Ulrich Wille als Corpsstudent

Von Peter Hauser

General Ulrich Wille (1848-1925), der Oberbefehlshaber der Schweizer Armee während des Ersten Weltkrieges 1914-1918, war einer der prominentesten schweizerischen Corpsstudenten. Er wurde am 5. April 1848 in gebo- ren als Sohn von François Wille (1811-1896) und Eliza Sloman (1809-1893), der Tochter des aus England stammenden Hamburger Reeders Robert Miles Sloman, die sich als Romanschriftstellerin einen Namen gemacht hatte. Die Fa- milie Wille stammte aus La Sagne im Kanton Neuenburg und hiess ursprünglich Vuille. Ulrich Willes Urgrossvater Henri Vuille, ein Schuhmachermeister, war aus La Sagne ausgewandert und hatte sich in Zweibrücken in der Pfalz niederge- lassen. Der Grossvater von Ulrich Wille, Jacques Arnold Wille, lebte in Ham- burg.1 Vater François Wille, Journalist und Mitglied des Frankfurter Parlamen- tes, kehrte 1849 als Folge der gescheiterten liberalen Revolution in die Schweiz zurück und kaufte sich 1851 das Gut Mariafeld in Meilen am Zürichsee, das noch heute der Familie Wille gehört.2 François Wille und seine Vorfahren hatten das Bürgerrecht von La Sagne behalten, und die Willes waren und sind daher echte Schweizer.

1 Carl Helbling, General Ulrich Wille, Biographie, Zürich 1957, Seite 7.

2 Gut Mariafeld an der General Wille-Strasse 165 war der einstige Landsitz der Zürcher Jun- kerfamilie Escher, erbaut 1722-25 auf den Grundmauern eines Herrschaftssitzes aus dem 15. Jahrhundert: www.meilen.ch, dort «Sehenswürdigkeiten». Gut Mariafeld in Meilen, Aufnahme 19893

François Wille studierte ab 1831 in Göttingen Theologie und war begeistert für die freiheitlichen und demokratischen Ideale. Im Mai 1832 nahm er an dem ge- gen die Despotie gerichteten Hambacher Fest teil. 1833 erhielt er in Göttingen, wie Bismarck, aus unwesentlichem Anlass das Consilium abeundi. Ab Michae- lis (29. September) 1833 setzte er seine theologischen und juristischen Studien in Kiel fort, stets bedroht durch die Untersuchung eines tödlich verlaufenen Du- ellhandels, an welchem er als Sekundant beteiligt gewesen war. Wille wurde zu einer sechsmonatigen Haft auf der dänischen Festung Nyburg verurteilt. Nach Verbüssung der Strafe arbeitete er in Hamburg als Journalist und schloss sein Studium erst 1845 in Jena mit dem Dr. phil. ab.4

François Wille war in den Augen seines konservativen Schwiegervaters Sloman ein lockerer Vogel5 und er muss auch ein wilder, waffenfreudiger Kerl gewesen

3 Bild aus: www.meilen.ch, dort «Sehenswürdigkeiten».

4 Helbling (wie Anm. 1), Seite 8.

5 , Die Welt als Wille und Wahn, Elemente zur Naturgeschichte eines Clans, 4. Auflage, Zürich 1987, Seite 17. Das teilweise sehr polemisch geschriebene Buch ist auch deshalb umstritten, weil sich Meienberg mit fragwürdigen Methoden Zugang zu den 2 sein. Er rühmte sich nämlich der 26 Narben von Hieb- und Schusswunden und hatte mehr als 10 Pistolenduelle überstanden, alle auf 5 Schritte Barriere. Einmal wurde er auf der Höhe des Herzens durch den Arm geschossen.6 Die Schmisse auf der rechten Wange deuten darauf hin, dass François Wille linkshändig ge- fochten hat, also ein sog. «Linkser» war. Eliza Sloman, seine Frau, schrieb nicht ohne ironischen Unterton über seine Duellfreudigkeit: «Nach seinem Tempera- ment war es ihm ein Bedürfnis, sich mit seiner Person einzusetzen. Rücksichts- lose Worte musste er bezahlen und, selbst ungeübt in den Waffen, hat er gern gegen überlegene Gegner sein Kaltblut auf die Probe gestellt.»7 Auch Heinrich Heine reizte das mit Schmissen verzierte Gesicht Willes im Gedicht «Deutsch- land, ein Wintermärchen», Kapitel XXIII, Vers 4, zum Spötteln: «Da war der Wille, dessen Gesicht/ Ein Stammbuch, worin mit Hieben/ Die akademischen Feinde sich/ Recht leserlich eingeschrieben.»

nicht zur Publikation bestimmten Briefen von General Wille an seine Frau in den Jahren 1914 bis 1918 verschafft hatte.

6 Helbling (wie Anm. 1), Seite 14.

7 Bernhild Vögel, DIE ZEIT, Ein Nachruf auf das gleichnamige, 1840 in Hamburg gegründete Wochenblatt, die «Ahnfrau» der 1946 entstandenen heutigen ZEIT, in: www.birdstage.net 3 Jean François Arnold Wille (1811-1896), Porträt von A. Sincadelli, 1877,8

Ob François Wille korporiert war oder nicht, kann ich nicht sicher sagen. Corps- student war er bestimmt nicht; in den Kösener Corpslisten ist er jedenfalls nicht erwähnt.9 Möglicherweise gehörte er aber zu der 1829 gegründeten, im Februar 1831 vertagten, im Sommersmester 1831 erneuerten «2. Burschenschaft oder Germania», die sich im Herbst 1831 zu einer neuen Burschenschaft Allemannia wandelte. In ihren Reihen wird ein F. Wille erwähnt. Ob als Mitglied des enge- ren oder weiteren Vereins oder nur als «Schwanz» oder Renonce ist nicht be-

8 Bild aus: Helbling (wie Anm. 1), nach Seite 8.

9 Bei Johannes von Muralt (Schriftleiter), Das Corps Tigurinia 1850-1940, Zürich 1940, (nachfolgend zit. Tigurinergeschichte), Seite 22 heisst es allerdings, «Dr. Fr. Wille Hassiae Giessen, dessen Sohn 65/67 aktiv gewesen und im August 1814 zum General der schweiz. Armee ernannt worden sei», habe an Kneipen und Kommersen der Tigurinia teilgenommen. In den Kösener Corpslisten von 1960 (KCL 1960) findet sich jedoch kein Wille als Mitglied des Corps Hassia Giessen. Bei der Angabe «Hassiae Giessen» muss es sich um einen Irrtum handeln.

