Miss, Model, First Lady

Zur Geschichte von Schönheitswettbewerben

Von Thomas Macho

Sendung: SWR2 Essay Redaktion: Michael Lissek Regie: Iris Drögekamp Produktion: Südwestrundfunk 2011

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Die Erfolgsgeschichte der Schönheitswettbewerbe beginnt im 19. Jahrhundert. Davor verschwinden solche Wettbewerbe im Dickicht lokaler Sitten und Gebräuche und hinter den erhabenen Darstellungen der Mythologie. Gewiss, die Erzählung vom Urteil des – und der Entführung Helenas, Anlass des Trojanischen Kriegs – war schon zu Homers Zeiten bekannt; sie war so bekannt, dass Helenas Schönheit idealisiert oder dämonisiert werden konnte, zum Vexierbild zwischen Hure und Heiliger: vom Lobpreis der Helena, den der Sophist Gorgias aus Sizilien verfasste, bis zur Tragödie des Euripides. Jenseits der Frage nach der mehrfach geraubten Helena gelang es aber erst Lukian, dem genialen Spötter und Aufklärer, die Szene des Paris-Urteils auf ihre landwirtschaftlichen Wurzeln zurückzuführen: Die ersten Schönheitswettbewerbe wurden nicht zwischen Göttinnen, sondern auf Viehmärkten ausgetragen. Darum klagt Paris in Lukians Satire, wie denn »ein bloßer Sterblicher und ein Bauer« als »Richter in einer solchen Sache« amtieren solle.

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»Das geht über den Verstand eines Kuhhirten: solche Dinge gehören für die hübschen Herren aus der Stadt. Ja, wenn die Frage von drei Ziegen oder jungen Kühen wäre, da wollte ich nach der Kunst entscheiden, welche die schönste sei!«

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Der Hirte bleibt skeptisch, was »die Sache für einen Ausgang nehmen wird«, doch genügen ihm die Vision Helenas und das wiederholte Versprechen der Venus, seine Liebeswerbung zu unterstützen, um ihr den goldenen Zankapfel zuzusprechen. Seine Entscheidung für Venus, das Urteil im ersten Schönheitswettbewerb der Kulturgeschichte, führte bekanntlich zu Krieg und Tod. So schlimm kam es jedoch nur ausnahmsweise. Konflikte ließen sich zwar auch Jahrtausende später - etwa im Schönheitswettbewerb zwischen Schneewittchen und der bösen Königin – nicht immer vermeiden, aber sie konnten vorsorglich entschärft werden: durch Praktiken der Ritualisierung. Schon im Mittelalter war es – etwa in den Niederlanden, in Spanien, Frankreich oder Deutschland – üblich, das schönste Mädchen einer Region zur ›Maikönigin‹ oder ›Maibraut‹ zu wählen und auf dem Maifest, oft unter dem Maibaum, als ›Mailehen‹ zu versteigen. Mit dem Geld aus der Versteigerung wurde oft die Aussteuer der weniger attraktiven Mädchen aufgebessert. Danach aber wurde eine

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Strohpuppe der vorjährigen ›Maikönigin‹ zeremoniell verbrannt: Eine kräftigere Warnung vor Stolz und Eitelkeit ist schwer denkbar.

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Die Erfolgsgeschichte der Schönheitswettbewerbe begann im 19. Jahrhundert, und sie begann neuerlich mit dem Vieh: mit der Ausstellung von Hunden, Vögeln und Geflügel. Es war der vielleicht bedeutendste Schausteller der Epoche, Phineas Taylor Barnum, der erstmals diese Wettbewerbe in seinem American Museum in New York veranstaltete. Das Museum hatte Barnum 1841 übernommen und rasch zum führenden Unterhaltungs-Etablissement ausgebaut: Er zeigte betriebsame Flöhe, gelehrte Hunde, Jongleure, Automaten, Bauchredner, lebende Bilder, dicke Kinder, Zwerge, Riesen, Seiltänzer, Karikaturen und Pantomimen, Sänger und Tänzer, aber auch Modelle von Dublin, Paris oder den Niagarafällen, sowie amerikanische Indianer mit ihren kriegerischen und religiösen Zeremonien. Zu seinen berühmtesten Sehenswürdigkeiten gehörten eine (grob gefälschte) Seejungfrau, eine vorgeblich 161 Jahre alte schwarze Frau, der kleinwüchsige Charles S. Stratton, der als General Tom Thumb die europäische Aristokratie faszinierte oder die Opernsängerin Jenny Lind, angepriesen als schwedische Nachtigall.

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Weiter zeigte Barnum eine exotische Menagerie, darunter Grizzlybären und erstmals einen Walfisch; er präsentierte einen Riesengorilla und entwickelte die Freakshows, in denen – schon ab 1860 – verschiedene Charaktere als ›What is It?‹ oder ›Nondescripts‹ präsentiert wurden. Insbesondere der 1926 verstorbene William Henry Johnson absolvierte zahlreiche Engagements bei Barnum, in denen er als eine Art von missing link zwischen Mensch und Orang-Utan vorgeführt wurde. Auf ähnliche Weise wurde Julia Pastrana als Bear Woman oder Ape Girl ausgestellt; sie starb bereits 1860, kurz nach der Geburt eines Kindes, aber ihr konservierter Körper (und der Körper ihres Kindes) wurden noch bis in die Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts auf diversen Jahrmärkten gezeigt. In Verbindung mit den bereits erwähnten Schönheitswettbewerben für Blumen, Hunde oder Vögel organisierte Barnum Beauty Pageants für Babies, wie er in seiner Autobiographie berichtete:

