Marsyas und Moira

Luise Seemann

Marsyas und Moira

Die Schichten eines griechischen Mythos freigelegt mit Hilfe der archäologischen und literarischen Quellen ausgehend von zwei antiken Sarkophagen

diagonal-Verlag Marburg 2006 Religionswissenschaftliche Reihe Band 23

Diese Studie wurde vom Land Baden-Württemberg durch ein Wiedereinstiegs- und Habilitations-Stipendium für Akademikerinnen mit Kindern gefördert.

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Umschlag unter Verwendung eines Ausschnitts von: Fries-Sarkophag im Musée du Louvre (siehe Abbildungsverzeichnis, Abb. 5)

Satz: diagonal-Verlag, Marburg Druck: buch bücher dd ag, Birkach

ISBN 3-927165-95-6 ISSN 0934-2192

Inhalt

Einleitung 9 Antike Sarkophage in Italien und Kleinasien 10 Stadtrömische Sarkophage im 2. Jahrhundert n. Chr. – Dokimeische Sarkophage Der Marsyas-Mythos in seinen verschiedenen Versionen 13 Diodors Version des Marsyas-Mythos 17

I. Marsyas Der Mythos als Fries 20 1. Die Marsyas-Sarkophage und ihre formalen und ikonographischen Sonderfälle 20 Die Hauptgruppe: Marsyas-Sarkophage mit Musenchor – Marsyas-Sarkophage ohne Musenchor – Girlandensarkophag der Sammlung Barberini – Friessarkophag im Konservatorenpalast – Marsyas-Sarkophag im Louvre – Fazit 2. Statuarische Vorbilder der Wettkampfgruppe des Louvre-Sarkophags 29 Die statuarische Wettkampf-Gruppe – Das statuarische Vorbild des Apollon – Typologische Vorläufer der Sitzenden – Das typologische Vorbild für den Marsyas des Sarkophages 3. Der Marsyas-Fries im Theater von Hierapolis 35 4. Die narrative Rezeption in Friesform 37 5. Ikonographie und Benennungsvorschläge für die Sitzende 38 Ikonographische Zweifelsfragen – Die besonderen Merkmale der Sitzenden 6. Die Identifizierung einer literarischen Version in der bildenden Kunst 46 7. Thesen 49

II. Moira Das Symbol als Emblem 51 1. Der dokimeische Girlandensarkophag in Konya 51 Beschreibung – Die formale Bildkomposition – Ein ikonographischer Sonderfall – Das typologische Vorbild für die Sockelfiguren 2. Benennung der sitzenden Göttin 56 3. Weitere archäologische Indizien 61 4. Die Verwandlung zur symbolischen Chiffre 66 5. Ein Frauen-Sarkophag – ein Männer-Sarkophag? 70 6 Inhalt ______

III. Mythos 72 1. Bildsprache und Rezeption 72 a. Der Mythos im Bild 72 b. Zum Sinngehalt von Mythenbildern auf Sarkophagen 76 c. Mytheninterpretation im allgemeinen 80 d. Der Dichter, der Künstler und die Inspiration 84 e. Die ästhetische Illusion 86 2. Die verschiedenen Verständnisebenen des Marsyas-Mythos 89 a. Das Charakteristische des Offensichtlichen im Relief 90 b. Die mythisch-agonale Ebene. Wesen und Bedeutung des Wettkampfes 91 Welches Motiv treibt Marsyas zur Herausforderung des Apollon? – Was wird in dem Wettkampf verglichen? – Die Frage des Reglements – Warum wird Marsyas bestraft? – Bewertung des Wettkampfes und der Person des Marsyas – Die Überlegenheit der Unsterblichen c. Die rituelle Ebene im Mythos 102 Initiation als Satyr – Marsyas als Initiand – Die Bedeutung des Baumes. Der Hintergrund der Opferung – Marsyas als vergöttlichter Ahne und geopfertes Totem? – Konstruktion einer Phylogenese d. Der musikhistorische und politische Hintergrund 115 Die historische phrygische Auletenschule – Marsyas und Aulos in der klassischen Kunst und Dichtung in Athen – Antagonismus der Götter Apollon und Marsyas und der Instrumente Aulos und Kithara? – Rekonstruktion eines soziopolitischen Konfliktes e. Die soziologisch-philosophische Ebene: Pädagogisch-kosmologische Ausdeutung 124 Musik als Erziehungsmittel – Die Bedeutung der Musik im Kosmos – Der als ethisches System: Gottesurteil und Gericht f. Die erotische Motivation 132 Die in ihrer Jungfräulichkeit gefährdete – Diodors Kybele in ihrer mänadischen Phase – Marsyas: Verliebtheit und Verzicht – Ontogenese eines Satyrs 3. Die entsprechenden Verständnisebenen bezüglich der Moiren 145 a. Das Offensichtliche 145 b. Die mythische Ebene 146 c. Initiation mit Hilfe der Moiren 148 d. Erziehung und Wissenserwerb mit Hilfe der Moiren 148 e. Die Moiren als Richterinnen und kosmische Göttinnen 149 f. Die erotische Seite der Moira 153 ______Inhalt 7

IV. Deutung 157 1. Das Unbewußte des Musikers Marsyas 157 2. Chronologie der Mythosschichten 158 3. Faszination des Marsyas-Mythos 160

V. Anhang 162 Schriftquellen zu Marsyas 162 Abkürzungsverzeichnis 165 Abbildungen 166 Abbildungsnachweis 185

»Da das Kunstschaffen, was es sonst immer sei, jedenfalls ein seelisch geistiger Vorgang ist, muß die Wissenschaft von der Kunst Psychologie sein. Sie mag auch etwas anderes sein. Psychologie ist sie unter allen Umständen.«

Max Friedländer

Mein Dank gilt allen Freunden und Kollegen, die mir behilflich waren, besonders Karl Hoheisel und Christoph Auffarth.

Einleitung

Der schicksalhafte Verlauf eines Menschenlebens, seine moralische Bewertung und der am Ende stehende Tod waren und sind zu allen Zeiten ein den Menschen tief bewegendes Thema. Die reiche antike Sepulkralkunst hat einen gewichtigen Aussagewert für den Umgang der Menschen mit diesem Thema zu ihrer Entste- hungszeit. Sie ist kaum Ausdruck der Vorstellung vom Tod oder vom Leben nach dem Tode, als vielmehr der Gedankenwelt, die die Lebenszeit selbst betrifft. Sarkophage und Urnen sind häufig mit mythischen Themen dekoriert; Themen, die aber auch die Lebenden umgaben, etwa auf Symposions-Geschirr im privaten Wohnhaus oder an öffentlichen Gebäuden als Wandschmuck. Nicht selten finden sich in dem Komplex einer auf ganz verschiedenen Objekten dargestellten mythi- schen Geschichte Varianten im ›Erzählverlauf‹. Die Variante kann so aussehen, daß sie auch nicht aus der literarischen Überlieferung der antiken Schriftsteller be- kannt ist. In dem ersten, archäologischen Teil dieser Studie soll ein solcher einzelner Fall herausgegriffen werden. Archäologischer Ausgangspunkt sind zwei Sarkophage der römischen Kaiserzeit. Der eine ist ein Friessarkophag aus der Stadt Rom, der andere ein Girlandensarkophag aus Kleinasien, aus Phrygien. Auf dem Friessarko- phag ist der Mythos des Satyrs Marsyas dargestellt (er fordert Apollon zum musi- kalischen Wettkampf heraus, wird besiegt und bekommt die Haut abgezogen); auf dem Girlandensarkophag erscheinen im Mittelbild die drei Schicksalsgöttinnen, die Moiren. Auf beiden Sarkophagen befindet sich im Zentrum die gleiche halbnackte weibliche sitzende Figur in lauschender Haltung mit Schreibtafel in der Hand. Auf dem kleinasiatischen Sarkophag nimmt sie die Stelle der mittleren Moira ein. Die Deutung der Sitzenden auf dem Marsyas-Sarkophag ist zunächst ungewiß. Sie kommt nur auf einem anderen Marsyas-Sarkophag noch vor – jedoch im Profil – und macht unseren Sarkophag damit zum ikonographischen Sonderfall. Die Posi- tion in der Mitte läßt darauf schließen, daß diese Figur für die dargestellte Ge- schichte sehr wichtig war. Sie ist aus der reichen literarischen Überlieferung zum Mythos zunächst nicht bekannt. Es stellen sich drei Fragen:

1. Worum geht es bei der Mythos-Variante auf dem Marsyas-Sarkophag? 2. Hat die beiden Sarkophagen gemeinsame Figur die gleiche Bedeutung, gibt es einen inhaltlichen Bezug, ein bewußtes Spiel mit der Bedeutung oder ist dies ein- fach die gedankenlose Übernahme eines ikonographischen Typs aus einem Mu- sterbuch? 3. Aus welchen Elementen, nämlich älteren Figurentypen aus der Freiplastik, ist der Fries des stadtrömischen Sarkophages überhaupt zusammengesetzt, was wurde übernommen, was verändert und erweitert, um damit eine chronologische Folge zu 10 Einleitung ______schaffen – bzw. wie und mit welchem Hintersinn wurde eine mehrfigurige Kompo- sition für den Girlandensarkophag verkürzt und verdichtet?

Daran schließt sich der zweite Teil als philologische Studie an mit der Frage: Was hat der antike Betrachter mit dem Marsyas-Thema bzw. mit den Moiren auf einem Sarkophag assoziiert? Welche unterschiedlichen Auslegungsmöglichkeiten des Mar- syas-Mythos gab es und welche Funktionen wurden den Moiren zugeschrieben? Nach einem Kapitel, das sich mit Mythenverständnis, künstlerischem Prozeß, Identifikation und ästhetischer Illusion beschäftigt, wird der geistesgeschichtliche Weg erläutert, den der Marsyas-Mythos wechselnd akzentuiert über die Jahrhun- derte genommen hat, werden die verschiedenen möglichen Verständnisebenen des Mythos anhand der archäologischen Quellen (Vasenbilder, Freiplastik, Sarko- phage, Votivreliefs, Mosaike) und der für diesen Mythos ungewöhnlich reichen philologischen Quellen (Inschriften, Dithyramben-Fragmente, mythographische Texte, philosophische Literatur) ausgebreitet. Neben der Ebene des Offensichtlichen und des Mythischen läßt sich eine ritu- elle Ebene, ein historisch-politischer und ein soziologisch-philosophischer Hinter- grund sowie eine Ebene der erotischen Motivation des Marsyas-Mythos beschrei- ben. Und dieselben Verständnisebenen lassen sich erstaunlicherweise auch für die Moiren herauskristallisieren. So erschließen sich Bedeutungen, die über die bloße Kenntnis des Mythos weit hinausgehend für die Auswahl des Themas relevant gewesen sein müssen und schließlich seine langanhaltende Faszination für die Menschen erklärt.

Antike Sarkophage in Italien und Kleinasien

Im antiken Kleinasien war die Körperbestattung seit jeher die verbreitetste Bestat- tungsform. Die ärmeren Bevölkerungsschichten mußten sich damit zufriedengeben, den Leichnam einfach in die Erde zu legen oder nur mit einer Platte zu bedecken oder in einem Holz-Sarg zu bestatten. Auch Marmorsarkophage waren häufig schlicht belassen. Reliefgeschmückte Sarkophage gibt es in Kleinasien seit dem späten Hellenis- mus. Aber erst im 2. Jh. n. Chr., in einer Zeit wirtschaftlicher Blüte, setzt in Klein- asien, wie in Rom, durch industriell arbeitende Werkstätten die Hauptproduktion von Sarkophagen ein. In Italien hatte bis zum 2. Jh. n. Chr. die Brandbestattung vorgeherrscht. Ab 120 n. Chr. nimmt die Zahl der Sarkophage stark zu. Zu diesem Zeitpunkt kommt bei der wohlhabenden aristokratischen Oberschicht die Bestattung in Sarkophagen in Mode. Im 3. Jh. n. Chr. ist die Körperbestattung allgemein Sitte, bis die Sarko- phagproduktion im 4. Jh. n. Chr. endet. Im westlichen Teil des römischen Reiches ______Einleitung 11 ist Rom das Zentrum der Sarkophagproduktion, im Osten sind es die Städte Athen und Dokimeion. Sarkophage waren in Rom meist in oberirdischen Grabhäusern aufgestellt, die die verschiedensten architektonischen Formen haben konnten; zuweilen standen sie aber auch in unterirdischen Grabkammern (Hypogäen), die sich unter Grabhügeln befinden konnten, oder in Felskammern oder in Ädikulen. Die Nekropolen befan- den sich an den großen Ausfallstraßen vor den Städten. In Kleinasien ist auch die Aufstellung auf Pfeilern oder nur auf Sockeln, etwa in Altarform, verbreitet. Oft sind hier die Grabstätten im freien Gelände verstreut. Im Osten wie im Westen wurden nicht selten mehrere Leichname in einen Sarkophag gelegt. Die aufwendi- gen Dekorationen der Sarkophage dienten nicht zuletzt auch der Selbstdarstellung der Käufer. In den Werkstätten herrschte eine starke handwerkliche Spezialisierung. Meh- rere Hände arbeiteten an einem Sarkophag. Die Porträts etwa wurden von anderen Bildhauern ausgeführt als die Ornamente. Für die figürlichen Darstellungen ver- wendete man Musterbücher, die weit verbreitet waren, denn ihre Motive sind zum Teil im Osten und Westen nachweisbar. In der Produktion lassen sich, etwa an Sockelprofilen, Deckelornamenten oder Eck-Masken, typologisch Serien unter- scheiden. Die figürlichen Darstellungen und die Porträts folgen der allgemeinen Stilentwicklung und Mode der kaiserzeitlichen Kunst.

Stadtrömische Sarkophage im 2. Jahrhundert n. Chr.

Kleinasiatische und auch griechische Sarkophage sind an allen vier Seiten im Re- lief geschmückt. Das bedingt die freie Aufstellung und die Zugänglichkeit von allen Seiten. Die römischen Sarkophage, die an die Wände der Grabkammern ge- rückt wurden, kennen nur eine Schauseite. Die Rückseite blieb unverziert, auf den kurzen Seiten ist nur flüchtig und im flachen Relief ein Ornament angegeben. Die Deckel, die heute häufig verloren sind, sind Dachdeckel, Klinendeckel (mit einer lagernden Figur) oder flache Tafeldeckel. Neben rechteckigen Sarkophagkästen gibt es auch ovale Wannen. Die stadtrömische Produktion ist am vielfältigsten in ihren Themen; häufig wird in einem Fries ein mythologisches Geschehen geschil- dert.

Dokimeische Sarkophage

Die Hauptgruppe der kleinasiatischen Sarkophage der Kaiserzeit sind die sogenann- ten repräsentativen Sarkophage aus Dokimeion, deren Kästen eine reiche Orna- mentik haben und mit einem Dachdeckel bedeckt sind. Diese Girlanden-, Säulen- 12 Einleitung ______und Friessarkophage schließen sich durch Einheitlichkeit in der Ausführung von Figuren und Ornamenten zusammen. Sie sind bis auf wenige Ausnahmen auch aus demselben Marmor. Die Gestaltung des Sarkophages als Abbild eines Hauses hat eine lange Tradi- tion. In Pisidien gab es seit dem Ende des 4. Jh. v. Chr. Ostotheken in Form eines Hauses mit Dachdeckel und Scheintür an der Schmalseite. Um die Zeitenwende traten in Pamphylien Ostotheken mit Scheintür und Girlanden auf. Auch die ältesten Girlandensarkophage aus dem 1. Jh. v. bis 1. Jh. n. Chr. stellen durch den Dach- deckel mit Ziegeln und Akroteren und durch die formale Gestaltung des Kastens auf allen vier Seiten, teilweise mit Grabportal, eine Hausform dar. Stets betonen Eckmotive, Stierköpfe oder Niken die Tektonik des »Hauses«. Dahinter steht die Vorstellung, dem Toten ein ihm gebührendes Haus zu geben. Dabei hat das Haus nicht nur die Funktion, den Toten zu schützen, sondern auch, ihn durch die prunk- volle Ausgestaltung, die einem Heroon oder Tempel nachgebildet ist, zu ehren, ja zu überhöhen. Grabportale sind gewöhnlich geschlossen. Davor vollzieht bei Säulensarkopha- gen des 2. Jhs. meist eine Frau ein Totenopfer. Zuweilen steht ein Mann in Mantel und mit Schriftrolle in der Art der Philosophenstatuen dabei.1 Die geschlossene Tür zeigt uns, daß ein Hindurchtreten nicht mehr möglich ist, die Welt der Leben- den und der Toten getrennt bleibt. Die Herkunft der Werkstatt der Gruppe repräsentativer Sarkophage war in der Forschung bis in die achtziger Jahre umstritten. Da viele Stücke in Pamphylien in der Süd-Türkei gefunden wurden, galt diese Gegend als das Ursprungsland der zu- erst »pamphylisch« genannten Gruppe, bis durch viele Neufunde und mittels einer sichereren Fundstatistik die Lokalisierung im nördlicheren Phrygien möglich wurde. Auch die Wiedererkennung von ähnlichen Ornamentformen in der Architektur sprach für eine phrygische Herkunft der Sarkophage. Schließlich ist es wahrschein- licher, daß die prächtigen Stücke aus einer Gegend stammen, die Marmorvorkom- men aufweist und wo sich eine bestehende Tradition der Marmorbearbeitung zu hoher Blüte entwickeln konnte. Dies ist in Dokimeion der Fall gewesen und der qualitätsvolle Marmor stammt mit Sicherheit aus dokimeischen Brüchen. (Sie be- finden sich beim heutigem Iscechisar, 23 km nördlich von Afyon.) Die Fundorte der Sarkophage befinden sich überwiegend an den Straßen, die Dokimeion und die Nachbarstadt Synnada mit den Küstengebieten im Westen und Süden und mit dem Osten verbanden. Die Transportwege Richtung Westen gingen durch das Hermos- und durch das Mäandertal zu den ionischen Küstenstädten, der Weg nach Süden durch das Tal des Euryedon und des Kaystros zum pamphyli- schen Golf. Der im folgenden besprochene besonders prunkvolle Girlandensarko- phag wurde in Konya, im östlichen Phrygien, gefunden. Die Funde zeigen, daß die

1) H. Wiegartz, Kleinasiatische Säulensarkophage (1965) 71. ______Einleitung 13

Sarkophagkästen nicht etwa in Dokimeion als Rohlinge und Halbfabrikate vorge- fertigt und woanders ausgearbeitet worden sind, sondern daß sie am Ursprungsort vollendet und dann verkauft wurden. Nur die Ausführung der Porträts überließ man wohl den Vorstellungen des Käufers. Die dokimeische Werkstatt muß man sich als ein industrielles Großunterneh- men mit verschiedenen Gruppen von Steinmetzen und Bildhauern vorstellen. Über längere Zeiträume wurden einheitliche Dekorations-Typen angewandt, also Serien hergestellt, zu bestimmten Zeitpunkten neue ins Programm genommen. Die präch- tigen Produkte wurden nicht nur in Kleinasien verkauft, sondern auch nach Italien verschifft. Die Produktion der dokimeischen Girlandensarkophage beginnt in der Regierungszeit des Kaisers Claudius (41-54 n. Chr.) und hat ihre Hoch-Zeit zwi- schen ca. 140 bis ca. 165 n. Chr.2

Der Marsyas-Mythos in seinen verschiedenen Versionen

Der Marsyas-Mythos, der die Begegnung der Göttin Athena mit dem Satyrn Mar- syas und dem sich anschließenden musikalischen Wettstreit von Apollon und Mar- syas schildert, ist uns durch eine Reihe antiker Textstücke verschiedener Autoren überliefert, die sich zum Teil ergänzen, zum Teil überschneiden oder aber vonein- ander abweichen. Satyroi sind Waldgeister, Dämonen der urwüchsigen Wälder. Sie werden als göttlich bezeichnet, sind aber offensichtlich trotzdem sterblich. Als Mischwesen haben sie ein tierähnliches Gesicht mit runden Augen, platter Nase, nach oben ste- hende Tierohren, häufig einen langen Bart und stets einen Pferdeschweif; die übri- gen Körpermerkmale sind menschlich gebildet. Pferdebeine oder Hufe können auf- treten. Häufig sind sie ithyphallisch dargestellt.3 In der Vasenmalerei findet man sie stets in Zusammenhang von Tanz, Gelage, Weinlese und dionysischem Kult. Sie begleiten den Gott Dionysos im Thiasos.4 So sind ihre charakteristischen Eigen- schaften Trunkenheit, Unanständigkeit und Musikbegeisterung. Der Altphilologe Lasserre nannte den Satyr einen Struwwelpeter oder ein Anti-Paradigma der Wohl- anständigkeit.5

2) M. Waelkens Dokimeion (1982) 105ff.; F. Isik, in: G. Koch (Hrsg.), Grabeskunst der römischen Kaiserzeit (1993) 9-35; ders., in: G. Koch (Hrsg.), Akten des Symposiums »125 Jahre Sarkophag-Corpus« Marburg 1995 (1998) 278-294; D. Berges, in: Akten des Symposiums a. O. 23-35. 3) Erst im Hellenismus tauchen in manchen Darstellungen, in Annäherung an , Hörner auf. 4) Die häufigste Vasenform mit Satyrn bzw. mit Marsyas ist die des Kraters, jenes Gefäßes, das für das Symposion benötigt wurde, siehe Froning, Dithyrambos 40ff. 5) F. Lasserre, Das Satyrspiel, in: B. Seidensticker (Hrsg.), Satyrspiel (1989) 257. 14 Einleitung ______

Die Bezeichnung Satyr wird oft synonym mit »Silen«6 gebraucht. Zwischen Satyr und Silen gibt es tatsächlich keine klare Trennung. Satyr ist wohl die lokale Bezeichnung eines Silens auf der Peloponnes. Hier wurde auch das Satyrspiel ent- wickelt, in dem die Satyrn den Chor bilden und nur ein älterer von ihnen, der An- führer, Silen genannt wird. Vor die Textstellen zum eigentlichen Mythos sind hier die Äußerungen zur Erfindung des Aulos, einem der heutigen Oboe ähnlichem Instrument, gestellt und abschließend diejenigen zum Ort des Geschehens zugefügt.

Die Erfindung des Aulos: Pindar (5. Jh. v. Chr.), P. 12,6-30: Nach der Enthauptung der Gorgo erfin- det Athena den Aulos und eine bestimmte Melodie, die die Totenklage der , der Schwester Medusas nachahmt. (Ein Zusammenhang mit dem Marsyas-Mythos ist nicht erwähnt.)

Ovid (1. Jh. n. Chr.), fasti 6,697f.: Athena bohrte erstmals ins Holz des Buchsbaums einige Löcher und schuf so die Flöte.

Hyginus (2. Jh. n. Chr.), fab. 165: Athena hat als erste einen Aulos aus einem Hirschknochen gefertigt.

Athena und Marsyas: Die Überlieferung zum Zusammentreffen von Athena und Marsyas ist recht ein- heitlich:

Pseudo-Palaiphatos (4. Jh. v. Chr.) 47: »Athena verachtete den Aulos, weil er ihre Schönheit entstellte. Das Spiegelbild in einer Quelle hatte ihr die Wirkung gezeigt, so warf sie den Aulos fort, wo der Hirte Marsyas zufällig lauerte. Marsyas nahm ihn auf und führt ihn an die Lippen«.7

Apollodor (2. Jh. v. Chr.) 1,4,2: »Zu den von Apollon Getöteten gehört auch des Olympos Sohn, Marsyas. Dieser hatte die Doppelauloi gefunden, welche Athena weggeworfen hatte, weil sie ihr Gesicht verunstalteten…«8

Ovid (1. Jh. n. Chr.) (fast. 6, 697-709; ars 3,505f): Als Athena in einem Gewässer ihr vom Flötenspiel verzerrtes Gesicht sieht, wirft sie die Flöte verärgert fort, weil ihr das diese Kunst nicht wert ist.

6) LIMC VIII (1999) Suppl. s. v. Silenoi (E. Simon). 7) Übersetzung Verfasserin nach: Palaephatus, Peri Apiston. On unbelievable tales, trans- lation, introduction and commentary by Jacob Stern (1996) 79. 159. 8) Apollodor, Mythologische Bibliothek (Übersetzung Ch. G. Moser – D. Vollbach) (1988). ______Einleitung 15

Hyginus (2. Jh. n. Chr.), fab. 165: »Minerva soll als erste eine Flöte aus einem Hirschknochen gefertigt haben und zum Mahl der Götter gekommen sein, um zu spielen. Juno und Venus lachten sie aus, weil sie blau wurde und ihre Backen auf- blies. Weil sie häßlich ausgesehen hatte und beim Spiel verspottet worden war, ging sie in den Wald Ida zu einer Quelle. Dort betrachtete sie sich beim Flöten im Was- ser und sah sich zu Recht verspottet. Daher warf sie die Flöte weg und sprach die Verwünschung aus, daß wer sie aufhebe, schwer bestraft werden solle.«9

Bei Plutarch (mor. 456b) und Tzetzes (hist. var. 1, 366), die das Fragment eines Satyrspiels überliefern, ist es Marsyas selbst, der die Flöte spielende Athena darauf hinweist, wie häßlich ihr Gesichtsausdruck ist.

Zum Wettstreit des Marsyas gegen Apollon: Pseudo-Palaiphatos 47: »Der Aulos spielte sein Lied durch eine göttliche Kraft, jenseits vom Willen des Spielers, doch Marsyas glaubte, daß die Kraft des Aulos sein eigenes spielerisches Geschick wäre. Er forderte Apollon und die Musen her- aus. Er sagte, er wünsche nicht weiterzuleben, wenn es ihm nicht gelänge, den Gott zu übertreffen. Doch im Wettkampf wurde er geschlagen und auf seine Niederlage hin wurde ihm die Haut abgezogen.«10

Apollodor 1,4,2: »Zu den von Apollon Getöteten gehört auch des Olympos Sohn, Marsyas. Dieser hatte die Doppelpfeife gefunden, welche Athena weggeworfen hatte, weil sie ihr Gesicht verunstaltete, und ließ sich nun mit Apollon in einen mu- sikalischen Wettstreit ein. Die beiden waren übereingekommen, daß der Sieger mit dem Besiegten nach Belieben schalten und walten dürfte. Als die Zeit der Ent- scheidung gekommen war, begann Apollon den Wettkampf damit, daß er die Kithara umgekehrt spielte, und er hieß den Marsyas, dasselbe zu tun. Weil dieser es nicht konnte, war Apollon der Sieger und hängte den Marsyas an einer ihn überragenden Fichte auf, streifte ihm mit einem Messer die Haut ab und brachte ihn auf diese Weise um.«11

Der Verlauf des Wettkampfes wird unterschiedlich geschildert. In den Versionen, in welchen mehrere Runden erwähnt werden, gewinnt Marsyas die erste Runde, denn er beeindruckt die Zuhörer durch seine fremden Klänge.

Hyginus 165,4: »Der Hirt Marsyas, ein Sohn des Oiagros, ein Satyr, fand die Flöte. Durch ständiges Üben brachte er von Tag zu Tag einen süßeren Klang hervor, so daß er zum Wettstreit mit seinem Kitharaspiel herausforderte. Als Apollo

9) Hyginus, Fabulae. Sagen der Antike (Übersetzung F.-P. Waiblinger) (1996). 10) Palaephatus a. O. 11) Appollodor a. O. 16 Einleitung ______gekommen war, nahmen sie die Musen zu Schiedsrichterinnen. Marsyas schien bereits als Sieger aus dem Wettkampf hervorzugehen, da drehte Apollo die Kithara um, und der Klang war derselbe. Dies konnte Marsyas mit der Flöte nicht tun. Deshalb band Apollo den besiegten Marsyas an einen Baum und übergab ihn einem Skythen, der ihm gliederweise die Haut abzog. Den übrigen Körper übergab er seinem Schüler Olympos zum Begräbnis. Nach seinem Blut hat der Fluß Mar- syas seinen Namen bekommen.«12

Auch in Sript. rer. myth. II 115: dreht Apollon in der zweiten Runde die Kithara zum Spielen um und gewinnt durch diesen Trick. Bei Diodor (1. Jh. v. Chr.) (3,59,2ff.) singt Apollon in der zweiten Runde zum Kitharaspiel und zieht durch seinen Gesang die Zuhörer auf seine Seite. Marsyas protestiert, da es um einen Vergleich der Geschicklichkeit (oder Fingerfertigkeit, »techne«) und der Harmonie und Melodie gehe und es ungerecht sei, eine Fähig- keit, das Flötenspiel, gegen zweie, Kitharaspiel und Gesang, zu vergleichen. Apollon argumentiert dagegen, daß Marsyas ja auch den Mund gebrauchte, also dürfe er dies auch tun. Diese Auffassung wird von den Schiedsrichtern geteilt und Apollon der Sieg zuerkannt.

Schiedsrichter sind bei Diodor das Volk der Nysier, bei Hyginus (fab. 165) und Lukian (16,2) die Musen, bei Apuleius (flor. 3,1ff.) die Musen und Athena zu- sammen.

Schindung: Diodor 3,59,5; Palaiph. 47,20-25: Darauf zieht Apollon dem Marsyas die Haut ab. Apollodor 1,4,2: Apollon hängt Marsyas zuerst an eine Fichte und zieht ihm dann die Haut ab. Bei Hyginus (fab. 165,5) wird die Schindung des Besiegten durch einen Skythen13 durchgeführt. Olympos, ein Schüler des Marsyas, beerdigt ihn.

Apuleius (flor. 3,1ff) läßt die Musen und Athene die grausame Tat vollziehen.

Die Entstehung des Flusses: Pseudo-Palaephatus 47 berichtet: »Ich selbst sah den Fluß in Phrygien, der nach ihm benannt ist. Und die Phryger sagen, daß der Fluß aus dem Blut des Marsyas entstand.«14

12) Hyginus a. O. 13) Die Skythen waren ein nomadisches Reitervolk aus dem Süden Rußlands, das in den Kau- kasus vordrang. Im 5. Jh. v. Chr. gab es in Athen eine Art Polizeitruppe, bestehend aus sky- thischen Staatssklaven, die ihre Landestracht trugen. Der früheste Beleg für den Skythen im Zusammenhang mit Marsyas ist die Musenbasis von Mantinea aus dem 4. Jh. v. Chr. ______Einleitung 17

Bei Ovid, met. 6,400. entsteht aus den Tränen der anwesenden Nymphen, Faune und Satyroi ein Fluß. Hyginus (fab. 165): Der Fluß Marsyas hat seinen Namen nach dem Blut des Satyr. Nonnos (Dion. 19,323f.): Apollon verwandelte Marsyas in einen Fluß.

Gefühle nach der Tat: Diodor (3,59,5) und Nonnos (5. Jh. n. Chr.) (Dion. 19,323f.) erzählen: Hinterher sei Apollon von Reue und Mitleid erfaßt gewesen; Apuleius (flor. 3,11) meint aber, Apollon habe sich eines so niedrigen Sieges geschämt.

Zum Ort Kelainai: Herodot (5. Jh. v. Chr.). 7,26: In der Stadt Kelainai hängt auch die abgezogene Haut des Silens Marsyas, die nach der phrygischen Sage Apollon dem Marsyas abgezogen und hier aufgehängt hat.

Xenophon (4. Jh. v. Chr.), anab. 1,2,8: Hier soll Apollon dem Marsyas, nachdem er ihn im Wettstreit um die Weisheit besiegte, die Haut abgezogen und sie in der Quellgrotte aufgehängt haben. Darum hieße der Fluß Marsyas.