4 kannt. Es könnte aber unser François Wille sein,10 der ge- kannt hat, welcher zur gleichen Zeit wie er in Göttingen studierte und 1832/33 beim Corps Hannovera Göttingen aktiv gewesen war. Im April 1892 wurde Ul- rich Wille, der 1872 Clara geb. Gräfin Bismarck11 geheiratet hatte, anlässlich eines Besuches beim früheren Reichskanzler in Friedrichsruh von diesem denn auch als «der Sohn eines alten Freundes von 1832» vorgestellt.12

Ulrich Wille wuchs auf Gut Mariafeld in einer kulturell hochstehenden und ge- bildeten Umgebung auf. Zahlreiche Persönlichkeiten aus dem Kulturleben wie zum Beispiel Conrad Ferdinand Meyer, Gottfried Keller, Franz Liszt, Arnold Böcklin, Theodor Mommsen und Richard Wagner waren Gäste von François und Eliza Wille auf Mariafeld.13 Ulrich besuchte in Meilen die Volksschule und durfte bei den Kadetten mitmachen, hatte aber Mühe mit der schweizerischen Mundart, d.h. dem im Kanton Zürich gesprochenen «Züritüütsch», denn sein Vater wollte, dass in der Familie Hochdeutsch gesprochen werde. Auch später bevorzugte Ulrich Wille das Hochdeutsche, was ihm insbesondere im Vorfeld seiner Wahl zum General der Schweizer Armee von Gegnern auch vorgehalten wurde 14

10 Schriftliche Mitteilung (E-Mail) von Dr. Harald Lönnecker, Leiter des Archivs der Deut- schen Burschenschaft, Bundesarchiv in Koblenz, an den Verfasser vom 19.5.2012.

11 Tochter aus zweiter Ehe von Friedrich Wilhel† ü

12 Helbling (wie Anm. 1), Seite 95.

13 Daniel Heller, Ulrich Wille, in: Erwin Jaeckle/Eduard Stäuble (Hrsg.), Grosse Schweizer und Schweizerinnen, Stäfa 1990, Seite 429.

14 Helbling (wie Anm. 1), Seite 17 f.

5 Ulrich Wille 185215

Nach sechs Jahren Volksschule erhielt Ulrich von seinem Vater intensiven Pri- vatunterricht. Ein Gymnasium hatte er nie besucht und deshalb auch keine Ma- turitätsprüfung abgelegt. Die deswegen nötige Aufnahmeprüfung an der Univer- sität Zürich bestand er aber mit Bravour16 und immatrikulierte sich an Ostern 1865 als stud. jur. 17 Beim geschilderten Charakter des Vaters erstaunt nicht, dass er sofort Renonce beim Corps Tigurinia Zürich18 wurde. Ulrich Wille war

15 Aus Helbling (wie Anm. 1), nach Seite 24.

16 Helbling (wie Anm. 1), Seite 18.

17 Matrikeledition der Universität Zürich Nr. 2889, www.matrikel.uzh.ch

18 Tigurinerverzeichnis Nr. 100 und KCL 1960 144, Nr. 100: Wille Ulrich, aus Meilen Kt. Zürich (xx), später (1866) Hallenser Preusse (Corps Borussia Halle), Dr. jur., Gutsbesitzer, 1914-1918 General der Schweizerischen Armee, Mariafeld bei Meilen am Zürchersee, gest. 31.1.1925.

6 hell begeistert und schrieb seinen Grosseltern im Frühling 1865: «Ich bin jetzt also Student und, was noch mehr sagen will, Fuchs des Corps Tigurinia. Und in dieser Eigenschaft, nach Abschüttelung des Staubs der lateinischen Folianten, möchte ich mit keinem König tauschen.» Es waren die Ideale von Freundschaft und Ehre, die er im Corps gepflegt sah, und es ist klar, dass auch das väterliche Temperament in ihm brauste.19 Das elitäre Weltbild des schlagenden Couleur-, insbesondere des Corpsstudententums, prägten Willes Gedanken- und Vorstel- lungswelt zeitlebens mit.20

Im Sommer 1865 gab es in Zürich sechs schlagende Verbindungen: Das Corps Tigurinia,21 gestiftet 11.11.1850 an der Universität, die Verbindung (später Corps) Alpigenia,22 gegründet 15.6.1855 am Polytechnikum, das Corps Rhena- nia,23 gestiftet 11.11.1855 am Polytechnikum, die Landsmannschaft Teutonia,24 gegründet am 15.12.1860 am Polytechnikum, die Landsmannschaft Baltica,25 gegründet am 24.6.1862 an der Universität und am Polytechnikum sowie die

19 Helbling (wie Anm. 1), Seite 20.

20 Heller (wie Anm. 13), Seite 429.

21 1923 suspendiert, 1927 in Köln rekonstituiert, 1931 in Köln suspendiert, 1932 als suspen- diertes Corps nach Zürich zurückverlegt. Am 30.6.2007 als Corps Tigurinia II in Zürich neu gestiftet. Eine Rekonstitution war nach Kösener Statuten nicht möglich, weil die Suspension mehr als 50 Jahre gedauert hatte und kein Alter Herr mehr lebte.

22 15.6.1866 unter dem Druck der mensurfeindlichen Stimmung am Polytechnikum Selbstauf- lösung. 1884 in Bern reaktiviert, seit WS 1889/90 Corps im Aarburger SC, vorübergehend wieder in Zürich, später in Lausanne, 1924 wieder in Bern, 1928 endgültig suspendiert. Einer der letzten Alpigener war der spätere Generalstabschef der Schweizer Armee, Korpskomman- dant Paul Gygli, der 1928 nach der Suspendierung der Alpigenia zur Helvetia Bern übertrat.

23 Seit 1863 Mitgründer des WSC, suspendiert Ende März 1865. 1871 rekonstituiert in Aa- chen, seit 1892 in Braunschweig bis heute als Corps Rhenania Z.A.B. (Z.ürich, A.achen, B.raunschweig).