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»Bei verschiedenen Gelegenheiten zog ich ›Baby Shows‹ auf, bei denen ich großzügige Preise für das hübscheste oder fetteste Baby verteilte, für die niedlichsten Zwillinge oder Drillinge, und so weiter. Diese Shows kündigte ich stets monatelang an und beschränkte die Zahl der Babies, die an der Ausstellung teilnehmen durften, auf hundert. Lange vor dem Termin war dann die Liste voll, und ich kannte einige Mütter, die bitterlich weinten, weil die Anmeldefrist abgelaufen war und sie keine Gelegenheit mehr erhielten, ihre wunderschönen Babies auszustellen. Diese Shows waren ebenso beliebt wie einzigartig, und während sie sich in finanzieller Hinsicht rentierten, war es mein Hauptinteresse, die Zeitungen dazu zu bringen, über mich zu schreiben, mit neuen Fanfarenstößen in die Trompete, die ich stets für das Museum blies. Die größte Schwierigkeit bestand darin, den Hauptpreis von hundert Dollar auf den Baby Shows zu verleihen. Jede Mutter dachte ja, ihr eigenes Baby sei das schönste und beste, und erwartete vertrauensvoll den ersten Preis. Welche Mutter würde schon ihr Baby gegen ein anderes eintauschen? Damit hatte ich nicht gerechnet, als ich zum ersten Mal in den erwartungsvollen Kreis trat, um anzukündigen, dass ein Damen-Komitee entschieden hatte, den Hauptpreis an das Baby von Frau Soundso zu verleihen: Ich war nicht vorbereitet auf den Sturm der Entrüstung, der sich danach auf allen Seiten erhob. Neunundneunzig schwer enttäuschte und – wie sie dachten – zutiefst ungerecht behandelte Mütter verbündeten sich, um das erfolgreiche Kindchen als das durchschnittlichste und unansehnlichste Baby von allen zu bezeichnen, und mich und mein Komitee der Dummheit und Parteilichkeit zu bezichtigen. ›In Ordnung, meine Damen‹, sagte ich beim ersten Mal, ›dann wählen sie doch ein Komitee aus ihren eigenen Reihen und ich werde noch einmal einen Preis von hundert Dollar für das Baby stiften, das sie zum schönsten Kind erklären werden.‹ Doch ab dem selben Augenblick waren die neunundneunzig Verbündeten – als hätte ich Öl ins Feuer geschüttet – Todfeindinnen, und keine neuen Babies wurden für den zweiten Preis vorgeschlagen. Später habe ich dafür gesorgt, dass die Preisentscheidung nur mehr schriftlich, nicht mehr persönlich bekanntgegeben wurde. Nach dem ersten Wettbewerb dieser Art verbreitete sich das vage, doch immer noch sehr aktuelle Gerücht, manche jungen Mütter hätten in der Eile des Aufbruchs vom Museum ihre Babies vertauscht (die ja alle in gleichem Alter und ähnlich gekleidet waren); sie hätten ihren Irrtum erst zuhause bemerkt, etwa anlässlich folgenden Gesprächs mit ihrem Ehemann: ›Hat unser Baby den Preis gewonnen?‹ ›Nein! Unser Liebling wurde um

4 den Erfolg gebracht.‹ ›Gut, und warum hast du dann nicht dasselbe Baby heimgebracht, das du ins Museum geschleppt hast?‹ Ich bin allerdings froh, sagen zu dürfen, dass ich dieses grausame Gerücht nicht bis zu einer authentischen Quelle zurückverfolgen konnte.«

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Beflügelt durch die Popularität der Hunde-, Vögel- und Baby-Shows in seinem American Museum versuchte P.T. Barnum, auch Schönheitswettbewerbe für junge Frauen zu initiieren. Ab Mitte der Fünfzigerjahre inserierte er in verschiedenen

Zeitungen, etwa unter der Überschrift »BARNUM’S GALLERY OF AMERICAN BEAUTY« in der New York Tribune vom 23. Juli 1855. Den schönsten Frauen wurden Preise von fünftausend Dollars geboten; sie sollten über sechzehn Jahre alt sein, verheiratet oder ledig. Um die Entscheidung treffen zu können, sollten Photographien oder Daguerrotypien der schönsten Frauen, aus allen Teilen der Vereinigten Staaten und Kanadas, mit oder ohne Namen, im American Museum ausgestellt werden, und das Publikum sollte mit Stimmzetteln die Preisträgerinnen wählen. Die zehn Porträts mit den meisten Stimmen sollten gemalt und im französischen ›World’s Book of Beauty‹ publiziert werden.« Vorsorglich hatte Barnum schon am 21. Juni 1855 Briefe an einige Maler geschrieben. Im Vergleich mit den beliebten Baby-Shows war die Gallery of American Beauty freilich ein Misserfolg; sie verletzte offenkundig die damals gültigen Konventionen und Anstandsregeln.

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Freilich kann nicht nur auf Zwänge des viktorianischen Zeitgeists zurückgeführt werden, dass die meisten Schönheitswettbewerbe um junge Frauen – abgesehen von lokalen Festen – erst in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert veranstaltet wurden; allzu stark war spätestens seit dem 17. Jahrhundert das Interesse des Publikums auf singuläre Wunder gerichtet, auf Abweichungen und Ausnahmen, so dass Schönheit, Vollendung und Regelkonformität dagegen fast nicht ins Gewicht fielen. Wie viele Flugblätter wurden gedruckt, um Nachrichten über zweiköpfige Kälber, Blutregenfälle, Kugelblitze oder Kometen zu verbreiten! Monstren wurden konsequent als göttliche Zeichen interpretiert, und in der frühen Neuzeit gab es kaum einen europäischen Herrscher, der nicht kleinwüchsige oder schwachsinnige Menschen für sein Kuriositätenkabinett suchte: Es wurde sogar gewettet, wer den

5 winzigsten Zwerg oder den seltsamsten Tölpel besaß; und es kam vor, dass sie ausgeliehen, getauscht oder verkauft wurden. Bereits in der elisabethanischen Ära waren ›Monster-Shows‹ in London sehr beliebt. In Konkurrenz mit solchen Sensationen übten der Apollo vom Belvedere oder die am 8. April 1820 entdeckte Venus von Milo nur auf die Archäologen, Kunsthistoriker und ein bildungsbürgerlich aufgeklärtes Publikum eine gewisse Anziehungskraft aus. Auch Barnums Gallery of Beauty konnte sich gegen die Faszination der Hässlichkeit, ja gegen die Erfolge von Hässlichkeits-Wettbewerben nicht durchsetzen.

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Nach dem Ersten Weltkrieg änderte sich freilich diese Situation. Die modernen Waffen hatten eine so unglaubliche Vielzahl und Variationsbreite an Verletzungen, Verstümmelungen und Versehrungen hinterlassen, dass niemand mehr eine Freak- Show besuchen musste, um einzigartige und zutiefst erschreckende Menschengestalten zu sehen. Ganz im Gegenteil: Ehemals erfolgreiche Protagonisten der Varietés – wie der armlose Geiger Carl Herrmann Unthan, Verfasser einer bemerkenswerten Autobiographie mit dem Titel Das Pediskript (1925) – wurden jetzt in die Feldlazarette und Militärkrankenhäuser geschickt, um die invaliden Soldaten, die ihre Gliedmaßen in Schützengräben und Sturmläufen verloren hatten, im Umgang mit Amputationen zu unterrichten. Unter solchen Bedingungen konnte die Schönheit geradezu als Ausnahme erscheinen. Dem kriegsbedingten Aufschwung plastischer Chirurgie korrespondierte die Gewissheit, dass ein Schönheitswettbewerb nicht nach einem zeitgenössischen Apoll oder einer neuen Venus fahndet, also nach einem zeitlos schönen Körper als sinnlicher Erscheinung des Absoluten, sondern vielmehr nach einem kollektiven Geschmacksurteil, das – wie in der Mode – bereits im nächsten Jahr erneut getroffen und womöglich revidiert werden muss.

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Die Erhebung solcher Geschmacksurteile hing freilich von medientechnischen Voraussetzungen ab, die zur Mitte des 19. Jahrhunderts, als P.T. Barnum seine Gallery of Beauty eröffnen wollte, erst ansatzweise verwirklicht waren: Sie bedurfte erheblicher Fortschritte in der Fotografie, aber auch perfektionierter Drucktechniken – vom Display an den Galeriewänden bis zum farbigen Kunstdruck der Porträts oder der massenhaften Werbung auf Plakaten, in Zeitungen und Illustrierten. Auch die Frage

6 nach der Demokratisierung des Schönen, nach den Modalitäten der Abstimmung und einer gültigen Repräsentation des kollektiven Geschmacks – durch Zeitungsleser, Museums- und Kinobesucher oder eine Expertenjury – musste erst überzeugend geklärt werden.

