DIE MUSIKWELT SCHAUT AUF UNS Er steht an einer der bedeutendsten Positionen nicht allein des Leipziger Musiklebens: ist seit drei Jahren . Wir sprachen mit ihm in seinem Amtssitz, dem Alumnat des Thomanerchors.

32 Interview © −Magazin© Gewandhaus−Magazin Herr Professor Schwarz, was machen Sie Schwarz: Manchmal denke ich schon in Sonnabend der Fall ist, singen wir in der in den Sommerferien? den Ferien: Wie soll das gehen, wenn Stimmung von 443 Hertz. Es wäre aller- Gotthold Schwarz: Meine Ferien sind we- jetzt die Abiturienten und damit die er- dings für die Reputation Leipzigs als gen des alljährlichen Konzerts zu Johann fahrensten Sänger weg sind? Aber oft Bach-Stadt gut, hätten wir innerhalb des Sebastian Bachs Todestag am 28. Juli ein entwickeln diejenigen, die vorher in der Gewandhausorchesters auch Instrumen- wenig geteilt. Aber das stört mich nicht. zweiten Reihe gestanden haben, plötz- te, mit denen man in der Stimmung von Nach Möglichkeit fahre ich mit der Fami- lich große Energien und übernehmen 415 Hertz musizieren könnte. lie zum Wandern. In diesem Jahr geht es die Rolle der Ausgeschiedenen. Wir nut- nach Südtirol. Danach gibt es auch schon zen ja das letzte Ferienwochenende be- Ist das Wechseln von einer Stimmung in viel für das neue Schuljahr vorzuberei- reits für ein zweieinhalbtägiges Chorla- die andere nicht schwierig, wenn ein Ge- ten. ger auf Schloss Colditz, wo auch schon wandhausmusiker beispielsweise nach- die Neuaufgenommenen dabei sind. Dort mittags in der Thomaskirche und abends Sind Sie im Sommer verstärkt als Sänger wird jeder Thomaner kurz überprüft, in der Oper zu spielen hat? aktiv? damit ich weiß, wo er stimmlich steht. Schwarz: Sicher wäre es schön, wenn es Schwarz: Ich bin immer noch als Sänger Das Ziel ist, zur ersten Motette, die am sich zeitlich so gestalten ließe, dass bei- aktiv, nicht zwingend im Sommer, an- darauffolgenden Wochenende traditio- des nicht unmittelbar aufeinander folgte. sonsten nur in dem Maße, wie es die Ar- nell in der Nikolaikirche stattfindet, wie- Inzwischen habe ich jedoch viel Ver- beit als Thomaskantor zulässt. Natürlich der einen homogenen Klangkörper zu ständnis dafür entwickelt, wie komplex sind es viel weniger Auftritte als früher. haben. die Erstellung der Dienstpläne für die Das eigene sängerische Empfinden ist Musiker ist. mir jedoch wichtig, um davon etwas an Bevor Sie im August 2016 Thomaskantor den Chor weitergeben zu können. wurden, haben Sie den Chor interimswei- Kann die historische Aufführungspraxis se schon seit Januar 2015 geleitet. Konn- nicht genauso auf modernen Instrumen- Neben Ihrer Tätigkeit als Thomaskantor ten Sie in den vier Jahren Ihre Handschrift ten umgesetzt werden wie auf Instrumen- leiten Sie das Concerto Vocale und das bereits sichtbar machen? ten alter Mensur? Sächsische Barockorchester. Ist diese Ar- beit vornehmlich auf den Sommer kon- zentriert? »Ich strebe einen glanzvollen Chorklang Schwarz: Generell nutze ich dafür zeitli- che Lücken, die mir als Thomaskantor an, der gleichzeitig aber auch Wärme und bleiben. Aber ich möchte die Arbeit im semiprofessionellen Bereich nicht kom- rhetorische Kraft ausstrahlt.