24 Seit 31.7.1865 wegen des Drucks des Direktorium des Polytechnikums gegen schlagende Verbindungen suspendiert, ab Dezember 1865 in Karlsruhe als Landsmannschaft Frisia, seit 1886 dort als Corps (1887 im WSC), seit 1950 nach der Fusion mit Cheruscia Danzig als Corps Friso-Cheruscia im WSC.

25 Unter behördlichem Druck im März 1866 suspendiert. Nahm nur Landsleute deutscher Na- tionalität und Erziehung aus den russischen Ostseeprovinzen auf. Hatte zahlreiche baltische Adelige in ihren Reihen.

7 Verbindung (Rot)-Helvetia, gegründet am 7. Januar 1865, domiziliert an der Universität und am Polytechnikum.26 Ausserdem war da noch die Zofingia, die es ihren Mitgliedern freistellte, ob sie fechten wollten oder nicht.27

Die ersten zwei Mensuren als Tiguriner schlug Ulrich Wille mit Angehörigen der Landsmannschaft Teutonia, nämlich:

- Im Juni 1865 in Herrliberg mit L. Peil(l),28 über 24 Gänge m.m.29 Die Partie wurde ausgepaukt, Wille kassierte aber eine Tiefquart, die mit 5 Nadeln genäht

26 Die (Rot-) Helvetia ist in Zürich mit unbedingter Satisfaktion und dem freisinnigen Prinzip der Helvetia von 1832 gegründet worden. Sie gehörte ab Mitte Juli 1865 dem Zentralverband der Schweizerischen Studentenverbindung Helvetia an. Als sie 1874 das Prinzip der unbe- dingten Satisfaktion im Zentralverband nicht für alle Sektionen durchsetzen konnte, trat sie aus dem Zentralverband aus und bestand als Verbindung, später als Corps (Blau-) Helvetia weiter. Aus ihm entstand 1878 das Corps (Grün-) Helvetia, welches dem KSCV angehörte und zusammen mit Tigurinia den SC zu Zürich bildete. Bereits 1885 suspendierte die (Grün-) Helvetia. 25.11.1893 wurde die (Rot-) Helvetia rekonstituiert und ist seither die Helvetia Zü- rich, wie wir sie heute kennen und schätzen: Max Richter, Auf die Mensur! Die Geschichte der schlagenden Korporationen der Schweiz, 3. Auflage Zürich 1978, Seiten 102 f. und 117.

27 1865 erliess der Schweizerische Zofingerverein ein Duellverbot. Die Sektion Zürich kämpf- te vergeblich dagegen an, erhielt aber einen Sonderstatus, indem es ihren Mitgliedern gestattet war, Mensuren zu fechten, ohne jedoch dazu gezwungen werden zu können. Etliche Zofinger waren mit dieser Lösung nicht zufrieden und gingen zur Tigurinia über. 1902 wurde die Aus- nahmestellung der Zürcher aufgehoben und die Mensur in der Zofingia generell untersagt. Die Mehrheit der Zürcher Zofinger trat aus und gründete 1903 die Verbindung Neuzofingia, die heute noch dem Schweizerischen Waffenring SWR angehört, seit 1996 wegen Nach- wuchsmangels allerdings suspendiert ist: Richter (wie Anm. 26), Seite 104.

28 Nr. 51 Mitgliederverzeichnis der Teutonia in: Hans Schüler, Chronik des Corps Frisia Karlsruhe, Karlsruhe 1900: «L. Peill, aus Köln, rezipiert 19.7.1865, kgl. Commerzienrath, Düren/Rheinprovinz.» Die Angaben aus der Schülerschen Chronik der Frisia verdanke ich Samuel Mühlberg, AH des Fechtclubs der Zürcher Singstudenten.

29 m.m. = mit Mützen. Gemäss § 8 des «Pauk-Comments der Züricher Corporationen» von 1861, rev. Fassung Februar 1863, war die commentmässige Forderung für Füchse «24 Gänge mit Schlägern und gewöhnlichen Mützen». Die Mütze war vor der Einführung der damals noch nicht überall verbreiteten Paukbrille auch eine Schutzmassnahme für die Augen. Bur- schen fochten ohne Mützen.

8 wurde. Sekundant von Wille war Ludwig (Louis) Michel,30 derjenige von Peill E. Züblin.31 Als Unparteiischer fungierte Hilgard,32 und als Paukarzt wirkte Wil- les Corpsbruder cand. med. Max Schede.33

Auszug aus dem Paukbuch der Tigurinia: erste Mensur Willes im Juni 1865.

- Am 3. Juli 1865 gegen E. Löhmann Teutoniae,34 wiederum auf 24 Gänge mit Mützen. Willes Sekundant war abermals Ludwig Michel, derjenige von Löh- mann B. Wieck35, als Unparteiischer amtete erneut Hilgard.36 Die Partie wurde

30 Tigurinerverzeichnis Nr. 81 und KCL 1960 144, Nr. 81: «Michel Ludwig, aus Sarnen, Kt. Unterwalden (xx), rezipiert 1861, später (1863) Würzburger Nassauer (Corps Nassovia), Apo- theker, Brooklyn USA, gest. 1900.»

31 Nr. 17 im Mitgliederverzeichnis der Teutonia (wie Anm. 28): «E. Züblin, aus St. Gallen, rezipiert 18.10.1862, Oberingenieur für den Bau der Nordostbahn, Zürich.»

32 Aufgrund des Zirkels im Paukbuch (siehe unten Bild über die Mensur Wille vs. Peil) ein Würzburger Rhenane, sehr wahrscheinlich Carl Hilgard, Rhenaniae Würzburg, rezipiert 1863, Dr. med., Arzt, Dürkheim, gest. 1895: KCL 1960 143 Nr. 147. Studierte vom WS 1864 bis Sommer 1866 in Zürich Medizin: Matrikeledition der Universität Zürich Nr. 2791.