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Im Jahr 1920 wurde der erste Schönheitswettbewerb in Frankreich ausgetragen. Damals folgten 1.700 junge Frauen einem Aufruf des Journalisten Maurice de Waleffe, Begründer und Herausgeber des Magazins Paris Midi, ihre Fotos an die Redaktion zu senden, um die schönste Frau Frankreichs, la plus belle femme de , zu ermitteln. Eine Jury wählte 49 Bewerberinnen aus, von denen jeweils sieben in den folgenden sieben Wochen auf den Kinoleinwänden gezeigt wurden. Die Kinobesucher erhielten in diesen Wochen zusätzlich zur Eintrittskarte einen Stimmzettel, mit dem sie sich an der Wahl beteiligen konnten. Sie votierten schließlich – mit der großen Mehrheit von 198.000 Stimmen – für die siebzehnjährige Agnès Souret, die ein Foto von ihrer Erstkommunion eingesandt hatte. Agnès konnte ihren Ruhm nicht lange genießen; als Revue-Tänzerin bestritt sie mehrere Welt-Tourneen, bevor sie 1928, nur 25 Jahre alt, an einer Blinddarmentzündung in Argentinien starb. Während der kurzen Zeitspanne ihres Erfolgs hatte Agnès Souret in zwei Stummfilmen mitgewirkt. Am 25. November 1921 meldete die New York Times, die Schönheitskönigin habe ernsthaft erwogen, nach Amerika zu gehen. Die Schlagzeile lautete: Tired of Reigning as Queen of Beauty. Aus Amerika habe sie – so Agnès Souret - zahlreiche verführerische Angebote erhalten, doch sie sorge sich, Ansprüche zu erheben, die sie nicht einlösen könne, weil doch so viele schöne Frauen in Amerika lebten.

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Tatsächlich hatten die USA bereits am 17. September 1921 eine eigene Schönheitskönigin gewählt; den Titel der ersten Miss America eroberte die sechzehnjährige Margaret Gorman aus Washington. Ein weitverbreitetes Foto zeigte sie als Verkörperung der Statue of Liberty, der Lady Lib, der weiblichen National- Allegorie der USA, die am 17. Juni 1885, fast zehn Jahre später als geplant – nämlich als Geschenk der dritten französischen Republik zum 100. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung –, in 350 Einzelteilen und in 214 Kisten verpackt, an Bord der französischen Fregatte Isère im Hafen von New York angekommen war. Gebaut

7 wurde die Monumentalstatue auf Vorschlag des Juristen und Historikers Édouard René de Laboulaye, nach Planung und Entwurf des elsässischen Bildhauers Frédéric Auguste Bartholdi, der seit mehreren Jahren die Idee einer Kolossalstatue verfolgt hatte. Bevor Margaret Gorman 1921 zur ersten Miss America gekürt wurde, war sie 1920 The Most Beautiful Bathing Girl in America. Sie repräsentierte nicht Miss Liberty, eine Erbin der französischen Marianne, sondern schlicht die aktuelle Bademode und ihre Produzenten.

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Als rund dreißig Jahre später Yolande Betbeze, die Miss America von 1951, Fotografien im Badeanzug verweigerte, verließ die Firma Catalina, bekannte Herstellerin von Bademoden, die Sponsorengruppe und begründete diverse Konkurrenzveranstaltungen: die Wahlen zur Miss USA und die Wahlen zur . Also begann es mit Badeanzügen: nach einer langen Zeit viktorianischer Prüderie, in der nicht einmal den Schwimmern und Schwimmerinnen der Anblick eines freizügig bekleideten Körpers zugemutet werden durfte. 1880 fand ein erster Bathing Beauty Contest im Badeort Rehoboth Beach in Delaware statt; danach wurden ähnliche Wettbewerbe an verschiedenen Strandorten der Ostküste veranstaltet. 1888 kam es zu einer ersten Misswahl außerhalb der USA, in der belgischen Kleinstadt Spa, wie Veit Didczuneit und Dirk Külow in ihrem Buch „Miss “ berichten.

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»Von den 350 Bewerberinnen, die anhand von – damals noch sehr teuer bezahlten – Fotografien ausgewählt wurden, durften 21 Damen in den Kur- und Badeort reisen, um an der Endwahl teilzunehmen. Der Wettbewerb verlief unter großer Schicklichkeit und Diskretion. Die Teilnehmerinnen wurden im Vorfeld von der Öffentlichkeit abgeschirmt. Sie wohnten in einem abgesonderten Gebäude und fuhren mit geschlossenen Wagen zum Kursaal.«

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Eine Jury erklärte damals die 18jährige Marthe Soucaret aus Guadeloupe zur Siegerin, wobei es fast zum handgreiflichen Streit mit der zweitplatzierten Bewerberin gekommen wäre. Das Publikum war begeistert, und ähnliche Veranstaltungen

8 erreichten in den folgenden Jahren eine gewisse Popularität. Sie dienten vorrangig der Werbung für Bademode und dem branchenspezifischen Interesse, Touristen an Strände und Bars zu locken. Diese Intentionen begrenzten noch ein mediales Echo, das – wenige Jahrzehnte später – durch die landesweiten Miss-Wahlen der Zwischenkriegszeit mit nachhaltiger Wirkung erzeugt wurde. Nun sollten die ›Schönheitsköniginnen‹ – mit ihren Krönchen, Schärpen und Schleifen in den jeweiligen Landesfarben – als nationale Medien-Ikonen propagiert und wahrgenommen werden: als Verkörperungen einer kollektiven Identität.

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Nach der Wahl Agnès Sourets zur schönsten Frau Frankreichs (1920), und nach Margaret Gormans Wahl zur Miss America (1921), wurde 1927 die erste gewählt (Maria Gallo), 1928 die erste Miss (Nonni Shields), 1929 die erste Señorita España (Pepita Samper), Miss Nederland (Jopie Koopman), Miss (Lisl Goldarbeiter) oder Miss Magyarország (Erzsébet Simon), 1931 die erste Miss (Ranghild Nyholm). Anders als in Barnums Gallery of Beauty mit den »handsomest ladies in America, of over sixteen years, married or single« durften an den Miss- Wahlen des 20. Jahrhunderts nur mehr unverheiratete Frauen teilnehmen; eine heimliche Ehe konnte zur nachträglichen Aberkennung des Titels führen. Mit dem Gewinn des Titels erwarb die nationale Miss die Berechtigung, an den Wahlen zur Miss , die ab 1927 – nach der Gründung des Comité pour l'election de Miss Europe, neuerlich durch Maurice de Waleffe – veranstaltet wurden, zur (ab 1951) oder der Miss Universe (ab 1952) teilzunehmen; die erste Miss Europe war die Schweizerin Stefanie Job, die erste Miss World die Schwedin Kerstin (Kiki) Håkansson, die erste Miss Universe die Finnin Armi Kuusela.