Aelian (3. Jh. n. Chr.), Poikile historia. 13,21 (überliefert in der Suda und bei Sto- baios, Eklogai): Die Haut des Marsyas hängte man in einer Grotte bei Kelainai auf. Wenn man neben ihr eine phrygische Weise spielte, bewegte sie sich, spielte man aber eine Weise zur Ehre Apollons, blieb sie unbewegt und wie taub.15

Diodors Version des Marsyas-Mythos

Da der Text von Diodoros aus Agyrion (Diodoros Siculus) (1. Jh. v. Chr.) in seiner Schrift Bibliothéke historiké (3,58,1ff.) am ausführlichsten ist, andererseits aber von den anderen Quellen am stärksten abweicht, wird er hier vollständig zitiert:

58 »Nach der Erzählung der Einwohner nämlich herrschte über Phrygien ein König namens Meon. Aus seiner Ehe mit Dindyme ging ein Kind weiblichen Geschlechts hervor. Aber da er es nicht aufziehen wollte, setzte er es auf einem Berg namens Kybelos aus. Dort nun boten durch göttliche Fügung Panther und andere Tiere von besonderer Stärke dem Kinde die Brust und ernährten es auf diese Weise. 2) Frauen, die in der Nähe Vieh hüte- ten, entdeckten es; verwundert über ein solches Schicksal nahmen sie den Säugling mit sich und nannten das Kind Kybele nach dem Orte. Das Mädchen wuchs heran, durch

14) Palaephatus a. O. 15) Aelianus Claudius, Bunte Geschichten, (Hrsg. H. Helms) (1990). 18 Einleitung ______

Schönheit und Verstand ausgezeichnet, und seine Klugheit erregte Verwunderung. Denn Kybele soll es gewesen sein, die die Syrinx aus mehreren Rohren ersann und auch Zim- beln und Tympanon zu Scherz und Reigenspiel erfand. Dazu lehrte sie Sühneriten gegen Krankheit von Vieh und kleinen Kindern. 3) Und als durch ihre Zaubersprüche die Säuglinge geheilt wurden, indem sie diese meist auf den Arm nahm, wurde sie wegen der Mühe, die sie sich bei all dem gab, und ihrer Sorgsamkeit Mutter der Berge genannt. In Freundschaft verkehrte sie sehr viel mit dem Phryger Marsyas, einem Manne von bewunderungswürdig klugem Verstand, wofür man die Tatsache anführt, daß er die Töne der vielrohrigen Syrinx nachzuahmen vermochte und das ganze Tonsystem auf die Flöte übertrug. Als Zeichen seiner Weisheit aber gilt, daß er bis zu seinem Tode auf den Genuß körperlicher Liebe verzichtete. 4) Kybele verliebte sich, als sie in die Blüte ihrer Jahre kam, in einen Jüngling aus dem Lande namens Atthis, später Papa genannt. Sie traf heimlich mit ihm zusammen und wurde von ihm schwanger. Um die gleiche Zeit aber ereignete es sich, daß auch die Eltern erkannten, wer sie war . 59 1) Man führte sie darauf zum königlichen Palast zurück, wo sie der Vater als Jungfrau aufnahm. Als er aber ihre Vergehen erkannt hatte, da tötete er ihre Zieheltern und auch Atthis und ließ ihre Leichen unbestattet auf die Erde werfen. Aus Liebe zu dem jungen Mann und zu den Pflegeeltern sei Kybele daraufhin wahnsinnig geworden. Schreiend unter Paukenschlag und mit aufgelösten Haaren durchzog sie einsam die Gegend, Mar- syas aus Mitleid mit ihrem Schicksal folgte ihr freiwillig und irrte aus alter Freundschaft mit ihr zusammen umher. 2) So kamen sie zu Dionysos nach Nysa und trafen dort auch Apollon, der wegen seiner Kithara großes Ansehen genoß. Diese hatte zwar erfunden, wie es heißt, Apollon aber war der erste, der sie richtig zu spielen verstand. Marsyas nun ließ sich mit Apollon auf einen Wettkampf ihrer Fertigkeiten ein, wobei man die Nysier zu Kampfrichtern be- stimmte. Als erster spielte Apollon vor, und zwar ohne zu singen; dann hob Marsyas mit seiner Flöte an und brachte die Gastgeber zum Erstaunen: Mit seiner Musik schien er den Vorgänger weit in den Schatten zu stellen. 3) Da sie aber ausgemacht hatten, im Wechsel den Richtern ihre Kunst zu zeigen, begann nun Apollon zum zweiten Male, und zwar jetzt mit einem Gesang, der zur Zitherbegleitung paßte, und erntete diesmal mehr Zustimmung als vorher Marsyas mit seinem Flötenspiel. Der war verärgert und belehrte seine Zuhörer, er sei zu Unrecht auf den zweiten Platz verwiesen worden. Denn es gehe doch um eine Kunstfertigkeit, nicht aber um Gesang. Dementsprechend habe man daher Harmonie und Melodie von Flöte und Kithara zu beurteilen, und es sei einfach unge- recht, wie Apollon zwei verschiedene Künste einer einzigen entgegenzuhalten. 4) Ihm soll Apollon geantwortet haben, Marsyas habe ihm durchaus nichts voraus, denn er tue doch etwas ganz ähnliches wie er selbst, wenn er in eine Röhre blase. Entweder nämlich müsse es jedem freistehen, beides miteinander zu verbinden, oder keiner von beiden dürfe bei seinen Darbietungen den Mund verwenden, sondern müsse allein mit den Händen seine Fähigkeiten beweisen. ______Einleitung 19

5) Die Zuhörer fanden, was Apollon sage, habe mehr für sich, und daher müßten die Künstler nochmals ihre Proben ablegen. Marsyas unterlag, Apollon aber, durch den Zank in übermäßige Wut geraten, zog dem unterlegenen Gegner lebendig die Haut ab; schnell freilich kam die Reue über ihn, und voll Zorn über die eigene Tat nahm er die Kithara, zerriß die Saiten und zerstörte so die entdeckte Harmonie. Diese wurde später in ihren Teilen wieder aufgefunden, und zwar die von den Musen, der Lichnos von Linos, Hypate und Parhypate durch und Tamyris. 6) Apollon aber soll Kithara und Flöte in der Höhle des Dionysos niedergelegt haben und von Liebe zu Kybele ergriffen, mit dieser zusammen bis zu den Hyperboreern umher- geirrt sein. 7) Als aber in Phrygien eine Seuche die Menschen befiel, das Land keine Früchte mehr hervorbrachte und die Menschen Gott fragten, wie sie von diesen Übeln los kämen, da befahl er ihnen, den Leichnam des zu bestatten, Kybele aber als Göttin zu verehren.« (Übersetzung Gerhard Wirth16)

16) Diodor von Sizilien, Historische Bibliothek (Übersetzung G. Wirth – O. Veh, eingeleitet und kommentiert von T. Nothers) (1992) 258f.

I. Marsyas Der Mythos als Fries

1. Die Marsyas-Sarkophage und ihre formalen und ikonographischen Sonderfälle

Die Hauptgruppe: Marsyas-Sarkophage mit Musenchor

Bis heute sind etwa dreißig Marsyas-Sarkophage oder ihre Fragmente bekannt ge- worden. Im Vordergrund zeigen die Marsyas-Sarkophage der Hauptgruppe ein ihnen allen gemeinsames und sie also verbindendes dreiteiliges Schema: Ganz links tritt Athena auf, manchmal mit einem gelagerten Flußgott,17 die Mitte wird von dem musikalischen Wettkampf zwischen Apollon und Marsyas eingenommen, und rechts erscheint vor dem sein Messer zückenden Skythen der mit hochgenommenen Armen an den Baum gebundene Marsyas. Die mittlere Szene nimmt stets mehr als die Hälfte des vorhandenen Platzes ein. Die Szenen sind optisch so miteinander verknüpft, daß sie wie ein Fries wirken. Die Hauptgruppe, die in dem relativ kurzen Zeitraum zwischen dem Ende des 2. Jhs. und dem zweiten Viertel des 3. Jhs. n. Chr. entstanden ist und deren Stücke anscheinend alle aus Rom kommen, könnte man als eine besondere Gruppe der Musen-Sarkophage verstehen, denn ihr Fries wird durch die Aufreihung des Mu- senchores im Hintergrund gefüllt, dem die Marsyas-Geschichte quasi in drei Sze- nen vorgeblendet ist.18 (Abb. 1) Da Apollon allein, als Begleiter der Musenschar, sowieso häufig auf reinen Musen-Sarkophagen zu finden ist,19 ist es nicht abwegig eine Episode aus seinem Leben zu den Musen dazu zukomponieren. Den thematischen und formalen Zu- sammenhang der Marsyas- und der Musen-Sarkophage belegen zudem Musen- Sarkophage, die das Marsyas-Thema auf die Schmalseiten drängen.20

17) Oder aber statt des Flußgottes erscheint Olympos, der Apollon um Gnade bittet. 18) C. Robert, Die Einzelmythen, ASR III 2 (1904) Nr. 200-208; G. Koch, Sarkophage der römischen Kaiserzeit (1993) 76. 19) Max Wegner, Die Musensarkophage, ASR V 3 (1966). Zuweilen nimmt Apollon auf Mu- sen-Sarkophagen sogar dieselbe charakteristische nach außen geneigte Haltung mit hoch- gestelltem linken Fuß ein, wie in der Hauptgruppe auf Marsyas-Sarkophagen. Ohne das Pendant des Marsyas allerdings wirkt die Haltung verloren. 20) Wegner a. O. Nr. 184, Taf. 2a; Nr. 218 Taf. 136b. ______Marsyas 21

Flankiert werden die sich gegenüberstehenden Figuren Marsyas und Apollon auf allen diesen mit Musen ausgestatteten Marsyas-Sarkophagen durch zwei sit- zende Göttinnen. Es sind links meist Kybele oder Athena und rechts .21 Auf die beherrschende Position in die Mitte zwischen den Musikanten – die auf eine Schiedsrichterrolle schließen lassen könnte – wurde nur bei zwei Sarkophagen eine bekleidete sitzende Göttin geschoben, die nicht sicher zu identifizieren ist, weil keine Attribute erhalten sind.22 Die Anwesenheit der Musen und des Skythen zeigen, daß die Darstellung der Hauptgruppe der Marsyas-Sarkophage zumindest in diesen Punkten der Version des Hyginus entspricht.

Marsyas-Sarkophage ohne Musenchor

Nun gibt es drei Sarkophage, deren Darstellungsschema nicht der Hauptgruppe entspricht. Diese drei Ausnahmen sind erheblich früher (Anfang und Mitte 2. Jh. n. Chr.) entstanden oder gehören schon in die Spätphase der Sarkophagproduktion (um 300 n. Chr.), und sie sind damit auch von der Chronologie her Einzelgänger. Der erste Sarkophag, einer der frühesten stadtrömischen Sarkophage überhaupt (120-30 n. Chr.), ist ein Girlandensarkophag; der zweite (Mitte des 2. Jhs. n. Chr.) wie auch der späte dritte (um 300 n. Chr.) ein Friessarkophag. Allen dreien ist das Fehlen des Musenchores gemeinsam. Sie gewichten die Szenen teilweise anders, als dies in der Hauptgruppe der Fall ist, oder fügen sogar andere Elemente hinzu. Es soll uns im folgenden insofern um die kompositorischen und motivischen Abweichungen dieser Stücke gehen, als dahinter inhaltliche Abweichungen der Mythoserzählung stehen.

21) Robert a. O. Nr. 200-208. 22) Robert a. O. Nr. 200. 201. Eine Ausnahme dieser Hauptgruppe, aber doch zu ihr zuzählen, ist der Sarkophag mit Medaillon: Robert a. O. Nr. 209 Taf. 68 (um 200 n. Chr.). Dadurch, daß ein Medaillon das Zentrum einnimmt, ist die Aufteilung der Figuren anders, Marsyas und Apollon sind weiter nach außen gerückt, die Musen (nur drei) wurden auf gleicher Standhöhe eingeordnet, Athena steht rechts außen. Apollon nimmt das üblich Schrittsche- ein, Marsyas Standmotiv ist spiegelverkehrt im Vergleich zu den anderen Stücken der Hauptgruppe. 22 Marsyas ______

Girlandensarkophag der Sammlung Barberini

Der Girlandensarkophag der Sammlung Barberini23 vom Beginn des 2. Jhs. n. Chr. aus Rom ist der früheste bekannte Marsyas-Sarkophag überhaupt. Für die kleine Gruppe der Girlanden-Sarkophage aus der frühhadrianischen Zeit, sind ein- zelne kleine, mythologische Szenen in den Girlandenbögen typisch.24 Die Girlan- den charakterisieren mit ihren Früchten, wie auch die Eroten mit den Attributen unter ihren Füßen, die verschiedenen Jahreszeiten. Der Barberini-Sarkophag weicht auch in den Details seiner Szenen erheblich von allen späteren Marsyas-Sarkophagen ab. Die später übliche dreiteilige Thema- tik, Athena (mit Flöte am Wasser), Wettkampf und Schindung, ist hier nur mit der ersten Szene gewahrt. Im ersten Girlandenbogen (Abb. 2) erscheint links Athena mit aufgeblasenen Wangen vor einer Felsquelle Doppelaulos spielend. Ihr hören eine vor ihr auf dem Fels hockende Eule zu und die auf einem Felsen links im Hintergrund sitzende Kybele, die am Tympanon eindeutig zu identifizieren ist und wohl das Geschehen nach Phrygien weisen soll. Die Haltung der Kybele – sie stützt lauschend den Kopf mit der rechten Hand – wird uns später wiederbegegnen. Die entscheidende Wettkampfszene im Zentrum fehlt. Statt dessen steht im mittleren Girlandenbogen Marsyas mit gespreizten Beinen bereits an einen Feigen- baum gebunden. Rechts von ihm zieht der Skythe gerade sein Messer. Auf einem kahlen Baum daneben hockt der Rabe Apollons.(Abb. 3) Im rechten Girlandenbogen sitzt der nackte Apollon bequem auf einem Felsen nach links schauend. Den linken Unterarm stützt er auf seine Kithara. Daneben hockt ein Schwan, vor ihm ein Greif. Oberhalb des Greifen lagert eine Gottheit mit einem Schilfstengel in der rechten Hand und einem kleinen Zweig in der Linken, wohl eine Lokalgottheit.25

Der Barberini-Sarkophag, der zeigt, daß es eine einheitliche Ikonographie zum Marsyas-Mythos im frühen 2. Jh. n. Chr. in der Sarkophagplastik noch nicht gab, ist für uns insofern von Bedeutung, als er eine Verbindung nach Kleinasien doku- mentiert, die sich, was das Thema und den Bildträger betrifft, auch später noch mehrmals zeigen wird:

23) Robert a. O. Nr. 196. H. Herdejürgen, Stadtrömische und italische Girlandensarkophage, ASR 6.2.1 (1996) 30f. 96f. Kat. 30 Taf. 25,1-3; 26,2; 27,1.2. 24) Herdejürgen a. O. 30ff. 25) Robert a. O. Nr. 196 hielt diese Gottheit für weiblich. Die Brust ist aber nicht stärker als die des Apollon. Es ist der männliche Flußgott, der auch auf fast allen anderen Marsyas- Sarkophagen erscheint. ______Marsyas 23

Denn das Führen der Girlande über die Köpfe der Eroten hat er und seine kleine Gruppe gleich dekorierter römischer Sarkophage mit Sarkophagen aus dem kleinasiatischen Aphrodisias gemeinsam. Als Vermittler zwischen den beiden Denkmälergruppen gelten Künstler aus dem Osten, die in frühhadrianischer Zeit in Rom Bauten mit Reliefs ausstatteten.26 Die griechischen Themen und Figuren- motive sind im späten Hellenismus und der frühen Kaiserzeit in neue Relieftypen gefaßt worden und in hadrianischer Zeit übernommen worden, um sie in einen neuen, nämlich sepulkralen Kontext zu stellen.27

Friessarkophag im Konservatorenpalast

Auch bei einem Friessarkophag im Konservatorenpalast28 (Abb. 4) aus der Mitte des 2. Jhs. n. Chr. ist die bestimmte Anordnung der einzelnen Szenen, die die spä- teren Marsyas-Sarkophage charakterisiert, noch nicht vorhanden. Es wurden zum Teil andere Momente der Handlung herausgegriffen als bei den Sarkophagen der Hauptgruppe des späten 2. Jhs.; sie wurden an anderer Stelle plaziert und erschei- nen noch nicht so harmonisch miteinander verbunden. Die Schmalseiten sind keine Nebenseiten, sondern wurden für die Darstellung des Handlungsverlaufs voll mit einbezogen. Auf der rechten Schmalseite bückt sich Marsyas mit zwei Auloi in der Hand an einem Flußlauf. Im Hintergrund zeigt sich eine Quellgöttin, die sich auf ein Was- sergefäß stützt. Es ist wohl die erste Szene gemeint, in der Marsyas die Instrumente gerade aufgehoben hat. Sein Blick fällt auf den Baum, der auf sein kommendes Schicksal hinweist. Die chronologisch zweite Szene, Marsyas steht mit den Auloi in der Hand vor der sitzenden Athena, ist auf die linke Schmalseite plaziert. Der Wettkampf wurde in die linke Hälfte des Frieses der Frontseite gesetzt – nicht ins Zentrum wie bei den anderen Sarkophagen des 2. Jhs. n. Chr., außerdem sitzt Apollon. Das Abführen des besiegten Marsyas, dessen Hände auf den Rücken gebunden sind, durch den Skythen, eine sonst auf Sarkophagen nie mehr dargestellte Szene, nimmt die rechte Hälfte ein. Das ikonographische Schema stammt von Historien- reliefs, auf denen gefangene, barbarische Kriegsgegner durch römische Soldaten

26) Herdejürgen a. O. 97. 27) Herdejürgen a. O. 35: Herdejürgen glaubt aber, daß hier noch keine Allegorien für Tod und ewiges Leben vorliegen, da die Szenen im Format so klein sind, sondern nur die Ver- trautheit mit griechischen Mythen dokumentiert werden sollte 28) Helbig 4II (1966) Nr. 1666 (B. Andreae); H. Sichtermann – G. Koch, Griechische Mythen auf römischen Sarkophagen (1975) 39f. Nr. 35 Taf. 82f. Andreae datiert ihn Mitte des 2. Jhs. n. Chr., Sichtermann um 160 n. Chr. 24 Marsyas ______abgeführt werden. Der Marsyas neben dem Baum sieht selbst diesem Vorgang zu bzw. er blickt der thronenden Athena ins Auge. So tritt er mit vier Malen auf der Frontseite ungewöhnlich häufig auf. Die zweimal auf der Frontseite wiedergegebene Athena (und zusätzlich noch auf den Schmalseiten) hat auf diesem Sarkophag eine bedeutende Rolle: einmal steht sie dem Marsyas gegenüber und weist mit der rechten Hand auf ihn hin; in der Abführungsszene wird Marsyas ihr, nicht Apollon vorgeführt. Die inhaltliche Gewichtung der Geschichte ist also auch eine andere: Athena, weniger Apollon, setzt sich mit Marsyas auseinander. Wie üblich hat sich der Bildhauer um eine axialsymmetrische Anordnung innerhalb des Frieses bemüht. Die Frontseite wird außen von zwei stehenden Figuren (Lesende und Marsyas) gerahmt; es folgen nach innen einander zugekehrt die größeren Sitzfiguren Apollon und Athena, das Zen- trum nimmt eine halbnackte ebenfalls sitzende Göttin mit Baum ein. Die Räume zwischen den Sitzfiguren füllen stehende Figuren.

Auch bei diesem Sarkophag gibt es keinen Musenchor im Hintergrund. Ganz links erscheint eine einzelne weibliche Figur, die sich an eine Säule lehnt und in ein Dip- tychon schaut. Wegen ihrer Haltung, die einem hellenistischen Musentyp zu eigen ist, und wegen der Attribute wurde sie auch als Muse benannt. Die angelehnte Figur ist aber eine Einzelfigur ohne Chor und ohne Federschmuck auf dem Kopf; darüber hinaus hat sie die rechte Schulter entblößt. Dieses Merkmal gleicht sie deutlich der Göttin an. Es könnte sich um , die Muse der Liebes- dichtung, als Einzelgöttin handeln. Jedenfalls ist die entblößte Schulter ein nicht von der Hand zu weisender Hinweis auf das Thema Liebe und Partnerwahl. H. Sichtermann vermutete in der Lesenden zu Recht die Schiedsrichterin des Wettkampfes. Deutlich ist, daß das Motiv des (Vor-)Lesens nicht etwa das Singen vom Blatt meint, sondern in Zusammenhang steht mit dem schicksalhaften Vor- Schreiben, wie der Kampf ausgehen und was mit dem Verlierer geschehen werde. Durch die entblößte Schulter wird zudem eine erotische Komponente angedeutet. Das spricht für das Thema Liebesglück.

Die Rolle der im Zentrum auf einem Fels sitzenden halbnackten – und damit noch erotischeren – weiblichen Figur mit wohlgeordnetem Haar, die sich mit der linken Hand auf dem Fels abstützt, ist unklar.29 Ihre Kopfwendung geht in Richtung des besiegten Marsyas.30 Das charakteristische An-das-rechte-Ohr-Greifen, als eine Geste des Lauschens, ist eine vielleicht bedeutsame Übereinstimmung mit der Kybele des Barberini-Sarkophages.

29) Der Typ ähnelt der »sich umwendenden Muse«: Koch, Weibliche Sitzstatuen 95 Kat. 76 Abb. 37-39, wie Wegner a. O. bemerkte, allerdings ist deren Armhaltung anders. 30) Formal verbindet die halbnackte Göttin den sitzenden Apollon mit der sitzenden Athena. ______Marsyas 25

Das Auftreten der thronenden Athena in der rechten Hälfte sowie das der Muse und der Lauschenden zeigt, daß der Bildhauer dieses Sarkophages auf andere Mus- tervorlagen zurückgriff als die Bildhauer der Hauptgruppe – und möglicherweise eine anderen Mythenversion meinte. In diesem Zusammenhang soll noch auf das Detail des Vorhangs hingewiesen werden, der hinter der thronenden Athena und dem vor ihr herantretenden Marsyas im Hintergrund horizontal gespannt ist und uns noch einmal begegnen wird.

Marsyas-Sarkophag im Louvre

Nun befindet sich ein Marsyas-Sarkophag im Musée du Louvre31 (Abb. 5) vom Ende des 3. Jhs. n. Chr.32, der, wegen seiner ebenfalls vorhandenen weiblichen, halbnackten Sitzfigur, einen Zusammenhang mit dem Sarkophag im Konserva- torenpalast zu haben scheint – und dessen Sitzende schon bei seinen ersten archäo- logischen Betrachtern der Neuzeit Aufmerken und gewisse Unsicherheit hervor- gerufen hat. Es ist einer der spätesten, vielleicht der späteste bekannte Marsyas- Sarkophag. Die Wettkampfszene ist hier aus der Mitte nach links gerutscht, so daß rechts daneben noch Platz ist für eine Apollon bekränzende , einen gelagerten Berg- und einen Flußgott. Am Auffälligsten ist die zwischen den Figuren der musizieren- den Kontrahenten lässig auf einem Fels sitzende weibliche Figur, die halbnackt ist und herabfallendes wirres Haar hat. (Somit hat sie äußerlich keine Gemeinsamkeit mit der sonst nur in zwei Fällen, an dieser Position auftauchenden thronenden be- kleideten Figur.33) Es stellt sich die Frage, wer diese halbnackte Figur ist, welche Rolle sie im Mythos spielt und warum der Musenreigen weggelassen wurde.

31) Sarkophag aus Rom im Louvre Inv. 2347, 105 X 220 cm, gefunden 1853 in einem Grab aus Ziegelmauerwerk an der Via Aurelia bei der Zollstation del Chiarone. In der vorderen Kammer befanden sich drei Sarkophage: außer dem Marsyas-Sarkophag noch zwei Hip- polyt-Sarkophage. Die Sarkophage waren bei einer früheren Beraubung beschädigt wor- den. Lit.: C. Hadaczek, RM 17, 1902, 175f; C. Robert, Die Einzelmythen, ASR 3,2 (1904) 247ff. Nr. 198 Taf. 64; M. Wegner, Die Musensarkophage, ASR 5,3 (1966) 115; H. Gabel- mann, Rez. zu Wegner in BJb. 168, 1968, 535; G. Koch – H. Sichtermann, Römische Sar- kophage Hdb. d. Arch. 158 Abb. 179; LIMC II (1984) s. v. Apollon/Apollo 428 Nr. 471a (E. Simon – G. Bauchhenss); F. Baratte – C. Metzger, Musée du Louvre. Cat. des sarco- phages en pierre d'époques romaines et paléochrétiennes (1985) 90 Nr. 33; P. B. Rawson, The Myth of Marsyas in the Roman Visual Arts (1987) 186f. Nr. 217. 32) Datierung: Robert: antoninisch; Wegner: drittes Viertel 3. Jh. n. Chr.; Baratte und Raw- son: 290/300 n. Chr. G. Koch, Sarkophage der römischen Kaiserzeit (1993) 76, nennt ihn tetrarchisch. Alle Autoren ohne Begründung oder Vergleiche. Die späte Datierung ist we- gen der großen Längung der Figuren wahrscheinlich. 33) Robert a. O. Nr. 200-201. 26 Marsyas ______

Beschreibung des Sarkophages im Louvre Auf der Frontseite des Sarkophages sind Szenen aus dem Marsyas-Mythos darge- stellt, wobei die linke Hälfte von Athena und dem Wettkampf eingenommen wird, die rechte Hälfte von Nike, einem Fluß- und wohl einem Berggott sowie der Schindung. Die Figur des Apollon, die nur ein Mal auftritt, befindet sich im Zen- trum des Reliefs. Ganz links erscheint neben einer sich um einen senkrechten Stab windenden Schlange die gewappnete, nach rechts blickende Athena als flankierende Figur. Bei dem Stab handelt es sich wohl um die Lanze . Der obere Teil und der hochgeführte Unterarm der Athena sind abgebrochen. Die Schlange ist Symbol für die Zukunft, günstiger oder ungünstiger Bedeu- tung, für die Seele und für den Tod, also hier wohl Hinweis auf das Schicksal des Marsyas.34 Rechts von ihr folgt die Wettkampf-Szene: Marsyas stehend, dreht den Ober- körper Apollon zu und neigt sich etwas zurück, während er die Flöte mit beiden Händen an den Mund hält. Sein Stand ist eigenartig tänzelnd, denn er steht mit bei- den Füßen nur auf den Zehenspitzen. Sein wildgelocktes Bart- und Kopfhaar cha- rakterisiert ihn neben den spitzen und großen Ohren als Satyr. Um den Hals liegt ein Manteltuch und über der rechten Schulter zusätzlich anscheinend ein Wolfsfell. Zwischen den Beinen erscheint vor dem Hintergrund eine Syrinx und ein Lagobo- lon. Auf einem Felsstück rechts neben Marsyas sitzt eine halbnackte weibliche Figur, die lauschend den Kopf Apollon zuwendet. In der linken, neben sich auf- gestützten Hand hält sie ein Diptychon. Der rechte Fuß ist weit hochgestellt, das Bein folglich angewinkelt. Den rechten Ellenbogen stützt sie auf dieses Knie. Die angewinkelten Finger berühren das Haar am Hinterkopf. Das linke Bein bleibt nach unten gestreckt; der Fuß stützt sich auf dem Fels ab. Bekleidet ist sie nur mit einem um den Unterkörper und den linken Arm geschlungenen Mantel. Das schulterlange, lockige Haar fällt ungeordnet herab. Apollon, gänzlich nackt, hält an seiner linken Flanke die Kithara, greift auch in die Saiten, wendet aber den Blick Marsyas zu. Sein Standmotiv entspricht dem des Marsyas. Auch er steht auf den Zehenspitzen. Den rechten Fuß und Unterschenkel sehen wir frontal, den linken in Dreiviertelansicht. In der rechten Hüfte sind beide Figuren etwas eingeknickt. Auf dem Kopf trägt Apollon einen Lorbeerkranz. In der Schindungs-Szene am äußersten rechten Rand des Sarkophages bildet der mit den Händen an einem Baum aufgehängte Marsyas den Abschluß. Links von ihm befindet sich eine männliche Figur in einem zweilagigen Gewand mit Stiefeln und Pilos, die hinter Marsyas' Rücken hantiert, ihn offensichtlich gerade

34) Der Kleine Pauly V (1975) s. v. Schlange. ______Marsyas 27 festbindet. Warum er einen Pilos trägt und nicht die für diese Figur übliche phrygi- sche Mütze, läßt sich nicht sagen. Vielleicht hat sich der Steinmetz die Kopfbe- deckung von einer zeitgenössischen Dioskurendarstellung abgeschaut. Links unterhalb kauert ein nackter Mann mit Bart und wildem Haar, der an einem Stein sein Messer für die Schindung schleift. Offensichtlich greift der Sar- kophagkünstler hier auf die bekannte hellenistische »Schleifergruppe« mit dem aufgehängten Marsyas zurück.35 Zwischen der Schindungs- und der Wettkampfszene füllen drei weitere Figuren das Bildfeld. Die geflügelte Figur neben Apollon, eine Nike, hielt Apollon wohl ein Siegeszeichen über den Kopf (rechte Hand und Attribut nicht erhalten), einen Lorbeerzweig oder -kranz. Merkwürdig wirkt, daß sie zwar nach dieser Seite hin hantiert, den Kopf aber nach der anderen Seite weggedreht hat. Nikes rechte Hand und Kopfhaltung verbindet also die beiden Szenen, während die symmetrisch weg- gedrehten Köpfe von Apollon und Nike die Szenen optisch trennen. Eine Nike als direkter Hinweis auf den Sieg Apollons erscheint nur noch bei einem weiteren Marsyas-Sarkophag, aber auch auf einem Mosaik.36 Die Nike ist möglicherweise von Darstellungen auf historischen Reliefs, etwa an Triumphbögen,37 angeregt und übernommen. Unterhalb von Nike lagert ein zur Wettkampfszene blickender, bärtiger Mann, der in der Rechten eine Pflanze hält und sich mit dem linken Unterarm auf eine umgestürzte Wasserurne stützt; also ein Flußgott. Dies ist sowohl ein Hinweis auf den Ort des Geschehens – das Ufer des Flusses Marsyas bei Kelainai – als auch auf die Überlieferung, daß Marsyas sich nach der Schindung in einen Flußgott verwan- delt.38 Ein solcher Flußgott erscheint z. B. auch auf dem Medaillon-Sarkophag. Nike gegenüber sitzt ein ebenfalls nur mit Mantel bekleideter junger Mann auf einem Felsen, ein Berggott vermutlich. Bezogen auf den Unterkörper wiederholt die Sitzhaltung mit dem stark angezogenen rechten und ausgestreckten linken Bein die Haltung der weiblichen Figur zwischen Marsyas und Apollon. Auf der rechten Schmalseite des Sarkophages erscheint in flachem Relief Apol- lon in Frontalansicht, der sich mit der rechten, über den Kopf geführten Hand den Kranz aufs Haar gedrückt hat. In der gesenkten linken Hand hält er die Kithara. Die

35) Weis, Hanging Marsyas. 36) Nike erscheint auch auf dem Medaillon-Sarkophag: Robert a. O. Nr. 209 Taf. 68 und auf dem Mosaik aus Portus Magnus: LIMC II (1984) s. v. Apollon/Apollo Nr. 472 (E. Simon – G. Bauchhenss.) 37) siehe z. B. Relief am Konstantinsbogen: D. Kleiner, Roman Sculpture (1992) Abb. 258. Auf Vasen gehört die Nike seit dem 4. Jh. zum Marsyas-Thema: K. Schauenburg, RM 65, 1958, Anm. 146. 38) Robert a. O. 248 aber hielt es für ganz unwahrscheinlich, »daß in dem Flußgott der in den Fluß verwandelte Marsyas proleptisch dargestellt sein sollte.« 28 Marsyas ______anscheinend von hinten gesehene Nike im Peplos neben ihm führt die linke Hand über seinen Kopf; in der rechten hält sie einen Palmzweig. Ihr Fliegen wird durch das im unteren Teil bewegte Gewand charakterisiert und durch das angehobene rechte Bein. Auf der linken Schmalseite sitzt Apollon vorgebeugt unter einem Laubbaum auf einem Felsstück. In den Händen hält er die Kithara und das Plektron vor sich. Der rechte Fuß ist weit vorgestellt, der linke an den Fels herangestellt. Der Gott trägt einen Lorbeerkranz. Die neben ihm stehende weibliche Figur in Chiton und Mantel, der verschleiernd über den Kopf gezogen ist, hält in der rechten Hand, was nicht eindeutig zu erkennen ist, eine tuchartige Sache – vielleicht die Haut des Marsyas? Sie wurde von Robert als die Mutter des Apoll Latona39 gedeutet, wofür es aber so recht keinen Anhaltspunkt gibt.

Die formale Bildkomposition Auch bei diesem Sarkophag ist ein chronologischer Handlungsablauf von links nach rechts gegeben, und zwar in zwei Abschnitten, von denen der erste am stärk- sten inhaltlich gekürzt ist. Formal gesehen wurde aber zugleich eine axialsymme- trische Komposition angestrebt, die nicht ganz durchgehalten werden konnte, vor allem wegen des gelagerten Flußgottes und des hockenden Schleifers. Apollon bzw. seine Kithara steht metrisch gesehen im Zentrum des Bildfeldes. Wenn man Anordnung und Haltung der Figuren berücksichtigt, so bildet in der lin- ken Hälfte des Reliefs die Sitzende eine Symmetrieachse, der rechts und links je ein Stehender zugeordnet ist. Hinzukommt Athena am Rand. Entsprechend bildet in der rechten Hälfte der sitzende Berggott das Pendant zu der sitzenden Göttin. Die Stehenden zu seinen Seiten sind Nike und der Skythe mit dem Pilos. Außen ent- spricht der hängende Marsyas der Athena. So wie sich Marsyas und Apollon in der linken Hälfte fixieren, blicken sich rechts Nike und der Berggott an. Nur durch die Kopfwendung der Nike nach rechts, des Berggottes und des Gelagerten nach links entsteht eine gewisse Verklammerung mit der durch die Rücken des Messerwetzers und des Skythen gänzlich abgeschlossenen Szene der Schindung. Der Künstler, der den Entwurf für den Sarkophag lieferte, hat ganz offensicht- lich mehrere Szenen bekannter Gruppen oder auch Einzelfiguren zusammenge- stückelt. Chronologisch geht zwar im Fries der Handlungsverlauf von links nach rechts. Kompositorisch besteht bei Sarkophagreliefs aber immer das Bestreben, ein symmetrisches Bild zu konstruieren, um es so mit einem einzigen synoptischen Blick, der den Ablauf zusammenschließt, leicht erfaßbar zu machen.

39) Robert a. O. 248. ______Marsyas 29

Fazit

Als Ergebnis bleibt festzuhalten, daß die drei von den ›kanonischen‹ Marsyas-Sar- kophagen des späten 2. Jhs. abweichenden und auch untereinander erheblich diffe- rierenden Sarkophage – die außerdem auch chronologisch ganz am Anfang bzw. am Ende stehen – zwei verbindende, ihnen allen dreien gemeinsame Elemente haben: Erstens, es gibt keinen Musenchor; zweitens, erscheint eine sitzende weibliche Figur, die eine lauschende Haltung einnimmt. In zwei Fällen ist sie halbnackt und befindet sich im Zentrum. Beim Barberini-Sarkophag läßt sie sich durch das Tym- panon als Kybele identifizieren. Der Gemeinsamkeiten sind so wenige, die Unterschiede, auch bei der Sitzfigur, sind so groß, daß die drei Sarkophage nicht auf ein ihnen gemeinsames, exakt be- stimmbares ikonographisches Vorbild zurückgehen können. Wohl aber kann ihrer Ikonographie – zumindest bei dem Sarkophag im Louvre und im Konservatoren- palast – eine gemeinsame Idee zugrunde liegen, die die Akzentuierung der Thema- tik bestimmt. Diese gemeinsame, von anderen Marsyas-Sarkophagen abweichende Variante des Themas manifestiert sich in der Figur der halbnackten sitzenden Göt- tin. Diese Göttin spielt vermutlich eine wichtige Rolle in einer Mythenversion, die nicht diejenige der Hauptgruppe ist und in der der Musenchor nicht gebraucht wurde.