33 Tigurinerverzeichnis Nr. 95 und KCL 1960 144, Nr. 95: «Schede Max, aus Halle a.d.S. (xxx, x), rezipiert 1864, früher (1863) Hallenser Preusse (Corps Borussia Halle), Dr. med., Geh. Medizinalrat, ord. Professor der Chirurgie, Bonn, gest. 1902.» Schede war ein Pionier der Antisepsis in Deutschland. 34 Nr. 57 im Mitgliederverzeichnis der Teutonia (wie Anm. 28): «E. Löhmann, aus Altona, rezipiert. 15.11.1865, Wasserbau-Inspektor, gest. 1884.»

35 Nr. 54 im Mitgliederverzeichnis der Teutonia (wie Anm. 28): «B. Wieck (früher Germania München, diese 1863-1865 Burschenschaft, 1865-1867 Landsmannschaft, seither Corps im WSC), aus Schleswig, rezipiert 26.4.1863, Ingenieur in

9 ausgepaukt, Wille bezog nichts, sein Gegner erhielt «2 Blutige, mit 3 Nadeln geflickte Tiefquarten in die Nase».

Auszug aus dem Paukbuch der Tigurinia: Zweite Mensur Willes im Juli 1865.

Und diese zweite Partie hatte disziplinarische Folgen: Die damals in Zürich we- gen verschiedener Duellvorkommnisse37 sehr mensurfeindlich eingestellten Be- hörden hatten hinterher Wind von der Mensur bekommen, die damals als Duell betrachtet wurden. Ulrich Wille erhielt am 2. November 1865 wegen Duellie- rens «für das laufende und das folgende Semester» das Consilium abeundi.38

Nachstehend die handschriftliche zweiseitige Verfügung als Faksimile39 und die maschinengeschriebene Transkription.40

36 Siehe Anm. 32.

37 Zu erwähnen sind vor allem das tödlich verlaufene Pistolenduell zwischen dem Senior der Baltica Baron von Behr und dem Tübinger Studenten Gaumer als Beleger bei Tigurinia im Juni 1863 bei Winterthur sowie der Tod des Alpigenerfuchses Hieroymus von Salis nach ei- ner Mensur mit dem Tiguriner Giesker im WS 1864/65 (siehe auch hinten Anm. 44): Robert Develey, Geschichte der schweizerischen corporierten Studentenschaft im 19. Jahrhundert, Band II, Basel 1995, Seite 665 f.; Richter (wie Anm. 26), Seite 101.

38 Die lateinischen Worte «Consilium abeundi», abgekürzt c.a., bedeuten wörtlich «Rat, weg- zugehen». Der Begriff entstammt der akademischen Gerichtsbarkeit des 18. und 19. Jahrhun- derts und wurde nicht an allen Hochschulen gleich angewendet. Bei einigen Universitäten, z.B. in Zürich, war nach Ablauf der Straffrist eine erneute Immatrikulation möglich. Grund- sätzlich konnte sich aber ein mit dem c.a. belegter Student an einer anderen Hochschule je- derzeit immatrikulieren. Das Consilium abeundi stand in der Schwere der Strafe zwischen der Carzerstrafe und der Relegation, d.h. der endgültigen Entfernung von der Hochschule ohne Möglichkeit, sich andernorts einzuschreiben: Robert Paschke, Studentenhistorisches Lexikon, Köln 1999, Seite 70 f.; Friedhelm Golücke, Studentenwörterbuch, Das akademische Leben von A bis Z, Graz Wien Köln 1987, Seite 98.

39 Staatsarchiv Zürich, Akten Universität Zürich, Sign. U 98 a.1 (Mappe «Duell»).

40 Transkription im Auftrag des Verfassers durch Lukas Messmer, stud. phil. I und Journalist, Uster, der für das Staatsarchiv des Kantons Zürich regelmässig Urkunden transkribiert. 10 Verfügung vom 2.11.1865 Seite 1

11 Verfügung vom 2.11.1865 Seite 2

12 Die Direction des Erziehungswesens des Kantons Zürich

Der Director des Erziehungswesens

Hat nach Einsicht eines Antrages des akademischen Senats vom 29. Oktober l. Js. dahin gehend: Gegen den stud. juris, Herrn Ulrich Wille von Chaux-de-Fonds (recte La Sagne, der Verf.) Kant. Neuenburg wegen Duellirens die Strafe des consilium abeundi, gemäß §. 144 des Unterrichtsgesetzes u. §. §. 22 u. 25. der Statuten für die Studirenden zu verhängen, jedoch mit Rücksicht darauf, daß das Duell schon am 4. Juli41 l. Js. stattgefunden, aber erst am 30./31. August der akademischen Behörde zur Kenntniß gekommen ist, die Strafe nur bis zum Ende des Wintersemesters 1865/66 zu erstrecken, d. h. bis zu dem Zeitpunkte, bis zu welchem sie ohne jenes Versäumniß der Untersuchungsbehörden gegolten haben würde,

in Berücksichtigung, daß der Wortlaut des §. 22 der Statuten für die Studirenden einer Auslegung, wie sie bevorwortet wird, entgegengesetzt, und daß die Consequenz einer solchen Auslegung unter Umständen dahin führen könnte, die Strafe und den damit beabsichtigten Zweck illusorisch zu machen, gemäß §. §. 22, 25 u. 26 der Statuten für die Studirenden

verfügt:

1. Gegen den Studiosus juris, Herrn Ulr. Wille v. Chaux-de-Fonds wird das consilium abeundi und damit der Ausschluß von der Universität für das laufende und das folgende Semester verhängt.

2. Von der vom akademischen Senate gegen den stud. med. Hs. Aloys Michel von Sarnen wegen Se- kundirens bei dem Duelle des Hrn. Wille verhängten 6tägigen Carcerstrafe und der Unterschrift des consilium abeundi wird Vormerkung genommen.

3. Mittheilung an die Polizeidirektion durch Zuschrift, an das Rektorat der Hochschule zu Handen akademischen Senates und zur Kenntnißgabe im Sinne des §. 26, Lemma 2 der Statuten für die Studi- renden mit dem Beifügen, daß es demselben anheimgestellt werde, wenn nöthig den Studirenden neu- erdings die geltenden Disciplinarvorschriften gegen das Duell und die Betheiligung an demselben in Erinnerung zu bringen.

Zürich, den 2. Nov. 1865.