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Der erste deutsche Schönheitswettbewerb wurde im Jahr 1909 veranstaltet: in Hamburg kam es – nur vier Wochen nach Ausschreibung – zur Verleihung des Titels der schönsten Frau der Welt an die ostpreußische Zigarettenverkäuferin Gertrud Dopieralski. Sie erhielt eine Urkunde und ein 20-Mark-Goldstück; unter dem Künstlernamen Gertrud Sieg startete sie eine Karriere als Theaterschauspielerin und posierte für Kitschpostkarten, die sich im Ersten Weltkrieg in den Brusttaschen vieler deutscher Soldaten wiederfanden. Danach sollte es fast zwei Jahrzehnte dauern, bis

9 am 5. März 1927 eine ähnliche Veranstaltung durchgeführt werden konnte: Die erste wurde in einer rauschenden »Nacht der Frauen« im Rahmen der jährlichen Maskenredoute im Berliner Sportpalast gekürt und mit einer Krone aus Blümchen geehrt. Die Zeitungen sprachen liebevoll von »unserem Fräulein Deutsch- land‹.« Fünfzig Mädchen hatten sich um den Titel beworben; in der Jury saßen damals der Boxer Max Schmeling und der Tenor Richard Tauber - wenige Jahre bevor auch Marlene Dietrich, Max Reinhardt oder Heinrich Mann als prominente Mitglieder der Jury amtierten. Die Jury kürte die 21jährige Berlinerin Hildegard Quandt zur Siegerin. 1928 gewann die Revuetänzerin Margarete Grow; ihr folgten 1929 Elisabeth Rodzyn und 1930 Dorit Nitykowski. Kurz vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 wurde mit Charlotte Hartmann für lange Zeit die letzte Miss Germany gewählt.

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Schönheitswettbewerbe galten im NS-Staat als dekadente bürgerliche Vergnügungen, kein Vorbild für deutsche Mädchen. Die nationalen Jungfrauen waren nicht national genug. Darum präsentierte die Berliner Illustrierte Zeitung 1933 – anlässlich der Wahlen zur Miss Europe in – ein »Rätsel, das man nicht raten kann«: nämlich die Porträtfotos sechs verschiedener ›Schönheitsköniginnen‹ als »Gesichter ohne Heimat«. Im Text zu diesen Fotos hieß es:

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»In Madrid sind ein Dutzend Schönheiten versammelt, aus allen Ländern Europas die Schönsten – oder wenigstens die, die man nach ihrer Wahl zu Schönheitsköniginnen dafür halten sollte. Es geht einem merkwürdig, wenn man diese Mädchengesichter betrachtet: man kann ihre Herkunft, ihre Heimat, ihr Volkstum nicht bestimmen. […] Das ist kein Zufall: denn diese glatten, gepflegten, ›mondänen‹ Köpfe sind nicht aus den breiten Schichten eines Volkes emporgehoben, sondern gewöhnlich aus den Zirkeln eines großstädtischen Vergnügungsbetriebes, der nicht nur in Europa zur Entpersönlichung und Gleichmacherei der Menschen geführt hat. Mit dem volkstümlichen Küren von ländlichen Ernte- und Sommerköniginnen haben die ›Wahlen‹ der Schönheitsköniginnen nichts mehr gemein – und man kann es begrüßen, daß Deutschland in Zukunft dieser ›Miß‹-Wirtschaft den Rücken kehren will.«

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Mit demselben Tempo, mit dem die Miss-Wahlen 1933 abgeschafft worden waren, wurden sie nach Ende des Zweiten Weltkriegs wieder eingeführt. Schon 1948, kurz nach Einführung der D-Mark, kam es zu Miss Germany-Wahlen in den westlichen Besatzungszonen; und am 2. September 1950 – rund fünfzehn Monate nach Gründung der Bundesrepublik – wurde im Kursaal von Baden-Baden die 24jährige Miss Schleswig-Holstein, Susanne Erichsen, zur ersten Miss Germany der BRD gewählt. Das Urteil war zunächst umstritten, weil die Bewerberin bereits einmal geheiratet hatte; doch war die Ehe notariell annulliert worden, so dass einer Krönung zur ›Königin‹ der ›verspäteten Nation‹ nichts mehr im Wege stand. Zwei Jahre nach der Wahl ging Susanne Erichsen in die USA, wo sie eine erfolgreiche Karriere als Mannequin und Model begann. Ihr Auftreten und ihre Präsenz bewegte die Ameri- kaner, die noch die deutschen Schönheitsideale der NS-Zeit und die hart arbeitenden Trümmerfrauen der Nachkriegszeit vor Augen hatten, vom deutschen ›Fräulein- Wunder‹ zu sprechen.«

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Das ›Wirtschaftswunder‹ wurde vom ›Fräuleinwunder‹ vorweggenommen und begleitet. Sechs Jahre nach Susanne Erichsen eroberte eine Studentin der Philosophie und Kunstgeschichte, die bei der vorangegangenen Miss Germany-Wahl nur den dritten Platz belegt hatte, sogar den Titel der Miss World in London: Petra Schürmann, später TV-Moderatorin und Schauspielerin, war die sechste und bisher einzige Miss World aus Deutschland. Gabriella Brum, Miss Germany 1980, wurde zwar am 13. November 1980 zur Miss World gewählt, trat jedoch am folgenden Tag – offiziell wegen ihres Freundes, vermutlich aber auf Druck der Veranstalter, wegen einiger Aktfotos für den Playboy – zurück. Den nächsten internationalen Titel – nach Petra Schürmann – gewann Marlene Schmidt, die zunächst in Baden-Baden zur Miss Germany, und danach am 15. Juli 1961 zur bisher einzigen deutschen Miss Universe gewählt wurde. Die gebürtige Breslauerin war in der DDR aufgewachsen, hatte ein Studium zur Ingenieurin für Feinwerktechnik in Jena absolviert, und war im Jahr 1960 über Ostberlin mit ihrer Mutter in den Westen geflüchtet. Wenige Wochen nach ihrer Wahl zur Miss Universe wurde die Berliner Mauer errichtet. In der DDR gab es keine Miss-Wahlen, die als westlich-dekadente Veranstaltungen zur Ausbeutung von Frauen verrufen waren. Lediglich in den Jahren zwischen 1986 und 1988 wurden eine Miss Frühling oder eine Miss Sommer in einer Ostberliner Gaststätte gekürt. Die erste und

11 einzige Miss DDR strahlte 1990 in Schwerin: die 19jährige Leticia Koffke aus Brandenburg.

