macht damit schätzungsweise 1,5 ty“ in immerhin 0,20 Sekunden „lediglich“ 17.400.000 Milliarden Euro mehr Umsatz als Hollywood. US-Ame- Ergebnisse, und der Suchbegriff „Sexualität“ schließlich rikaner geben damit für Pornographie mehr Geld aus als ergibt in 0,22 Sekunden „nur noch“ 1.250.000 Ergebnisse für Theater, Museen und andere Kultureinrichtungen zu- (google.com, 10.2010). An diesen Ergebnissen scheint sammengenommen (Quelle: onlineeducation.net). Wie die Proportion zwischen der sexualwirtschaftlichen, im weit der Einfluss der Pornoindustrie fortgeschritten ist, weitesten Sinne erotisch motivierten Nutzung des Inter- zeigte sich auch bei der Entscheidung zwischen Bluray- nets („Sex“), im Verhältnis zur sexualwissenschaftlichen, Disc oder HD-DVD: Die Pornoindustrie entschied sich im weitesten Sinne informatorisch motivierten Nutzung für Ersteres, die Welt folgte der Entscheidung. („Sexuality“) ablesbar. Ursache für die stetige Steigerung der Nutzung von Die teuerste Internet-Domain der Welt ist folglich Erotik- und Sex-Angeboten ist auch das Internet. Die auch nicht .com, sondern sex.com, die mit US $ neue Dimension des Mediums Internet ist im Web 2.0 12,5 Mio. veranschlagt wird, direkt gefolgt von der zweit- die Interaktion. Pornographie wird nicht mehr nur passiv teuersten Domain porn.com, welche für US $ 9,5 Mio. konsumiert, sondern auch aktiv produziert. Der Markt- verkauft wurde (Quelle: sedo.de, sexdotcom.com). Die führer ist das Internetportal „Youporn.com“. Der Anbie- kontextuell zugehörigen, weltweit am meisten eingege- ter ist mit ca. 60 Mio. Zugriffen pro Tag auf Platz zehn benen Suchbegriffe bei Google sind „sex, fuck, porn, big der weltweit meist besuchten Internetseiten. Es gibt keine tits, oral sex sowie anal sex“ (Quelle: google.com/trends). Alters- und Sicherheitsbeschränkungen, so dass praktisch Führend beim Sex-Googlen sind nicht etwa die Nor- jeder User, ob Kind oder Erwachsener, uneingeschränkt damerikaner, sondern Asiaten, wobei Pakistan auf dem Videos einstellen und anschauen bzw. hoch- und runter- ersten, die Philippinen auf dem zweiten und Indonesien laden kann. Privater Sex ist damit rund um die Uhr für auf dem dritten Platz landet (Quelle: google.com/trends). eine Weltöffentlichkeit zugänglich. Auf dem Vormarsch 43% aller Internetnutzer konsumieren erotische bis por- ist die Handypornografie. In Deutschland wurden im nographische Inhalte, durchschnittlich 15 Minuten pro Jahr 2009 Umsätze von ca. 2 Milliarden Euro umgesetzt. Internetnutzung; ein Drittel davon sind Frauen. 35% aller Die entscheidenden Qualitäten der Nutzung von In- Downloads sind pornographischen Inhalts. „sex + porn“ ternet-Pornographie sind, dass der Nutzer anonym blei- gehören zu den fünf meist eingegeben Suchbegriffen von ben kann, dass er heimlich, also in absoluter Privatsphäre Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren. Lediglich 3% bequem konsumieren kann, dass es keine Zugangsbe- aller „Adult-Websites“ verlangen einen verifizierten Al- schränkungen gibt (z.B. Alter), dass die Inhalte rund um tersnachweis (Quelle: online­education.net). die Uhr von überall aus verfügbar sind, dass viele Ange- bote bereits kostenlos zu haben sind, dass das Spektrum der Inhalte alles übersteigt, was im Rahmen pornogra- phischer Druckerzeugnisse jemals existierte oder denkbar Posing und Pornographie gewesen wäre und dass die Inhalte multimedial (als Ton- film) konsumiert werden können. All das sind Qualitäten, Unter Erotic Posing wird das erotische Posieren vor der Ka- die noch bis zum Ende des 20. Jh. im Bereich der Druck- mera in sexuell aufreizenden Körperhaltungen (Posen), medien so gut wie undenkbar und auf dem Videomarkt ohne Fokussierung auf Genitalien und sexuelle Handlungen, durch indizierte Inhalte reglementiert sowie durch Al- verstanden. Pornographie hingegen ist die Fokussierung auf tersüberprüfungen beim Verleih nur sehr eingeschränkt Genitalien und sexuelle Handlungen. In Deutschland wur- verfügbar waren. de Pornographie 1975 legalisiert. Im Internet haben Por- Laut einer Untersuchung der Organisation Young Me- no- und Sexkontakt-Portale heute mehr Mitglieder, als die dia Australia ist in den letzten Jahren die Anzahl der Fälle größte Tageszeitung Käufer, und die Pornographieindustrie drastisch gestiegen, in denen Kinder unter 10 Jahren sexu- hat sich vom Verkauf- und Verleih von Filmen immer weiter elle Gewalt ausübten. In 90% der Fälle gaben die Kinder auf das Internet verlagert. Mit allein 800 Millionen Euro in an, mit Online-Pornographie in Berührung gekommen zu der DVD Produktion, ist die Pornofilmbranche ein umsatz- sein, und ein Viertel der Kinder benutzte das Internet aus- starker Wirtschaftszweig in Deutschland. schließlich zu diesem Zweck (youngmedia.org.au). 116 Christoph J. Ahlers

Cybersex und Prostitution Online-Dating-Portale und Singlebörsen

Durch internetbasierte Bildtelefonie bzw. Webcam-Chats Zahlreiche Internetportale bieten Kontaktmöglichkeiten hielt das Web 2.0 auch im Bereich der Sexualwirtschaft zum Kennenlernen, Flirten, Verabreden und Verlieben. Einzug: „Sex on demand“ bedeutet, dass Nutzer in Live- Sie werden überwiegend von Singles genutzt und ermög- Stream-Striptease oder Peepshows die Stripperinnen und lichen einen zwanglosen Austausch, auch auf virtuellen Pornodarstellerinnen live sehen und Ihnen Fragen stellen Marktplätzen zu bestimmten Themengebieten. Hier und Wünsche äußern, jedoch i.d.R. keine Anweisungen geht es nicht um die explizite Suche nach Beziehungs- geben können und die Darstellerinnen persönlich ant- und Sexualpartnern bzw. die zielgerichtete Erschließung worten und mit den Nutzern sprechen bzw. chatten. von Partnern oder Sexkontakten, sondern um unge- Hierbei versuchen die Darstellerinnen gezielt, eine per- zwungenes und ausgangsoffenes Kennen­lernen und ggf. sönliche Beziehung zum Nutzer aufzubauen, indem sie Flirten. Direkte „Anmache“ gilt eher als unerwünschtes die Nutzer zum Beispiel mit Namen ansprechen, nach Verhalten. Die verbreitete Bezeichnung der „virtuellen“ deren Befinden fragen und Komplimente machen, um Internetwelt spiegelt das Erleben der Nutzer nicht zutref- diesen möglichst lange online, d.h., im Bezahlmodus zu fend wider, denn das Kennenlernen und die nachfolgende halten. Kontaktgestaltung wird von den Nutzern als äußerst reell Im Bereich der Prostitution sind durch die selbe erlebt und führt ggf., auch ohne direkte physische Begeg- Technologie virtuelle Rundgänge durch die Bordelle nung, bis zum Verlieben. Die Bezeichnung Online-Dating möglich, wobei sowohl Foto-, Film-, als auch ggf. Live- meint daher nicht, dass das Internet lediglich zum Ken- Portraits der Prostituierten samt Angebotsspektrum ab- nenlernen genutzt wird, um sich danach real zu verabre- gerufen, als auch Vorabgespräche sowie Leistungs- und den, sondern die Online-Verabredungen werden real im Preisverhandlungen geführt werden können. Die für viele Internet gesucht und erlebt und die Frage einer direkten, Nutzer (hier Freier) schwierige Anbahnungsphase und physischen Begegnung ist kein zwingender Ausgang eines Kontaktetablierung kann somit ohne direkte, physische Kennenlernens. Begegnung bereits im Vorfeld online hergestellt werden, Bei Online-Dating-Portalen und Singlebörsen han- was den Besuch im Bordell erleichtern kann bzw. soll. delt es sich mit ca. 55 Mio. registrierten Mitgliedern seit Wenn der Kunde ins Bordell kommt, „kennt man sich dem Jahr 2000 in Deutschland um das bedeutendste schon“ aus dem Chat und kommt so auch direkt leich- Marktsegment der Non-Sex-Branche. Die bekanntesten ter ins Gespräch. Die Sparte der vermeintlichen Laienan- Portale heißen friendscout24.de (ca. 5 Mio. registrierte gebote sowohl auf dem Pornographie- als auch auf dem Mitglieder), datingcafe.de (ca. 1,5 Mio. registrierte Mit- Prostitutionsmarkt wächst: „Hausfrauen, Studentinnen, glieder), flirtcafe.de (ca. 1,8 Mio. registrierte Mitglieder), Privatkontakte aus Deiner Umgebung“ verzeichnen eine flirtfever.de (ca. 0,4 Mio. registrierte Mitglieder), ilove. genau so große Nachfrage wie herkömmliche, professi- de (ca. 4 Mio. registrierte Mitglieder), match.com (ca. onelle Prostitution. Eine Authentifizierbarkeit der Ange- 1,4 Mio. registrierte Mitglieder) sowie neu.de (ca. 5 Mio. bote gibt es nicht. Meist handelt es sich um Profis, die die registrierte Mitglieder). Schätzungen zufolge nutzen ca. jeweiligen Rollen spielen. Hinzu kommen Swinger- und 40 % aller Singles Online-Dating-Portale. In Deutschland Seitensprung-Agenturen für Personen in festen partner- sind monatlich ca. 7 Mio. Singles auf diesen Portalen ak- schaftlichen Beziehungen, die entweder gemeinsam mit tiv (Quelle: singleboersen-vergleich.de). dem eigenen Partner (Swinger) oder verheimlicht vor dem eigenen Partner (Seitensprung) sexuelle Kontakte mit Anderen suchen. Die letzte Sparte in diesem Markt- segment besetzen sogenannte Nischenanbieter,­ die unter Beziehungswunsch-Portale und der Rubrik „Adult-Dating“ Spezialangebote z.B. für be- Partnerbörsen sondere sexuelle Neigungen unterbreiten, wie Fetisch-Fo- ren, S/M-Kontakte oder andere Formen von „Non-Nor- mative-Sex“. Proportional zur Häufigkeit dieser Vorlieben Bei Internetportalen zur Partnersuche handelt es sich in der Gesamtbevölkerung haben diese Nischenanbieter nicht nur um eine Übertragung von konventioneller im Verhältnis zu den Mehrheitsangeboten auch nur ei- Eheanbahnung und Partnervermittlung mit Kleinanzei- nen geringeren Marktanteil, mit welchem aber immerhin gen in Druckmedien ins Internet, sondern um eine er- auch ca. 30 Mio. Euro umgesetzt werden. heblich erweiterte Möglichkeit, einen passenden Partner für eine Beziehung kennen zu lernen und zu finden. Die wissenschaftliche Fundierung und die wesentlich größere Porno, Dating, Beziehungswünsche – Sexualität und Partnerschaft im Internet 117

Abb. 1 Entwicklung der gelegentlichen Nutzer und registrierten Mitglieder auf Abb. 2 Branchen-Umsätze nach Marktsegmenten in Mio. Euro von 2003 bis 2008 deutschen Online-Dating-Portale und Singlebörsen von 2003 bis 2008

Reichweite mit vielfach mehr Mitgliedern bietet für die bei bei einigen Portalen die Portrait-Fotos individuell auf Partnersuche über Internetportale eine erheblich reellere Nachfrage personengebunden freigeschaltet werden kön- Kosten-Nutzen-Relation mit höherer Erfolgsquote und nen und nicht von vornherein für alle sichtbar sind. Die hebt die Internet-Partnerbörsen damit deutlich von kon- bekanntesten Portale heißen parship.de (ca. 5,6 Mio. re- ventionellen Ehe-Anbahnungs-Instituten und Partner­ gistrierte Mitglieder), partner.de (ca. 0,85 Mio. registrierte vermittlungs-Agenturen mit Kleinanzeigen in Druckme- Mitglieder), elitepartner.de (ca. 2,8 Mio. registrierte Mit- dien ab. glieder), edarling.de (ca. 1,2 Mio. registrierte Mitglieder) Neben der Möglichkeit, sich hier in in authentifi- sowie be2.de (ca. 2 Mio. registrierte Mitglieder) (Quelle: zierten Profilen mit Foto zu präsentieren, verfügen die singleboersen-vergleich.de). Portale über eine Fülle an Zusatzangeboten, die die Pas- Der Branchenumsatz hat sich von 2000 bis 2008 ver- sung potentieller Partner verbessern und die Kontaktauf- siebenfacht und lag 2009 bei 163,6 Mio. Euro. Auf On- nahme erleichtern können. So beantworten beispielswei- line-Dating-Portale und Singlebörsen entfielen dabei ca. se alle Mitglieder ein Repertoire von Einstellungs- und 80 Mio. Euro, auf Beziehungswunsch-Portale und Part- Präferenz-Fragen, wodurch ein rascher Abgleich mit den nerbörsen ca. 53. Mio. Euro. Spezielle Nieschenanbieter eigenen Antworten möglich wird. Die weiterentwickelten (Adult-Dating / Non Normative Sex) kamen 2009 auf Partnerbörsen verfügen darüber hinaus über die Option, einen Gesamtumsatz von ca. 30 Mio. Euro (Quelle: sing- ein sog. Partner-Matching (Persönlichkeits-Kompatibili- leboersen-vergleich.de). tät) zweier Partner anhand der Ergebnisse einer paarpsy- chologischen Testdiagnostik vorzunehmen. Die umfang- reichen psychodiagnostischen Inventare umfassen dabei sowohl persönlichkeitspsychologische Fragen, als auch online versus offline? Items zu Einstellungen und Vorlieben, sowie mitunter projektive Verfahren, bei denen durch die Auswahl be- Die Frage, ob das Internet mit seiner zugehörigen Infor- stimmter Motive aus einer Bilderserie auf Ähnlichkeiten mations- und Kommunikationstechnologie guten oder im Bereich Geschmack und Stil geschlossen wird. Auf schlechten Einfluss auf Sexualität und Partnerschaft hat, der Grundlage dieser Ergebnisse bekommt der Nutzer ist viel diskutiert, aber falsch gestellt. Realistischerwei- dann eine Liste potentieller Partner, samt zugehörigem se kann nur gefragt werden, welche guten und welche Matching-Score, welcher den Grad der Übereinstimmung schlechten Einflüsse erkennbar sind. Und hier finden wir prozentual anzeigt. auf beiden Seiten ähnlich viele Aspekte: Zur zwanglosen Kontaktaufnahme können sich die Auf der einen Seite potenziert das Internet die Mög- Mitglieder beispielsweise zu sog. Fun-Matches einladen, lichkeiten, mit anderen Menschen, auch bezogen auf bei dem dann beide unabhängig voneinander nochmals Liebe, Sexualität und Partnerschaft, in Kontakt zu kom- ein paar Fragen beantworten und hierbei wieder ihre men, was nicht nur für Jugendliche positiv ist, sondern Übereinstimmung herausfinden können. Über die Ergeb- vor allem für ältere Menschen in einer alternden Gesell- nisse ist dann die direkte Kontaktaufnahme gebahnt, wo- schaft zunehmend große Bedeutung erlangen wird (sog. 118 Christoph J. Ahlers

Silver Surfer). Die Gebundenheit an dezentrale Wohnorte und Filmen gemacht, hauptsächlich im Fernsehen, auf bei gleichzeitiger Erschwernis von Mobilität (Abbau des DVD oder im Internet. Die meisten Jugendlichen schau- öffentlichen Nahverkehrs) kann durch Internet-Kontakt- en sich Pornographie mit Freunden an, wenn sie „Spaß möglichkeiten zumindest gemildert werden. Damit eröff- haben wollen“. (Quelle: bravo.de/dr-sommer/sex/). net das Internet enorme Potentiale gegen die erkennbare Ein anderer Problembereich ist viel mehr die Herstel- Tendenz der Alters-Einsamkeit. lung und Verbreitung von Kinderpornographie über das Auf der anderen Seite ist unvorhersagbar, welche Aus- Internet. Hier ist deutlich zu erkennen, dass die Verfüg- wirkung die schrankenlose Verfügbarkeit von Pornogra- barkeit der Technologie eine Voraussetzung für die Pro- phie inklusive aller abweichenden Darstellungen auf die duktion zu sein scheint und dass diese eine Vermarktung sexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen hat, solcher Inhalte in solchem Umfang erst möglich macht. auch, wenn die Häufigkeit und Intensität des Pornogra- Zusammenfassend lässt sich damit sagen, dass ein phiekonsums offenbar nicht so exzessiv zugenommen zu Medium nicht für Inhalte zur Rechenschaft gezogen wer- haben scheint, wie dies durch die mediale Berichterstat- den kann: Bücher können nichts dafür, was Autoren in tung den Anschein hat: In der „Dr. Sommer-Studie 2009 ihnen schreiben. Fernseher können nichts dafür, was Sen- – Liebe! Körper! Sexualität!“ wurden 2009 wieder 1228 der über sie ausstrahlen. Jugendlichen aus ganz Deutschland im Alter von 11 bis Und das Internet kann nichts dafür, was in ihm ver- 17 Jahren befragt. Das Ergebnis scheint nahezulegen, dass breitet wird. Das Internet ist ein Medium, kein Inhalt. Me- es gibt keinen Anlass für das Etikett „Generation Porno“ dien sind wie Beton: Es kommt darauf an, was man damit gibt: Nur acht Prozent der befragten Jungen und lediglich macht! Medien machen Dumme dümmer und Kluge klü- ein Prozent der Mädchen nutzen Pornographie regelmä- ger. Alle Inhalte, ob nun wünschens- oder verachtenswert ßig, 35 Prozent der Jungen geben zu, sich das „hin und werden von Menschen eingestellt. Die Inhalte gab‘s schon wieder“ anzuschauen. Insgesamt haben zwei Drittel der immer, nur früher weniger verbreitet; so, wie das Wissen, Jugendlichen Erfahrungen mit pornographischen Bildern bevor es den Buchdruck gab.

Autor Dr. rer. med. Dipl.-Psych. Christoph Joseph Ahlers, Institut für Sexualpsychologie, Calvinstr. 23, 10557 Berlin, www.sexualpsychologie-berlin.de, Email: [email protected]

Johannes Gernert ,Generation Porno. Jugend, Sex, Internet Fackelträger Verlag 2010, 288 Seiten, geb. mit Schutzumschlag, ISBN-13: 978-3-7716-4439-0, Preis 19,90 €)

Ein Junge ist 14 und sucht im Internet auf der Pornoplattform Youporn fast jeden Tag nach „Blowjobs”. Der andere ist 16 und findet Youporn längst langweilig. Die wirklich krassen Sachen seien woanders. Das Internet spült eine Flut von pornografischen Bildern in die Kinderzimmer. Oft genügt ein kurzer Klick: „Schon 18?” – „Ja!” Eltern und Pädagogen sind beunruhigt und machen sich Sorgen, was die Eindrücke in den Köpfen ihrer Kinder auslösen. Porno beschränkt sich nicht auf einschlägige Seiten im Netz, sondern prägt die Kultur von Teens und Twens viel umfassender. String-Tangas gibt es für 8-Jährige, die Bravo bildet totalrasierte Körper ab, Rapper Sidos „Arschficksong” ist eine Teenager-Hymne. Die Pornoclips werden dabei immer härter. Im digitalen Freundesnetzwerk kursieren Bilder von Tiersex, Analorgien und kotzenden Darstellerinnen. Auf Handys zirkulieren Clips, für die Teenager sich selbst aufgenommen haben – beim Sex. Schulen und Elternhäuser müssen sich der Entwicklung stellen. Aber wie? Und was können Politiker für einen besseren Jugendschutz tun? Auf solche und andere Fragen gibt dieses Buch eine Antwort – in Gesprächen mit Jugendlichen, Erziehungsberechtigten und Experten. Themenschwerpunkt Sexuologie

Prostitution bei Studentinnen – Resultate einer Online-Studie Johann F. Kinzl, Verena Eisenmann, Martina Brancalion

Prostitution among female students Insgesamt haben 75 Studentinnen die Fragebögen voll- ständig ausgefüllt. Die Ergebnisse zeigen, dass es sich – Results of an on-line study bei den Studentinnen, die sich prostituieren, um eine sehr heterogene Gruppe auf mehreren Ebenen handelt. Abstract Finanzielle Gründe werden am häufigsten als Motiv für The aim of this study was to assess the phenomenon of pro- „Sex gegen Geld“ angegeben sowohl um sich die Kosten, stitution among Austrian and German female students. The die mit dem Studium verbunden sind, leisten zu können, following aspects were surveyed in an on-line study: age, aber auch, um sich einen zusätzlichen Luxus ermöglichen academic success, early experiences in relationships and zu können. Als weitere Motive für die Prostitution werden sexuality, attitude towards one’s body and sexuality, motives Freude an Sexualität, Hass auf und Macht über Männer mit- for offering sex for sale, and personality structure. tels Sexualität, aber auch das Genießen, begehrt zu werden, A total of 75 women completed the questionaire. The results genannt. Fast durchgehend kommt dem eigenen Aussehen show that female students who sell sex are a very heteroge- eine hohe Bedeutung zu. Auch wenn fast alle Probandinnen neous group. Financial motives are those most frequently mit ihrem Körper zufrieden sind, empfindet ein Drittel oft cited; the reasons given, on the one hand, are to finance Ekel sich selbst gegenüber. their studies, and, on the other hand, to improve their Bei der Erfassung der Persönlichkeitsstruktur dominieren material lifestyle. Other motives are sexual pleasure, hatred Persönlichkeitseigenschaften wie „liebenswürdig – histrio- towards and power over males through sexuality, and the nisch“, „selbstbestimmt – antisozial“ und „ehrgeizig – narziss- enjoyment of being desired. Nearly all place high value on tisch“, Eigenschaften, die sicherlich die Bereitschaft, sich zu their appearance. While the majority are satisfied with their prostituieren erhöhen, da die Prostitution auch verschiede- bodies, one-third feel disgust about themselves. ne Bedürfnisse wie das Bedürfnis nach Selbstbestätigung, Frequently found personality traits are “charming – histrio- Begehrt-werden, Verführen, Durchsetzen und Erleben von nic”, “self-determined – antisocial”, and “ambitious – narcis- Macht befriedigt. sistic”, personality traits which undoubtedly increase the Nicht bestätigt werden konnte durch diese Studie die motivation for selling sex, because various needs such as the Annahme, dass Studentinnen, die der Prostitution nach- need for self-affirmation, for being a desired and seductive gehen, besonders häufig negative sexuelle Erfahrungen in woman, and for the exercise and experience of power, are der Kindheit gemacht haben oder Familienstrukturen erlebt satisfied. haben, die als dysfunktional zu bezeichnen wären, auch The results of this study do not confirm our assumption that wenn diese Faktoren bei einzelnen Studentinnen eine Rolle female students who sell sex have often had negative sexual gespielt haben könnten. experiences in their childhood or have lived in dysfunctional Schlüsselworte: Studentinnen, Prostitution, Motivationen, Per- family structures, even if these factors may have been impor- sönlichkeitsstruktur tant for some individuals Keywords: Female students, prostitution, motives, personality structure Einleitung Zusammenfassung Ziel dieser Studie war die Erfassung des Phänomens Prostitution als Vornahme sexueller Handlungen ge- Prostitution bei österreichischen und deutschen Studentin- gen Entgelt ist seit der Antike in verschiedenen Formen nen. Im Rahmen einer Online-Erhebung wurden folgende bekannt (Pircali, 1995). Dabei ist der Stellenwert der Bereiche erhoben: Alter, Studienerfolg, frühe Beziehungs- Prostituierten und die Einstellung gegenüber der Pros- und Sexualerfahrungen, Einstellung zum eigenen Körper titution in verschiedenen Epochen – von weitgehender und zur Sexualität, Motive für das Anbieten von Sexualität Ablehnung bis hin zur Befürwortung der freiwilligen gegen Geld und Persönlichkeitsstile. Prostitution – sehr unterschiedlich (Feustel, 1993). Die Sexuologie 17 (3–4) 2010 119–125 / Akademie für Sexualmedizin http://www.sexualmedizin-akademie.de/sexuologie 120 Johann F. Kinzl, Verena Eisenmann, Martina Brancalion

internationalen Zahlen bezüglich der Inanspruchnahme chische Gesundheit, eine größere Anzahl sexueller Erfah- käuflicher Liebesdienste durch Männer schwanken stark. rungen, erster Sex in einem jüngeren Alter und häufiger Eine Erhebung von Mansson (2006) zeigte in verschie- Opfer sexuellen Missbrauchs. denen europäischen Ländern Häufigkeitsraten zwischen Auch in Österreich und Deutschland wird davon aus- 14% (Dänemark) und 40% (Spanien), während Gunter gegangen, dass Prostitution bei Studentinnen vorkommt, Schmidt (1996) für Deutschland deutlich niedrigere Zah- wobei diesem Thema bislang wenig Aufmerksamkeit ge- len veröffentlichte. Unabhängig von den genauen Zahlen schenkt und keine Studien erhoben wurden. In einem zeigt sich doch eine nicht unerhebliche Inanspruchnahme Bericht des RTL-Magazins „Extra“ (21.4.2008) wurde von gekauftem Sex. Dabei handelt es sich bei der Gruppe darauf hingewiesen, dass immer mehr Studentinnen der Männer, die entsprechende Sexdienste in Anspruch das öffentliche Online-Netzwerk für Studierende dazu nehmen, um eine sehr heterogene Gruppe sowohl bezo- benützen, nach Freiern zu suchen bzw. auf ein schnelles gen auf deren Sozialcharakteristika als auch deren Per- „erotisches Abenteuer“ aus zu sein. sönlichkeitsstruktur (Grenz, 2007). Ziel dieser Untersuchung, die im Rahmen einer Di- Nicht wenige Studentinnen müssen neben dem Stu- plomarbeit erfolgte, war die Erfassung der Prostitution dium arbeiten gehen, einerseits um sich das Studium an bei österreichischen und deutschen Studentinnen, deren sich und die damit verbundenen Kosten leisten zu kön- Motive, deren Einstellung zur Sexualität und Erleben von nen, andererseits aber auch, um sich Dinge außerhalb Sexualität, die Erfassung ihrer Persönlichkeitsstruktur des Studiums leisten zu können, die sonst nicht leistbar und verschiedener Risikofaktoren, die möglicherweise wären. Eine von vielen Verdienstmöglichkeiten stellt die zur Prostitution beigetragen haben. Prostitution dar. Trotz der sexuellen Liberalisierung stellt das Thema „Prostitution“ im allgemeinen und bei Stu- dentinnen im besonderen aber noch immer ein kom- plexes und gesellschaftlich extrem kontroverses Thema Material und Methoden dar. Auch wenn sich die meisten Frauen nicht vorstellen können, sich zu prostituieren, wird von einigen Frauen Die Rekrutierung der Studentinnen, die der Prostitution die Prostitution – vor allem wenn sie „freiwillig“, d.h. nachgehen, gestaltete sich aufgrund der hohen Tabuisie- ohne Unterdrückung durch einen Zuhälter erfolgt – als rung dieses Themas als sehr schwer. Dabei war das „Fin- die Methode angesehen, „schnell und viel Geld in kurzer den“ entsprechender Probandinnen weniger schwierig als Zeit“ zu verdienen deren „Erreichen“. In Unmengen von Erotikseiten kann Es gibt aber nur wenige Studien, die sich mit dem man Studentinnen – zumindest Frauen, die angeben, sol- Thema Prostitution bei Studentinnen beschäftigen. Noch che zu sein – finden, welche sexuelle Dienstleistungen an- weniger ist über männliche Studenten bekannt, die sich bieten. Um einigermaßen sicher zu gehen, dass es sich bei prostituieren, auch wenn eine Studie bei kolumbianischen den Probandinnen um Studentinnen handelt, wurden sie Studenten gezeigt hat, dass Prostitution bei diesen eine nach der Studienrichtung und Studienkennzahl befragt. Rolle spielt (Alzate, 1989). Im Oktober 2006 wurde in der Zu den meisten kann man aber keinen persönlichen Kon- französischen Tageszeitung „LeFigaro“ eine Studie der takt herstellen; meistens geht es über Agenturen oder Te- Studentengewerkschaft Sud-Etudiant veröffentlicht, dass lefonnummern, welche zu bezahlen sind. etwa 40.000 junge Frauen aus Frankreich (Alter 19–29 Deshalb erfolgte die Erfassung Online über die Erstel- Jahre) ihren Körper „verkaufen“ würden, um ihr Studium lung einer Homepage. Die Einleitseite der Homepage lau- finanzieren zu können. Eine 2007 an der Kingston-Uni- tete: „Studentin, verkaufst du deinen Körper? Dann hilf versity in London durchgeführte Studie („UK Students uns!“ Diese Strategie erwies sich als Vorteil, da dadurch and Sexwork“) ergab, dass seit der Einführung der Studi- die Anonymität der Betroffenen gewahrt blieb und sozial engebühren im Jahre 2000 die Zahl der Studierenden, die erwünschte Antworten reduziert werden konnten. Bei der in der Sexindustrie tätig sind, um 50% gestiegen sei. Sve- Erstellung des Fragebogens wurde wegen des schwierigen din und Priebe (2007) untersuchten schwedische Studen- Themas besonders hoher Wert auf eine respektvolle For- tinnen, die Sex gegen Bezahlung anbieten, in Bezug auf mulierung der Fragen gelegt. ihren sozioökonomischen Hintergrund, ihre psychische Es handelt sich bei dieser Studie vorwiegend um Gesundheit und Gesundheitsverhalten, ihr antisoziales eine Erhebung mittels Online-Fragebögen. Über private Verhalten, ihre sexuellen Erfahrungen, auch hinsichtlich Kontakte konnte ein direkter Kontakt zu einigen Studen- sexueller Missbrauchserfahrungen, und den Konsum von tinnen (n=5), die sich prostituieren, hergestellt werden. Pornographie. Dabei wiesen Studentinnen, die Sex gegen Diese Probandinnen füllten die gleichen Fragebögen aus. Geld anboten, ein erhöhtes Risiko für verschiedene psy- Zusätzlich wurde mit diesen Probandinnen – ausschließ- chosoziale Probleme auf, wie z.B. eine schlechtere psy- lich deutsche Studentinnen – ein persönliches Gespräch Prostitution bei Studentinnen – Resultate einer Online-Studie 121 geführt (wegen der geringen Zahl wurden diese zusätz- wurde mit Hilfe des Kolmogorov-Smirnov-Tests durch­ lichen Daten nicht direkt ausgewertet, ihre Aussagen flie- geführt. Metrische Daten wurden mit dem Mann- ßen aber indirekt in die Interpretationen ein). Folgende Whit­ney-U Test auf signifikante Gruppenunterschiede Erhebungsinstrumente wurden verwendet (Eisenmann & geprüft, Zusammenhänge mit Hilfe der Rangkorrela- Brancalion, 2009): tion nach Spearmann Rho überprüft. Die Signifikanz- prüfung erfolgte zweiseitig auf dem 5% Niveau. Selbstkonstruierte Fragebögen zur Erfassung von: u Soziodemographischen Daten: Alter, Studienrich- tung, Semesteranzahl, Studienerfolg, Beziehung der Ergebnisse Eltern. u Fragebogen zum eigenen Körperbild: Dabei wurden Soziodemographische Daten konkrete Fragen zur Beziehung der Probandinnen zum eigenen Körper gestellt (wie z.B. „Du bist at- Die Anzahl der Respondentinnen, die angaben, zu studie- traktiv“; „Dein Aussehen ist dir wichtig“; „Manchmal ren und ihre sexuellen Dienste gegen Geld anbieten, und verspürst du Ekel dir gegenüber“). Antwortmöglich- die die Fragebögen vollständig ausfüllten, war 75. Bei den keiten waren „stimmt“ bzw. „stimmt nicht“. Probandinnen handelt es sich ausschließlich um österrei- u Fragen zur Sexualität: Die Fragen erfassten das Er- chische und deutsche Studentinnen. leben von Sexualität, den Stellenwert der Sexualität Das Durchschnittsalter dieser Probandinnen liegt bei generell, erste sexuelle Erfahrungen und negative se- 23 Jahren, wobei die mittleren 50% der Stichprobe zwi- xuelle Erfahrungen. schen 22 und 25 Jahre alt sind. Die jüngste der Proban- u Fragen zur Prostitution: Die Fragen bezogen sich dinnen ist 19 Jahre, die älteste 32 Jahre. Die Eltern von auf die angebotenen sexuellen Praktiken und das Er- knapp zwei Drittel der Befragten leben zusammen bzw. leben von Sexualität mit den Freiern. Bezüglich der sind verheiratet. Der Anteil der Eltern, welche getrennt Motive bezüglich des Anbietens fon Sex gegen Geld bzw. geschieden sind, liegt bei einem Viertel. 6,7% der wurden keine Fragen vorgegeben, sondern die Pro- Probandinnen geben an, eine allein erziehende Mutter zu bandinnen sollten selbst ihre Motive beschreiben haben, 1,3% haben einen Stiefvater. (dabei wurde auf die Möglichkeit von Mehrfachan- Die Anzahl an inskribierten Semestern liegt im Me- gaben extra hingewiesen. Die Antworten wurden dian bei 6 Semestern (1. bis 15. Semester). Ihren Studie- dann kategorisiert). nerfolg beschreiben 36% der Stichprobe als „erfolgreich“ oder „sehr erfolgreich“, während 16% angeben, „erfolg- Das Persönlichkeits-Stil- und Störungs-Inventar (PSSI) (Kuhl & los“ oder „eher erfolglos“ zu sein. Knapp die Hälfte der Kazen 2008): Befragten schätzt ihren Studienerfolg als „im mittleren Bereich liegend“ ein. Dabei handelt es sich um einen Selbstbeurteilungsfrage- bogen, der die relative Ausprägung von Persönlichkeits- stilen quantifiziert. Die verwendete Kurzversion PSSI-K Einschätzung des Körperbildes besteht aus 65 Items, die wiederum 14 Skalen zugeordnet sind. T-Werte zwischen 41–60 gelten als unauffällig, Werte In Tabelle 1 ist die Einschätzung des eigenen Körperbildes zwischen 61–70 als erhöht und Werte >70 als deutlich er- dargestellt. höht. T-Werte von 30–40 werden als reduziert, Werte <30 Fast alle der Befragten schätzen sich als attraktiv ein, als deutlich reduziert interpretiert. Auch wenn mittels des wobei das Aussehen generell eine hohe Bedeutung für PSSIs aufgrund der Ausprägung eines Kennwertes nicht sie hat. Die meisten Probandinnen möchten gerne von die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung gestellt werden anderen betrachtet werden und zwei Drittel fühlen sich kann, können die Werte des PSSI wichtige Hin-weise für unwohl, wenn sie „nicht gut aussehen“ (z.B. nicht ge- das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung geben. schminkt, nicht gut angezogen). Die Frage, ob sie manchmal Ekel sich selbst gegenü- ber empfinden, wurde von mehr als einem Drittel bejaht, eine etwa gleich große Gruppe kennt das Gefühl, dass der Statistische Auswertung Körper manchmal „wie abgestorben“ sei.

Die Berechnungen wurden mit dem Statistikprogramm SPSS durchgeführt. Die Normalverteilungsannahme 122 Johann F. Kinzl, Verena Eisenmann, Martina Brancalion

Sexuelle Erfahrungen an. Selten werden andere sexuelle Praktiken (wie z.B. Webcam, Telefonsex, Videoproduktion, Hardcore, Ero- Auf die Frage nach dem „Zeitpunkt des ersten sexuellen tikmassagen usw.) angeboten bzw. eingefordert, wie sie Kontaktes“, d.h. erster Geschlechtsverkehr, wird als Durch- auch aus einschlägigen Zeitungsannoncen bekannt sind schnittsalter 15 Jahre angegeben. Die mittleren 50% der (Si­gusch 2007). Übereinstimmend mit dem Angebot wer- Verteilung hatten ihren ersten Sexualkontakt zwischen 13. den als häufigste Sexualpraktiken Vaginalsex, Oralsex und und 16. Lebensjahr. Während eine der untersuchten Stu- Analsex (jeweils drei Viertel) verlangt, weiters sadomaso- dentinnen angibt, den ersten sexuellen Kontakt bereits mit chistische Sexualpraktiken von etwa einem Drittel und 8 Jahren gehabt zu haben, fand dieser bei einer anderen Gruppensex von knapp einem Fünftel. Studentin erst mit dem 20. Lebensjahr statt. Das Erleben Alle Probandinnen gaben an, dass sie bei den sexuel- des ersten sexuellen Kontaktes und negative sexuelle Er- len Kontakten auf einer Kondombenutzung bestehen. fahrungen sind in Tabelle 2 dargestellt. Dabei zeigt sich, dass knapp über einem Viertel der Befragten den ersten se- xuellen Kontakt als „schön“ erlebten, von mehr als einem Gründe für Prostitution Drittel als „nicht schön“. Am häufigsten wurde dieser je- doch ambivalent erlebt (37,3%). Die Frage, ob es als Kind Die Hauptgründe, warum die Probandinnen der Prosti- unter 14 Jahren negative sexuelle Erfahrungen gab bzw. tution nachgehen, sind in Tabelle 4 dargestellt. ob sexuelle Belästigungen stattgefunden haben, wird von Am häufigsten werden finanzielle Gründe genannt, 18 Probandinnen (24%) mit „ja“ beantwortet. Von diesen „um sich damit das Studium selbst finanzieren zu kön- 18 Probandinnen haben wiederum insgesamt 11 (14,7%) nen“. Etwa gleich häufig wird das Bedürfnis geäußert, mehrmals oder über einen längeren Zeitraum negative se- „sich durch die Prostitution einen Luxus leisten zu kön- xuelle Erfahrungen bzw. sexuelle Belästigungen erlebt. nen, der sonst nicht möglich wäre“. Sexsüchtiges Ver- halten wird zumindest von einem Viertel, Rache an den Männern von einem Siebtel der Probandinnen genannt. Sexuelles Verhalten und Erleben Als weitere Gründe werden angeführt: Selbsthass, Lange- weile, Selbstbestätigung und Manipulation der Männer. In Tabelle 3 werden die Antworten zum „generellen sexu- Auf die Möglichkeit, sich mittels Prostitution ein ellen Erleben und Verhalten“ dargestellt. „schnelles Geld“ zu verdienen, kamen die untersuchten Die höchsten Zustimmungen gibt es für die Aussagen Studentinnen vor allem durch Freundinnen oder Mitstu- „Ich lasse mich gern in den Arm nehmen“ und „Sexuali- dentinnen (38%), aus Neugierde oder Zufall (13%), aus tät ist für mich ein wichtiger Lebensbereich“. Zumindest Geldnot (19%), durch das Internet oder Zeitungsinserate vier Fünftel stimmen den Aussagen „Ich suche körper- (11%) oder „einfach durch Spaß am Sex“ (8%). liche Nähe und Zärtlichkeit“ sowie „Körperkontakt ist Keine der Probandinnen hat – nach eigenen Angaben mir wichtig, um Nähe auszudrücken“ zu. Auch die wei- – einen Zuhälter, keine fühlt sich dazu gezwungen, dem teren Aussagen sind ein Beleg dafür, dass Sexualität von käuflichen Gewerbe der Prostitution nachzugehen, und einem Großteil der Probandinnen positiv besetzt wird. keine erlebt die Prostitution als „Gewalt gegen Frauen“. Andererseits wird Sexualität auch von einer nicht gerin- gen Minderheit als negativ bis aversiv erlebt. Bezüglich der Selbstbefriedigung gibt mehr als die Persönlichkeitsstruktur Hälfte der Probandinnen (53,3%) an, sich zumindest mehrmals die Woche selbst zu befriedigen, dagegen spielt Die Persönlichkeitsstruktur wurde mit Hilfe des PSSI un- bei 40% die Selbstbefriedigung kaum eine oder keine tersucht. Dabei lassen sich folgende Prävalenzraten von Rolle. Die Frage, ob die „Sexualität mit den Freiern“ be- Studentinnen finden, die erhöhte oder deutlich erhöhte friedigend erlebt wird, wird von mehr als zwei Drittel der Werte (T-Werte >60) aufweisen: untersuchten Personen – zumindest gelegentlich – bejaht, während knapp ein Drittel (30,7%) diese Frage verneinte. u „selbstbestimmt – antisozial“: 60% 70% haben einen regelmäßigen Kundenstock, die u „liebenswürdig – histrionisch“: 47% übrigen 30% eher keinen. Bezüglich der Sexualpraktiken, u „ehrgeizig – narzisstisch“: 43% die von den Probandinnen angeboten werden erwähnen u „eigenwillig – paranoid“: 40% fast alle, Vaginalsex und Oralsex anzubieten. Mehr als u „kritisch – negativistisch“: 36% die Hälfte der Probandinnen hat auch Analsex im An- u „optimistisch – rhapsodisch“: 32% gebot, jeweils knapp über 30% bieten auch sadomaso- u „zurückhaltend – schizoid“: 27% chistische Praktiken (32,4%) und Gruppensex (31.1%) u „sorgfältig – zwanghaft“: 27% Prostitution bei Studentinnen – Resultate einer Online-Studie 123

Tab. 1 Eigenes Körperbild

CharakteristikastimmtStimmtnicht

Du bist attraktiv71(94,7%) 4(5,3%) Dein Aussehenist dirwichtig 70 (93,3%)5(6,7%) Du weißt, dass andere dich gern betrachten 62 (82,7%)13(17,3%) Wenn du nichtgut aussiehst,fühlstdudichunwohl49(65,3%) 26 (34,7%) Manchmal spürst du Ekel dirselbergegenüber 29 (38,7%)46(61,3%) Du kennst es,dass dein Körper wieabgestorben ist26(34,7%) 49 (65,3%)

Tab. 2 Erleben erster sexueller Kontakte und negative sexuelle Erfahrungen

CharakteristikaEinschätzungHäufigkeit

Wiehastdudeinenerstensexuellen Kontakterlebt? schön 20 (26,7%) sowohl alsauch 28 (37,3%) nichtschön 27 (36,0%) Hattest du alsKindnegativesexuelleErfahrungen bzw. nein 57 (76,0%) wurdestdusexuell belästigt? Wenn ja,wie häufig? einmalig 7(9,3%) mehrmalig 7(9,3%) über längeren Zeitraum 4(5,4%)

Tab. 3 Einstellung zur und Erleben von Sexualität

Charakteristikastimmtstimmtnicht

Ichlasse mich gern in denArm nehmen 69 (92,0%)6(8,0%) Sexualität istfür mich einwichtiger Lebensbereich68(90,7%) 7(9,3%) Ichsuche körperlicheNäheund Zärtlichkeit 65 (86,7%)10(13,3%) Körperkontakt istmir wichtig, um Nähe auszudrücken 61 (81,3%)14(18,7%) Ichkannmeine Sexualität genießen 59 (78,7%)16(21,3%) Meinesexuellen Erfahrungensindbefriedigend59(78,7%) 16 (21,3%) IchkannsexuelleSituationen ungehemmt genießen 57 (76,0%)18(24,0%) Wenn du längereZeitkeine Sexualität hast,fehlt dirwas? 56 (74,7%)19(25,3%) In der Sexualität spüreich meinen Körper angenehm undintensiv53(70,7%) 22 (29,3%) Ichbin mitmeinemsexuellenErleben sehr zufrieden52(69,3%) 23 (30,7%) In deinerFantasieist Sexualität schönerals in der Realität 31 (41,3%)44(58,7%) KörperlicheBerührungen lasse ichnur vonwenigen Menschen zu 25 (33,3%)50(66,7%) Du findestseltenjemandensexuell anziehend18(24,0%) 57 (76,0%) Schämstdudichfür deinebisherigensexuellenErfahrungen?16(21,3%) 59 (78,7%) Ichvermeideesbewusst,andereMenschenzuberühren15(20,0%) 60 (80,0%) Eigentlich interessiertdichSex garnicht besonders14(18,7%) 61 (81,3%) Ichmag es nicht, wenn manmichanfasst 12 (16,0%)63(84,0%) Du erlebstSexualitätimallgemeinen alseinelästige Forderung9(12,0%)66(88,0%) Du hast Sexualität bisher noch nieerfüllend erlebt 8(10,7%) 67 (89,3%)

Tab. 4 Motive für die Prostitution (Mehrfachangaben möglich)

Motive Häufigkeit

FinanzielleGründe, um sich dasStudium leistenzukönnen58(78,4%) FinanzielleGründe, um sich mehr Luxusleisten zu können 53 (71,6%)

Sexsüchtiges Verhalten 18 (24,3%) Rachean den Männern 11 (14,9%) Selbsthass 7(9,5%) AndereMotive 6(8,1%) 124 Johann F. Kinzl, Verena Eisenmann, Martina Brancalion