Für richtigen Protokollauszug;

Der Sekretär: Hs. Schweizer

Das Verdikt der Erziehungsdirektion wurde vom Rektor am 3. November 1865 mit einem Zirkulationsschreiben auch den «hochgeachteten Herren Collegen» zur Kenntnis gebracht. Die Hochschullehrer hatten mit ihrer Unterschrift auf

41 Laut Paukbuch der Tigurinia am 3. Juli 1865. 13 dem Brief zu bestätigen, dass sie ihn gelesen hatten. Auf der Unterschriftenlis- te42 finden sich so illustre Namen wie diejenigen der Professoren Billroth43 und Regelsberger.44

Wille musste Zürich verlassen und ging «mit Renoncenfarben entlassen»45 nach Halle an der Saale und wurde dort an « Michaelis» (29. September) 186546 beim Corps Borussia aktiv.47 Wie aus der Exmatrikel vom 5. November 1866 hervor- geht, hatte er sich am 18. November 1865 an der «Vereinigten Friedrichsuniver- sität Halle Wittenberg» als Jurastudent eingeschrieben.

42 Staatsarchiv Zürich, Akten der Universität Zürich, Sign. U 98 a.1 (Mappe «Duell»).

43 Billroth Christian Albert Theodor, aus Bergen auf Rügen, geb. 1829. 1860-1867 Ordinarius für Chirurgie in Zürich, ab WS 1867 Professor der Chirurgie in Wien, Begründer der moder- nen Bauchchirurgie, u.a. der Magenresektion (teilweise Entfernung des Magens nach den Me- thoden Billroth I und Billroth II), gest. 1894. Billroth war medizinischer Gutachter im Straf- prozess gegen Heinrich Giesker Tiguriniae. Dieser hatte am 6.2.1865 den Alpigenerfuchsen Hieronymus von Salis im 12. Gang mit einer Tiefquart abgestochen. Salis zog sich wegen sträflicher Vernachlässigung der ziemlich harmlosen Wunde und zu früher Ausfahrt im Cere- vis eine Infektion zu, die am 9.3.1865 zum Tod durch Meningitis führte. Giesker wurde we- gen «Tötung im Duell bzw. Zweikampf» angeklagt, jedoch vom Geschworenengericht am 27.4.1865 freigesprochen, weil Professor Billroth als Experte den Kausalzusammenhang zwi- schen Schmiss und Tod verneinte. Der Angeklagte wurde unter dem Jubel von über hundert Studenten auf den Schultern seiner Freunde aus dem Saal getragen. Die Presse dagegen kriti- sierte das Urteil scharf: Akten der Staatsanwaltschaft im Staatsarchiv des Kantons Zürich, Signatur Y 60.120; Develey (wie Anm. 38) Seite 664; Richter (wie Anm. 26), Seite 101; Ti- gurinergeschichte (wie Anm. 9), Seite 27; Paukbuch Tigurinia 1850-1895, Nr. 374. Der da- mals schon berühmte Billroth, der 1872 EM des Akademischen Gesangvereins Wien (jetzt Universitätssängerschaft Barden) wurde und ein Freund von Johannes Brahms war, zog zahl- reiche Inaktive von Münchner, Würzburger und Göttinger Corps, die Medizin studierten, an Diese wirkten oft auch als Sekundanten und Unparteiische (siehe auch vorne Anm. 32) und ersetzten Tigurinia so den fehlenden SC: Tigurinergeschichte (wie Anm. 9), Seite 23.

44 Regelsberger Ferdinand, geb. 1831, aus Bayern, 1862-1868 in Zürich Ordinarius für römi- sches Recht, im Sommersemester 1868 Rektor, später Professor in Giessen, Würzburg, Bres- lau und Göttingen, gest. 1911. Regelsberger war einer der berühmtesten Pandektisten. Als AH des Corps Onoldia Erlangen (KCL 1960, 23 Nr. 373) besuchte er auch die Kommerse der Tigurinia: Tigurinergeschichte (wie Anm. 9), Seite 22.

45 Tigurinergeschichte (wie Anm. 9), Seite 261.

46 Corps-Album der Hallenser Borussia, Cassel 1876, Seite 68; Album des Corps Borussia zu Halle a.S., Halle 1899, Seite 105.

47 KCL 1960, 96 Nr. 288.

14 Exmatrikel vom 5.11.186648

Warum gerade Halle? Vermutlich aufgrund des Rates von Max Schede, dem Tiguriner Senior im Sommersemester 1865, der Wille sekundiert hatte und frü-

48 Universitätsarchiv Halle, Signatur Rep 39 Nr. 31. 15 her Hallenser Preusse war.49 Dies und das befreundete Verhältnis der Tigurinia zu Borussia waren wohl der Grund für den neuen Studienort Halle. Nach der Aufnahme bei Borussia focht Wille sofort eine Mensur. Seine Briefe an die El- tern überbordeten förmlich von Lebensgefühl und zeigten auch ein jugendliches Renommieren, dem der Vater die Mässigung entgegenhielt,50 obwohl er selbst alles andere als ein Duckmäuser gewesen und keiner Paukerei aus dem Wege gegangen war. Deshalb heisst es so schön im 1882 entstandenen Studentenlied «Wir lugen hinaus in die sonnige Welt», Strophe 2: «Drum Alter lass ab von dem scheltenden Ton, gedenke der Söhne, der lieben, gedenke der Zeit, da du voreinst vielleicht es noch ärger getrieben!». Ende Januar 1866 focht Wille auf die Farben der Borussia eine weitere Partie, wurde hierauf am 2. Februar 1866 rezipiert und erhielt auch das Corpsburschenband der Tigurinia.51 Leider stellt sich nach dieser Mensur bei Wille eine Gesichtsrose ein. Er lag während Wo- chen auf den Tod krank, umsorgt von seiner Mutter, die aus Hamburg herbeige- eilt war, wo sie den Vater pflegte.52 Ob Wille in Halle noch weitere Partien ge- fochten hat, konnte ich leider nicht eruieren, denn die Pauk- und Protokollbü- cher der Borussia aus jener Zeit sind im 2. Weltkrieg verloren gegangen.53

Es macht den Anschein, als habe Ulrich Wille in Halle in erster Linie das Stu- dentenleben genossen. Der Dekan bescheinigt nämlich im Abgangszeugnis vom 6. November 1866,54 er habe nur eine einzige Vorlesung gehört, nämlich im Wintersemester 1865/66 Pandekten bei Prof. Dernburg55 und im Sommersemes- ter 1866 keine.