2. Statuarische Vorbilder der Wettkampfgruppe des Louvre-Sarkophages

Welche ikonographischen Vorbilder sind für das Relief des Louvre Sarkophages auszumachen? Ermöglichen sie es, den Bedeutungsgehalt der Szene zu erläutern?

Die statuarische Wettkampf-Gruppe

Der Typus der lauschenden Göttin ist auch als etwas überlebensgroße Statue be- kannt und zwar in sechs Repliken aus verschiedenen Teilen des römischen Rei- ches.40 Vier der großplastischen kaiserzeitlichen Repliken der Sitzenden kommen

40) Replikenliste: 1. Mus. Antalya Inv. 177.81 aus Perge: J. Inan, TürkAD 26,2 (1983) 9f. Abb. 47; M. E. Ozgur, Skulpturen des Museums von Antalya (1987) Nr. 13; A. Linfert, in: Festschrift J. Inan (1989) 129ff. Taf. 55. 56 2. Mus. Zagreb, aus Minturno; K. Hadaczek, RM 17, 1902, 173; ders., ÖJH 1907, 318; A. Bartoli, BdA 38, 1953, 1ff. Abb. 10; L. Crema, BollAssStudMed 3-4, 1932-33, 25ff.; E. Harnett, The Sculpture of the Roman Minturnae (Diss. Bryn Mawr 1986). 30 Marsyas ______sicher oder wahrscheinlich aus Italien, eine wurde in Leptis Magna in Libyen (Abb. 6) gefunden, eine weitere in Perge an der türkischen Südküste. Auch als Statue war der Typ Teil einer Marsyas-Gruppe. Dies zeigen die Bei- funde einer Marsyas-Statue und eines Apollonkopfes aus Minturno sowie einer Mar- syas-Statue und eines Apollon-Körpers in Perge und in Leptis Magna (Abb. 7, 8) jeweils im gleichen Typ. In Side wurde ein einzelner Marsyas-Torso gefunden.41 Aus dem Theater der Stadt stammt die Replik aus Leptis Magna, so wie auch die Replik aus Minturno sehr wahrscheinlich im dortigen Theater stand; die Replik im Nationalmuseum in Rom fand sich im sogenannten Stadion der Domus Au- gustana auf dem Palatin, die Replik aus Perge stammt aus dem zu den südlichen Thermen und der Palästra gehörenden Vortragssaal. Die Aufstellung in einem Theater, einem Stadion und einer Palästra, also Stät- ten des musischen oder sportlichen Wettkampfes, bezeugt Verständnis für das mu- sisch-agonale Thema des Kunstwerkes. Noch passender wäre der Fundort in einem Odeion, der ist aber leider nicht belegt. C. Schneider schrieb zu der Aufstellung von Musenstatuen reiner Musengruppen in Odeia:

»Schon im Mythos sind die Musen in agonalem Zusammenhang vertraut. Sie wohnen ge- legentlich – vielleicht in der Funktion als Wettkampfrichter – dem Wettstreit Apolls mit Marsyas bei. Die Aufstellung der Musen in den Odeia ist somit vielleicht in Anspielung auf diesen mythischen Wettstreit zu verstehen, der auf höherer Ebene das reale agonale Geschehen auf der Bühne wiederholt. Die Kontrahenten mögen sich angespornt gefühlt haben, und den Zuschauern könnten solche Themen Gelegenheit geboten haben zu ge- lehrten Betrachtungen über die Moral dieses Mythos, über die des Silens und die ungerechte Härte der Bestrafung…«42

Die Datierung der Originalgruppe war sehr umstritten. In der älteren Forschung wurde die Lauschende, deren Zugehörigkeit zu einer Gruppe zum Teil noch gar

3. Mus. Arch. Tripolis, aus Leptis Magna; G. Caputo, Le Sculture del Teatro di Leptis Magna (1976) 51 Nr. 31. 4. Rom, Mus. Naz. Inv. 124.722; De Lachenal, in: A. Giuliano, Mus. Naz. Romano, Le Sculture I 1 (1979) 136 Nr. 97. 5. Dresden, Skulp. Slg. W. G. Becker, Augusteum Dresden (1837) Taf. 17; K. Herrmann, Kat. Skulpturenslg. Dresden (1925) Nr. 241. 6. New York, Metropol. Mus; G. Richter, Cat. of Greek Sculpture. Metropolitan Museum of Art (1954) 101 Nr. 194 Taf. 137. Alle Repliken sind in der Größe einheitlich. Die Figur war ca. 1,75 m groß. 41) J. Inan, Roman Sculpture in Side (1975) 121-123 Nr. 55 Taf. 58,1-4. Weitere Marsyas- Torsen bzw. Köpfe siehe Replikenliste bei A. Linfert, in: Festschrift J. Inan (1989) 134 Anm. 13; sowie E. Angelicoussis, The Holkham Collection of Classical Sculptures (2001) 96ff. Nr. 11. 42) C. Schneider, Die Musengruppe von Milet (1999) 220. ______Marsyas 31 nicht beachtet wurde bzw. noch nicht bekannt war, in den frühen Hellenismus, in das 3. Jh. v. Chr. datiert, später ins 2. Jh. v. Chr. oder in die Kaiserzeit.43 Flashar, der alle drei Typen, besonders aber den Apollon, zuletzt stilistisch un- tersucht hat, datiert die Entstehung der Gruppe um 100 v. Chr. und dieser Datie- rung ist bisher nicht mehr widersprochen worden.44 Vermutlich war die Sitzende zwischen den Kontrahenten nach hinten gerückt, so daß sich diese ungehindert in den Blick nehmen konnten. Die Aufstellung der Figuren ergebe dann ein Grundriß- dreieck, ohne daß die einzelnen Figuren formal stark miteinander verbunden wären. Sie wirkten locker zusammengestellt.45 Der Sarkophag-Künstler hat demnach für die Gestaltung des Wettkampfes in der Mitte auf das Vorbild einer bekannten hellenistischen Statuengruppe zurückge- griffen, genauso wie er für die Darstellung der Schindungsszene die bekannte hel- lenistische Gruppe gleichen Themas verwendet.

Die Datierung der Originalgruppe in den Hellenismus wirft die Frage auf, warum erst im 1. und 2. Jh. n. Chr. (die meisten Repliken scheinen im 2. Jh. Chr. entstan- den zu sein46), also erst nach mehr als hundert Jahren Repliken angefertigt wurden, dann aber so gehäuft – denn aus der ganzen Zwischenzeit ist bisher kein Reflex etwa in der Kleinkunst oder in der Reliefplastik zu fassen. Dies läßt sich, auch wenn es ersichtlich ist, daß sich allgemein die Aufstellung von Musen in Odeia und in Theatern erst im 2. Jh. n. Chr. durchsetzte47, bisher nicht ausreichend erklären.

Das statuarische Vorbild des Apollon

Flashar beschrieb den statuarischen Apollontyp (ausgehend von der am besten er- haltenen Replik in Leptis Magna, Abb. 8), der der erste bekannte nackte musische Apollontyp überhaupt ist, als Spiegelverkehrung des Apollon vom Belvedere, der nun musisch umgedeutet ist.

43) Für das 3. Jh. v. Chr.: Lippold EA 4871; Richter, Cat. of Greek Sculpture. Metropol. Mus., 194; K. Schauenburg, RM 65, 1958, 53; Inan, siehe hier Anm. 41. Für das späte 2. Jh. v. Chr.: C. Dierks-Kiehl, Zu späthell. bewegten Figuren der 2. Hälfte des 2. Jhs. v. Chr. (1973) 50-57; Flashar, Apollon 165ff. Für die Kaiserzeit: P. Zanker, Klassizistische Statuen (1974) 114 Nr. 16 (hadrianisch); E. Künzel, ArchKorrBl 6, 1976, 36 (frühe Kz.); D’Andria – Ritti, siehe hier Anm. 46 (frühe Kz.). 44) Flashar, Apollon, 165ff. Zur Gruppe auch Weis, Hanging Marsyas, 115-17. 45) Flashar, Apollon, 169. 171. 46) Eine ausführliche Bearbeitung und Publikation der Repliken ist bisher nicht unternommen worden. 47) C. Schneider, Die Musengruppe von Milet (1999) 220. 32 Marsyas ______

»Die Abhängigkeit von der Statue im Cortile del Belvedere zeigt sich besonders deutlich darin, daß die Schulter der Spielbeinseite zwar entsprechend angehoben ist, der zugehö- rige rechte Arm aber im Zuge der motivischen Änderungen gesenkt bleibt und das Plek- ton hält: Die rechte Körperseite ist dadurch anatomisch widersinnig gedehnt.«48

Er datierte die statuarische Gruppe in erster Linie nach dem Kopftypus des Apol- lon, wie gesagt, um 100 v. Chr. Der Apollon des Sarkophages weicht von dem statuarischen Typus etwas ab, aber nicht so stark wie der Marsyas des Sarkophages von dem des Statuentyps abweicht. Erstens steht der Apollon des Sarkophages mit beiden Füßen nur auf den Ze- henspitzen. Der Künstler hat vermutlich den Stand dem Getänzel des Marsyas ein- fach angepaßt. Zweitens greift die rechte Hand vor dem Leib nach der Kithara und hält sie – die Finger der linken Hand sind zu den Saiten geführt –, obwohl der Kopf, ebenfalls abweichend, weit nach rechts gewendet ist. So scheint der Apollon auf dem Sarkophag im Blick auf Marsyas gerade im Musizieren zu unterbrechen und innezuhalten, während der statuarische Apollon mit dem Aufstützen der Kithara auf dem Baumstamm deutlicher ausruht. Da eine Relieffigur eine seitliche Stütze nicht nötig hat, fehlt drittens der Baumstamm an Apollons linker Seite.

Typologische Vorläufer der Sitzenden

Die halbnackte Figur der Marsyas-Apollon-Gruppe sitzt in charakteristischer Weise: Der rechte Fuß ist auf dem Felssockel hochgestellt, dadurch bildet der hochkommende Oberschenkel in der Seitenansicht eine Horizontale. Der rechte Ellenbogen kann so auf das rechte Knie gestützt werden. Der Unterarm ist von die- sem Punkt senkrecht nach oben geführt. Dagegen sind linker Arm und linkes Bein gestreckt nach unten gehalten. Die halbnackte Sitzende hielt, wie die Darstellung auf dem Louvre-Sarkophag und auch die großplastische Replik in Antalya zeigt, die rechte Hand mit locker an- gewinkelten Fingern und dem Handrücken nach vorn, so daß sie vielleicht gerade eben noch die herabhängenden Haare berührte, aber sicher nicht den gewendeten Kopf abstützte. Die Gestik drückt Nachdenklichkeit aus und zugleich gespanntes Lauschen. Auffällig kräftig sind die Beine mit ihren runden Oberschenkeln und breiten Knien sowie auch die Füße. Weibliche Weichheit zeichnet den Oberkörper aus: Die Schultern sind weich gerundet, auf dem Bauch erscheinen Fältchen, an den

48) Flashar, Apollon 165. ______Marsyas 33

Achseln Pölsterchen, weich ist auch die Partie des Dekolletés und der Schlüssel- beine.

Weibliche Sitztypen, die in der Art unserer Figur Beine und Füße auf Fels aufge- stellt in der Höhe stark variieren und einen Arm aufstützen, gab es im Hellenismus verschiedentlich schon früher, z. B. die sogenannte von Antiochia um 300 v. Chr.,49 bei der der aufgestützte Unterarm aber gesenkt und die Oberschenkel über- kreuzt waren; oder die bekannte »«, um 200 v. Chr.,50 die ihre Hand an die Wange legte und ebenfalls die Oberschenkel gekreuzt hatte. Diese Figuren wirken graziler als die Sitzende aus der Marsyas-Gruppe. Be- sonders in den statuarischen Repliken hat letztere eine äußerst kräftige Gestalt, die an die stattlichen Figuren der Klassik erinnert. In der Körperlichkeit und Haltung gut vergleichbar ist eine spätklassische Giebelfigur im Akropolismuseum, die nur durch das Anheben des linken Unterarms abweicht.51 Hier wird also ein klassizisti- scher Rückgriff spürbar. Was die Hauptmerkmale der Sitzenden aus der Marsyas-Gruppe angeht, die Haltung auf dem Felssitz, die Art der Gewandung, die kräftige Statur und die wei- che Fleischlichkeit, so gehört sie stilistisch und thematisch in eine Reihe mit den Urbildern dreier halbnackter Figurentypen aus dem späten Hellenismus: es sind dies die Psyche von Baiae52 (Abb. 9), die Aphrodite im Giardino Boboli53 in Flo- renz und die Göttin mit einem Säugling vom Forum in Cumae54, alle drei Figuren, die in höchstem Maße erotische Weiblichkeit und durch den Säugling auf dem Schoß zugleich auch Mütterlichkeit ausdrücken – was es in dieser Art vorher in der griechischen Kunst nicht gegeben hat.

49) Koch, Weibliche Sitzstauen 60ff. Kat. 57. 50) Koch, Weibliche Sitzstatuen 77ff. Kat. 68. 51) A. Delivorrias, Attische Giebelskulpturen des 5. und 4. Jhs. v. Chr. (1974) 9ff. 99ff. 148 Taf. 1-5. 52) M. Napoli, Rend. Acc. Arch. Napoli, 24-25, 1945-50, 81-94; Le Collezone del Museo Naz. di Napoli I 2 (1989) 108 Nr. 68, Abb. (»rhodisches Original des 2. Jhs. v. Chr.«). 53) EA 283-284; Clarac Taf. 640 Nr. 1452; Dütschke, Antike Bildwerke in Oberitalien II 46 Nr. 89; früher Replik im Palazzo Lante in Rom: F. Matz – F. v. Duhn, Antike Bildwerke in Rom I (1881) 92 Nr. 354; Clarac Taf. 673 Nr. 1555c. 54) P. Zanker, Augustus und die Macht der Bilder (1990) Abb. 245a,b; Le Collezione del Mu- seo Nazionale di Napoli I 2 (1989) 108 Nr. 69 Abb. (»augusteische Kopie nach rho- dischem Original des 2. Jhs. v. Chr.«). 34 Marsyas ______

Das typologische Vorbild für den Marsyas des Sarkophages

Der Sarkophag-Bildhauer hat für seinen Marsyas, anders als bei der weiblichen Figur und dem Apollon, auf einen von der statuarischen Gruppe abweichenden Typ zurückgegriffen. Der statuarische Marsyas55 mit Pinienkranz auf dem Kopf und Pantherfell um die Schultern, wie er z. B. aus Leptis Magna (Abb. 7) überliefert ist, hat das kaum belastete linke Bein, das Spielbein, vorgeschoben, die Hüfte ist rechts hochgedrückt und die linke Schulter hochgezogen. Die Arme mit den angewinkelten Unterarmen sind angespannt, wahrscheinlich hielt er den Aulos vor dem Bauch. Der etwas an- gehobene Kopf ist ein wenig nach rechts geneigt. Der Blick geht quasi über die linke Schulter in die Ferne. Der Marsyas des Sarkophages dagegen hat links das Standbein, das rechte Bein ist ein wenig vorgeschoben. Er steht nur auf den beiden Fußspitzen. Im Rücken lehnt er sich zurück. Die Schulterpartie und der Kopf sind ganz nach seiner linken Seite gedreht. Beide Hände halten den Aulos hoch an den Mund. Er spielt also in diesem Moment, während der statuarische Marsyas sicher ge- rade nicht spielt – so wie auch der Apollon des Sarkophages gerade mit der linken Hand in die Saiten greift (also fälschlicherweise ein Linkshänder), während der statuarische Apollon den rechten Arm mit der Hand, die einen Plektronrest hält, passiv gesenkt hat. Der Zehenstand des Marsyas ist von tanzenden und dazu musizierenden Satyroi bekannt. Tanzende Satyroi sind seit dem späten Hellenismus ein beliebtes Thema dekorativer Skulptur. Im auf der Bühne vorgeführten Satyrspiel vollführten die Sa- tyrn einen schnellen Tanz, den Sikinnis, der zu Aulos-Musik vorgetragen wurde. Innerhalb der Gruppe der tanzenden Satyrn der Klein- und Großplastik, die Claudia Klages untersucht hat, kommt der Typ des »Diaulosspielers Belgrad56« (Abb. 10) dem Marsyas vom Louvre-Sarkophag am nächsten. Der Diaulosspieler Belgrad, eine Bronzestatuette, hat die Beine gespreizt, den rechten Fuß vorgestellt, der nur auf der Zehenspitze steht. Der linke Fuß ist ganz aufgestellt. Er lehnt sich mit Kopf und Oberkörper zurück wie Marsyas und hat die Arme zum Aulos-Spiel angehoben. Die Finger sind zum Spiel gespreizt. Klages datierte den Typ des Diaulosspielers um 170-60 v. Chr. Das labile Standmotiv des Sarkophag-Marsyas muß vom Typ eines solchen tanzenden Satyrs abgeschaut wor- den sein.57

55) LIMC VI (1992) s. v. Marsyas I Nr. 35 (A. Weis). Ch. Dierks-Kiehl, Späthellenistische bewegte Figuren (1973) 50ff. 56) C. Klages, Tanzende Satyrn (1997) Kat. 43 Abb. 47-48. 57) A. Linfert, Hellenistische Marsyas-Gruppen, in: Festschrift J. Inan (1989) 131 Anm. 15, nimmt als Vorbild den Marsyas Borghese (Dierks-Kiehl a. O. 71ff. Abb. 8) an. Dieser ist ______Marsyas 35

Der deutlich aktiven Darstellung auf dem Sarkophag mit den im selben Moment spielenden und dabei sich lebhaft bewegenden Gegnern, (die ja tatsächlich nicht gleichzeitig gespielt haben) steht eine sehr ruhige, geradezu erstarrt abwartende Figurenkonstellation der hellenistischen Gruppe gegenüber. Der Apollon und der Marsyas des Louvre-Sarkophages wirken durch ihre labi- len Standmotive, durch ihr nur gerade oder gar nicht unterbrochenes Spiel, durch die deutlichen Kopfwendungen oder -neigungen und die ausgreifenderen Armbe- wegungen deutlich expressiver und dynamischer als ihre großplastischen Brüder. Dies läßt sich mit dem anderen Medium, der leichteren Ausführung im Relief, nur zum Teil erklären. Offensichtlich lag dem Künstler des 3. Jh. n. Chr. viel an einer lebhaften Dramatisierung, die durch die deutliche physische und psychische Span- nung zwischen den Kontrahenten über den Kopf der Sitzenden hinweg entsteht. Die Figuren der Statuengruppe scheinen den Wettkampf noch vor sich zu haben, so wenig emotional aufgewühlt wirken sie. Dem erhobenen Blick nach haben auch diese beiden sich über die Sitzende hinweg bzw. vor ihr fixiert. Letztere wendet auch als Statue (Replik Leptis Magna) den Kopf nach Apollon.

3. Der Marsyas-Fries im Theater von Hierapolis

Der Fries in der Sockelzone der scaenae frons des Theaters von Hierapolis (Phry- gien) aus severischer Zeit (spätes 2. Jh. n. Chr.) steht in Zusammenhang mit den oben besprochenen drei Sarkophagen.58 Auf dem die gesamte scaenae frons dekorierenden Fries sind in einem Teil my- thische Szenen um , im anderen solche um ihren Bruder Apollon zu sehen. Der Fries läuft über drei halbrunde Nischen, in der nördlichen ist der Marsyas- Mythos dargestellt. Auf der ersten Platte59 steht links Apollon, nackt nur mit Manteltuch um den Hals, Haarknoten auf dem Scheitel, an der linken Seite die Kithara, das rechte Bein

aber von der spiraligen, gedrehten Körperhaltung mit den überkreuz stehenden Füßen, die eine andere, frühere, stilistische Stufe vertritt, nicht vergleichbar. Linfert a. O. spekulierte über weitere Marsyas-Gruppen, also eine Serie mehrerer Gruppen oder aber zumindest eine zusätzliche weibliche Sitzfigur. Ich glaube nicht, daß der Typ der Sitzfigur vom Pala- tin (A. Bartoli, BdA 38, 1953, 1-8; H. v. Prittwitz und Gaffron, Der Wandel der Aphrodite (1988) 90ff. bes. 98 Abb. 36-38) ursprünglich zur Marsyas-Gruppe gehört hat, da es dafür keine ausreichenden Anhaltspunkte gibt. (Dieser ähnlich ist allerdings die Sitzende auf dem Sarkophag im Konservatorenpalast.) Auch gibt es bisher keine Befunde, die die Annahme der Existenz einer ursprünglichen großplastischen Serie von Gruppen stützen könnten. 58) F. D'Andria – F. Ritti, Le sculture del teatro. Le rilievi con i cicli di Apollo e Artemide. Hierapolis II (1985). 59) D'Andria – Ritti a. O. 49 Taf. 16,1. 36 Marsyas ______als Spielbein vorgestellt. Der Apollontyp entspricht demjenigen des Apollon auf dem Louvre-Sarkophag, abgesehen von Kopfhaltung und Frisur. Der Apollon Hie- rapolis blickt nach vorne. Neben ihm wendet sich die auf einem Felsen sitzende Athena, in jeder Hand einen Aulos haltend, zurück zu Marsyas, der hinter einem Felsen mit Flußgott hervorragt. Die anschließende Platte (Abb. 11) zeigt nun Marsyas die Auloi haltend, frontal stehend mit einem auffällig alten, runzligen Gesicht. Neben ihm folgt die weibliche Sitzfigur, die das Verbindungsglied zu den oben genannten drei Sarkophagen bil- det. Wir sehen die Göttin hier nach rechts sitzend. Sie wendet sich nach Marsyas um, so daß der Betrachter in ihr Gesicht sieht. Die Sitzhaltung ist die bekannte: Die linke Hand ist zum Kopf geführt, das linke Bein hochgestellt. Abweichend ruht der rechte Unterarm auf dem linken Oberschenkel. Das Haar ist wieder lang und lockig. Hinzugefügt wurde eine Tänie um den Kopf und ein Band, das unter den Achseln um den Oberkörper gebunden ist. Die Drapierung wurde durch einen Wulst im Schoß und eine Schlaufe über der linken Schulter bereichert. Bei den beiden Platten fällt besonders auf, daß der eigentliche Wettkampf gar nicht dargestellt ist. Apollon ist schon bei der Übergabe der Flöte von Athena an Marsyas in der ersten Szene dabei, und fehlt in der zweiten, wo Marsyas seltsam allein gelassen dasteht. Die Chance einer inhaltlichen und auch optischen Zuspit- zung des Geschehens durch das Gegenüberstellen der Kontrahenten wird also nicht genutzt. Statt dessen wirkt die Szene wie erstarrt. Bemerkenswert ist, daß Apollon auf der ersten sowie Marsyas und die Sitzende auf der zweiten Platte den Betrach- ter fixieren.

Auf der folgenden dritten Platte (Abb. 12) kniet der Knabe Olympos, der Schüler des Marsyas, flehend vor dem stehenden Apollon, rechts folgt Nike, die Apollon bekränzt, dann ein Bärtiger, der den vor ihm gehenden gefesselten Marsyas ab- führt. Marsyas’ Hände sind auf den Rücken gebunden, er ist fast in Rückenansicht zu sehen. Die letzte Platte (Abb. 13) zeigt den aufgehängten Marsyas am Baum und das Messerwetzen des Skythen.60 Auf allen Platten befinden sich im Hintergrund girlandenartig durchhängende Vorhänge. Sie und der Blickkontakt von Marsyas und der Sitzenden zum Betrach- ter führen beim Betrachter leicht zu der Assoziation, das Geschehen spiele sich auf der Bühne ab.

Der Fries des Theaters von Hierapolis vom Ende des 2. Jhs. n. Chr. greift, wie der Sarkophag im Louvre vom Ende des 3. Jhs. n. Chr., in zwei Elementen, dem Hal- tungstyp des Apollon und dem der sitzenden Göttin, auf das hellenistische Vorbild der großplastischen Marsyas-Wettkampf-Gruppe zurück.

60) D’Andria – Ritti a. O. Taf. 17 und 18. ______Marsyas 37

Darüber hinaus teilt er mit dem Sarkophag im Konservatorenpalast zwei Ele- mente, die sonst nirgendwo erscheinen und folglich eine Abhängigkeit der Stücke von einem gemeinsamen Vorbild (bzw. einem Zwischenglied) wahrscheinlich macht: Das erste ist die Szene, in der Marsyas mit gebundenen Händen abgeführt wird. Als zweites erinnert uns der horizontal aufgespannte Vorhang in der Abfüh- rungsszene hinter Marsyas’ und Athenas Kopf auf dem Sarkophag natürlich an die Vorhänge der Hierapolis-Platten.61 Sie sind vermutlich ein schmückendes Detail, das Bühnendekorationen abgeschaut wurde.

4. Die narrative Rezeption in Friesform

Die durch die großplastischen Statuengruppe bekannten Figuren Marsyas, Lau- schende und Apollon sind auf dem Louvre-Sarkophag in einen Fries eingebettet. An seinem Anfangs- und Endpunkt werden Vorgeschichte und Folge nur knapp an- gedeutet, aber dadurch entsteht eine bildliche Erzählung innerhalb einer zeitlichen Folge. Trotzdem verkürzt und verdichtet ein Bild ein mythisches Geschehen immer auf einen wesentlichen Moment. Auf dem stadtrömischen Sarkophag ist nicht der eindeutige Sieg Apollons dargestellt oder etwa der Streit um die gerechte Urteils- findung, auch nicht das Hautabziehen selbst oder der verblutende Marsyas. Die Ausgestaltung des dem antiken Betrachter wohlbekannten dramatischen Ergebnisses der Handlung bleibt seiner Phantasie überlassen, denn es geht nicht in erster Linie darum, Triumph oder Grauen zu zeigen. Die beiden gewählten Szenen sind die viel spannenderen Vorbereitungsphasen,62 der Moment vor der Entschei- dung des Wettkampfes und vor der Schindung. Daß Apollon als Sieger aus dem Wettkampf hervorgehen wird, wird durch die Nike mit dem Siegeskranz allerdings angedeutet. Die ›Leerstellen‹ des Nichtdargestellten regen den Betrachter dazu an, es als Handlung in seiner Phantasie selbst zu konstruieren. Die Bildfolge von links nach rechts zwingt den Betrachter auch zu einem chronologisch geordneten, ge- danklichen Fluß für das Nicht-Dargestellte. Die unterschiedliche Ausbreitung der beiden Szenen – die Schindungsszene ist schmal an den Rand gedrängt – spiegelt die ihnen vom Künstler beigemessene Bedeutung: Als das Wichtigste und Charakteristischste des Mythos ist der musika-

61) Vorhänge im Hintergrund erscheinen auch mehrfach bei Musen-Sarkophagen und zwar über die ganze Frontseite: M. Wegner, Die Musensarkophage. ASR V3 (1966) z. B. Nr. 207 Taf. 7a; Nr. 74 Taf. 7b; Nr. 228 Taf. 8a; Nr. 179 Taf. 8b. Solche Vorhänge gibt es auch am Fries des Forum Transitorium bei der Szene des Mythos von Minervas Bestra- fung der Arachne. 62) So auch bei den anderen erhaltenen Marsyas-Sarkophagen. 38 Marsyas ______lische Wettstreit angesehen worden.63 Nicht anders scheint die Gewichtung in den, wenn auch nur fragmentarisch erhaltenen, philologischen Quellen gewesen zu sein. Die Schindung wird, außer bei Ovid meta. 6,382ff. nur knapp erwähnt, gleicher- maßen ist sie auf Sarkophagen stets am Rand zusammengedrückt.

Die beschriebenen Beobachtungen gelten ähnlich auch für den Sarkophag im Kon- servatorenpalast und den Fries von Hierapolis, wenn auch der musikalische Wett- kampf als Gegenüberstellung von Marsyas und Apollon fehlt und gerade der Mittelteil dadurch seltsam aktionslos ist. Der Bildkontakt des frontal stehenden Marsyas auf dem Fries von Hierapolis mit dem Betrachter bewirkt eine unsichtbare statische Linie im Zentrum.

5. Ikonographie und Benennungsvorschläge für die Sitzende

Ikonographische Zweifelsfragen

Nymphe (Max Wegner) Max Wegner64, der den Sarkophag im Louvre als erster ausführlich bearbeitete, äußerte sich über die ikonographischen Ungereimtheiten der dargestellten sitzen- den Göttin, die ihm eine eindeutig passende Deutung auf mythologischer und/oder auf allegorischer Ebene unmöglich machten: Die sitzende Figur trage keinen Federschmuck wie sonst die Musen auf römi- schen Sarkophagen, halte aber ein Diptychon. Ihre Komposition entspräche einem Berggott, Haltung und Kleidung aber einer Nymphe. Der Benennung als Richterin und Muse65 stünden alle anderen Musentypen auf Musen- und Marsyas-Sarkopha- gen entgegen. Daher schlug er die Benennung Nymphe vor. »Vielleicht gehört dies zu den Widersprüchen, die man manchmal bei Sarkophagen unaufgelöst hinneh- men muß…«, bemerkte er.66

63) Auffällig ist, daß sich Marsyas und Apollon auf klassischen Vasen häufig nicht direkt ge- genüberstehen wie später auf Sarkophagen; Marsyas sitzt sogar am Rand der Szene. Durch das unmittelbare Gegenüberstehen der Antagonisten des Sarkophages bzw. der Gruppe (wie Flashar überzeugend meinte, war die Sitzende bei der plastischen Gruppe zurückge- rückt) wird die Konfrontation deutlicher. 64) Wegner a. O. 115. 65) Vorgeschlagen von Lippold, Plastik 298 Anm. 4. 66) Wegner a. O. ______Marsyas 39

Für die Benennung der Göttin als Nymphe67 spricht die Halbnacktheit und die lässige Sitzhaltung. Wegen der Sitzgelegenheit, des Felsens, käme eine Bergnym- phe in Betracht, eine Ortspersonifikation. Mit den zwei anderen sitzenden bzw. lagernden Figuren, dem Berggott und dem Flußgott ergäbe sich dann ein Kreis von Ortspersonifikationen aus der Nähe von Kelainai. Das Diptychon paßt aber nicht zur Charakterisierung in die Hand einer Nymphe und halbnackt können ab dem Hellenismus auch Aphrodite oder die Musen sein.68 Auch die literarischen Quellen bieten keine eindeutige Aussage zur Frage der Benennung. In Ovids Metamorphosen 6, 393 sind bei der Schindung des Marsyas Nymphen anwesend. Sie werden aber nur als unbestimmte Mitglieder einer Gruppe ange- sprochen. Keine ragt irgendwie als Persönlichkeit heraus. Nymphen befinden sich häufig in ikonographischer Gemeinschaft mit Satyroi. Da Marsyas ein Satyr ist, ist ein Zusammenhang mit einer Nymphenfigur möglich. Da Nymphen aber niedere Natur-Gottheiten, speziell Ortsgottheiten sind und eine einzelne Nymphe im Mar- syas-Mythos nach der Überlieferung keine wichtige Rolle spielt sowie sich in der klassischen Vasenmalerei zum Marsyas-Mythos keine einzige weibliche Figur mit Sicherheit als Nymphe benennen läßt, paßt es eher schlecht, sie als bedeutendste Figur zwischen Marsyas und Apollon im Zentrum des Geschehens anzunehmen.