Probanden mit negativen sexuellen Erfahrungen in der wie „liebenswürdig – histrionisch“, „selbstbestimmt – an- Kindheit zeigen auf folgenden Skalen des PSSI signifikant tisozial“ und „ehrgeizig – narzisstisch“, Eigenschaften, die höhere Werte als ihre Kolleginnen ohne sexuelle Miss- sicherlich die Bereitschaft, sich zu prostituieren erhöhen, brauchserfahrungen: da die Prostitution verschiedene Bedürfnisse wie das Bedürfnis nach Selbstbestätigung, Begehrt-werden, Ver- u „zurückhaltend – schizoid“ (p=.038) führen, Durchsetzen und Erleben von Macht befriedigt. u „kritisch – negativistisch“ (p=.045) Aufgrund einer fehlenden Kontrollgruppe können leider u „spontan – Borderline“ (p=.001). keine Aussagen über die Verteilung der verschiedenen Persönlichkeitsstrukturen bzw. Persönlichkeitsstörungen bei Studentinnen, die nicht der Prostitution nachgehen, bzw. in der Normalpopulation gemacht werden. Die Er- Diskussion gebnisse zeigen, dass einerseits das Aussehen für die un- tersuchten Studentinnen einen besonders hohen Stellen- Die Studienergebnisse zeigen, dass es sich bei den Studen- wert hat, die meisten ihren Körper mögen und auch die tinnen, die sich prostituieren, um eine heterogene Gruppe Sexualität von einem Großteil als positiv erlebt wird, an- auf mehreren Ebenen handelt. Die ursächlichen Motive, dererseits aber eine nicht geringe Minderheit eine negative die zu ihrem Verhalten beigetragen haben, sind genauso Beziehung zum eigenen Körper und zur Sexualität hat. vielfältig wie die aufrechterhaltenden Motive. Neben fi- Generell scheint bei einem Großteil der Proban- nanziellen Motiven („leicht und schnell verdientes Geld, dinnen die Sexualität eine sehr wichtige Rolle zu spielen, das durch kein anderes Verhalten sonst in dieser Dimen- da neben der Prostitution und der Sexualität mit dem sion möglich wäre“) spielen Lustmotive (wie z.B. Lust an Freund auch die Selbstbefriedigung als regelmäßige ei- Sexualität), Machtmotive (wie z.B. Macht über Männer genständige sexuelle Betätigung gelebt wird. Eine nicht mit Hilfe der Sexualität) und narzisstische Motive (wie unbeträchtliche Minderheit der Probandinnen, nämlich z.B. Begehrt-werden, Gefühl der Idealisierung) eine wich- ein Viertel, weist darauf hin, dass sie durch die Prostituti- tige Rolle für das Anbieten käuflicher Lust. Die Ergebnisse on neben dem Geldverdienen gleichzeitig ihre „Sexsucht“ sind ein Hinweis darauf, dass bei den Studentinnen, die ausleben können. sich prostituieren, Geld eine sehr große Rolle spielt, ei- Unsere Ergebnisse bezüglich der meist gewünschten nerseits um genügend Geld zu haben, um sich überhaupt Sexualpraktiken stimmen mit denen von Grenz (2005) die Studienkosten und vor allem die mit dem Studium bei „normalen“ Prostituierten überein. Aus den sexuel- verbundenen Kosten leisten zu können, andererseits bei len Praktiken, die vorwiegend gewünscht werden, kann einigen Studentinnen auch um sich Dinge leisten zu kön- geschlossen werden, dass diese den Freiern von ihren fi- nen, die einen gewissen Luxus darstellen. xen Partnerinnen eher vorenthalten bzw. abgelehnt oder Anzunehmen ist aber, dass in Ländern mit hohen nicht geschätzt werden oder sie Abwechslung suchen. Die Studiengebühren der Anteil der Studentinnen, die der Einschätzung des eigenen Sexualverhaltens als „sexsüch- Prostitution nachgehen, um sich das Studium leisten zu tiges Verhalten“ stellt eine rein subjektive Einschätzung können, höher ist, wie Lanz (2004) bei ausländischen derselben dar; dabei ist diese Verhalten interindividuell Studentinnen in Australien zeigen konnte. sicherlich sehr heterogen und muss nicht unbedingt ob- Das Ergebnis, dass mehr als ein Drittel angaben, jektiven Kriterien einer „Sexsucht“ entsprechen. durch Mitstudentinnen auf die Möglichkeit der Prostitu- Nicht bestätigt werden konnte durch diese Studie die tion zum Geld verdienen aufmerksam gemacht wurden, Annahme, dass Studentinnen, die der Prostitution nach- zeigt, dass neben den „üblichen“ Möglichkeiten, sich Geld gehen, besonders häufig negative sexuelle Erfahrungen dazu zu verdienen, auch bei den Studentinnen die Prosti- in der Kindheit gemacht haben. Das Ergebnis, dass etwa tution als Option angesehen wird. ein Viertel Opfer sexueller Belästigung oder sexuellen Leider wurde bei dieser Studie nicht danach gefragt, Missbrauchs in der Kindheit war, stimmt weitgehend wie viel Geld die Probandinnen ohne Prostitution zur mit den Prävalenzraten einer früheren Studie von Kinzl Verfügung hätten. Dadurch kann keine Aussage darüber und Mitarbeitern (1992) bei „normalen“ Studentinnen gemacht werden, ob die „Freiwilligkeit, der Prostituti- der Universität Innsbruck (21,8%) überein. Dass in der on nachzugehen“, sich nur auf die Unabhängigkeit von Prostitution auch Aspekte wie „Machtausübung gegen- einem Zuhälter bezieht, oder ob in einzelnen Fällen eine über Männern“ ausgelebt werden, zeigt sich darin, dass „soziale Unfreiwilligkeit“ aufgrund einer schwierigen fi- Probandinnen mit sexuellen Missbrauchserfahrungen nanziellen Situation dazu beigetragen hat. signifikant häufiger sadomasochistische Praktiken anbie- Bei der Erfassung der Persönlichkeitsstruktur domi- ten und ausleben. Die Probandinnen dieser Studie, die nieren erwartungsgemäß Persönlichkeitseigenschaften sexuellen Missbrauch erlebt haben, zeigen im Vergleich Prostitution bei Studentinnen – Resultate einer Online-Studie 125 zu den Probandinnen ohne sexuelle Missbrauchserfah- Literatur rungen statistisch signifikant höhere Werte auf den PSSI Skalen „spontan – Borderline“ „zurückhaltend – schizo- id“ und „kritisch – negativistisch“ auf. Alzate, H., 1989. Sexual behavior of unmarried Colombian university students: a follow up. Archives of Sexual Behavior, Aufgrund dieser Untersuchung kann keine Aus- 18, 239–250. sage über die Prävalenzraten von Prostitution bei Stu- Eisenmann, V., Brancalion, M., 2009. Studentinnenjob: Pros- dentinnen gemacht werden, sondern nur, dass es dieses titution. Diplomarbeit, Leopold-Franzens-Universität, Inns- Phänomen gibt. Die geringe Anzahl an Studien über die­ bruck se Tatsache könnte mit einer Tendenz zur Tabuisierung Feustel, G., 1993. Käufliche Lust. Eine Kultur- und Sozial- dieses Themas in unserer Gesellschaft im Allgemeinen geschichte der Prostitution. Edition Leipzig, Leipzig. und bei Studentinnen im Besonderen zusammen hängen. Grenz, S., 2007. (Un)heimliche Lust. Über den Konsum sexuel- ler Dienstleistungen. VS Verlag, Wiesbaden. Auch ist die durch diese Untersuchung erfasste Art der Kinzl, J.F,, Traweger, C., Biebl, W., 1995. Sexual dysfunctions: Prostitution nur bedingt mit der üblichen „Strichprosti- relationship to childhood sexual abuse and early family expe- tution“ zu vergleichen, wo zum Teil ganz andere Regeln riences in a nonclinical sample. Child Abuse and Neglect, 19, gelten (z.B. Zuhälter, Zwang, Alkohol- und Drogenpro­ 785–792. bleme). Auch wenn einige Fragen dazu dienten, einiger- Kuhl, J., Kazen, M., 2008. Manual des Persönlichkeits-Stil- maßen sicher zu stellen, dass die Respondentinnen wirk- und Störungs-Inventar. Hogrefe,Verlag für Psychologie, liche Studentinnen (und keine Fakes) waren (z.B. Anzahl Göttingen. Mansson, S.A., 2006. What exactly is it that men buy? On men’s der inskribierten Semester, Studienerfolg, Studienrich- images and fantasies of prostitutes and trafficked women. tung), kann dieser Unsicherheitsfaktor besonders bei On- European Parliament, Brussel. line-Befragungen nicht ausgeschlossen werden. Es ist uns Meinefeld, W., 2010. Online-Befragungen im Kontext von bewusst, dass auch die Qualität und die Zuverlässigkeit Lehrevaluationen – praktisch und unzuverlässig. Kölner Zeit- von Online-Befragungen im Vergleich zu schriftlichen schrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 62, 297–315. Befragungen oder persönlichen Interviews besonders bei Pedersen, W., Hegna, K., 2003. Children and adolescents who sexuellen Fragestellungen vermindert ist. Dieses Problem sell sex: a community study. Social and Scientific Medicine, 56,135–147. konnte auch bei anderen Fragestellungen gezeigt werden Pircali, R., 2004. Die heilige Prostitution. Multiversum, Meraner (Meinefeld 2010). Reprostudio. Weitere Studien mit Hilfe anderer Erhebungsinstru- Schmidt, G., 1996. Die neuen Sex Surveys. Zeitschrift für Sexu- mente (z.B. persönliche Interviews) – auch bei männ- alforschung, 9, 158–165, lichen Studenten – sind notwendig, um einerseits das Sigusch, V., 2007. Kultureller Wandel der Sexualität. In: V. Ausmaß der Prostitution bei Studenten zu erfassen, und Sigusch (Hrsg), Sexuelle Störungen und ihre Behandlung. 4. andererseits weitere Aspekte (wie z.B. soziodemogra- Aufl., 3–7. Thieme, Stuttgart – New York. Svedin, C.G., Priebe, G., 2007. Selling sex in a population-based phische und sozioökonomische Faktoren, Psychodynamik study of high school seniors in Sweden: demographic and und Psychopathologie) zu erfassen, die zum Verständnis psychosocial correlates. Archives of Sexual Behavior, 36, „Prostitution bei Studenten“ beitragen können. 21–32.

Korrespondenzadresse Prof. Dr. Johann F. Kinzl, Univ. Klinik für Psychosomatische Medizin, Department für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Universität Innsbruck, Anichstraße 35, A-6020 Innsbruck, Email: [email protected] Themenschwerpunkt Sexuologie

Internet 2010 – Informationsgesellschaft 2020

Klaus Rebensburg

Internet 2010 – Informationsociety 2020 aber zunächst soll es wohl etwas anderes sein. Das im Jahre 2010 bereits allgegenwärtige Internet ist von techni- scher Perfektion, beeindruckend weitreichend, dient den Abstract Mächtigen und den Schwachen, ist Chance der technisch The internet, in 2010 already all-pervasive, is technically erweiterten Information und Kommunikation, z.B. sach- perfect, impressively far-reaching, employed by both the lich, fachlich, kommerziell, emotional, sozial und politisch. powerful and the powerless, and an opportunity for techni- Wir rechnen es inzwischen zu den Medien mit all den cally improved information and communication. It demon- Wirkungen, die ihnen auch früher schon zugeschrieben strates all the effects of earlier forms of media, whether oral waren, wie Mund-zu-Mund Überlieferung, Schriften auf history, writing on stone or papyrus, printing, telephone, Stein oder Papyrus, Buchdruck, die Einführung des Telefons, radio, TV, film. The power and powerlessness of individuals, des Rundfunks, des Fernsehens und des Kinos. Ohne Medien groups, even entire societies are transported equally by the gäbe es aus heutiger Sicht keine Religion, keine Gesundheit, Internet. Still ”we“ have problems determining what is good keine Wirtschaft, keine Gesellschaft, keine großen Strukturen and what is bad about the Internet. If the ”we“ are practi- des Zusammenlebens. Macht und Ohnmacht des Einzelnen, tioners of sexual medicine and computer scientists, then von Gruppen, aber auch ganzer Gesellschaften werden a good starting point would be to establish what the two gleichermaßen mit dem Internet transportiert. Mit dem sciences know about each other. Wort Informationsgesellschaft haben wir einen technischen How can we maximize the benefits and avoid the problems Verursacher begrifflich herausgehoben und schreiben, wie of this constant and omnipresent data flow? If the quantity gewohnt, Erlebtes, Vergangenes in die Zukunft auf diesem and flow of information, and above all its content, are impor- Hintergrund weiter. Dabei haben „wir“ so unsere Probleme, tant, then they must be safe from misuse. Just as in earlier, herauszufinden, wo das Internet gut ist und wo es böse ist. enlightened societies, we want to remain individuals and Wenn damit „wir“, die Sexualmediziner und die Informatiker, retain our privacy. gemeint sind, dann wäre ein guter Ausgangspunkt, dass The Internet makes some people astute, effective and social- beide Wissenschaften sich darüber austauschen, was sie ly compatible, others are deceived, manipulated, addicted. heute voneinander wissen. The Internet cures people, makes them sick, preserves life Dem Triumph, was alles heute verdatet werden kann, und and can help kill. We have arrived at historically documented was alles dann mit immer mehr Daten allgegenwärtig mög- effects of the media. The question is: what can be achieved lich ist, steht oft die Frage gegenüber, welchen Gewinn „wir“ with these new technical variants of information and com- daraus ziehen können und welche Verluste vermieden wer- munication in the next ten years? In this article a computer den sollten. Wenn Informationsmengen und -ströme, aber scientist endeavors to project the chances and risks of the insbesondere Inhalte so wichtig sind, dann sollen sie aber Internet for sexual medicine in the decade ahead. sicher sein vor Missbrauch, ungewollter Machtausübung Keywords: Internet, flow of information, communication, sexu- oder Verletzung. Wenn wir schon in technisch vernetzten al medicine Informationsströmen operieren, dann möchten wir, wie bereits in früheren aufgeklärten Gesellschaften angestrebt, Individuum bleiben und nicht gläsern erscheinen. Mit der Zusammenfassung Chance, dass uns weltweite Informationsverarbeitung per- Internet 2010 – Informationsgesellschaft 2020! Der Titel sonalisiert, also maßgeschneidert helfen soll, wollen wir aber dieses Vortrags klingt, als ob uns keine Wahl bliebe: Das ungern unsere mentalen und physischen Konfektionsgrößen Internet von heute ist prägende Kraft der kommenden offenlegen. Daten für einen guten Zweck zu verleihen, ist Informationsgesellschaft 2020! Die Welt könnte ja auch gut, aber wir möchten sie bitte exklusiv danach wieder einer anderen Gesellschaft, z.B. einer Dienstegesellschaft, zurück erhalten. Wohlstandsgesellschaft, einer Gesundgesellschaft, einer Die einen macht das Internet schlau, wirksam und gesell- Friedensgesellschaft oder gar dem Paradies zustreben, schaftlich kompatibel, andere werden durch das Internet Sexuologie 17 (3–4) 2010 126–137 / Akademie für Sexualmedizin http://www.sexualmedizin-akademie.de/sexuologie Internet 2010 – Informationsgesellschaft 2020 127 betrogen, süchtig und dumm gespielt oder manipuliert. kation nix los und meint, ohne mündliche, schriftliche, Internet macht gesund, krank, verführt, erhält Leben und gedruckte, gemalte oder gesendete Verbreitung gäbe es kann sogar helfen, zu töten. Wir sind bei historisch beleg- keine großen Gesellschaftsstrukturen, kaum globale, ten Wirkungen von Medien angekommen und versuchen wirtschaftliche oder kulturelle Entwicklung. Je verbreite- nun, zu orakeln, was Menschen aus ihren heutigen deut- ter Medien sind, desto mehr beeinflussen sie, und desto schen oder europäischen Gesellschaftsformen heraus aus mehr verbreiten sie sich auch selbst. Einer meiner Kol- diesen neuen technischen Varianten der Information und legen brachte es einmal zum Auftakt eines Kirchentages Kommunikation wohl in den nächsten 10 Jahren machen auf den Punkt: Das Christentum verdankt seine Erfolgs- könnten. geschichte spätestens seit den Geschichten des Alten und Auf dieser Jahrestagung der Sexualmedizin, die den Unterti- Neuen Testaments der Entwicklung der Medien. tel hat „Internet und neue Medien“, versucht ein Informatiker Wirtschaftlich denkende Techniker drücken das medial, also mit fließender Information, Powerpoint und heute etwa so aus: „Wer (die) Medien, z.B. das Internet, gesprochenen Worten, Chancen und Risiken des die als Werkzeug hat, als Anbieter, der entwickelt etwas für Informationsgesellschaft tragenden Netzes für die Sexual- jemanden – „push“. medizin in die nächsten 10 Jahre fortzuschreiben. Und der Bürger nutzt die Medien, entwickelt sich Schlüsselwörter: Internet, Informationsfluss, Kommunikation, dabei (selbst oder von Anbietern gelenkt) zum Nach- Sexualmedizin frager – „pull“. Das geschieht irgendwie, irgendwohin, und manche sagen, oft mehr nach den Vorstellungen der Besitzer der Medien oder der Anbieter als politisch oder individuell steuerbar. Dann spricht man in unserer Ge- Das Internet 2010 prägt, führt in eine sellschaftsform auch von der Macht der Medien. „neue“ Gesellschaft Diese Asymmetrie zu beseitigen, steht auf der Agen- da vieler politisch denkender, demokratisch gesinnter Bürger, Parteien und NGOs (Nichtregierungsorganisa- Das Internet prägt mich in Berlin seit etwa 1985, seit an tionen). Und sie sprechen dabei oft vom „Freien Inter- den Hochschulen Rechnernetze zum Kommunizieren, net“, insbesondere auch gern über Web 2.0, einen par- Rechnen und Steuern die so genannten Zentralrechner tizipativen Ansatz bei der technisch gedachten Nutzung ablösten. Mehr denn je begleitet das Internet uns seit An- der Medien, nämlich einer Balance von Produzieren und fang der 90er Jahre, dem Zeitpunkt der Einführung des Konsumieren – nicht nur gelenkt vom Produzenten, WorldWideWeb. Sie werden erinnern, Ende des 20. Jahr- nicht nur abhängiger Consumer, sondern Lieferant und hunderts ruinierten überzogene ökonomische Erwar- Verbraucher von Information und Wissen – Prosumer. tungen mit der Dot.Com Krise und mangelhafter gesell- Wenn Sie in Neuen Medien diese Diskussion über die schaftlicher Vorbereitung auf das globale Netz für einige „alten Medien“ mitlesen wollen, schauen Sie zum Bei- Jahre unser Wirtschaftssystem. spiel in www.freiesinternet.com. Das Internet ist nun, im Jahre 2010, mehr als ein Wollen Sie für sich die Bedeutung des Mediums In- technisches Computernetz mit intensiver Kommunika- ternet definieren, dann fragen Sie sich selbst zum Ver- tion geworden. Es ist dank seiner zahlreichen und un- gleich: Wer prägt denn sonst noch? Die Familie, die Au- terschiedlichen Nutzer als ein neues Medium wirksam toindustrie, der Staat, kulturelle Angebote – aber sie alle, geworden. Andere (herkömmliche) Medien wie Bücher auch meine Neffen und Nichten, verwenden das Netz und Zeitungen, Rundfunk, Fernsehen und Kino kämpfen zum Kommunizieren, Programmieren, Werben, Ge- um einen geänderten (neuen) Markt, passen sich an, sind schäftemachen und zur Unterhaltung. Wenn heute sogar im Wandel. manche Eltern und Lehrer ihre Kinder vor den Fernseher Die Anpassung wird meist vordergründig als eine oder an den Computer schicken – da muss doch etwas wirtschaftliche gesehen, der Wandel der kommerziellen dran sein? Anbieterstrukturen, neue regionale und überregionale Da wir es im demokratischen Abendland gewohnt Wirksamkeiten und das Zusammenspiel mit den alten sind, dass Gesellschaften sich nur vorwärts (und zum Gu- und neuen Kunden bestimmen die Diskussion. Aber ten?) entwickeln, wird immer die Frage gestellt, wer wen genauso intensiv reden wir über Wirksamkeit und Fol- vom Alten ins Neue entwickelt und treibt. Und wir sind gen umfassend neuer Informationsangebote auf die ge- sehr unsicher, ob die Gesellschaft in der Lage ist, Technik sellschaftliche Entwicklung und politisches, soziales und zu ihrem Wohl zu gestalten, oder ob die Technik die Ge- kulturelles Verhalten. sellschaft treibt und prägt. Medien sind seit Tausenden von Jahren Antreiber unserer Entwicklung. Man sagt gern: Ohne Kommuni- 128 Klaus Rebensburg

Das Internet mit Informatik 2010 – tragung, eMail, WWW und Surfen (http) tragen inter- aktive Dienste wie Telekonferenzen, aber auch Telefonie, Triumphe! Radio und Fernsehen zur Bedeutung bei. Folgen sind auch sehr viele Datenverkehr erzeugende neue Dienste und Anwendungen wie Download von Mu- Das Internet funktioniert, es ist überall sik, Video und Text; wir haben uns an iTunes, YouTube, Video-, Foto-Portale etc. gewöhnt. Das Internet entwickelt seine technische Kraft aufgrund Und nun sind wir auch schon so weit, dass das Inter- zweier Prinzipien, der Kodierung und der Vernetzung: net zum ewigen Geschichtsarchiv werden soll. Es erlaubt die Speicherung und das Wiedergeben und Weitergeben u Ein mächtiges, aber technisch einfaches Transforma- sämtlicher Informationen, die jemals nach diesen Regeln tionsprinzip vom Analogen zum Digitalen, das Zu- aufgezeichnet wurden (Spiegel unserer wirtschaftlichen stände, Buchstaben, Messwerte, Text, Schriftform, und kulturellen Identität). Layout, Sprache, Bild, Bewegtbild, Film und Me- tadaten(wir meinen mit letzterem Daten, die wieder- um Daten beschreiben) digitalisiert und nach Regeln Zwei Sichten auf Vielfalt und Menge im Virtuellen in Bit und Bytes(8 Bit) kodiert. – unendlich oder endlich?

u Ein mächtiges technisches Prinzip, bei dem alle In- Erholen wir uns bei einer mehr philosophischen Betrach- ternet-Netzknoten (Router, Gateways) stets trans- tung wie sie in den Abb. 1 und 2 geboten werden. portbereit für jedes Datenpaket (ca. 100-1.000 Bytes) Sicht 1 (Abb. 1) – Die konkrete Welt an sich ist über- sind, das eine Internet-Zieladresse bei sich trägt, und schaubar; um sie zu verstehen, machen wir ihre Signale bei dem jeder Knoten für jedes Paket die ihm oppor- zu vielen Daten, wir virtualisieren sie und erhalten einen tun scheinenden Ausgangsrouten wählt. relativ größeren (virtuellen) Wissensraum. Sicht 2 (Abb. 2) – Die Welt ist alles, das Wissen, das Hiermit kann alles, was eine Webadresse (URL) hat (Da- wir über sie im Virtuellen anlegen können, ist verlust- ten, Dateien, Bilder, Filme), von Endgeräten (paketweise, reich aufgrund der Abbildung ihrer Signale in Informati- dateiweise und stromweise) von überall über das Netz aus on. Letztlich ist Wissen nur ein kleines Abbild der relativ Knoten und Verbindungen abgerufen (oder irgendwohin großen Welt. geschickt) werden. Die Standardisierung dieser technischen Prinzipien hatte weitreichende Folgen: Über das Internet (Inter- Triumph: Das Internet ist groß, perfekt, es versetzt connected network) tauscht man heute über viele Rech- uns in den digitalen Datenmengenrausch nernetzwerke (ca. 1 Mrd. Computer) weltweit Daten in digitaler Form aus. Zwischen ein paar Kilobit/sec heute, Während 1 Megabyte in den 80er Jahren noch als große 2010, über 16 Megabit/sec sehr bald 100 MBit/sec für je- Informationsmenge galt, rechnen wir heute mit ganz an- dermann, und von Knoten zu Knoten sind es dann Tera- deren Dimensionen: Alles Gedruckte der Welt wird mit bit/sec – Tendenz ansteigend. 2 PetaByte (Mrd. Megabyte) angegeben, digitale Rund- Es handelt sich um gigantische Datenmengen: Das funk/Fernseharchive handeln mit zig Petabyte, zu Hause Internet transportiert für jedermann (Europa 50%, welt- sind wir in 2010 mit 1 Terabyte präsent auf unseren Note- weit 20%, Jugend 80%), jederzeit (in Deutschland pro books. Das gesamte Web enthält geschätzte 9–18 Mrd. in- Person ca. 1–2 Std. täglich) weltumspannend, grenzüber- dizierte Dokumente, das unsichtbare Web, genannt Deep schreitend unglaubliche Datenmengen (in Deutschland Web, noch einmal 500-mal so viel. Alles Gesprochene ständig mehr als 10 Gb/sec über Knoten und zwischen weltweit/Jahr lässt sich auf 2 Exabyte hochrechnen. 2005 Knoten). Zu Spitzenzeiten kumulieren sich in einigen eu- hatten 2 Mrd. Menschen weltweit digitale Mobiltelefone, ropäischen Knoten 1.000 Gb/sec. der jährliche Zuwachs betrug in den Folgejahren mehr als Hinzu kommt die neue Vielfalt der Zugänge: Dank 750 Mio. In jedem Jahr kommen zu den oben genannten standardisierter Low-Level Protokolle kann dabei jedes Datenmengen hunderte von Exabyte allein durch Film- computerbasierte Gerät, und es kommen täglich neue auf produktionen hinzu. den Markt, mit jedem anderen über Drähte, Fasern und Unsere Vorstellungskraft wird ebenfalls durch Zah- Funk verbunden werden. len des Büchermarktes strapaziert: So gibt es allein im Die Folgen sind beschleunigende Dienstbarkeiten im deutschsprachigen Raum 100.000 Neuerscheinungen/ Netz: Neben klassischen Internetdiensten wie Dateiüber- Jahr. Das Land Korea hat allein ca. 20.000 Verlagshäuser. Internet 2010 – Informationsgesellschaft 2020 129

Würde man alle weltweit jährlich erscheinenden Bücher Abb. 1 auf 1 cm Dicke normieren und nebeneinander stellen, so rechnet man mit 14 km Bücherwand. Wenn wir schon zählen und rechnen, so kümmern sich allein im Bereich der Wirtschaft 2.000 Telekommunikationsanbieter um die Versorgung mit Datenströmen. Übrigens, Sie erzeu- gen mit Ihrer Computermaus mehr als 150 km Daten/ Information Jahr. Im Vergleich Computer zu Gehirn versuchen wir, Daten Analoges auszumachen. Unsere Neuronen sind wie Bits und Bytes: ein Neuron/Byte ist nichts, kollektive Signale Verschaltungsmuster bringen es dann. Die neuronalen Welt Cluster beim Menschen sind vergleichbar mit Compu- Wissen ist ter-Maschinensprache. Als Informatiker staunen wir komplexer als die aber (noch) über Neuronengeflechte, die Zugriff auf die Welt Motorik, Kognition,­ Emotionen, auf Körper, Geist und Gefühl haben. Immerhin gelingt es uns bei Computern, Abb. 2 Gedächtnis, Planung und Entscheidungen zu program- mieren. Aber so etwas wie visuelles Bewusstsein wird ge- Welt rade erst ansatzweise modelliert. Selbstbewusstsein und Selbstwahrnehmung, Sub- jektivität, die das Hirn durch neurobiologische Korre- Signale late erzeugt, generische Wege von Körpererfahrung zu Selbstwahrnehmung, all das gehört noch zur Suche nach Daten der Theory of Mind, die die Computertechnik für 2020 beflügeln soll. Information Wenn es stimmt, was mir ein Sportwissenschaftler der Universität Potsdam erzählte, dass die Anzahl der Wissen beteiligten komplexen neuronalen Vorgänge beim Golf- spieler für einen gelungenen Schlag pro Sekunde bei 25 Wissen Mrd. liegt, so übersteigt das bei weitem das, was wir heu- verdichtet te mit handelsüblichen Computern zielgerichtet parallel zuwege bringen. Und da sage noch einer, dass Golf ein bedeutete: Die Distanzen zwischen Mensch und gespei- Sport für Einzeller sei! chertem Wissen und Mensch zu Mensch werden in je- Der Mensch beeindruckt mit der Anzahl der Neu- der Hinsicht kleiner (Abruf, Verteilung, Datenbanken, ronen (100 Mrd.) und ihren verbindenden Synap- Suchmaschinen). Web 2.0 macht immer mehr Datenpa- sen (100 Billionen) im Hirn. Und die besten Kameras kete zu Medienströmen, macht über Portale User zu so- als optische Sensoren erreichen nicht annähernd die zialen Gemeinschaften. Web 2.0 erlaubt, Anwendungen Leistung und Vielfalt (ca. 130 Mio.) des Auges. Im- portionsweise zu konfigurieren anstatt zu programmie- merhin leiten dort etwa 1,2 Millionen Aonen die auf- ren, erlaubt unsere Mitwirkung auch „upstream“ – das genommenen Signale im Sehnerv ins Gehirn weiter, hat technische und gesellschaftliche Folgen. Wir sind bei d.h., es findet eine beträchtliche Vorverarbeitung (pre- Web 2.0 immer auch gefragt, beizutragen zum medialen processing) der Signale schon in der Retina statt. Theater, zum virtuellen Raum, zum sozialen Raum und Zurück zum Internet. Wir fragen verunsichert, was zum Kommerz. Wir lassen uns gern nötigen zum „I like“ hinter den technischen Begriffen Web 1.0, Web 2.0 oder Button bis hin zum Nachfragen, zum Auffordern, Stel- demnächst Web 3.0 steht, und was daraus für uns folgt. lungnahmen abzugeben, oder zum Handeln mit dem Hier eine Erklärung: Ehemals lebten wir im Hinblick auf Single-Click Buy. Im Web 3.0 – demnächst in 2020 – , Codierung und Transport von Information mit Zuruf „weiß“ das Netz, wer wir wo und wann sind und richtet und Rauchzeichen, später mit Flaggen, mit Lichtzeichen, sich darauf ein, ob es nun vertraulich, plump vertraulich dann mit elektromagnetischen Transportdiensten wie ist oder wir gesprächig sind. Man kann uns situationsge- Morsen, Telegramm, Telex, Funksprechen und -hören, recht ansprechen, kontextsensitiv – wir würden das dann bis Radio, TV, dann Internet und Web uns verbunden auch erwarten, wenn wir z.B. Lidl ansprechen und au- haben. Darauf bauen die genannten Stufen auf. Web 1.0 tomatisch (durch andere Community Teilnehmer oder 130 Klaus Rebensburg

aus Kenntnis des Zulieferers) vor Dioxin in den Eiern lung von Gefühlen.“ Marshall McLuhan schreibt in Die gewarnt werden. Oder wenn wir Parteien zur Wahl ankli- magischen Kanäle – Understanding Media: „Das Medi- cken, wenn man uns vor den obskuren Machenschaften um ist die Botschaft.“ Und Hans Magnus Enzensberger mancher Politiker warnt. Oder wenn mein persönlicher vermerkt zur Rechtschreibreform, (FAZ, 26. Juli 2004, mobiler Agent verhindert, dass das Internet mich durch 29): „Wer sich als Herrscher über die Sprache aufspielt, Glücksspiel, Abbildungen nackter Gewalt oder Kin- hat nicht begriffen, dass es sich um das einzige Medium derpornographie verführt. handelt, in dem die Demokratie schon immer geherrscht Das Internet wirkt, ist Werkzeug, es ist Medium hat.“ Und die Soziologie kennt Niklas Luhmann zufolge geworden – perfekt und visionär: Die Informationsgesell- sogar die Funktion des Geldes als Kommunikationsmedi- schaft hat unglaublich viele Möglichkeiten am Netz: So um der Wirtschaft. können wir 1.000 Beispiele finden und aufzählen: Aber Wir spüren den Bedeutungswandel des Wortes: Ohne es ist irgendwie richtungslos: Es hilft den Schwachen, den Medien hätten wir heute keine Religion, keine Wirtschaft, Starken, den Kreativen, den Einfallslosen, den Geschäf- keine großen Strukturen des Zusammenlebens, keine Ge- temachern, zur Gesundheit, kann aber auch krank ma- schichte der Religionen. chen. Im Internet der Dienste 2010 sind wir infiziert von Die Zukunft 2020 hat gestern begonnen, und es gru- der App-Mania 2010. Was, Sie haben noch kein Smart selt uns: 2020 haben wir nach Vorhersagen der Studien Phone? Kleine Dienstbarkeiten fliegen uns zu: Wetter, wo das Internet der Dinge und kommunikationsfähige Sen- regnet es, nächste U-Bahn/Bus, wo bin ich, wie komme soren überall. Ist es dann schon Smart Dust – der wach- ich da hin, was ist das für ein Gebäude, was gibt es im Ra- same Staub der superkleinen, prozessorbehafteten In- dio, was gibt es Neues im Tagesgeschehen, wie spielt die ternet-Knötchen? Oder Molekularcomputerphysik oder Bundesliga, was bedeutet Hypophyse, wer ist Bundestags- -chemie? Mini-Aktoren immer mehr, bald überall, wir präsident, Mutter anrufen, nächsten Termin mit Gruppe denken uns bereits hin zum (Alp-) Traum vom Ubiqui- vereinbaren, den Teilnehmern der Tagung eine eMail tous Computing. Würden wir dann immer noch hoffen: senden, Geld überweisen, Kontoauszug, Vorstand GSM „Internet macht frei?“. 2020 könnten wir das Internet auf wählen, […], die Medien überschlagen sich im Wettbe- der häuslichen Tapete haben, auf Plastiktüten, auf der werb, herauszufinden, was die wichtigsten, beliebtesten Kleidung, auf der Haut (im wahrsten Sinne des Wortes oder unsinnigsten 25 Apps sind. Dabei fängt es immer wird daraus eine uns umfassende Netzhaut). Und wir fra- klein an: Vom Ausführen hilfreicher Software am Bild- gen heute schon: Wie weit gehen wir mit den Sensoren schirm bewegen wir uns in der Informationsgesellschaft (und ggf. Aktoren) unter die Haut? Fernbeziehungen sind zum allgegenwärtigen, vernetzten Finden, Geben, Neh- schon heute die Gewinner mit Chat, Skype und eMail men von Daten, Information, Wissen, Gefühlen, Werten, zum Segen der Beziehungen (normale Kommunikation Unwerten. Vom ehemaligen bloßen Eintippen, Rechnen, zwischen Partnern findet ja eh nur 8 Min/Tag statt). Die Ansehen und Drucken der Ergebnisse entschweben wir gegenseitige Ferne – ist sie das neue soziale Konzept der heute in die virtuellen Welten, zu immersiven, vernetzten Lebensgemeinschaften? Heute hören wir: „Meine WG ist Diensten und Organisationsformen des Web 2.0. meine Familie, das Internet meine Heimat“. Wir haben ja Datingbörsen für Mann und Frau, wir reden von Casual Sex und schon von der Abbildung des Offline Lebens ins Der Medienbegriff lange vor 2010 Online. Wir werden körperlich Sex online machen. Wie definieren wir dann Partnerschaft? Schwer zu sagen. Wir Der Begriff Medien wird noch nicht lange verwendet. sollten miteinander reden! Bis vor 50 Jahren war es in den Wörterbüchern noch eine Landschaft in Persien. Wir gehen in der Geschich- te nur wenig zurück und nehmen sehr interessante Informatiker lieben es systematisch – am Beispiel Sichten zum Begriff Medien zur Kenntnis: So schreibt Walter Benjamin in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner Über all diesen furchterregenden Perspektiven – wir sind technischen Reproduzierbarkeit (Frankfurt/Main 1966, noch auf dem Boden der Gegenwart – kann ich es Ih- 14): „Die Art und Weise, in der die menschliche Sin- nen nicht ersparen, die Informatik als hochkomplizierte neswahrnehmung sich organisiert – das Medium, in Wissenschaft und Ingenieurskunst herauszuheben. Und dem sie erfolgt – ist nicht nur natürlich, sondern auch sei es nur zur Rechtfertigung, dass wir Professoren brau- geschichtlich bedingt.“ Bei Mary Shelley lesen wir in chen, weil die Dinge sich zwar einfach anhören, aber un- Frankenstein oder der Moderne Prometheus – Brief 2: berechenbar kompliziert sind und erklärt und gestaltet „Zwar werde ich meine Gedanken zu Papier bringen, werden müssen. Um Medien zu gestalten, beeindrucken aber das ist ein unzulängliches Medium für die Mittei- wir durch eine Informatisierung derselben. Die Abbil- Internet 2010 – Informationsgesellschaft 2020 131

dung 3 zeigt, welche technische Sicht Informatiker auf Abb. 3 einen Film haben (müssen, um mit ihren Mitteln an der Gestaltung mitwirken zu können.) Der Forschungsraum der Informatik ist mindestens ebenso riesig wie der der Wissenschaften, aus denen sie gewachsen ist. Recherchieren (googeln) Sie doch zum Be- weis über das Internet bei unseren deutschen Hochschu- len und ihrer Forschung und bei den Forschungsinstitu- ten wie Fraunhofer, Max Planck Instituten etc.

Woher kommen die Wirkungen der IKT auf gesell‑ schaftliche Ordnung?

Kommen wir zu den Wirkungen, die zur IKT heute dis- eller Etikette. Ein Beispiel zeigt, wie die Technik der Re- kutiert werden: Das Internet kommt aus der Technikwelt gulierung voraneilt. Google Streetview (Abbildungen von und schafft mit relativ einfachen physikalischen und lo- Personen, Autos und Häuserfassaden und WLAN auf gischen Prinzipien Schlaues und Komplexes. Codierung den virtuellen Landkarten) gibt es schon in 20 Ländern, und Transport von Information erfolgen, wie oben skiz- kein einziges hat bisher eine gesetzliche Regelung hierzu ziert, nach relativ einfachen physikalischen und tech- entwickelt. nischen Regeln. Physikalische und logische Vernetzungen Aber wem gehört das Internet selbst? Die Kontrolle erlauben Bereitstellung, Leitung und Weiterleitung von bleibt in den Händen der USA (UN Weltgipfel der Infor- Information (codierten Signalen, Text, Bildern, Filmen, mationsgesellschaft), sie betreiben ordentlich die Adres- Tönen). Wie bei anderen Medien macht der sog. Con- senverwaltung mit 10 Root Servern, zwei sind in Euro- tent des Internets wach, müde, schlau, dumm, reich, arm, pa, einer in China. Die Vereinigung ICANN darf bei der fromm, geil, freudig, traurig, ängstlich, mutig, leidend, Verwaltung helfen. Nicht zu verwechseln mit den Inter- krank, süchtig, gesund, vertreibt Zeit, fördert Gewalttä- net „Arbeitspferden“, den ca. 60 Europäischen Internet tigkeit, Gehorsam, Befreiung und Anpassung. IKT macht Knoten und 28 US Amerikanischen. Irgendwie gehört es erfolgreich, erfolglos, mächtig, ohnmächtig, lebendig und denen, die mindestens im „Besitz“ einer Domain sind. Ir- auch tot. gendwie führt uns diese Frage nicht weiter. Der Wandel: Für den Nutzer schafft IKT viele neue Optionen: z.B. fragen wir uns, ob es bald eine neue Art gibt, zu gestalten und kreativ zu sein. Kann das nur nütz- lich sein? Folgt gar daraus eine neue Ästhetik? Kann der Das Internet mit Informatik 2010 – wir Staat helfen? haben Probleme! Oder für Ärzte: neue Methoden, neue Kompetenzen erforderlich? Ein neues Arzt-Patientenverhältnis? Eine neue Stellung des Arztes, neue Geldflüsse, neue Macht- Technische Macht und Ohnmacht der Informatik verhältnisse? Kann der Staat helfen? Für die alte Wirt- schaft stellen sich anschließend Fragen: Wird es auf eine Wir wollen nun einmal gedanklich Möglichkeiten und neue Ökonomie hinauslaufen? Wird es einen schmerz- Grenzen gegenüber stellen und denken dabei auch an Ih- haften Wandel der Businessmodelle geben? Für die Poli- ren Beruf. Die Macht der Informatiker hat Grenzen, die tik: Ist dafür eine neue Regulierung oder ist sogar die Än- Mittel sind oft dumm: Informatik gestaltet das Virtuelle derung der Gesellschaft(sordnung) nötig? Oder bewegt nach dem Motto: „Alles ist möglich, jeder erhält Infor- es sich auf eine neue Gesellschaft zu, die wir noch nicht mation überall und jederzeit, und wir sind dabei!“. Dass beschreiben wollen? unsere geordnete Welt überwiegend aus künstlichen re- Wer sind die Macher? Es sind die Bereitsteller von alen Beschränkungen besteht, die zu unserem Wohl op- Technik, Leitungen, Funkverbindungen, Endgeräten, timiert werden sollen, liegt nicht im Fokus der Informa- Vermittlungsgeräten und Transportregeln/Protokollen. tik. In der Euphorie fallen uns nur sehr einfache Mittel Aus gewachsenen Besitzständen entwickeln sie neuen ein, z.B. Filtern, Sperren (der Bote hat Schuld), Löschen Besitz. Es sind auch die privaten, staatlichen und kom- (Brief wegwerfen), Bildschirm/TV-Verbote für Kinder, merziellen Teilnehmer, Content-Produzenten, Händler, Kinderschutzfilter, Begrenzung der online-Zeit, nicht Makler und Konsumenten. Umgeben ist das von einem zuletzt Strafen, wenn ein Erwachsener etwas Falsches ab- gewissen staatlichen Regulierungsrahmen und industri- ruft, falsche Bilder oder Filme sammelt oder vertreibt. 132 Klaus Rebensburg

Hilft Web 3.0? Der aktuelle Trend ist auch, Infor- mittel. Das stört die Freunde und oft auch die Gegner. mationsquellen und -senken zu personalisieren, in ers- Die ersteren weisen darauf hin, dass sie falsch informiert ter Linie, damit kommerzielle oder private Anbieter und werden, und dass damit unsere Werte wie Leben, Ge- Bildungseinrichtungen uns optimal „versorgen“ können. sundheit, Selbstbestimmung und das Wohl unserer Kin- Wenn wir in dem Zusammenhang von IT-Sicherheit und der gefährdet sind. -Vertrauen reden, dann wäre es angemessen, dass wir uns Eigentlich sollte es Herausforderung sein, wenn in nur zweckbestimmt, jeweils in Teilen, datenmäßig ent- der Informationsgesellschaft Geschäftsmodelle bewegt blößen können. Dummerweise ist Information sowohl werden und damit Bestehendes in Frage gestellt wird. Das im Kopf als auch per Computer speicherbar, in gewisser wird aber von den Betroffenen oft als böse empfunden Weise damit unsterblich. Ist sie einmal da, kann sie nur und bekämpft, anstatt über flexibles Geschäftemachen in durch mächtigere Gegeninformation unwirksamer ge- modernen Gesellschaften immer wieder nachzudenken. macht werden. Leider kann man auch damit handeln. Die Filter helfen, Böses leichter zu finden als je zuvor. Müssen wir uns damit abfinden? Während früher ein gewisser Schutzfilter das Versteck Wenn es hart auf hart kommt, dann herrscht tech- „unter dem Ladentisch“ des Zeitschriftenkiosks war, ist nische Ohnmacht: Sie drückt sich u.a. darin aus, dass die es schwierig, im Internet jeden Kiosk überhaupt als sol- Informatik ihre eigenen Strukturen so gut kennt, dass sie in chen zu identifizieren, geschweige denn, juristisch einzu- der Lage ist, ihre eigenen produktiven Heldentaten im Vir- ordnen, was sich „unter dem Ladentisch“ befindet. Aber tuellen immer auch zu zerstören – auf der einen Seite der die Suche nach allem, was „unter dem Ladentisch“ liegt, angeblich sichere Wahlautomat, auf der anderen Seite der bringt reiche Früchte. Nachweis von Hackerexperten, dass man, außer Wahlen zu fälschen, auch noch Schach damit spielen kann. Technik an sich ist nicht per definitionem nur gut. Der Dynamik ihrer Wirkungen kann die Informations- Mediale Berührungen zwischen Informatik gesellschaft nur mindestens gleiche Dynamik rund um und Sexualmedizin unsere gewollten und koordinierten moralischen und ethischen Vorstellungen entgegensetzen. Hilferufe kommen aus der Sexualmedizin: „Das un- Ich nehme als Informatiker in der Diskussion mit Ver- endliche, offene Internet hat viele uns betreffende Quel­ tretern des Faches Sexuologie und natürlich aus meiner len von Verletzungen.“ Angenommen, wir Informatiker Sicht auf Öffentlichkeit wahr, dass die Informationsge- würden die Kompetenz des Sexualmediziners implemen- sellschaft dank ihrer neuen sozialen Räume in kritische tieren, aus der Darstellung nackter Jugendlicher diejenigen Zustände geraten ist. Manches kann man aus der Sicht exakt oder mit gewisser Wahrscheinlichkeit herauszufil- der Technikgestalter verstehen und etwas dagegen tun, tern, die mit großer Wahrscheinlichkeit unter 14 Jahre alt bei manchen Folgen ist man erst einmal ratlos und nicht sind, oder aus Szenen mit nackter Haut die zu finden, in zuständig. Wir argumentieren, mediale Information und denen ein Kind wahrscheinlich von einem Erwachsenen die mediale Ausprägung des Internets seien böse, denn sie sexuell gequält wird – nur um den Juristen Handhabe für verhindern den Schutz von Kindern, von Jugendlichen Verfolgung und Bestrafung zu geben – wären wir dann und Frauen (und Männern) vor sexueller Misshandlung, wirklich weiter? Wir müssten über (eventuell sogar viele ja, sie können sogar zum Missbrauch anstiften. Sie stiften kopierende Quellen) die virtuellen Orte, dann die realen Menschen an zu Gewaltausübung an Schulen (Amokläu- Orte (der Einspeisung) finden, jede Datenquelle und den fe), auf der Straße (Slapping), im Privatleben (Stalking) Einspeiser bekämpfen (löschen) und den Autor und den oder Terror (Bombenbau, Rassenhass, Aufruhr). Geschäftemacher (und ggf. den Boten) verklagen, zu un- Medien sind aber gut, wenn sie zur Aufklärung, Bera- terlassen und ggf. Schaden zu ersetzen. Komplexes Han- tung und sogar Therapie beitragen. Gut sind sie, wenn sie deln – da fühlen wir uns noch schwach! dem Opfer helfen, wenn Kirchen, Internate, Altersheime, Kliniken, Firmen mobben, prügeln, sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene zulassen (Aufklärung, Beratung, Thera- Was macht das Internet besonders böse? pie). Gut sind sie auch, wenn sie dem Verbraucher helfen, Rat und Orientierung zu Medikamenten und hilfreichen Was ist besonders „böse“ am Internet in der Informati- Ärzten und Krankenhäusern zu finden und an Gleichge- onsgesellschaft, wen schmerzt es? sinnte weiterzugeben. Medien können zur sexuellen Auf- Es, das Internet, oder sie, die Informationsgesell- klärung beitragen, z.B. zum Gebrauch von Pille, Spirale, schaft, gibt jedem, auch persönlichen Feinden und Geg- Pessar und Kondom, aber auch zur Orientierung in der nern der Gesellschaft, ein zusätzliches Kommunikations- Partnerschaft oder zur lehrreichen Unterhaltung von Os- Internet 2010 – Informationsgesellschaft 2020 133 wald Kolle bis zu den „Feuchtgebieten“. Nicht vergessen Sollten wir resignieren trotz Informationsgesellschaft? sollten wir die Weiterbildung in Sexualmedizin in multi- kultureller Gemeinschaft – siehe Wilhelm von Humboldt Massenmedien sind sehr mächtig und stark, wenn sie Stiftung (Prof. Dr. Haeberle), unter deren Schirm ein Probleme aufgreifen und benennen. Leider sind sie sel- weltweit verbreitetes Fortbildungs-/Trainingssystem be- ten als Problemlöser wirksam oder gar selbst die Lösung. trieben wird. Wir lesen, dass früher Pädophile ignoriert Zum Beispiel wird der mediale Diskurs (über Kindes- und als Randgruppe abgetan wurden. Heute ist „dank“ misshandlung) auf Gruppen „außerhalb“ gelenkt (Inter- der Medien das Problembewusstsein geschärft. nate). Es ist aber die Familie, die viel stärker betroffen ist! Medien machen uns auch ratlos, wenn wir an die Fol- Erreichen wir die Institution Familie mit dem Internet gen denken: Bei der Beihilfe des Internets zu strafbaren wirklich? Handlungen handelt es sich um „Moving Targets“: Wir Bedenklich finden wir das mit den smarten elektro- erinnern aus 1979 die Sondernummer „Ich liebe Jungs“ nischen Begleitern erzeugte Happy Slapping. Dabei wer- der TAZ – hätte man die reale Zeitungsausgabe besser den Gewaltvideos, Prügeleien von Teenagern mit dem sperren, löschen sollen/können? Mobiltelefon gefilmt und im Internet von Handy zu Han- Viele Jugendliche fühlen sich heute wohler und befreit, dy weiter verbreitet. Beleidigung, Bedrohung, Nötigung, dass sie im Internet sich wirksamer als in der Schule oder Körperverletzung oder Freiheitsberaubung – die Veröf- im Elternhaus äußern können. Was ist freie Meinungsäu- fentlichung und Weitergabe von Gewaltvideos ist strafbar. ßerung? Muss/kann jede Äußerung „frei“ sein? Aber technisch verhindern können wir das heute nicht. Medien sind irgendwie gut und gleichzeitig böse, Der Handel mit elektronischen Medien/Datenträgern mit wenn sie „befreite Sexualität“ behandeln. Da fragen wir „bösen Inhalten“ ist gesellschaftlich geächtet oder verbo- uns, muss/kann jede Sexualität befreit werden? ten. Aber wir haben nicht immer Einfluss darauf, welche Kinder sollen Sexualität haben, ausleben, nackt sein, Daten unsere Rechner erreichen oder wer auf „unseren“ darf das jedem gezeigt werden? Was ist, wenn Kinder Datenträgern speichert. Man kann es auch der Datei, dem keine nackten Gleichaltrigen im Medium finden? Finden Datenträger und dem Datenstrom schwer ansehen. Und die das komisch? Hingezogen zu jungen Männern? Pädo- nicht zuletzt hat die juristisch gestützte Abmahnindustrie phile waren einmal Teil der Homosexuellenbewegung. ganz eigene Vorstellungen von unserem Freiheitsgedan- Irgendwann, genauer bis 1969 noch, war Homo- ken im Internet. sexualität strafbar, jetzt noch sexuelle Handlungen mit Der Wettbewerb mit den Versuchungen im Internet Jugendlichen unter 14 Jahren (2.500 bisher verurteilt). bezüglich der Kinder und Jugendlichen geht wahrschein- Erinnern wir die Grünen, die in NRW mal für völlige lich nur über Liebe und Aufmerksamkeit und angepass- Straffreiheit von gewaltfreier Sexualität zwischen Er- te oder der Technik vorauseilende Erziehungskonzepte. wachsenen und Kindern plädierten – es hagelte Proteste, Ein Erziehungskonzept könnte darin liegen, das Selbst- die Grünen verloren die Wahl, aber welche Technik hätte bewusstsein des Kindes zu steigern, das hülfe ihm, sich das verhindert? abzugrenzen, sich zu widersetzen. Manchmal denken wir auch um die Ecke: Weil der Die Internet-Benutzung ist nichts völlig Neues für Staat Päderasten verfolgt – müssen wir, wenn wir gegen unseren Umgang mit Information, aber die kriminellen zu viel Staat sind, uns solidarisieren? Schranken dabei sind uns zu wenig geläufig. 1–3% aller Männer sollen Pädophile sein – wie sehen die das Internet, anders als die anderen? Sicher kommt man (auch) mindestens mit Strategien zur Anleitung zum Vision 2020 – Der neue soziale Raum verantwortungsvollen Handeln weiter. Aber kann das wie die Techniken des „barrierefreien Internets“ abgehandelt Unseren virtuellen Raum im Internet für jedes Alter ge- werden? Also Berücksichtigung kleiner Behinderungen recht zu personalisieren und den Computer und das Netz auf Nutzerseite? Kaum vorstellbar. darauf automatisch Rücksicht nehmen zu lassen, das Wie sollen wir bei der Gestaltung von Belehrungen, wäre eigentlich höchste Kunst. Informatik – go! Eventu- Filtern oder Sperren von Seiten, Texten oder Bildern im ell hilft bei diesem Ansatz auch als Vorbild das Staatsziel Internet die feinen Unterschiede zwischen Pädophilen des Königreiches Bhutan, das das „Cross National Hap- und Pädosexualisten (Strafrecht) herausfinden und be- piness“ seiner Bürger, ja, Sie haben richtig gelesen, an rücksichtigen? die oberste Stelle seiner Gesetze stellt und nicht wie wir das Brutto-Sozialprodukt? Gehen Sie doch in Gedanken einmal durch, wie „schön“ die Welt gedacht und geredet werden kann, wenn man Gesellschaftsordnungen straflos verändern dürfte. 134 Klaus Rebensburg

Resümee: Das Internet ist alles andere als perfekt. suchungen, wenn wir zu wenig wissen. Sie bestimmen Aber unsere Hoffnung 2010 ist, dass wir mit Web 2.0 unser Verhalten, das wissen wir. Wenn wir das Wissen die Brutto-Glücksprodukt-Chance nutzen, aus Meinun- nur aus den Informationen direkt lesen könnten – ich ge- gen auszuwählen und unsere eigene Meinung in dem rate ins Träumen und verzweifle. Wir finden, dass bisher neuen Medium sichtbar machen zu können und damit wenige Forscher die Brücke zwischen Kognition, Interak- selbst Gesellschaft gestalten können! tion und Emotion bearbeitet haben.