49 Tigurinergeschichte (wie Anm. 9), Seite 23. Zu Schede siehe vorne Anm. 33.

50 Helbling (wie Anm. 1), Seite 20.

51 Corps-Album der Hallenser Borussia, Cassel 1876, Seite 68; Album des Corps Borussia zu Halle a.S., Halle 1899, Seite 105.

52 Helbling (wie Anm. 1), Seite 21.

53 Schriftliche Mitteilung (E-Mail) von Holger Welz Borussiae Halle an den Verfasser vom 27.9.2011.

54 Universitätsarchiv Halle, Signatur Rep 39 Nr. 31.

55 Dernburg Hermann (1829-1907), bedeutender Vertreter der Pandektenwissenschaft, 1854 Professor in Zürich, 1862 in Halle und ab 1871 in Berlin. War auch Mitglied des preussischen Herrenhauses. 16 Abgangszeugnis vom 6.11.1866

Das waren noch Zeiten, als man das Gebäude der Universität in der Regel nur betrat, um vor einem Platzregen Schutz zu suchen und Bologna bekannt war als die Stadt, in der das schönste Italienisch gesprochen wird und nicht als Synonym für das Ende der akademischen Freiheit. Vielleicht hinderte Wille aber auch die vorne erwähnte Erkrankung am Besuch des Kollegs im Sommersemester.

Nach einem Jahr kehrte Ulrich Wille für das Wintersemester 1866/67 nach Zü- rich und damit zu Tigurinia zurück56 und blieb bis November 1867. Über seine waffenstudentische Tätigkeit in dieser Zeit wissen wir genau Bescheid: Am 21. März 1867 sekundierte er bei Partien im Sihlhölzli seinen Corpsbrüdern Rein- ecke57 und Niederstadt58 gegen Rot-Helveter. Anschliessend trat er am gleichen

56 Matrikeledition der Universität Zürich Nr. 3212.

57 Reinecke Rudolf, später Berliner Westfale (das seinerzeit mit Tigurinia befreundete Corps Guestphalia Berlin) Dr. phil., Fabrikdirektor in Magdeburg, gest. 1898 in Hannover: KCL 1960, 144 Nr. 108. Reinecke war vom Sommersemester 1866 bis Sommersemester 1867 stud. phil. an der Universität Zürich: Matrikeledition der Universität Zürich Nr. 3093.

58 Niederstadt Carl, Dr. med., Sanitätsrat, gest. in Hannover 1913: KCL 1960, 144 Nr. 110. Er war im Wintersemester 1866/67 und im Sommersemester 1867 als stud. med. an der Univer- 17 Tag als Consenior der Tigurinia gegen den Rot-Helveter Karl Rudolf Weyer- mann an59 und wurde abgestochen. Im Paukbuch der Tigurinia finden wir das bei einer Abfuhr übliche schwarze Kreuz und dahinter die Bemerkung: «mit 2 Nadeln, Vorhieb60 auf Tiefq(uart) im 19t Gang».

Auszug aus dem Paukbuch der Tigurinia über die Mensuren am 21. März 186761

sität Zürich immatrikuliert und Sohn eines Pastors: Matrikeledition der Universität Zürich Nr. 3164.

59 Weyermann Karl Rudolf (1848-1905), als Student am Polytechnikum Zürich 1865 bei Rot- Helvetia aktiv geworden, später Oberingenieur der Jura-Simplon-Bahn bzw. der Schweizeri- schen Bundesbahnen SBB, im Militär 1875 Eisenbahnhauptmann, 1880 Major und nachher Oberst im Generalstab: Fritz H. Tschanz, Berner Helveter –

60 Vorhieb: «Pariert man des Gegners Hieb nicht, sondern schlägt genau zur selben Zeit mit, so heisst dies ein a tempo-Hieb. Ist man jedoch dem Gegner im Tempo überlegen, so wird der mit dem seinigen zu gleicher Zeit angezogene Hieb zum Vorhieb, indem er sein Ziel bei un- gedecktem Aufzug des Gegners erreicht, bevor dieser ausgeschlagen hat»: Friedrich Schulze, Die Fechtkunst mit dem Haurapier, Heidelberg 1885, Neudruck Hilden 2005, Seite 46.

61 Paukbuch Tigurinia (1850-1895 Nr. 448), Archiv der Tigurinia im Zürcher Staatsarchiv, Sign. WI 19/115.

18 Eine Abfuhr auf Schmiss (sog. medizinische Abfuhr) zieht keine corpsinternen Sanktionen nach sich, sofern Technik und vor allem Stellung und Moral auf der Mensur einwandfrei waren. Ulrich Wille durfte daher trotz erlittener Abfuhr wegen tadelloser Ausübung der Charge im Sommersmester 1867 das Chargen- zeichen xx des Conseniors (Fechtchargierter) «klammern», d.h. sein Leben lang hinter Namen und Zirkel das (xx) in Klammern führen.62

Am 2. November 1867 meldete sich Wille «mit Farben entlassen»63 von der Universität Zürich nach Leipzig ab, wo er vor allem bei Karl Georg Wächter, einer Koryphäe seines Faches, Strafrecht belegte. Mit einem Repetitor ging er das römische Recht nochmals durch, fand aber, dass er eigentlich alles schon wisse. An Selbstbewusstsein fehlte es Wille nie. Seit den Hallenser Semestern hatte sich seine Persönlichkeit stark entwickelt. Das Corpswesen lockte ihn aber nicht mehr; viel lieber oblag er dem Reiten und Schachspielen. Über die Leipzi- ger Studenten äusserte er in einem Brief, diese seien «sehr versoffene, stiere, starre, stumme Norddeutsche».64 Aktiv geworden war Wille in Leipzig sicher nicht noch einmal.65 Das wäre in den Akten von Tigurinia und Borussia Halle sowie in den Kösener Corpslisten vermerkt. Ob er bei einem Leipziger Corps verkehrt hat, weiss ich nicht. Am ehesten in Frage käme das damals mit Tiguri- nia befreundete Corps Saxonia. Dort wird aber ein Ulrich Wille als Gast oder Besucher nicht namentlich erwähnt.66 Für das Sommersemester 1868 kehrte