Muse (Carl Robert) Carl Robert69 benannte die Sitzende als Muse und schließt sich damit der Sicht- weise Hadaczeks70 an, der darauf hinwies, daß es im Hellenismus vereinzelt doch Musendarstellungen gibt, bei denen die Göttin nur halbnackt bekleidet ist. Auch in der folgenden Forschungsgeschichte bleibt die Benennung der Figur als Muse oder Nymphe umstritten.71 Bei Hyginus, Fabulae 165 und Apuleius sind die Musen Schiedsrichter bei dem Wettkampf zwischen Marsyas und Apollon. Der Platz der Sitzenden zwischen Marsyas und Apollon, ihre lauschende Haltung, macht die Bezeichnung als Schieds-

67) Tatsächlich gibt es meist kein ikonographisches Unterscheidungsmerkmal zwischen Aphrodite und Nymphe. Die Benennungen sind meist willkürlich gewählt; nur wenn ein Wassergefäß Attribut ist, kann man sicher von einer Nymphe sprechen. Prittwitz a. O. 117ff. 68) Die Nacktheit schließt aus, daß es sich um eine Sterbliche handelt. Von den Sterblichen wurden nur Hetären nackt dargestellt. Nacktheit kommt bei Musen ab dem Hellenismus in Ausnahmefällen vor. Dies sind immer Einzelfiguren und die Haltungstypen sind stets ur- sprüngliche Aphrodite-Typen. 69) Robert a. O. 247f. Nr. 198. 70) C. Hadaczek, RM 17, 1902, 176f. 71) siehe C. Schneider, Die Musengruppe von Milet (1999) 197 Anm. 954. 40 Marsyas ______richterin einleuchtend. Ob aber wirklich eine Muse gemeint war, ist noch weiter zu untersuchen. Die genannte Überlieferung muß für die endgültige Benennung der Sitzenden nicht relevant sein, da in der antiken Literatur, selbst bei Hyginus, auch andere Schiedsrichter genannt werden.72 Das Thema des Wettkampfes zwischen Apollon und Marsyas wird im letzten Viertel des 5. Jhs. und im 4. Jh. v. Chr. häufig in der Vasenmalerei verwendet. Die dort erscheinenden weiblichen Beifiguren sind aufgrund fehlender Instrumente nicht immer als Musen identifizierbar, werden aber in der Literatur meist so be- zeichnet. Die Zuhörerinnen, die stets nur passive Zeuginnen sind, sind zu dieser Zeit immer bekleidet.73

Muse Erato oder Aphrodite? Die halbnackte Lauschende hat in der antiken Kunstgeschichte verschiedene, ihr im allgemeinen Aussehen außerordentlich ähnliche Schwestern, die aber eindeutig durch die Anwesenheit des als Aphroditen zu identifizieren sind: Der schon genannte Typ Boboli-Lante74, die Aphrodite in Dresden mit Psyche und Eros75 oder die Aphrodite vom Typ .76 Mit Blick auf diese Statuen könnte man also Aphrodite für die Benennung der Lauschenden mit in Betracht zu ziehen. Außerdem stehen sich Aphrodite und die Musen wesensmäßig sehr nahe, was schon bei Hesiod77 bezeugt ist. Musik und Tanz der Musen gehören zu der weibli- chen, der aphrodisischen Sphäre78. Mindestens seit dem 4. Jh. v. Chr. (Platon, Phaidros 259c/d) wird die Muse Erato, die das Wort Liebe im Namen hat, mit der Liebesdichtung in Verbindung gebracht.79 Seit dem 3. Jh. v. Chr. ist ikonogra- phisch, und damit sicher auch wesensmäßig, eine zunehmende Annäherung zwi- schen Erato und Aphrodite festzustellen.80

72) Hyginus Fabulae 191 nennt außerdem Midas oder Tmolos, bei Diodor sind es die Bürger von Nysa. In der attischen Vasenmalerei (Kadmos-Maler) erscheint mehrfach Athena als dritte Figur. Bei Apuleius sind die Musen und Athena die Schiedsrichter. 73) LIMC VI (1992) s. v. Mousa/Mousai (A. Queyrel) Nr. 101ff. Dies könnte ein Zeitmerkmal sein, ab dem Späthellenismus ist sehr wohl auch mit halbnackten Musen zu rechnen, allerdings nur bei Einzelfiguren. 74) V. Machaira, Les groupes statuaires d'Aphrodite et d'Éros (1993) 69 Nr. 41 Taf. 40. 41 (Replik Boboli) ebd. 67 Nr. 38 Taf. 39 (Replik Lante). 75) W. G. Becker, Augusteum. Dresdens antike Denkmäler (1837) Taf. 62. 76) H.-H. v. Prittwitz und Gaffron, Der Wandel der Aphrodite (1988) 33ff. 77) Hesiod, Theogonie 64. 78) LIMC VI (1992) s. v. Mousa/Mousai 677f. (A. Queyrel). 79) Platon, Phaidros 259 c/d; im 3. Jh. v. Chr.: Apollonios Rhodios, Argonautika 3,1ff. 80) Von Prittwitz und Gaffron a. O. 125ff. ______Marsyas 41

Es gibt verschiedentlich Darstellungen einer einzelnen halbnackten Göttin, die aufgrund ihres Attributs, meist eines Saiteninstruments, als Muse benannt wird, aber immer einen Haltungstyp der Aphrodite einnimmt.81 Muse und Aphrodite sind nicht (mehr) klar zu unterscheiden, verschmelzen also. Tritt Erato, die Muse der Liebesdichtung, mit anderen Musen zusammen auf – etwa auf einem kaiserzeitlichen Sarkophag – ist sie jedoch nie halbnackt. Damit würde sie sich wohl zu sehr von ihren Schwestern unterscheiden. Sie wird im Un- terschied zu den anderen Musen mit entblößter Schulter dargestellt,82 ein sexueller Reiz, den sonst nur Aphrodite offenbart.83 Es bleiben Zweifel, ob wir es bei der halbnackten lauschenden Göttin mit einer Muse oder einer Aphrodite zu tun haben – ob es sich um eine rein formale Vermi- schung ikonographischer Attribute handelt, aufgrund mangelnder bildsprachlicher Kenntnisse des kaiserzeitlichen Bildhauers, oder um eine bewußte, die herkömm- liche Ikonographie und Bedeutung schlüssig verbindende neue Konstruktion. Ist letzteres der Fall, so ist es doch wohl so, daß hier eine synkretistische Ver- schmelzung stattgefunden hat: Entweder handelt es sich um Aphrodite, der das Diptychon einen Bezug zu einer bestimmten Eigenschaft der Musen gibt oder um eine Muse, der die Nacktheit einen konkreten aphrodisischen Charakterzug ver- leiht. Der Kunsthistoriker Erwin Panofsky beschrieb einen im Prinzip ähnlichen Fall anhand eines Gemäldes des Venezianers Francesco Maffei aus dem 17. Jh. Es zeigt eine junge Frau mit einem Schwert in der Linken und einer Schüssel in der Rech- ten, auf der der Kopf eines Enthaupteten liegt. Für die Benennung als Judith würde das Schwert sprechen, denn sie enthauptet Holofernes eigenhändig. Dagegen spricht aber die Schale, da es ausdrücklich heißt, daß das Haupt des Holofernes in einen Sack gesteckt wurde. Bei der Benennung als Salome würde die Schüssel passen, nicht aber das Schwert, denn Salome enthauptet Johannes nicht selbst, sondern gibt nur den Befehl. Die literarischen Quellen können in diesem Dilemma nicht weiter- helfen. Panofsky legt nun dar, wie man mittels typengeschichtlicher Untersuchung feststellen kann

81) z. B. Terrakotte einer Halbnackten mit hochgestelltem Fuß und Kithara aus Ägina im Lou- vre Inv. CA 799 oder im gleichen Typ Darstellung auf einer Gemme (mit Maske und Schriftrollenbehälter) in Freiburg, Mus. für Ur- und Frühgeschichte. Vgl. von Prittwitz und Gaffron a. O. 126ff. 82) siehe Koch, Weibliche Sitzstatuen 161ff. Auch bei den Sarkophagen, wo eine einzelne Frau, vermutlich die Verstorbene, einem als Philosoph charakterisierten Mann gegenüber sitzt, wäre völlige Nacktheit unangemessen: Kithara und entblößte Schulter sind ausrei- chend sie Erato anzugleichen. 83) Daß die entblößte Schulter ein typisches Merkmal ist, läßt sich auch literarisch belegen: Apoll. Rhod. Agonautika 1, 742-746; vgl. Ovid, ars. III 307f. 42 Marsyas ______

»wie unter wechselnden historischen Bedingungen bestimmte Themen oder Vorstellungen durch Gegenstände und Ereignisse ausgedrückt wurden«. »Und siehe da, während wir keine einzige Salome mit einem Schwert anführen können, begegnen wir in Deutschland und Norditalien mehreren Gemälden aus dem 17. Jh., die Judith mit einer Schüssel dar- stellen; es gab einen ›Typus‹ ›Judith mit Schüssel‹, aber es gab keinen ›Typus‹ ›Salome mit Schwert‹.«84

Betrachten wir zuerst genauer die äußeren Kennzeichen der Lauschenden, die die Grundlage für eine Benennung sein müssen.

Die besonderen Merkmale der Sitzenden

Nacktheit: Der Ende des 5. Jhs. bzw. in der Großplastik im 4. Jh. auftretende weibliche Akt ist – nach Himmelmann85 – nicht etwa eine Säkularisierung im Sinne von Entwei- hung, sondern eine Idealisierung, die den religiösen Charakter noch unterstreiche. Es handele sich nicht um eine abstrakte, sondern um eine konkrete physiognomisch begründete Aussage, die sich z. B. auf Musen oder Athena nicht ausdehnen lasse. – Wie diese physiognomische Aussage nun konkret zu benennen ist oder welche Be- deutung sie hat, spricht er nicht aus. Nacktheit kann jedenfalls nicht eine allge- meine Idealisierung meinen, dann müßten alle Göttinnen und Götter nackt sein. Die Nacktheit bei weiblichen Figuren ist zwar auch eine ideale, meint aber etwas anderes als die Nacktheit männlicher Figuren. Auch was die Musen betrifft, so kann Himmelmann nicht recht haben, da wie gesagt einige späthellenistische und kaiserzeitliche halbnackte Musen erhalten sind (die Aphrodite-Typen benutzen) – oder aber diese Figuren wären keine Musen. Um die Aussage von Nacktheit zu untersuchen, wenden wir uns dem ersten berühmten Akt der griechischen Kunstgeschichte zu, der Aphrodite von Knidos, geschaffen in der zweiten Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. von Praxiteles. Von der Statue, ihrer Entstehungs- und Wirkungsgeschichte wird sowohl bei Athenaios (13.590) als auch bei Plinius (N. H. 36.20-21) berichtet. Während Athenaios auf die Entste- hung eingeht, befaßt sich Plinius mit der Wirkung der Statue, so daß sich beide Be- richte glücklich ergänzen. Ob sie tatsächlich den damaligen Umständen entsprochen

84) E. Panofsky, in: E. Kaemmerling (Hrsg.), Ikonographie und Ikonologie. Theorien – Ent- wicklung – Probleme. Bildende Kunst als Zeichensystem Bd. 1 (1979) 218f. (deutsche Erstveröffentlichung: E. Panofsky, Sinn und Deutung in der bildenden Kunst (1975). 85) N. Himmelmann, Herrscher und Athlet. Die Bronzen vom Quirinal, Kat. Akadem. Kunst- museum Bonn (1989) 46. ______Marsyas 43 haben, spielt hier keine Rolle. Beide Texte sind auf ihre Weise literarische Interpre- tationen der Kaiserzeit. Wichtig ist, welche Tendenz diese Interpretationen haben. Beide Anekdoten überliefern in kurzer Form jene entscheidenden Punkte, die die Auffassung vom weiblichen Akt an sich und als Kunstwerk im 1. und 2. Jh. n. Chr. deutlich machen.

Athenaios 13,590: »Bei der Festversammlung zu den Eleusinien und zu dem Fest des legte sie ihr Gewand vor der gesamten panhellenischen Versammlung ab, löste die Haare und schritt ins Meer. Nach ihr hat Apelles das Gemälde der ›Auftauchenden Aphrodite‹ geschaffen. Auch der Bildhauer Praxiteles hatte sie zur Geliebten und formte nach ihr die ›Knidische Aphrodite‹…«

Plinius N. H. 36,20-21: »… aber an erster Stelle aller Werke, nicht nur derer des Praxiteles, sondern auf dem ganzen Erdkreis, steht seine Aphrodite, zu der viele nach Knidos fuhren, um sie zu sehen. Er hatte zwei (Statuen dieser Göttin) geschaffen, die eine davon in verhüllter Gestalt – und verkaufte sie gleichzeitig. Die Koer, welche bei gleichem Preis die Wahl hatten, zo- gen diese vor, weil sie glaubten, daß sie der Sittenstrenge und Keuschheit (besser ent- spräche). Die Knidier aber kauften die zurückgewiesene Statue, und diese ragte durch ihre (spätere) Berühmtheit in hohem Maße hervor.« … »Ihr kleiner Tempel ist ringsum ganz offen, so daß das Bild der Göttin von allen Seiten betrachtet werden kann, das wie man glaubt, mit ihrem Segen verfertigt wurde. Von welcher Seite auch immer man sie sieht: sie verdient gleiche Bewunderung. Man berichtet, daß einer, der von Liebe ergrif- fen war, sich nachts verborgen hielt, das Standbild umarmte und als Beweis seiner Be- gierde einen Flecken hinterließ.«86

Phryne setzte sich mit der badenden oder aus dem Meer erscheinenden Aphrodite gleich, indem sie das Haar löste und den Mantel fallen ließ. Die Schöpfung der Statue der Aphrodite von Knidos ist das Ergebnis der augenblicklichen Verliebtheit des Praxiteles, nachdem er Phryne nackt und mit aufgelöstem Haar gesehen hat. Die Statue wiederum ist so lebensecht und erotisch ausgefallen, daß sie bei einem anderen jungen Mann stärkstes Verlangen auslöst. Die durch Aphrodite und ihre Nacktheit hervorgerufene Verliebtheit und das Kunstwerk bzw. künstlerisches Schaffen stehen also in direktem Zusammenhang, ja ergeben ein Wechselspiel. Die Verliebtheit führt zur Schöpfung eines Kunstwerkes, das wiederum Verliebtheit auslöst.

86) Athenaios, Das Gelehrtenmahl (Übersetzung Cl. Friedrich) (2001); Plinius Secundus, Na- turkunde (Übersetzung R. König) (1992). 44 Marsyas ______

Die Aphrodite von Knidos war schon von ihrer Entstehungsgeschichte her ein erotisches Kunstwerk und wurde auch von den Zeitgenossen als solches verstan- den. Daß bezüglich der Berühmtheit der Statue die Lust des Schauens zumindest für die männlichen Betrachter87 im Vordergrund stand, weniger die religiöse Verehrung, beweist die besondere Aufstellung der Statue. Der Umstand, daß der ihr erbaute Rundtempel den ungehinderten Blick auf alle Seiten der Figur zuließ, wird besonders betont. Der Ruhm der Figur erscheint in Plinius' Darstellung als eine Folge der Nacktheit und der freien Aufstellung. Daß die Betrachter im Ange- sicht der Statue über Lust und Schicklichkeit nachdachten, sehen wir an der Be- gründung, mit der sich die Koer für das bekleidete Gegenstück entschieden. Sie hielten die bekleidete Figur für »schicklicher«. Die Koer sind weniger mutig als die Knidier und bleiben gegenüber der Verführung standhaft. Wir wundern uns nicht weiter, daß die nackte Figur Ruhm erwarb, nicht die bekleidete. Nacktheit bedeutete ohne Zweifel Erotik.88 An diesem einen Beispiel ist abzulesen, daß der antike Mensch der Kaiserzeit mit weiblicher Nacktheit, sei es nun die einer Sterblichen (Phryne) oder die einer Göttin, die Eigenschaften Schönheit, Sinnlichkeit, Sexualität und Fruchtbarkeit verband.89 Dabei war weniger an eine religiöse Idealisierung im Sinne von Ehr- furcht gedacht, als an schlichte Bewunderung körperlicher Vollkommenheit. So ist es auch logisch, daß bestimmte Göttinnen, deren hervorstechende Eigenschaften mütterlicher oder kriegerischer Art waren, nicht nackt abgebildet wurden. Bestätigt wird die Abhängigkeit der Begriffe weibliche Nacktheit, Bewunde- rung, Begehrlichkeit und Imitation von Schönheit in der Kunst auch durch die Überlieferung bei Plinius N. H. 35, 86f., nach der Alexander anordnete, daß seine geliebte Nebenfrau Pankaspe »wegen ihrer bewunderungswürdigen Gestalt von Apelles nackt gemalt werde«. Apelles verliebt sich augenblicklich in sein Modell (und bekommt sie von Alexander geschenkt). Plinius sagt dazu: »Einige meinen, daß dieser seine Aphrodite Anadyomene nach ihrer Gestalt gemalt habe.«

87) Zur Interpretation der Knidia mittels gender studies siehe N. Boymel Kampen, in: Klassi- sche Archäologie. Eine Einführung, Hrsg. A. Borbein – T. Hölscher – P. Zanker (2000) 194ff., mit der neuesten Literatur. 88) Den ganzen Teil der Geschichte, der die Koer betrifft, halte ich für eine zusätzliche Erfin- dung, die nur dazu diente, die Anekdote zu pointieren. Ganz bewußt wird hier der Gegen- satz zwischen Kos und Knidos aufgebaut. Kos ist gewählt worden, weil der Ort, nur durch eine Meerenge getrennt, Knidos gegenüberliegt und sich daher schon geographisch für eine solche Konstruktion anbietet. Sicher gab es tatsächlich eine gewisse Rivalität zwi- schen den beiden Städten. Die gleiche, aber bekleidete Statue kann es nicht gegeben ha- ben, denn in der Haltung der schamhaft Zurückschreckenden würde eine bekleidete Figur sinnlos werden. 89) Von Prittwitz und Gaffron a. O. 127ff. ______Marsyas 45

Das Attribut Diptychon: Das Diptychon kann als Werkzeug sowohl einer Muse als auch einer Moira dienen. Die Muse benutzt es, um ihre Dichtungen zu fixieren, die Moira aber, um den von ihr bestimmten Lebenslauf einer Person festzuhalten.90 Da Schrift in ihrer Früh- phase der Buchhaltung diente, verband man mit der Schreibtafel nicht nur den Begriff der Bildung und Gelehrsamkeit, sondern auch den der Ordnung und Ab- rechnung. Das herabfallende Haar: Das lang herabfallende Haar ist das ungewöhnlichste der Merkmale. Es wird sowohl von der Figur auf dem Louvre- als auch auf dem Konya-Sarkophag und durch die großplastische Replik in Leptis Magna überlie- fert.91 Allein die Sitzende auf dem Sarkophag im Konservatorenpalast und die lebens- große Replik in New York haben die Haare hochgesteckt. Wahrscheinlich ist, daß auch das Original herabfallende Haare hatte und nur die New Yorker Replik eine Variante ist, denn sie weicht auch in anderen Details ab: Sie trägt Sandalen; dar- über hinaus kommt links am Felsen der Mantelzipfel nicht vom Arm her. Der Mantel bildet im Gegensatz zu den anderen Repliken am rechten Oberschenkel einen Knoten auf dem Felsen. Durch diese Abweichungen ist die Figur deutlich kultivierter geschildert. Welche Bedeutung hat das herabhängende lange Haar? Offenes Haar findet man bei Trauernden; gemeint ist das wilde Trauern, das ein starkes Auflehnen gegen den Tod ausdrückt. Diodor beschreibt dasselbige bei der um Attis trauernden Kybele.92 Herabfallendes Haar ist möglicherweise auch zur Charakterisierung von Moiren oder allgemein chthonischen Göttinnen benutzt worden.93 Auch Mänaden werden in der bildenden Kunst durch wirr herabhängen- des Haar charakterisiert. Dazu gehört dann gewöhnlich eine wilde, tanzende Be- wegung mit nach hinten geworfenem Kopf, die unsere Sitzende nicht aufweist.94 Schließlich ist der aus dem Meer geborenen und ihm entsteigenden Aphro- dite aufgelöstes Haar eigen. Es steht also in Zusammenhang mit erotischer Aus- strahlung. Ganz allgemein sind aufgelöste Haare seit altersher und auch in ande- ren Kulturen ein Symbol für inneres Aufbegehren und den Drang nach sexueller

90) z. B. LIMC VI (1992) s. v. Moira (St. de Angeli) Nr. 17.45. 91) Aus den Hadrianischen Thermen stammt ein unbekleideter, Kithara spielender Apollon, der aber eine ganz andere Haltung einnimmt wie der Apollon des Louvre-Sarkophags und wohl nicht zu der Sitzfigur gehört hat. 92) siehe Diodor. 93) siehe die Moiren auf dem Nord-Fries des Pergamonaltares. 94) LIMC VIII (1997) s. v. Mainades (I. Krauskopf – E. Simon – B. Simon): Ganz bekleidet oder Bekleidung in Auflösung, manchmal mit Fell. Das Haareschütteln der Mänaden wird auch bei Euripides, Bacchae 238, erwähnt. 46 Marsyas ______

Freiheit95 – dieselben Motive, die sowohl die Mänaden als auch Aphrodite und die Kybele Diodors bewegen.

Haltung und Position zwischen Marsyas und Apollon: Die weibliche Sitzende bestimmt durch ihre Körpersprache recht genau die Situa- tion, in der sie sich befindet. Das erhöhte96 und aufrechte Sitzen, auch auf Felsen ist in der antiken Iko- nographie immer ein Zeichen von Würde. Dabei ist der Fels nur ein Hinweis auf den Handlungsraum, hier die freie Natur. Sitzen ist naturgemäß stets mit einer ge- wissen Passivität verbunden. Dazu paßt die zum Gesicht geführte Hand mit aufge- stütztem Ellenbogen als ein Zeichen von Nachdenklichkeit. Die Kopfwendung, durch die ein Ohr exponiert wird, bedeutet klar die Anspannung des Lauschens. Die Position zwischen zwei anderen Figuren ist nicht nur eine räumliche, son- dern auch situativ zu verstehen. Sie trennt die Konkurrenten. Die Sitzende ist einer- seits unbeteiligt, andererseits zur Entscheidung aufgerufen. Da sie ihr Gesicht Apol- lon zuwendet, hat sie sich wohl für ihn entschieden. Aus der oben dargelegten Charakterisierung durch äußere Merkmale läßt sich eine erotische und emanzipierte Göttin erschließen, die, zur Entscheidung zwischen den zwei Männern aufgerufen, lauscht und ihr Urteil wohl auf dem Diptychon schon verzeichnet hat oder verzeichnen wird.

6. Die Identifizierung einer literarischen Version in der bildenden Kunst

Aus der Betrachtung der hellenistischen Gruppe und der kaiserzeitlichen Sarko- phage im Louvre und im Konservatorenpalast ergeben sich verschiedene Fragen zur Darstellung des Mythos. Warum wurde in den Kontext der Geschichte eine halbnackte, offenbar sexuell attraktive Göttin als weibliches Element eingeführt? Und warum wurde Apollon erstmalig nackt dargestellt? Fast scheint es so, daß alle drei Figuren durch ihre Nacktheit einander angepaßt wurden. Die Nacktheit eines Satyrn ist eigentlich eine Vermenschlichung, eine Ver- feinerung, denn noch auf Vasen des 4. Jhs. v. Chr. wurde dieses Waldwesen ja mit

95) Peter von Matt, Verkommene Söhne, Mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur (1995) 48. 96) Im Gegensatz zu Figuren, die mit Füßen und Gesäß auf einer Ebene sitzen; dies Auf-dem- Boden-Sitzen ist Trauernden und Besiegten eigen. ______Marsyas 47 zotteligem Fell bedeckt dargestellt. Bei Apollon und der Sitzenden ist Nacktheit der Hinweis auf eine erotische Komponente des Mythos. Die Nacktheit der beiden Musikanten Marsyas und Apollon, nur eingeschränkt durch die Chlamys um den Hals, kennen wir auch von anderen, auch auf Sarkophagen häufigen Heroen, wie Perseus, Meleager, Bellerophon und Hippolytos. Sie alle sind der Inbegriff des mutigen, aber auch erotisch attraktiven Jägers oder Kämpfers.97 Die Sitzende, die offensichtlich in der Klassik noch zu keiner Marsyas-Dar- stellung dazugehörte, wurde zweifelsohne in die Mythendarstellung aufgenommen, weil die Geschichte eine Wandlung erfuhr und diese neue Figur eine wichtige Rolle im Geschehen spielt. Wenn ein schöner Apollon einem Satyrn vor einer attraktiven weiblichen Figur gegenübersteht, so ist zu vermuten, daß sich zwei Konkurrenten durch ihre Taten um die Eroberung einer begehrten Frau bemühen. Warum geht der im 1. Jh. v. Chr. geschaffenen großplastischen Marsyas-Gruppe jede Dramatik ab? Keiner der Kontrahenten spielt auf seinem Instrument; die Figu- ren wirken seltsam erstarrt, ohne die psychische Erregung, die der Situation ange- messen wäre. Ein transitorisches Element, das das Umschlagen der Handlung, die kommenden Geschehnisse andeuten würde, fehlt. Die Bewegung im Raum spielt keine Rolle. Die Statuen sind kaum durch ihre Bewegungen oder Ansichten kom- positorisch miteinander verknüpft. Flashar fand die Statuengruppe so ohne innere Dramatik und Pathos, daß sie für ein Siegesmonument, also eine politische Funktion, nicht zu verwenden gewesen sei. Er schrieb: »Die … Marsyas-Gruppe entspricht in ihrer Erzählstruktur dem auf Pathos, Übertreibung und Spannungshöhepunkte verzichtenden Märchen.«98 Linfert stellte sich die Marsyas-Gruppe, die er als eine zweckfreie, höhepunkt- lose Bildbeschreibung beschrieb, in einem dekorativen Kontext, nämlich in einem Landschaftsgarten des 2. Jhs. v. Chr. vor.99 Der passive, illustrierende Charakter erkläre sich mit der Funktion, dem Betrachter Erbauung und Versenkung in ange- nehmer Atmosphäre zu bieten. Man stellt sich dabei einen Betrachter vor, der sich an den schönen Formen und am Motiv des Kunstwerkes erfreut. Diese Betrachtung suchte nach keinem Hinter-

97) Muth, Leben 123. 200. 98) Flashar, Apollon 172; Ch. Kunze, Zum Greifen nah. Stilphänomene in der hellenistischen Skulptur (2002) 239f., beschreibt die Neuerungen späthellenisticher Gruppen: Übersicht- liche Präsentation der Motive, die sich vom Betachter leicht überblicken lassen; expressive Posen, die auf den Betrachter bezogen sind; die dramatische Präsenz des Hochhehllenis- mus, das Interesse am Physischen ist deutlich abgeschwächt; Vorliebe für Figuren, die als Betrachter ›im Bild‹ dienen, wodurch das Thema kommentiert wird; lose verknüpfte Zweiergruppen regen zum Vergleichen und Reflektieren an. 99) Linfert a. O. 132 (hier Anm. 41). 48 Marsyas ______sinn, wäre »l’art pour l’art«, Kunst allein um des Künstlerischen willen, die Skulp- tur reiner Ausstattungsschmuck. Keine Replik stammt aus dem Gelände eines Landschaftsgartens. Wahrschein- lich war schon die originale Gruppe wie die kaiserzeitlichen Repliken in einem Theater oder einer Palästra aufgestellt, war aber auch hier in erster Linie Illustrie- rung, Raumdekoration (vgl. die Statik des Frieses aus dem Theater von Hierapolis) während die Hauptaufmerksamkeit des Betrachters den lebenden Akteuren zu gel- ten hatte.100 Linfert beschreibt zudem aber treffend, daß die Lauschende den Betrachter zu ihresgleichen mache und ihn vereinnahme. Der Betrachter, der sich in das Thema versenkt, kann sich kaum dem Prozeß des Abwägens, welchem Konkurrenten er seine Sympathie geben wird, entziehen, oder er wird zumindest über den üblen Ausgang der Geschichte nachdenken. Die Gruppe ist demnach ein Kunstwerk, das zur Kontemplation und Reflektion anregt.

Im Gegensatz zu der Stimmung der Skulpturengruppe ist auf dem Sarkophag im Louvre das Geschehen deutlich zugespitzt: Die Kontrahenten sind noch dabei zu musizieren.101 Eine gleichsam wie im Theaterspiel verdichtete Atmosphäre ist zu spüren und man kann sich die widerstreitende Musik gut vorstellen. Diese innere und äußere Dynamik entspricht den Darstellungen der meisten mythologischen Sarkophage, die oft geradezu turbulent wirken. Der Betrachter wird emotional in das Geschehen mit eingebunden. Warum hier diese dynamischere Auffassung? Stadtrömische Sarkophage standen nicht in der Öffentlichkeit, sondern in Ge- bäuden sepulkraler Funktion, die in erster Linie von der Familie zum Totengeden- ken aufgesucht wurden. Die Sarkophag-Dekoration war also in anderer Atmosphäre zu betrachten als die hellenistische Gruppe oder ihre Repliken. Die Sarkophag- dekoration diente dazu, Emotionen, die in Zusammenhang mit einem Todesfall auftreten, gleichsam wie eine Spiegelfläche aufzunehmen und ermöglichten dem Betrachter ein Verarbeiten. Die Auseinandersetzung mit dem Thema hat viele auf- regende, letztendlich aber auch entspannende Aspekte für den Trauernden gehabt, worauf in Teil II eingegangen wird.

100) Möglicherweise hat die freiplastische Wettkampfgruppe ein Vorbild in der Malerei gehabt. 101) Der Barberini-Sarkophag und der Fries in Hierapolis wirken dagegen ruhig. Einzige Ak- tion ist das Aulos-Blasen Athenas bzw. das Überreichen des Aulos. ______Marsyas 49

7. Thesen

Den folgenden Thesen liegt die Annahme zugrunde, daß eine Abhängigkeit zwi- schen Literatur, Drama und bildender Kunst einer Epoche möglich und wahr- scheinlich ist.

1. Die auf den Sarkophagen im Louvre und im Konservatorenpalast und auf dem Fries in Hierapolis dargestellte Version des Marsyas-Mythos ist dieselbe, die sich auch in der Marsyas-Gruppe Leptis-Perge und ihren Repliken präsentiert. Sie entspricht einer bestimmten literarischen Version.

2. Der inhaltliche Hauptaspekt dieser Mythen-Version ist die Wahl einer aphrodisi- schen Göttin zwischen Marsyas und Apollon. Bei der Wahl geht es sehr wahr- scheinlich nicht nur um musikalisches Können, sondern auch um erotische Be- lange: es handelt sich um eine Annäherung an das Thema der Freierprobe. Das Hybrismotiv der Widersetzlichkeit gegenüber Athena und die Schindung sind in den Hintergrund gerückt. Der Musenchor als Publikum oder Schiedsrichter wird nicht gebraucht, weil die einzelne Göttin diese Funktion auf ihre Weise ausübt.

3. Dieser Version entspricht in ihrem Hauptakzent (Konkurrenz um eine jugend- liche Göttin) auch die literarische Fassung bei Diodor, in der die jugendliche Kybele eine Hauptrolle spielt. Diodor benannte die junge Göttin »Kybele« und schmückte den Marsyas-My- thos mit der Biographie Kybeles aus. So könnte man die Lauschende auf dem Sar- kophag im Louvre – in Anlehnung an Diodors Text – als die junge, ungebundene, auf dem Berg Kybela lebende Kybele verstehen, in einem Zustand der nymphé, in dem sie also noch nicht Göttin ist. Die Halbnacktheit, die offenen Haare und der Felssitz wären dann als Hinweis auf die Chronologie ihrer Lebensgeschichte zu verstehen; nebenbei entsprechen diese Merkmale der jugendlichen Schönen we- sensmäßig ganz allgemein denen einer Nymphe oder auch der Göttin Aphrodite. Auch diese könnte gemeint sein bzw. eine synkretistische Verschmelzung von bei- den Fruchtbarkeitsgöttinnen. Die Position im Zentrum verdeutlicht neben dem Aspekt der Richterin, die über den Sieg entscheidet, auch den des von beiden männlichen Wesen begehrten Zankapfels.

4. Die literarische Version Diodors aus dem 1. Jh. v. Chr. mit Kybele als weib- licher Hauptperson greift wohl auf einen Text eines älteren hellenistischen Dichters bzw. Dramatikers zurück. Wie dieser die jugendliche Schöne benannte, ist nicht zu sagen. Geht man nach den Angaben der älteren Autoren Herodot, Xenophon und Diodor, wonach der Mythos in Phrygien spielt, so könnte sogar eine Version, in der es um die junge phrygische Kybele geht, älter sein als die attische mit Athena. Es mangelt uns darüber aber an Zeugnissen. 50 Marsyas ______

5. Die vermutete literarische Version aus dem Hellenismus ist möglicherweise zugleich eine dramatische Version, die im Theater aufgeführt wurde. Schon die rotfigurigen Vasen des 5. Jhs. v. Chr. zeigen, daß der Marsyas- Mythos ein für die szenische Aufführung, nämlich die Dithyramben-Wettbewerbe, geeignetes Thema war: Häufig erscheint der für diese Disziplin als Siegespreis dienende Dreifuß im Bild.102 Daß die großplastischen Marsyas-Apollon-Gruppen anscheinend alle an Stätten des musischen oder sportlichen Wettkampfes standen, wurde bereits erwähnt. Der Eindruck, auch die neue Mythen-Version selbst könnte im Theater vorgestellt worden sein, verstärkt sich durch den Sockelfries der scenae frons des severischen Theaters von Hierapolis.103

102) K. Schauenburg, RM 65 1958 Anm. 147; Froning, Dithyrambos 29ff. 103) F. D'Andria – T. Ritti, Le sculture del teatro. I rilievi con i cicli di Apollo e Artemide. Hie- rapolis II (1985) 49ff. (S. 52f. Taf. 16,2 Platte Ap III b mit Marsyas und der Sitzenden).

II. Moira Das Symbol als Emblem

1. Der dokimeische Girlandensarkophag in Konya104

Auf einem dokimeischen Girlandensarkophag in Konya, ebenda gefunden, der schon in den zwanziger oder dreißiger Jahren des 2. Jhs. n. Chr.105 entstanden ist, trifft man erstaunlicherweise ebenfalls auf den Typus der halbnackten, auf einem Fels sitzenden Göttin mit dem Diptychon. Doch sie befindet sich nicht zwischen Marsyas und Apollon. Sie wird statt dessen von zwei auf Sockeln stehenden weib- lichen Figuren flankiert. Was bedeutet das Verschieben dieses Figurentyps in einen anderen Kontext? Ist dies eine bloß formale Übernahme ohne Hintersinn, wie sie für die Sarkophag- dekoration nicht ganz unüblich ist? Ändert sich die Bedeutung des Typs oder ist sie gleich geblieben? Wie läßt sich der Zusammenhang mit dem neuen Kontext auf- schlüsseln?