« plett aufgeben, nicht zuletzt wegen der sozialen Kontakte, die damit verbunden sind. Zudem ist mir die Arbeit mit dem Schwarz: Teilweise ist es sicherlich schon Schwarz: Dem kann ich nicht in Gänze Barockorchester hinsichtlich auffüh- geschehen einfach durch meine Art zu zustimmen. Zum Beispiel ist das Anspiel- rungspraktischer Aspekte ein Anliegen. musizieren. Es ist gut, dass wir für die geräusch bei einer historischen Geige Motetten in der Thomaskirche eine Con- ganz anders, einfach durch die Darmsai- In welcher stimmlichen Verfassung kehren tinuo-Besetzung des Gewandhausorches- ten und die andere Bogenform. Dadurch die Thomaner aus den Sommerferien zu- ters zur Verfügung haben. Dass uns das lassen sich manche rhetorischen Dinge rück? ermöglicht worden ist, dafür bin ich sehr deutlicher herausarbeiten als mit einem Schwarz: Beim Singen ist es wie beim dankbar. Ich habe eingeführt, dass wir modernen Instrument. Zwar kann ich Sport: Wenn man mehrere Wochen nicht die Bachsche und andere Musik der Ba- mit dem Kompromiss leben, wie wir ihn trainiert hat, dann ist das Empfinden für rockzeit grundsätzlich in der alten Stim- in praktizieren, denn wir musi- den Körper – in unserem Fall für den ge- mung von 415 Hertz singen, was mir ein zieren auf höchstem Niveau. Aber wir samten Stimmapparat – nicht mehr so ebenso wichtiges Anliegen gewesen ist. müssen uns trotzdem immer auch vor präsent wie zuvor. Allerdings gehen die Dem Chor tut das sehr gut, denn das ist Augen führen: Die Musikwelt schaut auf Jungen unterschiedlich damit um. Die ei- die authentische Stimmlage. Für die be- uns. Wenn überall auf der Welt Barock- nen stecken das schnell weg und sind gleitenden Gewandhausmusiker stellt es musik auf entsprechendem Instrumenta- nach einem Tag schon wieder fit, wäh- zuweilen eine Herausforderung dar, rium gespielt wird, ist es umso schwerer rend andere länger brauchen. denn mit ihren auf 443 Hertz gestimm- verständlich, warum dies an einem solch ten Instrumenten müssen sie jetzt oft in authentischen Ort der Bach-Pflege, wie Wie lange dauert es, bis der Chor nach ungewöhnlichen Tonarten spielen. Sind wir ihn in Leipzig haben, nicht geschieht. der Sommerpause wieder ein homogenes aber mehr Instrumente beteiligt, wie das Eine Veränderung hier herbeizuführen, Ensemble ist? etwa bei den Kantatenaufführungen am möchte ich zumindest anstoßen.