62 Siehe Willes Eintrag im Tigurinerverzeichnis Nr. 100 und in den KCL 1960, 144 Nr. 100.

63 Tigurinergeschichte (wie Anm. 9), Seite 262.

64 Helbling (wie Anm. 1), Seite 21 f. Leider befinden sich etliche studentenhistorisch interes- sante Briefe Ulrich Willes aus dieser Zeit nicht im Archiv der Familie Wille in Mariafeld: Mitteilung (E-Mail) von Herrn Ully Wille an den Verfasser vom 22.9.2011. Wie Biograph Helbling (wie Anm. 1) in seinem Nachwort (Buch Seite 338) erwähnt, waren ihm von der Familie «auch Briefe, die nicht dem Archiv einverleibt» worden waren, überlassen worden, weshalb er aus den Briefen zitieren konnte. Wo diese Briefe archiviert sind, konnte ich nicht herausfinden.

65 Unzutreffend Jürg Vogel, Rückblick auf 100 Jahre «Vereinigung Alter Corpsstudenten in der Schweiz», in: Deutsche Corps-Zeitung, August 1990, Seite 32, wonach Wille auch Leip- ziger Sachse gewesen sei.

66 Schriftliche Mitteilung (E-Mail) von Tobias Jurack Saxoniae Leipzig an den Verfasser vom 14.06.2012.

19 Wille erneut nach Zürich zurück.67 Obwohl er in Leipzig angeblich «reifer» ge- worden war, liess ihn das Waffenstudentische in Zürich nicht los. So fungierte er am 17. März 1869 im Pistolenduell zwischen Johannes Grioth Tiguriniae und J. von Pawlowicz als Unparteiischer. Ein ziemlich kühnes Verhalten von jeman- dem, der nur ein paar wenige Jahre vorher in Zürich wegen «Duellierens» das consilium abeundi erhalten und das Studium noch nicht beendet hatte!

Die Pistolenmensur Grioth vs. Pawlowizc im Paukbuch der Tigurinia mit Ulrich Wille als Unparteiischem (vierte Kolonne).

Schlägermensuren oder Säbelpartien68 auf die Farben der Tigurinia sind im Paukbuch keine mehr verzeichnet. Es gab seinerzeit noch keine für die Inakti- vierung festgelegte Mindestzahl von Mensuren. Und der Vater drängte auf den Studienabschluss. Im Mai 1869 ging Ulrich Wille nach Heidelberg und wurde dort am 28. Juli 1869 mit dem Prädikat «Multa cum laude» zum Dr. iur. promo-

67 Matrikeledition der Universität Zürich, Nr. 3400.

68 Wille hatte nie eine Säbelmensur gefochten. Erst 1918 war er als General von Dr. Fernand Schwab Helvetiae Bern im Rahmen der «Berner Säbelaffäre» auf Säbel gefordert worden. Die Sache verlief aber im Sande: Peter Platzer, Der Aarburger Seniorenconvent, in: Documenta et Commentarii, Nr. 15/1994, Seite 12 f.

20 viert. Der mündlichen Doktorprüfung wohnten berühmte Professoren wie Adolph von Vangerow und der Schweizer Johann Caspar Bluntschli bei.69

Ulrich Wille als Tiguriner, ca. 186870

1867 war Ulrich Wille nach längerem Militärdienst in den Semesterferien Artil- lerie-Offizier (Leutnant) geworden. 1871 wurde er als Oberleutnant Berufsoffi- zier und machte Karriere: 1874 Hauptmann, 1877 Major, 1881 Oberstleutnant,

69 Helbling (wie Anm. 1), Seite 26. Der Staatsrechtler Bluntschli war vorher von 1848 bis 1861 Professor in München, und sein Sohn Carl Friedrich Bluntschli (1834-1907), später Oberst der Artillerie in der Schweizer Armee, war 1853/1854 beim Corps Cisaria München, dem Muttercorps des Verfassers, aktiv: Verzeichnis der Corpsangehörigen des Corps Cisaria München 1851-2008, Nr. 24. Ulrich Wille kannte Oberst Bluntschli, hatte er doch von ihm 1880 die «Zeitschrift für die Schweizerische Artillerie» (ab 1881 «Schweizerische Zeitschrift für Artillerie und Genie») gekauft, mit der er intensiv Wehrpolitik betrieb: Helbling (wie Anm. 1), Seite 57.

70 Bild aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Ulrich_Wille 21 1885 Oberst, 1900 Oberstdivisionär (Generalmajor), 1904 Oberstkorpskomman- dant (Generalleutnant) und am 3. August 1914 General und Oberbefehlshaber der Schweizer Armee im Aktivdienst 1914-1918.71

Ulrich Wille als Oberleutnant 187272

Mehrmals weilte Wille zu Truppen- und Manöverbesuchen bei der Deutschen Armee. So war er zum Beispiel im August 1893 Beobachter bei den Kaiserma- növern und bei einer Parade der Gardekavallerie-Regimenter. Die Parade hinter- liess bei ihm einen grossen äusseren Eindruck. Ein Brief an seinen Vater enthält jedoch auch eine kritische Beurteilung des ausserdienstlichen Benehmens der preussischen Kavallerieoffiziere, und in diesem Zusammenhang finden wir auch eine wenig schmeichelhafte Nebenbemerkung zum Corpsstudententum: «Junge Offiziere der Gardekavallerie-Regimenter, die ich im Restaurant bei Tisch, im Zirkus und an anderen Orten beobachtete, machten mir – ü – ü…73 Diese Be- merkung erstaunt nicht. Ulrich Wille, der in den Jahren 1865 bis 1869 aktiv ge- wesen war, gehörte zu den Corpsstudenten alter Schule. Nach dem französisch- deutschen Krieg von 1870/71 hatte sich jedoch das Corpsstudententum stark verändert, nicht nur zum Guten. Der Hang zum Luxus, das Protzen- und Gigerl-