104) Gefunden bei Bauarbeiten 1964 in Ikonion, im Arch. Mus. Konya. Lit: H. Wiegartz, Klein- asiatische Säulensarkophage (1965) 51f. 178 Nr. 41; N. Himmelmann, Der Sarkophag aus Megiste. Abh. Mainz (1970) 19f.; ders., AA 1971, 92; ders., in: Mélanges Mansel I (1974) 45; G. Koch, Gnomon 45, 1973, 316; ders., AA 1974, 303 Nr. 18 306; K. Schauenburg, Journ. P. Getty Mus 2, 1975, 64ff.; M. Waelkens, Dokimeion. Die Werkstatt der repräsen- tativen kleinasiatischen Sarkophage (1982) 23f. Nr. 19 Taf. 3,4. 30,4; F. Isik, in: Akten des Symposiums »125 Jahre Sarkophag-Corpus« (Hrsg. G. Koch), Marburg 1995 (1998) 278ff. Taf. 113,4. 115,2. R.Özgan, Die Kaiserzeitlichen Sarkophage in Konya und Umgebung (Bonn 2003) 55-60 Kat.20 Taf.43-48,1. 105) Datierung: Die Verwendung der Eichenblatt-, nicht Fruchtgirlande, gibt bereits einen An- haltspunkt für die Datierung. Erstere wurde spätestens ab der Regierungszeit Trajans (98- 117 n. Chr.) bis zum Ende der Regierungszeit des Antoninus Pius (138-161 n. Chr.) be- nutzt. Kurz vor 160 n. Chr. erscheint dann wieder die Fruchtgirlande. Eine weitere zeitli- che Eingrenzung erlauben die Porträtbüsten. Ab etwa Beginn der Regierungszeit des Kai- sers Hadrian (117-138 n. Chr.) bis zur Mitte des 2. Jh. n. Chr. werden die äußeren Girlan- denschwünge der dadurch nun als solche erkennbaren Vorderseite mit je einer Porträtbüste gefüllt. Im mittleren Schwung befindet sich gewöhnlich eine Theater-Maske oder ein Gor- goneion. Nur wenige Exemplare haben eine figürliche Szene in der Mitte wie der Sarko- phag aus Konya. Der Sarkophag ist mittel- bis späthadrianisch datiert worden, also in die zwanziger oder dreißiger Jahre des 2. Jhs. n. Chr., da die Frisuren der Porträtbüsten und die Typen der Eck-Niken und Eroten in diese Phase gehören: M. Waelkens, a. O. 23 Nr. 19. Wiegartz und Schauenburg datierten ihn 160/170 n. Chr. Özgan a.O 60: frühhadrianisch, um120 n. Chr. 52 Moira ______

Beschreibung

Profile und Gliederung: Der Deckel des Sarkophages hat die Form eines Sattel- daches. Dieses bekrönen an jeder Seite fünf Löwenkopfe und an den Giebeln Pal- metten-Akrotere. Im Zentrum der mit Karnies, Rundstab und Zahnschnitt verse- henen Giebel der Schmalseiten befindet sich je ein Rundschild. Ein Kranzgesims, bestehend aus Ablaufrinne, Karnies, halbem Rundstab und schlichtem Band, schließt den Deckel nach unten hin ab. Das obere Kastenprofil setzt sich aus drei schmalen Faszien, Eierstab, Perlstab und Ablauf zusammen. Der reiche Sockel besteht aus einer Plinthe, einem stehen- dem Karnies aus Spitzblattgirlande und Palmettenband, einem Flechtband zwi- schen zwei Perlstäben, einem Eierstab und zwei aufeinander zu abgeschrägten Leisten. An den vier Ecken des Kastens befinden sich Niken, bekleidet mit vom Wind bewegtem Peplos, der die rechte Brust frei läßt.106 Jede steht auf einer Kugel, hält in der gesenkten Linken einen Palmzweig, mit der rechten die Girlande. Auf jeder Seite des Kastens, bis auf die linke Schmalseite mit der Scheintür, befinden sich zwei Girlanden, die außer von den Niken von Eroten gehalten werden.107 Die Ero- ten stehen auf geflügelten Meerpanthern. Die an den Enden und im unteren Be- reich des Bogens von Tänien umwundenen Girlanden bestehen aus Eichenblättern. An der rechten Schmalseite hängen an den Girlanden Trauben. An den Langseiten fehlen die üblichen Trauben; die Perlhühner, die gewöhnlich an den Trauben picken, sind jedoch vorhanden.

Vorderseite: (Abb. 14) Die Büsten: Üblich ist in den äußeren Girlandenschwüngen der Langseiten je eine tragische Maske, in den mittleren Girlanden der Vorder- und Rückseite je ein Me- dusenhaupt. Hier befindet sich statt dessen in den äußeren Girlanden der Vorder- seite je ein weiblicher Porträtkopf, in der Mitte – ohne Girlande – eine figürliche Szene. Die Büsten der Porträtköpfe haben Chiton und Mantel als Bekleidung. Das linke Porträt trägt eine zweistöckige Frisur mit Mittelscheitel und gewelltem Haar, darüber zwei von Ohr zu Ohr quergelegte Zöpfe. Die Frisur entspricht mittel- und späthadrianischen Porträts. Das rechte Porträt trägt eine einfache nach vorne offene Haarwelle, eine Art Pony. Beide Gesichter haben keine Altersmerkmale.

106) Waelkens a. O. 10 u. Anm. 39: Eck-Niken Typ 3, dies ist der früheste Typ, bei dem die Brust frei ist. 107) Waelkens a. O. 12: Eroten im Typ 2 auf beiden Langseiten und ein Eros Typ 4 an der rechten Schmalseite. ______Moira 53

Die figürliche Szene: (Abb. 15) Im Zentrum sitzt auf einem Felsen eine halbnackte weibliche Figur mit Diptychon in der linken Hand. Es ist derselbe Typ, der auch auf dem Marsyas-Sarkophag er- scheint. Der Kopf ist abgeschlagen, auf den Schultern sind lange Haarsträhnen er- halten. Ihr Mantel ist um den Unterkörper geschlungen und um den linken Arm. Um den Felsen windet sich eine Weinranke – und zwar unter den Füßen der Göttin durch. Auf dem unebenen Felsen erscheinen unterhalb des rechten Fußes eine Weitraube, an der ein Vogel pickt, zu seinen Seiten je ein Weinblatt und an der Felsecke neben dem Schwanz des Vogels eine weitere Traube. Diese Elemente sind aus dem Fels herausgemeißelt und haben deshalb stark verschattete Konturen. Flankiert wird die Göttin links durch eine Frau in Chiton und Mantel, die auf einem Statuensockel steht. Die Unterarme sind abgeschlagen. An den Resten ist aber noch erkennbar, daß sie eine geöffnete Buchrolle in der rechten Hand hielt. Rechts steht eine gleich gekleidete Frau auf einem Sockel, die einen Spinnrocken in der erhobenen Linken hält. Die rechte Hand fehlt. Auch die Köpfe der beiden Figuren sind zum größten Teil abgeschlagen. Rechte Schmalseite: An den Schmalseiten der dokimeischen Girlandensarko- phage befindet sich normalerweise ein Gorgoneion in einem einzigen Girlanden- schwung. An dem Sarkophag in Konya sind zwei Girlanden mit je einem Adler in ihrem Schwung dargestellt. Die Girlande wird von einem Eros in der Mitte gehal- ten. Linke Schmalseite: (Abb. 16) Unter einem Portal, das prächtig mit einem vor- springenden Kranzgesims, Palmettenfries, Eierstäben und Zahnschnitt bekrönt ist, steht in der Türöffnung eine Frau in Chiton und Mantel und mit großer Haar- schleife auf dem Scheitel. In den am Rand beschädigten geöffneten Türflügeln be- finden sich je zwei Bildfelder mit profilierten Rahmen. Das obere füllt ein Gorgo- neion, das untere eine Attisfigur. Links des Portales steht die Figur eines Palliatus mit Buchrolle (Kopf verloren), rechts eine verschleierte Frau, die den rechten Un- terarm, vom Mantel eingewickelt, vor der Brust liegen hat und in den Mantel faßt, und mit der linken Hand den Mantelsaum über dem linken Oberschenkel hochzieht (Ceres-Typ). Rückseite: In den äußeren Schwüngen der Rückseite sitzt je ein geflügeltes Gorgoneion. Die Mitte der Rückseite ziert, wieder ohne eine Girlande, die Kampf- gruppe einer berittenen Amazone, die gerade mit der Axt gegen einen gepanzerten Krieger mit Feldherrnbinde ausholt, der sich mit seinem Schild bedeckt.108

108) Waelkens a. O. 23 Nr. 19. 54 Moira ______

Die formale Bildkomposition

Ein Girlanden-Sarkophag erfordert naturgemäß eine andere Art der Dekoration als ein Friessarkophag. Ein Fries verlangt geradezu eine chronologisch ablaufende Handlung, deren Szenen ineinander übergehen, dagegen ergeben sich durch die Girlanden mehrere kleinere Bildfelder, die unten halbrund abschließen. So eignet sich ein Girlandensarkophag mehr für die Präsentation zeitlich nicht unbedingt auf- einanderbezogener Einzelbilder. Harmonisch füllen besonders die Porträtbüsten, einem Medaillon ähnlich, die Girlandenbögen. Das uns besonders interessierende Bildfeld im Zentrum der Vorderseite des Sarkophages kann folglich schon aus formalen Gründen nur eine extrem abgekürzte Szene beinhalten und auch das etwas breitere Feld auf der Rückseite besteht nur aus zwei Personen. Die Sitzende wird symmetrisch von zwei stehenden Figuren gerahmt. Der Ein- druck von Statik wird durch die Sockel noch verstärkt. Die lauschende Haltung der Sitzenden mit der Kopf- und Körperwendung nach links – wie es bei ihrem Gegen- stück auf dem Marsyas-Sarkophag der Fall ist – würde hier unmotiviert wirken, demzufolge hat der Künstler den Körper frontal dargestellt und die Kopfwendung nicht so stark ausgeführt. Die symbolhaft verkürzte Präsentation erlaubt in erster Linie durch die Attri- bute eine Deutung des Sinngehaltes. Die frontale und statische Aufreihung der Figuren im Zentrum, eingerahmt von der ›Architektur‹ des Totenhauses d. h. des Sarkophagkastens, stimmt überein mit dem ikonographischen Muster von Dreier-Kultbildgruppen. Zum Eindruck des Statuenhaften tragen besonders die Sockel der beiden äußeren Figuren bei; ja, die Sockel bedeuten ausdrücklich, daß man es mit Statuen zu tun hat.109 Die Figuren, die mit Sicherheit nach vorn geschaut haben, bilden gleichsam die Epiphanie einer göttlichen Trias, wie sie durch Kultbilder im Tempel oder Naiskos präsentiert wurde oder wie man sie von Votivreliefs kennt. Die mittlere Figur weicht allerdings durch ihre Gestik, Kleidung und den Felsen von den äußeren bei- den ab. Sie hält ihr Attribut eher beiläufig, nicht so demonstrativ wie ihre Kollegin- nen. Man spürt, daß sie ursprünglich in einen anderen Rahmen gehörte.

Ein ikonographischer Sonderfall

Auch der Sarkophag in Konya ist ein Sonderfall unter den Girlandensarkophagen. Nur wenige Exemplare der Gruppe sind so ausgiebig figürlich geschmückt. Eine vergleichbare Darstellung einer weiblichen Dreiheit ist mir auf Girlandensarkopha-

109) M. de Cesare, Le statue in immagine (1997) 158ff. ______Moira 55 gen nicht bekannt geworden.110 Zur Dekoration des Raumes oberhalb der Girlan- den waren vielmehr tragische Masken, später Gorgoneia und Porträtbüsten üblich. Daß die Tür im Falle des Girlandensarkophages in Konya weit geöffnet ist und die Verstorbene selbst auf der Schwelle des »Heroons« erscheint, ist eine seltene Ausnahme. Die geöffneten Scheintüren gehen ebenso wie die wenigen Fälle figür- licher Szenen111 und die Adler und auf stadtrömische Beeinflussung zurück.112 Das Schema der Amazonen-Kampfszene auf der Rückseite des Sarkophages in Konya kommt so auf keinem der Amazonensarkophage vor, gewisse Ähnlichkeit hat es allein mit dem sogenannten Motiv F: Amazone zu Pferd gegen einen Fuß- soldaten mit Schild, der sie von hinten angreift. (Gewöhnlich handelt es sich um Achill und Penthesilea).113 In unserem Falle reitet die Amazone aber dem Krieger entgegen, der vor ihr zurückweicht.

Das typologische Vorbild für die Sockelfiguren

Die auf Sockeln stehenden weiblichen Figuren tragen beide einen Chiton mit kur- zen geknöpften Ärmeln, der direkt unter den Brüsten gegürtet ist. Das Gewand ist nur im Bereich der rechten Schultern und Brust und reich gefältelt unterhalb der Schienbeine zu sehen. Im übrigen wird der Körper durch ein Himation verhüllt, dessen wulstiger dicker Saum diagonal über den Leib läuft: bei der rechten Figur von der rechten Hüfte zwischen den Brüsten durch zur linken Schulter bzw. von der rechten Hüfte diagonal über den Rücken zur linken Schulter, wo sich die Zipfel kreuzen. Zwischen ihnen kommt der Oberarm hervor. Bei der linken Figur breitet sich das von vorn kommende Tuch, das über die linke Schulter geworfen ist, über den linken Oberarm aus und verhüllt ihn so. Die Windung des Mantels an der rechten Hüfte hängt nicht so tief, wie bei ihrer Schwester. Die Mantelfalten ziehen sich bei der Figur mit dem Spinnrocken einförmig dia- gonal vom rechten Knie zur linken Hüfte. Bei der linken Figur bildet sich unterhalb des Bauches eine halbrunde Falte und von der linken Hüfte zum rechten Knie eine aufspringende Gabel.

110) Nur auf Riefel- und Säulen-Sarkophagen tauchen die drei Chariten auf: G. Koch – H. Sich- termann, Römische Sarkophage (1982) Hbd. d. Archäologie Taf. 164. 254. 111) Sarkophage in Denizli und Apamea, beide mit Perseus und Andromeda: F. Isik, Kleinasia- tische Girlandensarkophage der Hauptgruppe, in: G. Koch (Hrsg.), Akten des Symposiums »125 Jahre Sarkophag-Corpus« Marburg 1995 (1998) Taf. 112,1-4. 114,1. 112) Isik a. O. 282ff. Letztendlich hat sich die ganze Gruppe mit der charakteristischen Doppel- girlande der Langseiten in trajanischer Zeit durch stadtrömische Anregungen entwickelt. 113) D. Grassinger, Die Mythologischen Sarkopage, ASR 12,1 (1999) 145. 56 Moira ______

Das rechte Bein beider Figuren ist das Spielbein, das linke das Standbein. Charakteristisches Merkmal für die Bestimmung des Statuentyps ist der diago- nal zwischen den Brüsten durchlaufende Mantelwulst. Diese Gewanddrapierung kennen wir aus der ersten Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. von der Hope114, bei der der Mantel allerdings noch so stramm angezogen ist, daß der Wulst direkt un- terhalb der rechten Brust nach hinten läuft. Tief an der Hüfte verlaufend findet man ihn bei der inschriftlich so bezeichne- ten Statuette der Korinna in Compiègne.115 Wie die linke Sockelfigur auf dem Sarkophag in Konya hält die Korinna eine Schriftrolle vor dem Bauch. Sie ist ins letzte Jahrzehnt des 4. Jhs.116 datiert worden, womit sich die auf Sockeln stehenden weiblichen Mantelfiguren des Sarkophages in Konya als Rückgriff auf diese Zeit erweisen. Erwähnenswert ist noch, daß der Typ der Stehenden nicht für Musen auf Mu- sen-Sarkophagen erscheint.

2. Benennung der sitzenden Göttin

Widersprüche innerhalb der Ikonographie, also zwischen Haltung, Kleidung, Attri- buten und dem Kontext der Begleitpersonen gibt es, wie am Louvre-Sarkophag, genauso am Konya-Sarkophag. Wir können bei den weiblichen Figuren nicht auf den ersten Blick unterscheiden, um wen es sich handelt. Dies ist nicht ungewöhn- lich. Die Ikonographie der jugendlichen weiblichen Göttinnen (Aphrodite, Nym- phen, Musen, Chariten, Horen, Mänaden) waren zu allen Zeiten stark aneinander angenähert oder vermengt, so wie ja auch ihre Charaktereigenschaften nahe beiein- anderliegen. Wenn drei Frauen der griechischen Mythologie dargestellt werden – etwa drei Horen, drei Chariten, drei Musen, drei Nymphen – so erscheinen sie entweder alle drei bekleidet oder alle drei nackt, womit sie sich in wesensmäßiger Gleichartigkeit verbinden. Auf dem Sarkophag in Konya aber fällt die mittlere Figur durch ihre spärliche Kleidung und den Fels aus dem Rahmen. Da die Sitzende ein Diptychon, häufig ein Musen-Attribut, die rechte Stehende aber einen Spinnrocken, ein Moiren-Attribut, hält, hat man Zweifel, ob die Gruppe als die drei Schicksalsgöttinnen, als Moiren, oder als Musen zu verstehen ist –

114) H. Sobel, Hygieia, Die Göttin der Gesundheit (1990) 24ff. Kat. III1 Taf. 5. 115) M. Bieber, The Sculpture of the Hellenistic Age (1961) 42f. Abb. 120. 122 (Werk des Silanion). Weitere Repliken: siehe H.-J. Kruse, Röm. weibl. Gewandstatuen des 2. Jhs. n. Chr. (1975) Kat. 59 Taf. 57 und bes. Anm. 210. In Salamis: V. Karageorghis, Sculptures from Salamis I (1964) 22 Nr. 13 Taf. 20. 116) R. Kabus-Jahn, Studien zu Frauenfiguren des 4. Jhs. (1963) 8. ______Moira 57 genauso wie man bei der Apollon-Marsyas-Wettkampfgruppe zweifelt, ob es sich nun um eine Nymphe bzw. Aphrodite oder um eine Muse handelt. Tatsächlich ist es so, daß Diptychon und Schriftrolle in einigen Fällen auch in der Hand von Moiren belegt sind.117 Der Moirendarstellung lag weder in der Klassik noch im Hellenismus ein ein- deutiges und festes ikonographisches Schema zugrunde. Ihre identifizierenden Attribute sind Spindel und Waage, aber es kommen eben auch andere vor, wie das Zepter oder die Patera, die man auch von anderen Göttinnen kennt.118 Dies kann wohl nur bedeuten, daß Moiren sehr alte Göttinnen sind, die einmal eine größere Anzahl von Eigenschaften auf sich vereinten, die später zum Teil anderen Göttin- nen zugeschrieben wurden.

Wer sind die Moiren?119 Moira bedeutet das Zugeteilte, der Teil, der Anteil oder das Schicksal, das Los. Zeugnisse für den Moiren-Kult gibt es seit dem 5. Jh. v. Chr. in der ganzen griechischen Welt.

117) LIMC VI (1992) s. v. (St. de Angeli) Nr. 33.17.45. 118) Zepter: Hydria in Syrakus (E. Simon, Die Geburt der Aphrodite [1959] Abb. 29). Patera: inschriftl. bezeichnetes Relief (LIMC a. O. Nr. 3.). 119) Roscher, ML II 2 (1894) s. v. Moira 3084ff. LIMC VI (1992) s. v. Moirai (St. de Angeli) mit der älteren Lit. Die Moira (im Singular) wird bei Homer (Od. 16,64; 19,129; 19,512) mehrfach in Zusammenhang mit Daimon genannt. Daimon bedeutet Verteiler oder Zutei- ler und hat eine enge Beziehung zu dem Begriff »Schicksal«. Die Figur des Daimon ist das aktive Element, das die Vorgabe der Moira in konkretem Geschehen verwirklicht. Obwohl die Moira keine Todesgöttin ist, sondern eine chthonische Götinn, wird der Be- griff bei Homer (Il. 16,849; Il. 3,101; Od. 2,100) ein Synomym zu , Tod. Die ur- sprünglich einzelne Person Moira tritt zuerst bei Hesiod als Dreiheit auf. In einer Text- stelle (Theog. 217-22) nennt Hesiod die Moiren Töchter der (Nacht) und bringt sie mit den Keren, grimmigen Geistern, die die Toten in den bringen und Frevler be- strafen, in enge Verbindung. In einer anderen (Theog. 900ff.) bezeichnet er sie als Töchter des und der (Satzung) und jüngere Schwestern der drei Horen (gute Gesetze), (Recht) und (Frieden). Auf dem orphischen Papyrus von Derveni aus dem 4. Jh. v. Chr. wird Moira als das Denken des Zeus bezeichnet. Es heißt dort: »Wenn die Menschen sagen: Moira hat es gesponnen, so verstehen sie darunter, daß das Denken des Zeus bestimmt hat, was ist, was sein wird und auch was aufhören wird zu sein.« (M. Eliade, Geschichte der religiösen Ideen II [1979] 166). Die Moiren bestimmen das vorausgedachte Schicksal und dies endet notwendigerweise immer mit dem Tod. Sie teilen den Sterblichen Gutes und Schlimmes zu. Wie die anderen Abstrakta personifizie- renden Dreiheiten, Horen, Chariten und Erinnyen, waren die Moiren ursprünglich alte Natur- und Vegetationsgöttinnen. Im Laufe der Zeit wurden sie Göttinnen eines individu- ellen Lebensweges. Sie erscheinen nicht nur am Ende des Lebens, sondern auch bei sei- nem Beginn: Sie zeigen sich z. B. der Althaia sieben Tage nach der Geburt des Meleager und sagen die Zukunft des Kindes voraus. In den orphischen Hymnen wachen die drei Göttinnen zusätzlich über Recht und Gesetz, sind also Ausdruck eines ethischen oder 58 Moira ______

Schon die sprechenden Namen der drei Moiren zeigen uns, hätten wir auch sonst keine literarische Überlieferung, welche Vorstellungen sich mit den drei Figuren verbanden. Klotho120 bedeutet die Spinnerin. Sie spinnt den Lebensfaden und gibt dem Mensch seine Anlagen. Ihr Attribut ist die Spindel oder der Spinnrocken. Lachesis121 ist die Zuteilerin. Sie bemißt den Lebensfaden, teilt das Schicksal zu. Ihre Attribute sind die Waage (zum Bemessen, der Zuteilung) oder das Dipty- chon (zum Aufschreiben dessen, was zugeteilt wird), manchmal der Globus, der eigentlich ein Musenattribut ist. Atropos122, die Unerbittliche, ist diejenige, die den Lebensfaden abschneidet; sie steht damit dem Tod nahe. Ihr Attribut ist die geöffnete Schriftrolle d. h. sie zieht die Bilanz eines Lebens.123 Die drei Moiren Klotho, und personifizieren und symbolisie- ren drei abstrakte Ideen, die Facetten einer übergreifenden, ebenfalls abstrakten Vorstellung, des Schicksals nämlich, sind.124 Zur Benennung der drei Figuren auf dem Sarkophag als Moiren, die das Schick- sal des Menschen von der Geburt bis zum Tode bestimmen, paßt nicht nur die Ver- gänglichkeits-Symbolik des Spinnrockens, des Gegenstandes, auf den der Lebens- faden gespult ist, und der Schriftrolle, auf der das Schicksal vorausbestimmt aufge- zeichnet ist, sondern auch der die Weintrauben fressende Vogel auf dem Fels. Trauben sind an sich ein Jahreszeitensymbol, natürlich für den Herbst; allge- meiner ist das Trauben-Naschen ein Bild für Wohlstand und Überfluß.125 Trefflich

moralischen Systems. So nennt Burkert, Griechische Religion (1977) 270, die Moiren Ver- schmelzungen von Eileithyien und Erinnyen, der Geburts- und Rachegöttinnen. 120) klotho – spinnen. Die Spindel bzw. das Spinnen kann ein Symbol für den Geschlechtsakt sein. Vgl. das Dornröschen-Märchen mit den Feen, die bei der Geburt Dornröschens vor der Spindel warnen, an der es sich aber dennoch sticht: B. Bettelheim, Kinder brauchen Märchen (1981) 271. 121) to Lachos – Los, Schicksal, Anteil; lachein – das Los bestimmen; lanchano – losen, durch Los zufallen, zuteil werden, erwählt werden. 122) atropoa – unabänderlich, unerbittlich; hä atropia – Unverwandelbarkeit, Unerbittlichkeit, Starrheit. 123) Die genannten Attribute sind überwiegend erst in der Kaiserzeit festzustellen. Im 5. Jh. v. Chr. ist die Zuordnung bestimmter Attribute an die einzelnen Moiren nicht fest bestimmt. In der Vasenmalerei läßt sich das Attribut des Szepters mehrfach belegen. (E. Simon, An- tike Kunst 15, 1972, 21ff. Taf. 6,1-3; dies., Die Geburt der Aphrodite [1959] Abb. 29.) 124) W. Burkert, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche (1977) 270; Abstrakta und Personifikationen gehören zu den ältesten Glaubensvorstellungen der Grie- chen: C. D. Dietrich Death, Fate and the Godes (1965) 62. 125) D. Bielefeld, Ikonographie und Bedeutung des Trauben naschenden Hasen, in: G. Koch (Hrsg.) Akten des Symposium »125 Jahre Sarkophag-Corpus« Marburg 1995 (1998) 7ff. ______Moira 59 dem entsprechend ziert dieses Motiv die zweite Moira, die die Moira des vollen, blühenden Lebens schlechthin ist. Bei dem Vogel handelt sich nicht etwa um eines der auf dokimeischen Sarkophagen häufigeren Perlhühner. Die Proportionen des Vogels, die Kopfhaltung, die langen Zehen und die buckelige Charakterisierung des Gefieders (entsprechend den Sprenkeln auf den Federn) spricht dafür, daß ein Wendehals gemeint ist. Der Wendehals, torquilla, ist ein Vogel, der zusam- men mit Eros, Aphrodite, Pothos (Sehnsucht) oder Himeros (Liebesverlangen) er- scheint, ein »Liebes-Orakel-Vogel«. Iynx wurde zugleich auch das Rädchen ge- nannt, das Glücksrad nämlich, mit dem die genannten Götter an einer Kordel spie- len. In einer dritten Bedeutung wurde das Wort metaphorisch für Sehnsucht und Liebesverlangen gebraucht. Dem Vogel wie auch dem Rädchen schrieb man die magischen Kraft zu, das Herz des oder der Geliebten erobern zu können bzw. ein Orakel abgeben zu können über das zu Erwartende.126

Daß die zweite Moira, die lauschende Göttin, die das Schicksal bemessende La- chesis, eine Facette der Aphrodite ist, glaubt man bei der Betrachtung ihrer sinn- lichen, zu Schau gestellten körperlichen Schönheit unschwer. Es läßt sich aber auch literarisch untermauern: Aphrodite ist als die erotische Göttin schlechthin verehrt worden, speziell aber auch in der Wesensart der Aphrodite Urania, d. h. als Göttin des gestirnten Him- mels. Urania ist bei Platon (Symposion 187d) die Muse der himmlischen Liebe und auch Pausanias überliefert, daß bei der Aphrodite Urania das entscheidende Merk- mal ihre Fruchtbarkeit ist.

Pausanias I 14,7: »In der Nähe (der Agora von Athen) ist ein Heiligtum der Aphrodite Urania. Die Assyrer waren die ersten Menschen, die die Urania verehrten, nach den Assyrern die Paphier auf Zypern und in Phönizien die Bewohner von Askalon in Palästina. Von den Phöniziern

Der Wein, während der Vegatationsphase schnell und üppig wachsend, im Winter ebenso schnell verwelkend, beinhaltet aber insgeheim auch schon memento mori. 126) E. Böhr, in: J. H. Oakley – W. D. E. Coulsen – O. Palagia (Hrsg.), Athenian Potters and Painters (1997) 109-123; dies., Antike Welt 31, 2000, 346. 349ff. Gewisse Zweifel an der Identifizierung als Wendehals entstehen nur durch das Picken des Vogels an den Trauben, denn der Wendehals frißt ausschließlich Insekten. Es ist aber sehr gut möglich, daß der Künstler nicht etwa ornithologisch genau sein wollte, sondern es ihm darum ging, das Symbol des Weines nicht ungenutzt zu lassen bzw. er das Motiv des Weinpickens, das ja von anderen dokimeischen Sarkophagen bekannt ist, mitverwenden wollte. Der Wende- hals war in der Antike auch in Kleinasien verbreitet (heute nur noch ein isoliertes Brutvor- kommen) Außerdem zieht er im Frühjahr und Herbst durch dieses Gebiet (nach freundl. Auskunft von Elke Böhr). So könnte es sich erklären, daß der Vogel besonders mit dem Herbst bzw. mit Wein zusammengesehen wurde. 60 Moira ______haben die Kytherier ihre Verehrung erlernt. In Athen richtete Aigeus den Kult ein, da er glaubte, daß er selber keine Kinder bekommen werde, denn er hatte damals noch keine, und daß seinen Schwestern das zugestoßen sei, wegen Erzürnung der Urania. Die zu unserer Zeit noch vorhandene Statue ist aus parischem Marmor und ein Werk des Phi- dias.«127

Diese fruchtbare Göttin ist zugleich auch eine kosmische Göttin, eine Göttin des Himmelsgewölbes, deren Wirkungskraft sich mit der der Moiren überschneidet. Als Fruchtbarkeits- bzw. Geburts- und Todesgöttin steht sie für die kosmische Ordnung, den Kreislauf von Werden und Vergehen. Daß Aphrodite selbst auch eine Moira sein kann, zeigt Pausanias weitere Äußerung:

Pausanias I 19,2: »In Bezug auf den Ort, den sie ›Gärten‹ (am Ilissos) nennen und den Aphroditetempel wird keine Sage erzählt, auch nicht von der Aphrodite, die nahe dem Tempel steht; sie ist der Form nach ebenso viereckig wie die Hermen. Die Inschrift besagt, daß die Aphrodite Urania die älteste der sogenannten Moiren sei.«

Eine Inschrift des 3. Jhs. v. Chr. aus Sparta bezeugt eine enge Kultverbindung zwi- schen der Moira Lachesis und Aphrodite und eine gemeinsame Priesterin für beide.128 Im orphischen Hymnus an Aphrodite129 wird diese, die alles hervorgebracht hat, als die Mutter der (Notwendigkeit) und als Herrin der Moiren be- zeichnet.130 »Die Moiren sind die Gottheiten, die bestimmen und zwingen. Dieser Zwang ist so stark, daß sich ihm selbst Zeus beugen muß. Nicht ohne Grund er- scheint daher die älteste der Moiren, Aphrodite, als Mutter der Ananke. Aphrodite zeigt sich den Griechen oft als eine schicksalhafte, zwingende Urmacht, die oft als Übel empfunden wird, dem weder Götter noch Menschen entfliehen können.«131

Eine enge Verbindung von Aphrodite und Moiren ergibt sich auch im Bereich der Hochzeitsbräuche, bei denen sowohl Aphrodite als auch den Moiren geopfert wurde, da man Letztere bei allen wichtigen Entscheidungen und Unternehmungen anrief und die Hochzeit grundsätzlich als besonders schicksalsentscheidender

127) Reste des Tempels ganz im Nordwesten der Agora, südlich der römischen Halle gefunden. 128) CIG 1444. Siehe B. C. Dietrich, Death, Fate and the Gods (1965) 65. 83. 129) Orph. hymn. 55. 130) Platon, Politaea 617c, nennt Ananke Mutter der Moiren. 131) H. Petersmann, in: G. Bauchhenss (Hrsg.), Matronen und verwandte Gottheiten, Beih. BJb Bd. 44 (1987) 199. ______Moira 61

Schritt angesehen wurde.132 Daraus folgt auch eine Überschneidung mit dem Wir- kungsbereich von Fruchtbarkeitsgöttinnen: beim Gebet um Kindersegen. So ist nun aufgeklärt, warum eine Moira halbnackt sein und wie Aphrodite aus- sehen kann. Diese Merkmale weisen auf die erotische Facette ihres Wesens. Bei den Moiren wiederum gibt es bedeutende Überschneidungen mit den Auf- gaben der Musen. Die Musen verkünden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, ähnlich den Moiren, die darüber bestimmen.133 Die Moiren oder die Musen halten nach Platon die Sphärenringe in Bewegung134 und bewahren die Harmonie. In der Bildenden Kunst sind Moiren und Musen besonders in der Kaiserzeit häufig nicht zu unterscheiden, da Moiren – in Ermangelung einer eigenen ausgeprägten Iko- nographie – die gleichen Attribute bei sich tragen können wie Musen, nämlich Diptychon, Schriftrolle, Musikinstrumente oder Globus.135

Auf die Frage, was verbindet die Sitzende des Marsyas-Mythos mit ihrem typolo- gischen Double auf dem dokimeischen Sarkophag, gibt es nur eine Antwort: In ihren besonderen Wesensaspekten ist diese Figur auf beiden Sarkophagen Sinnbild für die Blüte des Lebens, die zugleich Wendepunkt ist und damit letzt- endlich zum Tod führt. Auf dem Sarkophag im Louvre ist Aphrodite-Moira dar- über hinaus das personifizierte Abwägen an diesem schicksalhaften Wendepunkt, der für Marsyas den Tod, für Apollon den Sieg bedeutet. So wie die mittlere Figur auf dem Konya-Sarkophag als die Moira Aphrodite zu benennen ist, so meint derselbe Typ auf dem Sarkophag im Louvre bzw. als großplastische Statue zwischen Apollon und Marsyas gleichfalls diese Göttin. Und auch wer dies ablehnt und sie lieber unschärfer als Muse bezeichnet, kann dies nur eingedenk der Tatsache tun, daß dies eine auffallend erotische Muse wäre und zugleich eine, die für die Vergänglichkeit steht sowie als Richtende für die Ord- nung des Weltenlaufs.

3. Weitere archäologische Indizien

Welche weiteren archäologischen Indizien gibt es neben den philologischen, daß eine Moira im Marsyas-Mythos eine Rolle gespielt haben könnte? Und ist dies erst eine Erfindung des Hellenismus?