Forschungsaufgaben, vor denen Informatiker heute Was ist, wenn man kinderpornografische Bilder, stehen Dateien hat, sieht, bewegt?

Wir lesen, dass starke Machtgefälle wie zwischen Kindern Leicht kann heute jeder, der Computer, X-Box oder ein und Erwachsenen zum Machtmissbrauch führen, z.B. äl- Smartphone oder eine TV Multimedia Box betreibt, in terer Mann gibt sozial benachteiligten Jungen Zuneigung den Bereich rechtlicher Maßnahmen kommen (§ 184b und ein warmes Bett – und erwartet etwas dafür. Das In- Absatz 1 StGB). Was macht Sie verdächtig? Sie haben ternet schafft trotz Distanz eine scheinbar vertrauliche Kinderpornographie gespeichert oder Bilder von Sex mit Nähe zwischen Täter und Opfer. Welcher Mechanismus Minderjährigen oder Bilder, in denen Erwachsene por- könnte das maschinell erkennen? nographisch wirken und wie Kinder aussehen. Sie sind Durch meinen persönlichen Kontakt mit Prof. Dr. betroffen, auch wenn Sie meinen, dass niemand Zugriff Klaus Beier konnte ich als Informatiker insofern zu einer hat. Ebenso kann Ihnen Folgendes passieren: Sie erhal- besseren Welt beitragen, als ich in meinem Forschungs- ten eMail oder nehmen eMail mit derartigen Inhalten schwerpunkt bei den Statistikauswertungen (Betreuung an, Sie schicken solche Bilder (und Töne) an jemanden von straffälligen Sexualtätern) behilflich sein konnte. oder downloaden sie, Sie kaufen im Internet, kaufen auf Aber ein Großteil war (noch) nicht automatisierbares Datenträger, sehen lokal an, klicken im Web, lassen sie Expertenwissen mit sehr viel fachlichem Kontext. Wir jemanden ansehen. Sie filmen zufällig real oder Sie pro- müssen die Codierung von Wissen für die virtuelle Bear- duzieren solche real oder virtuell oder animiert, oder Sie beitung vorantreiben. Dann käme aus dem Internet prä- schneiden aus Material zusammen. zisere Erkenntnis. Über die Rolle der Informatik bei der Dunkelfeld- Studie lassen wir Prof. Dr. Klaus Beier am besten selbst berichten. Wir müssen anonyme Kommunikation und Gute und schlechte Leitbilder der Vertrauen technisch weitertreiben. Apropos Vertrau- Informationsgesellschaft – ausgewählte en, natürlich lässt sich eine wichtige Voraussetzung für Vertrauen, dass alles, was gespeichert wird, verschlüsselt Freiheiten gelagert und sicher transportiert werden kann, technisch machen. Aber die Geschichte der Informatik und des In- ternets fing leider anders an. Ein Problem – die Personalisierung An der Universität Potsdam versuchen wir unter dem Markennamen „Ambient Assisted Living“, körperliche Kaum eines der neuen technischen Mechanismen geht und geistige Lebenssituationen zu verstehen und Infor- so nah an unsere Haut wie die Personalisierung. Man mations- und Kommunikationstechnologien im Sinne möchte Individuum bleiben und nicht gläsern erschei- gesundheitsförderlichen Vorgehens daran anzupassen. nen. Wie soll das gehen, wenn doch sämtliche persön- Wir haben das Gefühl, dass trotz der heutigen Teiler- lichen Daten erfasst und verarbeitbar werden? Mit der folge der Medizininformatik, u.a. auch mit dem „virtu- Chance, dass uns weltweite Informationsverarbeitung ellen Patienten“, noch ein weiter Weg zum „Verstehen“­ personalisiert, also maßgeschneidert helfen soll, wollen vor uns liegt, damit wir das richtige Handeln implemen- wir aber ungern das Risiko tragen, unsere mentalen und tieren können. physischen Konfektionsgrößen völlig freigeben zu müs- In einem gemeinsam mit der Charité-Sexualmedizin sen. Der Druck der Werbewirtschaft, der Produkte und gestalteten Forschungsschwerpunkt Cybertherapy verfol- Dienste steht oft gegen unser Schutzbedürfnis, der Druck gen wir den Ansatz, virtuelle Situationen oder simulierte der Automatisierung des Lebens, von eLearning, Staat Lebensausschnitte so zu gestalten, dass sie auf Verhaltens- (Steuern, Arbeit, Polizei, Politik), Verkehr, Handel, In- weisen von Kranken spielerisch, aber mit therapeutischer dustrie ist mächtig – zu mächtig? Wirkung reagieren. Informationen sind besondere Ver- Internet 2010 – Informationsgesellschaft 2020 135

Leitbilder der Informationstechnik teilhaben und die Chancen der Informationsgesellschaft nutzen können, müssen wir die Weichen stellen, um eine Die Informationsgesellschaft setzt bei ihren Gestaltern auf digitale Spaltung der Gesellschaft zu verhindern. Allen Leitbilder – wir nennen sie IT-Leitbilder –, von denen uns Menschen Zugang zu neuen Medien zu erleichtern, ist einige gute sofort ins Auge fallen: Weltweite breitbandige uns dabei ein zentrales Anliegen, sowohl im Hinblick auf Erreichbarkeit von Informationen und Personen, mobile die Verfügbarkeit als auch auf Barrierefreiheit und Medi- Gesellschaft, Ambient Assisted Living und neue, flexible enkompetenz. […]“ Geschäftsmodelle, um nur einige zu nennen. […] „Wir werden unsere Politik auch daran aus- Manchmal können wir auch ausdrücken, wenn richten, die gesellschaftliche Veränderung durch Internet es sich um schlechte Leitbilder handelt: So finden wir und neue Medien positiv zu begleiten und die Lebens- für uns inszenierte Medienlügen in Form von Casting wirklichkeit der Mehrheit der Menschen in Deutsch- Shows (35.000 Bewerber), die vortäuschen, das Ziel der land zu berücksichtigen.“ Und weiter: „Wir bekräftigen, Casting Show sei der neue Weg zum beruflichen Erfolg. dass Recht und Gesetz im Internet schon heute und in Allerdings: es bewerben sich zu den Shows fast so viele Zukunft ebenso gelten wie überall sonst. Daher werden Jugendliche wie insgesamt Azubis auf allen Feldern in wir für mehr Datenschutz sowie durch eine Stärkung der Deutschland gebraucht werden. IT-Kompetenz und entsprechend ausgebildetes Personal Ein signifikanter Nutzeranteil wird durch das Inter- bei den Sicherheitsbehörden für eine Verbesserung der net der Händler betrogen, süchtig und dumm, verführt, Anwendung des geltenden Rechts zur Verfolgung von verkauft, gespielt, manipuliert oder vom Leben und Ler- Kriminalität im Internet sorgen.“ nen abgehalten, während andere schlauer, wirksamer Das Grundgesetz sagt, „Die Meinungsfreiheit, auch und gesellschaftlich kompatibel werden. Wir lesen sogar, Redefreiheit, ist das gewährleistete subjektive Recht auf dass Internet töten kann. freie Rede sowie freie Äußerung und (öffentliche) Ver- Und was die Geschäftsmodelle angeht, so lesen wir breitung einer Meinung in Wort, Schrift und Bild sowie täglich über anstößige, betrügerische oder gesellschaft- allen weiteren verfügbaren Übertragungsmitteln.“ lich schädliche Konzepte oder sind schon Opfer gewor- Das Informationsfreiheitsgesetz beschreibt Infor- den. Auch wenn Computerspiele, nach Aussagen eines mationsfreiheit, auch Informationszugangsfreiheit be- früheren US-Präsidenten, durch Training der Reakti- ziehungsweise Informationstransparenz und zielt auf die onsfähigkeit helfen, Kriege zu gewinnen (wobei andere verfügbaren öffentlichen Quellen. Fähigkeiten unberücksichtigt bleiben), so lässt sich das Das Grundrecht auf Kommunikationsfreiheit beruht nicht für Bildung in gewissem Kindesalter übertragen auf Art. 5 Abs. 1 des Grundgesetzes. Der Absatz lautet: – alte, gewohnte, erfolgreiche Kernkompetenzen (z.B. die „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und des Lesens) verkümmern. Und dennoch soll das Internet Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allge- frei bleiben, unzensiert! mein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Gute Leitbilder, erhaltenswerte Freiheiten im Zensur findet nicht statt.“ Allgemeinen Die Kommunikationsfreiheit ist somit die Grundlage für Meinungsfreiheit (Art. 5 Absatz 1 Satz 1 GG), Infor- Die Koalitionsvereinbarung zwischen CDU und FDP im mationsfreiheit (Art. 5 Absatz 1 Satz 1 GG) und Medien- Jahre 2009 nennt gute Leitbilder der IKT: „Das Internet freiheit (Art. 5 Absatz 1 Satz 2 GG). Die Informationsfrei- ist das freiheitlichste und effizienteste Informations- und heit lässt sich wiederum in die Rezipientenfreiheit und Kommunikationsforum der Welt und trägt maßgeblich die Informationstransparenz aufteilen. Rezipientenfrei- zur Entwicklung einer globalen Gemeinschaft bei. Die heit ist das Recht, sich aus allgemein zugänglichen Quel- Informationsgesellschaft bietet neue Entfaltungsmög- len ungehindert zu informieren. Sie wird im Kontext von lichkeiten für jeden Einzelnen ebenso wie neue Chancen Gesetzen zur Informationsfreiheit geregelt und zählt üb- für die demokratische Weiterentwicklung unseres Ge- licherweise zu den Grundrechten. meinwesens sowie für die wirtschaftliche Betätigung.“ Die Medienfreiheit gliedert sich in die Bereiche Pres- Und wir lesen dort weiter: „Neue Medien gehören längst sefreiheit, Rundfunkfreiheit, Filmfreiheit. Pressefreiheit zum Alltag einer stetig wachsenden Zahl von Menschen. bezeichnet das Recht von Rundfunk, Presse und anderen Deutschland ist längst in der Informationsgesellschaft an- (etwa Online-)Medien auf freie Ausübung ihrer Tätig- gekommen. Damit die Menschen an den neuen Chancen keit, vor allem das unzensierte Veröffentlichen von In- für Meinungs- und Informationsfreiheit, Kommunikati- formationen und Meinungen. Die Pressefreiheit soll die onsfreiheit sowie am wirtschaftlichen Leben im Internet freie Meinungsbildung gewährleisten. 136 Klaus Rebensburg

Die Rundfunkfreiheit umfasst alle Darbietungen in u (5) Die Absätze 2 und 4 gelten nicht für Handlungen, Wort, Ton und Bild, Berichterstattung, Meinungsäuße- die ausschließlich der Erfüllung rechtmäßiger dienst- rung, aber auch Sendungen mit unterhaltendem Charak- licher oder beruflicher Pflichten dienen. ter. Sie beinhaltet ferner die Freiheit, der Öffentlichkeit u (6) In den Fällen des Absatzes 3 ist § 73d anzuwen- Information durch physikalische, insbesondere elektro- den. Gegenstände, auf die sich eine Straftat nach Ab- magnetische Wellen zu übermitteln und somit die freie satz 2 oder Absatz 4 bezieht, werden eingezogen. § und umfassende Meinungsbildung durch elektronische 74a ist anzuwenden. Medien zu schützen. Schutzgegenstand der Filmfreiheit ist der Film als Abfolge bewegter Bilder. Geschützte Ver- haltensweisen sind alle zur Herstellung und Verbreitung des Films gehörenden Aktivitäten. Grundrechtsträger Visionen der Informatik für 2020 – sind die Filmschaffenden, also jene Personen, die mit Handlungsbedarf Sexualmedizin dem Medium Film von den Vorarbeiten bis zur Ausfüh- rung befasst sind. Neben der politischen Willensbildung durch Wahl- Was Informatiker u.a. für 2020 orakeln en und Abstimmungen gibt das Grundgesetz der Bildung der öffentlichen Meinung und der Vorformung des po- Internet 2010 – Informationsgesellschaft 2020 ist der Ti- litischen Willens durch die organisierten Gruppeninter- tel dieses Beitrags. Informatiker beschreiben die Zukunft, essen, z. B. durch Verbände und Parteien, Raum. Solche indem sie Fragmente ihrer innovativen Techniken wei- organisierten Interessen und Parteien sind notwendige terdenken. Beginnen wir beim Weiterdenken des Web Faktoren demokratischer Willensbildung. Im Speziellen 2.0: Unsere privaten und beruflichen Communities des liest man im § 184b StGB zu Verbreitung, Erwerb und Web 2.0 werden dank besserer Filterung im Internet Besitz kinderpornographischer Schriften: ausgeprägter. Wir erhalten für jeden Zweck immer ak- tuelle Themen-, Kommunikations- und Interessengrup- u (1) Wer pornographische Schriften (§ 11 Abs. 3), die penlisten. Wir beginnen, Vertrauenswürdigkeit und sexuelle Handlungen von, an oder vor Kindern (§ gesellschaftliche Verträglichkeit in der Informationsver- 176 Abs. 1) zum Gegenstand haben (kinderporno- arbeitung automatisch zu berücksichtigen. Für unsere graphische Schriften), verbreitet, öffentlich ausstellt, Meinungsbildung, Problemlösungen, Diagnosen, The- anschlägt, vorführt oder sonst zugänglich macht oder rapievorschläge oder Wahlentscheidungen werden auto- herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält, anbietet, an- matisch Argumente aus zertifizierten Publikationen und kündigt, anpreist, einzuführen oder auszuführen un- Wissensdatenbanken oder Datenbanken des kulturellen ternimmt, um sie oder aus ihnen gewonnene Stücke Erbes zusammengeführt und ggf. Widersprüche analy- im Sinne der Nummer 1 oder Nummer 2 zu verwen- siert. den oder einem anderen eine solche Verwendung zu Zum Vertrauen zu wissenschaftlicher Dokumenta- ermöglichen, wird mit Freiheitsstrafe von drei Mo- tion werden wir ein striktes Monitoring des fachlichen naten bis zu fünf Jahren bestraft. Fortschritts (Newsletter, Fachartikel, Filme, Archive, ge- u (2) Ebenso wird bestraft, wer es unternimmt, einem sellschaftliche Umgebung) haben. Wissensdatenbanken anderen den Besitz von kinderpornographischen erreichen das 2.0 Stadium (interaktives Nehmen, Prüfen Schriften zu verschaffen, die ein tatsächliches oder und Geben von Daten). wirklichkeitsnahes Geschehen wiedergeben. Im Internet der Dinge (alle unser Leben begleitenden u (3) In den Fällen des Abs. 1 oder des Abs. 2 ist auf Gegenstände erhalten eine Internetadresse) erlauben es Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren Sensoren, verbunden mit intelligenter Mustererkennung, zu erkennen, wenn der Täter gewerbsmäßig oder als immer mehr Umgebung und Kontext für die vernetzte Mitglied einer Bande handelt, die sich zur fortgesetz- Bearbeitung zu erfassen. Allerdings bleibt der sog. Smart ten Begehung solcher Taten verbunden hat, und die Dust in Harmonie mit Bluttransport und Neuronenakti- kinderpornographischen Schriften ein tatsächliches vität noch Vision. Aber immerhin – die ersten Interface oder wirklichkeitsnahes Geschehen wiedergeben. Module für Neuronen – Brücken des Virtuellen in unsere u (4) Wer es unternimmt, sich den Besitz von kin- Realität gehen in den eHealth Einsatz. derpornographischen Schriften zu verschaffen, die Zur automatischen Berücksichtigung des jeweiligen ein tatsächliches oder wirklichkeitsnahes Geschehen Kontextes gehört auch die Erfassung unserer Befindlich- wiedergeben, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jah- keiten. Die virtuelle Personalisierung schreitet voran, wir ren oder mit Geldstrafe bestraft. Ebenso wird bestraft, werden elektronische Portfolios für Kompetenz, Konsum wer die in Satz 1 bezeichneten Schriften besitzt. und Gesundheit haben – die Schufa und Elena haben wir ja Internet 2010 – Informationsgesellschaft 2020 137 schon heute, und wir werden mehr Antworten zur Frage: Handlungsbedarf Sexualmedizin „Wem ‚gehören‘ eigentlich unsere eigenen Daten?“ benö- tigen. Dozenten und Studierende haben sich an Blended Die 34. Jahrestagung für Sexualmedizin mit dem Ti- eLearning gewöhnt (Präsenz + Dokument + Groups + tel „Internet und neue Medien – Chancen und Risiken Wiki + Forum + FAQ + Glossar + Tests + Zertifikat + Be- der Sexualmedizin“ des Jahres 2010 ist ein Impuls, den lohnungen + standardisierte Lernbrocken). Auch dabei Handlungsbedarf abzuleiten, bewusster zu machen und kommen die Portfolios für den persönlichen Bildungs- zu präzisieren. Sie widmet sich in den Leitvorträgen dem stand zum Tragen. In zahlreichen Anwendungsgebieten Spektrum und Nutzen der Internet Sexualität, Dating kommen automatisierte Prozessmodule zum Einsatz und Social Network Plattformen, paraphilen Inhalten im – wir können mehr und mehr Anwendungssoftware als Internet, Nutzern von Kinderpornografie im Dunkelfeld, Services direkt laden und konfektionieren. Sicher werden neurobiologischen Grundlagen sexueller Impulse und wir auch einen neuen Begriff für Grid- oder Cloud Com- Behandlung von Appetenzstörungen. puting finden. Der Wert therapeutischer Spiele, Charak- In den Workshops werden u.a. perfekte Körper, se- terführungsinstrumente, von anderen früher verspottet xuelle Vorlieben und Internet, Diagnostik und Therapie als Instrumente zur Gehirnwäsche, kann sich dank um- von Fertilitätsstörungen, Sexsucht, Diagnose und Dif­ fangreicherer Berücksichtigung von Kontext entfalten. ferentialdiagnose, virtuelles Fremdgehen und Cy­­bersex, Das Internet wird noch präsenter sein als heute auf Geschlechtsidentitäts-Störungen und Dissexualitätsthe- Displays und Monitoren. Es wird direkt auf unseren rapie diskutiert. Die Roundtables behandeln übergrei- Hauswänden und Innentapeten erscheinen. Seien es fend Bestandsaufnahmen von Technologien und eHealth nun Beleuchtung, Farbe, Dunkelheit oder Information, Einordnungen und Perspektiven der Sexualmedizin bis Kommunikation, Wegführung, Information oder Un- hin zu rechtlichen Positionen. terhaltung – aus Flachdisplay-Fenstern werden Endlos- Werden wir Dank Informatik eine andere Gesell- medien. Und natürlich sprechen wir mit der Bildertapete schaft in 2020 haben? Ja! – und wir werden wie heute in den endlosen sozialen und kommerziellen Raum des im ganz normalen Konflikt zwischen faktenschaffenden Internets. Und natürlich erleben wir, dass die Wissensge- Technologien, unserer Konsum/Unterhaltungs (Pro- sellschaft Experimentierfeld für eine jeweils neue Rechts­ vider)-Gesellschaft und Erwerbs- oder Lebensbewälti- sprechung, für neue Geschäftsmodelle und für neue soziale gungsgesellschaft stehen und wieder tagen! Der Titel der Modelle bleiben wird. Leider gilt aber auch 2020 noch das Tagung könnte dann vielleicht lauten: „Sexualmedizin „nacheilende Prinzip“ der Gesellschaft bei der Bewältigung und der Beitrag der Informatik zum Brutto-Glückspro- des technischen Fortschritts, der weiterhin im Virtuellen dukt Europas“. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksam- stattfindet und aus demselben geschöpft wird. keit.

Autor Prof. Dr.-Ing. Klaus Rebensburg, Technische Universität Berlin, tubIT Service Center, Straße des 17. Juni 136, 10623 Berlin, mail: [email protected] Mischa Engelbracht, Generation Illegal? Vom Umgang der Jugend mit neuen Medien Tectum Verlag 2009, 162 Seiten, ISBN 978-3-8288-2054-8, Paperback, Preis: 24,90 €

„Generation Illegal“ – ein provokanter Titel in Bezug auf die heutige Jugend? Junge Menschen wachsen gegen- wärtig in einer von interaktiven und virtuellen Medien geprägten Gesellschaft auf. Besonders Handys, Computer, E-Mail und Internet sind längst selbstverständliche und zum Teil notwendige Alltagserscheinungen für Jugendliche geworden. Dieses Buch gibt einen Überblick über die vielfältigen Möglichkeiten der neuen Medien, den Medienumgang der Jugend, sowie den daraus resultierenden Chancen und Risiken. Daneben befasst sich Mischa Engelbracht mit den Gefahren spezifischer Anwendungen, z.B. Communitys wie „SchülerVZ“, illegalen Inhalten von Handys oder dem „Web 2.0“, wobei auf pädagogische, aber auch rechtliche Aspekte verwiesen wird. Eine komparativ-vergleichende Studie zur Thematik „Neue Medien“ an einer Gesamtschule rundet den Band ab.

Doris Allhutter, Dispositive digitaler Pornografie: Zur Verflechtung von Ethik, Technologie und EU-Internetpolitik, Reihe: Politik der Geschlechterverhältnisse, Bd.39 Campus Verlag 2009, 315 Seiten, 19 Abbildungen, Paperback, EAN 9783593388588, Preis: 34,90 € Durch die Verbreitung der neuen Medien ist Pornografie Teil der Massenkultur geworden. Doris Allhutter analysi- ert die Herstellung und Verbreitung pornografischer Inhalte über das Internet und verknüpft die technologischen Aspekte mit den ethischen und politischen Diskussionen zu diesem Thema. Auszug: „Wenn Pornografie, bestimmte pornografische Genres oder bestimmte pornografische Repräsentationen als sexistisch und menschenverachtend, als subversiv und lustvoll erachtet werden, kann dies sicherlich nicht als unabhängig von den Produktionsverhältnissen, aus denen sie hervorgehen, betrachtet werden. Eine (positive oder negative) Kritik von Repräsentationen oder deren Wirkungen kann sich aber nicht – wie oft versucht wird – allein aus dieser Sichtweise argumentieren. In meiner Arbeit habe ich versucht, den Spuren, die gesellschaftliche Verhältnisse in den Artefakten und ihren Herstellungs-, Verbreitungs- und Aneignungspraktiken hinterlassen, nachzugehen. Diese Spurensuche verliert das Gesamtbild nicht aus den Augen, sondern soll zeigen, wie unspe- ktakulär jede Praktik für sich agiert und wie sich gleichzeitig im Zusammenwirken wissenschaftlicher, kultureller, soziotechnologischer und politischer Praktiken realitätsmächtige Herrschaftsstrukturen reproduzieren.”

Schetsche, Michael / Schmidt, Renate-Berenike (Hg.), Sexuelle Verwahrlosung Empirische Befunde – Gesellschaftliche Diskurse - Sozialethische Reflexionen VS Verlag 2010, 281 Seiten, 8 Abbildungen u. 12 Tabellen, broschur, ISBN: 978-3-531-17024-4, Preis: 24,95 €

Der Band erfüllt drei Aufgaben: Erstens soll aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ein kritischer Blick auf frühere und aktuelle Debatten zu sexualmoralischen und sexualpolitischen Problemlagen, namentlich im Kontext des Kinder- und Jugendschutzes, geworfen werden. Zweitens soll der aktuelle Stand der empirischen Forschung zum Sexualverhalten von Heranwachsenden und jungen Erwachsenen dokumentiert, diskutiert und fortgeschrieben werden. Drittens schließlich sollen auf Basis der empirischen Befunde und theoretischen Überlegungen grundle- gende sozialethische Reflexionen zum Verhältnis Sexualität und Moral sowie Individuum und Gesellschaft ang- estellt und befördert werden. Das Buch versteht sich dabei ausdrücklich als ebenso wissenschaftlich-sachlicher wie kritisch-reflexiver Beitrag zur aktuellen Debatte über die Gefahren der ‚sexuellen Verwahrlosung’ in unserer Gesellschaft. Themenschwerpunkt Sexuologie

Internet und neue Medien: Perspektiven für die Sexualmedizin Klaus M. Beier, Laura F. Kuhle

Internet and the new media: Perspectives Zusammenfassung Die selbstverständliche Nutzung des Computers für den for Sexual Medicine Zugang zum Internet und zum Spielen ist in den letz- ten Jahren enorm gestiegen. Rund 71% aller Deutschen, Abstract davon 98% aller Jugendlichen nutzen das Internet (Medien­ The use of computers for access to the Internet and for pädagogische Forschungsverbund Südwest, 2009). Mehr games has increased tremendously during the last years. als ein Drittel der männlichen und etwa ein Viertel der About 71% of all Germans, and 98% of German ado- weiblichen Bevölkerung nutzen Computer-, Konsolen- und lescents, currently use the Internet (Medienpädagogische Internetspiele (Thomas & Stammermann, 2007), wie zum Forschungsverbund Südwest, 2009). More than one-third of Beispiel „Miss Bimbo“ oder „Second Life“. the male and one-fourth of the female population play com- Aufgrund dieser Bedeutung und dem scheinbar selbst- puter, console or Internet games (Thomas & Stammermann, verständlichen Umgang mit neuen Kommunikationsmög- 2007), such as “Miss Bimbo“ or “Second Life“. lichkeiten und -techniken liegt ihr Einsatz im Sinne einer Given this high rate of acceptance and the apparently com- Informationsverbreitung zum Thema Sexuelle Gesundheit mon handling of these new communication possibilities nahe. Ebenso wäre eine Nutzung in der sexualmedizinischen and techniques, the question arises as to their application Diagnostik oder zu therapeutischen Zwecken denkbar. for informing users about sexual health and for sexual medi- Eine Anwendungsform könnten „therapeutic games“ sein, cal diagnostics and therapy. in denen sexual-pädagogische und therapeutische Inhalte One possible application is “therapeutic games” which spielerisch vermittelt werden. Umsetzungen in dieser communicate sexual educational and therapeutic content Richtung sind bereits vorhanden und zielen beispielsweise playfully. Implementations in this direction already exist, auf die präventive Aufklärung zu den Gefahren von HIV/AIDS for example, games which target preventive education in ab (Wilder, Schoech, 2002) oder auf die Überwindung von regard to HIV/AIDS (Wilder, Schoech, 2002) or the overco- Prüfungsangst ab (Lisetti, Pozzo, Lucas, Hernandez, Silverman, ming of examination fear (Lisetti, Pozzo, Lucas, Hernandez, Kurtines, Pasztor, 2009). Perspektivisch sind Programme Silverman, Kurtines, Pasztor, 2009). denkbar, in denen on-/offline sexualpädagogisches Wissen On-/offline programs are thinkable which present sexual im Bereich der Aufklärung oder zu den Auswirkungen von education or information about chronic diseases and their chronischen Erkrankungen auf Sexualität und Partnerschaft impact on sexuality and partnership. Avatars which repre- erläutert wird. Zur diagnostischen Einschätzung bei sexuel- sent individual sexual fantasies could be useful for the dia- len Präferenzstörungen wären selbstmodellier- und steuer- gnostic assessment of sexual preference disorders. As part of bare Avatare zur Abbildung individueller sexueller Fantasien their therapy, patients whose disordered sexual preference hilfreich. In einer therapeutischen Anwendung bei Personen poses a potential threat to others could practice controlling mit potentiell fremdgefährdender Präferenzstörung könnte their behavior in various simulated situations. in verschiedenen simulierten Situationen Verhaltenskontrolle A further development could be the genesis of a constantly eingeübt werden. Eine Weiterführung wäre die Genese eines retrievable therapeutic avatar in collaboration with the real stets abrufbaren Therapeuten-Avatars in Rückkopplung mit life therapist. dem eigenen realen Therapeuten. Keywords: Therapeutic games, therapeutic avatar, sexual edu- Schlüsselworte: Therapeutische Spiele, Therapeuten-Avatar, cation, sexual medical diagnostics Sexualaufklärung, sexualmedizinische Diagnose

Sexuologie 17 (3–4) 2010 139–146/ Akademie für Sexualmedizin http://www.sexualmedizin-akademie.de/sexuologie 140 Klaus M. Beier, Laura F. Kuhle

Bedeutung neuer Kommunikations- Web 2.0 dient seit 2004 als Bezeichnung für die neu- eren Entwicklungen des Internets, welche es im Grunde technologien jedem Benutzer ermöglicht, Inhalte zu erstellen, zu ver- öffentlichen und diese interaktiv zu bearbeiten (Kilian, Bedenkt man die enorme Verbreitung des Internets in Hass, Walsh, 2008). Etwa ein Viertel der Jugendlichen Deutschland (57,51 Mio. Internetuser; 72,8% der deut- sind im Web 2.0 angekommen, haben Freude daran, schen Haushalte verfügen über Computer), dann liegt es täglich/mehrmals pro Woche bestimmte Seiten selbst nahe, hierin zunächst die Vorteile für Informationsver- mitzugestalten und stellen regelmäßig selbst generierte breitung auch zum Thema Sexuelle Gesundheit zu sehen Inhalte online. Dazu zählen unter Anderem Einträge in (Hüsing, 2010, Statistisches Bundesamt, 2007). Newsgroups oder Foren, das Einstellen von Fotos/Videos 98% der 12 bis 19-Jährigen haben im Jahr 2009 In- und Musik-/Sound-Dateien und Verfassen von Web- ternetzugang im elterlichen Haushalt, den ganz persön- blogs (Medienpädagogische Forschungsverbund Süd- lichen Anschluss im eigenen Zimmer davon fast 54%. west, 2009). Dabei hängt die tägliche/mehrmals wöchentliche Nut- Gemessen an den bis heute unerreichten Zielen der zungshäufigkeit mit dem Bildungsgrad zusammen: Sie vor knapp 80 Jahren gegründeten Weltliga für Sexualre- liegt bei Gymnasiasten und Realschülern höher (93% formen, wäre es verlockend, diese neuen Technologien zu und 90%) als bei den Hauptschülern (84%). Die durch- nutzen, um ebendiese auch zu erreichen. schnittliche Nutzungszeit liegt mit 134 Minuten bei über 2 Stunden (Medienpädagogische Forschungsverbund Hauptprogrammpunkte der Liga für Sexualreformen von 1928 Südwest, 2009). (Auszüge) Am beliebtesten sind bei Jugendlichen die verschie- denen Kommunikationsmöglichkeiten im Netz. Ganz u Gleiche Rechte und Pflichten für Männer und Frau- vorne liegt der Austausch via Instant Messenger. Unter In- en hinsichtlich ihres sexuellen, aber auch ihres poli- stant Messaging versteht man eine sofortige Nachrichten- tischen und ökonomischen Lebens übermittlung. Es handelt sich um einen Dienst, der es er- u Systematische Erziehung in biologischen Fragen der möglicht, mittels einer Software, dem Instant Messenger, Sexualität, besonders hinsichtlich der Geschlechts- in Echtzeit mit anderen zu kommunizieren. Dabei wer- krankheiten, der Masturbation und der Enthaltsam- den kurze Textzeilen über ein Netzwerk, wie das Internet, keit. an den Empfänger geschickt. Diese können unmittelbar u Eine gesunde Einstellung gegenüber der Sexualität zu beantwortet werden, was eine direkte Rückkopplung er- fördern, einschließlich einer Vermittlung von Kennt- möglicht. Da die Nachrichten an gezielte Personen über- nissen über gesundes Sexualleben, die nicht von mittelt werden und nicht an eine diffuse Masse, handelt Schuldgefühlen belastet ist es sich beim Instant Messaging um eine interpersonale u Angemessenes wissenschaftliches Verständnis für Va- Kommunikationsform (Rössler, 2005). Die erste dafür rianten der sexuellen Konstitution (Intersexualität) genutzte Software (ICQ) wurde vom Unternehmen Mi- und eine entsprechend rationale Einstellung, bei- rabilis im Jahre 1996 entwickelt (Kessler, 2008). Im Jahre spielsweise gegenüber homosexuellen Männern und 2009 nutzten 71% der Jugendlichen eben diese Instant Frauen Messenger. Hiernach kommt die Kommunikation über Email (55%) und 28% halten sich am liebsten in Chat- Aus heutiger Sicht wäre es anstrebenswert, ein in diesem Rooms auf (Medienpädagogische Forschungsverbund Sinne erweitertes Verständnis von Sexualität bzw. deren Südwest, 2009). Multifunktionalität mit integrierter Lust-, Fortpflan- Auch als Informationsquelle verwenden junge zungs- und Beziehungsdimension zu kommunizieren. Menschen das Online-Medium gerne und oft. 77% re- Dazu gehört ebenfalls die überindividuelle Bedeutung cherchieren mit Hilfe von Suchmaschinen nach The- von Bindung zu erschließen, das Spektrum der Erschei- men, die sie persönlich interessieren bzw. schul-, nungsformen menschlicher Sexualität zu vermitteln und berufs- oder ausbildungsrelevant sind (34%). Beim Ver- das Selbstvertrauen zu einer selbstbestimmten Gestal- gleich der Geschlechter führen in diesen Aktivitäten fast tung von sexuellen und partnerschaftlichen Beziehungen ausnahmslos die Jungen, bei den Recherchen zu Ausbil- zu fördern. dung und Schule und dem Versenden von E-Mails die Mädchen. Hinsichtlich der Nutzung von Chat-Rooms sind die Zahlen ausgeglichen (Medienpädagogische For- schungsverbund Südwest, 2009). Internet und neue Medien: Perspektiven für die Sexualmedizin 141

Internetangebote für Kinder

Im Bereich des „e-learning“ sind längst frontale Lehran- gebote für Kinder und Jugendliche entwickelt worden, die versuchen, Lerninhalte über Computerpräsentationen zu vermitteln. Ein Beispiel hierfür sind Aufklärungsbemühungen für Kinder zu den Gefahren von HIV und AIDS, sowie Handlungsanleitungen für Situationen, in denen sie in Kontakt mit dem Virus kommen könnten (vgl. Abb. 1). Die Lernmodule und das mit ihnen vermittelte Wissen wurden an die kognitiven Kompetenzen verschiedener Altersgruppen angepasst (6 bis 9-Jährige und 9 bis 12- Jährige (Wilder & Schoech, 2002). Im Grunde wird die Aufmerksamkeit für das eigene Wohlbefinden gefördert und für HIV-/AIDS durch Ver- Abb. 1 Präsentation der Lerninhalte für 6 bis 9-Jährige, Quelle: „HIV and AIDS: What mittlung eines Krankheitskonzeptes dargelegt, wodurch Kids want to know“ unter http://www3.uta.edu/sswtech/hivaids/module6-9.html man ggf. krank werden kann und wie man sich schützen kann. Mit einfachen Animationen sind die Lerninhalte grafische Bilder auf dem Handy gesehen. Die Hälfte der interessanter aufbereitet und nach den ersten Evaluati- Jugendlichen konsumiert Pornografie mit Freunden, nur onen werden die Programme von den Kindern, den Er- 33% schauen allein (Bauer Media Group, 2009). ziehern bzw. Lehrern und auch den Eltern als hilfreich Im Internet sind diese Bilder für Jugendliche extrem empfunden. Der Vergleich von Pre- und Post-Testmes- leicht zugänglich. Die Internetplattform „YouPorn“ zum sung ergab, dass in der Gruppe der 9 bis 12-Jährigen ein Austausch pornographischer Videos verifiziert das Alter deutlicher Lernerfolg nachweisbar war. Die erfolgreich seiner Besucher nur über eine Warnung, dass nachfol- vermittelten Lerninhalte waren zum Beispiel Wissen zur gende Inhalte nur von über 18-Jährigen konsumiert wer- Definition von HIV/AIDS, sowie zu Übertragungswegen den dürfen. Lediglich das Anklicken der Kenntnisnahme und zum sicheren Umgang mit Risikosituationen. Die dieser Warnung ermöglicht einen uneingeschränkten Evaluation des Programms zielte auf die Überprüfung und freien Zugang. Dabei ist offensichtlich, dass in die- der Wissensvermittlung ab. Aufgrund fehlender Nachun- sen leicht verfügbaren pornografischen Abbildungen und tersuchungen konnte nicht belegt werden, dass es auch Filmen Geschlechtsrollenbilder vermittelt werden, die der zu nachhaltigen Verhaltensänderungen gekommen ist, Realität in keiner Weise entsprechen. etwa im Zusammenhang mit der Risikoeinschätzung von So wundert es auch nicht, dass angebotene Spiele für gemeinsamer Toilettenbenutzung oder sozialer Kontakte Jugendliche im Netz diese Verzerrungen fortschreiben mit HIV-Infizierten (Wilder, 1995). und dennoch die Zielgruppe erreicht wird. Spiele, die sinnvolle sexualedukative Inhalte einweben, finden sich kaum, so dass derzeit Chancen einer altersgerechten und lebensphasisch orientierten Sexualaufklärung kaum ge- Internetangebote für Jugendliche nutzt werden. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Online-Modespiel Die vorliegenden Studiendaten machen deutlich, dass im „Miss Bimbo“, das sich an weibliche Jugendliche richtet. 12. Lebensjahr der Konsum pornographischer Bilder bei Jede Spielerin kreiert sich einen eigenen, veränderbaren Jugendlichen wächst. Im Alter von 11–13 Jahren haben „Avatar“. In „Bimbo City“ hat die Spielerin dann die Mög- bereits 42% der Jugendlichen pornographische Bilder ge- lichkeit, ihr Äußeres zu optimieren (bis hin zur Schön- sehen, bei den 14 bis 17-Jährigen sind es 79%. Insbeson- heits-Op), reiche Partner/Freunde zu finden, Mode- und dere die Jungen finden sie erregend (57%) und meinen, Schönheitswettbewerbe zu gewinnen, das Wohlbefinden sie könnten dabei etwas lernen (47%), während bei den zu steigern, Wohneigentum zu erwerben, aber auch Be- Mädchen die Vorbehalte überwiegen. 8% der Jungen und rufsausbildung und Jobs zu organisieren und sich über 1% der Mädchen konsumieren regelmäßig und 35% der den Besuch von Bibliotheken IQ-Punkte zu ergattern. Jungen geben zu, „hin und wieder“ zu konsumieren. Über Die Bildfolge unter Abb. 2 zeigt einige der Möglich- ein Drittel der Jugendlichen surft aktiv entsprechende keiten der eigenen Spielfigur: ihre Einkleidung, den Gang Seiten im Internet an und etwa ein Viertel hat porno- durch die Stadt mit Besuch von Immobilienfirma, Bank 142 Klaus M. Beier, Laura F. Kuhle

Abb. 2 Spiel-Interfaces bei „Miss Bimbo“, Quelle: Online-Spiel „Miss Bimbo“ unter http://www.missbimbo.com Internet und neue Medien: Perspektiven für die Sexualmedizin 143 und Club, Fitness-Center, Arbeitsamt und Supermarkt, Andererseits betont sie, dass es nicht um die Schönheits- Boutique, Schönheitssalon und Zoohandlung bis hin zur operationen an sich geht, sondern wie im wahren Leben Klinik. Über das Arbeitsamt können Berufsausbildungen um finanzielle Möglichkeiten: und Jobs vermittelt werden, die dann zur Einnahme von „Bimbo-Dollar“ (Zahlungsmittel) führen. In der Bank „Du musst deine Ausbildung machen. Die wird – wie kann auch reales Geld eingezahlt werden, um „Bimbo- es eben überall ist – saumäßig bezahlt. Du brauchst Dollar“ zu erwerben. Diese wiederum können zur Ver- einen Job, kriegst ihn nicht gleich. Du willst dich ver- besserung des äußeren Erscheinungsbildes, zur Finanzie- lieben, findest niemanden. Du kannst einen Hund rung eines Haustieres, der eigenen Wohnung, sowie zur oder eine Katze adoptieren, die zu halten ist echt Haushaltsführung eingesetzt werden. schwer“ (http://forum.gofeminin.de/forum/f103/__ Prozentzahlen auf der Startseite zeigen der Spielerin f3025_f103-Miss-Bimbo.html). an, auf welchem Niveau der Flüssigkeits- und Nahrungs- aufnahme sie sich befindet; dadurch wird ggf. Handlungs- Man wird sich aber auch fragen müssen, ob nicht der bedarf signalisiert. Die Intelligenz einer Spielfigur ist am Mangel an (Spiel-)Alternativen den Zugriff auf derar- Anfang des Spieles auf 70 IQ-Punkte festgesetzt, welche tige Spielangebote begünstigt und es deshalb erforderlich dem Bereich der Minderbegabung entsprechen. Die Spie- wäre, dem etwas Sinnvolles entgegenzusetzen. lerin hat die Möglichkeit, durch Bibliotheksbesuche und das erfolgreiche Bestehen von Spielen ihren Intelligenz- quotienten zu erhöhen. Nur nebenbei sei angemerkt, dass dies nicht im Einklang steht mit der Definition von „Gamer“ in Deutschland Intelligenz, die sich eben nicht nur an dem bildungsab- hängigen Kenntnisstand bemisst. Von den IQ-Punkten „Gamer“ sind Menschen, die irgendeine Form von Com- der Spielfigur ist die Verfügbarkeit von Berufen und ihrer puter-, Konsolen- und Internetspielen nutzen (Medien- entsprechenden Gehälter abhängig. In der Klinik wieder- pädagogische Forschungsverbund Südwest, 2009). Nach um können Schönheitsoperationen gekauft werden. Ein Ergebnissen der IBM und der Universität Bonn sind das Brustaufbau schlägt mit 11500 Bimbo-Dollars zu Buche. 40% der Männer und 25% aller Frauen der deutschen Im Vergleich dazu ist der Anreiz zum Psychologen zu Bevölkerung im Alter von 14 bis 69 Jahren (Thomas & gehen und auf diesem Wege die eigene Zufriedenheit zu Stammermann, 2007). Zu einer sehr ähnlichen Gewich- steigern viel größer, da dies mit lediglich 50 Bimbo-Dol- tung kommt die „Typologie der Wünsche“, wonach 35% lar berechnet wird. der Männer und 21% der Frauen über 14 Jahre ange- Hinsichtlich der Kontaktanbahnung zum anderen ben, zumindest selten Computer- und Videospiele zu Geschlecht gibt es bei „Miss Bimbo“ eingebaute Spiel- nutzen (Burda Community Network GmbH, 2006). Al- möglichkeiten wie „french kiss“. Inhaltlich geht es dar- lerdings sinkt der Anteil der „regelmäßigen Gamer“ in um, so viele Männer wie möglich zu küssen. Fragwür- den höheren Altersgruppe deutlich, liegt aber selbst bei dig an dieser Stelle ist das Rollenmodell, welches damit den über 50-Jährigen noch bei annähernd 20%. Gleich- heranwachsenden Frauen vermittelt wird (http://www. wohl lässt sich festhalten, dass immerhin 1/3 der Ge- missbimbo.com). Insofern ist eine erste Kritik schnell zu formulieren, indem man bemängelt, dass ein falsches Schönheitsideal propagiert wird und fragwürdige Werte und die Option, über kosmetische Eingriffe das Äußere zu optimieren, vermittelt werden. Ein Kommentar einer Spielerin macht deutlich, dass es vor allem um Wohlbe- finden geht:

„Alles, was dich grinsen lässt, bringt dich voran, die Typen, das übertriebene Shoppen. Im Spiel tun Kon- sequenzen nicht weh. Im Spiel kannst du tun, wofür dir in der Realität die Zeit, der Freundeskreis, das Alter, das Geld fehlt“ (http://forum.gofeminin.de/fo- rum/f103/__f3025_f103-Miss-Bimbo.html).