Interview 33 © Gewandhaus−Magazin gern, weil ich glaube, dass der ständige Kontakt und die kontinuierliche Arbeit mit den Knaben und jungen Männern auch den Chorklang formen. Aber die Zu- sammenarbeit mit Titus Heidemann ist so, dass ich mich sehr unterstützt und zum Teil auch entlastet fühlen darf.

Der hat derzeit 92 Mitglie- der. Wie ist das Verhältnis von Knaben- zu Männerstimmen? Schwarz: Etwa ein Drittel Männer- und zwei Drittel Knabenstimmen.

Wie viele Männer singen im Alt? Schwarz: Wir haben aktuell einen Altus, der jetzt in der 12. Klasse ist und eine hervorragende Entwicklung nimmt. Für die klangliche Substanz des Choraltes sind männliche Altstimmen toll, denn sie sorgen für eine wunderbare Farbe.

Wie wirkt sich das wöchentliche Bach- werden, ob wir mit einem halben Chor Aber sie sind im Thomanerchor nach wie Spiel auf das Gewandhausorchester aus? eine Kantate aufführen können. vor die Ausnahme? Schwarz: Vor 20 oder 25 Jahren gab es Schwarz: Ja. Vielleicht gibt es bei man- noch große Vorbehalte gegenüber man- Die Reihe Ihrer Amtsvorgänger wird oft chen, die Alt singen könnten, eine gewis- chen aufführungspraktischen Dingen, auf Bach reduziert. Welche anderen Tho- se Scheu. Vielleicht müsste ich auch die anderswo längst zur Selbstverständ- maskantoren sind für Sie von Bedeutung? noch bewusster wahrnehmen, wer dafür lichkeit geworden sind. Das ist inzwi- Schwarz: Aus der Zeit vor Bach sind zu in Frage kommt. schen nicht mehr der Fall. Insgesamt nennen , Johann empfinde ich den Klang des Gewand- Schelle, Sebastian Knüpfer, Johann Wie alt sind die Thomaner durchschnitt- hausorchesters als sehr transparent, Kuhnau und andere. Da gibt es viele lich, wenn sie in den Stimmwechsel kom- durchsichtig, sensibel im Piano und ge- wunderbare Dinge im Notenschrank, die men? nauso wunderschön intensiv im Forte. in Vergessenheit geraten sind. Dabei ha- Schwarz: Das geschieht meist in der 7. Ob das ein Ergebnis auch des Bach-Spiels ben diese Kompositionen auch für ande- oder 8. Klasse, also im Alter von zwölf ist, kann ich nicht sagen. re Epochen klangbildend gewirkt. Aus oder dreizehn Jahren. dem 19. Jahrhundert sind beispielsweise Ursprünglich erklangen die Bach-Kantaten und In den 1970er Jahren ist der Chor von 80 im Sonntagsgottesdienst, wofür sie auch herausragende Vorbilder. Aber natürlich auf etwa 90 Mitglieder erweitert worden. komponiert worden sind. Seit 1948 wer- steht Bach immer im Vordergrund, das Ihr Vorgänger hat den sie im Anschluss an die Sonnabend- ist ganz klar. sich um eine nochmalige Vergrößerung Motetten in der Thomaskirche gespielt. des Chores bemüht, damit nicht immer Was spräche dagegen, zum einstigen Mo- Der Kreuzkantor in hat einen alle alles singen müssen. Was ist daraus dus zurückzukehren? Chordirigenten an seiner Seite, der auch geworden? Schwarz: Eigentlich spricht nichts dage- Aufführungen des Kreuzchors leitet. Wer Schwarz: Was die Kapazitäten des Tho- gen, und bei mir rennen Sie da offene entlastet Sie als Thomaskantor? masalumnats angeht, könnte man schon Türen ein. Aber ich glaube, die Motetten- Schwarz: Mein Assistent Titus Heidemann noch mehr Sänger aufnehmen. Aber es besucher vor allem von außerhalb wären ist ein Geschenk des Himmels. Wir arbei- war schon immer meine Meinung, nicht enttäuscht. Außerdem würde das den ten fantastisch zusammen. Einerseits die Quantität macht die Qualität. Außer- Chor in ganz entscheidender Weise be- setzt er meine Vorstellungen perfekt um, dem bin ich der Ansicht: Wenn wir je- treffen. Momentan werden die Motetten andererseits hat er immer wieder Ideen, manden als Thomaner aufnehmen, dann am Freitag und Sonnabend vom gesam- die auch mich beflügeln. Und er ist ein hat er auch das Recht, als Thomaner sin- ten Chor gesungen, während im Gottes- gutes Korrektiv, wenn es um die Planung gen zu können. Deswegen stehen eigent- dienst am Sonntag abwechselnd jeweils geht. Die allermeisten Aufgaben nehme lich immer alle auf dem Podium, selbst eine Hälfte singt. Es müsste überlegt ich zwar selbst wahr und tue das auch wenn manche Stücke innerhalb eines

34 Interview © Gewandhaus−Magazin Programms von einer kleinen Besetzung gesungen werden. Es gibt auch mal Kon- zerte mit einer kleineren Besetzung. Aber das sind Ausnahmen.