132) Aphrodite wurde auch Faden spinnend abgebildet: siehe G. E. Suhr, The spinning Aphro- dite (1969). 133) Hesiod, Theogonie 39. 134) Platon, Politaea 616cff. 135) siehe z. B. die -Sarkophage: C. Robert, Die mytholgischen Sarkophage, ASR III 3 (1919) Nr. 351. 353-356. 62 Moira ______

Zur Untersuchung bietet sich die Gruppe rotfiguriger Vasen des späten 5. Jhs. und 4. Jhs. an, die mit Szenen des Marsyas-Mythos bemalt sind. Auf diesen Vasen erscheint ein reiches Repertoire von Beifiguren. Neben den Hauptfiguren Marsyas und Apollon können folgende weitere Götter erscheinen: Athena, Nike, Artemis, Hermes, Zeus, , , Aphrodite und Eros, , Mänaden, Satyrn, Musen und nackte Nymphen. In einigen Fällen erscheinen Figuren, die aufgrund man- gelnder Charakterisierung nicht sicher benennbar sind. Die Frage ist, ob sich anhand der wechselnden Beifiguren unterschiedliche Ver- sionen des Mythos auf den Vasen identifizieren lassen. Dies scheint der Falle zu sein. Schon Froning bemerkte in ihrer Untersuchung, daß immer wenn Athena auf- tritt, die Musen jedenfalls nicht anwesend sind.136 Sind unter den vermeintlichen Musen vielleicht Moiren, die als solche nicht erkannt wurden? Es ist keineswegs so, daß Athena dann immer in der Rolle der Schiedsrichterin aufträte; also die Musen an die Stelle der Schiedsrichterin Athena treten würden. Man muß bei den Vasenbildern zuerst unterschiedliche Momente in der Chronolo- gie der Handlung unterscheiden: Auf einigen Vasen mit Athena ist eindeutig der speziell attische Anfangsteil der Sage, noch ohne Apollon, gemeint, in dem Mar- syas Athena begegnet und die Göttin gerade spielt137, oder die Flöte wegwirft138 oder die Göttin Marsyas abwehrt139. Häufiger ist der spätere Zeitpunkt im Verlauf der mythischen Handlung gezeigt, in dem Marsyas und Apollon sich messen: Athena steht jetzt zwischen Marsyas und Apollon, so daß man ihr die Schiedsrich- terrolle zubilligen kann.140 Überprüft man die verschiedenen weiblichen Beifiguren so ergibt es sich, daß nur in wenigen Fällen Musen aufgrund der Attribute sicher identifiziert werden können. Fünf Vasen stammen alle von demselben attischen Maler, dem Pothos- Maler, und sind im letzten Viertel des 5. Jhs. entstanden. In Attika hat also nur der Pothos-Maler Wert auf die Anwesenheit von Musen gelegt. Sie stehen aber nicht

136) Froning, Dithyrambos 30ff., erschloß anhand der Vasenbilder, auf denen Marsyas auf Apollons Kithara spielt, eine literarische Version mit einem solchen Handlungsteil. Die Bilder, auf denen Marsyas selbst das Messer hält, führte sie auf eine Phlyakenposse zu- rück. 137) LIMC VI (1992) s. v. Marsyas I Nr. 10 (A. Weis). 138) LIMC VI (1992) s. v. Marsyas I Nr. 9 (A. Weis); LIMC II 1984 s. v. Athena Nr. 618. 623 (P. Demargne). 139) LIMC VI (1992) s. v Marsyas I Nr. 16 (A. Weis). 140) LIMC VI (1992) s. v. Marsyas I Nr. 22a; Nr. 43 (A. Weis), beide attisch. Kelchkrater des Kadmos-Malers: Froning, Dithyrambos Nr. 3 Taf. 8,2. Kelchkrater in Ferrara: Froning, Dithyrambos Nr. 34 Taf. 11,1. Glockenkrater in Athen: LIMC II (1984) s. v. Athena Nr. 619 (P. Demargne). Neben den Kontrahenten steht die Athena auf dem Glockenkrater in Bochum: N. Kunisch. Erläuterungen zur griechischen Vasenmalerei (1996) 203ff. Abb. ______Moira 63 trennend wie ein Richter zwischen Marsyas und Apollon, so wie Athena auf den beiden oben genannten Vasen, sondern rechts und links von den Kontrahenten.141 Die Musen sind nicht so passiv, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Die Be- tonung der Darstellung liegt aber weniger auf dem Schiedsurteil, als auf der allge- meinen Schicksalhaftigkeit und zukunftsentscheidenden Bedeutung des Momentes für Marsyas142: Schon der Umstand, daß Marsyas stets sitzt, während Apollon steht und bis auf einen Fall sein Instrument gar nicht hält, sondern sehr bedeutsam den Lorbeerstab neben sich aufstellt als wäre dies der Richterstab, zeigt, daß Apollon weniger die Rolle des Musikanten einnimmt, als die des Gottes mit mantischen Fähigkeiten, der die Zukunft bereits voraussieht. Auf dem Glockenkrater des Pothos-Malers in Heidelberg vom Ende des 5. Jhs.143 (Abb. 17) stehen zwei Musen hinter Marsyas Rücken. Die linke Figur, die den einen Fuß auf eine Erderhöhung gestellt hat und ihren linken Unterarm auf dem Oberschenkel quer aufgelegt hat, hält einer vor ihr Stehenden eine Schreib- tafel mit aufgeklapptem Deckel hin. Ihr Blick ist prüfend, die Haltung abwartend. Die stehende Göttin, der die Schreibtafel hingereicht wird, macht eine zögernde Bewegung mit der rechten Hand zum Kinn. Neumann beschreibt diese Geste allge- mein als Ratlosigkeit, bei weiblichen Gestalten auch als Schüchternheit, Verlegen- heit oder Unsicherheit. Er schreibt speziell zu dieser Vase: »Sie scheint über das Urteil noch nicht selbst mit sich ins Reine gekommen zu sein…«144 Der Künstler hat sehr subtil den Moment des Zauderns und Abwägens während der Urteilsfin- dung ausgewählt. Die rechts stehende Muse auf einem Glockenkrater in London hat ganz ähnlich in nachdenklicher Gestik die Finger zum Mund geführt, während Marsyas Aulos spielt und Apollon – übrigens erstmals nackt bis auf einen über die linke Schulter

141) In allen vier Fällen sitzt Marsyas und Apollon steht. Einmal hält er eine Kithara, einmal den Doppel-Aulos, in zwei Fällen ist das Instrument wegen Zerstörung nicht festzustellen. Apollon hält in allen vier Fällen einen Stab mit Lorbeerblättern in der Hand, nur einmal zusäzlich die Kithara. 142) St. Schmidt (in: R. von der Hoff – St. Schmidt [Hrsg.], Konstruktionen von Wirklichkeit Bilder im Griechenland des 5. u. 4. Jhs. [2001] 295f.) hat zuletzt behauptet, daß auf den klass. Vasenbildern nichts auf das fatale Ende der Geschichte hindeute, der Musiker statt- dessen entspannt unter seinen Zuhörern säße und das Thema allein die Musik wäre, nicht die Hybris. Tatsächlich ist aber die Konkurenz wohl ausgedrückt, wenn sich die Kontra- henten gegenüberstehen; sitzt Marsyas aber, so ist es der Zeitpunkt, zu dem er bereits tief betrübt ist. Es geht letztendlich nicht um die »erfolgversprechende Wirkung der Musik«, sondern um das Schicksal, das subtiler als durch grausames Schinden angedeutet wurde. 143) A. Queyrel, BCH 108, 1984, 127 Nr. 6 Abb. 6.23; W. Kraiker, Die rf. att. Vasen. Kat. Slg. antiker Kleinkunst des Arch. Inst. Uni Heidelberg (1931) 54f. Nr. 208 Taf. 38. 41; LIMC s. v. Marsyas I Nr. 44 (A. Weis) = s. v. Mousa/Mousai Nr. 107. 144) G. Neumann, Gesten und Gebärden (1965) 112. 64 Moira ______gelegten Mantel – zuschaut. Seine Kithara hält eine hinter Marsyas stehende Muse.145 Auf einem Glockenkrater im Louvre (Abb. 18) und einem Stamnos des Pothos- Malers auf der Athener Agora steht eine Muse mit ausgerollter Schriftrolle direkt hinter Marsyas. Ihr Blick ist lesend auf die Schriftrolle gesenkt.146 Und auf einem weiteren Glockenkrater im Louvre (Abb. 19) hält eine Muse mit ausgestrecktem Arm eine zusammengerollte Schriftrolle ihrer etwas zaudernd wirkenden Schwe- ster fast drängend und sie dabei fixierend hin. Von rechts trägt eine Muse einen Koffer heran. Apollon ist auch hier nackt.147 Die Attribute der Musen – es sind Kithara, Plektron, Schriftrolle, Diptychon und Koffer – dienen keineswegs einzig als Erkennungszeichen, dafür, daß es sich eben um Musen handelt. Es ist nicht zu übersehen, daß die Attribute selbst eine Bedeutung tragen. Die Funktion der Musen ist auch nicht einfach nur ein Dabei- stehen, das die Inspiration für den künstlerischen Vortrag personifizieren soll. Die Muse mit der Schriftrolle bzw. dem Diptychon ist in allen Fällen eine vor- auswissende und entschlossene Verkünderin, die das Schicksal verliest bzw. als Rolle übergibt. Eine andere Muse, diejenige, die die Hand zum Mund geführt hat und dadurch zaudernd wirkt, oder Apollon schauen sie aufmerksam an.148 Die Schriftrolle bzw. das Diptychon ist Zeichen für das unabänderliche Schicksal des Marsyas. Dieses Charakterbild der Musen deckt sich mit dem der Moiren, denn der Aspekt des Schicksals ist hier eindeutig faßbar.149

145) Glockenkrater in London, BM 1920, 6.13.2: Queyrel a. O. 125 Nr. 2 Abb. 2 (vgl. a. O. Abb. 1: ebenfalls Muse mit aufgeklappter Schrifttafel). Die Finger an den Mund legt auch die sitzende Muse auf der Lanx von Bizerta aus dem 2. Jh. n. Chr.: H.-H.-v. Prittwitz und Gaffron, in: Das Haus lacht vor Silber. Kat. Rheinisches Landesmuseum Bonn (1997) 177-196. 146) Glockenkrater im Louvre G 490: Queyrel a. O. 125 Nr. 3 Abb. 3; LIMC VI (1992) s. v. Mousa/Mousai Nr. 103 Abb. (A. Queyrel); Stamnos von der Agora P 1052: Queyrel a. O. 127 Nr. 5 Abb. 5 a-c (Abb. 5c Muse mit Rolle). 147) Glockenkrater im Louvre G 516: Queyrel a. O. 125 Nr. 4 Abb. 4; LIMC VI (1992) s. v. Mousa/Mousai Nr. 110 Abb. (A. Queyrel). 148) Queyrel a. O. 145 meinte, daß die erste Phase des Wettkampfes – Marsyas spielt, Apollon ist noch nicht dran – unvereinbar wäre mit einer aktiven, urteilsprechenden Rolle der Musen. Die Musen wären neutral. Im Gegenteil, ist der Pothos-Maler aber so subtil, in dem Moment, indem Marsyas spielt, mittels der Musen auf das kommende Geschehen hinzuweisen. 149) Dieses schicksalhafte Wissen der Musen, in welchem sie den Moiren ganz entsprechen, ist auch an der Überlieferung festzumachen, daß die Musen der Sphinx das Rätsel über den Menschen und seine drei Lebensalter gaben. (Apollodor 3,5,8). ______Moira 65

Auch auf einer apulischen rotfigurigen Pelike in Neapel150 (Abb. 20), die um 400 v. Chr. entstanden ist, läßt sich eine Muse mit starker Annäherung zur Moira hin identifizieren. Eindrucksvoll steht die ein Diadem tragende Muse-Moira mit der geöffneten und beschriebenen Schriftrolle erhöht auf einen Schemel vor dem zer- knirscht und deprimiert auf einem Felsstück hockenden Marsyas mit Zottelfell, der den Kopf in die Hand stützt. Hier ist die Situation des Urteilssprechens nun ein- deutig. Die Göttin verliest Marsyas fast wie eine Richterin sein kommendes Schicksal – damit ist der Übergang von der Muse zur Moira inhaltlich vollzo- gen.151 Rechts neben Apollon befinden sich mit Auloi und Harfe die beiden ande- ren Musen. Die verschleierte Harfespielerin ist eine Figur wie man sie von bräut- lichen Frauengemachsszenen attischer Vasen kennt. Links oberhalb von der das Schicksal Lesenden sitzt zudem in lässiger Haltung eine junge Frau, die dem Eros neben sich eine Schale hinhält. Es muß Aphrodite selbst oder eine von Liebe Ergrif- fene sein. Diese Vase ist das schönste Beispiel dafür, daß zu dieser Zeit in Unter- italien der Marsyas-Mythos in den Darstellungen ohne Athena in eine aphrodi- sische Atmosphäre gerückt wird. Auf einem apulischen Kelchkrater sitzt gar Aphrodite mit einem Spiegel und dem die Zukunft und das Liebesglück vorausdeutenden Glücksrädchen oberhalb von Apollon und Marsyas. Neben letzterem steht eine weibliche Figur, die die Schulter entblößt.152 Dies tut auch eine Sitzende auf einer apulischen Pelike.153 Das Zepter ist als Moirenattribut belegt und wird auch von einer Sitzenden mit Blütenstephané auf einer attischen Marsyas-Vase von ca. 335 v. Chr.154 gehalten. Da am Ende des 5. Jhs. schon die Rolle einer der Musen als Moira anklingt und Aphrodite und Moira im Umfeld der Kontrahenten auftreten, so ist dies wohl eine weitere Unterstützung für die Annahme, daß es im Hellenismus eine Version des

150) Pelike in Neapel Mus. Naz. 81392 (H3231) aus Ruvo: LIMC VI (1992) s. v. Marsyas I Nr. 37 Abb. 151) Auch auf der Musenbasis des Praxiteles oder seiner Werkstatt aus Mantinea (ca. 330 v. Chr.) blickt die Muse mit dem Diptychon in dieses gerade hinein, während die beiden an- deren Musen in der Gestik gespannt abwartend bzw. auffordernd ihr gegenüberstehen. Es scheint der gleiche bedeutsame und zukunftsweisende Moment, den auch der Pothos- Maler festgehalten hat. 152) LIMC II (1984) s. v. Aphrodite Nr. 1492 (A. Delivorrias). 153) H. Sichtermann, Griechische Vasen in Unteritalien aus der Slg. Jatta in Ruvo (1966) K74 Taf. 131. 154) LIMC VI (1992) s. v. Marsyas I Nr. 31. Eine weitere Göttin trägt zwei Fackeln. Es könnte sich daher auch um Demeter und Hekate handeln. Das Szepter als Moirenattribut: siehe E. Simon, Die Geburt der Aphrodite (1959) Abb. 29; dies., Antike Kunst 15, 1972, 21ff. Taf. 6,1-3. 66 Moira ______

Mythos gegeben hat, in der Aphrodite-Moira als dritte Hauptperson auftrat.155 War auf den apulischen Vasen Aphrodite noch separat dargestellt, so ist sie in der spät- hellenistischen Kunst mit der Muse-Moira verschmolzen und tritt nun als eine individualisierte Einzelfigur auf, die einzeln handelt und nicht nur Teil einer Gruppe von drei gleichen Figuren ist. Generell ist die wesensmäßige Übereinstimmung bzw. Austauschbarkeit von Musen und Moiren auch in der kaiserzeitlichen Kunst faßbar: z. B. bei zwei Pro- metheus-Sarkophagen im Louvre vom Anfang des 3. Jhs. n. Chr., wo die Moiren, wie die Musen, die Attribute Globus und Schriftrolle bei sich haben.156

4. Die Verwandlung zur symbolischen Chiffre

Der Sarkophag in Konya ist etwa zweihundertdreißig Jahre nach der großplasti- schen Marsyas-Apollon-Gruppe (ca. 100 v. Chr.), aber vor dem Fries in Hierapolis (Ende 2. Jh. n. Chr.) und dem stadtrömischen Sarkophag im Louvre (290 n. Chr.) entstanden. Sowohl die Chronologie (die Gruppe war im 2. Jh. n. Chr. en vogue, wie die Repliken beweisen) als auch die geographische Nähe zum Ort der Handlung, Kleinasien, (wo vermutlich auch das Urbild der Gruppe entstand) legen es nahe, daß der Bildhauer, der die Dekoration des Konya-Sarkophages entworfen hat, die großplastische Marsyas-Gruppe kannte. Mehr noch, er war mit der Komposition und der Bedeutung der lauschenden Aphrodite-Moira vertraut, denn er hat nicht nur einen Typ kopiert und in einen anderen inhaltlichen und formalen Zusammenhang gesetzt, sondern bewußt mit Komposition und Inhalt gespielt. Der Bildhauer hat etwas Bekanntes aufgenom- men und für etwas Neues benutzt, und zwar so, daß die Abhängigkeit und das Spiel mit den Bedeutungen erkennbar blieb. Dies ist kein Einzelfall:

»Übertragungen von Figurentypen aus einem Bildzusammenhang in einen anderen sind in der Kunst der römischen Kaiserzeit regelmäßig zu beobachten. Es gibt im Repertoire römischer Künstler kaum Figuren die exklusiv für die Illustration nur einer mythologi- schen Begebenheit verwendet werden. Das führt dazu, daß ikonographische Typen als Zeichen einer Bildsprache gebraucht werden können. Ein Teil ihrer Bedeutung wird erst durch den jeweiligen Kontext bestimmt. Dabei sind die Übertragungen von Figurentypen

155) In späterer Zeit findet sich noch auf der Lanx von Bizerta, einer prunkvollen Silberplatte aus dem 2. Jh. n. Chr., eine sitzende Muse, die nachdenklich zwei Finger zum Mund führt. Als Muse charakterisiert sie der Federbusch auf dem Kopf. Vor dem Tischchen vor ihr liegt der Kranz mit dem sie den Sieger auszeichnen wird: H.-H. von Prittwitz und Gaffron, in: ›Das Haus lacht vor Silber‹. Kat. Rheinisches Landesmuseum (1997) 177-196. 156) F. Baratte – C. Metzger a. O. (hier Anm. 31) Nr. 46. 47. ______Moira 67 oder Bildschemata in einen anderen Kontext aber nicht willkürlich … Einen Teil ihrer Bedeutung nehmen die Figuren also in jeden Bildzusammenhang mit.«157

Das Feld zwischen den Eroten auf dem Sarkophag in Konya ist im Rückgriff auf die Dreifiguren-Gruppe ebenfalls von drei Figuren besetzt. Die Position der Sitzen- den in der Mitte des Sarkophagkastens in Konya ist dieselbe, die sie auch innerhalb der Marsyas-Gruppe innehatte. Das Aussehen der Sitzenden bleibt dasselbe: eine jugendliche, erotische Göttin. Als neu hinzugekommene Elemente bilden der Wein und der Vogel eine Allegorie auf die Endlichkeit des Überflusses. Weder kommunizierten die äußeren Figuren durch Blicke miteinander, noch die mittlere mit der rechten, wie an den Halsansätzen noch erkennbar ist. Alle drei blickten gleichgerichtet nach vorne zum Betrachter. Der symmetrische und parataktische Bildaufbau, der Umstand, daß es sich um eine weibliche Trias handelt und daß die äußeren Figuren auf Sockeln stehen, evo- zieren den Gedanken an ein Votivrelief oder Kultbild.158 Das frontale Gegenüber- treten und Fixieren durch den Blick der Drei drängt den Betrachter zu einem sehr direkten Kontakt; es ergibt sich ein Zwiegespräch. Die gleiche interaktive Konstel- lation besteht übrigens auch beim Blick auf die Büsten rechts und links. Ist das Reliefbild des Louvre-Sarkophages ein Kunstwerk, das sich des Mythos bedient, das langsam von links nach rechts »gelesen wird« und keinen direkten Kontakt zwischen Betrachter und dargestellter Gottheit herstellt, so greift die Komposition des Konya-Sarkophages nach einem ikonographischen Schema, das schneller und unmittelbarer zu verstehen ist und dem Kult eigen ist.

Durch die Analyse der Bildsyntax, nämlich der Elemente, die das Bild konstituie- ren, identifiziert der Betrachter die einzelnen, zu einem System zusammengesetz- ten Zeichen und setzt sie assoziativ wieder zusammen. Durch Abstraktion leistet der Betrachter den Prozeß des Lesens und Verstehens. H. von Hesberg hat gezeigt, daß die Schmuckelemente auf Grabreliefs, die in der späten Klassik und im frühen Hellenismus noch unmittelbare Zeichen sind für den Namen, die Tugenden oder den Rang des Verstorbenen, im späten Hellenismus zu Bündeln von Aussagen, also Symbolen, werden und manchmal sogar neue Mythen, bzw. Mythenaspekte mit einem verstärkt abstrakten, allegorisierenden Hintergrund entstehen, bei gleich- zeitigem Verlust von dramatischer Schilderung.159

157) R. Amedick, Antike Welt 33, 2002, 532. 158) Man denkt an späthellenistische Kultbildgruppen wie die von Klaros mit dem sitzenden Apollon in der Mitte, flankiert von der stehenden Artemis und Leto – eine Gruppe, die aus Einzelfiguren zusammengesetzt wurde. 159) H. v. Hesberg, Bildsyntax und Erzählweise im Hellenismus, JdI 103, 1988, 309ff. bes. 312-337. 68 Moira ______

Wenn man die Bildsyntax des Sarkophages in Konya erschließt, so zeigt sich, daß hier eben nicht ohne jedes Verständnis für den Sinn aus irgendeinem Muster- buch wahllos ein Typ herauskopiert wurde und als Versatzstück in einen beliebi- gen Zusammenhang gestellt werden konnte. Sondern – wie es sich auch in vielen anderen Beispielen in der Sarkophagplastik zeigt – an jeden ikonographischen Typ (den Haltung, Kleidung und Attribute ausmachen) sind bestimmte Bedeutungen geknüpft, die eben nicht beliebig austauschbar waren. Andernfalls wäre diese Bild- sprache ja auch nicht mehr lesbar gewesen. Zeichen und Bedeutung mußten anein- andergekoppelt sein. Die Antike kennt keine Bezuglosigkeit in den Elementen ihrer Bildsprache. Die kompakte Bildkonstruktion auf dem Konya-Sarkophag, die ihre Bedeutung nur mit Attributen erklärt, aber ohne Handlung ist, wirkt wie ein Emblem, das alle- gorisch auf einen bestimmten Hintersinn weist. Da nicht mehr eine bestimmte Geschichte erzählt wird, kann die weibliche Trias nur einen abstrakten Begriff per- sonifizieren. Der Bildsinn mußte nicht anhand der Bildfolge abgelesen werden, sondern war auf den ersten Blick durch die »schlagwortartige« Darstellung, eine Art Chiffre, zu erkennen. Es kann nur eine ethische Idee gewesen sein, die so absichtsvoll und re- flektiert mittels Ikonographie und Komposition verbildlicht wurde – während auf dem Louvre-Sarkophag der Mythos naiv gestaltete Handlung zu sein scheint. Das Emblem der drei Moiren führt über eine tatsächliche oder vorgestellte Wirklichkeit hinaus in die Fiktion.160 Die Rezeption, die aus einer Handlung ein statisches Bild macht, formt ein Symbol. Das Auftreten der drei Moiren, die den Lebensfaden spinnen, als eine Art weib- liches Totengericht die Taten eines Menschen dokumentieren und den Tod bestim- men, sind für den Betrachter zweifelsohne ein bedenkenswertes memento mori. Wenn diese Assoziation mit dem Wiedererkennen der zwischen ihren »Freiern« abwägenden Liebes- und Schicksalsgöttin aus dem Apollon-Marsyas-Wettstreit zusammenfiel, muß dies den Gedanken an die unabänderliche Macht göttlichen Urteils wachgerufen haben, eine Macht, die eben auch über Partnerwahl und Lie- besglück oder Liebesleid herrschte. Die Göttin mit dem Diptychon hat einen changierenden Charakter, der zu ihrem Abwägen in der Mitte zwischen den beiden anderen paßt – zwischen ›verheißungs- voll Liebesglück versprechen‹ – und ›vor dem Tode mahnen‹.

Ikonographisch gibt es für die Konya-Moiren, d. h. für eine solche Trias, im Klein- asiatischen Raum keine Vergleiche. Die Facette einer Dreiheit, bei der die mittlere Figur deutlich jünger ist als die äußeren und als unverheiratete ›Nymphe‹ gekennzeichnet ist, finden wir außer auf

160) T. Hölscher, in: Klass. Archäologie. Eine Einführung (2000) 153ff. ______Moira 69 dem Sarkophag in Konya nur bei einer Denkmälergruppe, die aus einem ganz anderen geographischen Raum entstammt, nämlich bei den Matronendenkmälern aus Köln und Umgebung. Eindrucksvollstes Beispiel ist das Votivrelief an drei Matronen, das Dossonia Paterna im 2. Jh. n. Chr. in Köln geweiht hat.161 Die mitt- lere Frau der drei Sitzenden trägt keine Haube im Gegensatz zu den Äußeren, son- dern lang herabfallendes Haar. Dies ist bei allen Matronenreliefs so. Die Haube ist Kennzeichen für die verheiratete Frau, das lange Haar für das unverheiratete Mäd- chen. Ihr Halsschmuck besteht bei allen dreien aus einer doppelreihigen Kette mit Mondsichelanhänger. Die Gaben auf dem Schoß der mittleren und linken Figur sind zerstört, bei der rechten sind ein Früchtekorb und Weintrauben erhalten. Solche Matronen werden gemeinhin als Fruchtbarkeitsgöttinnen gedeutet, der Mondsichelanhänger deutet aber auch die Phase des Verschwindens und Vergäng- lichkeit an. Im Gegensatz zu anderen Matronenreliefs beeindruckt dieses durch die üppige skulpturale Ausstattung des Rahmens. Im Hintergrund werden die drei Frauen durch eine große Muschel beschirmt, Attribut der Aphrodite. Dieses Gewölbe wird durch zwei auf Globen stehende Viktorien mit Palmwedel gehalten. Die seitlichen Pilaster sind durch kleine Nymphen-Darstellungen geschmückt, die tanzen bzw. ein volles Füllhorn tragen. Nicht nur die Abweichung der mittleren Frau als jugendlicher kennen wir vom Sarkophag in Konya, sondern auch den Wein und die mit einem Fuß auf je einem Globus stehenden Viktorien, Schwestern der sogenannten Eck-Niken des Sarko- phages in Konya. Bezüglich der Letzteren besteht nicht nur eine thematische, son- dern zugleich eine frappierende ikonographische Übereinstimmung. Die Symbolik erkennt man unschwer als Bild von Fruchtbarkeits- und Segens- spende in einem umfassenden kosmischen Sinn. Daß darin auch der Moiren-Aspekt enthalten sein könnte, ist bisher nicht ausgesprochen worden.162 Man fragt sich, ob es bezüglich der genannten Bildelemente im 2. Jh. n. Chr. eine Verbindung. zwischen dem Rheinland und Phrygien gegeben haben könnte. Es gibt durchaus diese Möglichkeit. Im Rahmen der Partherfeldzüge sind in den sechziger Jahren des 2. Jhs. Truppen aus dem Rheinland in den Osten beordert

161) Römer am Rhein. Kat. Röm.-Germ. Mus. Köln (1967) Kat. A103 Taf. 43; LIMC VIII Suppl. (1997) s. v. Matres/Matrones Nr. 8 (G. Bauchhenss). 162) Auf einem Matronen-Relief in Trier (Ésperndieu VI 4739), bei dem übrigens auch eine Übereinstimmung dadurch gegeben ist, daß die beiden äußeren Figuren stehen, die mitt- lere aber sitzt, hält die linke Figur eindeutig einen Spinnrocken, die mittlere wahrschein- lich einen Stoff, die rechte wohl eine Spindel. 70 Moira ______worden,163 umgekehrt sind Kaufleute aus Kleinasien in den westlichen Provinzen tätig gewesen.

5. Ein Frauen-Sarkophag – ein Männer-Sarkophag?

Der Sarkophag in Konya ist ein Frauensarkophag. Dies ist nicht nur zweifelsfrei an den beiden Porträtbüsten der Vorderseite ersichtlich; die ganze Auswahl der Bild- motive nimmt darauf Rücksicht: Die in dem geöffneten Portal der linken Schmalseite stehende Person ist eine Frau. Da dieser Sarkophag sich schon durch seine Dachdeckelform als Modell für ein Totenhaus darstellt und das Portal im sepulkralen Bereich den Übergang zwi- schen Leben und Tod symbolisiert, so ist die im Portal Stehende gewiß die Ver- storbene. Die Themen Züchtigkeit, Fruchtbarkeit und geistige Bildung sprechen die bei- den Figuren seitlich des Portals auf der linken Schmalseite an, und diese Eigen- schaften fallen damit auf die von ihnen gerahmte Mittelfigur zurück. Der Typ des Palliatus mit der Schriftrolle, der hier der Ehemann oder Vater der Verstorbenen sein wird, ist in der späten Kaiserzeit Sinnbild für den Gebildeten. Die Verschleie- rung und das In-den-Schleier-Fassen der gegenüberstehenden weiblichen Figur meint Sittsamkeit; zugleich aber ist ihr Raffen des Stoffes über dem Oberschenkel ein Motiv der Fruchtbarkeitsgöttin Ceres. Der Typ der Verstorbenen unter dem Portal entspricht in etwa dem Typ der Hygieia-Hope aus der ersten Hälfte 4. Jh. v. Chr.164 Die Kampfgruppe auf der Rückseite, die eine Konfrontation der Geschlechter dargestellt, streicht die Überlegenheit der Amazone gegenüber dem männlichen Kontrahenten heraus und spielt damit wohl auf die Tüchtigkeit und Keuschheit der Verstorbenen an. Auf der rechten Schmalseite symbolisieren die beiden Adler, als jene Vogelart, die die Seele in den Himmel trägt, die Apotheose der Verstorbenen. So sind auf der Rück- und den Nebenseiten ganz allgemein weibliche Tugenden und ruhmreiches Nachleben der Verstorbenen verbildlicht.165

163) 161 n. Chr. bekommt die in Bonn liegende Legio I Minerva den Marschbefehl. 164 n. Chr. ist sie zurückgekehrt. 164) H. Sobel, Hygieia. Die Göttin der Gesundheit (1990) 24ff. Taf. 5. 165) Ungewöhnlicherweise ist noch ein Girlanden tragender Eros ins Zentrum der Schmalseite zwischen die Adler plaziert, wo normalerweise nur ein Girlandenbogen auftaucht. Eros symbolisiert nicht nur die erotische Liebe im speziellen Sinne, sondern auch ihre Macht als Urpotenz und Schöpfungskraft. ______Moira 71

Schließlich bilden drei Göttinnen die Szene im Zentrum der Vorderseite und wei- sen so auf eine weibliche Sphäre. In bezug auf die beiden Frauenbüsten stellt sich die Frage, ob es sich um Mutter und Tochter oder sonstwie eng Verwandte handelt, die vielleicht beide in dem Sar- kophag beigesetzt wurden. Daß ein und dieselbe Frau mit verschiedenen Frisuren gemeint war, scheint unwahrscheinlich. Der Aufwand des Sarkophages zeigt, daß hier eine reiche und hochgestellte Person bestattet wurde. Seine Besonderheiten, die Handlungsszenen dreier Seiten, als auch die Gliederung der vierten Seite und ihre emblematische Darstellung sowie die Porträtbüsten, beweisen, daß dieses Dekorationsprogramm bewußt für eine Frau entworfen wurde. Möglicherweise handelt es sich bei diesem Sarkophag sogar um eine Auftragsarbeit für eine bestimmte Frau. An dem Marsyas-Sarkophag im Louvre ist eine geschlechtsspezifische Aussage, die auf den Bestatteten verweisen könnte, nicht abzulesen, denn Porträtbüsten gibt es nicht und auch keinen Verstorbenen unter einem Portal. Es ist äußerst zweifel- haft, ob überhaupt oder welche der drei Hauptfiguren, Marsyas, Aphrodite-Urania oder Apollon, mit dem Verstorbenen identifiziert wurde, da die Figuren keine Por- trätzüge haben. Das Thema allgemein, bei dem zwei männliche Wesen die Haupt- akteure sind, ist jedenfalls eher ein den Mann betreffendes. So sind die beiden Sarkophage Beispiel dafür, wie ein Bildelement, nämlich die halbnackte Sitzende, und die dahinter stehende mythologische Vorstellung in einen spezifisch weiblichen oder in einen männlichen Kontext verwoben werden konnte.

III. Mythos

1. Bildsprache und Rezeption a. Der Mythos im Bild

Sprache bzw. Text und Bild sind von Anfang an miteinander verknüpft. Burkert hat darauf hingewiesen, daß es keine mythischen Bilder166 vor dem Ende des 8. Jhs. v. Chr. gibt, also der Zeit, in der sich auch die Schrift entwickelt hat. Er schließt daraus, daß der Betrachter die Bilder, die eindeutig sekundäre Bildungen nach epischen Erzählungen (Homerische Dichtungen) sind, wie ein Schriftstück »lesen« konnte.167 Abgebildet wurden aber zweifelsohne von Sängern immer wieder er- zählte und variierte Sagen und Mythen, nicht etwa schriftlich fixierte Literatur. Deren Kanonisierung und Textualisierung, der bereits eine lange Phase mündlicher Dichtung vorausgegangen sein muß, stand erst ganz am Anfang. Die Entstehung des mündlichen Urzyklus der homerischen Epen, die selbst auch eine Vorgeschichte haben müssen, wird zu Anfang oder um die Mitte des 8. Jhs. angesetzt. Ab 600 v. Chr. ist in den Kompositionen der griechischen Vasenmalerei ein vielfiguriges episches »Erzählen« festzustellen, das verschiedene Sagenkreise ver- bindet. Bestimmte Motive, wie z. B. der Bittgesang des Priamos oder das Verstop- fen von Odysseus’ Ohren mit Wachs beim Sirenen-Abenteuer, tauchen erst dann auf und lassen darauf schließen, daß dies die Zeit ist, in der die homerischen Groß- epen vollendet wurden. Die Entwicklung von Kunst und Dichtung muß etwa paral- lel verlaufen sein, denn der Antrieb dafür, eine Geschichte abzubilden oder in Text zu formen, ist ja der Wunsch, etwas Gelungenes festzuhalten und zu wiederholen.

Dion von Prusa (zw. 40-120 n. Chr.) spricht in seiner Olympischen Rede von den erworbenen Ideen (als Quelle für die Vorstellung vom Göttlichen), die von Dich- tern und – zeitlich später168 – von bildenden Künstlern übermittelt wurden.