Abb. 3 Anteil der Gamer in den jeweiligen Altersgruppen, Quelle: Thomas & Stammermann, 2007 144 Klaus M. Beier, Laura F. Kuhle

samtbevölkerung zu den „Gamern“ gerechnet werden xuelle Kontakte zu gestalten oder eben auch im Umgang kann (Thomas & Stammermann, 2007, vgl. Abb. 3). mit Internet und neuen Medien einen kritischen Umgang 45% der 12 bis 19-Jährigen nutzen ihre PC’s mehrmals zu erlernen, der im Spielverlauf durch entsprechenden pro Woche zum „Gaming“. Lediglich 19% aller Jugend- Punktgewinn honoriert wird. Solche und ähnliche Spiele lichen können als Nicht-Spieler bezeichnet werden, das (vgl. Abb. 5) wären selbstverständlich nur in Verbindung heißt sie nutzen keine Form von Computer-, Konsolen- mit professionellen Spieleherstellern produzierbar. oder Internetspielen (Medienpädagogische Forschungs- Ein solches „Browser-Game“, das online verfügbar ist verbund Südwest, 2009). 78% der Kinder zwischen 6 und und für die Zielgruppe kostenfrei genutzt werden kann, 13 Jahren in Deutschland zählen zu den Computernut- ließe sich auch für geistig Behinderte und ihre Angehö- zern (80% Jungen, 76% Mädchen). Die meist genannten rigen/Betreuer entwickeln. In diesem Falle könnte über Nutzungsmotive waren Computerspiele spielen und für verschiedene „Levels“ Wissen erlernt und dann angewen- die Schule arbeiten (Medienpädagogische Forschungs- verbund Südwest, 2008). Dies in Absolutzahlen bedeutet:

u ca. 5,4 Mio in der Altersgruppe bis 20 Jahre (männ- lich ca. 3,2 Mio, weiblich ca. 2,2, Mio) u ca. 6 Mio in der Altersgruppe 20–45 Jahre (männlich ca. 4,2 Mio, weiblich ca. 2,3 Mio) u ca. 1,6 Mio in der Altersgruppe ab 46 Jahre (männlich ca. 1 Mio, weiblich ca. 0,6 Mio).

Nach diesen Erhebungen gibt es etwa 13,5 Mio Gamer in Deutschland (Thomas & Stammermann, 2007). Vor diesem Hintergrund ist es realistisch, auch mit „Serious games“ oder „therapeutic games“ Anteile in dieser spielbereiten Stichprobe zu erreichen und diese zur Anwendung zu bringen. Grundlage dafür ist, die zu vermittelnden therapeutischen und sexualpädagogischen Inhalte auf interessante Weise aufzubereiten.

Abb. 4 Avatare im Klassenzimmer zur übenden Auseinandersetzung mit ängstigenden Situationen, Quelle: Lisetti, Pozzo, Lucas, Hernandez, Silverman, Kurtines & Pasztor „Serious games“ und „Therapeutic games“ (2009)

Spiele sind für verschiedene Indikationen bereits zu the- rapeutischen Zwecken entwickelt worden. So existiert ein Spiel zur Überwindung von Prüfungsängsten in Ver- bindung mit Bio-Feedback-Verfahren, wie zum Beispiel Messung von Hautwiderstand, Pulsfrequenz etc. (vgl. Abb. 4). Die gegenwärtig verfügbare Technologie ließe sich auch für sexualpädagogische Zwecke nutzen. So könnte man etwa ein Online-Spiel entwickeln, das im Internet frei zugänglich und interaktiv in Form von „Adventure“- Spielen programmiert ist. Vermitteltes Wissen muss an- gewendet werden, um höhere Spiel-Level zu erreichen. Die grafischen Oberflächen sollten genügend Anreize für virtuelle Unternehmungen schaffen. Persönliche Avatare zu gestalten und zu steuern, ist längst technisch umsetz- bar. In „Therapeutic Games“ für Jugendliche muss eine Rückgriffsmöglichkeit auf Erfahrungsmaterial kreiert werden, damit sie verschiedene Spielsituationen meistern Abb. 5 Beispiel für die Umsetzung einer Handlung mitf fiktiven Sims-Charakteren in können. Das Spielziel besteht darin, selbstbestimmt se- eine virtuelle Umgebung Internet und neue Medien: Perspektiven für die Sexualmedizin 145 det werden. Im Spiel wäre der Rückgriff auf die virtuellen sind und damit auch Rückmeldungen des therapeutischen Bezugspersonen zur Meisterung der verschiedenen Situ- Avatars für die Betroffenen zu erhalten wären (vgl. Abb. 7). ationen denkbar. Dies wäre in hohem Maße gebunden an eine voll- Eine weitere Anwendung betrifft die Wissensver- ständige Datensicherheit, da eine anonyme Spielanwen- mittlung zu den Auswirkungen chronischer Erkran- dung gewährleistet werden müsste. kungen auf Sexualität und Partnerschaft Betroffener und Gleichwohl bieten sich eine Vielzahl interessanter ihrer Partner. Hier sind interaktive Szenen denkbar, in Perspektiven für die Sexualmedizin, die in enger Zusam- denen die Betroffenen mit ihren Partnern Erklärungen menarbeit mit Informatikern bzw. Spieleherstellern auch zur Grunderkrankung und deren Behandlung, sowie de- realisierbar wären, wobei allerdings die Finanzierung zu- ren Auswirkungen auf die sexuellen Funktionen erhalten. meist durch Forschungsförderung bzw. auch öffentliche Hinsichtlich ihrer partnerschaftlichen Ressourcen sollen Mittel erfolgen müsste. sie bestärkt werden, etwa durch Teilnahme an Selbsthil- fegruppen. In Form einer reinen Offline-Anwendung zur dia- gnostisch-therapeutischen Nutzung bei sexuellen Prä- ferenzstörungen wäre ein persönlich gestalteter und steuerbarer „Avatar“ denkbar. So bestünde dann die Möglichkeit, dass die Betroffenen ihre individuellen sexuellen Vorstellungen mit dem persönlichen Avatar in einer virtuellen Welt ausleben. In einem diagnosti- schen Setting wäre ein auf diese Weise möglicherwei- se produziertes Material, welches fremdschädigendes Verhalten darstellt, nicht strafbar, so lange diese Inhalte nicht verbreitet werden. So würden solche simulierten Situationen eine Fülle detaillierter Informationen über die Phantasiewelt der Betroffenen zugänglich machen und damit die Genauigkeit der Diagnosestellung erhö- hen. Insbesondere bei Betroffenen mit einer potentiell fremdgefährdenden Präferenzstörungen wäre aus thera- peutischer Sicht die Konfrontationen mit verschiedenen Situationen denkbar, in denen die Verhaltenskontrolle ge- übt werden muss. Am Beispiel einer Pädophilie könnten das Situationen sein, in denen der Betroffene im Kontakt mit Kindern im Präferenzalter ist. Im Online-Spiel „Second Life“ wurden längst per- sönliche Avatare von Spielern eingestellt, die in ihrem Abb. 6 Avatare im Spiel „Second Life“ und ihre Assoziation zum BDSM-Formenkreis, Aussehen und ihren gesteuerten Handlungen eindeutig Quelle: Bardzell, 2010 dem BDSM-Formenkreis (Bondage & Discipline, Domi- nance & Submission, Sadism & Masochism) zugehörig sind (Bardzell, 2010, vgl. Abb. 6). In dem Zusammenhang mit betreuten „therapeu- tischen Spielen“ wäre eine interessante Perspektive, dass durch Rückkopplung mit einem realen Therapeuten ein virtueller Therapeuten-Avatar im Spiel entstehen könnte. Dieser wäre dann auch in Abwesenheit des realen Thera- peuten für den Betroffenen verfügbar. Dies würde eine Fülle von Vorteilen bieten, wie zum Beispiel die stärkere Verantwortungsübernahme des Pa- tienten und die stärkere Betonung des fortlaufend eva- luierten Behandlungsprotokolls, das wichtiger ist, als der reale Therapeut. Förderlich in diesem Zusammenhang ist, dass über iPhone mittlerweile derartige Spielsituationen abrufbar Abb. 7 Mögliche Darstellung therapeutische Avatare über IPhone, Quelle: Lisetti, 2009

1 146 Klaus M. Beier, Laura F. Kuhle

Technology and Informatics, 144, 19–21. Literatur Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest, 2009. JIM – Studie 2009 – Jugend, Information, (Multi-) Media. For- Bardzell, S., 2010. Topping from the Viewfinder: The Visual schungsbericht. Stuttgart: Landesanstalt für Kommunikation Language of Virtual BDSM Photographs in Second Life. Baden-Württemberg. Journal of Virtual Worlds Research, 2 (4), 4–22. Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest, 2009. Bauer Media Group, 2009. Dr. Sommer Studie 2009 – Liebe, KIM – Studie 2008 – Kinder + Medien, Computer + Körper, Sexualität. Forschungsbericht. München: iconkids & Internet. Forschungsbericht. Stuttgart: Landesanstalt für youth international research. Kommunikation Baden-Württemberg. Burda Community Network GmbH, 2006. Typologie der Rössler, P. (Hrsg.), 2005. Instant Messaging. Neue Räume im Wünsche 2006. Frankfurt am Main: Media Markt Analysen. Cyberspace. Nutzertypen, Gebrauchsweisen, Motive, Regeln. http://forum.gofeminin.de/forum/f103/__f3025_f103-Miss- München: Reinhard Fischer. Bimbo.html, zugegriffen am 01.06.2010. Statistisches Bundesamt Deutschland, 2010. Ausstattung privater http://www.missbimbo.com/, zugegriffen am 01.06.2010. Haushalte mit Informations- und Kommunikationstechnik Hüsing, A., 2010. Ein Leben ohne Internet? Unmöglich! Verfüg- in Deutschland. Verfügbar unter http://www.destatis.de/ bar unter http://www.betabuzz.de/2010/03/30/ein-leben- jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Content/ ohne-internet-unmoglich/, [19.05.2010] Statistiken/WirtschaftsrechnungenZeitbudgets/LaufendeWir Kessler, F., 2010. Instant Messaging – Eine neue interpersonale tschaftsrechnungen/Tabellen/Content75/InfotechnikDeutsch Kommunikationsform. Verfügbar unter http://www.medien- land,templateId=renderPrint.psml [19.05.2010] sprache.net/networx/networx-52.pdf [19.05.2010] Thomas, W., Stammermann, L., 2007. In-Game Advertising Kilian, T., Hass, B.H. & Walsh, G., 2008. Grundlagen des Web – Werbung in Computerspielen. Wiesbaden: Gabler Verlag. 2.0. Berlin/Heidelberg: Springer. Wilder, A., 1995. The use of multimedia technology in the edu- Lisetti, C., 2009. Features for culturally appropriate avatars for cation of children in HIV and AIDS: Evaluation of the “Let´s behavior-change promotion in at-risk populations. Studies in talk about HIV and AIDS” computer program. Dissertation, Health Technology and Informatics,144, 22–26. University of Texas. Lisetti, C., Pozzo, E., Lucas, M., Hernandez, F., Silverman, W., Wilder, A., Schoech, D., 2002. Clients as Co-Developers of Kurtines, B., Pasztor, A., 2009. Second Life, Bio-Sensors, and Multimedia Software: Two HIV/AIDS Training Programs for Exposure Therapy for Anxiety Disorders. Studies in Health Kids. Journal of Technology in Human Services, 20, 83–105.

AutorInnen Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus. M. Beier, Laura F. Kuhle, Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin, Zentrum für Human- und Gesundheitswissenschaften, Universitätsklinikum Charité Campus Mitte, Freie und Humboldt-Universität zu Berlin, Luisenstraße 57, D-10117 Berlin-Mitte, [email protected]

Korinna Kuhnen, Kinderpornographie und Internet Medium als Wegbereiter für das (pädo-)sexuelle Interesse am Kind, 2007 Hogrefe, 323 Seiten, € 34,95 / sFr. 56, ISBN 978-3-8017-2085-8

Das Buch beleuchtet ein kriminelles Phänomen, das erst seit den 90er Jahren verstärkt in den Fokus der (fach-)öffentlichen Diskussion geraten ist und in seinem Umfeld in besonderer Weise an die Technologien des Mediums Internet gekoppelt zu sein scheint: die Kinderpornographie. Aufgerollt werden Fakten und Mythen des Terrains, in dem sich das sexuelle Begehren einer globalen Subkultur auf die bildliche Inszenierung des sexuellen Missbrauchs von Kindern richtet. Mit differenziertem Blick auf die Kommunikations- und Distributionsoptionen der unterschiedlichen Internetdienste analysiert die Autorin nicht nur die konkreten Handlungsspielräume von Tätern und internationaler Strafverfolgung, sondern untersucht auch Erscheinungsformen, typische Wahrnehmungsmuster und Definitionsproblematiken rund um die Bilder. Kritisch hinterfragt werden zudem gängige Wirkungsannahmen.

Der Band liefert eine erste in Deutschland erhältliche, interdisziplinäre Zusammenschau zum Thema. Er schafft damit eine umfassende Grundlage für die aktuelle Debatte, in der sich politische Forderungen nach Opferschutz und Datenschutz gegenüberstehen und die geplante EU-konforme Novellierung der gesetzlichen Kinderpornographie-Definition Strafverfolgung und Gesellschaft vor neue Herausforderungen stellen wird. Orginalarbeit Sexuologie

Sexualmedizin in der hausärztlichen Praxis: Gewachsenes Problembewusstsein bei nach wie vor unzureichenden Kenntnissen

Dagmar A. Cedzich, Hartmut A. Bosinski

Sexual Medicine in GP practice: Growing Im Vergleich zu früheren Untersuchungen ergab sich ein deut- lich gestiegenes Problembewusstsein der Allgemeinärzte awareness but still insufficient knowledge für sexualmedizinische Fragestellungen: Zwei Drittel der Respondenten widersprachen der Aussage, dass das Thema Abstract in ihrer Tätigkeit keine Rolle spiele. Allerdings gaben ca. In order to ascertain the relevance of sexual disorders in the drei Viertel der Ärzte an, dass sie nur bei ca. einem Viertel practice of general practitioners (GP) questionnaires were ihrer Patienten eine Sexualanamnese erheben. Auch die send out to all 366 GPs in the city of Kiel (KI) and the rural Bereitschaft der Patienten, sich mit sexuellen Problemen an district of Rendsburg-Eckernförde (RD). 110 GPs (28 female ihren Hausarzt zu wenden, ist deutlich gestiegen: Fast alle and 82 male; KI: 57; RD: 53) returned the questionnaire Ärzte berichteten, dass von mindestens einem Viertel ihrer (response rate 30.1%). Compared with earlier studies we männlichen Patienten bereits sexuelle Probleme spontan could demonstrate an enhanced awareness of sexual pro- beklagt worden seien, für Patientinnen wurde dies nur blems by GPs: Two thirds of the respondents contradicted von 70% berichtet. Es fand sich an mehreren Stellen der the allegation that sexuality does not play a role in their Untersuchung ein signifikanter Zusammenhang zwischen daily practice. However, three fourths of the GPs reported Geschlecht des Arztes und des Patienten in der Weise, that they take the sexual medical history of only every fourth dass bei gleicher Geschlechtszugehörigkeit eher sexuelle patient. On the other hand, nearly all GPs declared that at Probleme thematisiert wurden. least one fourth of their male patients spontaneously report Als Hauptprobleme beim Ansprechen der Sexualität in der sexual disorders, while only 70% of the respondents found Praxis wurde von den Ärzten neben der Annahme, dass dies this to be the case in female patients. The survey showed dem Patienten unangenehm sei, Zeitmangel und unter- a relationship between the gender of the GP and his/her schiedlichen Geschlechtszugehörigkeit vor allem die eigene patient and the likelihood of sexuality being an issue in GP- Unsicherheit genannt: Knapp zwei Drittel der Respondenten patient communication. In addition to the differing gaben an, sich beim Ansprechen von Sexualität in der Praxis of GP and patient, the assumed reluctance of patients to nur „mäßig sicher“ bis „sehr unsicher“ zu fühlen, 87% hielten discuss sexual matters, and the general lack of time, a major die Informationen, die sie während des Studiums zu sexu- reason for this communication barrior was found to be the almedizinischen Störungsbildern bekommen hatten, für insecurity of the GPs. Two thirds of the respondents reported unzureichend. Folgerichtig wünschten sich 81% adäquate feeling “somewhat secure“ to “very insecure“; 87% rated the sexualmedizinische Weiterbildungsangebote. knowledge regarding sexual disorders received during their Schlüsselwörter: Hausärzte, sexuelle Störungen, Sexualanam­ studies as “insufficient”; 81% wanted post-graduate training nese, Aus- und Weiterbildung, Sexualmedizin in sexual medicine. Keywords: General practitioner, sexual disorders, sexual medi- cal history, vocational training, post-graduate training Stand der Forschung

Zusammenfassung Der Hausarzt ist aufgrund seiner Position als „Lotse und Im Bestreben, die Bedeutung sexualmedizinischer Stö­rungs- Koordinator“ im Gefüge der medizinischen Versorgungs- bilder in der hausärztlichen Praxis zu erheben, wurden kette eigentlich der „natürliche“ erste Ansprechpartner 366 Fragebögen an alle Hausärzte im Stadtgebiet Kiel (KI) bei sexuellen Störungen (Sadovsky & Nusbaum, 2006). und im Landkreis Rendsburg-Eckernförde (RD) versandt. 28 Dies wird auch von den meisten Patienten so gesehen: In Ärztinnen und 82 Ärzte sandten 110 Fragebögen zurück (KI: einer internationalen Studie von Hartmann und Mitar- 57; RD: 53; Rücklaufquote 30,1%). beitern (2002) stimmten ca. 50% der Befragten der Aus- Sexuologie 17 (1–2)(3–4) 2010 5–13147–159/ / Akademie Akademie für fürSexualmedizin Sexualmedizin http://www.akademie-sexualmedizin.de/sexuologiehttp://www.sexualmedizin-akademie.de/sexuologie 148 Dagmar A. Cedzich, Hartmut A. Bosinski

sage zu, dass ein Arzt seine Patienten routinemäßig nach In den Folgejahren hat sich die Lage, folgt man den ihrer sexuellen Funktion fragen sollte. In der von einem einschlägigen Untersuchungen, nicht sonderlich verän- internationalen sexuologischen Forscherteam vorge- dert: Hartmann und Mitarbeiter (2002) fanden in einer legten „Global Study of Sexual Attitudes and Behaviors“ groß angelegten Studie zur Arzt-Patient-Kommunikati- (Moreira et al., 2005) sagten 48% der Männer und 41% on über Sexualität, dass nur eine Minderzahl der Respon- der Frauen, dass ein Arzt von sich aus seine Patienten zu denten (19% der Frauen und 12% der Männer) von ih- sexuellen Problemen im Rahmen einer Routinekonsulta- rem Arzt in der Vergangenheit nach sexuellen Störungen tion befragen sollte. Auch die Untersuchungen von Read befragt wurden. Maximal ein Viertel der Probanden hat- und Mitarbeitern (1997) sowie Aschka und Mitarbeitern ten von sich aus Hilfe bei einem Arzt gesucht. (2001) zeigten, dass die große Mehrheit der Patienten In der Global Study of Sexual Attitudes and Beha- (bei Read et al., 70%, bei Aschka et al., 84%) einem Ge- viors gaben nur 9% der in verschiedenen Ländern be- spräch über Sexualprobleme mit dem Hausarzt positiv fragten 27.500 Männer und Frauen an, innerhalb der gegen­übersteht. In einer Befragung von Dunn und Mit- letzten drei Jahre von ihrem Arzt zu sexuellen Problemen arbeitern (1998) gaben 52% der an Sexualproblemen lei- befragt worden zu sein. Die Ergebnisse derselben Studie denden Patienten an, für dieses Problem professionelle für Deutschland zeigten, dass nur 18% der Männer und Hilfe annehmen zu wollen. 15% der Frauen mit bereits bestehenden sexuellen Pro- In welchem Umfang werden nun Hausärzte dieser blemen darüber mit ihrem Arzt gesprochen haben (Mo- großen Nachfrage seitens der Patientenschaft gerecht? reira et al., 2005). Für die Bundesrepublik legte Pacharzina bereits Lindau und Mitarbeiter (2007) berichteten für die 1975 eine Interview-Studie zur „Sexualmedizin in der USA, dass 38% der von ihnen befragten Männer im Alter Allgemeinpraxis“ vor. Er befragte 100 repräsentativ aus- von 57 bis 85 Jahren und 22% der Frauen der gleichen gewählte Allgemeinärzte in Hannover (75 Männer, 25 Altersgruppe angaben, seit ihrem 50. Lebensjahr schon Frauen) mit einem Durchschnittsalter von 56 Jahren, einmal mit einem Arzt über ihre (altersbedingt häufigen) die seit durchschnittlich 22 Jahren in freier Praxis tätig sexuellen Probleme gesprochen zu haben. waren. Die Studie, die wegen ihrer Ergebnisse, aber auch Corrado (1999) fand in einer Untersuchung zur Ein- wegen einiger Wertungen des Autors seinerzeit für nicht stellung gegenüber sexualmedizinischer Behandlung, unerhebliche Diskussionen vor allem bei den ärztlichen dass 83% der über 40jährigen Männer angaben, noch Standesvertretern, aber auch in der Öffentlichkeit sorgte niemals von ihrem Arzt auf ihre Sexualität angesprochen (s. dazu die Diskussion in der Zeitschrift Sexualmedi- worden zu sein. Die betroffenen Patienten wendeten sich zin, Pacharzina, 1975) offenbarte zum einen teilweise meist erst nach einer langen (sogar jahrelangen) Leidens- gravierende Wissenslücken der Ärzte sowie dem dama- geschichte an den Arzt. Die auslösenden Faktoren für ligen Zeitgeist entsprechende oder aber vom Autor so den Gang zum Arzt waren meist psychische oder soziale eingeordnete partriarchal-traditionelle Einstellungen Folgen, die von den Betroffenen nicht mehr kompensiert der Respondenten (beispielsweise zur Masturbation, werden konnten (Büsing und Liedtke, 1999). zum vorehelichen Geschlechtsverkehr, zur Verschrei- Temple-Smith und Mitarbeiter (1996) befragten bung oraler Kontrazeptiva für unter 16jährige Mädchen, 40 Hausärzte in Schwerpunktgruppen von vier bis acht zur Homosexualität usw.). Der Autor erfragte auch, wie Teilnehmern zu den Hindernissen bei Erhebung von häufig sich in der allgemeinärztlichen Praxis Patienten Sexualanamnesen. Als Haupthindernisse wurden ge- wegen sexueller Probleme vorstellten und inwieweit nannt: An erster Stelle der Mangel an geeigneten Wei- sich die befragten Ärzte darauf ausreichend vorbereitet terbildungsangeboten, gefolgt von Zeitmangel, der fühlten. Seine Respondenten gaben an, dass ca. 8% ih- Befürchtung, der Patient könnte derartige Fragen als rer Patienten von sich aus über derartige Probleme (bei aufdringlich oder gar voyeuristisch empfinden sowie Männern vor allem Erektionsstörungen, bei Frauen vor Alters-, soziale oder ethnisch-kulturelle Unterschiede allem Libidoprobleme, bei beiden Geschlechtern sexuelle zwischen Arzt und Patient, als erleichternde Faktoren Paarprobleme, auch im Zusammenhang mit kontrazep- jugendliches Alter der Patienten und gleiche Geschlechts- tiven Fragen) berichteten. Zugleich gingen die befragten zugehörigkeit. Allgemeinärzte davon aus, dass ca. 25% ihrer Patienten Aschka und Mitarbeiter (2001) befragten 20 Haus- tatsächlich unter sexuellen Störungen litten. 80% der ärzte (Responserate 43%) und deren sich an einem Tage Ärzte gaben an, dass ihre Patienten sicherlich dankbar vorstellende insgesamt 307 männliche Patienten. Letz- für ärztlichen Rat und Hilfe bei diesen Belangen wären, tere füllten einen Fragebogen über Art und Häufigkeit 70% hielten den Hausarzt auch für den zuständigen An- ihrer etwaigen sexuellen Probleme, ihre Wünsche nach sprechpartner, aber 84% hielten sich selbst für derartige Behandlung und ihre diesbezüglichen Erwartungen an Patientenanfragen nicht ausreichend ausgebildet. ihren Arzt aus. Die Ärzte wurden mittels Fragebogen Sexualmedizin in der allgemeinärztlichen Praxis 149 zu Häufigkeit und Behandlung sexueller Störungen bei Verfügung stehenden Geldmittel. Level 2 wurde zu einem ihren männlichen Patienten und über Gründe, die ein Teil von 45% der Ärzte angestrebt, auch hier forderten Nicht-Ansprechen sexueller Probleme bedingen, befragt. 60% der Hausärzte stützendes Training und Geldmittel. 93% der Patienten gaben an, unter mindestens einem Die am häufigsten genannten Gründe für die Nicht-Be- sexuellen Problem zu leiden und 84% von ihnen fanden teiligung an diesem Programm waren Zeitmangel und es wichtig, mit ihrem Hausarzt über sexuelle Probleme vermutete mangelnde Nachfrage seitens der Patienten. zu sprechen. Zwei Drittel wünschten sich eine direkte Patel und Mitarbeitern (2004) untersuchten in Lon- Thematisierung der Sexualität durch den Hausarzt. Dem don mittels Fragebögen die Meinungen sowohl von stand gegenüber, dass die meisten Ärzte Sexualität und Ärzten (die in sexualmedizinisch arbeitenden Kliniken damit zusammenhängende Probleme nur manchmal tätig waren) als auch von deren Patienten zur Integration (53%) oder selten (37%) ansprachen. Als Gründe hier- der Hausärzte in die sexualmedizinische Versorgung. Es für gaben die befragten Ärzte wiederum ungenügende wurden 43 Fragebögen von Ärzten (Responserate 61%) Kenntnisse auf diesem Gebiet oder Zeitmangel an. und 437 Fragebögen von Patienten (Responserate 60%) Gott und Hinchliff (2003) untersuchten mittels ausgewertet. halbstrukturierter Interviews bei 22 Patientinnen und Ein Viertel der Ärzte waren sich entweder unsicher 23 Patienten im Alter von 50 bis 92 Jahren Erfahrungen, oder lehnten die Integration der Hausärzte ab. Die Auto- Einstellungen und Hindernisse für Patienten dieser Al- ren wiesen auf den Widerspruch hin, dass die befragten tersgruppe, Hilfe bei sexuellen Problemen in Anspruch Kliniken angaben, der durch die nationale AIDS-Strate- zu nehmen. Alle teilnehmenden Patienten (Responserate gie entstandenen enormen Nachfrage gar nicht gerecht 25%) entstammten der Kartei einer Hausarztpraxis. Der werden zu können, andererseits aber die Möglichkeit, Hausarzt wurde von den befragten Patienten als Haupt- mit Hilfe des Programms einen Teil ihrer Patienten an ansprechpartner bei sexuellen Problemen angegeben. Als die Hausärzte weitergeben zu können, ablehnten. arztspezifische Barrieren stellten sich das Alter und Ge- Kein Arzt hielt es für möglich, dass Patienten mit Se- schlecht des Arztes, Zeitmangel, ein wenig diskreter Rah- xualproblemen es vorziehen würden, ihren Hausarzt zu men in der Konsultation sowie die Einstellung des Arztes konsultieren. Im Widerspruch dazu stimmten fast 25% zu Sexualität im fortgeschrittenen Lebensalter heraus. der Patienten dieser Aussage zu. Fast ein Viertel der Pati- Andere Hindernisse für die Thematisierung von Sexua- enten wurden in ihrer Hausarztpraxis auf die Klinik auf- lität in der ärztlichen Sprechstunde waren die Einstufung merksam gemacht, aber nur 13% der Kliniken in London sexueller Problemen als normale, nicht weiter ernstzu- gaben entsprechende Patienteninformationen an Haus- nehmende Alterserscheinungen, Scham, Angst und vor ärzte weiter. allem ein Wissensmangel über die Behandlungsangebote. Haboubi und Lincoln (2003) erhielten in einer Fra- Die gleiche Arbeitsgruppe (Hinchliff et al., 2004) erhielt gebogenaktion (Responserate 61%) von 813 „Health bei der vertieften Befragung von 22 Allgemeinärzten die Professionals“ (darunter auch Hausärzte) die Angabe, Auskunft, dass diese sich für unfähig hielten, die prinzipi- dass die Mehrheit (90%) die Einbeziehung sexueller Pro- ell für notwendig erachtete Sexualanamnese zu erheben, bleme in die allgemeinmedizinische Versorgung für nötig wenn der Patient dem anderen Geschlecht angehörte. hielten. Zugleich gaben aber 86% der Befragten an, sich Rogstad und Henton (2004) befragten mittels Frage- dafür nicht genügend ausgebildet zu fühlen. bogen 155 Hausärzte (Responsrate 57%) zu ihrem Wis- sen von und ihrer Meinung über die britische „National Strategy for Sexual Health and HIV“ und ihre Bereit- schaft, sich daran zu beteiligen. Dieses Programm sieht Fragestellung und Methoden zwei Level der ärztlichen Aktivität vor: Level 1 betrifft die Beratung der Patienten zur Prävention von sexuell Unsere Untersuchung ging im Rahmen einer medizi- übertragbaren Erkrankungen und HIV sowie HIV-Tests, nischen Promotionsarbeit (Wyscik, 2008) der Frage Level 2 das Testen und Behandeln von sexuell übertrag- nach, wie sich die Rolle des Hausarztes in der sexualme- baren Erkrankungen, sowie die Kommunikation darüber dizinischen Versorgung heute darstellt, nach Jahren der auch unter Einbeziehung des Partners des Patienten. Nur öffentlichen Diskussion über verschiedenste sexuelle Pro- 55% der antwortenden Ärzte wussten überhaupt von der bleme, die vom Topos „Sexualverhalten in den Zeiten der Strategie, 60% wussten jedoch nicht näher, was diese um- HIV-Pandemie“ über die massenmedialen Berichte zu fasst. Das Level 1 wurde von 68% der Hausärzte bereits männlichen (Stichwort: Einführung der PDE5-Hemmer) angeboten und 82% strebten eine Aufnahme des Level und weiblichen (Stichwort: „Female Sexual Dysfunc- 1 in ihre Versorgung an. 83% der Ärzte forderten hier- tion“) Sexualstörungen bis hin zu Sexualdelinquenz, de- bei ein stützendes Training und 70% ein Anstieg der zur ren Ursachen, Folgen und mögliche Vorbeugung reicht. 150 Dagmar A. Cedzich, Hartmut A. Bosinski

Konkret gingen wir folgenden Fragen nach: Wie Zusätzlich bestand die Möglichkeit für freie Ergän- häufig werden welche sexuelle Probleme in der hausärz- zungen und Anmerkungen. tlichen Praxis entweder vom Patienten spontan berichtet Die Fragen wurden mit Antwortmöglichkeiten („Spei- oder vom Arzt gezielt festgestellt? In welchem Kontext sekartenfragen“) versehen, d.h. die befragten Ärzte konn- geschieht das bzw. welche Hindernisse sehen die Ärzte ten auswählen, in welchem Maße die jeweiligen Probleme hierbei? Welche Rolle spielt dieses Thema bei Behand- in ihrer praktischen Tätigkeit relevant sind, gelegentlich lung anderer Grunderkrankungen? In welchem Maße waren freie Antworten möglich (s. Kasten). fühlen sich die Ärzte auf diese Problematik vorbereitet Die Ergebnisse aus den Fragebögen wurden anhand bzw. in welchem Maße werden entsprechende Weiterbil- von Chi-Quadrat-Tests auf Häufigkeitsunterschiede ge- dungsangebote gewünscht? prüft. Dabei wurde das Ergebnis des Tests ab einem P- Wir entwickelten einen Fragebogen, der insgesamt Wert < 0,05 als signifikant bezeichnet. 13 fachliche Fragen und im Anschluss daran vier Fragen zur Person und zur Praxis (Alter, Geschlecht, Berufser- fahrung, Praxisort und -größe) enthielt (s. Kasten). Stichprobe

Es wurden insgesamt 366 Fragebögen an Fachärzte für Allgemeinmedizin sowie an praktische Ärzte versandt. 164 Fragebögen gingen an Hausarztpraxen im Nieder­ lassungsbereich der Landeshauptstadt Kiel, 202 an sol- che Praxen im Kreis Rendsburg-Eckernförde mit einem ländlich-agrarischen Einzugsbereich. Es war ein frankier- Übersicht über die im Fragebogen erfragten Sachverhalte (Die Antwortmöglichkeiten­ sind in Klammer skizziert) ter Rückumschlag beigelegt. Zur Erhöhung der Rücklauf- quote wurden nahezu alle Ärzte, an welche der Fragebo- 1. Ist Sexualität ein Thema in Ihrer hausärztlichen Tätigkeit? („Nie“ bis „Immer“) gen versandt worden war, nach einem Zeitraum von ca. 2. In welchem Zusammenhang werden Sexualität und sexuelle Störungen the- 3–4 Wochen telefonisch nochmals auf diesen aufmerk- matisiert? (Vorgaben + freie Antwortmöglichkeiten) sam gemacht. Dadurch konnte die Rücklaufquote von 22,68% auf nun 30,06% gesteigert werden. 3. Das Thema Sexualität spreche ich in meiner hausärztlichen Praxis nicht an! Insgesamt erhielten wir 110 auswertbare Fragebö- („Trifft vollkommen / teilweise/ nicht zu“) gen, 28 von Ärztinnen und 82 von Ärzten. Das entspricht 4. Worin bestehen aus Ihrer Sicht die Probleme beim Ansprechen der Sexualität einem Anteil von 25,93% aller angeschriebenen Ärz- des Patienten? (Vorgaben + freie Antwortmöglichkeiten) tinnen und 31,40% aller angeschriebenen Ärzte (der Un- 5. Wie viel Prozent der Patienten klagen spontan über sexuelle Probleme? (Vor- terschied ist nicht signifikant, n. s.). 57 Ärzte hatten ihre gaben von 0 bis 100% in 25%-Schritten) Praxis in der Stadt, 53 Ärzte im ländlichen Raum. Auch 6. Bei wie viel Prozent der Patienten stellen Sie sexuelle Probleme fest? (Vorga- die nach territorialer Zugehörigkeit geprüfte Rücklauf- ben von 0 bis 100% in 25%-Schritten) quote wies keinen signifikanten Unterschied zwischen 7. Welche Art sexueller Probleme stellen Sie wie häufig fest? (Vorgaben gem. Stadt (34,8%) und Land (26,24%) auf. 10% der antwor- DSM-IV) tenden Ärzte waren zwischen 30 und 40 Jahre alt, 35% 8. Wie häufig (in Prozent) vermuten Sie bei Patienten Geschlechtsidentitäts- zwischen 40 und 50, 45% zwischen 50 und 60 Jahre alt, störungen? (Vorgaben von 0 bis 100% in 25%-Schritten) 10% waren älter als 60 Jahre. 9. Wie häufig (in Prozent) vermuten Sie bei Patienten Unsicherheiten bei der sexuellen Orientierung („Coming out-Problematik“)? (Vorgaben von 0 bis 100% in 25%-Schritten) 10. Gibt es Medikamente, bei denen Sie (gehäuft) sexuelle Probleme Ihrer Pa- Ergebnisse tienten beobachtet haben? Wenn ja, welche waren das? Was machen Sie dann? (Freie Anworten) 11. Wie sicher fühlen Sie sich im Umgang mit Patienten, die Sexualstörungen Spontane Angaben der Patienten zu sexuellen haben? („sehr unsicher/ unsicher/ mäßig sicher/ sicher/ sehr sicher“) Störungen bzw. deren Thematisierung durch den 12. Haben Sie während Ihres Medizinstudiums ausreichend Informationen über Hausarzt sexualmedizinische Störungsbilder erhalten? (Ja / Nein) 13. Würden Sie mehr Weiterbildungsangebote zu diesem Thema wünschen? (Ja Die überwiegende Mehrheit (95%) der auf die entspre- / Nein) chende Frage antwortenden 108 Ärzte gaben an, dass ihre männliche Patienten bereits über sexuelle Probleme geklagt Sexualmedizin in der allgemeinärztlichen Praxis 151 haben, von 90% der Respondenten wurde jedoch ange- 100% 0 geben, dass dies nur selten (d.h. bei ca. einem Viertel der 75% 0

Patienten) der Fall sei, lediglich 5% gaben hierzu „häufig“ 50% 5 (also bei der Hälfte ihrer Patienten) an (Abb. 1). 5% 90 5 Bei den weiblichen Patienten lagen die Verhältnisse Antwortmöglichkeiten 0% deutlich anders: 68% der Ärzte berichteten, dass ihre Pa- 0102030405060708090100 relative Häufigkeit derAntworten tientinnen „selten“ (d.h. unter 25%), nur 2%, dass diese „häufig“ (also mehr als die Hälfte der Fälle) spontan über Abb. 1 Wie viel Prozent der Patienten klagen spontan über sexuelle Probleme sexuelle Probleme klagen (Abb. 2). Immerhin 30% gaben an, dass keine ihrer Patientinnen jemals über sexuelle 100% 0

Problemen geklagt hätten (p < 0,001) 75% 0

Es zeigte sich, dass männliche Patienten sexuelle 50% 2 Probleme von sich aus offenbar häufiger bei Ärzten an- 5% 68 sprechen, weibliche Patienten hingegen bei Ärztinnen (p 0% 30 Antwortmöglichkeiten jeweils < 0,01) Es fand sich weder insgesamt noch bei den 01020304050607080 nach Geschlecht getrennt betrachteten Patienten ein sta- relative Häufigkeit derAntworten tistischer Zusammenhang zwischen dem Alter des Arztes oder seiner Niederlassung im städtischen oder ländlichen Abb. 2 Wie viel Prozent der Patientinnen klagen spontan über sexuelle Probleme Bereich und der Häufigkeit, mit der Patienten spontan über sexuelle Probleme klagten. n Die Gegenfrage, wie oft der Arzt / die Ärztin von sich Antworte aus Sexualität in ihrer Praxis im Patientengespräch the- er td matisieren, wurde nur von einer verschwindenden Min-

derheit (4% von 110 befragten Ärzten) negativ beant- Häufigkei wortet. Immerhin ein knappes Drittel (29%) der Ärzte räumte jedoch ein, dass dies teilweise zuträfe (s. Abb. 3 relative bis 5). Folgerichtig bejahte auch die überwiegende Mehrheit Antwortmöglichkeiten der Ärztinnen und Ärzte unsere Frage, ob Sexualität ein Thema in Ihrer hausärztlichen Praxis sei: 20% der Ärz- Abb. 3 Prozentuale Verteilung der Antworten auf die Aussage: „Das Thema Sexualität tinnen und Ärzte gaben an, dies bei ihren männlichen Pa- spreche ich in meiner Praxis nicht an” tienten „häufig“, „sehr häufig“ oder sogar „immer“ anzu- sprechen, 77% sprachen es bei den Männern zumindest immer 1 gelegentlich an. Lediglich 3% der Ärztinnen und Ärzten sehr häufig 1 gaben an, Sexualität bei keinem ihrer Patienten zu the- matisieren. häufig 18

Auch bei dieser Frage zeigt sich ein ausgeprägter Un- selten 77

terschied (p < 0,001) in Abhängigkeit vom Geschlecht der Antwortmöglichkeiten Patienten: Immerhin 16% der hierzu antwortenden 108 nie 3 Ärztinnen und Ärzte gaben an, mit ihren Patientinnen 020406080100 nie über Sexualität zu sprechen, nur 13% berichteten relative Häufigkeit derAntworten über häufige bis stete Arztgespräche, 71% sprechen das Abb. 4 Ist Sexualität ein Thema mit Ihren männlichen Patienten? Antwortverteilung Thema zumindest bei einem Viertel ihren Patientinnen an. Ärzte gaben signifikant häufiger als Ärztinnen an, bei immer 1 ihren weiblichen Patienten Fragen der Sexualität „nie- sehr häufig 1 mals“ anzusprechen. Bei den männlichen Patienten zeigte sich ein solcher Unterschied im Zusammenhang mit dem häufig 11 Geschlecht des Arztes nicht. selten 71

Auch der Ort der Niederlassung (städtisches oder Antwortmöglichkeiten nie 16 ländliches Einzugsgebiet) spielte eine Rolle: Von Ärzten auf dem Lande wurde Sexualität signifikant häufiger „sel- 01020304050607080 relative Häufigkeit derAntworten ten“ oder „nie“ angesprochen, und zwar sowohl bei den Patienten als auch mit den Patientinnen (für Patienten: p Abb. 5 Ist Sexualität ein Thema mit Ihren weiblichen Patienten? Antwortverteilung 152 Dagmar A. Cedzich, Hartmut A. Bosinski

1% < 0,01; für Patientinnen: p < 0,05). Ein statistischer Zu- 3% sammenhang mit dem Alter der Ärzte war sowohl für Pa- 16% tienten als auch für Patientinnen nicht zu verzeichnen. gar nicht Von den vorgegebenen Antwortmöglichkeiten (Mehr- auf Anfrage des fachnennungen waren möglich) zum Anlass für das ärzt- 40% Patienten liche Gespräch über Sexualität wurde mit 40% der 218 Alter Antworten (die von 101 Ärztinnen und Ärzten gegeben Situation Umgebung wurden) am häufigsten die entsprechende Initiative des 29% Patienten genannt, gefolgt von der „Kenntnis der fami- Jugendgesundheits- untersuchung liären/partnerschaftlichen Situation bzw. Umgebung des 11% Eltern / Lehrer Patienten“ (29%), „Jugendgesundheitsuntersuchungen“ (16%), „Alter des Patienten“ (11%) und „Initiative der Eltern oder Lehrer“ (3%) (s. Abb. 6). Abb. 6 In welchem Zusammenhang werden Sexualität und sexuelle Störungen Bei weiterer Auswertung der Frage, in welchem Kon- thematisiert text Sexualität in der hausärztlichen Praxis angesprochen wird (Abb. 7), findet sich die Mehrheit der gegebenen Antworten (72 Ärzte) in der Kombination aus „auf An-

8% frage des Patienten“ plus „auf Eigeninitiative des Arztes“ wieder. Zusammen mit den Ärzten, die Sexualität auf Ei- 3% gar nicht geninitiative thematisieren, sind das 75%, also ganze drei 14% 10% Viertel aller befragten Ärzte. auf Anfrage des Patienten Von dem verbleibenden Viertel der Ärzte geben ein Drittel an, Sexualität im Zusammenhang mit bestimmten auf Anfrage des Patienten plus Eigeninitiative Medikamenten mit ihren Patientinnen, ein Viertel bei ih- auf Eigeninitiative ren Patienten zu besprechen. Zusammengefasst bedeutet dies, dass mindestens fünf Sechstel aller befragten Ärzte keine Antwort die Sexualität mit ihren Patienten und Patientinnen the-

65% matisieren.

Abb. 7 Wann wird Sexualität thematisiert Häufigkeit der Feststellung sexueller Störungen in der hausärztlichen Praxis

100% 0 Im Gegensatz zu den oben referierten Angaben über die

75% 2 von den Patientinnen und Patienten spontan geklagten

50% 19 sexuellen Probleme stellten die befragten Ärztinnen und

5% 77 Ärzte deutlich häufiger durch ihre eigene Befragung bzw. Untersuchung sexuelle Störungen fest: Von den hierzu Antwortmöglichkeiten 0% 2 antwortenden 109 Ärztinnen und Ärzten gaben 77% an, 0102030405060708090 relative Häufigkeitder Antworten zumindest gelegentlich (d.h. bei ca. einem Viertel ihrer Fälle) sexuelle Probleme bei ihren männlichen Patienten Abb. 8 Bei wieviel Prozent der Patienten stellen Sie sexuelle Probleme fest? festzustellen, 21% stellten sie sogar „häufig“ (d.h. in ca. der Hälfte der Fälle) oder „sehr häufig“ fest (s. Abb. 8).