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Manche Miss verfolgte nach ihrem Sieg eine Karriere als Schauspielerin oder Model; andere Beauty Queens zogen sich rasch wieder zurück, um ihren erlernten Beruf auszuüben, zu heiraten oder – wie Susanne Erichsen – in die USA, nach Paris oder London zu übersiedeln. Zunehmend demonstrierten gerade die Miss-Wahlen die logische Unmöglichkeit nationaler Identitätsstiftung; soviel ließ sich nicht nur aus der Geschichte der Ingenieurin Marlene Schmidt lernen, die vom Osten in den Westen flüchtete, und von der Miss Germany zur Miss Universe aufstieg, sondern auch aus der Debatte um die Marianne 2000 Laetitia Casta, die wenig später aus steuerrechtlichen Gründen von Paris nach London übersiedelte. Weniger noch als jede Schönheitskönigin, deren Titel mit einer Nation assoziiert wird, kann ein Model als nationaler Körper figurieren. Die Modewaren und Markenprodukte, die das Model trägt und personifiziert, zirkulieren ja in einer globalen Ökonomie. Die Ströme des Kapitals und Konsums sind an keine bestimmten Räume gebunden; die Models müssen geradezu als »Gesichter ohne Heimat« reüssieren, damit die Produkte der Schönheits- Industrie, die sie in ihrer Erscheinung visualisieren und vermitteln – Kleider, Hüte, Mäntel, Schals, Handtaschen, Armbanduhren, Schmuckstücke, Parfums und kosmetische Accessoires – weltweit verkauft werden können.

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Ursprünglich gab es Models, lebende Vorbilder nur in der Kunst: Wer weniger begabt war als Pygmalion, brauchte den Anblick der atmenden, pulsierenden Körper seiner Modelle, um zur Skulptur oder zum Gemälde zu gelangen. Nur ausnahmsweise behalfen sich Künstler mit Mannequins, mit hölzernen Gliederpuppen, die in die gewünschten Positionen versetzt werden konnten. Aus ähnlichen Gründen wurden – in den Fünfzigerjahren des 19. Jahrhunderts – die ersten Models für die Präsentation von Kleidern genutzt: Sie ersetzten die höfischen Mannequins aus Holz, die früher ›Pandora‹ genannt wurden. Michael Gross (engl. Aussprache) bemerkt in seinem Buch „Model. Das häßliche Geschäft der schönen Frauen“:

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»Bei den ersten dokumentierten Beispielen von Models, die Mode anpreisen, handelte es sich um Holzpuppen in handgenähten Miniaturversionen von Kleidern, die im 17. Jahrhundert an reiche Kunden in den europäischen Hauptstädten geschickt wurden. […] Das erste richtige Model […] Marie Vernet begann als Verkäuferin im Pariser Modegeschäft Gagelin et Opigez zu arbeiten. 1852 heiratete sie einen Kaufmann namens Charles Worth und wurde sein Hausmodel, als er 1858 den ersten Couture- Salon, ›Worth‹, eröffnete. Als sie an Pauline Metternich, die Ehefrau des österreichischen Botschafters, herantrat und ihr zwei Krinolinen verkaufte, war der geschäftliche Erfolg ihres Mannes gesichert. Er kleidete auch Kaiserin Eugenie, die Gemahlin Napoleons III., ein. Inspiriert von seiner Frau, engagierte er lebende Models, die seine Edelmode vorführten.«

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Noch Coco Chanel betonte, es sei wesentlich für die Methoden ihrer Arbeit, am lebenden Mannequin zu Werke zu gehen, während andere zeichnen und Schneiderpuppen oder Modelle herstellen. Die frühen Models waren Effekte einer beschleunigten medialen Ko-Evolution der Modezeitschriften und der Fotografie. Erst durch die Fotografie gewannen Journale, wie sie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts gedruckt und verbreitet wurden (etwa die Leipziger Allgemeine Moden Zeitung, das französische Cabinet des Modes, das Journal des Dames et des Modes, das englische Repository of Arts oder die Wiener Moden-Zeitung) ein modernes Profil. Mit Hilfe der Magazine eroberte sich das neue Medium der Fotografie ein breites Publikum.

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Das erste häufig fotografierte Modell, das nach 1850 eine beachtliche Prominenz erlangte, war Virginia Oldoini, Contessa di Castiglione, eine toskanische Aristokratin und Cousine Camillo di Cavours, am Pariser Hof. Die Mätresse Napoleons III. zeigte sich gern in phantasievollen Kostümen und Kleidern, beispielsweise als ›Königin der Herzen‹. Sie wurde mehrfach porträtiert, von George Frederic Watts (1857) oder Michele Gordigiani (1862). Ab 1856 begann sie eine obsessive Zusammenarbeit mit dem Fotografen Pierre-Louis Pierson, der in den folgenden Jahrzehnten mehr als siebenhundert Fotos der Gräfin – in den verschiedensten Kleidern und Kostümen – produzierte; auf manchen Fotos zeigte sie – höchst ungewöhnlich für die damalige Epoche – ihre nackten Beine oder Füße (ohne Kopf oder Gesicht). Jedenfalls war der

13 symbolistische Dichter, Dandy und Kunstsammler Robert Anatole Comte de Montesquiou-Fezensac so fasziniert von der Contessa, dass er nicht nur – in dreizehnjähriger Arbeit – eine Biographie der Divine Comtesse verfasste, sondern auch einen Großteil der Fotos erwarb, die nach seinem Tod in den Besitz des Metropolitan Museum of Art übergingen. Gabriele d’Annunzio widmete der Gräfin einen kurzen Prosatext; und ihr Leben wurde zweimal verfilmt. Die Gräfin war stilbildend, auch wenn ihre Erscheinung bald einem vergangenen Zeitalter angehörte: Eine prominente Mätresse war ja kein Pin-up, auch wenn sie häufig fotografiert wurde.

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Die ersten Pin-ups wurden auch nicht fotografiert, sondern gezeichnet. Als ihr Erfinder gilt der amerikanische Graphiker Charles Dana Gibson, der in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts die Gibson-Girls kreierte. Gibsons Pin-up-Girls wirkten als einflussreiche Vorbilder und Modelle: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es etwa die sechzehnjährige Evelyn Nesbit, die in den USA als Fotomodell und Schauspielerin die perfekte Verkörperung eines Gibson-Girls repräsentierte und als American Eve das Publikum fesselte; am 25. Juni 1906 wurde sie in ein Eifersuchtsdrama verstrickt, bei dem ihr Liebhaber Harry Kendall Thaw ihren Entdecker und ersten Mann, den Architekten Stanford White, erschoss. Evelyn Nesbit war in gewisser Hinsicht das erste »It«-Girl vor Clara Bow, mit deren Darstellung der Betty Lou Spence im Film It (1927) diese bis heute populäre Bezeichnung verbreitet wurde.