166) In dieser Zeit tauchen auch, wahrscheinlich durch orientalische Vorbilder beeinflußt, dä- monische Mischwesen auf: K. Fittschen, Untersuchungen zum Beginn der Sagendarstel- lungen (1969) 199ff. 167) Burkert a. O. 14. Nicht umsonst benutzen wir den Ausdruck Bild-Sprache, wie auch in den heutigen Bildbeschreibungen häufig Ausdrücke aus dem sprachlichen Bereich bzw. aus der Linguistik vorkommen. Diese verraten meist eine kommunikationswissenschaftliche Betrachtungsweise. Zur Verwendung linguistischer Terminologie s. W. Raeck, Gnomon 57, 1985, 362. 168) Dion von Prusa, Olympische Rede (Hrsg. R. Feldmeier u. a., eingl. v. H.-J-Klauck [2000] § 45: »… hinsichtlich der Dichter erkannten sie, daß die ihnen zeitlich zuvor gekommen waren…«). ______Mythos 73

»In den meisten Fällen folgten sie (die Künstler) also einfach den mythischen Erzählun- gen und traten mit ihren eigenen Schöpfungen als deren Sachwalter auf. Einiges führten sie aber auch von sich aus ein und wurden damit in gewisser Weise für die Poeten Nebenbuhler und Berufskollegen auf dem Gebiet der Kunst. Ganz so wie die Dichter über das Gehör ihre Wirkung erzielen, legen sie über den Gesichtssinn das göttliche Wesen für eine größere Zahl von weniger gebildeten Betrachtern aus.«169

Der bildende Künstler, der selbst in schöpferischer Weise Mythen verwandelt, ist also ein Konkurrent des Dichters für die weniger gebildeten Menschen, denen er seine Ideen über das Auge vermittelt. So gibt es schon in der Antike keinen Zwei- fel daran, daß das Verhältnis von Dichter und Zuhörer demjenigen von bildendem Künstler und Betrachter entspricht, indem zwischen beiden Paaren Ideen und See- lenregungen offengelegt werden. Dabei ist nach Dion die Dichtkunst der bildenden Kunst weit überlegen. »Durch die Leistungskraft der Sprache und die Fülle an Wörtern ist sie (die Dich- tung) im Stande, von sich aus alle Regungen der Seele offen zu legen.«170. An Stimme und Wortschatz besitze der Mensch einen unerschöpflichen Reichtum. Im Gegensatz dazu sei der Künstler durch das Material, die unveränderliche Erschei- nungsform und den zeitlichen Aufwand eingeschränkt.171 Die äußere Form seines Kunstwerkes bringe auf symbolische Weise nur bestimmte Wesensmerkmale einer Figur zum Ausdruck.172 Doch die Bedeutung visueller Darstellung in der Antike kann kaum hoch genug eingeschätzt werden. Die Hauptquelle aktueller Ideen und bildlicher Vorstellungen für das allge- meine Publikum war zweifelsohne das Theater mit seinen dramatischen Auffüh- rungen. Das enge Verhältnis von Bühnenstück und bildender Kunst belegen viele Zeugnisse verschiedener Kunstgattungen, die die Thematik des Theaters aufgrei- fen. Vasen, Statuetten, Mosaike, Gemmen etc. spiegeln dramatische Aufführungen. Häufig ist aber nicht zu unterscheiden, ob der erzählte Mythos oder direkt das dra- matische Spiel abgebildet wurde. In der Vasenmalerei vorkommende Details, die aus den überlieferten Bühnen- stücken nicht bekannt sind, lassen auf Varianten der literarisch überlieferten Mythen schließen.173 Gerade im 4. Jh. v. Chr., einer Zeit, aus der uns die meisten Stücke

169) Dion von Prusa a. O. § 46. 170) Dion von Prusa a. O. § 64. 171) Dion von Prusa a. O. § 69b-72. 172) Dion von Prusa a. O. § 77. 173) Im 4. Jh. v. Chr. verfaßte Asklepiades von Tragilos erstmals ein Werk, »Tragödienstoffe«, das verschiedene Mythenversionen vergleicht (FgrHist. 12). Auf Vasen können auch Sze- nen erscheinen, die im Drama nur durch Botenbericht übermittelt wurden. 74 Mythos ______verloren sind, tauchen viele ungewöhnliche Bildversionen auf, die vermuten las- sen, daß die Dichter die Stoffe zu neuen dramatischen Fassungen umbildeten.174 Green und Handley weisen in ihrem Buch zum griechischen Theater besonders darauf hin, wie wichtig es ist, bei Objekten der bildenden Kunst ihren Zusammen- hang mit dem Theater zu erkennen.

»Diese geben uns nicht allein eine deutlichere Vorstellung von den formalen Ursprüngen einer bestimmten Figur oder eines bestimmten Motivs, sondern zunächst einmal vor allem davon, warum und wie ein Motiv in Gebrauch kam. Daraus läßt sich die Vielfalt der möglichen Bedeutungen ermessen, die dieses Motiv zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort annehmen konnte. Wenn man darüber hinaus bedenkt, wie antike Theaterstücke inszeniert wurden, können wir über die Entwicklung der Motive in den bildkünstlerischen Objekten auch Rückschlüsse auf die Verwendung derartiger Motive auf der Bühne ziehen.«175

Zur Erklärung der motivischen und inhaltlichen Elemente von Kunstwerken, die sich auf Mythen beziehen, lassen sich natürlich zusätzlich die antiken Sammlungen mythographischer Literatur heranziehen. Ebenso wie zum Verständnis eines Kunstwerks nur eine formal- und motiv- geschichtliche Untersuchung weiterführt,176 so erfordern es auch die mythographi- schen Texte textkritische Methoden zu ergreifen. Dem ikonographischen Einord- nen von Bildelementen steht das Herausarbeiten von inhaltlichen Teilmotiven und unterschiedlichen Textfassungen gegenüber, dem Vergleich bildlicher Kompositi- onen der Vergleich mit verwandten Geschichten. Einer bestimmten Akzentuierung in der Bildkunst, also der spezifischen Auswahl und Verdichtung einer Darstel- lung, kann, aber muß nicht, eine bestimmte literarische Version entsprechen. An- hand der Abweichungen in der Ikonographie lassen sich unbestritten unterschied- liche Arten des Verständnisses erschließen.177

174) A. D. Trendall, Rotfigurige Vasen aus Unteritalien und Sizilien (1990) 300: »Die Darstel- lungen zahlreicher verlorener Stücke … stellen daher für die Versuche einer textlichen Re- konstruktion eine unschätzbare Hilfe dar.« Zur Veränderung der Bildikonographie im 4. Jh. v. Chr. durch das Zurückgreifen auf Texte, nicht mündliche Überlieferung: L. Guiliani, in: Die Griechische Klassik. Idee oder Wirklichkeit, Berlin, Bonn (2002), 338-341. 175) R. Green – E. Handley, Bilder des griechischen Theaters (1999) 81. 172) Zuweilen findet man in der Forschungsliteratur Äußerungen, die dem Vasenmaler man- gelnde Kenntnisse des Mythos vorwerfen, wenn dieser von der uns überlieferten Literatur abweicht, statt zu vermuten, daß uns eben nicht alle Varianten bekannt sind. 177) Muth, Leben 149, behauptet, daß die Bedeutung eines mythischen Bildes auch ohne Kennt- nis des Mythos dahinter ›erfolgreich‹ erfaßbar war. Dies kann kein ausreichendes Erfassen gewesen sein. ______Mythos 75

Andererseits sind Bildwerke nicht immer nur Illustrationen von Texten, sondern möglicherweise eigenständige Entwicklungen, die unter Umständen auch eigene ideelle Inhalte vermitteln. Bei manchen Bildern könnte es sich um Reflexe spezifi- scher Rituale handeln.178 Der Vorwurf, Bildwerke mythischer Thematik würden nur als reine Illustration der philologischen Mythenüberlieferung aufgefaßt, wurde unlängst von S. Muth wieder erhoben. Muth beklagt, daß vorwiegend die in den Bildern dargestellten Versionen mit denen der Mythenerzählungen verglichen wurden, mit dem Ziel, die Genese der Mythen und ihre narrativen Verzweigungen zu rekonstruieren bzw. man versuche bestimmte Erzählversionen in der Bildkunst nachzuweisen, disku- tiere aber nicht die Funktion der Bildwerke in ihrem Kontext und erkenne nicht ihre eigenständige Akzentuierung.179 Der Blick auf die philologischen Quellen darf aber andererseits nicht vermie- den werden – Muth unterläßt es in ihrem Buch bewußt, die philologischen Quellen zu zitieren, obwohl sie selbst sie natürlich gelesen hat180 – denn eine Beeinflus- sung der Bildkunst durch den erzählten Mythenschatz bzw. die Literatur war zu jeder Zeit möglich und wahrscheinlich. Sprache und Bild als Medium des Gedan- kens sind unlösbar miteinander verknüpft. Die Wechselwirkungen zwischen anti- ker Dichtung und bildender Kunst sind von der Forschung noch längst nicht be- friedigend offengelegt worden. Auch über die besonderen Einflüsse, die den Wech- sel in der Beliebtheit mancher Mythen erklären würden, wissen wir extrem wenig. Die Abhängigkeit von Bild und Sprache ist nicht nur im Bereich des Theaters festzustellen. Es sei nur daran erinnert, daß hinter allen Personifikationen der bil- denden Kunst gedankliche, und sprachliche Vorstellungen stehen. Und nicht nur das Werk der bildenden Kunst kann Anregungen aus der Dichtkunst aufgreifen, sondern auch umgekehrt wurden in der erzählenden Literatur181, der Philosophie182 und Rhetorik183 Kunstwerke beschreibend verarbeitet,184 so daß es im Hellenismus geradezu zu einer Visualisierung kommt.185

178) Schlesier, Kulte, 152ff. (zu K. O. Müller und J. Harrison). 179) Muth, Leben 37. 180) Muth, Leben, benutzt auch ständig Ausdrücke aus der Sprachwissenschaft wie ›Akzen- tuierung‹, ›Artikulation‹ und ›Ausformulierung‹ für bildformale Phänomene. 181) z. B. Longus, Daphnis und Chloe. 182) Cleanthes versucht den Epikurismus zu erklären, indem er seinen Schülern die Personifi- kation der »Freude« beschreibt. Theophrast wünschte sich eine mimische Begleitung für seine Diskussionen. 183) Die Ekphrasis, die Bildbeschreibung, wird zu rhetorischen Übung, also zum Lehrmittel, siehe Philostrat, Eikones. 184) E. Pernice – H. W. Gross, Beschreibungen von Kunstwerken in der Literatur, in: U. Haus- mann (Hrsg.), Allgemeine Grundlagen der Archäologie (1969) 433-447; R. L. Hunter, 76 Mythos ______b. Zum Sinngehalt von Mythenbildern auf Sarkophagen

In der sepulkralen Kunst der Antike spiegeln sich selbstverständlich zum einen die Trauer um den verstorbenen Angehörigen und die emotionale Auseinandersetzung mit dem Tod, als auch ganz allgemein bestimmte gesellschaftliche und kulturelle Werte. Auf klassischen Grabreliefs etwa erscheinen die Verstorbenen und die Trau- ernden mit Hinweisen auf ihre soziale Rolle, die Trauernden sind deutlich in ihrem Abschiedsschmerz charakterisiert. Die kaiserzeitlichen Sarkophage, dekoriert mit mythischen Themen, machen es dem heutigen Betrachter nicht so leicht, da nicht ohne weiteres zu erkennen ist, ob und wie eine Allegorie gemeint ist. Weder ist die allgemeingültige Aussage des allegorischen Bildes noch eine spezielle, auf den Verstorbenen bezogene, ohne zu- sätzliche Informationen eindeutig auszumachen. Dieses Hintergrundwissen ist uns durch die literarischen Quellen gegeben. Aber auch damit bleiben Interpretationsfragen – etwa welche tiefere Bedeutung grausame Themen, wie die Auseinandersetzung zwischen Apollon und Marsyas, auf einem Sarkophag haben. Dies scheint mit Trauer nichts zu tun zu haben. Der mythische Gott Apollon, rachsüchtig und unsterblich, lädt den Betrachter nicht zur Identifikation ein. Was ist das Reizvolle an der eher unangenehmen Figur des Marsyas, der waghalsig und frevlerisch ist, verliert und grausam getötet wird und am Ende doch in die Unsterblichkeit übergeht? Bedeutet Marsyas warnende Abschreckung oder Trostverheißung oder beides zusammen in dem Sinne, daß auch der Frevler ein versöhnliches Ende findet?

Was die Auslegung von mythologischen Reliefbildern auf Sarkophagen betrifft, so besteht Unsicherheit und Uneinigkeit. Übereinstimmung besteht nur in der An- sicht, daß allegorische Deutungen möglich sind. Schon die Vorstellungen betreffend der allgemeinen Aussage eines Sarkopha- ges sind unterschiedlich. H. von Hesberg etwa deutet den Sarkophag als stark auf das Individuum ausgerichtet, weil die Selbstdarstellung an die einzelne Person ge- bunden wäre, während andere darin den Reichtum einer Familie dokumentiert sehen und seine repräsentative Funktion betonen.186

A Study of Daphnis and Chloe (1983); A. Brilliant, L’inspiration des Ekphraseis d’oeuvres d’art chez les romanciers grecs, Rhetorica 8,2 (1990) 153-160; B. Hebert, Spätantike Be- schreibungen von Kunstwerken (Diss. Graz 1983). 185) Ausführlich zu der engen Abhängigkeit von Sprache und Bild: J. Onians, Art and thought in the Hellenistic Age (1979) 95-118. 186) H. v. Hesberg, Römische Grabbauten (1992) 219ff. ______Mythos 77

Von Hesberg beschreibt die stadtrömischen Sarkophage, die ja in Grabbauten standen, als isolierte, von der Raumdekoration losgelöste Monumente, die die De- koration eher störten, als daß sie ihr angepaßt gewesen wären. Dies ist nicht ganz überzeugend. Sarkophag und Grabbau waren zwar nicht architektonisch aufeinander abgestimmt, aber es erscheinen auf Sarkophagen die gleichen mythischen Themen wie auch in den Dekorationen der Grabhäuser, näm- lich an der Wand- und Deckenausstattung in Fresko und Stuck. Die gleichen My- thenbilder gehören seit der späten Republik zur Wohnkultur in den Häusern der Lebenden, aber auch zum Schmuck von Altären und Urnen.187 Die Übereinstim- mung zwischen Sarkophag und Wohnkultur ist nicht so überraschend, wenn man sich klarmacht, daß der Sarkophag das Haus des Toten im Kleinen ist, welches wiederum von dem viel größeren Grabhaus umfangen ist, das seinerseits Analo- gien zur Ausstattung von Wohnhäusern zeigt. Nach S. Muth evozierte die Raumausstattung in den Häusern der Lebenden ein ideelles Ambiente für den Besucher und diente der Identitätsstiftung, folglich auch der Interaktion zwischen Hausherr und Besucher. Die vom Mythos geprägte Le- bensatmosphäre habe der Konstruktion einer Ideal- und einer Traumwelt gedient. Einer Idealwelt, die das Schönere und Bessere vorspiegelte, in der aber auch das Ausleben des von der Gesellschaft Tabuisierten, z. B. ungehemmte Erotik und Ag- gression, möglich gewesen wäre, da der mythische Rahmen eine Distanzierung bot und als Bildungsgut akzeptiert war.188 Das Gleiche muß dann auch für dieselben mythischen Dekorationen im sepulkralen Bereich gelten, nur daß der Hausherr nun tot ist. So wird auch heute in der Forschung wohl überwiegend die Meinung vertre- ten, daß sich der Grabinhaber durch die Sphäre des Mythos mittels Parallelisierung oder gar Gleichsetzung mit dem mythischen Helden in ein heroisches Ambiente projiziert und selbst erhöht. Der Tote wurde indirekt als erotisch, heldisch oder tugendhaft verklärt.189

K. Schefold sprach davon, daß durch mythologische Themen auf Sarkophagen ganz allgemein Tugenden und Jenseitshoffnungen ausdrückt wurden.190

187) Die Wettkampfszene der Marsyas-Geschichte (nicht die Schindung!, die auch auf Gem- men, Münzen, Glastellern, einem Altar und einem Grabstein zu finden ist) erscheint außer auf Sarkophagen nicht mehr in der späteren Kaiserzeit. Die späten Mosaikfußböden (Anm. 303. 305) zeigen das Abführen des Marsyas bzw. die Szene, in der Marsyas Athena beo- bachtet. Das Stuckdeckenbild in der Basilika Sotteranea Porta Maggiore Rom (H. Mielsch, Römische Stuckreliefs [1973] 119), zeigt Marsyas, Athena, Apollon und eine Muse. 188) Muth, Leben 291ff. 189) H. v. Hesberg, Römische Grabbauten (1992) 216ff.; J. Engemann, Studien zur Sepulkral- symbolik der späten römischen Kaiserzeit (1973). 190) K. Scheffold, Römische Kunst als religiöses Phänomen (1964) 65ff. 78 Mythos ______

Die Deutungen des Gelehrten F. Cumont vom Anfang des 20. Jahrhunderts stützten sich auf pythagoreische Literatur und legten alle Mythen auf Sarkophagen im Sinne der pythagoreischen Jenseitshoffnungen aus. Kritisiert worden ist an dieser Sichtweise, daß dann nur Menschen, die mit pythagoreischen Lehren vertraut waren, diese Darstellungen hätten verstehen können, pythagoreische Leh- ren und Allegorien aber nicht allgemein verbreitet waren.191 So vertrat A. D. Nock die extrem gegenteilige Auffassung und ging so weit, zu sagen, daß die Bildschemen ohne Bewußtsein für ihre ursprüngliche Bedeutung kopiert wurden.192 G. Koch möchte den Sinngehalt in verschiedenen Sinnschichten erfassen193: Die erste Sinnschicht ist die mythologische der griechischen Entstehungszeit der Mythendarstellung. Die zweite Sinnschicht ist die römische mit einem allegorisch- sepulkralen Zweck. Hierbei ist die Auswahl des Mythos eine gezielte und beabsich- tigte. Der Sinn der Verwendung ist nicht mehr symbolisch, sondern allegorisch.194

»Nun büßt aber eine solchermaßen angewandte mythologische Szene auch in dieser letz- ten Sinnschicht nicht gänzlich ihre Verbindung zu der früheren ein, und insbesondere ist es ihre originale griechische Symbolik, die niemals ganz durch die römische Allegorie ersetzt oder verdrängt werden kann. Was sich dann herausbildet ist eine neue, über die griechische hinausgehende Symbolik.«195

Die jüngste Forschung, die die spezifisch römische Aussage der Ikonographie, ihre Verwendung und Veränderung untersucht, begreift die Sarkophagbilder in erster Linie als Spiegel kaiserzeitlicher kollektiver Wertvorstellungen.196 Nach P. Blome allegorisieren viele Mythen das Thema ›Die Liebe überwindet den Tod‹ oder stellen die Tugenden der römischen Gesellschaft, z. B. virtus, dar.197

191) G. Koch – H. Sichtermann, Römische Sarkophage, Hdb. der Archäologie (1982) 590f. 192) A. D. Nock, AJA 50, 1946, 140ff. 193) Koch – Sichtermann a. O. 595. 194) Zum Unterschied zwischen Symbol und Allegorie, B. Andreae, Studien zur römischen Grabkunst (1963) 80f.: Das Symbol ist knapp, ein bloßes Zeichen, das sich durch sich selbst erklärt, ohne Handlung. Eine Allegorie ist die Verdeutlichung eines abstrakten Be- griffes durch eine bildgewordene, dramatische Handlung. 195) Koch – Sichtermann a. O. 595f. 196) H. Brandenburg, JdI 82, 1967, 195-245; P. Blome, RM 85, 1978, 435-457; R. Brilliant, Visual Narratives. Storytelling in Etruscan and Roman Art (1984); P. Blome in Giornate Pisane, Atti 1046-1059; L. Giuliani, Jb BerlMus 31, 1989, 25-39; D. Grassinger, in: Myth and Allusion: Meanings and Uses of Myth in Ancient Greek and Roman Society, Sympo- sion Fenway Court, Boston (1994) 91-107. 197) P. Blome, RM 85, 1978, 456f. So auch Grassinger a. O. 104. ______Mythos 79

Wunschvorstellungen von einem heiteren Leben (dionysischer Bereich), von Überhöhung und Sieghaftigkeit (Sieges- und Herrschaftssymbolik) bestimmen die Darstellungen auf Sarkophagen und in Gräbern.198 Nach R. Amedick rufen bestimmte Figurentypen visuelle Assoziationen hervor, so daß der Betrachter diese Typen in bestimmte Themenbereiche einordnet und seine Gedanken auf abstrakte Begriffe gelenkt werden, die mit diesen Themen ver- bunden sind. Darüber hinaus werde ein Sinnzusammenhang zwischen dem Bild und der Funktion des Bildträgers, also des Sarkophages als Behältnis des Toten, hergestellt, wodurch eine mehrschichtige metaphorische Aussage entstehe.199 Die metaphorische Aussage einer Bildsprache mittels bestimmter ikonographi- scher Typen kann natürlich nur von demjenigen verstanden bzw. gedanklich ent- wickelt worden sein, dem diese bildlichen Chiffren und ihr erzählerischer Hinter- grund bekannt waren. T. Hölscher hat in seiner Untersuchung über römische Bildsprache als semanti- sches System dargelegt, daß die Bildsprache der römischen Kunst ein »soziales Faktum ersten Ranges« ist, Stil und Bildsprache einen »ausgeprägten kollektiven und sozialen Charakter« haben und identitätsstiftend für eine Gruppe und Epoche sind.200 Bilder haben für ihn die Absicht, dem Betrachter Wertvorstellungen zu vermitteln. Über Hölschers formal-soziologische Deutung der Bildsprache als ein System, in dem bestimmten Stilformen bestimmte Werte und folglich Themen zugeordnet wurden, hinaus,201 gibt es aber noch eine andere Ebene der Interpretation, die er auch selbst andeutet: »Die breite Reichsbevölkerung bestand weder aus restaurati- ven Ideologen noch aus geschulten Kunsthistorikern – und doch hat diese Kunst breiten Anklang gehabt.«202 Das meint also, weder politische Absichten noch die Vermittlung des griechischen Bildungsideals sind für die Themenwahl ausschließ- lich bestimmend gewesen. Die Bildsprache muß auch für das durchschnittliche Publikum, das zu einer abstrakten Interpretation nicht gelangte, eine elementare Funktion gehabt haben, sonst wäre sie nicht über Jahrhunderte gepflegt worden. Die pythagoreische Interpretation Cumonts wie auch die Verneinung eines Sinnverständnisses bei Nock sprechen letztendlich dem antiken Betrachter ein

198) F. Feraudi-Gruénais, Ubi diutis nobis habitandum est. Die Innendekoration kaiserzeitlicher Gräber Roms (2001) 188f. 199) R. Amedick, Achilleus auf Skyros, in: Akten des Symposiums »125 Jahre Sarkophag- Corpus«, Marburg 1995 (1998) 52-60. 200) T. Hölscher, Römische Bildsprache als semantisches System, Abh. Heidelberger Akad. d. Wissenschaften (1987) 9. 201) Hölscher a. O. 54ff.; zuletzt T. Hölscher, in: A. Borbein – T. Hölscher – P. Zanker (Hrsg.), Klassische Archäologie. Eine Einführung (2000) 151ff. 202) Hölscher a. O. 14. 80 Mythos ______spontanes, gefühlsmäßiges Verstehen wie dem kaiserzeitlichen Künstler schöpferi- sche Kraft unabhängig von seiner Bildung ab. Die Erklärungen Hölschers, Ame- dicks und Grassingers beinhalten etwas allzu Mechanisches und Einseitiges: Der Betrachter erkennt einen Figurentyp oder Figurenkonstellationen und tritt damit quasi zwangsweise einer sozialen Tugend gegenüber. Die elementare Bedeutung der Kunst, speziell der großen Gruppe der Sarko- phage, liegt aber wohl kaum ausschließlich in der Vermittlung sozialer Werte. Es ist nicht allein die Frage nach den Werten der sozialen Gruppe, die den einzelnen Menschen anspricht und bewegt und ihn immer wieder nach den Mythen greifen läßt. Daß alle anderen Aspekte der Mythen zurückgedrängt worden wären, wie Grassinger meinte,203 stimmt meiner Meinung nach nur auf den ersten Blick. An- dere Aspekte, besonders emotionale, waren gleichzeitig mit den sozialen Implika- tionen wirksam. Oder besser gesagt, soziale Implikationen werden nur auf einer emotionalen Schiene angenommen. Diejenigen Deutungen, die das exemplum und die soziale Stellung des Grab- inhabers in den Vordergrund stellen (und die ja letztendlich auf die soziologischen Interpretationsansätze französischer Schule zurückgehen204) scheinen mir zu sehr Zweck, Ziel und Absicht zu betonen, womit eine unbewußte Ebene der Auswahl und des Verständnisses von Kunst ganz außer Acht gelassen wird, nämlich die Frage, wie der Anblick dieser Kunst denn beim Betrachter wirksam wurde und was sie in ihm bewirkte.

c. Mytheninterpretation im allgemeinen

Die Frage nach dem Inhalt des antiken Mythen-Bildes, speziell der Sarkophag- dekoration durch Mythen, führt unweigerlich zur Frage der Mythendeutung über- haupt. Zuallererst gilt der Satz von Renate Schlesier: »Den Zugang zu den Mythen eröffnet nur die Sprache. Wer die in einem Mythos erzählte Geschichte nicht kennt, dem sagen die sie darstellenden Bilder nichts.«205 Darüber hinaus waren griechi- sche Mythen schon in der Antike nicht mehr nur mündlich Erzähltes, sondern be- reits fixierte Literatur, die durch die besten Dichter eine kanonische Form erhalten hatten. Die griechischen Mythen sind bekanntlich schon in der Antike auf unterschied- liche Weise interpretiert worden. Sie wurden für historische Realität gehalten oder zumindest ein historischer Anteil angenommen. Man suchte eine rationale Erklä- rung oder eine metaphorische Deutung.

203) Grassinger a. O. 204) F. Lissarrague – A. Schnapp, in: A. Borbein u. a., Klassische Archäologie (2000) 374ff. 205) Schlesier, Kulte 243. ______Mythos 81

In der Moderne sind von Philologen, Anthropologen, Sozialwissenschaftlern und Ethnologen verschiedene Zugänge zum Mythos herausgearbeitet worden: ritu- alistische, soziologische, phänomenologische, psychoanalytische und struktural semiotische Interpretationen.206 »Es kommt beim Mythos nicht auf den Ursprung an, sondern auf die Rezeption und Wirkung«, schrieb W. Burkert.207 Welche Wirkung ist beabsichtigt? Auch da gehen die Meinungen auseinander. Burkert unterscheidet zwei Verständnisebenen: eine konnotative Dimension der fortlaufenden Erzählung, der wir folgen und die wir intuitiv verstehen – und eine denotative Dimension, »die Beziehung zur außersprachlichen, gemeinsamen ob- jektiven Wirklichkeit andererseits, die wir historisch rekonstruieren müssen.«208 T. Hölscher unterscheidet chronologisch eine primäre Ebene des Mythos in der archaischen und noch früheren Zeit als Aitia (Ursache, Begründung) für religiöse und soziale Institutionen (Gründungsmythen) und eine sekundäre Ebene ab der Klassik, in der Mythen einem aktuellen, politischen Bezug angepaßt wurden.

»Ob man Mythen aus Ritualen herleitete, auf soziale Strukturen oder Verhaltensregeln bezog, als Ausdruck psychischer Archetypen deutete oder als elementare Handlungs- muster verstand – im besten Falle haben solche Erklärungsweisen einen impliziten Sinn, nicht aber die explizite Funktion und Bedeutung der Mythen erfaßt«.209

Hölscher erläutert die Funktion des Mythos, besonders in der kaiserzeitlichen Kunst als politisches Instrument. Er habe als Exemplum zur Legitimation von ge- nealogisch oder ideell begründeten Machtansprüchen gedient. Dabei sei es um ganz partielle Aspekte von Personen oder Ereignissen gegangen, die Bedeutung erlangten210. In manchen Fällen habe eine sekundäre Ideologie dazu führen kön- nen, daß in der Bildkunst die Einheitlichkeit einer mythischen Gestalt gesprengt wurde, weil sie von der ursprünglichen Handlung völlig losgelöst wurde. Die Re- zeption in der Literatur und in der Bildkunst konnte demnach divergieren.211 Daß die politische Instrumentalisierung eine der Funktionen von Mythen war, wird nicht bestritten. Es gibt aber auch Mythen, bei denen eine politische Funktio- nalisierung nicht zu erkennen ist, oder der Verwendungsrahmen macht einen sol-

206) W. Burkert, Mythos – Begriff, Struktur, Funktionen, in: F. Graf (Hrsg.), Mythos in mythen- loser Gesellschaft. Das Paradigma Roms (Hrsg. F. Graf) (1993) 11. 207) Burkert a. O. 19. 208) Burkert a. O. 17. 209) T. Hölscher, in: F. Graf (Hrsg.), Mythos in mythenloser Gesellschaft. Das Paradigma Roms (1993) 69. 210) Hölscher a. O. 72f. 211) Hölscher a. O. 85. 82 Mythos ______chen ganz unwahrscheinlich. Was bei einer Skulptur möglich erscheint, sieht auf einem Sarkophag ganz anders aus. Auf Sarkophagen, die einem Individuum als Totenhaus dienen und nur der Familie im abgeschiedenen Raum des Grabes zu- gänglich sind, ist eine solche gesamtgesellschaftliche Absicht eher auszuschließen, denn sie würde dort keine rechte Wirkung entfalten. Also sind auch andere als po- litische Annäherungen möglich und sinnvoll. Im Mythos sind geographische, genealogische, soziale und politische und kulti- sche Realitäten enthalten. Daß aber weniger implizierte soziale, religiöse oder psy- chische Strukturen für die mythische Geschichte von Bedeutung seien, sondern mehr ihre explizite »Narrativität«, ist Hölschers subjektive Ansicht.212 Genauso wie sich Argumente für eine politische oder soziale Funktionalisierung finden las- sen, genauso schlüssig ist die Offenlegung religiöser oder psychischer Bedeutun- gen. Denn eine mythische Handlung ist, bar jeder externen Funktionalisierung, in erster Linie einfach ergreifend und bewegend für den Zuhörer. Eine Wirkung beim Zuhörer tritt nur ein und eine sekundäre, metaphysische Sinnschicht kann sich überhaupt erst bilden, wenn der Zuhörer emotional gefesselt ist. Ohne implizite Eigenschaften keine explizite Verwendbarkeit. Eine außerhalb seiner selbst liegende Absicht, eine Absicht jenseits von purer Unterhaltung muß ja nicht immer vorhanden gewesen sein. Die Beantwortung der Frage, wozu diente der Mythos, die eng verknüpft ist mit dem wie und warum, muß den Blick nach innen, in den Menschen, wagen. Die Menschen haben das grundlegende Bedürfnis in der Kunst, also auch in der Kunst, die sich mit Mythen beschäftigt, ihre Konflikte zu externalisieren, zu prä- sentieren und durchzuarbeiten, wobei es um Konflikte universaler Natur geht, die jeden Menschen betreffen können.213 H. Dörrie214 meinte, der Mythos mache eine Aussage über die zerstörerische Kraft der Triebe und Leidenschaften. Die tragischen, in ihrem Leiden exemplari- schen Helden seien im negativen Sinne Leitbilder, nämlich abschreckende und warnende Beispiele. Ganz so kann es nicht sein, denn die Akteure sind und bleiben trotz ihres Scheiterns »Heroen«, haben also auch bewunderungswürdige Eigen- schaften. Wären sie nur negativ, würde man sich wohl kaum so lange mit ihnen beschäftigen.