100% 0 Lediglich 2% gaben an, „nie“ sexuelle Probleme bei ihren männlichen Patienten festzustellen. 75% 1 Bei den Patientinnen sind die Angaben der sich dazu 50% 12 äußernden 106 Ärzten auch hier signifikant zu deren 5% 71 Ungunsten verschoben: Wie Abbildung 9 zeigt, mach- Antwortmöglichkeiten 0% 16 ten 16% (also immerhin 14% mehr als bei den männ- lichen Patienten), die Angabe, dass sie noch nie sexuelle 01020304050607080 relative Häufigkeit derAntworten Probleme bei ihren Patientinnen festgestellt hätten (p < 0,001). Zumindest bei einem Viertel ihrer Patientinnen Abb. 9 Bei wieviel Prozent der Patientinnen stellen Sie sexuelle Probleme fest? stellten 71% der Ärztinnen und Ärzte sexuelle Probleme Sexualmedizin in der allgemeinärztlichen Praxis 153 fest, bei mindestens der Hälfte der Patientinnen wurden 100 solche Probleme von 12% und „sehr häufig“ von 1% der 91,4 90 85,7 Ärzte gefunden. 80 67,9 Insgesamt zeigt sich, dass durch eine gezielte Nach- 70 67,9 frage durch die Ärzte mehr sexuelle Probleme offenbar 60 53,1 50 Angaben Ärzte werden, als von den Patienten spontan geäußert wor- 40 35,7 Angaben 30 26,0 den sind. Dabei wurden bei den männlichen Patienten Ärztinnen (s. Abb 10) mit weitem Abstand am häufigsten Erekti- 20 10 3,6 onsstörungen festgestellt, nämlich von 91,4% der hierzu 0 antwortenden Ärzte und 85,7% der Ärztinnen, gefolgt von Appetenzmangel (67,9% sowohl der Ärzte als auch der Ärztinnen gaben an, diese Diagnose zumindest gele- gentlich zu stellen), dem vorzeitigem Samenerguss (von 53,1% der Ärzte und 35,7% der Ärztinnen berichtet) so- wie Schmerzen beim Geschlechtsverkehr (berichtet von Abb. 10 Sexuelle Funktionsstörungen der Männer 26% der Ärzte und 3,6% der Ärztinnen; p < 0,001). Vergleicht man die Angaben der Ärztinnen mit jenen der Ärzte, so findet sich in den Angaben zu Erektions- 90 80 75 störungen und Appetenzmangel kein Unterschied, wohl 70 63 64,3 aber hinsichtlich der Diagnose einer Ejaculatio praecox, 60 46,9 50 50,6 die von Ärzten signifikant häufiger gestellt wird als von 50 39,5 42,9 Angaben 40 Ärzte Ärztinnen. Auch Schmerzen ihrer männlichen Patienten 30 Angaben beim GV werden von Ärzten häufiger erhoben als von 20 Ärztinnen Ärztinnen. 10 Bei den Patientinnen dominierten Berichte über Ap- 0 petenzmangel (s. Abb. 11): 63% der Ärzte und 75% der Ärztinnen hatten diesen mindestens gelegentlich fest- gestellt. Gefolgt wurde diese Angabe von Feststellungen einer Dyspareunie (50,6% der Ärzte und 64,3% der Ärz- tinnen), Orgasmusstörungen (46,9% der Ärzte und 50% der Ärztinnen; n.s.), Lubrikationsproblemen (39,5% der Abb. 11 Sexuelle Funktionsstörungen der Frauen Ärzte und 42,9% der Ärztinnen). Bei den Patientinnen fanden sich in dieser Hinsicht keine statistisch relevanten Thematisierung von Sexualität im Zusammenhang mit Unterschiede zwischen den Angaben der Ärztinnen und Erkrankungen und/oder Medikation der Ärzte. Geschlechtsidentitätsstörungen oder Probleme bei der Findung der sexuellen Identität (sog. Coming-out-Pro- Wie aus Tabelle 1 ersichtlich, wurde bei bestimmten Er- bleme) wurden von 4% der Ärzte bei männlichen Pati- krankungen häufiger ein Gespräch über Sexualität geführt. enten und von 3% bei weiblichen Patienten beschrieben. Bei einer KHK, Diabetes mellitus, antihypertensiver The- Zwanzig Ärztinnen (= 71,4% von 28) und 42 Ärzte (= rapie und insbesondere bei einer Erkrankung an HIV 51,8% von 82) berichteten über Hinweise auf sexuelle bzw. sexuell übertragbaren Krankheiten wird die Häu- Traumatisierungen bei ihren Patientinnen; bei männ- figkeit einer Thematisierung von Sexualität im Vergleich lichen Patienten berichteten hierüber 24 Ärzte (= 29,6%) öfter mit „häufig“ bis „immer“ angegeben. Bei anderen, und sieben Ärztinnen (25%; n.s.). Sechsundzwanzig ebenfalls oft zu sexuellen Problemen führenden Erkran- Ärzte (32,1%) und sieben Ärztinnen (25%) hatten jemals kungen, ist dieser Trend jedoch nicht ersichtlich. Hierzu bei einem männlichen Patienten „abweichende sexuelle gehören die chronische Niereninsuffizienz, Parkinson, Neigungen“ festgestellt (n.s.). Über derartige Feststellun- Multiple Sklerose und eine Neuroleptikabehandlung. gen bei Patientinnen berichteten 12 Ärzte (14,8%) und Über die Ansprache sexueller Nebenwirkungen im zwei Ärztinnen (7,1%) (n.s.). Methodenkritisch sei hier Zusammenhang mit Medikamenten bei Patienten und jedoch angemerkt, dass unsere unscharfe Fragenformu- Patientinnen informieren die Abbildungen 12 und 13. lierung möglicherweise die Kollegen dazu verleitete, auch Erneut findet sich ein hochsignifikanter Unterschied nicht-heterosexuelle Orientierungen in diese Betrach- in Abhängigkeit vom Geschlecht des Patienten: Während tung einzubeziehen 31% der Ärzte die Sexualität „häufig“ oder noch öfter bei 154 Dagmar A. Cedzich, Hartmut A. Bosinski

Tab. 1 Thematisierung von Sexualität in Zusammenhang mit Erkrankungen ihren männlichen Patienten bei entsprechender Medi- kation ansprechen, wird diese Angabe nur von 10% der Ärzte hinsichtlich ihrer Patientinnen gemacht. Umge- Diagnose NieSelten(25% Häufig sehr immerSumme derFälle) (50% d. häufig kehrt sprechen 3% der Ärzte ihre männlichen Patienten Fälle) (75%) „niemals“ im Zusammenhang mit bestimmten Medika- menten auf ihre Sexualität an, aber mit 34% der Ärzte

Diabetes mellitus 2% 42% 31% 20%5%n=86, verhalten sich knapp ein Drittel mehr derselben Ärzte so 100% ihren Patientinnen gegenüber (p < 0,001). Chronische Niereninsuffizienz 59% 24%7%10% 0% n=58, Besonders häufig (60% aller Respondenten) – und 100% dann vor allem bei Männern – wurden Medikamen- HIV/sex. Übertr. Erkrankungen 38% 28%7%3% 24% n=68, tennebenwirkungen bei Antihypertensiva-Gabe ange- 100% sprochen, gefolgt von Neuroleptika und Antidepressiva onkologische Erkrankungen 37% 47% 10% 3% 3% n=63, (jeweils 15%). Weitere Medikamentenverschreibungen 100% (Sedativa, Kontrazeptiva, Parkisonmedikamente, CSE- Parkinson 70% 24%4%2%0%n=50, Hemmer) wurden nur vereinzelt genannt. 100%

Multiple Sklerose 61% 30%5%0%4%n=57, 100% Probleme bei der Thematisierung der Sexualität in der KHK 14% 50% 30% 5% 1% n=74, 100% hausärztlichen Praxis Antihypertensive Therapie 5% 47% 22% 22%4%n=92, 100% Auf die Frage, welche Probleme die Ärzte für sich beim Neuroleptika- Ansprechen der Sexualität des Patienten sehen, konnten behandlung 46% 39% 10% 2% 3% n=62, mehrere Antworten gegeben werden (n somit = 193). 100% Sieben Ärzte machten hierzu keinerlei Angaben. Die am ZustandnachOP 30% 52% 10% 5% 3% n=63, häufigsten genannten Gründe waren mit 34% aller Ant- 100% worten die Annahme, dieses Thema sei „dem Patienten sonstiges 58% 26% 11% 5% 0% n=19, unangenehm“, „Zeitgründe“ mit 21%, das „unterschied- 100% liche Geschlecht zum Patienten“ mit 15% und das sich ein solches „Thema sich nicht anbiete“ mit 10%. Immer- hin 4% der Respondenten betrachteten das Ansprechen von Sexualität als „nicht notwendig“, 6% gaben an, das Ansprechen sei ihnen „unangenehm“ (s. Abb. 14).

relative Häufigkeit der Uns interessierte in diesem Zusammenhang, wie si- Antworten cher sich die befragten Ärzte im Umgang mit dem Thema Sexualität in ihrer ärztlichen Arbeit fühlten. Abbildung 15 zeigt die diesbezüglichen Selbsteinschätzungen der Ärzte auf die entsprechende Frage. Alle Ärztinnen und Ärzte beantworteten diese Frage. 40% der Respondenten fühl- Antwortmöglichkeiten ten sich im Umgang mit diesem Thema „sicher“ (33%) Abb. 12 Thematisierungen der Sexualität aufgrund der Medikation bei Patienten oder „sehr sicher“ (7%), die Mehrzahl war nur „mäßig sicher“ (53%), „unsicher“ (5%) oder „sehr unsicher“ (7%). Es bestand kein signifikanter Unterschied in der Beantwortung der Frage zwischen Ärzten und Ärztinnen, zwischen Stadtärzten und Ärzten aus ländlichen Berei- chen oder zwischen jüngeren und älteren Ärzten. Das verwundert auch nicht, wenn man die Antwor- ten auf unsere Frage nach den bisher im Rahmen der Aus- und Weiterbildung erhaltenen Informationen zu sexualmedizinischen Störungsbildern betrachtet (s. Abb 16): Die ganz überwiegende Mehrheit (87% aller hierauf antwortenden 110 Ärzte!) hielten die Informationen, die sie während des Studiums zu sexualmedizinischen Stö- Abb. 13 Thematisierungen der Sexualität aufgrund der Medikation bei Patientinnen rungsbildern bekommen hatten, für „nicht ausreichend“. Sexualmedizin in der allgemeinärztlichen Praxis 155

Es bestand hierbei kein signifikanter Unterschied zwi- schen den Antworten von jüngeren Ärzten und älteren 4% Ärzten, welcher auf qualitative Veränderungen innerhalb 5% 5% istnicht notwendig des Studiums über die letzten Jahre schließen ließe. Es er- 10% Altersdifferenz zumPatienten scheint dann auch der Lage angemessen, wenn sich mit 21% Zeitgründe istArzt unangenehm 81% (von 110) eine deutliche Mehrheit aller befragten 15% Ärzte entsprechende Weiterbildungsangebote wünschen istPatienten unangenehm (Abb. 17). Ärzte aus der Stadt wie jene aus ländlichen Be- unterschiedliches Geschlecht 6% zumPatienten reichen unterscheiden sich hierin nicht, ebenso wenig die bietet sich nichtan Ärzte von den Ärztinnen. Einzig das Alter der Kollegen sonstiges spielte hier eine Rolle: Ältere Ärzte beantworteten diese 34% Frage häufiger mit „nein“ als jüngere Ärzte (p < 0,05). Abb. 14 Probleme beim Ansprechen der Sexualität – Übersicht über die Antworten- verteilung

Diskussion 2% 5% 7% Häufigkeit und Brisanz der im Zusammenhang mit sexu- ellen Störungen auftretenden Probleme waren der Anlass sehr unsicher dafür, dass die WHO bereits im Jahre 1975 und erneut 33% unsicher 2001 Handlungsempfehlungen für den ärztlichen Um- mäßigsicher gang mit Sexualität und ihren Störungen herausgab. Der sicher leitende Arzt des US-amerikanischen Gesundheitswesens (Surgeon General) hat sich im Jahre 2001 mit einem „Call sehr sicher to Action“ an die dortige Ärzteschaft gewandt und sie auf- 53% gefordert, sexuelle Gesundheit und verantwortungsvolles Sexualverhalten stärker in den Fokus der ärztlichen Tä- tigkeit zu rücken. Auch vor dem Hintergrund der AIDS- Abb. 15 Wie sicher fühlen Sie sich im Umgang mit den Patienten, die Sexualstörungen Pandemie wurde in internationalen Statements das Au- haben? – prozentuale Antwortenverteilung genmerk auf die Rolle des Hausarztes (General Practioner, Primary Health Care, Family Care Practioner) gelegt. 87% 13% Diese Appelle sind mehr als angemessen, wenn man bedenkt, dass aus diversen epidemiologischen Untersu- chungen (i. Überblick Wyscik, 2008; Beier et al., 2000; ja 2005) bekannt ist, dass ca. 30% aller erwachsenen Männer und 40% aller erwachsenen Frauen in hochentwickelten Industrieländern wie der Bundesrepublik im Lauf ihres nein Lebens längere Zeit unter Sexualstörungen (auch im Ge- folge von anderen Grunderkrankungen, deren Behand- lung oder im Gefolge sexueller Traumatisierung) leiden. Abb. 16 Haben Sie während Ihres Medizinstudiums ausreichend Informationen über Jede 7. Frau wird im Laufe ihres Lebens Opfer sexueller sexualmedizinische Störungsbilder erhalten? – prozentuale Antwortenverteilung Übergriffe (BMFSFJ 2004), knapp 9% aller Mädchen und 3% aller Jungen werden in der Zeit zwischen ihrer Geburt 19% und ihrem 16. Lebensjahr Opfer sexueller Übergriffe mit Körperkontakt (Wetzels, 1997). Die Berliner Männerstu- ja die (Ahlers et al., 2010) hat gezeigt, dass 1,7% der Män- ner zwischen 40 und 79 Jahren ein Paraphilie-assoziertes sexuelles Erregungsmuster mit Leidensdruck aufweisen nein und teilweise auch schon ausagiert haben, darunter eine nennenswerte Zahl mit pädophilen Neigungen. Diese Zahlen lassen es nachgerade geboten erscheinen, dass die 81% Ärzteschaft hier adäquate Hilfsangebote bereithält. Abb. 17 Würden Sie mehr Weiterbildungsangebote zu diesem Thema wünschen? – prozentuale Antwortenverteilung 156 Dagmar A. Cedzich, Hartmut A. Bosinski

Betrachtet man die Gesamtheit der von uns erho- gen Erstmanifestation einer anderen körperlichen Grun- benen Ergebnisse, so kann festgestellt werden, dass die derkrankung sein können (Görge et al., 2003; Miner & Mehrzahl der an unserer Untersuchung teilnehmenden Kuritzki, 2007), sollte eine Sexualanamnese jedoch zum Ärztinnen und Ärzte versuchen, der Brisanz des Themas Standard der hausärztlichen Untersuchung gehören, vor Sexualität gerecht zu werden und ihm zumindest einen allem wenn man bedenkt, dass Patienten dies eigentlich gewissen Raum in ihrer ärztlichen Praxis einzuräumen. auch von ihrem Arzt erwarten. Diese Forderung ist alt Zwei Drittel widersprechen der Aussage, dass das The- und stellt eigentlich eine Selbstverständlichkeit dar – ein- ma in ihrer Tätigkeit keine Rolle spiele, knapp ein Drittel gelöst ist sie bis heute nicht. pflichten dem nur teilweise bei, weniger als ein Zwanzigs- Der zunächst genannte Hauptgrund für die Nicht- tel bejahen diese Aussage. Dies Problembewusstsein stellt Ansprache der Sexualität – der sich jedoch, wie weiter – verglichen mit der nun über dreißig Jahre alten einzigen unten darzustellen sein wird, tatsächlich als vorgescho- deutschen Studie (Pacharzina 1975) – einen bemerkens- benes Argument erweist – ist nicht minder alt: Neben werten Fortschritt dar, der jedoch nur sehr bedingt auf „Mangel an Zeit“ und „unterschiedliches Geschlecht von die Gesamtheit der Hausärzte zu verallgemeinern sein Arzt und Patient“ wird von ca. einem Drittel der Ärzte dürfte: Es ist keinesfalls ausgeschlossen, ja, sogar wahr- die Vermutung angegeben, es sei dem Patienten „unan- scheinlich, dass unter den ca. ein Drittel der Ärztinnen genehm“ über seine sexuelle Gesundheit befragt zu wer- und Ärzte, die unsere Umfrage beantworteten, vor allem den. Es stellt sich indes die Frage, woher die Kollegen dies jene sind, die in ihrer bisherigen Praxis (aus unklar blei- wissen, wenn sie noch nie mit ihren Patienten über dieses benden Gründen) bereits eine größere Achtsamkeit für Thema gesprochen haben? Wie eingangs referiert zeigen sexuelle Problemlagen ihrer Patienten zeigten und des- Patientenbefragungen ganz klar, dass diese Vermutung halb auch die Untersuchung durch ihre Teilnahme un- der Ärzte durch nichts gedeckt ist, ja, im deutlichen Wi- terstützten. derspruch zu den Erwartungen der Patienten steht. Auch seitens der Patienten lässt sich – verglichen mit Als weiteres Manko fiel die relative Benachteiligung der Studie Pacharzinas (1975) – ein größere Bereitschaft von Patientinnen auf, sowohl wenn es um spontane Kla- konstatieren, sich aus eigenem Antrieb ihrem Arzt mit gen über sexuelle Störungen als auch, wenn es um de- sexuellen Problemen zu offenbaren: War dies vor über ren Erhebung durch den Arzt geht. Immerhin fast ein dreißig Jahren nur bei einer Minderheit (nämlich 8%) Drittel der Ärzte gaben an, dass ihre Patientinnen „nie“ der Fall, so geben 90% der von uns befragten Hausärzte über sexuelle Probleme klagen (gegenüber lediglich 5% an, dass sich mindestens ein Viertel ihrer männlichen Pa- der Ärzte, die dies über ihre männlichen Patienten be- tienten schon einmal von sich aus wegen eines sexuellen richten). Dies steht im eklatanten Widerspruch zu dem Problems an sie gewandt habe. Bezüglich der weiblichen von mehreren Arbeitsgruppen gesicherten Befund, dass Patienten wird dies von 70% der hierzu antwortenden Frauen im Lebenslängsschnitt häufiger unter Sexualstö- Ärzte berichtet. rungen leiden als Männer. So fanden beispielsweise Lau- Die Ursache sowohl für diese deutlich gestiegene mann und Mitarbeiter (1999) in ihrer großangelegten spontane Ansprache des Themas durch Patientinnen und Studie zur Verbreitung von sexuellen Störungen, dass Patienten als auch für die diesbezüglich größere Acht- 43% der Frauen (gegenüber 31% der Männer) im Alter samkeit der Hausärzte könnte einerseits in einer Zunah- zwischen 18 und 59 Jahren länger als 6 Monate an einer me sexueller Störungen liegen. Allerdings gibt es keiner- sexuellen Funktionsstörung leiden. Vor diesem Hinter- lei Untersuchungen, die eine solche Zunahme belegen. grund ist es dann auch beunruhigend, dass immerhin Betrachtet man die Entwicklung der letzten 40 Jahre, so 16% der Ärzte angaben, dass Sexualität „nie ein Thema wird hingegen deutlich, dass sich die öffentliche Einstel- im Arztgespräch“ mit ihren Patientinnen sei – eine Anga- lung und der Umgang mit dem Thema Sexualität stark be, die die Kollegen nur bezüglich 3% ihrer männlichen verändert haben. Das könnte auch die offenere Einstel- Patienten machten. Bei Patientinnen diagnostizier- lung von Ärzten und Patienten erklären. ten ganze 16% der Ärzte „niemals“ sexuelle Störungen, Diese positive Entwicklung bedeutet aber nicht, dass bei den Patienten waren es hingegen nur 2% derselben die vielfältigen Probleme nun angemessen adressiert Ärzte. Auch bei der Thematisierung von Sexualität an- würden: Die meisten Ärzte gaben an, dass sie nur bei ca. lässlich bestimmter Medikation gaben nur 3% der Ärzte einem Viertel ihrer Patienten Sexualität thematisieren, an, ihre männlichen Patienten in diesem Zusammenhang also z.B. eine Sexualanamnese erheben. In Anbetracht „nie“ zu befragen, 26% taten dies sogar „häufig“, d.h. bei der Bedeutung der menschlichen Sexualität für das all- mindestens der Hälfte der entsprechenden Patienten. Die gemeine Wohlbefinden und der Verbreitung sexueller Patientinnen werden auch hier signifikant benachteiligt: Störungen mit Auswirkungen auf die Lebensqualität, 34% der Ärzte berichteten, dass sie ihre Patientinnen in weiterhin mit Blick auf die Tatsache, dass Sexualstörun- diesem Zusammenhang „nie“ zur Sexualität befragen. Sexualmedizin in der allgemeinärztlichen Praxis 157

Zudem überrascht die signifikant unterschiedliche Betei- den, entspricht in der Relation den vorliegenden Daten ligung an der Beantwortung zu dieser Fragestellung: 5% zur Verbreitung sexueller Übergriffe: Diese wurden bei der Ärzte gaben keine Antwort bei den männlichen Pati- Patientinnen von 71% der Ärztinnen und knapp 52% der enten, aber ganze 22% der Ärzte gaben keine Antwort bei Ärzte festgestellt und damit deutlich häufiger als bei Pa- den Patientinnen. tienten, wo dies von ca. einem Viertel der Ärztinnen und Diese geschlechtsabhängigen Unterschiede könnten Ärzte genannt wurde. einerseits dadurch bedingt sein, dass – wie gezeigt wurde Hauptgrund für die genannten Widersprüche zwi- – es bei einem Arzt des eigenen Geschlechts leichter fällt, schen gewachsenem Problembewusstsein der Ärzte ei- derartige Themen anzusprechen; es nahmen aber weni- nerseits und noch immer zu geringer Ansprache des The- ger Ärztinnen als Ärzte an unserer Untersuchung teil. In ma andererseits dürfte der Umstand sein, dass die weit Analogie hierzu fanden Burd und Mitarbeiter (2006) in überwiegende Zahl der an unserer Untersuchung teil- ihrer Studie einen signifikanten Unterschied zwischen nehmenden Ärztinnen und Ärzte mit bemerkenswerter dem Unbehagen von Ärzten und Ärztinnen bei Erhebung Offenheit angaben, sich unzureichend auf den ärztliche einer Sexualanamnese von Patienten und Patientinnen Umgang mit Sexualität und ihren Störungen vorbereitet mit dem Ergebnis, dass es den Ärzten leichter fällt, gleich- zu fühlen: Es zeigt sich hier also kaum ein Unterschied geschlechtliche Patienten zu befragen. Ein zweiter Grund zu den 30 Jahre zurückliegenden Untersuchungen von hierfür könnte darin liegen, dass die Ärzte annehmen, ihre Pacharzina (1975) und auch keine Verbesserung der Patientinnen könnten oder würden sich in diesen Fragen Situation im Laufe der Jahre, wenn sich sowohl die äl- häufiger an ihren Frauenarzt wenden. Drittens wäre es teren als auch die jüngeren Ärzte mehrheitlich nur mä- möglich, dass die massenmediale Thematisierung von ßig sicher (53%) oder sogar unsicher oder sehr unsicher Medikamenten zur Behandlung der Erektionsstörungen (13%) im Umgang mit Sexualstörungen fühlen und 87% männliche Sexualstörungen eher in das Blickfeld der Auf- der Befragten (ebenfalls ohne Altersunterschiede) anga- merksamkeit gerückt haben und Patienten und Ärzte sich ben, in ihrem Studium keine ausreichenden Informati- deshalb eher wagen, dieses Problem anzusprechen. onen über sexualmedizinische Störungsbilder erhalten zu Auch zum Thema „Sexualstörungen bei Erkran­kun- haben: Dies entspricht insofern sicherlich der Wahrheit, gen bzw. ihrer Behandlung“ werden widersprüch­liche als es Sexualmedizin als Lehrfach nur an drei deutschen Ergebnisse deutlich: Während über die Hälfte (56%) der Universitäten gibt. hierzu antwortenden Ärzte dies Thema bei Patientinnen Es zeugt wiederum von dem Problembewusstsein und Patienten mit Diabetes mellitus und noch 48% bei der Befragten und ihrem Bedürfnis, ihren Patientinnen einer antihypertensiven Therapie häufig ansprachen, und Patienten auch in diesem wichtigen Lebensbereich geschah dies bei anderen Erkrankungen mit bekannten adäquate Hilfe anbieten zu können, wenn sich 81% von beeinträchtigenden Auswirkungen auf die Sexualität ihnen (jüngere stärker als ältere) hierzu entsprechende deutlich seltener. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die sexualmedizinische Weiterbildungsangebote wünschen. entsprechenden Fragen durchaus nicht von allen Ärzten Allerdings muss auch hier einschränkend darauf hinge- beantwortet wurden – die genannten Zahlen stellen also wiesen werden, dass die an der Befragung Teilnehmenden bereits Maximalangaben dar. Auch hier profitieren vor (also knapp 35% aller angeschriebenen Hausärzte) sich allem die männlichen Patienten, denen ca. ein Drittel der wahrscheinlich schon durch ihre Teilnahme an der Un- befragten Ärzte ein Gespräch anboten, während dies bei tersuchung als diesbezüglich interessierte und vielleicht Patientinnen nur von einem Zehntel der Ärzte berichtet auch besonders engagierte Ärzte erwiesen haben. wurde. Die Tatsache, dass unsere Untersuchung ebenso wie Unsere Untersuchung hat weiterhin gezeigt, dass die eine Vielzahl anderer Studien gezeigt haben, dass sich von den befragten Ärzten festgestellten Sexualstörungen Ärztinnen und Ärzte zwar über die Häufigkeit sexueller in der Rangfolge ihrer Häufigkeit in etwa der Verbreitung Probleme bei ihren Patienten durchaus im Klaren sind, dieser Störungen in der Normalpopulation entsprechen: ihnen auch Hilfe anbieten wollen, dies aber vor allem Bei den Männern dominierten die Erektionsstörungen, aufgrund mangelnder Kenntnisse und Fertigkeiten nicht gefolgt von Appetenzmangel und vorzeitigem Samener- tun können, weshalb sie sich entsprechende Verbesse- guss, wobei letzterer von den Ärzten signifikant häufiger rungen der Aus-, Fort- und Weiterbildung wünschen, diagnostiziert wurde als von den Ärztinnen. Dies könnte unterstreicht erneut den Bedarf einer berufsbegleiten- daran liegen, dass den Ärztinnen möglicherweise diese den Fort- und Weiterbildung im Bereich der Sexual- häufigste Sexualstörung des Mannes (mit dem geringsten medizin. Die Akademie für Sexualmedizin bietet seit Leidensdruck) nicht so bekannt ist. 1997 entsprechende berufsbegleitende Weiterbildungs- Auch die Angaben zur Häufigkeit, mit der Probleme curricula an und hat bereits 1995 die Einführung einer im Gefolge sexueller Traumatisierungen festgestellt wur- Zusatzbezeichnung für Sexualmedizin in die (Muster-) 158 Dagmar A. Cedzich, Hartmut A. Bosinski

Weiterbildungsordnung für Ärzte gefordert (s. Vogt et Literatur al., 1995; Beier, 1999). Bislang hat lediglich die Landes- ärztekammer Berlin (im November 2007; s. Amtsblatt für Ahlers, C.J., Schaefer, G.A., Mundt, I.A. Roll, S., Englert, Berlin vom 2.11.2007, S. 2852ff) diese Zusatzbezeichnung H., Willich, S.N., Beier, K.M., 2009. How Unusual are the eingeführt und 2010 einen entsprechenden Antrag auf Contents of Paraphilias? Paraphilia-Associated Sexual Arousal deren bundesweite Etablierung an den 113. Deutschen Patterns in a Community-Based Sample of Men. J Sex Med. Ärztetag in Dresden gerichtet. Es bleibt in Anbetracht der DOI: 10.1111/j.1743-6109.2009.01597.x. Häufigkeit und Vielfalt sexueller Störungen zu hoffen, Aschka, C., Himmel, W., Ittner, E., Kochen, N. M. 2001. Sexual problems of male patients in family practice. J Fam Pract 50, dass diesem Antrag nun endlich – nach immerhin 15 Jah- 773–778. ren Bearbeitungsdauer – stattgegeben wird. Ansonsten Beier, K.M., 1999. Sexualmedizin: Berufsbegleitende Fortbildung droht nicht nur ein Fortbestehen einer eklatanten Ver- mit Zertifikat. Dtsch Ärztebl 96, 2075–2077. sorgungslücke, die nachweislich zu erheblichen Belastun- Beier, K.M., Hartmann, U., Bosinski, H.A.G., 2000. Bedarfsanaly- gen der Patientinnen und Patienten führt, sondern auch se zur sexualmedizinischen Versorgung. Sexuologie 7, 62ff. die Peinlichkeit, dass Deutschland als Gründungsland Beier, K.M., Bosinski, H.A.G., Loewit, K., Ahlers, C.J., 2005. der Sexualmedizin im europäischen Kontext zum sexual- Sexualmedizin: Grundlagen und Praxis. 2. Auflage, Urban & Fischer, München. medizinischen Entwicklungsland regrediert: Die Europe- Büsing, S., Liedtke, R., 1999. Spezialambulanz für sexuel- an Academy for Sexual Medicine bietet auf europäischer le Funktionsstörungen. Ein Erfahrungsbericht im Kontext Ebene seit 2007 mehrwöchige (allerdings bislang nur empirischer Daten. Sexualmedizin 21, 266–273. Theorieteile beinhaltende) Weiterbildungskurse in Se- Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, xualmedizin an, deren Inhalte sich weitestgehend an den 2004. Lebenssituation,­ Sicherheit und Gesundheit von Frauen deutschen Curricula orientieren und deren Anerkennung in Deutschland. Eine repräsenta­tive Untersuchung zur Gewalt durch die Union Européenne des Médecins Spécialistes gegen Frauen in Deutschland. BMFSFJ. Berlin. Burd, I.D., Nevadunsky, N., Bachmann, G., 2006. Impact of (UEMS) sich gegenwärtig in Vorbereitung befindet (Pry- physician gender on sexual history taking in a multispecialty or, 2007). practice. J Sex Med 3, 194–200. Ein auf Initiative der Akademie für Sexualmedizin Corrado, M., 1999. Men and erectile dysfunction: a survey of (ASM) nunmehr von einer Arbeitsgruppe aus Mitgliedern attitudes in 10 countries. ISIR Newsbulletin, 2, August 1999. der ASM, der Deutschen Gesellschaft für Sexualmedizin Dunn, K. M., Croft, P. R., Hackett, G. I., 1998. Sexual problems: und Sexualtherapie (DGSMT) und der Deutschen Gesell- A study of the prevalence and need for health care in the schaft für Sexualforschung (DGfS) entwickelter 40stün- general population. Fam Pract 15, 519-524 Görge, G., Flüchter, S., Kirstein, M., Kunz, T., 2003. Sexualität, diger Fortbildungskurs „Einführung in die sexualmedizi- erektile Dysfunk­tion und das Herz: Ein zunehmendes nische Diagnostik und Beratung“ kann die beschriebene Problem. Herz 28, 284–90. Versorgungslücke mit Sicherheit nicht schließen. Es ist Gott, M., Hinchliff, S., 2003. Barriers to seeking treatment for dies allerdings ein erster Schritt, um dem erkennbar vor- sexual problems in primary care: a qualitative study with handenen Bedürfnis der Ärzteschaft, ihren Patienten we- older people. Fam Pract 20, 690–695. nigsten bessere Informationen und Beratung bei sexuel- Haboubi, N.H., Lincoln, N., 2003. Views of health professionals len Problemen anbieten zu können, gerecht zu werden. on discussing sexual issues with patients. Disabil Rehabil 25, 291–6. Die Kolleginnen und Kollegen sind sich – und das Hartmann, U., Niccolosi, A., Glasser, D.B., Gingell, C., Buvat, darf dann wohl als ein positives Ergebnis unserer Un- J., Moreira, E., Laumann, E., 2002. Sexualität in der Arzt- tersuchung betrachtet werden – ihrer ärztlichen Verant- Patient-Kommunikation. Ergebnisse der „Globalen Studie zu wortung auch in diesem sensiblen und wichtigen Bereich sexuellen Einstellungen und Verhaltensweisen“. Sexuologie menschlichen Lebens und Erlebens durchaus bewusst 9, 50–60. und wünschen sich, hier adäquat Hilfe anbieten zu kön- Hinchliff, S., Gott, M., Galena, E., 2004. GPs‘ perceptions of the nen. Es ist nun an den Gremien des Berufsstandes, die- gender-related barriers to discussing sexual health in consul- tations – a qualitative study. Eur J Gen Pract 10, 56–60. sem Bedürfnis gerecht zu werden – nicht nur im Interesse Landesärztekammer Berlin, November 2007. Einführung der der wohlwollenden, aber leider oft noch hilflosen Helfer, Zusatzbezeichnung Sexualmedizin. Amtsblatt für Berlin vom sondern vor allem im Interesse der uns anvertrauten Pa- 2.11.2007, S. 2852 ff. tientinnen und Patienten. Laumann, E.O., Paik, A., Rosen, R.C., 1999. Sexual dysfunction in the United States. Prevalence and predictors. JAMA 281, 537–544. Lindau, S.T., Schumm, L.P., Laumann, E.O., Levinson, W., O‘Muircheartaigh, C.A., Waite, L.J., 2007. A study of sexuality and health among older adults in the United States. N Engl J Med 357, 762–74. Sexualmedizin in der allgemeinärztlichen Praxis 159

Miner, M.M., Kuritzky, L., 2007. Erectile dysfunction: a sentinel Rogstad, K. E., Henton, L., 2004. General practitioners and the marker for cardiovascular disease in primary care. Cleve Clin national strategy on sexual health and HIV. Int J STD AIDS J Med 74, 30–7. 15, 169–72. Moreira, E. D., Brock, G., Glasser, D. B., Nicolosi, A., Laumann, E. Sadovsky, R., Nusbaum, M., 2006. Sexual health inquiry and O., Paik, A., Wang, T., Gingell, C. for the GSSAB Investigators support is a primary care priority. J Sex Med 3, 3–11. Group, 2005. Help-seeking behaviour for sexual problems: Temple-Smith, M., Hammond, J., Pyett, P., Presswell, N., 1996. the global study of sexual attitudes and behaviors. Int J Clin Barriers to sexual history taking in general practice. Aust Fam Pract 59, 6–16. Physician 25, 71–4. Pacharzina, K., 1975. Sexualmedizin in der Allgemeinpraxis, Teil Vogt, H.-J., Loewit, K., Wille, R., Beier, K.M., Bosinski, H.A.G., 1-3. Sexualmedizin 4, 485–490, 535–542, 630–645. 1995. Zusatzbezeichnung „Sexualmedizin“ – Bedarfsanalyse Patel, H., Heng, E. L., Aleem, A., Chung, N., John, M., Tang, und Vorschläge für einen Gegenstandskatalog. Sexuologie 2, O., Theobald, N., 2004. GU medicine consultants´ and 65–89. clients´opinion on general practitioner involvement with Wetzels, P., 1997. Prävalenz und familiäre Hintergründe sexu- sexual health care. Int J STD AIDS 15, 779. ellen Kindesmißbrauchs in Deutschland: Ergebnisse einer Pryor, J., 2007. A brief note on the European Academy for repräsentativen Befragung. Sexuologie 4, 89–107. Sexual Medicine. J Sex Med 4, 310. Wycisk, verh. Cedzich, D.A., 2008. Sexualmedizinische Frage- Read, S., King, M., Watson, J., 1997. Sexual dysfunction in pri- stellungen in der hausärztlichen Praxis – Ergebnisse einer mary medical care: prevalence, characteristics and detection Hausarztbefragung. Med. Dissertation, Medizinische Fakultät by the general practitioner. J Public Health Med 19, 387–391. der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

Korrespondenzadresse Prof. Dr. med. Hartmut A.G. Bosinski, Sektion für Sexualmedizin, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel, Arnold-Heller-Str. 3, H. 28; 24105 Kiel. Email: [email protected]

Sophinette Becker, Margret Hauch, Helmut Leiblein (Hg.), Sex, Lügen und Internet Sexualwissenschaftliche und psychotherapeutische Perspektiven, Verlag: Psychosozial-Verlag 2009, 185 Seiten, broschiert, ISBN-13: 9783837920192, € 22,90

Sexualität ist ein bedeutsamer Topos im Internet. Neosexualitäten haben zwischen alter Wirklichkeit und den neuen Räumen des World Wide Web ihren Platz gefunden. Was als virtuelle Erfahrung beginnt, kann Eigendynamik entwickeln und die Veränderung unserer Realität katalysieren. Bietet das Anlass zur Besorgnis oder ist alles ganz harmlos?

In den psychotherapeutischen, psychoanalytischen, pädagogischen und soziologischen Beiträgen dieses Bandes werden die verschiedenen Facetten empirisch und theoretisch beleuchtet und kontrovers diskutiert. Fachleute verschiedener Richtungen kommen zur Sprache, solche, die alarmiert sind, und solche, die interessiert und neugierig neosexuelle Phänomene und die neu entstandenen Netzräume betrachten.

Mit Beiträgen von Michael Bochow, Ulrike Brandenburg, Martin Dannecker, Arne Dekker, Sonja Düring, Stefanie Grote, Beate Hofstadler, Werner Meyer-Deters, Reinhold Munding, Axel Schmidt, Gunter Schmidt und Gabriele Teckentrup Humboldt-Dialog Sexuologie

Verleihung des Stiftungspreises der Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung 2010

Begrüßung und Einführung zum Bekanntlich werden heute in den Vereinigten Staaten von Amerika zahlreiche Universitäten nach einem sol- Humboldt-Dialog und der Verleihung chen Finanzierungsmodell erfolgreich geführt. des Stiftungspreises der Wilhelm-von- Die Idee dahinter: Wissenschaft soll um ihrer selbst willen, d.h. zweckfrei betrieben und nicht als Mittel zu Humboldt-Stiftung an Prof. Dr. Trabant und anderen Zwecken missbraucht werden. Deshalb die aka- Prof. Dr. Meyer-Bahlburg demische Freiheit als Freiheit in Forschung und Lehre und seine Auffassung, dass der Universitätsprofessor nicht in erster Linie Lehrer und der Studierende nicht Klaus M. Beier hauptsächlich „Schüler“ wie beim Schulunterricht sein solle, sondern beide sind vor allem Forschende und der Meine sehr verehrten Damen und Herren, sehr geehrter Erfahrene soll anleiten und unterstützen. Alles eingebun- Herr Prof. Trabant, sehr geehrter Herr Prof. Meyer-Bahl- den in einen Dialog, der letztlich das Neue hervorbrin- burg, liebe Freunde und Angehörige, gen und damit Wachstum ermöglichen soll, denn nur im im Namen des Kuratoriums der Wilhelm-von-Hum- Austausch mit dem anderen entwickelt man sich weiter, boldt-Stiftung begrüße ich Sie ganz herzlich zum Hum- weshalb man die Entwicklung des anderen fördern sollte, boldt-Dialog und der Verleihung des Stiftungspreises im um nämlich auch die eigene voranzutreiben. Jubiläumsjahr 2010 – denn vor 200 Jahren wurde die Ber- Dies ist exakt das Modell der Dialogik, welches Hum- liner Universität gegründet und erinnert uns an eine un- boldt in seinen Horen-Aufsätzen über die Geschlechter- bestrittene Großtat Wilhelm von Humboldts, die er wäh- differenz herausgearbeitet hat, um letztlich damit auch rend nur 14monatiger Amtszeit in den Jahren 1809/1810 eine Vordenkerrolle der Geschlechterforschung einzu- als Abteilungsleiter der Sektion Kultus im Preußischen nehmen, mit der er allerdings gerade nicht im kollektiven Innenministerium umsetzte – im übrigen mit einem Gedächtnis haften geblieben ist. unerhörten Geschick bei den Berufungen (Evangelische Dabei ist das Grundkonzept hier bereits klar erkenn- Theologie: Schleiermacher, Jurisprudenz: Savigny; Me- bar: Individualität ist begrenzt und das Geschlecht selbst dizin: Hufeland; Philosophie: Fichte; Altphilologie: F.A. ist eine Grenze. Durch die Zugehörigkeit zu dem einen Wolf; Geschichte: Niebuhr; Agronomie: Thaer; Chemie: Geschlecht, gehört man automatisch nicht dem anderen Klaproth). an und ist insofern eingeschränkt. Nur: Die Geschlecht- Vor allem damit ist er im kollektiven Gedächtnis haf- lichkeit selber ist ein Motor für die Hinwendung zum ten geblieben: Es ist seine bekannteste Leistung geworden. anderen, d.h. aus der Differenz entsteht die Spannung, Damals war er 43 Jahre alt und konnte zurückgreifen auf diese wiederum enthält die Entwicklungspotentiale bei- ein durchdachtes anthropologisches Konzept, das letzt- der, sofern jeder die Entfaltung des anderen und dessen lich seine politische Praxis und seine Bildungsreform Wachstum möchte, was in eigenem Interesse der Fall sein (mit-)erklärt. sollte, weil erst dadurch die eigene Weiterentwicklung Was wir darin finden können ist eine „Ehrfurcht für möglich wird. die Individualität selbstthätiger Wesen“ und einer „aus So ist es einerseits die Unterschiedlichkeit der Ge- dieser Ehrfurcht entspringenden Sorgfalt für die Frei- schlechter, aber andererseits auch ihre Gleichwertigkeit, heit“, wie es bei ihm selbst heißt. Die Politik hatte nach die Humboldt betont. Es ist auf beiden Seiten immer seiner Auffassung dann die Aufgabe Zwänge und Ein- Einwirkung und Rückwirkung, Selbsttätigkeit und Emp- schränkungen zu beseitigen und er sah für eine neu zu fänglichkeit, Geben und Nehmen. Männliche und weib- gründende Institution „Universität Berlin“ deshalb auch liche Form werden von ihm gerade herausgelöst aus dem eine ‚Stiftungskonstruktion‘ als mögliche Lösung um un- traditionellen Subordinationsverhältnis und in ein täti- abhängig vom König zu werden – nämlich durch Über- ges Wechselwirkungsverhältnis hineinverlagert. eignung von Domänen, aus deren Bewirtschaftung sich Humboldts Schriften wirken zwar – zeitbedingt – die Universität selbst finanzieren können sollte. sprachlich überladen, aber unbefangen und als Aufbruch Sexuologie 17 (3–4) 2010 160-162 / Akademie für Sexualmedizin http://www.sexualmedizin-akademie.de/sexuologie Verleihung des Stiftungspreises der Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung 2010 161 zur Durchdringung einer basalen Erlebnisdimension des punkt einer weit verbreiteten Grundhaltung, die sich auf Menschen – nämlich der Sexualität. den Nenner bringen lässt: Da gibt es zwar Probleme, aber Seine Sprachforschungen sind hierzu eine geniale Ein- lieber nicht so genau hinschauen. lassstelle. Denn Sprache ist Vermittlerin zwischen Denken Von Humboldt lernen heißt eben im Gegensatz dazu und Sein – für Humboldt ist dies ja ein geschlechtliches auch diesbezüglich genau hinzuschauen. Sein. Die Wirklichkeit ist ursprünglich von einem Sub- Die Wilhelm von Humboldt-Stiftung engagiert sich da- jekt geäußerte und von einem anderen Subjekt vernom- für, dieses Vermächtnis bewahren zu helfen und möchte mene Rede. Menschliche Subjekte sind aber gerade keine mit dem Stiftungspreis Persönlichkeiten ehren, die die- idealen Sender und Empfänger von Informationen, eben sem Aspekt die notwendige Beachtung geschenkt haben. durch ihre Subjektivität, sie sind sich selbst und ande- In diesem Jahr gibt es einen Preisträger aus der ren undurchsichtige Individuen, an deren Eigensinn die Sprachforschung und einen aus der Sexualforschung – Allgemeinheit der Gedanken sich bricht. Darum finden Gebiete, die im Humboldtschen Sinne viel enger benach- wir die Humboldtsche These von der sprachlichen Welt- bart gedacht werden müssen als allgemein angenommen ansicht. Mit der äußeren Gleichheit des Wortes verbindet wird. sich die innere Verschiedenheit der Sprache, von der die Der Entwicklung des jungen Humboldt genauer Bedeutung des Wortes getragen wird. Nur das Wort wird nachzuspüren war aber eine der Herausforderungen in ausgesprochen. Als was es im einzelnen Bedeutung haben der Zusammenarbeit mit der Mendelssohn-Gesellschaft, mag, das ergibt sich aus der Welt des Einzelnen. insbesondere mit Herrn Dr. Lackmann, der gleich zu Übertragen auf Sexualität: Das immer geschlechtliche ihnen sprechen wird, und Herrn Dr. Siebel, zwei subtile Individuum besteht immer in der Differenz zu anderen Kenner der Mendellsohns und ihrer vielfachen Verbin- geschlechtlichen Individuen, und die Sprache ist eine Ver- dungen mit der deutschen Geistes- und Kulturgeschichte. mittlerin um das Getrennte zu verbinden. Deshalb heißt Dass sich für Wilhelm von Humboldt die Mitglied- es bei Humboldt, dass der „Gedanke der letzte Sprössling schaft in der von Henriette Herz und Brendel Mendels- der Sinnlichkeit“ ist. sohn 1787 ins Leben gerufenen literarischen Vereinigung Die Sexualmedizin spricht – derselben Logik folgend namens „Tugendbund“ auf seine spätere Geschlechter- – von der sexuellen Weltanschauung und betont auch hier forschung ausgewirkt hat, ist sehr wahrscheinlich. Sicher das Subjektive, dass sich trotzdem – wie die Grammatik ist, dass er durch den Tugendbund seine spätere Frau in der Sprache – auf Prinzipien und Strukturen zurück- Caroline von Dacheröden kennen lernt und mit ihr eine führen lässt, die wissenschaftlich erforschbar sind. Es gibt lebenslang verbindende Zweierbeziehung eingeht, die für eben auch eine Grammatik der Sexualität. ihn aber gleichwohl das Kriterium der „Freiheit“ erfüllen Das wohl ist der Hintergrund für Humboldts kühnen musste – wiederum getragen von der Überzeugung, dass Plan, eine „Geschichte der Abhängigkeit im Menschenge- die optimalen Entwicklungsbedingungen für den Partner schlecht“ schreiben zu wollen, in der er diesen Strukturen der eigenen Entwicklung dienen. nachzugehen gedachte und dabei kein Thema auslassen Daher der Titel der Veranstaltung „Zweiheit und und selbst die Prostitution in einem eigenen Kapitel be- Freiheit“ – gemeinsam ausgerichtet von der Wilhelm von handeln wollte. Humboldt Stiftung und der Mendelssohn-Gesellschaft. Dass es ihm um Strukturen ging belegt eine Passa- Ich bin dabei sehr dankbar für die vielen Einsichten, ge aus der Einleitung, in der es heißt: „Es müssen nicht die aus dieser Zusammenarbeit resultiert sind: Vor allem nur die Menschen in verschiedenen Zuständen, sondern aber gingen sie zurück auf genau jene Spannung unter- auch die allgemeinen Zustände an verschiedenen Men- schiedlicher Weltansichten, die dann eine Weitung er- schen und Völkern betrachtet werden. Denn gerade sie möglichen, von der wir hoffen, dass sie sich auf den ge- sind das Bleibende, sich Forterhaltende, da der einzelne, meinsam konzipierten zwei Bannern sein werden und genießende und leidende Mensch kommt und untergeht. das Verhältnis der Humboldts zu den Mendelssohns (...) Denn die Einheit der Realität hebt die Getrenntheit transparent machen sollen. Hinzu kommt eine neue Büs- der Erscheinungen auf.“ te Wilhelm von Humboldts, welche die Stiftung als Dau- Von Sexualwissenschaftlern wird das zwar gern zitiert, erleihgabe der Mendelssohn-Remise zur Verfügung stellt, in der Gesellschaft und der Bildungspolitik ist das ganze nachdem Alexander ja bereits hier vertreten ist. Thema aber noch lange nicht adäquat angekommen, son- In diesem Sinne danke ich der Mendelssohn-Gesell- dern im Gegensatz weiterhin geeignet um Befangenheit, schaft für die bisherige Zusammenarbeit ganz außeror- Verunsicherung und Ablehnung hervorzurufen. dentlich, freue mich auf diesen Abend und übergebe das Erst vor diesem Hintergrund wird der Missbrauchs Wort an Dr. Lackmann, der auch zur Humboldt-Kantate skandal der letzten Monate verständlicher: Letztlich End- der Sing-Akademie zu Berlin etwas sagen wird. 162 Jahrestagung der Wilhelm v. Humboldt-Stiftung

Die beiden Banner, die die Verbindung der Gebrüder Humboldt zu den Mendelssohns illustrieren, sind Teil der Dauerausstellung „Die Mendelssohns in der Jägerstraße“ in der Mendelssohn-Remise, 10117 Berlin, Jägerstraße 51 – Graphische Gestaltung der Banner Ben Buschfeld (Berlin) Verleihung des Stiftungspreises der Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung 2010 163

Begrüssungsworte im Namen der erst eingebaut, als die Erinnerung an die Humboldts und ihre Mendelssohns schon Geschichte war. Wie die Mendelssohn-Gesellschaft Freundschaft von und Lessing ist die Achse Humboldt – Mendelssohn ein gutes Versprechen Thomas Lackmann der deutsch-jüdischen Geschichte gewesen. Die „Mor- genstunden“-Vorlesungen des Moses, an denen Wilhelm Teplitz, den 2. Oktober 1813. und der in der Jägerstraße 22 geborene Alexander mit dem Ältesten Joseph Mendelssohn teilgenommen haben; „Es thut mir sehr leid, mein lieber Herr Mendels- der Tugendbund, der den Teenager Wilhelm mit Brendel sohn, erst so spät Ihren Wunsch, Pässe nach Russ- und Jette Mendelssohn zu einem Beziehungsexperiment land zu erhalten, erfüllen zu können. Allein die mit zusammenführt; die Sternwarte Alexanders im Garten diesen Ausfertigungen verbundenen Zögerungen der Mendelssohn Bartholdys an der Leipziger Straße, sei- liessen sich nicht kurz beseitigen. Ich schicke Ih- ne Unterstützung für den Mechanicus Nathan und den nen hier beide Pässe, und hoffe, daß sie so, wie Sie Geographieprofessor Georg Benjamin Mendelssohn; die es wünschten, ausgestattet seyn werden. Es wird mir Kredite des Bankiers Joseph für Alexanders Forschungs- aber viel lieber seyn, wenn Sie unter uns blieben, u. reisen. Joseph Mendelssohns Nachfolger in der Bank kein Gebrauch davon machen. Die Angelegenheiten heißt Alexander; für ihn wird der Vater in den 1830er Jah- gehen sehr günstig. Napoleon hat unglaublich viel ren das Geburtshaus von Humboldts, Jägerstraße 22, als seit dem Wiederanfang der Feindseligkeiten verloren. Wohnhaus erwerben. Das alles sind, als diese Kassenhalle Er hatte am Ende des Waffenstillstands 313000 Mann um 1890 gebaut wird, für die fünfte Mendelssohn-Gene- [jenseits] der Elbe, jetzt hat er nach den Nachrichten ration, nur noch glorreiche Anekdoten einer preußisch- nur 118000. Also ein Verlust von 135000 Menschen. jüdischen Freundschaft: aus einem Zeitalter aufgeklärter Und wie demoralisiert ist die Armee die ihm bleibt? Hoffnungen. Man glaubt zu wissen, daß er sich aus Leipzig, u. ver- Diese Kassenhalle wird bald darauf, 1892 – weil ne- mutlich weiter zurückzieht. Allein gewiß ist es noch benan, im fünften der sechs Mendelssohn-Häuser der Jä- nicht. Leben Sie recht wohl, liebster Freund! Und gerstraße, ein neues Bankhaus entsteht – zur Kutschremi- erinnern Sie sich manchmal Ihrer ruhigen Existenz se umgewidmet. Von hier aus fahren die Bankiers in ihre in Wien an unser [Ihr dortiges] Leben. Mit unwan- neuen Grunewaldvillen, zu den Schlössern bei Bernau. delbarer Hochachtung und Freundschaft der Ihrige 1938 wird die Mendelssohn-Bank, deren ökonomische Humboldt. Viele Empfehlungen an Ihre Schwester.“ Kraft mit der künstlerischen Fruchtbarkeit die wirtschaft- liche und kulturelle Bedeutung des Familien-Labels aus- Meine Damen und Herren, nicht der Sprach- und Bezie- machte, liquidiert. Zur DDR-Zeit dient dieser Raum als hungsforscher, sondern der Politiker Wilhelm von Hum- Autogarage; die Dokfilm-Abteilung der DEFA nutzt das boldt hat am Vorabend der Völkerschlacht diesen Brief Haus. Nach der Wende ist es, mitsamt der Aufstockung, an den 37jährigen Vater des späteren Komponisten Felix die nach dem Krieg stattgefunden hatte, restauiert wor- verfaßt. Bald darauf wendete sich die Weltgeschichte, Ab- den. Seit den Jüdischen Kulturtagen 2004 gibt es diese raham Mendelssohn muß nicht mehr vor Napoleon nach Ausstellung; das Geschichtsforum Jägerstraße, das sie seit Rußland fliehen; kann mit seiner Familie in der Markgra- 2006 als Dauerausstellung weiterentwickelte, hat sich im fenstraße 48 am Gendarmenmarkt bleiben; mit seinem vergangenen Jahr mit der 1967 gegründeten Mendelssohn- Bruder schließlich 1815 sein Bankgeschäft in dieses Haus Gesellschaft unter deren Namen zusammengeschlossen. Jägerstraße 51, zwischen zwei Staatsbanken verlegen, wo Unsere Veranstaltungen und Ausstellungen, Dokumen- es – mit Hilfe französischer Reparationszahlungen – zur tensammlung, Forschung und die Publikationen haben größten deutschen Privatbank expandiert. Daß ein Jahr den Zweck 1) die Erinnerung an den jüdisch-deutschen später, 1816, seine Kinder im Haus an der Markgrafenstra- Mikrokosmos der gesamten Mendelssohn-Familie, jene ße heimlich getauft werden, hat dann allerdings wieder et- Bankiers, Künstler und Gelehrten, die fünf Generationen was mit großer Politik zu tun: Mit dem Wiener Kongress deutsche Geschichte machten, vorzuantreiben; 2) damit und jener Restauration, die viele Emanzipations-Hoff- verbundene Berliner Topographien, gerade auch hier im nungen zunichte macht. Die Mendelssohn Bartholdys, Quartier der Mendelssohns, freizulegen; 3) das Thema wie sie sich später nennen, fliehen in die konfessionelle – „Bürgerliche Verantwortung gestern und heute“ – zu Assimilation; Wilhelm von Humboldt, der liberale Staats- reflektieren. mann, zieht sich mit 51 auf Schloß Tegel zurück. Für den Fall übrigens, daß jemand von Ihnen, neben Die Mendelssohn-Remise, in der wir uns befinden, seinem Wilhelm von Humboldt-Interesse, doch noch wurde in das barocke Stammhaus der Mendelssohn-Bank Ressourcen freihat: Mitarbeiter und finanzielle Unterstüt- Sexuologie 17 (3–4) 2010 163–164 / Akademie für Sexualmedizin http://www.sexualmedizin-akademie.de/sexuologie 164 Jahrestagung der Wilhelm v. Humboldt-Stiftung

zung kann unsere Geschichtswerkstatt, die nur durch eh- Karl Friedrich Zelters. Die Kantate beschwört die Einheit renamtliche Arbeit und Spenden getragen wird, auf allen divergierender Elemente, zu denen ja nicht nur die Ge- Ebenen gebrauchen. Zur Information über unsere Veran- schlechter oder wissenschaftliche Disziplinen gehören, staltungen können Sie sich gern draußen in unseren Ver- sondern auch – was in den besten Familien vorkommt teiler eintragen. Daß dort im Vorraum ab heute in dem – rivalisierende Brüder. „Jetzt wirken und schaffen ver- neu eröffneten Ausstellungsprolog die Einbindung der schwisterte Kräfte und bilden und bauen die herrliche Mendelssohn-Story in die Welt der Humboldts skizziert Welt,“ hoffte der Librettist Ludwig Rellstab. wird, ist nun eine großartige Erweiterung der Zeitreise, zu Die Humboldts und die Mendelssohns als Protago- der wir an diesem Ort einladen. nisten der Kulturpolitik, der Welterkundung, der Wis- Wir danken der Wilhelm von Humboldt-Stiftung für senschaft, des Finanzmarktes und der schönen Künste ihre Initiative. Wir freuen uns, daß Sie alle heute hier erinnern an eine Zeit, in der es gute Gründe gab, optimis- sind! Die Wiederaufführung der Kantate, die der Hörer tisch – realistisch – idealistisch zugleich zu sein. Wie zur der „Kosmos“-Vorlesungen Barthol- Unterstützung eines solchen Programms jene utopische dy zur Ehre des Familienfreundes Alexander von Hum- „unwandelbare Hochachtung und Freundschaft“ zu er- boldt beim Naturforscher-Kongress 1828 komponiert ringen wäre, die Wilhelm von Humboldt 1813 aus Teplitz hat, paßt zum joint venture unserer Zusammenkunft. Es seinem Mendelssohn versichert hat: das werden uns die ist zwar nicht, wie damals und wie angekündigt, die Sing- ungleichen Freunde hoffentlich noch nachvollziehbar Akademie, die heute singt, aber der Dirigent der Staats- verraten – oder: die Beiträge dieses Abends! Ihnen allen und Dom-Chor-Sänger, Kai-Uwe Jirka, steht als Direk- wünsche ich einen festlichen, erkenntnisreichen Abend in tor der Sing-Akademie in der apostolischen Sukzession der Mendelssohn-Remise.