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Als It in die Kinos kam, hatte John Robert Powers gerade die erste Model-Agentur in New York gegründet. Sein Erfolgsrezept war einfach: Ein erster Katalog mit vierzig Namen, Porträts und Körpermaßen der Models – zumeist arbeitsloser Schauspielerinnen – wurde 1923 gedruckt und an potentielle Kunden, Werbefotografen und Kaufhäuser verteilt. In den folgenden Jahren entwickelten sich – trotz Wirtschaftskrise und Depression – profitable Beziehungssysteme zwischen Kaufhäusern, Haute Couture und Designern, Model-Agenturen, Verlagen, Modezeitschriften, erfolgreichen Werbe- und Modefotografen und prominenten Models. Im 1907 etablierten Verlag von Condè Nast wurde etwa die Vogue (gegründet 1892) herausgegeben; 1913 kaufte der Pressezar William Randolph Hearst die Zeitschrift Harper’s Bazaar (gegründet 1867) und stilisierte sie zum avantgardistischen

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Modejournal und zur schärfsten Konkurrentin der Vogue. Die Magazine arbeiteten mit bestimmten Fotografen, von Edward Steichen bis Irving Penn, von Richard Avedon bis David Bailey, von Man Ray bis Helmut Newton; und im Dreieck zwischen Agentur, Verlagsbüro und Fotostudio wurden die ersten Star-Models propagiert: Hannah Lee Sherman, Großnichte des legendären Bürgerkriegs-Generals William Tecumseh Sherman und ein Lieblingsmodell Edward Steichens, Lisa Fonssagrives, spätere Bildhauerin und Ehefrau von Irving Penn, Sunny Harnett, Jean Patchett, die Schwestern Dorian Leigh und Suzy Parker, oder Dovima, häufig fotografiert von Richard Avedon.

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Neue Agenturen wurden rasch eröffnet; im Büro von Harry Conover, dem ehemaligen Männermodel aus der Agentur von John Robert Powers, tummelten sich die jungen Playboys – darunter auch Robert und Ted Kennedy – während der Inhaber den neu angekommenen Mädchen erklärte:

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»Jetzt sind Sie also aus Upper Japoop, Indiana, nach New York gekommen und ganz oben angelangt. Als nächstes werden Sie unangenehme Jungs kennenlernen. Wölfe. Die werden sich an Sie ranmachen.«

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Conovers Agentur sorgte in den Vierzigerjahren für Skandale, als bekannt wurde, dass er manche Models als Prostituierte vermittelt hatte. Gegen den gesell-schaftlichen Abstieg der Agenturen und Models wehrte sich erfolgreich die 1946 gegründete Agentur von Eileen Ford, in der nicht nur ethische Regeln eingeführt, sondern auch die Internationalisierung der Model-Branche vorangetrieben wurde. 1957 reisten Eileen und Jerry Ford erstmals nach Europa, besuchten die wichtigsten Metropolen und engagierten zahlreiche Models. Allmählich setzten sich neue globale Vorbilder durch, auch wenn sie mitunter ganz anders aussahen als die Models der Pionierzeit.

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Eine Geschichte der Models im 20. Jahrhundert könnte am Leitfaden berühmter Fotografien oder bedeutender Modejournale erzählt werden; sie könnte aber auch als

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Sequenz historischer Etappen geschildert werden: Diesen Weg hat etwa die Ausstellung The Model as Muse – Embodying Fashion im New Yorker Metropolitan Museum of Art vom Sommer 2009 eingeschlagen. Nach einer einführenden Passage zu den anfänglichen Auftritten der Models in der Zwischenkriegszeit befasste sie sich zunächst mit dem Golden Age of Haute Couture. Die Schlagworte, die sich mit den erwähnten Namen von Models wie Lisa Fonssagrives, Sunny Harnett oder Dorian Leigh assoziieren lassen, könnten lauten: Glanz, Glamour, Stil, Eleganz, Aristokratie. Typisch wäre ein Foto, wie es Cecil Beaton in der Juni-Ausgabe der Vogue 1948 veröffentlichte: Dorian Leigh im Kreis unbekannter Models, kostümiert als Hofdamen. Ein anderes, vielleicht weniger eindeutiges Beispiel bildete Irving Penns Arrangement der Twelve Most Photographed Models, das in der Vogue vom Mai 1947 publiziert wurde: In diesem Bild wird Eleganz mit schlichter, nahezu trachtenförmiger Kleidung konfrontiert.

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Die Gesichter der meisten Models in den Vierziger- und Fünfzigerjahren wirken – zumal aus heutiger Perspektive – auffällig individuell, nicht besonders jung. Wir sehen überwiegend Frauen, seltener Mädchen, überwiegend scharfe, starke, persönliche Physiognomien, seltener kindlich-offene Züge. Doch in den Sechzigerjahren erschütterte ein Youthquake – so die Ausstellung The Model as Muse– die Welt der Mode und Modelle; und dieser Trend zur Jugend, zum Kind, verstärkte auch die Faszination des Androgynen, die zuletzt in den Zwanzigerjahren der It-Girls und Bubiköpfe vehement zum Ausdruck gekommen war.

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In gewisser Hinsicht war es ein einziges Gesicht, das diese Zeit prägte und auf ihren visuellen Begriff brachte: das Gesicht eines Mädchens aus Neasden, einem Londoner Vorort. Dieses Mädchen, das zum ersten ›Supermodel‹ der Modegeschichte erklärt werden sollte, hieß Lesley Hornby; doch alle Welt kannte sie unter dem Spitznamen Twiggy. Mit Twiggys Auftritt verband sich rasch die drängende Frage nach den Regeln des Spiels mit der eigenen Identität, eine Frage, die in manchen Fotografien Melvin Sokolskys formuliert wurde: etwa in der Darstellung Twiggys vor einer Art von Schaufenster, umgeben von Personen, die schwarzweiße Twiggy-Papiermasken vor

16 ihr Gesicht halten; sie selbst trägt – ein kindliches Zitat der Athene – eine Stoff-Eule im rechten Arm, mit Schildchen der Firma Steiff und einer weiteren Twiggy-Maske. Bert Stern fotografierte Twiggy 1967 für eine März-Ausgabe der Vogue, während sie auf dem Rand eines Fernsehgeräts sitzt, dessen Bildschirm gerade ein Twiggy-Porträt zeigt; und William Klein, Maler und ehemaliger Modefotograf der Vogue, verarbeitete die Twiggy-Faszination der Sechzigerjahre in dem satirischen Spielfilm Qui êtes-vous, Polly Maggoo? (1966), in dem die Protagonistin, gespielt von Dorothy McGowan, die Titelfrage mit einer Gegenfrage kontert:

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»Wer bin ich? Ich bin Polly. Polly Maggoo. Aber unter uns gesagt, ich bin nicht sicher, was ich antworten soll. Sie fragen, wer ich bin. Manchmal frage ich mich das selber. Ich werde fotografiert. Jeden Tag werde ich fotografiert. Unzählige Male bin ich schon fotografiert worden. Und jedesmal, wenn ich fotografiert werde, bleibt ein bißchen weniger von mir übrig. Was wird letzten Endes übrigbleiben? Das frage ich Sie.«

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Dem Youthquake folgte in den späten Siebziger- und Achtzigerjahren eine Zeit der Körperpolitik, die bis heute anzuhalten scheint. Unsere Körper sind seither keine Produktionsmittel mehr, sondern ihrerseits Anlässe und Objekte der Produktion. Heutige »Körper stellen keine Dinge mehr her«, behauptet die britische Psychotherapeutin Susie Orbach.