71 Ernst Wetter/Eduard von Orelli, Wer ist wer im Militär? Frauenfeld 1986, Seite 184.

72 Aus: Helbling (wie Anm. 1), nach Seite 40.

73 Helbling (wie Anm. 1), Seite 107. 22 tum wurden nicht bloss im «Simplicissimus» karikiert, sondern auch von einer grossen Zahl von Alten Herren kritisiert. Es sei nur an die Zandersche Reform- Bewegung im Jahre 1880 hingewiesen.74 Es macht den Anschein, als habe das Corpswesen im Leben von Ulrich Wille mit dem Eintritt ins Berufsleben stark an Bedeutung eingebüsst. Besonders fällt auf, dass in der Tigurinergeschichte nirgends erwähnt wird, Ulrich Wille habe eine Veranstaltung der Tigurinia be- sucht. Das ist sehr erstaunlich, denn spätestens nach der Beförderung zum Divi- sionär, sicher aber zum General, wären wohl Besuche eines so prominenten Corpsbruders bei einem Anlass mit Sicherheit gross herausgestrichen worden. Daran ändert nichts, dass Korpskommandant Hermann Steinbuch Tiguriniae75 in seiner Trauerrede erwähnte, Ulrich Wille habe in Zürich bei Tigurinia und in Halle bei Borussia als Corpsstudent «regen Anteil am akademischen Leben ge- nommen, von seinen Corpsbrüdern allezeit geliebt und geachtet».76 Im Bericht über das 50. Stiftungsfest der Tigurinia im Jahre 1900 fehlt der Name Wille, und auch auf dem damals geschossenen Gruppenfoto77 vor dem Hotel Baur au Lac suchen wir Ulrich Wille vergeblich. Auch von Besuchen der Tigurinia bei Ul- rich Wille auf Gut Mariafeld lesen wir in der Tigurinergeschichte nichts. Wille war jedoch Mitglied des 1887 gegründeten «Bezirksverbandes Schweiz der

74 Als nach der Reichsgründung 1871 bei den Corps kostspielige Äusserlichkeiten (grosser Aufwand bei Corpsbesuchen, auswärtige PP-Suiten sogar zwischen SC, Luxus bei der Klei- dung, der Gästebewirtung usw.) überhandnahmen, warb Intendanturrat Leonhard Zander Bo- russiae Breslau, Guestphaliae Jena, Marchiae Halle (KCL 1960, 78 Nr. 427) mit ein paar Gleichgesinnten für eine Besinnung auf die alten corpsstudentischen Ideale. Zu diesem Zwe- cke versandte er 1880 Tausende von Fragebögen an Alte Herren und fand breite Zustimmung. ü ü ü ü ü

75 Steinbuch Hermann, rezipiert 1882, Oberstkorpskommandant, gest. 1925: KCL 1960, 144 Nr. 167.

76 Rede von Oberstkorpskommandant H. Steinbuch bei der Trauerfeier am 3.2.1925, in: Tigu- rinergeschichte (wie Anm. 9), Seite 193.

77 Tigurinergeschichte (wie Anm. 9), nach Seite 56. 23 AHAH von Kösener Corps»,78 die seit 1962 «Vereinigung Alter Corpsstudenten in der Schweiz VACS» heisst. Im Wintersemester 1893/94 kam Fritz Wille, der älteste Sohn von Ulrich Wille als Fuchs zu Tigurinia, doch es wurde ihm am 26. Februar 1895 der Austritt gestattet.79 Im Jahre 1900 erhielt er die Corpsschleife. 80 Dass Ulrich Wille seinen heissgeliebten erstgeborenen Sohn Fritz als Fuchs zu Tigurinia geschickt hatte, deutet nicht auf ein grundlegendes Zerwürfnis zwi- schen Ulrich Wille und Tigurinia hin. Laut Auskunft eines meiner tigurinischen Corpsbrüder,81 dessen Stiefgrossvater Tiguriner gewesen war,82 soll sich Ulrich Wille jedoch der Borussia Halle mehr verbunden gefühlt haben als der Tigurinia und er sei, nachdem es 1881 zum Bruch des befreundeten Verhältnisses zwi- schen Tigurinia und Borussia83 gekommen war, nicht mehr zu Tigurinia ge- kommen. Gegen eine Bevorzugung der Hallenser Preussen spricht allerdings der vorne zitierte Ausspruch Willes über die Leipziger Studenten. Halle liegt ja nicht weit von Leipzig entfernt. Anderseits hatte Wille durchaus keine Abnei- gung gegen das Preussische. Möglicherweise hat ihn einfach sein Beruf von der Teilnahme an Anlässen der Tigurinia in Zürich abgehalten. Dienst- und teilwei- se auch Wohnorte Willes waren ja während vieler Jahre Thun und Bern, und zudem war die zeitliche Belastung eines Berufsoffiziers schon früher hoch. Wie dem auch sei: General Wille bleibt einer der prominentesten Schweizer Corps- studenten und wird, wenn von Tigurinia die Rede ist, immer besonders erwähnt.

16.07.2012

78 Vogel (wie Anm. 65), Seite 32.

79 Tigurinergeschichte (wie Anm. 9), Seite 271 f.; Tigurinerverzeichnis Nr. 176 und KCL 1960, 144, Nr. 176: «Wille Fritz, aus Bern, IdC, Fabrikdirektor, Cham, gest. 1912.» Er war als Milizoffizier Major im Generalstab und starb bei einem Sturz vom Pferd: Helbling (wie Anm. 1), Seite 204.

80 Tigurinergeschichte (wie Anm. 9), Seite 22.

81 Freundliche Mitteilung von Friedhelm Dömges Nassoviae, Tiguriniae, 2008-2011 Zweiter Vorsitzender des VAC.

82 Feldmann Ernst(xxx), aus Ruhrort, später Nassauer, Dr. jur. et med., Augenarzt, rezipiert 1908, Bad Godesberg: Tigurinerverzeichnis Nr. 229; KCL 1960, 144, Nr. 229; Tigurinerge- schichte wie Anm. 9), Seite 278 f.

83 Das bei einem solchen Ereignis übliche «Bruch PP» wurde 1882 in Strassburg ausgefoch- ten: Tigurinergeschichte (wie Anm. 9), Seite 32. 24