Laudatio auf Jürgen Trabant anlässlich Fünfzig Jahre später schlug ich das Buch von Jürgen Trabant auf: Mithridates im Paradies. „Mein Motiv für das der Verleihung des Stiftungspreises der Schreiben des vorliegenden Buches“, las ich da, „ist meine Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung altmodische Liebe zu diesen schwindenden Oberflächen- Dingern, den Sprachen: l’amore delle lingue, wie die ita- lienischen Humanisten sagen, sozusagen eine unheilbare Peter Bieri ‚Philo-Logie‘“. Ich habe dieses Buch verschlungen, als läse ich es unmittelbar nach der ersten Griechisch-Stun- Verehrter, lieber Herr Trabant, verehrte Kollegen, meine de. Und ich habe, mit jedem Kapitel noch mehr, seinen Damen und Herren, Autor beneidet: um seine stupende Gelehrsamkeit, die ei- was mir stets von neuem in den Sinn kommt, wenn nen nie belästigt oder bedrängt, weil sie mit leichtfüßiger ich an den heutigen Preisträger denke, ist die Hand meines Selbstverständlichkeit und Unauffälligkeit daherkommt; Griechischlehrers, der langsam und mit kalligraphischer um seine enorme historische Übersicht, die in mir immer Sorgfalt die Worte τὸ δῶρον an die Tafel schrieb. Es wa- öfter die Frage entstehen ließ: wie, um Gottes willen, hat ren für mich die ersten griechischen Wörter, und es war er die Zeit gefunden, sich das alles anzueignen?; um die die erste Begegnung mit einem fremden Alphabet, um seltene Fähigkeit, die lange und komplizierte Geschichte das ich die Griechen noch heute beneide. der europäischen Sprachen und des Nachdenkens über Ich spürte in jenem Moment mit großer Klarheit, Sprache mit unerhörter gedanklicher Transparenz zu er- daß mir in Zukunft nichts wichtiger sein würde als frem- zählen. Und das Ganze eben im Tonfall von einem, der de Sprachen und fremde Schriften, und bald schon nahm Sprachen nicht studiert, um eine Karriere zu machen, ich mir vor, die Sprachen aller Länder zu lernen, die an sondern weil er sie liebt. Ein echter Wissenschaftler also. das Mittelmeer grenzen. Als der Lehrer von dieser Leiden- Auf der vorletzten Seite des Buches stehen Gedicht- schaft erfuhr, erzählte er mir von Mithridates, dem König zeilen von Paul Verlaine: Les sanglots longs / Des violons / von Pontus, der mindestens zweiundzwanzig Sprachen De l’automne/Blessent mon coeur / D’une languer / Mono- beherrschte und sich mit den Völkern seines Reiches in tone. „Obwohl es vielleicht Unsinn ist“, schreibt Trabant, der jeweiligen Sprache verständigen konnte. „daß die langen Schluchzer der Violinen des Herbstes Und er wies mich stolz auf den Schweizer Gelehrten mein Herz mit einer monotonen Wehmut verletzen, so Conrad Gesner hin, der 1555 unter dem Titel Mithridates ist dies doch in solcher Schönheit gesagt, daß man diese sive de differentiis linguarum eine Sprachenenzyklopädie Sprache einfach lernen muß.“ Als ich das las, war ich end- verfaßt hatte. gültig überzeugt, einen Sprachwissenschaftler gefunden Sexuologie 17 (3–4) 2010 164–165 / Akademie für Sexualmedizin http://www.sexualmedizin-akademie.de/sexuologie Verleihung des Stiftungspreises der Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung 2010 165 zu haben, wie ich ihn mir gewünscht hatte: einen, der die so kam es, daß er auch bei uns, im Institut für Philoso- Sprachen liebt, so wie ein Schriftsteller sie liebt. So einen phie, unterrichtet hat. Die Studenten mochten seine Le- zu finden, ist gar nicht leicht: Ich habe die Sprachwissen- bendigkeit und Leidenschaft, mit der er über die Dinge schaft aufgegeben, weil ich die Schönheit und Poesie der sprach. Das konnte ich nachfühlen, als ich unlängst einen Sprache darin zu verlieren drohte. Vortrag von ihm über Humboldt hörte. Ich saß da und All das wäre bereits Grund genug, Jürgen Trabant den dachte: Wenn ich jetzt zwanzig wäre, würde ich nur noch Preis zu verleihen. Doch es gibt noch viele andere Grün- bei diesem Mann studieren wollen. Es sind nicht so sehr de. Einer davon betrifft natürlich Wilhelm von Hum- bombastische Projekte und Drittmittel, die wir in den boldt. Einiges von ihm kannte ich vorher schon. Aber erst Geisteswissenschaften brauchen: Wir brauchen Leute wie durch die Bücher und sonstigen Schriften von Trabant Jürgen Trabant, die begeistern können. ist mir der Reichtum und die gedankliche Tiefe seines Statt der Dinge, von denen ich gesprochen habe, hätte Werkes deutlich geworden. Und das ist deshalb so, weil ich auch über Trabants glanzvolle Karriere sprechen kön- Trabant das Werk nicht einfach nacherzählt, sondern es nen: Tübingen, Bari, Rom, Hamburg, Stanford, Leipzig, gedanklich transparent macht, als sei es das eigene – eine Davis, Paris, Limoges, Budapest. Man fragt sich unwill- hermeneutische Leistung, wie sie nur selten gelingt. „Die kürlich: Ist der irgendwo nicht gewesen? Und die Leute, Sprache ist das bildende Organ des Gedankens“, schreibt die ihn beriefen, wußten, was sie taten. Als ich das Litera- Humboldt. In Apeliotes oder Der Sinn der Sprache, seinem turverzeichnis ausdruckte, machte der Drucker so lange Buch über Humboldt, entwickelt Trabant diese Idee so, weiter, daß ich schon dachte, er sei in eine endlose Wie- daß ihre bleibende Gültigkeit deutlich wird. Und auch in derholungsschleife geraten. den späteren Büchern kehrt die Idee wieder: Sprache als Jürgen Trabant ist ein glanzvoller Wissenschaftler Medium des Denkens; als der Prozeß, in dem die Welt in mit einer glanzvollen Karriere und einem beeindrucken- Gedanken gefaßt wird; als die Dimension, in der sich un- den Werk. Schließen möchte ich aber mit einem Erlebnis, sere Erfahrung artikuliert; als der entscheidende Beitrag das ich kürzlich mit ihm hatte und das mir noch wich- zu einer Lebensform. tiger ist als aller Glitter und Glamour. Ich hatte mit einer Herr Trabant ist diesen Themen stets von neuem französischen Übersetzung zu tun, bei der es darum ging, nachgegangen, und dabei ist eine historische Anthropo- das schweizerische Wort sich hintersinnen zu übersetzen logie der Sprache herausgekommen, in der die Menschen – ein Wort, das einen großen Ärger zum Ausdruck bringt, als sprechende Tiere von großer Plastizität und Wandel- den man über sich selbst haben kann wegen eines fol- barkeit verstanden werden. Die Geschlechtlichkeit dieser genreichen Versäumnisses. Wie er das übersetzen würde, Tiere reicht weit in ihre Sprache hinein, und Trabant hat fragte ich Herrn Trabant. Er kannte das Wort nicht, ver- auch diesem Gedanken Humboldts sein Gewicht zurück- stand es aber auf Anhieb, dachte einen Moment nach und gegeben. sagte dann: se ronger, eigentlich: an sich nagen. Der Ordi- Unser Preisträger ist nicht nur ein Linguist, ein em- narius für Französisch an der Universität Bern brauchte pirischer Sprachforscher. Er ist auch ein Philosoph der einen Tag, um darauf zu kommen. Sprache – einer also, der sich im logischen Raum der Ich war danach sehr stolz auf Jürgen Trabant und Überlegungen zur Sprache auskennt, die mit Platon be- stolz, daß ich die Laudatio auf einen solchen Mann halten ginnen und bis zu Wittgenstein und Derrida reichen. Und durfte. 166 Jahrestagung der Wilhelm v. Humboldt-Stiftung

Zweiheit in der Sprache

Jürgen Trabant

Sehr verehrter Herr Beier, meine Damen und Herren, bevor ich über die Zweiheit in der Sprache spreche, muss ich zwei Dinge sagen, also sprachliche Zweiheit performativ realisieren: Erstens möchte ich Ihnen sagen, wie sehr ich mich freue über den Humboldt-Preis, und zweitens, wie sehr ich mich freue, dass der bewunderte Philosoph und Schriftsteller Peter Bieri / Pascal Mercier mir die große Ehre erweist, mich ein bisschen zu loben.

Humboldt über die Zweiheit in der Sprache

Da Humboldt sich in seiner großen Akademierede über den Dualis von 1827 genau der Frage der Zweiheit in der Jürgen Trabant auf der Festveranstaltung am 22. Juni 2010 in Berlin Sprache angenommen hat, muss ich hier zunächst einiges von dem referieren, was Humboldt schreibt. Und Sie grammatische und lexikalische Inhalte in den Sprachen werden sehen, Humboldt hat schon das Wichtigste und der Welt behandelt werden. Ziel der zweiten Art von Un- Schönste gesagt. tersuchung ist es zu zeigen, „in welchem Umfang der Ver- Humboldt geht aus von der grammatischen Katego- schiedenheiten das Menschengeschlecht ... seine Sprache rie, die Zweiheit ausdrückt, vom Dualis. Manche Spra- bildet“ (IV: 11). Der Dualis-Aufsatz ist eine Studie dieser chen haben – beim Pronomen, beim Substantiv und zweiten Art, eine, die also den „Umfang der Verschie- beim Verb – nicht nur Singular und Plural, sondern noch denheiten“ illustriert. Solche vergleichenden Untersu- einen besonderen Numerus für zwei. Das Griechische chungen sind eine Kritik der alten philosophischen oder ist hierfür Humboldts Ausgangspunkt. Sie erinnern sich allgemeinen Grammatik, die auf sehr wenigen empi- vielleicht an das Lateinische ambo oder auch duo (wo das rischen Kenntnissen basierte und universelle Kategorien -o wohl der Rest eines früher auch im Lateinischen allge- präsupponierte, also etwa Tempus, Aktionsart, Numerus, mein funktionierenden Dualis ist). Humboldt durchfors- Genus. Mit den Untersuchungen durch alle Sprachen tet sein gesamtes sprachwissenschaftliches Wissen und hindurch werden diese Kategorien nun empirisch gefüllt zeigt, in welchen Sprachen diese grammatisch-morpho- und damit aus ihrer philosophischen Allgemeinheit in logische Kategorie vorkommt und wie sie dort realisiert die linguistische Konkretheit überführt. So manifestiert wird. Dann erwähnt er weitere sprachliche Gestaltungen der Gang durch die Sprachen der Welt eine Buntheit der von Zweiheit in anderen Bereichen der Sprache, z.B. im Kategorie „Dualis“, die weit über den griechischen Dual, Wortschatz: paarweise vorkommende Körperteile, Tag die lateinischen Dualis-Reste oder über einen abstrak- und Nacht usw. Und schließlich behandelt er die Zwei- ten Begriff mathematischer Zweiheit hinausgeht, eben heit im Wesen der Sprache überhaupt oder – wie er sagt „in welchem Umfang der Verschiedenheiten“ das Men- – in der „Wechselrede“. schengeschlecht in seinen vielen Sprachen die Idee der Bevor ich auf diese zu sprechen komme, möchte ich Zweiheit grammatisch und lexikalisch implementiert. auf Humboldts Begründung einer solchen Studie hin- Die Art und Weise, wie sich das konkret Empirische weisen. Der Dualis-Aufsatz ist ein Muster für eine be- und das Allgemeine hier verbinden, zeigt nun des wei- stimmte Art von sprachvergleichenden Studien, wie teren, wie Humboldt sich überhaupt die Verbindung Humboldt sie in seiner ersten Akademie-Rede 1820 ent- zweier Größen vorstellt. Er unterscheidet generell drei wirft. In dieser Rede über das vergleichende Sprachstudi- Möglichkeiten der Begegnung zweier Wesen: 1. die Iso- um fordert Humboldt zwei Arten von Studien: einerseits lierung, 2. die Verschmelzung oder Einverleibung und 3. wünscht er sich „Monographien der ganzen Sprachen“, die Synthese. Er trifft diese Unterscheidung zunächst als also synchronische Beschreibungen aller Sprachen der der politische Denker, der er ja am Anfang hauptsäch- Welt. Andererseits müsse man „einzelne Theile des lich ist. Für diesen stellt sich nämlich die Frage, wie sich Sprachbaues ... durch alle Sprachen der Welt hindurch“ gesellschaftliches Dasein organisiert. Zwar ist nach der (IV: 11) untersuchen, also vergleichen, wie bestimmte berühmten Formel Humboldts der Zweck des Menschen Sexuologie 17 (3–4) 2010 166–169 / Akademie für Sexualmedizin http://www.sexualmedizin-akademie.de/sexuologie Verleihung des Stiftungspreises der Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung 2010 167

„die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Lassen wir das ruhig auf uns wirken: „eine wichtigere Kräfte zu einem Ganzen“ (I: 107), also die Bildung des Stelle als irgendwo sonst“! Das heißt nirgendwo sonst in Individuums. Diese Bildung aber kann der Einzelne nur der Welt ist Zweiheit so wichtig, so fundamental, so basal gesellschaftlich, also zusammen mit anderen realisieren. wie in der Sprache. Humboldt erläutert den Satz zunächst Wie soll nun diese Verbindung von A und B aussehen? folgendermaßen: Wenn die beiden Größen nebeneinander stehen bleiben, wenn A und B sich nicht berühren, bleiben sie verinselt: „Alles Sprechen beruht auf der Wechselrede, in der, Isolierung. Zweitens kann A mit B verschmelzen, indem auch unter Mehreren, der Redende die Angeredeten er sich B einverleibt. Bei der Einverleibung verschwindet immer sich als Einheit gegenüberstellt.“ (ebd.) B sozusagen in A, die Begegnung von zweien vollzieht sich auf Kosten der Existenz eines der Beteiligten. Hum- Der Redende: Ich – die Angeredeten: Du. Diese Ich-und- boldts politisches Beispiel hierfür ist die Unterjochung Du-Zweiheit liegt allem Sprechen zugrunde. und Ausrottung der amerikanischen Indianer durch die An dieser Stelle, wo die „Zweiheit der Wechselrede“ Spanier. Bei der Synthese dagegen berühren sich A und B als Fundament der Sprache besprochen wird, ruft Hum- tief, bleiben aber jeweils als solche vorhanden und schaf- boldt nun 1827 den Geschlechtsunterschied – nach lan- fen in ihrer Begegnung etwas Neues. Während das Modell ger Zeit – ausdrücklich auf: für die Einverleibung das Essen ist, ist das Modell für die Synthese die Liebe bzw. die geschlechtliche Vereinigung. „Der in seiner allgemeinsten und geistigsten Gestal- Humboldt ist ein Denker der Synthese. Insofern ist tung aufgefasste Geschlechtsunterschied führt das es auch richtig, dass die Humboldt-Gesellschaft so stark Bewusstseyn einer, nur durch gegenseitige Ergänzung auf Humboldts Sexual-Theorie abhebt, die er in jungen zu heilenden Einseitigkeit durch alle Beziehungen des Jahren 1795 entwickelt. Synthesis ist das Verfahren, nach menschlichen Denkens und Empfindens hindurch.“ dem jede gelungene Kreativität in der Welt funktioniert. (VI: 25) Die Einverleibung ermöglicht ja nur das Weiterleben des siegreichen Einverleibers, die Synthese dagegen schafft in Dass und wie der Geschlechtsunterschied gerade hier der Vereinigung etwas Neues, ein neues Geschöpf. evoziert wird, zeigt, dass Humboldt seine alte Geschlech- Mit dieser methodischen Trias sind wir sozusagen bei terauffassung nicht vergessen hat. Was er hier schreibt, Humboldts allertiefsten Überlegungen zur Zweiheit an- entspricht ganz genau dem, was er 1795 in seinem Auf- gelangt, zur Zweiheit nicht nur in der Sprache, sondern satz über den Geschlechtsunterschied gesagt hatte. Genau in der Welt: Die Natur selbst basiert auf der synthetischen wie damals, als er den Gedanken den „feinsten und letz- Begegnung zweier entgegengesetzter Kräfte. Und, gleich ten Sprössling der Sinnlichkeit“ genannt hatte (I: 316), als ob Humboldt über Politisches oder Linguistisches nach- er dem Denken die körperlichen Kräfte der Sexualität zu- denkt, die synthetische Verbindung von zweien ist immer grundegelegt hatte, legt er sie hier der Sprache zugrunde. die von ihm präferierte bei dieser dreifachen Möglichkeit Sie wissen, dass Kant 1795 auf Humboldts Aufsatz in der Zweier-Verbindung. einem Brief an Schiller vernichtend reagiert hatte. Kant Ich komme zurück zum Dualis-Aufsatz. Humboldts hatte Humboldts Überlegungen einen „Abgrund des tiefste und wichtigste Einsicht in die Zweiheit in der Denkens“ genannt – und damit Humboldts Geschlech- Sprache ist die Verankerung der Sprache in der „Wech- tertheorie in den Abgrund gestürzt. Humboldt selbst hat, selrede“: Hier geht es nicht mehr um grammatische oder soweit ich sehe, nach dem Verdikt des Meisters seit 1795 lexikalische Erscheinungen (Numerus, Genus usw.) in nichts mehr über den Geschlechtsunterschied gesagt. bestimmten Einzelsprachen – langues -, sondern um eine Dreißig Jahre später taucht er hier aber wieder auf. Hum- fundamentale Präsenz von Zweiheit in Sprache überhaupt boldt hat also in Wirklichkeit nichts von dem vergessen – langage – also auf der universellen Ebene von Sprache. oder aufgegeben, worüber der Magister Germaniens ein Gegen Ende des Dualis-Aufsatzes beginnt die berühmte Denkverbot auferlegt hatte: Mitten in seinen philoso- Passage über die der Sprache wesentliche „Zweiheit der phischen Erörterungen zum Wesen der Sprache ruft er Wechselrede“ mit folgendem Satz: die sexuellen Grundlagen dieses hochgeistigen Gesche- hens in Erinnerung und unterlegt damit seiner scheinbar „Besonders entscheidend für die Sprache ist es, dass höchst idealistischen Sprach-Konstruktion die basalen die Zweiheit in ihr eine wichtigere Stelle, als irgend- Fakten des Körpers. wo sonst, einnimmt.“ (VI: 24) „The body in the mind“ ist nicht erst eine Erfindung moderner kalifornischer Philosophen. Humboldt er- innert an dieser Stelle nämlich zunächst daran, dass die „bilaterale Symmetrie der Menschen- und Thierkörper in 168 Jahrestagung der Wilhelm v. Humboldt-Stiftung

die Phantasie und das Gefühl eingeht“ (IV: 25). Und dann eine nothwendige Bedingung des Denkens des Ein- legt er in einem einzigen Satz seine Geschlechtstheorie der zelnen in abgeschlossener Einsamkeit.“ (VII: 55) Zweiheit der Wechselrede zugrunde. Die Sprache basiert auf dieser tiefen psychischen Erfahrung geschlechtlicher Aber an diesen Satz schließt sich im Kawi-Werk unmit- Kräfte: Noch einmal: telbar der Gedanke an, dass sich die Sprache tatsächlich nur gesellschaftlich, also zu zweit, entwickelt. „Der in seiner allgemeinsten und geistigsten Gestal- Hier im „Dualis“ geht Humboldt einmal umgekehrt tung aufgefasste Geschlechtsunterschied führt das vor und stellt die „Zweiheit der Wechselrede“ vor die Bewusstseyn einer, nur durch gegenseitige Ergänzung denkende Aneignung der Welt, vor die Bildung des „Be- zu heilenden Einseitigkeit durch alle Beziehungen des griffs“, die aber sogleich wieder in die Dualität von Ich menschlichen Denkens und Empfindens hindurch.“ und Du hineingestellt wird: (VI: 25) „Er [der Begriff] wird erzeugt, indem er sich aus der Das sexuell bedingte „Bewußtsein einer nur durch gegen- bewegten Masse des Vorstellens losreisst, und, dem seitige Ergänzung zu heilende Einseitigkeit“ liegt allem Subject gegenüber, zum Object bildet. Die Objectivi- menschlichen Denken und Empfinden zugrunde. Es liegt tät erscheint aber noch vollendeter, wenn diese Spal- daher eben auch der Sprache zugrunde. Nach dieser Evo- tung nicht in dem Subject allein vorgeht, sondern kation der sexuellen Basis der Sprache fasst Humboldt der Vorstellende den Gedanken wirklich ausser sich die basale Zweiheit der Sprache schließlich in der Rede- erblickt, was nur in einem andren, gleich ihm vorstel- weise der Transzendental-Philosophie in der berühmten lenden und denkenden Wesen möglich ist. Zwischen Passage über den unabänderlichen Dualismus: Denkkraft und Denkkraft aber giebt es keine andre Vermittlerin, als die Sprache.“ (VI: 26) „Es liegt aber in dem ursprünglichen Wesen der Sprache ein unabänderlicher Dualismus, und die Soweit Humboldt. Es ließen sich natürlich noch viele Möglichkeit des Sprechens selbst wird durch Anrede weitere Zweiheiten in der Sprache aufzeigen. Wenn man und Erwiederung bedingt. Schon das Denken ist we- einmal beginnt, über die Zweiheit in der Sprache nach- sentlich von Neigung zu gesellschaftlichem Daseyn zudenken, ist fast alles in ihr binär. Doch meine Redezeit begleitet, und der Mensch sehnt sich, abgesehen von ist fast aufgebraucht. Eine zweite fundamentale Zweiheit allen körperlichen und Empfindungs-Beziehungen, der Sprache muss aber noch kurz behandelt werden, die auch zum Behuf seines blossen Denkens, nach einem sogenannte zweifache Gliederung. dem Ich entsprechenden Du; der Begriff scheint ihm erst seine Bestimmtheit und Gewissheit durch das Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft zu er- Zweifache Gliederung reichen.“ (VI: 26) Als das strukturelle Grundprinzip von Sprache hat der Die zentrale Aussage dieser Passage ist, dass sich das Ich französische Sprachwissenschaftler André Martinet die bei seinem Denken, also bei der geistigen Aneignung der sogenannte „double articulation“ – die zweifache Gliede- Welt, immer nach dem Du „sehnt“. Anders gesagt, das rung – betrachtet. Gemeint ist damit die folgende struk- „Bewusstsein einer nur durch gegenseitige Ergänzung turelle Eigenschaft aller Sprachen: Einerseits „gliedern“ zu heilenden Einseitigkeit“ liegt allem Denken zugrun- die Sprachen die Welt, d.h. sie schaffen geistige Einheiten de. Humboldts kognitive Sprachauffassung macht ja zu- in jener Arbeit des Geistes, die wir gerade evoziert haben: nächst – gegen die auch zu seiner Zeit vorherrschende Die Sprachen schaffen semantische Einheiten. Diese sind platt kommunikative Sprachauffassung – die Sprache als immer verbunden mit lautlichen Sequenzen. Der Inhalt Denk-Organ stark: „das bildende Organ des Gedanken“ „Hund“ oder „neu“ oder „Plural“ oder „Imperfekt“ wird (VII: 53), die „Arbeit des Geistes“ (VII: 46). Humboldt nicht ohne Wort oder Morphem gedacht, sondern ist konstruiert Sprache fast immer zunächst als Welt-Erfas- immer zusammen mit bestimmten Lauten in der Spra- sung des Subjekts. Man kann daher sogar den Eindruck che gestaltet: eben in der Lautsequenz hunt, neu, oder – e gewinnen, Sprache sei nur Weltgestaltung des einsamen in hund-e, als Ablaut in singen – sang, in -te in er sieg- Subjekts. Humboldt sagt das an einer Stelle – so wie Her- te. Diese Einteilung der Welt in phonetico-semantische der – auch einmal ausdrücklich: sprachliche Größen nennt Martinet die erste Gliederung, „première articulation“. „Ohne daher irgend auf die Mittheilung zwischen Die lautlichen Sequenzen sind nun ihrerseits so ge- Menschen und Menschen zu sehn, ist das Sprechen staltet, dass sie aus kleinen unterscheidbaren Lautbewe- Verleihung des Stiftungspreises der Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung 2010 169 gungen zusammengesetzt sind, aus Sprachlauten, die die In der Formulierung der ersten Akademierede von 1820 Linguistik „Phoneme“ nennt. In der Sequenz hunt unter- liest sich das folgendermaßen: scheiden wir die Phoneme h – u – n – t. Wir wissen dass /h/ ein solches Stück Laut ist, weil wir statt /h/ auch /r/ sa- „Es vereinigen sich also im Menschen zwei Gebiete, gen können und dann ein anderes Wort erhalten: runt. / welche der Theilung bis auf eine übersehbare Zahl u/ können wir durch /a/ ersetzen und erhalten hant. Auch fester Elemente, der Verbindung dieser aber bis ins das /n/ können wir ersetzen, z.B durch /l/ und erhalten Unendliche fähig sind [...]. Der Mensch besitzt die hult (Huld). Und so weiter. Dieses Zusammengesetz- Kraft, diese Gebiete zu theilen, geistig durch Refle- sein der sprachlichen Sequenzen aus Phonemen nennen xion, körperlich durch Articulation, und ihre Theile wir die zweite Artikulation oder zweite Gliederung. Alle wieder zu verbinden, geistig durch die Synthesis des Sprachen sind zweifach gegliedert. Die doppelte Gliede- Verstandes, körperlich durch den Accent, welcher rung ist ein strukturelles Universale aller Sprachen. die Silben zum Worte, und die Worte zur Rede ver- Diese Zweiheit in der Sprache, die phonetische und eint.“ (IV: 4) die semantische Gliederung, ist natürlich nicht von Mar- tinet entdeckt worden. Martinet bezieht sich seinerseits Dies ist, philosophisch formuliert, die grundlegende vor allem auf den dänischen Linguisten Louis Hjelmslev strukturelle Zweiheit der Artikulation, die in den zwei und auf den großen Schweizer Gründervater der mo- Gebieten – Laut und Geist – ein Prinzip walten lässt: Tei- dernen Sprachwissenschaft Ferdinand de Saussure. Aber len und Verbinden. d.h. Gliedern. Wobei das Verbinden der erste, der diese grundlegende strukturelle Zweiheit des Geteilten im übrigen wieder nach dem Prinzip der der Sprache klar gesehen hat, war natürlich Humboldt. Synthesis erfolgt. Alles Geteilte ist in der gliedernden Humboldt ist der vor-strukturalistische Theoretiker der Sprache synthetisch miteinander verbunden: Zweiheit Artikulation. der Sprache. Das Teilen würde uns nun in ein weiteres Niemand hat vor Humboldt in solcher Konsequenz Gebiet sprachlicher Zweiheiten führen, nämlich zu der formuliert, dass Artikulation das Wesen der Sprache ist Tatsache, dass die so geteilten sprachlichen Einheiten und dass es sich um eine zweifache Artikulation handelt. durch Oppositionen unterschieden sind, die oft binär or- In der Akademie-Rede über die Buchstabenschrift ganisiert sind. Aber für dieser Zweiheit, mit der sich die von 1824 entwickelt Humboldt seine Theorie der Arti- moderne Phonologie ausführlich beschäftigt hat, habe kulation. Das Prinzip der Gliederung durchzieht die gan- ich nun definitiv keine Zeit mehr. ze Sprache, den Laut und den Inhalt. Einerseits haben Daher schließe ich – indem ich meinen doppelten wir die „Spaltung des verbundnen Lauts“ (V: 114). An- Dank an die Humboldt-Gesellschaft und Peter Bieri zum dererseits aber ist Artikulation nicht nur das Prinzip des zweiten Mal artikuliere – mit Humboldts Worten aus Lautes, sondern auch das Prinzip des semantischen Teils dem „Dualis“, in denen er die Wirkung der Zweiheit der der Sprache: Wechselrede – und damit den Grund meiner Dankbar- keit – so wunderbar zusammenfasst: „Die Gliederung ist aber gerade das Wesen der Spra- che; es ist nichts in ihr, das nicht Theil und Ganzes „Erst durch die, vermittelst der Sprache bewirkte seyn könnte, die Wirkung ihres beständigen Ge- Verbindung eines Andren mit dem Ich entstehen schäfts beruht auf der Leichtigkeit, Genauigkeit und nun alle, den ganzen Menschen anregenden, tieferen Uebereinstimmung ihrer Trennungen und Zusam- und edleren Gefühle, welche in Freundschaft, Liebe mensetzungen. Der Begriff der Gliederung ist ihre und jeder geistigen Gemeinschaft die Verbindung logische Function, so wie die des Denkens selbst.“ zwischen Zweien zu der höchsten und innigsten ma- (V: 122). chen.“ (VI: 26) 170 Jahrestagung der Wilhelm v. Humboldt-Stiftung

Laudatio auf Heino Meyer-Bahlburg anläss- Männlichkeit ist dann „Vermögen“, „Kraft des Le- bens“, „Stärke“ „selbsttätige Vernunft“, „mehr Tiefe“ lich der Verleihung des Stiftungspreises der – mithin Verstand. Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung Weiblichkeit ist demgegenüber „überströmende Fülle“, „Fülle des Stoffes“, „Übergewicht der Phantasie“, „mehr üppige Fülle und reizende Anmut“ – vulgo Sinne: Hartmut A.G. Bosinski „Der ganze Charakter des männlichen Ge- Meine sehr geehrten Damen und Herren, lieber Heino, schlechts ist auf Energie gerichtet; dahin zielt ich habe die Ehre und das Vergnügen, die Laudatio auf seine Kraft, seine zerstörerische Heftigkeit, sein Heino Meyer-Bahlburg zu halten, auf einen Mann, dem Streben nach Außenwirkung, seine Rastlosig- nicht nur ich, sondern die gesamte sexualmedizinische keit. Dagegen geht die Stimmung des weiblichen, Community viel zu verdanken hat. seine ausdauernde Stärke, seine Neigung zur Ver- Ich will zunächst kursorisch darauf eingehen, was der bindung, sein Hang die Einwirkung zu erwidern Namensgeber der Stiftung, was Wilhelm von Humboldt und seine holde Stätigkeit allein auf Erhaltung zum Thema Geschlechtlichkeit und Geschlechtsunter- und Daseyn.“ schiede sagte, um dann nach dem etwaigen Zusammen- hang zum Werk des Laureaten zu fragen. Neu daran ist das Abgehen von der misogynen Tradition, Wilhelm von Humboldt hat bekanntlich 1794 und die Frau als Quelle der Erbsünde schlechthin, als Hort des 1795 – mithin im Alter von 27 / 28 Jahren – in den Ho- Bösen; statt Geschlechterkampf vielmehr Komplementa- ren zwei Abhandlungen publiziert, in denen er hoffte, rität und Ergänzung. von der Deutung der Geschlechtsunterschiede her dem Geschlechtsunterschiede werden indes postuliert und Geheimnis des menschlichen Charakters näher zu kom- als polare Dichotomien gedeutet. Die Weiterungen eines men: „Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss solchen Denkens über „naturgegebene“ Unterschiede in auf die organische Natur“ (1794) und „Über die männliche Fühlen, Denken und Handeln der Geschlechter, deren und weibliche Form“ (1795). Folgt man Barbara Becker- Naturgegebenheit empirisch nicht geprüft, sondern Cantarino, so firmierten diese Arbeiten innerhalb des schlichtweg „aus der reinen Anschauung“ postuliert wird, Schillerschen Zirkels nur als jene „Über die Weiber“ und sind ja durchaus nicht unproblematisch. Schon bei Hegel es ist bekannt, wie Immanuel Kant die Sache aufgenom- in seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaft men hat: Als „Abgrund des Denkens für die menschliche (1830) treibt die Komplementarität merkwürdige Blü- Vernunft“. ten: In seiner Arbeit „Über den Geschlechtsunterschied“ schreibt Humboldt: „Dem weiblichen Uterus entspricht im Manne die Prostata; der Uterus sinkt im Manne zur Drüse, „Die zeugende Kraft ist mehr zur Einwirkung, die zur gleichgültigen Allgemeinheit herunter. ... empfangende mehr zur Rückwirkung gestimmt. Wie im Manne der Uterus zur bloßen Drüse her- Was von der ersten belebt wird, nennen wir männ- absinkt, so bleibt dagegen der männliche Testikel lich, was die letztere beseelt, weiblich. Alles beim Weibe im Eierstocke eingeschlossen, tritt Männliche zeigt mehr Selbstthätigkeit, alles nicht heraus in den Gegensatz, wird nicht für Weibliche mehr leidende Empfänglichkeit“ sich, zum tätigen Gehirn und der Kitzler ist das „Wir sehen im Menschen immer Selbst- untätige Gefühl überhaupt!“ thätigkeit und Empfänglichkeit einander gegen- seitig entsprechen“ (ebd.) Dieses Denken in vermeintlich „naturgegebenen“ Unter- „So befriedigt die eine Kraft die Sehnsucht schieden, bei Humboldt noch romantisch als Ergänzung der anderen und beide umschlingen einander zu und mithin positiv gedacht, geht dann weiter zum 1900 er- einem harmonischen Ganzen.“ schienenen Pamphlet des Neuropsychiaters Möbius „Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes“ (wo es um die Humboldt entwirft somit ein Modell des Zueinanders der Begründung weiblicher Minderwertigkeit qua kleinerem Geschlechter, das wir heute mit dem Begriff der „Kom- Gehirn geht) bis hin zu dem 1903 erschienenen „Geschlecht plementarität“ beschreiben würden – Männliches und und Charakter“ des Otto Weininger, wo dann die Mi- Weibliches ergänzen sich, sind nicht einander unter- oder sogynie – via postulierte „naturgegebene Passivität“ und übergeordnet, sondern aufeinander angelegt. somit jenseits der biologischen Reproduktion „schlichte Nutzlosigkeit des Weibes“ unter dem Effizienzgebot in- Sexuologie 17 (3–4) 2010 170–172 / Akademie für Sexualmedizin http://www.sexualmedizin-akademie.de/sexuologie Verleihung des Stiftungspreises der Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung 2010 171 dustriekapitalistischer Profitmaximierung – fröhlich Ur- cher nicht. Blieb vielleicht nur der Weg in die USA? Es ständ feiert. wäre vielleicht eine interessante Frage an die Kulturge- Was hat all das mit Heino Meyer-Bahlburg zu tun? schichte, ob es diese Bewegung, weg aus den Landen des Furchtbar einfach: Sein wissenschaftliches Werk ist durch- Morbus teutonicus mit seinen verkarsteten Barrieren und zogen von genau dieser Frage: Was wissen wir wirklich ideologischen Niggeligkeiten, die unser Fach, die Sexual- über die Biologie der Geschlechter und deren Einfluss auf medizin, hierzulande bis heute beeinträchtigt haben, hin Denken, Fühlen und Verhalten? Gibt es irgendwelche Evi- ins Offene der flachen Hierarchien, der effizienten Koop- denz für die postulierte „Naturgegebenheit“ einer eben- eration entlang des Gegenstandes und nicht entlang der so behaupteten Differenz, ja, gibt es überhaupt die Dif- Fakultätsgrenzen – ob diese räumliche und inhaltliche ferenz? Oder, um es in einer typisch heinesken Frage zu Absetzbewegung ein bislang vielleicht übersehener Zug formulieren: „Nice story-telling – could you please show der 68er Generation war. Zumindest eine weitere Person me your data?“ ist mir bekannt, die auch diese Bewegung vollzog und mit Aber der Reihe nach: Geboren und aufgewachsen in der Heino Meyer-Bahlburg in der Folgezeit und bis heute Hamburg – die Annalen verzeichnen das Abitur an der eng zusammenarbeitet – Anke Ehrhardt. Gelehrtenschule des Johanneums mit einem „Preis für ex- In Buffalo, wo es ihn bis 1977 hält, folgen dann Schlag zellente Leistungen in Latein und Griechisch“, womit wir auf Schlag die Publikationen, für die er bekannt geworden dann auch die europäische Begründung und Konstante ist in der Community: Wegen ihrer methodischen Exaktheit, des Arbeitens des nunmehrigen US-Bürgers benannt hät- ihrer steten Orientierung an Maß und Zahl, und nicht zu- ten – belegt er 1960 bis 1966 das Studium der Psycholo- letzt ihrem Versuch, sich der Komplexität des nun wirklich gie in Hamburg. Ich habe mich in Vorbereitung auf diese „Biopsychosozialen“ anzunähern: Sie drehen sich zunächst Laudatio kurz gefragt, warum er wohl Psychologie studi- im Wesentlichen um die Frage des Zusammenspiels von ert haben könnte. Rasch fielen mir dann Beobachtungen Hormonen und psychosozialen Bedingungen auf die Ent- ein: Die studentische Kellnerin aus Polen beim Mexikaner wicklung von Fühlen und Verhalten. Es ist unmöglich, die im New Yorker Greenwich Village, der indische Taxifahrer Fülle seiner insgesamt ca. 140 peer-reviewten Zeitschriften- in Central Manhattan, der britische Besucher im Glo- artikel, seiner 50 Buchbeiträge und zahlreichen Monogra- bushaus des Schlosses Gottorf – Heino fragte sie alle nach phien hier zu referieren. Zentral dabei immer wieder die dem Woher und nach dem Wie; er schließt Menschen auf, Frage nach dem Zusammenhang aktueller und vor allem nie aufdringlich, sondern ernsthaft interessiert: Da will pränataler Hormonwirkungen auf das geschlechtliche und jemand wirklich wissen, was die Menschen antreibt. sexuelle Verhalten. Assistenz und Promotion dann 1970 an der Univer- Er untersucht und belegt dies Zusammenspiel sität Düsseldorf beim damaligen „Methodenpabst“ der zwischen Natur und Kultur, Nature and Nurture, anhand modernen Psychologie, Lienert. Der Titel der Arbeit weist bis heute maßstabsetzender Nachuntersuchungen von die Richtung des weiteren Arbeitens: Menschen, die pränatal abweichenden Spiegeln von Se- „Katecholaminausscheidung unter Aktivierungs- und xualhormonen ausgesetzt waren – sei es aufgrund prä- Entspannungsbedingungen in Beziehung zu Persönlich- nataler Medikationen wie dem Diethylstilbestrol, sei es keits- und Leistungsvariablen.“ – also Biologie im Zusam- aufgrund von Störungen der adrenalen Steroidbiosyn- menspiel mit Psychosozialem. these, also beim Adrenogenitalen Syndrom. Hierzu legt er 1970 dann der Gang über den Großen Teich und maßgebliche Arbeiten vor, die eben zeigen, dass die Dinge Beginn an der State University of New York in Buffalo. nicht so einfach sind, dass Biologisches sich eben nicht Als Research Assistent Professor im Department of Psy- eins zu eins in Psychosozialem manifestiert und ummün- chology und – in Pediatrics! Wie niedrig dort die Zäune zen lässt. So wird er später überzeugend demonstrieren, sind zwischen den hier bei uns so oft klar abgegrenzten dass die Größe des Gendefektes beim AGS – und damit Fakultäten! Vielleicht war das der Grund für den Wech- die Höhe des pränatalen Androgenexzesses – bei Mäd- sel? chen und Frauen zwar deren geschlechtstypisches Ver- Vergegenwärtigen wir uns: Der Laureat studierte in halten beeinflusst, aber eben nicht automatisch zugleich Deutschland zur Zeit der Studentenunruhen. Ich glaube zu einer Maskulinisierung der Geschlechtsidentität – ei- zu wissen, dass er mit dem Muff der 1000 Jahre unter den nem sehr viel komplexeren Topos – führt. Talaren seine ganz erheblichen Schwierigkeiten gehabt 1977 dann der Wechsel an die Columbia-University haben dürfte. Postulierte Autorität, begründet einzig auf in New York City. Dort beschäftigt er sich zwar weiter der Position, dysfunktionale Hierarchien, Machtgepränge mit der Psychoneuroendocrinologie der Geschlechter als Anspruch – all dies dürfte ihm wohl ein Graus gewe- – eine Arbeit, die allein schon den ganzen Einsatz fordert. sen sein. Aber auch lärmender Krawall, Phrasendrescherei Er stellt sich aber auch den neuen Herausforderungen, und hohle Pose des Salonrevoluzzers sind seine Sache si- die die HIV-Pandemie mit sich bringt. Am HIV Cen- 172 Jahrestagung der Wilhelm v. Humboldt-Stiftung

ter for Clinical and Behavioral Studies, dessen Associate Director er ist, untersucht er für die AIDS-Prävention hochrelevante Fragen. In den 90er Jahren stellt er sich als einer der Ersten der berechtigten Kritik von Menschen mit Störungen der somatosexuellen Differenzierung, also mit Intersex-Syndromen, an den Ungereimtheiten ihrer Behandlung. Auch hier fragt er abwägend, „What are the data“? Er untersucht Patienten, die verschiedenen Behan- dlungsszenarien unterworfen waren, belegt die Defizite ihrer Versorgung, zeigt aber auch, dass Radikalforderun- gen – etwa nach einem generellen Operationsmorato- rium für Kinder mit einem ambivalenten Genitalbefund – empirisch nicht begründet sind. Daneben forscht er zu Geschlechtsidentitätsstörungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter, arbeitet in die- sem Bereich auch klinisch, leitet die entsprechenden Sub- committees der APA zur DSM-Revision, setzt auch hier Maßstäbe für die empirische Fundierung eines klinischen Themengebietes, ist aktiv in der Lehre – schon 1978 bietet er „Courses in Human Sexual Disorders“ an, wirbt Grants in Höhe von Millionen ein, fördert den wissenschaftlichen Nachwuchs in einer selten engagierten Art. Ein solches Pensum ließe erwarten, dass da jemand gänzlich von seiner Arbeit ausgefüllt ist, nichts anderes mehr im Blick haben kann. Und muss dann erstaunt fest- stellen, dass dieser Mann die Kultur, insbesondere seiner neuen Heimatstadt – New York City, was sonst – frappie- rend überschaut: Ein Gang mit ihm durch Harlem wird zum Ereignis – nicht nur, weil das damals, im Winter 1993, noch einem Gang über vermintes Gelände glich und Heino mir wohlweislich ein Paar Hosen borgte, wissend, dass meine Kluft dem Orte und dem dortigen Publikum wohl nicht angemessen wäre. Nein, es wird eine Führung durch die Kultur- und Sozialgeschichte eines Stadtteils und seiner Bewohner, an Orte, die diese Migrationsge- schichte wie in einem Brennglas fokussieren. Ein ebenso aufmerksamer Gastgeber wie beobachtender Reisender – auch das ist Heino Meyer-Bahlburg. Damit gesellt sich zur wissenschaftlichen Akribie ein Zug wohlwollender, stets interessierter Mitmenschlichkeit, und auch das ent- spricht ja dem Humboldt´schen Ideal. Dass diese äußerst angenehme Kombination begleitet ist von einer stupenden Bescheidenheit, von einer nach- geraden Aversion gegen aufgeblasenes Selbstüberschät- zen, ein Zurücknehmen des Ichs hinter den Gegenstand, soll am Ende nicht unerwähnt bleiben: Als er erfuhr, dass ich für die heutige Laudatio auserkoren wurde (wofür ich dem Veranstalter hier nachdrücklich Dank sagen will), sandte er mir folgende Email: „Ich hoffe, Du haeltst die Laudatio knapp – wir sind beide Norddeutsche“. Ich hoffe, ich habe deine Erwartungen, lieber Heino, nicht allzu sehr enttäuscht, und danke Ihnen allen für Ihre Aufmerksamkeit. Verleihung des Stiftungspreises der Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung 2010 173

Die Zweiheit im Geschlecht?