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»In der westlichen Welt haben Automatisierung, mechanisierte Landwirtschaft, vorgefertigte Produkte von Nahrungsmitteln bis zu Häusern, motorisierter Transport, Hightech-Kriegsführung etc. einen Großteil der schweren körperlichen Arbeit ersetzt. Wir reparieren auch kaum noch Dinge, da es in der Massenproduktion billiger ist, sie zu ersetzen. Wo einst Arbeiterkörper durch muskelbildende körperliche Schwerarbeit geformt wurden, hinterlassen heute schlecht bezahlte Jobs im Dienstleistungsbereich und computerbasierte Jobs quer durch die Schichten keine solchen physischen Indikatoren mehr. Ja, viele von uns müssen sich schon gezielt bemühen, sich bei der Arbeit oder während ihres gesamten Tagesablaufs überhaupt noch zu bewegen. Früher war es ein Privileg der begüterten Schichten, die keine körperliche Arbeit

17 leisteten, sich zum Zeitvertreib und als soziale Kennzeichnung zu schmücken und zu verschönern. Im Zuge einer Modernisierung und Demokratisierung dieser Sitte sind wir heute alle dazu angehalten. Daher beobachten wir etwas Neues. Der Körper ist zu einer Form von Arbeit geworden. Er verwandelt sich vom Produktionsmittel in das zu Produzierende.«

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Auch und gerade die Models sind von dieser Entwicklung entscheidend betroffen. Als Supermodels müssen sie ihren Körper zum Markenzeichen werden lassen, jenseits von Lebensalter, Geschlecht oder nationaler Zugehörigkeit. Bodybranding erzeugt sichtbare Brandzeichen: als würden sie und wir – wie das Vieh, wie die früheren Sklaven – nicht mehr uns selbst gehören, sondern irgendeiner Kommunität, was oft genug mit Hilfe von Piercings, Tattoos oder Messerschnitten – vom zwanghaften ›Ritzen‹ bis zu den Skalpellen der ästhetischen Chirurgie – visualisiert wird. Körper machen Arbeit. Denn sie müssen immer radikaler modelliert, immer unmöglicheren Anforderungen angepasst werden. Waltraud Posch macht in ihrem Buch Projekt Körper. Wie der Kult um die Schönheit unser Leben prägt, folgende Rechnung auf:

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Claudia Schiffer hat »bei einer Körpergröße von 1,81 Metern die Maße 88-62-91 (Brust-Taille-Hüfte in Zentimetern), Kate Moss bei einer Größe von 1,75 Metern 84- 58-89, Agyness Deyn bei einer Größe von 1,75 Metern 78-60-88 und Giselle Bündchen bei einer Größe von 1,80 Metern 86-61-82. Cindy Crawford wurde bei einer Größe von 1,77 Metern und den Maßen 86-66-89 in den Medien als ›Kurvenreiche‹ bezeichnet – mit einer Taille, die bei einer groß gewachsenen Frau der Konfektionsgröße 34 entspricht. Der Realität zum Trotz haben die allermeisten professionellen Models Taillenmaße von viereinhalbjährigen Kindern, Hüftumfänge von 13-jährigen Mädchen und eine Körperlänge von Männern.«

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Körper sind keine Produzenten mehr, sondern Produkte, Projekte, Modelle und Bilder. Was geschieht aber, wenn das Projekt, das Image, den Körper zersetzt, wenn das Modell an die Stelle der Person tritt? »Schönheit ist eigentlich nie traurig. Sie tut nur

18 weh«, behauptete Marilyn Monroe. Sie schmerzt im Augenblick der Pose, den schon das Topmodel Dorian Leigh – wie Michael Gross bemerkt - allzu genau kannte:

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»Wenn Dorian posierte, wirkte es wie ein Elektroschock. Sie stellte beide Füße in fehlerfreie Position, dann arrangierte sie die Knie, dann die Hüften, dann die Taille, dann die Arme und Hände, und in letzter Sekunde nahm ihr Gesicht einen bestimmten Ausdruck an. Wenn ein Fotograf nicht darauf wartete, warf sie ihm einen wütenden Blick zu.«

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Cindy Crawford nannte das latent unheimliche Image, in das sie sich nach Belieben verwandeln konnte, treffend ›das Ding‹.

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»Seit sie als Model arbeitet, besitzt sie zumindest eine harte Fassade, die sie das ›Ding‹ nennt. ›Nimmst du heute abend das ›Ding‹ mit?‹ fragte Gere manchmal, bevor sie ausgingen. Sie zerwühlt ihr Haar, stellt sich in Positur, und plötzlich ist das ›Ding‹ im Zimmer. ›Dann verwandle ich mich in diesen anderen Charakter, und plötzlich – ich weiß nicht, warum –, plötzlich bin ich tollkühn, erzähle Witze, benehme mich theatralisch … Und dann wasche ich alles wieder runter.‹ Cindy Crawford lacht, und das ›Ding‹ scheint sich davonzuschleichen.«

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Dabei hat das ›Ding‹ längst die Macht übernommen: Die Jungfrau hat sich verwandelt in eine Miss, die Miss in ein Model, das Model in ein ›Ding‹, das Waren und Personen bis zur Unkenntlichkeit verschmilzt. Zum Ende triumphiert wieder ein Mannequin, nicht aus Holz, sondern aus elektrischen Strömen und digitalen Impulsen. Wir leben nicht mehr im Patriarchat, natürlich auch nicht im Matriarchat, im Filiarchat oder in einer Gesellschaft, die ihre Ahnen und Kinder feiert. Wir leben vielmehr in einer Kultur der Modelle, in welcher Jeune-Fille, das »Junge-Mädchen«, alle Beziehungen, alle ökono- mischen und libidinösen Ordnungen beherrscht und formatiert. Gegen die Un-

19 terwerfung unter dieses System hat das französische Autorenkollektiv Tiqqun polemisiert, ganz in der Tradition der situationistischen Kritik des Spektakels.

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»Für das Junge-Mädchen gehört es zu seinem Wesen, die metaphysische Tatsache der Endlichkeit auf eine schlichte Frage technischer Art zu reduzieren: Welche Anti- Falten-Creme ist am wirksamsten? Das erschütterndste Merkmal des Jungen- Mädchens ist zweifellos seine manische Bemühung, dass seine Erscheinung weder von der Zeit noch vom Raum, weder von der Umgebung noch von der Geschichte beeinträchtigt wird, immer und überall makellos zu sein.«

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Die ersehnte Makellosigkeit manifestiert sich auch im Leiden an der Anorexie, die in den Tiqqun-Manifesten nicht als peripheres Symptom – leicht heilbar durch eine Plakatkampagne Oliviero Toscanis oder durch das ›Verbot‹ der Magersucht in der Ford-Agentur – begriffen wird, sondern als das eigentliche Zentrum des Glaubens an das »Junge-Mädchen«.