Ließe die Nachwuchssituation überhaupt eine Chorvergrößerung zu? Schwarz: Derzeit haben wir eine relativ große Zahl von Neuen, zwölf oder drei- zehn. Wir befinden uns hier in Leipzig in der wunderbaren Lage, dass wir zwei Schulen haben, die die Vorbereitung übernehmen: die Grundschule des Fo- rums thomanum und die Anna-Magdale- na-Bach-Schule. Das ist sehr gut. Gleich- wohl sind wir keine Insel der Seligen. Früher ist es keine Ausnahme gewesen, dass zur Aufnahmeprüfung eine Bach- Arie gesungen wurde. Heute ist das kaum mehr der Fall. Das liegt natürlich auch an gesellschaftlichen Veränderungen. Wel- ches Kind im Grundschulalter singt heut- zutage einen Choral oder kommt mit der land präsent ist. Wir werden überall mit denen Epochen. Ich will, dass der Chor Motette eines alten Meisters in Berüh- offenen Armen und Ohren empfangen. mit einem Brahms ebenso umzugehen rung? Die Ursachen für dieses Defizit Und dann kommt es eben vor, dass je- weiß wie mit einem Monteverdi. Am sind in der sehr bedenklichen Entwick- mand in Hamburg, in München oder in Herzen liegt mir aber auch ältere Litera- lung innerhalb der Kirche zu suchen. Die Speyer plötzlich merkt, »zu diesem Chor tur wie etwa das »Florilegium Portense«, Pfunde, mit denen wir als Kirche wu- möchte ich«. Damit machen wir ja auch eine Motettensammlung aus dem frühen chern könnten, werden verdrängt und Leipzig als Musikstadt über die Grenzen 17. Jahrhundert. Ich würde sie gern im nicht mehr gepflegt – gerade was die der Stadt hinaus bekannt. Verlauf des Kirchenjahres mit zum Klin- Kinder angeht: Man hat Scheu, sie die al- gen bringen, ebenso das »Israelsbrünn- ten Choräle singen zu lassen, weil man Sie sind jetzt seit drei Jahren im Amt, lein«, eine Madrigalsammlung von Jo- meint, diese Texte könne man heute zwei liegen noch vor Ihnen. Was möchten hann Hermann Schein – vielleicht sogar nicht mehr anbieten. Dabei sind das ei- Sie bis 2021 erreichen? als CD-Produktion. Ich habe da viele Ide- gentlich sehr aktuelle Texte. Schwarz: Zuerst einmal geht es mir dar- en, aber natürlich ist alles eine Frage der Diese Entwicklung ruft bei mir große Be- um, den Chorklang so zu formen, wie ich Zeit. Der Spagat zwischen Schule, Pro- denken hervor. Wir können zwar in un- ihn mir vorstelle. Da sind wir, glaube ich, benarbeit und den regulären musikali- serem Umfeld Einfluss darauf nehmen auf einem guten Weg. Ich strebe einen schen Verpflichtungen muss gemeistert und die Ausbildung in entsprechender glanzvollen Klang an, der gleichzeitig werden – und zwar ohne Abstriche an Weise fördern. Aber ich bin ja auch daran aber auch Wärme und rhetorische Kraft dem Ziel, Vielfalt auf höchstem musikali- interessiert, dass Knaben aus dem weite- ausstrahlt. Diese Balance möchte ich er- schem Niveau anzubieten. Dafür arbeite ren Umland oder aus ganz Deutschland reichen, ohne dass die Knaben und jungen ich mit viel Herzblut und mit allen Kräf- zu uns kommen. Der Blick und das offene Männer mit Gewalt gegen die Stimme ar- ten, die mir zur Verfügung stehen. Und Ohr nach außen sind für unsere Entwick- beiten. Sie sollen vielmehr alle Resonanz- das macht mir jeden Tag große Freude. lung ganz entscheidend. räume einsetzen und sich dabei wohlfüh- Interview: Claudius Böhm, len. Außerdem richte ich besonderes Juliane Moghimi Wie viele von den Neuen kommen derzeit Augenmerk darauf, eine gute sprachliche aus Leipzig? Qualität anzubieten und die melodische Schwarz: Es sind neun oder zehn, die ge- Gliederung so zu gestalten, dass diese für Konzerttipp naue Zahl habe ich nicht parat. den Zuhörer nachvollziehbar wird. 21. Juni, 20 Uhr, Bachfest-Leipzig- Wichtig ist mir auch, einen guten Grund- Konzert in der Thomaskirche: Gibt es gezielte Maßnahmen, um auch stock zu legen, damit das, was den Tho- Bach-Kantaten mit Thomanerchor, außerhalb Leipzigs Bewerber zu finden? manerchor ausmacht, weiterhin beste- Gewandhausorchester und Gotthold Schwarz: Nein. Umso wichtiger ist es, hen bleibt: die musikalische Qualität und Schwarz. dass der Thomanerchor in ganz Deutsch- die Vielfalt des Repertoires aus verschie-

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