Heino F. L. Meyer-Bahlburg

Ich möchte der Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung meinen Dank aussprechen für ihren Preis, und Herrn Bosinski für seine Laudatio – meine Eltern würden mich allerdings warnen, mir seine freundlichen Worte nicht zu Kopf stei- gen zu lassen. Den Wilhelm-von-Humboldt-Preis zu erhalten, be- deutet mir viel. Abgesehen von der impliziten Anerken- nung meiner Forschungsarbeit durch meine sexualwis- senschaftlichen peers, schwingen viele Assoziationen mit – über einem basso ostinato der griechischen Antike: Wil- helm von Humboldts Humanismus war in ihr ge­­gründet; sie war zu einem wichtigen Teil Bezugspunkt für die Aus- bildung und Philosophie der Väter der amerikanischen Revolution und der Verfassung, für die klassizistische Architektur in Berlin wie auch in Washington, D.C., und nicht zuletzt auch für meine eigene Ausbildung an einem Heino F. L. Meyer-Bahlburg auf der Festveranstaltung am 22. Juni 2010 in Berlin klassischen Gymnasium in Hamburg. Zudem gibt diese historische Verankerung des Preises einen Anlass, gegen- wärtige Fragen der Sexualwissenschaft und von ihr be- heute sagen würden) der beiden Geschlechter, die die einflusster Politik-Entwicklungen von einer historischen Fortpflanzung der Gattung ermöglicht. Nach von Hum- Perspektive aus zu betrachten. boldt ist Männlichkeit charakterisiert durch Selbstthätig- Ich wurde gebeten, im Anschluss an Herrn Trabants keit, Kraft, Feuer, Lebhaftigkeit, usw., Weiblichkeit durch Ausführungen zur „Zweiheit in der Sprache“ das Thema leidende Empfänglichkeit, Haltung, Wärme, Innigkeit, „Die Zweiheit im Geschlecht“ anzusprechen. Für mich als usw. (siehe Appendix 1). Für unsere Ohren hören sich Sexualwissenschaftler und -kliniker enthält dieser Titel von Humboldts Beschreibungen des Männlichen und mehrere mögliche Ansatzpunkte für Kommentare: z.B. die Weiblichen wie traditionelle Stereotype an und scheinen Anwendung des dialogischen Dualis-Konzepts von von männliche Vorurteile – oder die Vorurteile einer patriar- Humboldt (1907) auf die psychologische Dynamik der chalisch strukturierten Gesellschaft – zu reflektieren, von sexuellen Paarbeziehung, oder eine Reflektion auf sozio- der unsere postindustrielle, informationstechnologisch sexuelle Beziehungssysteme wie Monogamie im Vergleich organisierte Gesellschaft zunehmend abrückt. zu verschiedenen Formen von Polygamie. Fast reflexartig Von Humboldt formulierte diese Typologie der Ge- kam mir eine dritte Interpretation in den Sinn, mehr im schlechter lange bevor Fechner die systematische Mes- Einklang mit den Schwerpunkten meiner gegenwärtigen sung des Verhaltens in die Psychologie einführte. Von Forschungsprojekte, die auf die psychosexuelle Differen- Humboldts Typologie war nicht basiert auf empirischer zierung, also die Entwicklung der Geschlechter und ihrer Evidenz im heutigen Sinne, sondern war ein Resultat der Varianten, ausgerichtet sind. Ist es im 21. Jahrhundert an- „productive[n] Einbildungskraft, welche aus dem Gebiet gebracht, am Konzept der zwei Geschlechter festzuhalten, der Erfahrung in ein idealisches übergeht, [und] allen oder soll man – mit vielen anderen – die Auflösung des zufälligen Überfluss und alle zufälligen Schranken von binären Systems propagieren? Das Fragezeichen am Ende ihrem Gegenstand absondert“, und von Humboldt hat meines Themas symbolisiert diese Hinterfragung. sich dabei weitgehend an seiner Interpretation der sym- In seinen beiden Schriften von 1795, „Ueber die männ- bolischen Bedeutung klassisch-griechischer Skulpturen liche und weibliche Form“ und „Ueber den Geschlechtsun- orientiert (siehe Appendix 2). terschied und dessen Einfluss auf die organische Natur“ (zit. Im Gegensatz zu von Humboldts typologischem n. 1841, 1843), vertrat Wilhelm von Humboldt eine Posi- Vorgehen interpretieren heutige empirische Sexualwis- tion, die heute vielfach als „essentialistisch“ kategorisiert senschaftler interindividuelle Variabilität nicht als Mess- wird. Danach gibt es in der Natur zwei Geschlechter. Sie fehler („zufälliger Ueberfluss“ und „zufällige Schranken“ sind charakterisiert durch komplementäre Eigenschaften, bei von Humboldt), sondern als einen fundamentalen und es ist die Wechselwirkung (oder Interaktion, wie wir Aspekt sowohl der phänotypischen Beschreibung wie des Sexuologie 17 (3–4) 2010 173–177/ Akademie für Sexualmedizin http://www.sexualmedizin-akademie.de/sexuologie 174 Jahrestagung der Wilhelm v. Humboldt-Stiftung

ätiologischen Verständnisses. Sie sind interessiert an den aussschließlich davon ab. Die sexuelle Reproduktion ist Verteilungscharakteristiken von geschlechtsbezogenen immer auf die zwei Geschlechter – männlich und weib- Verhaltensweisen in einer definierten Population und lich – begrenzt, d.h. sie konstituiert ein binäres System. wenden multivariate statistische Methoden an, um die Männliche und weibliche Säugetiere unterscheiden dimensionale Struktur solcher Verhaltensweisen zu ana- sich nicht nur in den Reproduktionsorganen. In Ab- lysieren. hängigkeit von differentiellen Reproduktionsstrategien Darüberhinaus wird das bipolare oder binäre System (z. B., fürsorgend versus ausbeutend, Kampf um Part- der Geschlechter per se vielfach in Frage gestellt, vor allem ner versus Partnerwahl) und Beziehungsstilen (z.B. so- von Leuten, die der Biologie und Medizin fern stehen. ziale und/oder sexuelle Monogamie versus Polygamie) Dies wird besonders deutlich, wenn man an der Revisi- produziert die sexuelle Selektion sowohl anatomische on der psychiatrischen Nosologie arbeitet, insbesondere Unterschiede wie auch Verhaltensdifferenzen zwischen der diagnostischen Kategorie der Geschlechtsidentitäts- Männchen und Weibchen (LeVay & Valente, 2006, ch. störung (DSM-IV-TR; American Psychiatric Associati- 2). Männchen und Weibchen unterscheiden sich in vie- on, 2000) oder des Transsexualismus (ICD-10; World len Verhaltensweisen, die am besten in ihrer Beziehung Health Organization, 1992). Geschlechtsuntypische Ver- zu den unterschiedlichen Geschlechtsrollen in der Re- haltensphänomene gibt es in allen Kulturen und allen produktion zu verstehen sind: in Paarungsstimmung, Geschichtsepochen (siehe die diesbezügliche Literatur Partnerwettbewerb, Werbungsverhalten, Prozeptivität / in Meyer-Bahlburg, 2010), aber im Westen wurde der Rezeptivität, geschlechtsspezifischem Kopulationsver- Transsexualismus mit der Einführung geschlechtsum- halten, Schwangerschaft, Laktation, Aufzucht der Nach- wandelnder Operationen für körperlich intakte Männer kommen, Territorialverteidigung, Position in der Domi- in den 1950er Jahren eine Mediensensation. Im Verlauf nanzhierarchie; und in den diversen Vorläufern solcher des halben Jahrhunderts ist die Öffentlichkeit seitdem Verhaltensweisen im Kindheits- und Jugendalter (z. B. allmählich mit dem Phänomen vertrauter geworden, Spielverhalten und Geschlechtssegregation). und die Toleranz, vor allem in den großen Städten, hat Die letzten Jahrzehnte haben beträchtliche Fort- zugenommen. Mit der anwachsenden Zahl von Personen, schritte in der Erforschung der proximalen Faktoren die sich offen als geschlechtsuntypisch einstufen, hat sich gesehen, die zur sexuellen Differenzierung beitragen das geschlechtsuntypische Spektrum sehr stark ausdiffe- (Arnold, 2009; Grumbach et al., 2003). Bei Säugetieren renziert. Da gibt es situationsgebundenen, temporären ist es gewöhnlich das SRY-Gen auf dem Y-Chromosom, Transvestismus, der nicht in die psychiatrische Nosologie das die Differenzierung der Gonaden zu Testes deter- eingeht, habituellen, chronischen Transvestismus („Dual- miniert, in Interaktion mit einer Kaskade von anderen Role Transvestism“ im ICD-10), und transvestitischen Fe- Genen. Die Differenzierung der anderen Geschlechts- tischismus, der sich auf sexuelle Stimulation konzentriert. organe ist weitgehend von der Interaktion diverser Einige Individuen suchen Entmaskulinisierung, ohne die Gene mit verschiedenen Sexualhormonen bestimmt. Geschlechtsgrenze überschreiten zu wollen („Male-to- Die sexuelle Differenzierung von Gehirn und späterem Eunuch identity“, Wassersug & Johnson, 2007), andere Verhalten beruht auf einer sehr viel größeren Zahl von bekennen sich ausdrücklich zu einer „Intersex“-Identität. Genen, und ihrer Aktivierung oder Hemmung durch Der extreme Pol wird nach wie vor von solchen Personen hormonale Faktoren, die sich zum Teil mit denen über- besetzt, die die DSM-IV-TR-Kriterien für „Gender Iden- lappen, die in der Peripherie wirksam sind. Nach der Ge- tity Disorder“ erfüllen, und nicht alle solche Individuen burt entfalten sich die resultierenden Verhaltensprädispo- streben eine chirurgische Unwandlung der Geschlechts- sitionen in spezifischen sozialen Umwelten, die zusätzlich organe an, selbst wenn sie den legalen Personenstand die Verhaltensentwicklung beeinflussen. wechseln. Selbst in der körperlich gesunden Bevölkerung Solche Varianten der Geschlechtsidentität passen of- besteht beträchtliche interindividuelle Variabilität in ge- fensichtlich nicht auf von Humboldts binäres System der schlechtsbezogenen Verhaltensweisen. Solche Variabilität „idealischen“ Geschlechter. Sie stehen anscheinend auch hat ihren Ursprung wahrscheinlich in der interindividu- im Widerspruch zu den Erkenntnissen der Evolutionsfor- ellen Variabilität der unterliegenden Faktoren – der Gene schung, mit der Charles Darwin einige Jahrzehnte nach (z. B. Variation in der Zahl der trinucleotide repeats, die den von-Humboldt-Brüdern auf die Wissenschaftsbühne die Genaktion modifizieren können; Hare et al., 2009), trat. der pränatalen Sexualhormonspiegel (vor allem der An- Die Geschlechter-„Zweiheit“ spielt eine zentrale Rol- drogene; Auyeung et al., 2009), oder der sozialen Faktoren le in der Evolutionstheorie. Die meisten eukaryotischen nach der Geburt (z. B. der geschlechtstypischen Erzie- Organismen besitzen die Kapazität für die sexuelle Re- hung; Ruble et al., 2006). produktion, und die Reproduktion aller Säugetiere hängt Extreme Variationen in geschlechtsbezogenen Ver- Verleihung des Stiftungspreises der Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung 2010 175 haltensweisen können zurückgeführt werden auf Gen­ ausgenommen, und von Endokrinologen und Urologen mutationen, anomale Hormonproduktion, Behand­lung als blosse „Korrektur“ einer unpassenden Geschlechtszu- mit exogenen Hormonen, Schwangerschaftskomplika- weisung angesehen. tionen, die die Gehirnentwickung als Ganzes advers be- Im Gegensatz zum Geschlechtswechsel bei Indi- einflussen, usw. Ein viel untersuchtes Beispiel für eine viduen mit somatischer Intersexualität, sieht die Psychia­ Modifikation des pränatalen Sexualhormonspiegels trie Geschlechtsdysphorie und Geschlechtswechsel bei aus­ser­halb des Normalbereichs stellt das adrenogenitale Personen ohne somatische Intersexualität als Psycho­ Syndrom (AGS) dar, die häufigste Form der Intersexuali- pathologie an. Das wird verständlicher, wenn man sich tät bei 46,XX-Individuen. In diesem Syndrom führt eine vor Augen hält, dass dies im historischen Zusammen- genetisch bedingte exzessive Androgenproduktion durch hang mit einer allgemein negativen Reaktion der Ge- die Nebenniere bei 46,XX- Individuen zu einer variablen sellschaft auf untypische Geschlechtsentwicklung ge- Maskulinisierung der Genitalien, die – in Abhängigkeit schieht. Neugeborene mit deutlichen Anomalien der vom Schweregrad des Syndroms – von einer leichten somatischen Geschlechtsentwicklung werden von man­ Vergrösserung der Klitoris bis zur Ausbildung eines an- chen Eltern abgelehnt, und viele unterliegen einer „Nor- scheinend normal-männlichen äusseren Genitales reicht malisierung“ durch Genitaloperationen, was schon auf (Grumbach et al., 2003). In Zusammenarbeit mit der En- eine jahrtausendealte Tradition zurückgeht (Kendirci dokrinologin Maria New hat mein Team in verschiedenen et al., 2005; Lascaratos and Kostakopoulos, 1997). Ein- Untersuchungen eine dose-response-Beziehung (auf dem deutig geschlechtsuntypisches Verhalten bei Personen, Gruppenniveau) vom pränatalen Androgenmilieu zum die keine Symptome somatischer Intersexualität auf- geschlechtsbezogenen Verhalten (Meyer-Bahlburg et al., weisen, wird weithin als abnormal angesehen, und da- 2006) and zur sexuellen Orientierung (Meyer-Bahlburg mit meistens negativ gewertet, was oft zu sozialer Stig- et al., 2008) demonstriert. Selbst Geschlechtsdysphorie matisierung, Diskriminierung, und Gewalttätigkeit und patienteninitiierter Geschlechtswechsel kann vor- ein­schließlich Mord führt, und als Konsequenz zu sozio- kommen (Meyer-Bahlburg et al., 1996; Dessens et al., ökonomischer Marginalisierung (National Center for 2005). Transgender Equality and the National Gay and Lesbi- Angesichts solcher Variabilität stellt sich die Frage, an Task Force, 2009; Transgender Europe, 2010). Selbst unter welchen Umständen es sinnvoll ist, geschlechtsun- in Gesellschaften, die spezifische soziale Rollen für In- typisches Verhalten als psychopathologisch zu charak- dividuen mit geschlechtsuntypischen Verhaltensweisen terisieren. Was z.B. ist „pathologisch“ beim 46,XX AGS? etabliert haben, wie z. B. die Hijra in Indien und Pakistan, Im allgemeinen ist es unumstritten, dass eine Mutation sind solche Rollen relativ begrenzt und keineswegs frei des zugrundeliegenden 21-Hydroxylase-Gens „patho- von sozialer Diskriminierung (Nanda, 1999). logisch“ ist, ebenso die daraus resultierende Unterpro- Die judäo-christlich-islamischen Religionstraditi- duktion des Enzyms 21-Hydroxylase und der Hormone onen hatten eine geringe Toleranz für Abweichungen Kortisol und Aldosteron, in Kombination mit Hyper- von strikten Geschlechtsrollennormen; eine wichtige plasie der Nebennierenrinden und Überproduktion Ausnahme war Ayatolla Khomeinis Fatwa in Teheran, von adrenalen Androgenen. Schwieriger wird schon die Iran, die den vollständigen Geschlechtswechsel mit Ge- Abgrenzung des Normalbereichs vom Pathologischen nitaloperationen gestattete (für Medienquellen: Wikipe- bei relativ milden Fällen von Schamlippenfusion und dia, 2010a). Als im Westen im 19. Jahrhundert die reli- Klitorisvergrösserung, obwohl mehr extremere Fälle giösen Machtstrukturen weitgehend durch die säkulare der Genitalmaskulinisierung für die meisten Beobach- Rechtsprechung abgelöst wurden, wurde die negative ter eindeutig in den pathologischen Bereich fallen. An- Bewertung von geschlechtsuntypischem Verhalten zu- ders steht es mit der Maskulinisierung des Verhaltens. nächst beibehalten. Mit zunehmender Medikalisierung Obwohl dieses ebenfalls vom Ausmass der pränatalen von atypischen Verhaltensweisen im allgemeinen wur- Androgenisierung beeinflusst wird, und damit vom den auch für eine Anzahl von geschlechtsuntypischen Grade der zugrundeliegenden pathologischen Prozesse, Verhaltensweisen psychopathologische Syndromdia- wird das maskulinisierte Spielverhalten bei Mädchen mit gnosen geschaffen. Die diesbezügliche ätiologische For- AGS, oder die Maskulinisierung von Berufsinteressen, schung ist noch in den Anfängen, hat aber eine Reihe Freizeitgestaltung, und sexueller Orientierung bei Frauen von vorläufigen Befunden erbracht, die kompatibel mit AGS von der Psychiatrie nicht als Psychopathologie sind mit einer Interpretation von Geschlechtsiden- eingestuft. Selbst ein gelegentlich vorkommender, patien- titätsstörungen als einer Form von Intersexualität, die auf teninitiierter Geschlechtswechsel zu männlich wird von das Zentralnervensystem begrenzt ist (Zhou et al., 1995; der Psychiatrie von der Diagnose „Geschlechtsidentität- Kruijver et al., 2000; Garcia-Falgueras & Swaab, 2008; störung“ (DSM-IV-TR) oder Transsexualismus (ICD-10) Rametti et al., 2010). Diese Befunde sind noch nicht un- 176 Jahrestagung der Wilhelm v. Humboldt-Stiftung

abhängig repliziert worden und reichen auch noch nicht lor, K., Hackett, G., Hines, M., 2009. Fetal testosterone predicts aus, um eine allgemeine Theorie dieser Art voll zu etab- sexually differentiated childhood behavior in girls and in boys. Psychol Sci. 20, 144–148. lieren (Meyer-Bahlburg, in press). Dessens, A. B., Slijper, F. M. E., Drop, S. L. S., 2005. Gender dys- Man muss zudem auch die Frage stellen, welchen phoria and gender change in chromosomal females with con- Nutzen eine psychopathologische Kategorisierung von genital adrenal hyperplasia. Arch. Sex. Behav. 34, 389–397. GIV hat. In der gegenwärtigen postindustriellen, infor- Garcia-Falgueras, A., Swaab, D.F., 2008. A sex difference in the mationstechnologisch organisierten Gesellschaft sind hypothalamic uncinate nucleus: relationship to gender identi- ty. Brain 131, 3132–3146. die traditionellen materiellen Zwänge des binären Ge- Grumbach, M. M., Hughes, I. A., Conte, F. A., 2003. Disorders schlechtssystems weitgehend abgebaut. Schwangerschaft, of sex differentiation, in: Larsen P. R., Kronenberg, H. M. Laktation und Kleinkinderaufzucht füllen – wenn über- Melmed, S., Polonsky, K. S. (Eds.), Williams Textbook of Endo- haupt – nur noch einen relativ kleinen Teil eines Frau- crinology. W. B. Saunders, Philadelphia. enlebens aus. Auf der Seite des Mannes sind die traditio- Hare, L., Bernard, P., Sánchez, F. J., Baird, P. N., Vilain, E., Kennedy, T., Harley, V. R., 2009. Androgen receptor repeat nellen Anforderungen an physische Kraft in der Jagd, der length polymorphism associated with male-to-female transse- Landwirtschaft, und der industriellen Arbeit weitgehend xualism. Biol. Psychiatry 65, 93–96. durch Maschinen ersetzt worden. Die alten Dominanz- Kendirci, M., Kadioğlu, A., Boylu, U., Miroğlu, C., 2005. Uroge- hierarchien, die vor allem auf physischer Kraft beruhten, nital surgery of the 15th century in Anatolia. J. Urol. 173, sind weitgehend durch Ausbildungs- und Einkommens- 1879–1882. Kruijver, F.P., Zhou, J., Pool, C., Hofman, M.A., Gooren, L.J.G., stratifizierung abgelöst, und die Verteidigung von Fami- Swaab, D.F., 2000. Male-to-female transsexuals have female lien- und Klanterritorien mit physischer Gewalt wird von neuron numbers in a limbic nucleus. J Clin Endocrinol Metab. der Gesetzgebung und deren Durchsetzung von Staatsor- 85, 2034–2041. ganen wie der Polizei übernommen. Lascaratos, J., Kostakopoulos, A., 1997. Operations on herm- Angesichts dieser Entwicklungen überrascht es nicht, aphrodites and castration in Byzantine times. Urol. Int. 58, 232–235. dass die gegenwärtige hitzige Debatte um die Zukunft LeVay, S., Valente, S. M., 2006. , 2nd ed. Sinauer dieser Diagnosen in DSM-5 und ICD-11 sich nicht pri- Associates, Sunderland, MA. mär um die Frage der Ätiologie der GIV dreht. Statt- Meyer-Bahlburg, H. F. L., Gruen, R. S., New, M. I., Bell, J. J., dessen steht die Perspektive der Menschenrechte im Morishima, A., Shimshi, M., Bueno, Y., Vargas, I., Baker, S. W., Vordergrund und die Selbstbestimmung des Menschen 1996. Gender change from female to male in classical CAH. Horm. Behav. 30, 319–332. als Ausdruck von sexueller Orientierung, Geschlechts- Meyer-Bahlburg, H. F. L., Dolezal, C., Baker, S. W., Ehrhardt, A. rollenverhalten, und -identität, selbst wenn diese von A., New, M. I., 2006. Gender development in women with con- traditionellen Mehrheitsnormen abweichen. In den letz- genital adrenal hyperplasia as a function of disorder severity. ten Jahren sieht man ein allmähliches Anwachsen der Arch. Sex. Behav. 35, 667–684. Zahl von Städten, Provinzen, und Ländern, die Personen Meyer-Bahlburg, H. F. L., Dolezal, C., Baker, S. W., New, M. I., 2008. in women with classical or non-clas- mit Varianten der Geschlechtsidentifikation unter regula- sical congenital adrenal hyperplasia as a function of degree of torischen Schutz stellen, und mehrere Länder haben ex- prenatal androgen excess. Arch. Sex. Behav. 37, 85–99. plizit die Psychopathologisierung von GIV eingeschränkt. Meyer-Bahlburg, H.F.L., 2010. From mental disorder to iatro- Jüngstens ist Australien das erste Land geworden, das eine genic hypogonadism – Dilemmas in conceptualizing gender Kategorisierung von Geschlecht als unspezifiziert oder identity variants as psychiatric conditions. Arch. Sex. Behav. 39, 461–476. undeterminiert in Personenstandspapieren zulässt (für Meyer-Bahlburg, H.F.L., (in press). Transsexualism („Gender Medienquellen: Wikipedia 2010b). Identity Disorder“) – A CNS-limited form of intersexuality? Im gegenwärtigen Moment der Menschheitsge- in: New, M.I., (Ed.), Proceedings of the 2nd World Conference schichte scheint also die Zweiheit der Geschlechter in eine „Hormonal and genetic basis of sexual differentiation disor- Vielheit überzugehen, zumindest auf der Bühne der sozi- ders and hot topics in endocrinology“, Miami, FL, 1/15-17/10. Nanda, S., 1999. The Hijras of India: Neither man nor woman, alen Rollen und Identitäten. 2nd ed. Wadsworth, Belmont, CA. National Center for Transgender Equality and the National Gay and Lesbian Task Force, 2009. Transgender Discrimination Literatur Survey. http://transequality.org/Resources/NCTE prelim sur- vey econ.pdf (accessed 02/25/2010). American Psychiatric Association., 2000. Diagnostic and Sta- Rametti, G., Carrillo, B., Gómez-Gil, E., Junque, C., Segovia, S., tistical Manual of Mental Disorders, 4th ed., text revision. Gomez, A., Guillamon, A., 2010. White matter microstructure Author, Washington, DC. in female to male transsexuals before cross-sex hormonal treat- Arnold, A.P., 2009. The organizational-activational hypothesis as ment. J. Psychiatric Res. doi:10.1016/j.jpsychires. 2010.05.006 the foundation for a unified theory of sexual differentiation of Ruble, D.N., Martin, C.L., Berenbaum, S.A., 2006. Gender all mammalian tissues. Horm. Behav. 55, 570–578. development, in: Damon, W., Lerner, R.M. (Series Eds.), and Auyeung, B., Baron-Cohen, S., Ashwin, E., Knickmeyer, R., Tay- Eisenberg, N., Damon, W., Lerner, R.M. (Vol Eds.), Handbook Verleihung des Stiftungspreises der Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung 2010 177

of child psychology: Vol. 3. Social, Emotional, and Personality S. 299–300: So sind nun zwischen beiden Geschlechtern die Development (6th edn.), Wiley, New York, pp. 858–932. Anlagen verteilt, welche es ihnen möglich machen, diess uner- Transgender Europe, 2010. Press Release: March 17th 2010. www. messliche Ganze zu bilden. ... Darum beseelte die Natur ihre transrespect-transphobia.org, (accessed 03/23/2010). Söhne mit Kraft, Feuer und Lebhaftigkeit, und hauchte ihren von Humboldt, W., 1841. Ueber die maennliche und weibliche Töchtern Haltung, Wärme und Innigkeit ein. ... Denn der ganze Form, in: W. von Humboldt, Gesammelte Werke, Erster Band. Charakter des männlichen Geschlechts ist auf Energie gerich- G. Reimer, Berlin, pp. 215–261. tet; dahin zielt seine Kraft, seine zerstörende Heftigkeit, sein von Humboldt, W., 1843. Ueber den Geschlechtsunterschied und Streben nach Aussenwirkung, seine Rastlosigkeit. Dagegen geht dessen Einfluss auf die organische Natur, in: W. von Humboldt, die Stimmung des weiblichen, seine ausdauernde Stärke, seine Gesammelte Werke, Vierter Band. G. Reimer, Berlin, pp. Neigung zur Verbindung, sein Hang die Einwirkung zu erwidern 270–301. und seine holde Stätigkeit, allein auf Erhaltung und Daseyn. von Humboldt, W., 1907. Ueber den Dualis, in: W. von Humboldt, S. 300–301: Daseyn, von Energie beseelt, ist Leben, und das GS, Band VI. B. Behr’s Verlag, Berlin, pp. 4–30. höchste Leben das letzte Ziel, in dem sich das Streben aller ver- Wassersug, R.J., Johnson, T.W., 2007. Modern day eunuchs: schiedenen Kräfte der Natur vereint. Die Verschiedenheit beider Motivations for and consequences of contemporary castration. Geschlechter befördert die Erreichung dieses Ziels, oder viel- Perspect Biol Med. 50, 544-546. mehr ihre eigenthümliche Beschaffenheit führt sie zu demsel- Wikipedia, 2010a. Transsexuality in Iran. http://en.wikipedia.org/ ben hin, ohne dass sie selbst sich dessen bewusst sind. ...Indem wiki/TRANSSEXUALITY_in_Iran (accessed 07/04/2010). alle harmonisch wirksam sind, folgt jede nur ihrem eigenen Wikipedia, 2010b. Legal aspects of transsexualism. http:// Triebe, und das letzte Resultat der Thätigkeit aller geht mit der en.wikipedia.org/wiki/Legal_aspects_of_transsexualism Nothwendigkeit hervor, die, da sie alle Absicht ausschliesst, auf (accessed 07/24/2010). den ersten Anblick zufällig erscheinen kann. In gleicher Freiheit World Health Organization, 1992. Multiaxial version of ICD wirken nun auch die Kräfte beider Geschlechter, und so kann 10: Clinical descriptions and diagnostic guidelines. Author, man dieselben als zwei wohlthätige Gestalten ansehen, aus deren Geneva. Händen die Natur ihre letzte Vollendung empfängt. Dieser erha- Zhou, J.-N., Hofman, M.A., Gooren, L.J.G., Swaab, D.F., 1995. A benen Bestimmung genügen sie aber nur dann, wenn sich ihre sex difference in the human brain and its relation to transse- Wirksamkeit gegenseitig umschlingt, und die Neigung, welche xuality. Nature 378, 68–70. das eine dem anderen sehnsuchtsvoll nähert, ist die Liebe. So gehorcht die Natur derselben Gottheit, deren Sorgfalt schon der ahnende Weisheitssinn der Griechen die Anordnung dss Chaos Appendix 1 übertrug. Wilhelm von Humboldts (1843) Charakterisierung der Ge- schlechtsunterschiede Appendix 2 S. 281: Hier nun beginnt der Unterschied der Geschlechter. Wilhelm von Humboldts (1841) Produktion einer idealischen Die zeugende Kraft ist mehr zur Einwirkung, die empfangende Typologie der Geschlechter mehr zur Rückwirkung gestimmt. Was von der ersteren belebt S. 216f: Aber eine solche reine Männlichkeit und Weiblichkeit wird, nennen wir männlich, was die letztere beseelt, weiblich. auch nur aufzufinden, ist unendlich schwer, ... In der Erfahrung Alles Männliche zeigt mehr Selbstthätigkeit, alles Weibliche mehr kommt immer der eigenthümliche Charakter des Individuums leidendende Empfänglichkeit. Indess besteht dieser Unterschied dazwischen, der den allgemeinen Geschlechtscharakter in dem- nur in der Richtung, nicht in dem Vermögen. selben theils durch Einmischung fremder Züge enststellt, theils S. 291: Alle Eigenschaften, in welche gekleidet beyde Ge- durch Mitteilung seiner eigenen zufälligen Schranken ihn hindert, schlechter durch die ganze Natur, aber vorzüglich im Menschen, seine höchste Vollendung zu erreichen. Jenes Fremdartige muss erscheinen, bringen denselben verschiedenen Eindruck hervor. also durch den Verstand davon abgesondert, diese Schranken Die reizende Anmuth und die liebliche Fülle der Weiblichkeit des Individuums müssen entfernt werden, wenn der reine bewegt die Sinne; die nicht so wohl anschauliche, als bildliche Geschlechtscharakter zur Darstellung kommen soll. Der Verstand Vorstellungsart und der sinnliche Zusammenhang aller Begriffe aber kann nur dürftige Abstractionen liefern, und hier ist es uns geben der Phantasie ein reiches und lebendiges Bild; und die gerade um ein vollständiges sinnliches Bild zu thun, weil der Einheit des Charakters, der, jedem Eindruck offen, jeden mit wahre Geist der Geschlechtseigenthümlichkeit nur in dem leben- entsprechender Innigkeit erwiedert, rührt die Empfindung. So dingen Zusammenwirken aller einzelnen Züge sich ausdrücken wirkt alles Weibliche vorzüglich auf diejenige Kräfte, welche den kann. ganzen Menschen in seiner ursprünglichen Einfachheit zeigen. Aus dieser Verlegenheit nun werden wir durch die productive Was dem Mann und seinem Geschlechte angehört, lässt Einbildungskraft gerissen, welche aus dem Gebiet der Erfahrung dagegen diese minder befriedigt, beschäftigt aber mehr das in ein idealisches übergeht, allen zufälligen Ueberfluss und alle Vermögen der Begriffe. Die Gestalt hat mehr Bestimmtheit, als zufälligen Schranken von ihrem Gegenstand absondert, und das anmutige Schönheit; die Begriffe sind deutlicher und sorgfältiger Unendliche der Vernunft in eben so bestimte Formen einkleidet, geschieden, stehn aber auch in weniger leichter Verbindung; der als sonst nur die zufällige und beschränkte Geburt der Zeit, Charakter ist stark und hat feste Richtungen, erscheint aber nicht und das wirkliche Individuum, zeigt. ... Nur dem Griechischen selten auch einseitig und hart. Alles Männliche, kann man daher Künstler gelang es, das Ideal selbst zu einem Individuum zu sagen, ist mehr aufklärend, alles Weibliche mehr rührend. Das machen, und bei ihm werden wir auch den befriedigendsten eine gewährt mehr Licht, das andere mehr Wärme. Aufschluss über den vorliegenden Gegenstand schöpfen. Ungewollt kinderlos? Wege zum Wunschkind

Jedes 7. Paar in Deutschland ist ungewollt kinderlos. Entfernung durchgeführt werden kann. Die Berliner Spenders mit gewünschten Merkmalen, welche Die Ursachen hierfür lassen sich auf rein „weibliche“, Samenbank genießt das Vertrauen vieler Zentren in meist denen des Ehemannes/Partners entsprechen rein „männliche“, auf „gemischte“ und „unbekannte“ Deutschland. soll. Hierzu zählen allgemeine äußere Merkmale wie Faktoren verteilen. Dank medizinischer Fortschritte Es kann davon ausgegangen werden, dass bei körperliche Erscheinung, Haar- und Augenfarbe etc., kann heute vielen ungewollt kinderlosen Paaren ge- dieser Behandlung eine normale Schwangerschafts- aber auch die Blutgruppe und die Rhesusformel. Die holfen werden. Bei einigen Fruchtbarkeitseinschrän- rate (SSR) von 17-20 % pro Zyklus zu erreichen ist. Spender sind auch nach Beruf und Interessenprofil kungen hilft oft die IVF-Behandlung, die so genannte Dies entspricht der ganz normalen SSR. Oftmals ist katalogisiert. So ist es möglich, auf Wesensmerkmale Retortenbefruchtung. Ist die Samenqualität sehr es durch Kooperation mit dem „Hausgynäkologen“ und Schulbildung rückzuschließen. schlecht, lässt sich nur noch mittels ICSI, die so möglich, mit nur einem Besuch in Berlin auszukom- Auf Wunsch des Paares führt die Samenbank eine genannte Mikroinsemination, eine Schwangerschaft men. Eine hormonelle Stimulation ist nur in begrün- Vorauswahl durch, die abschließende Entscheidung erreichen. deten Fällen erforderlich. obliegt dem Paar. Bei dieser Vorauswahl wird das Was aber, wenn keine Samen produziert werden, Sollte die Samenübertragung nach mehreren Zy- Äußere des Ehemannes/Partners mit verschiedenen die o. g. Verfahren versagt haben, oder diese Metho- klen nicht zum Erfolg geführt haben, oder ist bei der Spendern abgeglichen. den wegen bestehender Risiken abgelehnt werden? Grunddiagnostik der Frau ein Eileiterverschluss dia- Die Adoption ist in Deutschland ein schwieriges Un- gnostiziert worden, ist auch mit Spendersamen eine Rechtliche Regelungen terfangen, warten doch 7 - 8 adoptionswillige Paare IVF-Behandlung möglich. auf jeweils ein Kind. Die Spendersamenbehandlung ist in Deutschland Auch gelten erschwerende Faktoren, wie das el- Spender seit vielen Jahren nicht mehr verboten, einige wenige terliche Alter und der Ehestand. Eine gar nicht so rechtliche Verbesserungen hat es gegeben, wie z.B. selten durchgeführte Methode ist die sogenannte In unsere Kartei werden nur Samenspender aufge- das Kindschaftsreformgesetz und das Kinderrechte- donogene- oder heterologe Insemination, also die nommen, die in allen Punkten unseren hohen Quali- verbesserungsgesetz. Verwendung von Spendersamen. In Deutschland tätsanforderungen entsprechen. Die Herbeiführung einer größtmöglichen Rechts- werden jährlich etwa 1500 Kinder auf diese Weise Die Inhalte der Qualitätssicherung richten sich sicherheit für alle an diesem Verfahren beteiligten gezeugt. nach den Arbeitsrichtlinien des „Arbeitskreis(es) für Personen (Kind, beide soziale Eltern, Samenspen- donogene Insemination“ und den entsprechenden der/genetischer Vater, Arzt) wird mittels eines Notar- Das Paar Beschlüssen der Bundesrepublik Deutschland. Dazu vertrages erzielt. gehören folgende Punkte: Eine entsprechende Dokumentation garantiert das Natürlich sollte aus verständlichen Gründen der Kin- Durch gründliche Voruntersuchungen und eine im Grundgesetz verankerte Recht auf Kenntnis der derwunsch des Paares stark genug sein, um mit die- sorgfältige Auswahl werden nur Proben von gesun- eigenen Abstammung. Die Behandlung mit Spender- ser Form der Familienbildung umgehen zu können. den Spendern angeboten. Regelmäßige Untersu- samen ist sowohl bei Ehepaaren als auch bei Frauen, Gespräche mit entsprechend ausgebildeten Sozialar- chungen und Quarantänelagerung gewährleisten, die in einer „eingetragenen Partnerschaft“ leben, beitern/Soziologen oder Therapeuten sind empfeh- dass alle verwendeten Samenproben ohne Infek- möglich, wenn auch rechtlich problematischer. lenswert. Der (anonyme) Austausch in Internetforen tionsrisiko sind. Dadurch ist unter anderem auch Unter bestimmten Umständen ist auch die Durch- hilft bei der Entscheidungsfindung. Es gibt auch eine die Übertragung von Hepatitis-, HIV-, Syphillis- und führung der donogenen Insemination bei Paaren in zunehmende Anzahl von Büchern in deutscher Spra- Tripper-Erregern sowie Chlamydien ausgeschlossen. lesbischer Partnerschaft möglich. che zu diesem Thema. Von jeder eingefrorenen Samenspende wird eine Die Berliner Samenbank stellt Samenproben qua- Stichprobe aufgetaut und die Vitalität der Spermien Weitere Informationen erhalten Sie auf der Home- lifizierter Spender bereit. Die Proben werden zur geprüft, unzureichende Spenden werden verworfen. page Befruchtung bei Paaren eingesetzt, die diesen Weg Darüber hinaus wird die Qualität jeder Spermaprobe www.berliner-samenbank.de gewählt haben, um ihren Kinderwunsch zu erfüllen. direkt vor der Verwendung überprüft. Die Behandlung der Paare erfolgt meist in einer gynäkologischen Praxis oder einem Zentrum für Spenderauswahl Reproduktionsmedizin. Einige Samenbanken versen- den auch Proben an entsprechende Ärzte in ande- Die oft große Zahl unterschiedlicher Spender aller ren Städten, damit die Behandlung auch in größerer Blutgruppen erlaubt dem Paar die Auswahl eines

BERLINER SAMENBANK GmbH Kryokonservierung von • Spendersamenproben für die künstliche Befruchtung • befruchteten Eizellen aus der Reagenz- glasbefruchtung (IVF) • Hodengewebsproben zur Spermien- gewinnung für ICSI für Paare mit unerfülltem Kinderwunsch • durch absolut männliche Zeugungs- unfähigkeit • nach Versagen anderer moderner Ab 2010 lagert die Berliner Samenbank auch unbefruchtete Eizellen ein! Methoden wie IVF (Reagenzglas- befruchtung oder ICSI (sog. Mikro- • Vor einer Krebstherapie Weitere Informationen: insemination) • Als „Fertilitätsreserve“, www.berliner-samenbank.de • bei Ablehnung von IVF oder ICSI sog. „social freezing“ Dr. med. David J. Peet, Geschäftsführer

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trum dieser These steht die Annahme, es gebe unverän- derbare „symbolische Grundlagen“ (194) der Kultur, die durch die Auflösung der Rollenbilder in Gefahr gerieten. Butler hinterfragt die Glaubwürdigkeit solcher Annah- men und diskutiert die Frage, es sich nicht vielmehr um symbolische Macht zur Aufrechterhaltung heterosexuel- ler Privilegien handelt. Wie stark Geschlechternormen wirken, ist auch Thema des Aufsatzes „Jemandem gerecht werden. Ge- schlechtsangleichung und Allegorien der Transsexuali- tät“. Butler analysiert, wie operativ aus David zunächst Brenda und dann wieder David wurde und wie sich die Anhänger_innen des jeweiligen Modells von Geschlecht auf den Fall stützten, um der Öffentlichkeit ihre jewei- lige Sichtweise zu präsentieren: Dem einen behandelnden Arzt wurde vorgeworfen, auf der Grundlage einer „sozial- konstruktivistische Theorie“ (104) eine völlige Formbar- keit des Geschlechts zugrunde zu legen und zu vertreten. Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Die andere Seite berief sich auf die vermeintliche Natur Menschlichen, Suhrkamp Verlag 2009 (414 S., geb., ISBN-10: 3518585053, des Geschlechts mittels Chromosomen-Theorien, um die Preis: 24,80 €) Grenzen chirurgischer Eingriffe aufzuzeigen. Folgt man Butler, die in ihrer Analyse auf Selbstzeug- Der vorliegende Band enthält eine Sammlung von v.a. nisse von Brenda/David zurückgriff, gab es dafür, was bereits auf englisch publizierten Aufsätzen, die sich mit in Brenda/David vorging und was sie/er sich wünschte, Transgender, Transsexualität, Intersexulität und Homo- wenig Interesse.Die Entscheidung Brendas/Davids für sexualität auseinandersetzen. Wie der sperrig übersetzte das männliche Geschlecht interpretiert Butler als Beleg Titel bereits andeutet, geht es um das Menschliche in Bezug dafür, wie groß der Druck der Eindeutigkeit ist, mit der auf seine Geschlechtlichkeit; darum, entgegen gesellschaft- Folge, dass „Formbarkeit […] sozusagen gewaltsam auf- lich anerkannter Normen und vorherrschenden wissen­ ­ gezwungen [und] Natürlichkeit […] künstlich herbeige- schaftlichen Meinungen mögliche alternative Sichtwei- führt“ (110) wird. sen und Interpretationen zu theoretisieren, die nicht nur längst denkbar sind, sondern auch schon längst praktiziert Entdiagnostizierung von Gender werden. Vordergründig geht es um die Frage der Autono- In dem Aufsatz „Die Entdiagnostizierung von Gender“, mie von Lesben,Schwulen und aller vorhandenen Gender geht es um die zweischneidigen Konsequenzen einer di- gegenüber einer „heterosexistischen Normierung“, aber agnostizierten „Geschlechtsidentitätsstörung“. Im Kon- der theoretische Horizont reicht weiter: Die Beiträge sind text der Debatte um die Abschaffung der Diagnose GID Teil einer Debatte darüber, welches Leben als „rechtmä- – Gender Identity Disorder – stellt Butler die Frage, ob eine ßig“ zu betrachten ist, was die Grenzen der symbolischen derartige Diagnose die Selbstbestimmung der Individu- Ordnung daraufhin absteckt, was als menschlich gilt. en unterstützt oder sie untergräbt. Im Mittelpunkt ihrer Ziel ist, die offensichtlichen, aber auch die mehr oder Überlegungen steht damit nicht der Leidensdruck an sich weniger verdeckten Formen und Strukturen aufzude- – dieser steht außer Frage –, sondern die Genese des Lei- cken, die unser Verständnis des Menschlichen beeinflus- dens. Woher rührt das Bewusstsein einer „Störung“, wie sen. Und damit implizit mehr Menschlichkeit einzufor- weit resultiert es aus fehlender gesellschaftliche Anerken- dern, nicht zuletzt mit Blick auf die vielfältigen Formen nung und einer Stigmatisierung als „krankhaft“? Butler prekärer Identität oder hinsichtlich der Frage nach alter- rekonstruiert das Dilemma einer Diagnose, die eingewo- nativen Familienmodellen: Wenn homosexuelle Paare ben ist in ein System von Krankenkassen, medizinischer eine Familie gründen wollen, werden sie gesetzlich in den Versorgung sowie wissenschaftlichem Forschungsdrang, meisten westlichen Ländern benachteiligt. Das heterose- was dem Leiden gegenüber sowohl befreiend als auch xuelle Privileg auf Elternschaft wird u.a. auf Basis einer restriktiv wirken kann, oft aber beides zugleich. Folglich von Claude Lévi-Strauss inspirierten Psychoanalyse be- wäre die Diagnose einerseits beizubehalten, weil sie mo- gründet, nach der sich eine Elternschaft homosexueller mentan die einzig rechtlich und finanziell abgesicherte Paare mit dem Argument ablehnen lässt, Kinder seien Möglichkeit darstellt, Autonomie, , d.h. die freie Wahl darauf angewiesen, Vater und Mutter zu haben. Im Zen- des eigenen Gender überhaupt zu ermöglichen. Die Dia- Sexuologie 17 (3–4) 2010 179– 186/ Akademie für Sexualmedizin http://www.sexualmedizin-akademie.de/sexuologie 180 Aktuelles