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Denn das »Junge-Mädchen träumt von einem Körper, der im Licht des Spektakels eine reine Transparenz wäre. […] Das Junge-Mädchen beweist, dass es keine schöne Oberfläche ohne eine schreckliche Tiefe gibt. […] In der Magersucht muss man viel mehr als eine modische Pathologie sehen, nämlich den Wunsch, sich von einem Körper zu befreien, der völlig von der Symbolik des Warenmarktes kolonisiert ist, und eine körperliche Objektivität auf Staub zu reduzieren, derer das Junge-Mädchen voll und ganz enteignet wurde. […] Das Junge-Mädchen ist von etwas befallen, was man als ›Engelskomplex‹ bezeichnen könnte: Es strebt eine Vollkommenheit an, die darin bestehen würde, körperlos zu sein. Es kann die Einseitigkeit der Metaphysik der Ware auf seiner Waage ablesen.«

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Als Symptomträgerin ist das »Junge-Mädchen« weder zwingend weiblich noch zwingend jung; doch hat das pandorische Modell inzwischen nicht nur das Wirtschaftsleben, sondern auch die Politik erfolgreich kolonisiert. Als Barack Obama

20 zum US-Präsidenten gewählt wurde, diskutierte die Regenbogenpresse vorrangig über die Outfits seiner Frau Michelle, der neuen Herrin des Weißen Hauses. First Ladies sind die Models der Politik: die Queens of Hearts, die ständig riskieren, auf eine Spielkarte (Herzkönigin) oder eine Papiermaske reduziert zu werden. Als Lady Diana Spencer, Prinzessin von Wales, bei einem Autounfall – auf der Flucht vor Fotografen – am 31. August 1997 zu Tode kam, wurden die komplexen Beziehungen zwischen dem Model, der Herzkönigin und dem makellosen Bildkörper der Jeune-Fille für kurze Zeit sichtbar gemacht. Seit diesem Tag ist evident, dass die Strategien der Immortalisierung zur Tötung tendieren; Papiergesichter brauchen keinen Körper mehr. Dass die konsequente Inszenierung medialer Doubles zur Eliminierung störender Originalreste verführen könnte, war freilich auch vor der Pariser Verfolgungsjagd klar: Die meisten Anschläge auf Prominente werden von Fans verübt. Der Star muss buchstäblich zu den Sternen aufsteigen; das alterslose Bild muss – im Gegensatz zum Wunschbild des Dorian Gray – den alternden Körper ersetzen.

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Es ist nicht gewiss, was die vielen Millionen Zuschauer der Fernsehbestattung Dianas wahrgenommen und betrauert haben: ein Opferritual? Den geglückten frühen Tod einer »virtuellen Kunstfigur« (wie Paul Virilio meinte)? Oder den eigenen, gescheiterten – nicht zur Unsterblichkeit der Prominenz tauglichen – Tod in der Zukunft? Vielleicht haben die Zuschauer auch die merkwürdigen Rekursionen wahrgenommen, die das tragische Ereignis begleiteten. Die Medien übertrugen ja vor allem die Botschaft von der medialen Synchronisation einer unvorstellbar großen Trauergemeinde; sie kommentierten die Frage nach ihrer eigenen Schuld, als sollten die Paparazzi fotografisch fixiert werden. Nach dem überraschenden Tod der Prinzessin wurde die Öffentlichkeit von einer Flut großformatiger Porträts geradezu überschwemmt; beinahe jede Illustrierte publizierte irgendeine Sonderausgabe mit zahlreichen Fotos Dianas. Manchmal sah es so aus, als würden die Bilder zu einem einzigen Bild verschmelzen, das dann als das endgültige Porträt gegolten hätte. Eines der eindrucksvollsten – und zugleich seltsamsten – Bilder Dianas schmückte die mas- senhaft verkauften Aufnahmen der Bestattungsfeierlichkeiten. Auf diesem Bild ist eine schwarzgekleidete Frau zu sehen, die den Blick zur Seite wendet. Der Ausdruck ihres Gesichts wirkt kummervoll; das Bild zeigt offenbar eine trauernde Frau, eine Art von Pietà, die den Opfertod ihres Kindes ertragen muss. Aber dieses Kind ist sie selbst.

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Würde man dieses Bild einem nicht eingeweihten Beobachter vorlegen, er könnte glauben, dass diese Frau eine Witwe ist, allenfalls eine weibliche Allegorie der Trauergemeinde; und vielleicht stammt das Bild auch von der Beerdigungsfeier für Gianni Versace, der am 15. Juli 1997, wenige Wochen vor Dianas Unfall, in Miami erschossen wurde. Sieben Wochen später nimmt nun das mediale Modell, das Double, das ›Ding‹, an seiner eigenen Bestattung teil. In einem Kommentar bemerkte Christian Geyer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: »Es ging weder um Leben noch um Tod, es ging um Bilder.« Man könnte diese These in eine Frage übersetzen: Worum geht es eigentlich, wenn es um Bilder geht?

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Diana war nicht das erste Model politischer Repräsentation. Doch konnte an ihrem Schicksal die Kontur der Jeune-Fille – die symptomatische Erscheinung einer modebewussten, medial umfassend präsenten heiligen Jungfrau, Queen of Hearts und makellosen Mätresse – exemplarischer (und vielleicht ein wenig selbstkritischer) wahrgenommen werden, als etwa zuvor an Jacqueline Lee Bouvier, der Ehefrau John F. Kennedys, deren Eheschließung mit Aristoteles Onassis noch viel hemmungsloser verworfen wurde als Dianas Liebesbeziehung zu Dodi Al-Fayed. Jackie war Dianas direkte Vorläuferin, die First Lady schlechthin: nach Eleanor Roosevelt oder Mamie Eisenhower, vor Pat Nixon, Betty Ford, Nancy Reagan oder Hillary Clinton. Wayne Koestenbaum hat in einer inspirierenden Studie über Jackie Under My Skin (von 1995) die mediale Konstruktion der Jackie O. genau rekonstruiert:

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»Auf einem meiner Lieblingsfotos von Jackie Kennedy geht sie von einem schwarzen Auto weg. Sie trägt eine dunkle Brille, weiße Handschuhe, ein weißes, unter dem Kinn zusammengebundenes Kopftuch. Ihr Gesicht ist ausdruckslos. Ist sie schuldig oder unschuldig? Nähert sie sich einer Kirche oder einem Gerichtssaal? JFK steht ein paar Schritte hinter ihr – ganz offensichtlich ist sie hier die First Lady, eine offizielle Figur. Ihr sehniger, sportlicher Arm bildet eine reine Linie […]. Das Kleid ist so streng, so absolut geschnitten, so bar allen Zierrats, daß sie Audrey Hepburn beim Üben für Die Geschichte einer Nonne gleicht – Jackie sieht wie eine Heilige aus, aber auch wie eine Frau, die‘s eilig hat, eine Frau mit anrüchigen (mafiosen?) Geschäften jenseits der Photoränder. Ist sie eine Gangsterbraut? Die Vertraute des Papstes? Menschen-

22 mengen laufen in der Ferne hinter ihr zusammen, bleiben aber Kulisse – Hinter- grundbauern in einem religiösen Gemälde der Renaissance. Oder ist Jackie die Fälschung, der Schwindel? […]Sie kann nicht für eine Identität verantwortlich gemacht werden – sehen Sie, sie läuft rasch auf eine andere zu, viel rascher als JFK, der immer JFK bleiben muß. Deshalb scheint er sich soviel langsamer zu bewegen – immer ankämpfend gegen die Rückenschmerzen und die bleierne Langeweile eines stetigen Selbst.«

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