gnose trägt also in dieser Hinsicht dazu bei, den Leidens- Sind die Formen der Anerkennung in einer Gesellschaft druck zu verringern. begrenzt, so bleibt ein „bewältigbares Leben“ im Zwei- Für eine Streichung der Diagnose aus dem Kriteri- felsfall versagt. Das gleiche gilt für Gender: Auch wenn enkatalog des DSM IV spricht, dass auf dieser Grundlage unser Begehren verschieden gerichtet ist, bleibt Begehren Menschen in einen pathologisierenden Diskurs gezwun- für jedes Gender konstitutiv. Werden wir in unserem Be- gen werden, diese Diagnose jenes Leiden überhaupt erst gehren nicht oder nur eingeschränkt anerkannt, schränkt erzeugt: „Es ist möglich und nötig zu sagen, dass die dies unsere soziale (Über-)Lebensfähigkeit ein. Diagnose auf den Weg zu Milderung des Leidens führt; Wiederum legt Butler in ihrer Argumentation den und es ist möglich und nötig zu sagen, dass die Diagnose Fokus darauf, dass die Grenzen nicht nur festgelegt sind, Gender Identity Disorder (GID) genau das Leiden ver- sondern dass wir es sind, die diese Grenzen definieren. stärkt, das Milderung verlangt.“ (163f) Butler unterstützt Die Möglichkeiten nach denen Anerkennung zu Teil somit einerseits die These, dass die Entpathologisierung werden kann, hängen von den gesellschaftlichen Vorstel- von Transidentitäten eine notwendige Voraussetzung für lungen des Menschlichen ab. So „wird die Anerkennung Autonomie ist. Solange die Realisation einer Wahl an eine zu einem Ort der Macht, durch die das Menschliche ver- Diagnose geknüpft ist, verkörpert sie eine paternalistische schiedenartig erzeugt wird.“ (11) Gesellschaftliche Nor- Form der Macht und reproduziert rigide Geschlechter- men haben immer eine doppelte Funktion. Einerseits ist normen. Andererseits wäre eine ersatzlose Streichung der die Norm das Vehikel, welches Anerkennung verleiht. Diagnose, ohne Strukturen, die Kosten übernehmen und Anderseits haben Normen im Zuge der Normalisierung die Änderung des Personenstatus ermöglichen, zweifels- zwar identitätsstiftende, damit immer aber auch eine aus- frei ein Rückschritt, da in diesem Fall die Freiheit abgelöst grenzende Funktion. von der Frage ihrer Realisation diskutiert und die ,Ge- schlechterfrage‘ zu einer ,Klassenfrage‘ würde. Auch die Gender als Modus des Werdens Personenstandsänderung bliebe weiterhin einem Groß- Unter den Bedingungen von Heterosexualität und Zwei- teil versagt. Sie ist zwar ohne große finanzielle Mittel rea- geschlechtlichkeit scheinen von der Norm abweichende lisierbar, ist in Deutschland bisher aber nicht unabhängig Lebensformen nur schwer denkbar. Vielmehr werden für von einer Geschlechtsangleichung geregelt (z.B. im ein- Butler bei unterstellter Kontinuität rigider Geschlechtsi- fachen Namensrecht). dentität Stereotype und stereotypes Verhalten reprodu- ziert. Diese Stereotype „unterstellen in der Tat ebenso Normen und die Grenzen der Autonomie wie die Diagnose, dass wir alle mehr oder weniger bereits Doch weshalb verstärkt die Tatsache, dass Transsexua- ‚wissen‘ was die Geschlechternormen […] sind, und das lität als psychisches Leiden klassifiziert wird, überhaupt alles, was wir wirklich tun müssen, darin besteht, heraus- das Leiden einer Person, die daran ‚leidet‘? Butlers radi- zufinden, ob sie in diesem oder irgendeinen anderen Fall kale These läuft darauf hinaus, dass in einer Welt, in der verkörpert sind.“ (133) Polemisch ließe sich an dieser jedem Individuum die Wahl seines Geschlechts freige- Stelle hinzufügen, dass die Diagnose, obwohl sie dieses stellt wäre und als Ausübung persönlicher Freiheit gesell- vorgibt zu tun, nicht einmal in der Lage wäre, Menschen, schaftlich anerkannt und institutionell unterstützt wür- die im Sinne der Diagnose ein noch viel komplexeres de, im Prinzip kein Leidensdruck entstünde, der patholo- Störungsbild aufwiesen, überhaupt zu erfassen. Insofern gische Formen annehmen müsste. Wenn aber der Raum scheint Butlers Frage, was mit der Diagnose denn eigent- des prinzipiell Anerkennbaren von vornherein insofern lich bezweckt werden soll, mehr als berechtigt. Solange eingeschränkt ist, als die vorherrschende Norm Trans- die Heilung der ‚Krankheit‘ sich an der herrschenden sexualitäten keine Anerkennung verspricht, sie stattdes- symbolischen Ordnung orientiert, unterstützt sie die Re- sen pathologisiert und stigmatisiert, dann stellt sich hier produktion rigider Geschlechternormen. Überspitzt ge- – und zwar paradigmatisch – die Frage nach Grenzen und sagt lassen sich mit Butler bisher nur zwei Alternativen Möglichkeiten sozialer Anerkennung (vgl. 163). für Transidentitäten denken: Entweder krank zu sein Hinter diesen Überlegungen steht ein hegelianisches oder überhaupt nicht (sichtbar) zu sein. Anerkennungstheorem: Wenn jeder Mensch begehrt zu Dagegen macht Butler auf Gender als einem Phä- sein und Begehren immer ein Begehren nach Anerken- nomen des Werdens aufmerksam, einer vielschichtigen nung ist, dann wird der Mensch erst „durch die Erfahrung Geschlechtsidentität, die von den gängigen Stereotypen der Anerkennung zum sozial lebensfähigen Wesen“. (10) abweicht. Die Problematik ist heikel: Denn das Mögliche Die Bedingungen dieser Anerkennung sind für Butler zu denken, heißt noch lange nicht, dass alles Mögliche jedoch der entscheidende Punkt, denn „die Bestimmun- auch erstrebenswert ist. Andererseits, herrschende Nor- gen, anhand derer wir als menschlich anerkannt werden, men nicht zu hinterfragen führt dazu, dass mögliche sind gesellschaftlich artikuliert und veränderbar.“ (ebd.) – und bereits existierende – Lebensweisen weder denkbar Rezensionen, Jahresinhaltsverzeichnis 181 noch anerkennbar sind, da sie scheinbar nicht existie- lautlosen und marginalisierten Stimmen Gehör zu ver- ren. Es geht Butler somit nicht darum, die Augen für das schaffen, den Diskus zu öffnen und damit zu verändern. grenzenlos Mögliche zu öffnen und diesem unkritisch zu Indem sie fordert, dass alle Stimmen gehört werden müs- begegnen. Vielmehr geht es um einen Blick dafür, was an sen, macht sie im Umkehrschluss auf die Schwierigkeit den Rändern anerkannter Normen längst begegnet und dieses Unterfangens aufmerksam. Dies müsste im Min- darum, diese Realitäten als menschlich anzuerkennen, desten zu der Einsicht führen, dass wir kein Recht haben, um Menschen ein lebenswertes Leben zu ermöglichen. Universelles auszusprechen, welches keiner ständigen Das bedeutet, mit sich und der eigenen Sozialität sowie Revision unterliegt. Wir können nicht mehr leichtfertig den herrschenden Normen einen kritischen Umgang zu ‚so tun als ob‘ und zum Beispiel Menschen, die sich im pflegen und um die Kraft der Normalisierung der Norm ‚falschen‘ Geschlecht wissen eine ‚Störung‘ attestieren, zu wissen. die mitunter auf der Feststellung beruht, ob sie als Kind mit Puppen oder Autos gespielt haben. Bewusst wider- Die Dekonstruktion der Geschlechternormen als Theorie im sprüchlich fordert Butler Unmögliches und provoziert Vollzug so die Sichtbarkeit genau dieses Spannungsverhältnisses. In dem letzten Aufsatz „Kann das ‚Andere‘ der Philoso- Konsequent zeigt sie den Leser_innen, wie kontingent phie sprechen?“ schlägt Butler vor, Fragen der Überset- und wenig universell die Grenzen des Menschlichen sind. zung auch als Sachfragen zu behandeln. Denn während Dies müsste, und hier kommt der ethische Aspekt mit ins der Titel von „Geschlechternormen“ spricht, ist in den Spiel, zu einer Öffnung der Grenzen führen, die in erster Beiträgen durchgehend von „Gender“ die Rede, wie der Linie darin besteht, Menschen gerecht zu werden. Der Band im Original ja auch „Undoing Gender“ heißt. Der Rest ergäbe sich quasi von selbst. Butlers Vorgehen ließe Gebrauch von Gender stößt oft an seine Grenzen, was sich Theorie im Vollzug nennen: Sie verbindet ihre Theo- auch durch die neuerliche Zusammenstellung der einzel- rie mit ihren Forderungen derart, dass dadurch etwas an- nen Beiträge bedingt sein mag. So heißt es beispielsweise: deres, viel Komplexeres sichtbar wird: „Es mag sein, dass „Gender ist der Mechanismus, durch den Vorstellungen das, was ‚richtig‘ ist und was ‚gut‘ ist, darin besteht, offen- von Männlichkeit und Weiblichkeit produziert und na- zubleiben für die Spannungen, denen die grundlegends- turalisiert werden. Gender könnte aber auch der Apparat ten Kategorien, die wir brauchen, ausgesetzt sind – sich sein, durch den solche Vorstellungen dekonstruiert und klarzuwerden über die Unwissenheit im Kern dessen, was denaturalisiert werden.“ (74) Wenn Butler Geschlechts- wir wissen und was wir brauchen, und das Zeichen des konzeptionen analysiert, um die suggestive Verwendung Lebens – und dessen Aussichten – zu erkennen.“ (359) sprachlicher Ausdrücke aufzuzeigen, wäre es sinnvoll, Keine Politik der Menschlichkeit, keine Suche nach dem dass sie sich selbst möglichst präzise auszudrückt. Was Menschlichen käme lange ohne ein solches theoretisches soll gemeint sein, mit „Gender“ sei ein „Mechanismus“ Fundament aus, das seine Abgehobenheit und seine Ab- oder ein „Apparat“? Es lässt sich einiges darunter vor- straktion verliert, wird es vollzogen und praktiziert. stellen, und genau diese Vieldeutigkeit ist das Problem, Mit ihren verschiedenartigen Beiträgen weist Butler obwohl sich Dekonstruktion und Präzision nicht aus- darauf hin, wie umfangreich und umkämpft der Schau- schließen. Übersetzt heißen die beiden terminologisch platz Geschlecht ist. Das Denken für das Mögliche zu verkomplizierten Sätze doch nicht mehr als: Geschlecht- öffnen, stellt damit die Grundforderung des Bandes dar. sidentitäten sind veränderbar, auch wenn wir das manch- Er enthält keine Anweisungen, keine einfachen Instruk- mal vergessen und einige es nicht wahr haben wollen. Der tionen, wie dieses oder jenes zu erreichen wäre. Ziel ist oft geäußerten Kritik, Butler hielte sich stets im Unkon- es, auf die zu Grunde liegenden Normen und Ordnungen kreten auf, für die diese Passagen ein Beleg sind, lässt sich hinzuweisen, Diskurse anzustoßen und Vielstimmigkeit dennoch widersprechen und eine alternative Interpreta- sichtbar werden zu lassen. Butlers Aufsätze sind also nur tion dagegensetzen. Butler gibt sich nicht leichtfertig der ein Schritt auf dem Weg zu einer alternativen Praxis des Illusion hin, konkrete Lösungen vorschlagen zu können, Menschlichen, aber kein beliebiger. Sie arbeitet anhand bevor nicht alle Stimmen gehört wurden. Aus dem ein- verschiedener Beispiele und Debatten die grundlegenden fachen (guten) Grund, dass sich keine Vorstellung dessen Fragen und Probleme heraus. gewinnen lässt, was genau gemeint ist, mit der Rede vom Ihrem Denken zu folgen, heißt, sich der Art und Wei- Menschlichen. Dabei ist ihr die Unmöglichkeit dieses se, wie wir normalisieren, Wahrheiten aussprechen und Unterfangens natürlich bewusst. universalisieren ein Stück weit zu stellen und dies zum Dieses Eingeständnis scheint vielleicht entmutigend, Thema zu machen. Ein Weg, den es sich unseres Erach- aber immerhin ehrlich. Die gute Nachricht: Die Lösung tens lohnt, mitzugehen und zu durchdenken. ist im Beschreiten des Weges bereits enthalten. Butler liefert mit ihrem Band eine hervorragendes Beispiel, Anna Fiehn (Berlin), Ruben Marc Hackler (Bielefeld) 182 Aktuelles

geantwortet haben, dass Männer durch Nötigung, Gewalt, Drogen, Alkohol für sie entschieden haben. Die Autoren wollen betroffenen Frauen zeigen, dass sie mit ihren Er- fahrungen bzgl. erzwungenem Sex nicht allein sind und Hilfen zur Prävention zeigen. Für Männer könnte dieses Buch, wenn sie nicht ge- rade in der Forschung über weibliche Sexualität arbeiten, so einige Überraschungen bieten. Frauen haben laut Me- ston und Buss 237 verschiedene Gründe Sex zu haben. Außer der oft vermuteten Motivation Liebe, Lust und Kinderwunsch wurden von den befragten Frauen Motive von Tauschhandel bis Rache, von Selbstwerterhöhung bis Mitleid genannt und noch diverse Gründe dazwischen. Hinzu kommen noch die nicht immer bewussten physio- logischen und hormonellen Zusammenhänge der sexuel- len Motivation. Romantische Betrachtungen über Erotik oder Liebe wird man in diesem Buch nicht finden. Das Meston, Cindy & Buss, David: Why Women have Sex. Sexual Motivation macht aber auch nichts. Dafür gibt es ja genug andere Bü- from Adventure to Revenge – And Everything in Between, Random cher. Eine interessante Lektüre, die für Sexualtherapeuten House UK 2009 (336 S., Paperback, ISBN-13: 978-1847921307, Preis: 11,95 €) eher weniger praktischen Nutzen bietet, aber anregt zu kritischer Diskussion und weitergehender Recherche. Warum haben Frauen Sex? Eigentlich eine einfache Fra- Die vielfältige und komplexe weibliche Motivation ge. Aber schon der Untertitel dieses Buches der renom- zum Sex stellen die Autoren systematisch vor und fragen mierten Sexualforscherin und -therapeutin Cindy Me- als erstes: Was macht Frauen an? Gute Gene und gute Res- ston und des Evolutionspsychologen David Buss deutet sourcen! Und wie erkennen Frauen das möglichst schnell? an, dass es auf die Frage keine einfache Antwort geben Eine der wichtigsten Zutaten für Sexappeal ist der Geruch kann. Die Autoren haben versucht, dieses komplexe For- des Mannes, der über die sexuelle Erregung der Frau ent- schungsgebiet umfassend, anschaulich, amüsant und scheidet. Am Geruch erkennt eine Frau besonders zur Zeit leicht verständlich auf einem populärwissenschaftlichen ihres Eissprungs den MHC-Genkomplex, der für die Im- Niveau darzustellen. Dies ist ihnen auch größtenteils ge- munabwehr wichtig ist. Die Wahl eines komplementären lungen. Die Kombination aus Informationen von frühen Sexualpartners mit unterschiedlichen MHC-Genen bie- und aktuellen Forschungsergebnissen der verschiedens- tet zwei Vorteile: zum einen das Vermeiden von Inzucht, ten Forschungsbereiche, die durch zahlreiche (insgesamt zum anderen eine bessere Immunabwehr der Nach- 260) Literaturhinweise belegt werden, und vor allem kommen. Außerdem riechen Frauen die Symmetrie des die Ergebnisse ihrer aktuellen Interviewstudie mit 1006 männlichen Körpers, die für gute Gesundheit und gute Frauen unterschiedlichen Alters, Nationalität und Sexu- Gene steht. Männlicher Geruch bestimmt nicht nur die alorientierung gibt neue, manchmal überraschende oder Partnerwahl der Frau, sondern auch die Häufigkeit des auch erheiternde Einblicke in die weibliche Sexualität Sex und die Wahrscheinlichkeit, dass sie schwanger wird, und ermöglicht vielleicht für den einen oder anderen ein da männliche Pheromone die weibliche Fruchtbarkeit anderes Verständnis für komplexe Zusammenhänge. fördern. Körpergröße und einen V-förmiger Körperbau Auch wenn die meisten Frauen über weibliche Se- finden Frauen attraktiv. Größe bedeutet höherer Status xualität wohl deutlich mehr wissen als Männer, gibt es und Schutz. (Große Männer verdienen in der Regel mehr, doch noch viele Infos, die entweder neu oder in neuem große Polizisten werden weniger angegriffen und große Zusammenhang bewertet, nicht nur zu einem besseren Männer haben mehr Sex.) Der V-förmige Körper steht Verständnis der eigenen Sexualität, Motivation und des für körperlich und sozial dominant (diese Männer haben ablaufenden evolutionären Programms, verhilft, sondern früher und mehr Sex als kleinere Männer, mehr Seiten- auch konkrete Hilfestellung bietet, die weibliche Sexu- sprünge, mehr Angebote von gebundenen Frauen). Durch alität weiter zu entdecken, zu nutzten, zu genießen und ein hohes Testosteron-Level in der Pubertät entstehen die auch zu schützen. Ein Kapitel des Buches behandelt sexu- maskulinen Gesichtszüge. Da aber maskulinere Männer ellen Missbrauch, Täuschung und Gewalt. Dieses Thema weniger treu sein sollen, wählen Frauen auch deswegen haben die Autoren trotz Bedenken aufgenommen, da es einen weniger maskulinen Mann. Sie bekommen da- hier zwar nicht um die Motivation der Frauen geht, aber durch zwar den besseren Vater und treueren Partner, aber viele Frauen auf die Frage nach ihrer Motivation für Sex weniger gute Gene für die Nachkommen. Daher entschei- Rezensionen, Jahresinhaltsverzeichnis 183 den sich laut DNA-Studien 12% der Frauen für eine duale derholung der Reizung ihre Sensibilität und brauchen Partnerwahl und werden schwanger von einem anderen eine Pause. In der Vagina gibt es zwei Bereiche, die bei als dem Langzeitpartner. Leider wird gerade diese über- Druck einigen Frauen sexuellen Genuss bringen kön- raschende Prozentangabe von den Autoren nicht durch nen: der G-Punkt (der abhängig ist von der Gewebedicke einen Verweis auf die Quelle untermauert. Auch die Stim- zwischen Vagina und Urethra, wie italienische Forscher me des Mannes (Sound of Sexiness) trägt entscheidend herausgefunden haben) und der Cervix (Die Regel „size zur Attraktivität bei. Frauen verbinden mit der durch Tes- doesn´t matter „bzgl. der Penislänge stimmt also nicht tosteron tiefen Stimme bessere Gesundheit, Maskulinität, immer. Bei einigen Frauen ist Druck auf die Cervix erre- soziale Dominanz, Alter und Respekt. Entsprechend ha- gend und nötig für einen Orgasmus, bei anderen Frauen ben diese Männer mehr Sex und mehr Kinder. Die sexy dagegen schmerzhaft). Orgasmusprobleme bei Frauen Stimme wird von Frauen ebenso wie der männliche Gang können außer durch medizinische Ursachen wie koro- verstärkt um die Ovulation wahrgenommen. Außer den nare Herzkrankheiten, Hypertonus, diabetische Neuro- äußerlichen Merkmalen ist den Frauen eine sexy männ- pathie und einige Medikamente durch zwei Gründe ent- liche Persönlichkeit wichtig. Frauen lieben Männer mit stehen: zuwenig angenehme Stimulation oder Ablenkung Humor und Selbstbewusstsein. Auch wenn viele Männer von der angenehmen Stimulation. Der Orgasmus-Killer das nicht glauben, ist Humor die beste Taktik, um Frauen Nr.1 scheint dabei die (religiöse) Überzeugung zu sein, anzuziehen. Frauen mögen Männer, die Humor produ- dass Sex zur Zeugung da ist. Kulturelle Unterschiede kön- zieren und Männer mögen Frauen, die über ihre Witze nen ebenso Einfluss auf das sexuelle Erleben haben: wo lachen. Auch Macht und Ruhm faszinieren viele Frauen. Frauen Spaß am Sex haben sollen, haben sie auch mehr Nicht nur das Partizipieren an den Ressourcen der Mäch- Orgasmen. Die meisten Frauen müssen erst lernen, wie tigen durch eine längere Beziehung wirkt anziehend, son- Orgasmus geht. dern auch flüchtige Sexualkontakte (kurze Kontakte mit Auch wenn die Autoren die Liebe als ein wichtiger Filmstars oder berühmten Athleten). Ein weiterer wich- Prädiktor für Zufriedenheit und Glück (Top 12 von den tiger Aspekt der Attraktivität ist die Nähe oder Ähnlich- über 200 Gründen Sex zu haben) nicht ganz außen vor keit zwischen Frau und potentiellem Partner. Mit jedem lassen, betrachten sie sie unter rein wissenschaftlichen Kontakt und mit jeder Feststellung von Ähnlichkeit, z.B. Gesichtspunkten als mentales Chaos (Studie über Hirn- durch Nachbarschaft, den Sitzplatz in der Klasse und aktivität von Verliebten und Nicht-Verliebten des Neu- durch die Häufigkeit des Kontakts nimmt die Angst vor rowissenschaftlers Birbaumer), als natürlichen Rausch Fremden ab. Zu viel Ähnlichkeit ist allerdings auch wie- (fMRI-Studie von Bartels & Zeki bei Verliebten) und der schlecht, „proximity can kill sex faster than fainting“ mentale Störung. Anhand der Studien an Prärie- vs. Ro- – etwas geheimnisvoll soll es ja auch noch sein. cky-Mountain-Wühlmäusen bzgl. ihrer Mono- bzw. Po- Und was macht der Frau Spaß? Erogene Zonen der lygamie wird auch der Aspekt der Bindung thematisiert. Frau können praktisch überall sein. Häufige sind Nacken, Bindung entsteht durch Oxytocin und ist abhängig von Ohrläppchen, Mund, Lippen, Brust, Brustwarzen, Geni- der Rezeptoranzahl für Oxytocin und Vasopressin. tal, Po, Innenschenkel, Anus, Kniekehlen, Finger, Zehen, Und wie erobern Frauen? Im Gegensatz zur männ- wobei die Art der Berührung an den erogenen Zonen die lichen Konkurrenz, die offen zur Schau gestellt wird, ist Erregung bestimmt. Bei der Stimulation der Brust steigt weibliche Konkurrenz lange kaum beachtet worden. Da- bei 82% der Frauen die Erregung, bei 7% sinkt sie. Ab- bei konkurrieren Frauen genauso wie Männer in der Se- hängig ist die Erregung auch von den Hormonen und der xualität, besonders mit der körperlichen Schönheit. Um Größe der Brüste (je kleiner, desto sensibler). Die Genital- die äußerlichen Vorteile besser hervorzuheben, konsu- erregung entsteht oft schon durch genitale Mehrdurch- mieren Frauen im Vergleich zu Männern ein vielfaches an blutung, die einige Frauen als sehr angenehm empfinden. Produkten für ihr Äußeres und verbringen viel mehr Zeit Da das Gewebe von Männern und Frauen sehr ähnlich damit, um zu betonen wie jung, frei von Fehlern und ge- ist, wirkt Viagra u.ä. physiologisch auch bei Frauen. Al- sund sie sind – also sexuell begehrenswert. Frauen brau- lerdings empfinden Frauen dadurch weniger sexuelle Ge- chen i.d.R. viel Zeit, bevor sie ausgehen, um sich zurecht danken, Gefühle und Wünsche als Männer. Eine mögliche zu machen und damit eine größere Auswahl an Paarungs- Hypothese ist, dass Männer eine engere Bindung an den objekten zu erhalten. Zusätzlich kommt dann noch das zu Penis durch ständigen Gebrauch, ständiges Anfassen und diesem Zweck übliche Verhalten (Brust raus, Vorbeugen häufigeres Masturbieren haben und dadurch sexuelle Ge- des Dekolleté, längerer Blickkontakt, hüftbetonter Gang, danken nahe liegen. Für einige Frauen ist die angenehms- Lippen befeuchten), was mehr Männer anspricht und so- te Stimulation außer an der Klitoris im vorderen Bereich mit die Auswahl erhöht. In Studien zeigte sich, dass Frau- der Vagina, nahe der Öffnung, da dort die Nervenenden en zurzeit ihrer Ovulation aufreizendere und freizügigere liegen. Allerdings verlieren die Nervenenden durch Wie- Kleidung tragen als sonst. Auch das Kaufverhalten für 184 Aktuelles

Kleidung und Accessoires ist um den Eisprung vermehrt Hygiene des Partners, sinkender Status, Gesundheit, Eja- (besonders in Anwesenheit von weiblichen Rivalinnen), culatio praecox oder erektile Dysfunktion des Partners die Attraktivität ihrer potentiellen Rivalinnen wird eher und die Länge der Beziehung (hier geben die Autoren abgewertet, die Lust auf Partys und die Flirtbereitschaft auch Tipps für sexuelle Aktivität in langen Beziehungen). (trotz Partner) steigt. Um die Ovulation hat die Paa- Die Gründe für ungewollten Sex können vielfältig sein: rungswahl für Frauen mehr Konsequenzen, Fehler kosten Erhalt der Partnerschaft, Pflicht, um Streit zu vermeiden, mehr und ein Sieg über Rivalinnen hat den größten Nut- dem Partner einen Gefallen tun, wenn die Beziehung mehr zen. Denn bei sexueller Rivalität geht es u.a. darum, den Gewinn als Kosten bringt, wenn schon viel in die Bezie- statushöheren Mann zu erobern. Laut einer Studie von hung investiert wurde, wenn Alternativen (neue Partner) Buss ist das Umwerben eines gebundenen Mannes keine nicht erreichbar sind, weil der Mann das Geld nach Hause Seltenheit. (Eine nicht unübliche Taktik ist es, die Riva- bringt und die Frau Kinder und Haushalt versorgt und lin des Seitensprungs zu bezichtigen, einen Fehler in der aus Mitleid mit dem Mann. Ob Frauen sich deswegen Beziehung oder der Rivalin zu betonen („Du bist zu gut schlecht fühlen, hängt wohl eher vom Motiv ab, ob es sich für sie“), abzuwarten bis das Paar einen Konflikt hat, oder dabei um Annäherung oder Vermeidung handelt. noch besser: einen heimlichen Seitensprung anbieten, Frauen handeln und tauschen Sex – wörtlich und der dann doch rauskommt und den Partner dann nach symbolisch für Gehaltserhöhungen, einen neuen Job, Be- der Trennung übernehmen.) Diese Taktik birgt allerdings förderung, Geld oder Drogen. Geschenke für Sex gibt es auch die Gefahr der Rache in sich. in allen Kulturen überwiegend von Männern an Frauen. Sexuelle Eifersucht entsteht entweder aus verletztem Frauen gewähren Sex oder enthalten ihn vor; Männer Stolz oder als Abwehr einer Bedrohung, wobei das Aus- wollen ihn und Frauen können dies nutzen, um Vorteile maß der Eifersucht davon abhängig ist, ob in der jewei- zu haben. Bei den knappen Ressourcen (die festgelegte ligen Kultur Privatbesitz vorherrscht, Heirat als Status gilt Anzahl von Eiern und 9 Monate Schwangerschaft) kon- und zum Überleben nötig ist, ob Sex außerhalb der Ehe kurrieren die Männer um den Zugang. Und entsprechend schwer zu bekommen ist und ob Kinder einen hohen Wert können die Frauen wählerisch sein. Männer deuten oft haben. Männliche Eifersucht ist nicht nur das häufigste Signale von Frauen irrtümlich als sexuell (Lächeln aus Mordmotiv in Beziehungen weltweit, sondern kann auch Freundlichkeit oder Höflichkeit); die meisten Männer fin- zu Formen der Kontrolle ausarten wie die Beschneidung den die meisten Frauen attraktiv – aber die meisten Frau- der Frauen in einigen Ländern. 31% der Frauen (17% der en finden die meisten Männer nicht attraktiv; Männer Männer) berichten in der Studie von Meston und Buss machen Abstriche bei wünschenswerten Eigenschaften davon, die Eifersucht ihres Partners schon provoziert zu um Sex zu haben – Frauen bleiben in der Regel bei ih- haben, um das Verlangen des Partners zu erhöhen, seine ren hohen Ansprüchen; und Männer sind durch Visuelles Verbundenheit zu testen und seinen Einsatz zu fördern. (Anblick einer attraktiven Frau) leicht zu erregen. Dies Bei weiblicher Eifersucht geht es auch, aber anders als alles können Frauen nutzen, u.a. bei der Partnerwahl, zur bei Männern um Kontrolle und Bewachung. Der Mann Verbesserung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Lage. wird befriedigt, damit es keine andere macht, denn sonst Sex hat Einfluss auf das weibliche Selbstbewusstsein ginge womöglich seine Unterstützung verloren. Es stellt und umgekehrt. Selbstsicherheit ist sexy. (Die Selbstach- außerdem den Schutz vor ansteckenden Krankheit und tung von Männern mit Erektionsproblemen oder Impo- Ansehensverlust dar. tenz leidet dramatisch. Kaum etwas erhöht das männliche Sex wird von Frauen aber manchmal auch als Pflicht Selbstbewusstsein mehr als die frische sexuelle Eroberung angesehen, um einen Konflikt zu beenden und um end- einer attraktiven Frau). Die Standards weiblicher Schön- lich Ruhe zu haben. Einige Frauen fühlen sich unfähig, heit variieren zwar kulturell; reine, glatte Haut, volle Nein zu sagen oder willigen in Sex ein, obwohl sie keinen Lippen, strahlende große Augen, guter Muskeltonus, Sex wollen. Zu Beginn einer Beziehung werden die wah- beschwingter Gang, Symmetrie und das richtige Taille- ren sexuellen Bedürfnisse der Partner nicht deutlich, da Hüfte-Verhältnis – alles assoziiert mit Fruchtbarkeit – hat sie i.d.R. bei beiden hoch sind. Später zeigen sich dann universalen Sexappeal. Dies hat den Nachteil, dass Frau- die echten Bedürfnisse – doch dann ist es oft zu spät; sie en ihr Körperbewusstsein mit ihrer sexuellen Attraktivi- sind schon in einer Beziehung. Männer geben ein größe- tät und mit speziellen Körperattributen wie Taille, Hüfte res sexuelles Verlangen an als Frauen, die hinsichtlich des und Schenkel verbinden. Da Männer für die äußerlich of- Zeitpunktes und der männlichen Gene wählerischer sein fensichtlich vielfältigen Fruchtbarkeitshinweise der Frau müssen. Biologische Gründe für weibliche Unlust kön- Vorlieben entwickelt haben, erhält das weibliche Ausseh- nen zum einen Hormone sein, Schwangerschaft, Stillen, en so eine immense Bedeutung. Es ist, wie es ist, Frauen Menopause, Krankheiten, Medikamente, zum anderen werden manchmal als Sexobjekt gesehen und Männer psychologische Turn-offs wie Übergewicht oder fehlende manchmal als Statusobjekt. Es gibt aber auch Vorteile: Rezensionen, Jahresinhaltsverzeichnis 185

Sex kann das Selbstvertrauen enorm erhöhen (dies wird Der Taschen Verlag ist in seinen Marktsegmenten einer von einigen Frauen auch gezielt eingesetzt, um sozialen der erfolgreichsten Verlage nicht nur im Stammland Status, soziale Akzeptanz, Ansehen oder Bestätigung zu Deutschland, sondern auch international. Das hängt wohl bekommen – mit entsprechenden Männern, auf die Frau mit den aufwändig produzierten Büchern zusammen, bei nicht unbedingt sexuell Lust haben muss). denen der (mehrsprachige) Text sicher nicht unwichtig Sex kann aber auch trösten bei Trennung und Lie- ist, aber gewiß nicht so bedeutend wie die oft farbigen beskummer („the best way to get over someone is to get Illustrationen. Das Verlagsprogramm umfasst u.a. Archi- under someone else!“, wie eine Teilnehmerin der Studie tektur, Design, Film, Fotografie, Kunst, Mode, Lifestyle. von Meston und Buss zu diesem Thema angab). Außer Und auch eine Sparte namens „Sexy Bücher“ mit Dau- der Selbstwerterhöhung wird Sex von Frauen auch zur ersellern wie „Erotische Kunst des 20. Jahrhunderts“. Zu- Machtausübung genutzt (Kontrolle und Einfluss über den nehmend finden sich im Verlagsprogramm neben preis- Partner oder als Wohltat für unerfahrene Männer). Selbst werten Klassikern des jeweiligen Genres auch manchmal eine Frau, die eine gewisse physische Gewalt beim Sex sehr teure großformatige Bildbände, die sogenannten mag, kann durchaus sexuelle Macht über den Mann emp- „Coffee Table Books“. finden. In einer Studie von Hawley über Gewaltfantasien Das hat sich nicht dadurch geändert, dass Angelika von Frauen konnte gezeigt werden, dass Frauen, die dies Taschen sich inzwischen von ihrem Mann und Mitver- mögen, ein höheres Selbstbewusstsein haben. Die Autoren leger Benedikt Taschen nicht nur privat, sondern auch schließen daraus, dass die erotische Empfindung bei sexu- beruflich getrennt hat und nunmehr mit dem Berliner eller Gewalt durch Männer nicht die Schwäche sondern Kunstbunker – Galeristen Christian Boros gemeinsam die Macht der Frauen zeigt, da der Mann wegen ihrer se- den vom Programm her nicht völlig unähnlichen „Dis- xuellen Attraktivität, Faszination und Unwiderstehlichkeit tanz Verlag“ betreibt. Immerhin ist statt Frau Taschen mit seine Kontrolle verliert. Sexuelle Dominanz des Partners Klaus Wagenbach ein renommierter Kleinverleger neuer bevorzugen Frauen manchmal auch, um endlich einmal Taschen-Partner geworden. Verpflichtungen und Kontrolle abzugeben. Zum Markterfolg haben die „Sexy Books“ vermutlich Und zu guter letzt ist Sex für viele Frauen auch Medi- entscheidend beigetragen. Dazu gehört auch eine Serie zin. Sex ist ein hervorragendes Schmerzmittel, z.B. gegen über Körperteile mit bisher drei Titeln: „The Big Book Kopf- und Regelschmerzen, Einschlafhilfe, Prophylaxe of Breasts“, „The Big Book of Legs“ und „The Big Penis gegen Endometriose, Stressbewältigung zum Abbau von Book“. Jetzt kommt mit dem „Big Butt“ der Hintern dazu. Ärger und Streit, zur Gewichtsreduktion, Gesunderhal- Die Herausgeberin Dian Hanson beschäftigt sich seit Jahr- tung, Erhöhung der Lebenserwartung und vieles mehr. zehnten mit Fetisch-Sex und sieht sich selbst als Kennerin männlicher (nicht unbedingt weiblicher) Sexualität. Ihr Regina Marx (Kiel) neuester Bildband beeindruckt zunächst quantitativ: über 400 oft farbige Abbildungen, Großformat 310 x 314 x 37 mm, 3130 Gramm Gewicht – „gefühlte 15 kg“, wie das Berliner Stadtmagazin „tip“ spottete. Und das bei einem Preis von 39,90 . Wie aber ist es qualitativ? Einer Einleitung folgen chronologisch strukturierte Kapitel. Obwohl Material aus dem gesamten zwanzigsten Jahrhundert ausgewertet wurde , stehen die vierziger / fünfziger Jahre am Anfang. Dann kommt ein eigener Abschnitt für die besonders ergiebigen sechziger Jahre. Anschließend geht es um die Zeit von 1970 bis 1990. Beendet wird das Buch mit einem Kapitel „2001. An Ass Odyssey“. Es sind viele der be- kanntesten Erotik-Fotografen des vorigen Säkulums ver- treten, darunter Elmer Batters, Ellen von Unwerth, Jean- Paul Goude, Ralph Gibson, Richard Kern, Jan Saudek, Ed Fox, Terry Richardson sowie Sante d’Orazio. Fotomodelle mit kleinem Po wie Pamela Anderson sind ebenso re- präsentiert wie Serena Williams mit ihrem voluminösen Dian Hanson: The Big Butt Book. The Dawning of the Age of Ass. Text Hinterteil. Dazu kommen Zeichnungen von Eric Stan- englisch / deutsch / französisch. Köln / Berlin / Los Angeles, Taschen Verlag Klaus ton u.v.a.m. Es gibt Interviews mit Autoren wie dem aus Wagenbach 2010 (372 S., geb., ISBN-13: 9783836511155, Preis: 39,90 €) einschlägigen Porno-Filmen bekannten John Stagliano 186 Aktuelles

( „Buttman“), dem Filmemacher Tinto Brass oder dem sozial sanktionsfrei präsentierbar dargeboten. Eine we- Karikaturisten Robert Crumb. Auch Modelle sind Ge- sentliche Funktion des Werks ist vermutlich, eine Mas- sprächspartner, etwa Buffie the Body, Coco, Watermelon turbations – Vorlage von Format zu bieten. So sehen es Woman aus Brasilien und Eve Howard, die als Spanking- jedenfalls Verleger und Herausgeberin. Und sicherlich ist Objekt zu (relativer) Prominenz kam. Der dreisprachige das Niveau dieses auf vielen Couchtischen vorstellbaren Text ist parallel angeordnet, die Übersetzungen aus dem Buches sehr viel höher als das schmuddeliger Porno- amerikanischen Englisch sind ausgezeichnet (deutsch Hefte oder entsprechender Sex-Seiten im Internet. von Egbert Baqué, Berlin; Französisch von Alice Pétillot, Dennoch sollte angemerkt werden, dass die Konzent- Paris). Quasi – kultursoziologische und kulturgeschicht- ration auf prospektive männliche heterosexuelle Leser zu liche Themen sind zwar implizit meist präsent, werden einer Dominanz des weiblichen Gesäßes führt, die zu- aber explizit eher gestreift (wenn überhaupt). mindest Frauen und Homosexuelle nicht absolut goutie- So etwa die Frage, ob der von Busen dominierten ren dürften. Es gibt keine Diskussion über eine mögliche (US-)Kultur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Androgynität des größten menschlichen Muskels. Nackte Renaissance des Popos folgte, wofür die Kehrseite der Männerhintern? Fehlanzeige. Schauspielerin Jennifer Lopez symbolisch stehen könnte Die Frauenärsche wirken ubiquitär und omnipräsent, (vgl. Untertitel). eine „totalitäre“ Vision von „Big Brother“ (oder vielleicht Überlegungen zum Allerwertesten als „Proletariat der besser „Big Sister“) wie sie George Orwell in seiner Dys- Körperteile“ im Kontext bürgerlicher Arbeitsethik (Hans- topie des allgegenwärtigen Big Brother in „1984“ noch Jürgen Döpp) oder als Symbol politischer Passivität (so nicht vorgeschwebt haben dürfte. „Acknowledgements“ schon Paul Levi) lassen sich nicht finden. Exkurse in die sind wohl aus rechtlichen Gründen vorhanden, aber recht Kunstgeschichte sind minimal. Zwar wird Man Rays be- knapp und kleingedruckt. Ein Sach- und ein Personenre- rühmte Fotostudie des eiförmigen Hinterns reproduziert, gister fehlen wie ein Quellenverzeichnis. Der Rezensent aber Pablo Picasso oder George Grosz sind so wenig ver- empfiehlt die konsekutive Lektüre in Intervallen oder treten wie Max Ernst oder André Masson. auch die von Stichproben, um Ermüdungserscheinungen Die (gerade fürs männliche Publikum) oft real von vorzubeugen. Angst und Scham besetzte Thematik wird durch Scherz, Satire, Humor, Ironie u.ä. heiter, effektvoll und vielleicht Volker Gransow (Berlin)

Hannie van Rijsingen, Unsichtbare Affären, Per Mausklick zum Sexkick Orlanda-Verlag 2010, 180 Seiten, Paperback, ISBN: 978-3-936937-76-1, € 14,50

Wer dauerhaft virtuell fremdgeht, hat Cybersex - oft auf Kosten des realen Sexlebens. Damit verändert er nicht nur sich selbst, sondern ebenso das Leben von Partner und Familie. Wie fast jeder Seitensprung findet auch der virtuelle im Verborgenen statt. Die „wirklichen” Partner wissen in der Regel nichts davon, zumal die Nebenbuhler nur virtuell existieren. So bleibt die per Mausklick stattfindende Affäre gewissermaßen doppelt unsichtbar - und hat doch massive, sichtbare Folgen im realen Leben der Betroffenen, die nicht selten süchtig nach dem virtuellen Sexkick werden. Offenheit, Ehrlichkeit und Respekt machen in vielen Beziehungen Platz für Lügen und Betrug. In Unsichtbare Affären beschreibt die Sexologin und Therapeutin Hannie van Rijsingen welche Auswirkungen der regelmäßige Onlinekonsum von Sex auf die Partnerschaft hat und was man aktiv dagegen unternehmen kann. Hannie van Rijsingen ist keine Moralistin, die uns vorschreibt, was wir zu tun und zu lassen haben, sondern sie bricht eine Lanze für eine respektvolle Sexualität Inhaltsverzeichnis Sexuologie Bd XVII (2010) Contents Sexuologie volume XVII (2010)

Themenschwerpunkt Thematic Focus Ahlers, Christoph J. Ahlers, Christoph J. Porno, Dating, Beziehungswünsche: Sexualität und Porno, dating, relationships: Sexuality und Partnerschaft im Internet 114 partnership in the internet 114 Beier, Klaus M. Beier, Klaus M. Sexuelle Präferenzstörungen und Bindungsprobleme 24 Disturbances in sexual preference and bonding 24 Beier, Klaus M. u. Laura F. Kuhle Beier, Klaus M. u. Laura F. Kuhle Internet und neue Medien: Perspektiven für die Internet and the new media: Perspectives for Sexualmedizin 139 Sexual Medicine 139 Brenk-Franz,Katja Brenk-Franz,Katja Sexuelle Verhaltensweisen in Abhängigkeit vom Sexual behavior in relation to the Bindungsstil 14 attachment style 14 Brancalion, Martina u. Johann F. Kinzl, Verena Eisenmann Brancalion, Martina u. Johann F. Kinzl, Verena Eisenmann Prostitution bei Studentinnen – Resultate einer Prostitution among female students – Online-Studie 119 Results of an on-line study 119 Döring, Nicola Döring, Nicola Internet-Sexualität: Spektrum und Chancen 91 Internet sexuality: Scope and opportunities 91 Grossmann, Klaus E. Grossmann, Klaus E. Sichere und unsichere Bindungserfahrungen im Reliable and unreliable bonding experiences Säuglingsalter und ihre Folgen für die Entwicklung der of infants and the consequences for personality Persönlichkeit 5 development 5 Imhorst, Elisabeth Imhorst, Elisabeth Bindungsverhalten bei Männern mit bisexueller Praxis 38 Men who practice bisexuelity 38 Leidlmair, Karl Leidlmair, Karl Virtuelle Nähe in Netzgemeinschaften – Chancen Virtual intimacy in social networks – und Risiken 32 chances and risks 32 Rebensburg, Klaus Rebensburg, Klaus Internet 2010 – Informationsgesellschaft 2020 126 Internet 2010 – Informationsociety 2020 126 Taylor, Max u. Ethel Quayle Taylor, Max u. Ethel Quayle Die kriminogenischen Qualitäten des Internets Criminogenic qualities of the internet in the – Zur Sammlung und Verbreitung von collection and distribution of abuse images Missbrauchsbildern von Kindern 106 of children 106 Wolf, Karsten Wolf, Karsten Emotionale Kompetenz als Voraussetzung für sichere Emotional competency as a prerequisite for Bindungen und ihre Relevanz für psychiatrische reliable bonding and its relevance for Erkrankungen 45 psychiatric illnesses 45

Orginalarbeiten Orginalia Beier, Klaus M. u. Eva Rothermund, Doreen Sharav, Beier, Klaus M. u. Eva Rothermund, Doreen Sharav, Christoph J. Ahlers Christoph J. Ahlers Sexualität und Partnerschaft bei rheumatischen Sexuality, partnership and Erkrankungen 59 rheumatic diseases 59 Bosinski, Hartmut A. u. Dagmar A. Cedzich Bosinski, Hartmut A. u. Dagmar A. Cedzich Sexualmedizin in der hausärztlichen Praxis: Sexual Medicine in GP practice: Gewachsenes Problembewusstsein bei nach wie vor Growing awareness but still unzureichenden Kenntnissen 147 insufficient knowledge 147 Kentenich, Heribert u. Kathrin Wohlfarth, Kentenich, Heribert u. Kathrin Wohlfarth, Psychosomatische und psychosoziale Aspekte der Psychosomatic and psychosocial aspects of heterologen Insemination 51 donor insemination 51

Fortbildung Advanced Education Haselbacher, Gerhard Haselbacher, Gerhard Krebserkrankung und Sexualität 63 Cancer and sexuality 63

Historia Historia Schirren, Carl Schirren, Carl 50 Jahre erlebte Andrologie 68 50 years of practiced andrology 68

Humboldt-Dialog (2010) Humboldt-Dialogue (2010) Reden der Laudatoren und Preisträger anlässlich der Adresses of the laudatores and prize winners on the Verleihung des Stiftungspreises der Wilhelm-von- the awarding of the foundation prize of the Humboldt-Stiftung an Jürgen Trabant und occasion of Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung to Heino F. L. Meyer-Bahlburg 160 Jürgen Trabant und Heino F. L. Meyer-Bahlburg 160

Sexuologie 17 (3–4) 2010 187/ Akademie für Sexualmedizin http://www.sexualmedizin-akademie.de/sexuologie Hinweise für Autorinnen und Autoren Sexuologie

Die Beiträge für die Sexuologie gliedern sich in Originalarbeiten, Kasuistiken und Fallberichte, Historia, sowie Buch- rezensionen. Eingerichtete Manuskripte werden anonymisiert beurteilt. Der Korrespondenzautor erhält einen Korrekturabzug (Fahnen). Die Redaktion bittet, folgende Hinweise zu beachten: Manuskripte einschließlich Literaturverzeichnis, Abbildungen, Abbildungslegenden und Tabellen sind wie folgt einzureichen, per E-mail unter: sexuologie@ sexualmedizin-akademie.de oder postalisch unter: Redaktion Sexuologie, Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin, Luisenstr. 57, 10117 Berlin. Die Arbeiten sollten folgendem Aufbau entsprechen: Ein gesondertes Blatt enthält: 1. einen kurzen, klaren Titel der Arbeit, 2. die Namen, Vornamen aller Autoren, 3. die vollständige Anschrift mit Bezeichnung der Abteilung, Klinik bzw. Institut, 4. die Korrektur- und Korrespondenzadresse mit Telefonnummer und ggf. Faxnummer und e-mail Adresse. Vor dem Text stehen: 1. der Titel in Deutsch und Englisch, 2. die Autorennamen, 3. eine deutsche und eine eng- lische Zusammenfassung (jeweils ca. 250 Worte), die Hintergrund, Methodik und Ergebnisse der Arbeit darstellen. Unter den Zusammenfassungen stehen jeweils drei bis fünf „key words” bzw. Schlüsselwörter, ent- sprechend dem Medical Subject Heading des Index Medicus. Der Beitrag ist zu gliedern, bei Originalarbeiten z.B. durch kurze, klare Zwischenüberschriften wie Methodik, Ergebnisse, Diskussion. Hervorhebungen sind kursiv möglich; die Wörter im Manuskript kursiv schreiben oder unterstreichen; Texte in Kleindruck (petit) bitte deutlich durch eine entsprechende Schriftgrösse abheben. Tabellen, Abbildungen sind zu numerieren und mit einer Überschrift zu versehen. Die Einschaltstelle ist im Text zu kennzeichnen. Abbildungen – falls sie nicht als Grafikdatei vorhanden sind – sind als reproduktionsfertige Vorlagen zu liefern: etwa als Strichzeichnungen, Graphiken, Computerausdrucke oder als schwarz/weiß Fo- tos. Der Abdruck von Farbabbildungen erfordert eine Rücksprache mit der Redaktion. Falls Abbildungen von Patienten verwendet werden, dürfen diese nicht erkennbar und identifizierbar sein. Für Maßeinheiten wird das SI-System verwendet. Gebräuchliche ältere Maßangaben können in Klammern ergänzt werden. Weitere Abkürzungen sollten nach Möglichkeit vermieden werden. In jedem Fall sollte der ersten Verwendung der Abkürzung die ausgeschriebene Vollform vorangestellt werden. Bei Medikamenten werden die Generika angegeben. Präparatennamen (Handelsnamen) können in Klammern ergänzt werden. Bei Geräten oder Instrumenten sollten generell die allgemeinen Bezeichnungen verwendet werden. Herstel- lerbezeichnungen können in Klammern ergänzt werden. Für die Literaturangaben und die Zitierweise im Text sind nachfolgende Vorgaben unbedingt einzuhalten:

Im Text: 1. Single author: the author’s name (without initials, unless there is ambiguity) and the year of publication; 2. Two authors: both authors’ names and the year of publication; 3. Three or more authors: first author’s name followed by ‘et al.’ and the year ofpublication. Citations may be made directly (or parenthetically). Groups of references should be listed first alphabeti- cally, then chronologically. Examples: “as demonstrated (Allan, 1996a, 1996b, 1999; Allan and Jones, 1995). Kramer et al. (2000) have recently shown ....” Literaturliste: References should be arranged first alphabetically and then further sorted chronologically if necessary. More than one reference from the same author(s) in the same year must be identified by the letters “a”, “b”, “c”, etc., placed after the year of publication. Examples: Reference to a journal publication: Van der Geer, J., Hanraads, J.A.J., Lupton, R.A., 2000. The art of writing a scientific article. J. Sci. Commun. 163, 51–59. Reference to a book: Strunk Jr., W., White, E.B., 1979. The Elements of Style, third ed. Macmillan, New York. Reference to a chapter in an edited book: Mettam, G.R., Adams, L.B., 1999. How to prepare an electronic version of your article, in: Jones, B.S., Smith, R.Z. (Eds.), Introduction to the Electronic Age. E- Publishing Inc., New York, pp. 281–304.