212) Hölscher a. O. 69. 213) siehe Kuhns, Theorie. 214) H. Dörrie, Sinn und Funktion des Mythos in der griechischen und römischen Dichtung (1978) 7-9. ______Mythos 83

Sigmund Freud und sein Schüler Karl Abraham215 haben den Mythos als Aus- druck psychischer Vorgänge beschrieben: Die Mythen sind psychische Gebilde und verarbeiten individuelle psychische Konflikte, die aber alle Menschen betreffen. Sie haben eine Beziehung zum Unbewußten, speziell zu den menschlichen Wün- schen. Wie die Träume, Tagträume und Dichtung sind sie Produkte der mensch- lichen Phantasie, nur daß letztere individuelle Schöpfungen sind, die Märchen und Mythen aber kollektive Schöpfungen der Gemeinschaft eines Volkes.216 Traum und Mythos sind von gleicher Qualität, denn zwischen ihnen gibt es eine Reihe von Analogien; während der Traum aber eine dramatische Handlung vorführt, entspricht der Mythos mehr dem erzählenden Epos. Wie im Traum eine Verdrängung unliebsamer und peinlicher Regungen stattfindet, die der Träumer nach dem Erwachen nicht versteht, versteht auch ein Volk seine Mythen nicht ohne weiteres. Hinter dem Wortlaut, hinter den symbolischen Bildern von Träumen und Mythen, die für Abstrakta stehen können, verbirgt sich ein latenter d. h. unbewuß- ter Inhalt, der durch Entstellung einer Art Zensur unterworfen wurde. Die Entstel- lung in Traum und Mythos geschieht durch Verdichtung und Verschiebung. Verdichtung heißt, daß mehrere Gedankengänge, Anschauungen, Personen oder sprachliche Ausdrücke verschmelzen bzw. sich überlagern und jedes Element folglich mehrdeutig ist. Aus einer Verdichtung entstehen z. B. auch Mischwesen und damit kommt es zur Symbolbildung. Verschiebung bedeutet, daß die mit einem Gedankengang verbundenen Inhalte und Affekte, weil sie dem Gewissen heikel und peinlich sind, in einen minder wichtigen Bereich verschoben werden, wodurch Wichtiges nur noch am Rande er- scheint und Unwichtiges ins Zentrum gerückt wird. Kaum, daß der Träumer erwacht ist, beginnt die sekundäre Bearbeitung des Traumes d. h. während der Erwachte über den Traum nachdenkt und ihn zu rekon- struieren sucht, verändert er bereits Inhalte und die kritischsten Stellen verfallen zusehends der Verdrängung. In ähnlicher Weise sind Mythen im Laufe der Zeit immer wieder Veränderungen durch Bearbeitung unterworfen. Philosophisch-reli-

215) S. Freud, Die Traumdeutung (1900) GW Bd. II/III 356, 695; K. Abraham, Traum und My- thos. Eine Studie zur Völkerpsychologie, in: ders., Psychoanalytische Schriften I (1971) 263ff. Kritische Betrachtung von Freuds Religions bzw. Mythosbegriff z. B. bei H. Hense- ler, Religion – Illusion. Eine psychoanalytische Deutung (1995), R. Vogt, Psychoanalyse zwischen Mythos und Aufklärung (1986) 32ff. 216) S. Freud, Zur Psychopathologie des Alltagslebens (1901) GW Bd. IV: »Ich glaube in der Tat, daß ein großes Stück der mythologischen Weltauffassung, die weit bis in die modern- sten Religionen hinein reicht, nichts anderes ist als in die Außenwelt projizierte Psycholo- gie.« H. Zinser, Das Problem der psychoanalytischen Mytheninterpretation, in: R. Schle- sier (Hrsg.), Faszination des Mythos. Studien zu antiken und modernen Interpretationen (1985) 113-124. 84 Mythos ______giöse oder astrologische Ideen z. B. sind nachträglich übergestülpte sekundäre Be- arbeitungen. Wie der Traum muß der Mythos erst analysiert, der latente Inhalt erst aufge- deckt werden, bevor wir ihn verstehen. Den Träumer kann man aber befragen, Mythen kann man nur durch Vergleiche analysieren. Je tiefer man in den Schichten der Mythendeutung gräbt, um so deutlicher wird, daß es keine universelle Erklärung eines jeden Mythos gibt und, daß es »keine einfache, klare Antwort auf all die Probleme und Ungewißheiten, die die Mythen aufwerfen, geben kann«217. Sehr viele Autoren sind sich über die im Prinzip universelle Verwendbarkeit des Mythos und seine stets aktuelle Zeitlosigkeit einig. Dies bedeutet, in erster Linie die Dichter und dann auch die Künstler passen den Mythos ihren Zeitumstän- den an und machen sich ihn für unterschiedliche menschliche Probleme nutzbar.

d. Der Dichter, der Künstler und die Inspiration

Seit dem 19. Jh. ist der Mythos von vielen Philologen als das Produkt eines Volkes angesehen worden. O. Jahn etwa beschreibt die Mythen als aus der unbewußt schaf- fenden sagenbildenden Kraft des Volkes hervorgegangen.218 Erst S. Freud und K. Abraham spezifizieren diese sogenannte Kraft, die anscheinend allen gemeinsam ist, als typische Wünsche und Phantasien, die in jedem einzelnen Menschen wirksam sind und bei allen Menschen auftreten.219 Es ist nicht anders denkbar, als daß diese Kraft durch einzelne Sänger bzw. Dichter in Worte gefaßt und geformt wurde. So hat Karl Meuli schon vor einem halben Jahrhundert gefordert, sich in der Mythen- forschung mehr dem mythenschaffenden Menschen, dem Dichter, zuzuwenden; denn um das Wesen der Dichtung zu verstehen, müßten wir den Dichter verstehen.220 Für Meuli ist die individuelle Schöpfung der Urquell jeder erzählerischen Tra- dition, die dann von der Gemeinschaft aufgenommen wird. Letztere habe so auch ihren Anteil an der Gestaltung von traditionellen Erzählungen, beherrscht aber werde die mündliche Überlieferung von den Dichtern, durch deren Schöpferkraft immer wieder neue Abwandlungen entstünden. Meuli beschreibt, daß solche schöpferischen Individuen nach allgemein verbreiteter Vorstellung Menschen mit

217) G. St. Kirk, Griechische Mythen. Ihre Bedeutung und Funktion (1987) 16. 218) Schlesier, Kulte 39. 219) K. Abraham, Traum und Mythos. Eine Studie zur Völkerpsychologie, in: ders., Psycho- analytische Schriften I (1971) 263ff. 220) K. Meuli, Mythos, Ethnologie, Volkskunde und Psychiatrie (1950), in: Gesammelte Schrif- ten II (1975) 1031f. (Hrsg. Th. Gelzer). ______Mythos 85 einer besonderen, einfühlsamen psychischen Konstitution sind. Sie sind wie Scha- manen: zugleich Sänger, Seher und Arzt in einer Person. Im mythischen Denken wird die besondere Schöpferkraft begabter Menschen, die Inspiration also, in der Personifikation als Muse manifest, der der Dichter seine Eingebungen verdankt, die aber selbst auch nur Sprachrohr des Zeus ist (Hesiod, Theogonie 1ff.) und verkündet, »was ist, was sein wurde und was zuvor war«.221 Die Inspiration, die eigentlich dem Menschen angehört, wird damit in den Bereich des Göttlichen verschoben Platon beschreibt in dem Dialog Ion (533d ff.) seine abstraktere Vorstellung vom Wesen des Dichters: Die Dichter würden ihre Dichtungen nicht durch Wissen (sophia) hervorbrin- gen, sondern durch Naturbegabung (physei) und in göttlicher Begeisterung (en- thousiasmos), ohne Vernunft durch göttliche Kraft, wie Seher oder Orakelsänger. Die dichterische Begabung bezeichnet Platon mit dem Ausdruck » moira«, was etwa »göttliche Inspiration« heißt, wörtlich genommen: »göttliche Zutei- lung«.222 Die Dichter seien Sprecher der Götter und würden vieles sagen, ohne eigentlich zu wissen, was sie sagen. Wie auch die Rhapsoden könnten sie weder das Gute noch das Schlechte in ihrer eigenen Kunst unterscheiden. Der Dichter sei Opfer seiner eigenen Kunst, weil er Schein und Wirklichkeit nicht unterscheiden könne (siehe auch Platon, Apg. 22b f.) Der Rhapsode meint, wie auch die Rhetoren und Politiker, durch seine verführerische Kraft über die Menschen zu herrschen, obwohl er in Wirklichkeit von ihrer Meinung abhängig ist. Ernst Kris beschrieb die Inspiration als klinisches Phänomen folgendermaßen: Sie ergreift eine Person während einer kurzen Phase, meist ist sie mit einem par- tiellen Verlust von Bewußtheit verbunden, die Motorik ist eingeschränkt oder un- koordiniert, das Sprechen automatisiert. Diese Regressionserscheinungen zeigen eine Einschränkung der Ich-Kontrolle, statt dessen herrscht das Unbewußte. Indem dies als eine von Gott gegebene Stimme interpretiert wird, externalisiert man es, macht aus einem aktiven Geschehen ein passives für die betreffende Person.223 Wenn der bildende Künstler, wie Dion sagt, wie der Dichter mit dem Mythos umgeht und gleichermaßen eine Wirkung erzielt, nur eben über den Gesichtssinn,

221) Hesiod, Theogonie 39. 222) Wenn Platon die numinöse Kraft, die aus dem Dichter spricht, bald als Muse oder theia moira bezeichnet, so zeigt sich auch hier wieder schon durch das verwendete Wort moira, wie auch in der bildenden Kunst, daß Musen und Moiren als fast identisch angesehen wer- den können. Bestätigt wird dies noch durch die Äußerung Hesiods, daß die Musen wissen, was war, ist, und sein wird, also gleiche Fähigkeiten besitzen wie die Moiren, die den Le- bensfaden spinnen, bemessen und abschneiden. 223) E. Kris, Die ästhetische Illusion. Phänomene der Kunst in der Sicht der Psychoanalyse (1977) 163f. 86 Mythos ______so gilt für ihn das Gleiche wie für den Dichter: daß er eine besondere Schöpferkraft und ein besonders Gespür für die wesentlichen psychologischen Probleme seiner Zeit hat. Wer ist letztendlich der mythenschaffende Künstler z. B. bei einem Sarkophag mit seiner Mythenversion? Da kommen verschiedene bzw. mehrere Personen in Frage. 1. Der Dichter, auf den eine nur mündlich weitergegebene Geschichte, ein Text oder die Spielvorlage eines Bühnenstückes zurückgeht. 2. Der Regisseur, der eine Szene übersichtlich und eindrucksvoll auf der Bühne gestaltet, die wiederum 3. einem bildenden Künstler oder einem gebildeten Auftraggeber als Anregung für ein Bild, einen Musterentwurf dient, der wiederum 4. von einem Bildhauer für ein Relief verwertet oder kopiert wird. Im Einzelfall können wir das kaum je belegen.

e. Die ästhetische Illusion

Gleichermaßen wie der Dichter nach Platons Vorstellung Schein und Wirklichkeit nicht unterscheiden kann, erliegt auch der Zuhörer einer Illusion. Platon beschreibt im Ion (535 d. f.), wie der Zuschauer bei einer Vorführung so von Emotionen ge- packt ist, daß er vergißt, im Theater zu sitzen und nicht erkennt, daß er für sich selbst nichts befürchten muß. Diesen Vorgang nennt man ästhetische oder dramati- sche Illusion. Besonders im Drama wird eine Realität vorgespielt, die den Zu- schauer die Bühnensituation vergessen läßt.224 In der Komödie aber wird die Illu- sion durch Anspielungen durchbrochen, mit dem Verhältnis Publikum- Schau- spieler wird gespielt, der Zuschauer wird in der Parabase direkt durch den Chor angesprochen und einbezogen. Weiter vergleicht Platon (Ion 535eff.) das Verhältnis zwischen Werk, Dichter und Zuschauer mit drei Eisenringen, die durch einen Magneten angezogen werden und selbst dadurch eine anziehende Kraft annehmen. Dem Magnet entspräche die göttliche Kraft, die durch alle diese Ringe die Seelen der Menschen ziehe, wohin sie wolle. An jedem Ring hängen auch noch andere Menschen: Chorleiter, Chor- lehrer und Sänger. Mit diesem allegorischen Bild beschreibt Platon eine wechselseitige Beeinflus- sung zwischen Werk, Dichter und Zuschauer. Sigmund Freud vertrat in seiner Schrift »Der Dichter und das Phantasieren« von 1908 die Auffassung, daß der Schriftsteller intuitiv den verborgenen psycholo- gischen Konflikt einer Geschichte ›richtig‹ literarisch gestaltet, so daß der Leser

224) Besonders eindrucksvoll zu sehen ist dieser Vorgang bei Kindern im Theater. ______Mythos 87 affektiv davon betroffen wird. Dem aufnehmenden Publikum werden zwischen den Zeilen bestimmte Rollen angeboten, die den eigenen Beziehungsmustern analog sind.

»Die Menschen haben das Bedürfnis in der Kunst ihre Konflikte zu externalisieren, zu präsentieren und durchzuarbeiten. Die Kunst ist aber nicht nur einfach das Durcharbei- ten individueller Konflikte, sondern Präsentation universaler gemeinschaftlicher Kon- flikte, in die jeder Mensch verstrickt ist.«225

Der Leser oder Betrachter nimmt aber nicht nur passiv auf, sondern reagiert, vom Künstler dazu angeregt, emotional auf die Darstellung. Er filtert für sich jene Aus- sagen heraus, die für seine psychische Situation relevant sind, etwa ein gemeinsa- mer (unbewußter) Konflikt – es kommt zu einer partiellen Identifikation – und trägt aktiv eigene Phantasien in die Geschichte hinein, findet sich dort wieder und gewinnt eine bestimmte ihn betreffende Botschaft, eine spezielle persönliche Be- deutung. Das eigene Gefühl wird in eine Figur hinein gelegt und zwar indem eine biographisch relevante Szene oder ein unbewußter Konflikt wiederbelebt wird. Die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit wird kurzzeitig verwischt (Ästheti- sche Illusion). »Um jedoch erkennen zu können, daß die erlebte Bildwelt fiktiv ist, muß der regressive Zustand des Erlebens natürlich wieder verlassen werden. Not- wendig ist jetzt der distanzierte Standpunkt des Betrachters vor dem Bild, in dem er gewissermaßen Abstand zu sich selbst gewinnen kann.«226 Oft sind vielfältige Auslegungen eines Werkes möglich, und ob die empfan- gene Nachricht der Intention des Künstlers entspricht, ist nicht immer sicher und letztendlich bleibt immer etwas Ungeklärtes und Rätselhaftes. Gerade das macht den Reiz eines Kunstwerkes aus.227 Freud hat so einen fundamentalen wirkungsästhetischen Effekt aufgedeckt, der darin liegt, daß eine im Leser verborgene Wunschphantasie aktiviert wird.228 Bereits in der »Traumdeutung« von 1900 hatte Freud die Verwandtschaft von epischer Fiktion (Mythen, Sagen, Redensarten, Witze) und (Tag)träumerei (Phan- tasieren) wegen ihrer gemeinsamen Symbolik erwähnt.229

225) Kuhns, Theorie 120. 226) G. Greve, in: Kunstbefragung. Dreißig Jahre psychoanalytische Werkinterpretation am Berliner Psychoanalytischen Institut (Hrsg. G. Greve) (1996) 138. Zum Thema zuerst E. Kris, Die ästhetische Illusion. Phänomene der Kunst in der Sicht der Psychoanalyse (1977) 40ff. 227) Dies., ebd. 7. 135ff. 228) S. Freud, Der Dichter und das Phantasieren (1908) GW Bd. VII 312-323. 229) S. Freud, Die Traumdeutung (1900) GW Bd. II-III 356; ders., »Über den Traum, GW Bd. II-III 699. 88 Mythos ______

Die Werke der bildenden Kunst sind – wie alle andere Kunst – Verdichtungen eines Themas und animieren zur Interpretation. Die Erkenntnis, daß der Künstler nicht der alleinige Verantwortliche für die Wirkung des Kunstwerkes ist, sondern daß der Betrachter einen erheblichen Eigenanteil leistet, indem er das Bild in per- sönlicher Weise aufnimmt und darauf reagiert, ist auch von der kunstwissenschaft- lichen und archäologischen Forschung aufgenommen worden.230 Das Kunstwerk aktiviert im Betrachter bewußte und unbewußte Affekte, Wünsche und Erfahrun- gen seiner eigenen Entwicklung, daher sind so unterschiedliche Interpretationen möglich.231

Da wir aber über die antiken Künstler meist nichts wissen und auch nur äußerst selten die Reaktionen der Betrachter überliefert sind, kommt üblicherweise nur eine Interpretationsmethode in Frage, bei der man sich allein auf das Werk stützt. Die Frage: was wollte der Künstler sagen? und welche Botschaft hat der Betrachter verstanden? wird im individuellen Sinne in der Archäologie normalerweise über- haupt nicht gestellt. Die Suche nach der bewußten und unbewußten Bedeutung eines Kunstwerkes muß sich aber gar nicht auf die Biographie des Künstlers oder die Reaktion des Publikums stützen, sondern kann allein vom Objekt ausgehen. Dies wird in der ar- chäologischen Forschung meist nicht mal im Ansatz versucht. Beispielsweise läßt sich Zanker auf die obige Frage gar nicht weiter ein, mit dem Hinweis, daß ja die Motive für Kunstproduktion unbewußt waren232, Höl- scher, obwohl für ihn die römische Bildkunst in erster Linie Funktionsträger für gesellschaftliche Werte und politische Aussagen ist, ist da optimistischer: »… sie (die Forschung) wird die bewußten oder unbewußten Regeln ermitteln, nach denen die Bildwerke in Funktion gesetzt wurden…«.233 Kunstproduktion und -rezeption werden meist ausschließlich als Regungen der gesellschaftlichen Gruppe gesehen, in der sie entstanden sind. So wird das Wech- selspiel zwischen dem Künstler, seinem Werk mit einer bestimmten Bildsprache und dem aufnehmenden Betrachter auch von manchen Forschern auf eine semio- tisch-kommunikationswissenschaftliche Ebene reduziert: Das Kunstwerk ist Zei- chen, die Bildsprache »Syntax« in einem bestimmten gesellschaftlichen Raum zwi- schen dem Künstler als Sender und dem Betrachter als Empfänger.234

230) P. Halliday (Hrsg.), Narrative and Event in Ancient Art (1993) 5. 231) Kuhns, Theorie 33ff. 232) P. Zanker, in: Klassische Archäologie. Eine Einführung (2000) 224. 233) T. Hölscher, in: Klassische Archäologie a. O. 156. 234) L. Schneider – B. Fehr – K.-H. Meyer, Hephaistos 1, 1979, 7-33; K.-H. Meyer, ebd. 42- 60; ders., Hephaistos 2, 1980, 7-53; ders., Hephaistos 9, 1988, 7-41. ______Mythos 89

Was die Beziehung zwischen Künstler, Werk und Betrachter angeht, so gibt es in jedem Falle nicht nur eine reflektierte Ebene – also die bewußte Auswahl von Thema, Stil und Ausgestaltung auf Seiten des Künstlers und die verstandesmäßige Erschließung des Dargestellten durch den Betrachter –, sondern es ist auch an den unreflektierten, spontanen Schöpfungsakt und die unreflektierte Faszination des Betrachters zu denken. Die emotionale und psychologische Dimension eines Kunstwerkes konnte jeder Beliebige, dem die griechisch-römische Bildsprache vertraut war, unmittelbar verstehen – in dem Sinne, daß durch eine dargestellte Ge- schichte unmittelbar elementare Gefühle des Menschen angesprochen wurden. Die Aufnahme der Symbolik konnte und sollte unmittelbar Emotionen hervorrufen. Das einzelne Werk ist nicht nur in seiner allgemeinen sozialen und historischen Bedingtheit erforschbar; die bildliche Chiffre steht nicht nur für Wertvorstellungen der Gesellschaft, sie ist ohne eine psychische Ebene nicht denkbar. Wir können zwar nicht die ästhetische Illusion eines einzelnen Menschen der Antike gegenüber einem Mythos aufdecken, dazu haben wir keine Quellen; wohl aber lohnt sich der Versuch, anhand der Analyse der unterschiedlichen Versionen dieses Mythos in Kunst und Literatur die verschiedenen Verständnismöglichkeiten herauszuarbeiten.

2. Die verschiedenen Verständnisebenen des Marsyas-Mythos

Die mythologischen Allegorien auf Sarkophagen zielen auf ein positives Bild des Verstorbenen. Was hätte der römische Betrachter des 2. Jhs. n. Chr. angesichts eines Marsyas-Sarkophages assoziieren können, wo doch dieser Mythos überhaupt nichts Positives zu haben scheint oder doch zumindest nicht klar ist, worin der Reiz des Negativen besteht? Was die Methode der Interpretationssuche anhand literarischer Quellen angeht, so ließe sich einwenden, daß der antike Betrachter eines Sarkophages gewöhnlich wohl kaum alle oder auch nur einen Großteil der unterschiedlichen literarischen Versionen der Mythographen seiner oder früherer Zeit kannte. Das synoptische Vergleichen der Mythenversionen des heutigen Forschers war ihm also nicht mög- lich, es war aber auch gar nicht nötig. Er assoziierte frei nach seinem Bildungs- stand und nach seiner emotionalen Befindlichkeit. Uns dient die Betrachtung der Abweichungen der Mythenversionen in der Lite- ratur und auf archäologischen Denkmälern verschiedener Art und Entstehungszeit aber dazu, den Kern des Mythos – das was der Künstler für wichtig hielt – wie seine wechselnden Deutungen im Laufe der Zeit besser zu erkennen; wie es auch nicht darum geht eine ›richtige‹ Interpretation auszumachen, sondern den Spiel- raum von Deutungsmöglichkeiten in seiner ganzen Breite auszuloten. 90 Mythos ______

Die Sarkophage sind nur eine Gruppe, die fast am Ende einer langen Reihe von Objekten steht, die mit dem Marsyas-Mythos geschmückt wurden. Diese Kunst- werke bezeugen eine lange geistesgeschichtliche Entwicklung, die einem gebilde- ten Betrachter zumindest in Teilen auch bekannt gewesen sein kann.

a. Das Charakteristische des Offensichtlichen im Relief

Grundsätzlich sind die im Reliefbild sichtbaren Personen der Ausgangspunkt der Suche nach der Aussage der Darstellung. Der bestimmte Mythos, um den es auf einem Bildträger geht, das vordergründige Thema ist meist leicht durch Handlung und Attribute der Personen sowie sonstiges Beiwerk wie landschaftliche Elemente, Architektur oder Möbel erkennbar. Bevor sich der Betrachter aber auf die Suche nach einer Allegorie hinter der mythischen Handlung im Bild macht, kann er erst einmal das Offensichtliche ohne einen Hintersinn auf sich wirken lassen. Dieses Offensichtliche ist das, was der Betrachter erkennt, ohne Vorkenntnisse über das Thema zu haben, ohne also litera- risch-mythologisch vorgebildet zu sein. Er wird die Darstellung mit seinen persön- lichen Erfahrungen in Zusammenhang bringen, mit seiner Gegenwart und Alltags- sphäre. Nehmen wir einmal an, der antike (oder auch heutige) Betrachter habe den My- thos nicht gekannt: Alle Mythologie beiseite gelassen, sieht man unvoreingenom- men in der Hauptszene des Marsyas-Sarkophages im Louvre nichts weiter als eine abwartende, erotische junge Frau zwischen zwei männlichen Figuren, von denen der eine gerade Aulos spielt, der zweite, der Kitharist, schon gespielt hat oder noch spielen wird. Die Mittel der Bildsprache, die jeweilige Plazierung, Haltung, Gestik und Blickrichtung der Figuren erlauben nun weitere Schlüsse. Die Spannung zwischen den männlichen Figuren wird durch die antithetische, spiegelsymmetrische Hal- tung der Männer erreicht und durch ihr gegenseitiges Fixieren über den Kopf der Sitzenden hinweg. Daß sie zwischen den beiden sitzt, sei dies vielleicht auch etwas nach hinten gerückt zu denken, bedeutet, sie steht auch beziehungsmäßig zwischen ihnen. Sie ist zugleich das Zentrum, also die wichtigste Figur. Ihr Blick zeigt, für wen sie sich entscheidet, wen sie erhört im doppelten Sinne des Wortes. Sie ist zugleich neutrale Schiedsrichterin als auch Zankapfel. So erschließt sich ohne weitere Kenntnisse das klassische Thema einer Liebes- wahl, einer Dreiecksgeschichte. Es handelt sich quasi um eine Umdrehung des Paris-Urteils. Keiner Frau und keinem Mann dürfte dies fremd gewesen sein. Am rechten Rand des Sarkophages ist das Ende des Verlierers zu sehen. Die Rachsucht des Gewinners führt zum Tode des Verlierers. Allgemeines Thema ist ______Mythos 91 damit die Unausweichlichkeit des Schicksals, das hier in den Händen eines weibli- chen Wesens liegt, oder genauer die Unerbittlichkeit gegenüber dem Schwächeren.

b. Die mythisch-agonale Ebene. Wesen und Bedeutung des Wettkampfes

Die den Marsyas-Mythos bestimmende Situation des Wettkampfes, die auch auf allen Sarkophagreliefs der wichtigste Teil ist, bedarf zum Verständnis der genaue- ren Betrachtung. Der Vergleich der verschiedenen meist kurzen Mythenversionen macht die Umstände aber nicht unbedingt klarer. Mehrere Fragen kommen auf:

Welches Motiv treibt Marsyas zur Herausforderung des Apollon? Der Mythos des Marsyas wird gemeinhin zu den Mythen mit Hybris- oder Heraus- forderungsmotiv gerechnet. Zum Beweis, daß Hybris die hervorstechende Eigen- schaft sei, die Marsyas antreibt, wurde neben Apuleius Äußerungen stets eine Pla- tonstelle herangezogen:235 Zwar wird im Symposion 215b das Thema der Hybris angesprochen – Alki- biades behauptet, daß Sokrates dem Marsyas gleiche, und Sokrates nennt er dann hochmütig – es ist aber offensichtlich nicht gemeint, daß Sokrates hochmütig wäre, weil er die Götter herausfordere, sondern, weil er leugnet, die Menschen durch seine Sprache zu bezaubern, ja zu erschüttern, so wie Marsyas durch seine Flöten- musik bezauberte. Sokrates gebe sich die Haltung, als ob er alles verkenne und nichts wüßte, im Innern aber strotze er vor Weisheit, sagt Alkibiades, und diese Haltung wäre silenhaft. Das Sein-Licht-unter-den-Scheffel-Stellen entspräche einer hohlen Silensfigur, in der ein Götterbildnis verborgen ist. Im Umkehrschluß ist zu folgern, daß auch Marsyas hier nicht wegen seiner Aufforderung an Apollon als hochmütig gilt, sondern, weil er seinen Einfluß, seine Fähigkeit andere bezaubern zu können, leugnet.

»Ich behaupte nämlich, am ähnlichsten sei er jenen sitzenden Silenen in den Werkstätten, welche die Bildhauer mit Syrinx und Flöte in der Hand darstellen, und wenn man sie öff- net so zeigt sich, daß sie im Innern Götterbilder enthalten. Und wieder behaupte ich, er gleiche dem Satyr Marsyas. Daß du diesem an Gestalt ähnlich bist, Sokrates, wirst du wohl selbst nicht bestreiten, wie du ihm aber auch sonst gleichst, höre weiter. Hochmütig bist du oder nicht? Denn wenn du leugnest, stelle ich Zeugen. Oder etwa nicht Flöten- spieler? Ein weit wundersamerer als jener. Denn mittels Instrumenten bezauberte jener mit der Gewalt seines Mundes die Menschen und auch jetzt noch, wenn einer nach seiner Weise Flöte spielt. Denn was Olympos spielte, rechne ich Marsyas zu, der es lehrte. Ob

235) Weiler, Agon im Mythos 37. 92 Mythos ______nun ein tüchtiger Flötenspieler spielt, oder auch eine schlechte Flötenspielerin, sein Werk ist es, das überwältigt und offenbart, wen nach den Göttern und Weihen verlangt, dadurch, daß er selbst göttlich ist. Du aber übertriffst jenen nur darin, daß du ohne In- strument mit nackten Worten ganz dasselbe vollbringst.« (Platon, Symposion 214d)

»Denn das ist nur seine äußere Umhüllung, wie beim ausgehöhlten Silen. Aber innen, wenn man ihn öffnet, was glaubt ihr Männer und Freunde, wie er strotz vor Weisheit.« (Platon, Symposion 216d) (Übersetzung Kurt Hildebrandt)

Bei der ja nur beiläufig gegebenen Charakterisierung des Marsyas liegt das Ge- wicht nicht auf Überheblichkeit oder anderen negativen Eigenschaften, sondern Marsyas wird im positiven Sinne als der geschildert, der bezaubern kann und weise ist. Im weiteren Sinne meint dies, daß der Philosophierende die Scheinhaftigkeit von Äußerlichem erkennt und zu wirklicher Erkenntnis geführt wird. Ausdrücklich weise genannt wird Marsyas auch von den Schriftstellern Xeno- phon und Diodor, die zu den früheren Autoren in der langen Überlieferungskette gehören. Bei Pseudo-Palaiphatos, der ins 4. Jh. v. Chr. datiert wird, erscheint Marsyas weniger positiv. Er wird als Bauer und Hirte benannt und erstmals wird der drän- gende Ehrgeiz geschildert, Apollon zu überragen, und die ihn beherrschende Ver- blendung: Er erkennt nicht, daß der Aulos nur deswegen hervorragend spielt, weil ihm eine göttliche Macht innewohnt.236 In der Version des Hyginus scheint dem Satyr das Flötespielen nicht mehr so leicht zu fallen, denn Hyginus weist darauf hin, daß viel Üben nötig war, bis Mar- syas so gut war, daß er es wagen konnte, Apollon herauszufordern. Bei Ovid (Fasti 704-6) kennt der Satyr zuerst die Funktion des Aulos nicht und gibt dann vor den Nymphen mächtig an. Apuleius schließlich (2. Jh. n. Chr.) schildert Marsyas denkbar negativ, als un- gebildet, sich selbst überschätzend und innerlich und äußerlich verwahrlost. Hybris im Sinne dummer Selbstüberschätzung ist also nur bei einigen späten Autoren das Motiv für die Herausforderung des Gottes; bei den anderen, speziell Diodor, wird Marsyas’ hohe Einschätzung seiner Fähigkeiten als gerechtfertigt an- gesehen und das Messen dieser Kunstfertigkeit als angemessen. Marsyas ist durch die berechtigte Aussicht auf Erfolg motiviert, nicht durch Verblendung. Dement- sprechend gewinnt Marsyas hier auch in der ersten Runde des Kampfes. Bei den verschiedenen Charakterisierungen des Marsyas stehen sich demnach kontrastvoll ein zurückhaltendes, seine Macht versteckendes Wesen und ein über- hebliches und triumphierendes gegenüber.

236) Auch Weiler spricht von übersteigertem Geltungstrieb: Weiler, Agonales in Wettkämpfen (1969) 28. ______Mythos 93

Daß die Figur des Marsyas ganz gegensätzliche Bewertungen hervorruft, Be- wunderung und Verachtung, jedenfalls nicht gleichgültig lassen kann, wird uns später noch beschäftigen.

Platon sagt durch Alkibiades, daß die Fähigkeit, in göttlicher Art zu spielen, beim Aulos-Spieler den Wunsch nach göttlichen Weihen weckt (»sein Werk … offenbart wen nach Göttern und Weihen verlangt, dadurch daß er selbst göttlich ist« s. o.). Dies bedeutet, wäre Marsyas der Sieg zuerkannt worden, so hätte er damit Un- sterblichkeit erlangt. Unsterblichkeit ist das angestrebte Ziel des Satyrs, nicht etwa der pure Triumph an sich. Denn die Satyroi werden in der antiken Literatur auf eine Stufe zwischen Mensch und olympischen Gott gestellt; sie sind göttlich, aber trotzdem sterblich – gleichwie sie äußerlich zwischen Tier und Mensch stehen.

Was wird in dem Wettkampf verglichen? a) »peri sophias« – um die Kenntnis oder Weisheit der Kontrahenten gehe es, sagt Xenophon, Anabasis I 2,8. Handelt es sich hier um rein musikalische Kenntnis? Auch bei Hyginus 191 spricht Apollon – nachdem Tmolos zuerst Apollon den Sieg zusprechen wollte, Midas ihm aber widersprach und für Marsyas stimmte – merkwürdigerweise Midas Verstand als Beurteilungsmittel an, nicht etwa Gehör und musikalische Bildung. »Quale cor in iudicando habuisti, tales et auriculas habebis.« (Wie dein Verstand war, den du bei deinem Urteil hattest, so sollen auch deine Ohren sein. – cor kann allerdings sowohl Herz als auch Verstand meinen.) Der Leser ahnt, daß es bei der Auseinandersetzung nicht nur um Musik, son- dern auch um Machtverhältnisse geht. Der bedrohte Midas wird unverzüglich mit der Verwandlung seiner Ohren in Eselsohren bestraft. Da der Schiedsrichter es bitter bereuen muß, sein Urteil frei gefällt zu haben, kann es nicht um einen ge- wöhnlichen, schon gar nicht um einen fairen Wettkampf gehen. Daß Marsyas als besonders weise galt, sehen wir auch an der kurzen Überliefe- rung, daß Midas ihn einfangen ließ, um die Geheimnisse des Lebens von ihm zu erfahren.237 Die Weisheit als wichtiges Charakteristikum des Marsyas ist indirekt auch in dem bereits oben genannten Vergleich mit Sokrates in Platons Symposion 216d angesprochen. b) »peri mousikes« – Musikalität, nennt Apollodor I 4,2. c) »peri technes« – Kunstfertigkeit der Spieler, technische Ausführung, nennt Dio- dor III 59,2.

237) Plutarch, Consolatio ad Apollonium 115 C; vgl. Herodot 8,138. 94 Mythos ______

Unter technes ist auch das Umdrehen der Kithara, das bei Hyginus 165 (»Apollo citharam versabat idemque sonus erat,« Apollon drehte die Kithara um, der Klang blieb derselbe) und Apollodor I,8.2 genannt wird, einzuordnen.

d) Eine Rolle spielt bei den Autoren Hyginus und Diodor der Klang der Instru- mente, der durch Hören beurteilt wird: Hyginus 165: bezeichnet den Flötenklang des täglich übenden Marsyas als im- mer süßer (»sonum suaviorem in dies faciebat«). Diese Äußerung betont den ver- führerischen Charakter von Musik bzw. speziell der Flötenmusik. Diodor III 59,2 beschreibt, wie in der ersten Runde des Wettkampfes Marsyas die Zuhörer durch das Neue und Ungewohnte des Klanges in Erstaunen setzt und sein Spiel als das melodischere empfunden wird. Beide Textstellen zeigen, daß diese besondere Art der Musik die Macht hat, den Zuhörer zu fesseln.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, daß es bei den früheren Autoren um Wissen, bei den späteren aber mehr um musikalische Technik im Wettkampf geht, und wir Heutigen fragen uns, wie sich Weisheit durch Musik messen läßt. Tat- sächlich ist es aber so, daß Weisheit mit Musik geradezu gleichgesetzt wurde und die Autoren im Verständnis der unter a-c aufgezählten Begriffe alle nahe beieinan- derliegen. Nur unter d) liegt die Betonung auf der emotionalen Seite von Musik. Die Verknüpfung von Musik und Wissen wird durch die Kenntnis der antiken Vorstellung verständlich, daß die Erlangung geheimen Wissens von einem be- stimmten Geisteszustand abhängig sei, eine Art Verzauberung oder Trance. Der Gott Apollon verzaubert belebte und unbelebte Natur durch sein Spiel. Auch der leierspielende Orpheus ist gleichermaßen Sinnbild für die Verzauberung durch die Musik und für eine hohe kulturelle Bildung. In der mittels Musik hervorgerufenen Entrückung nimmt der Mensch göttliches Wissen auf.238 Derjenige, der andere Menschen durch Musik verzaubern kann, hat seinerseits Macht über Emotionen und Wissenszugang. Das ist eine Vorstellung, die sicherlich älter ist, als die Vorstellung von Er- kenntnis durch Wissenschaft und Logik; sie stammt aus der Vorstellungswelt des Schamanentums und ist vielleicht Hinweis auf das Alter des Mythos, da die grie- chische Kultur im 6. Jh. v. Chr. Themen oder Motive skythischer Dichtung über- nommen hat.239 Verglichen wurde beim Wettkampf zwischen Apollon und Marsyas ursprüng- lich das ›Wissen‹ im Sinne von einer kulturell hochstehenden Geisteshaltung und

238) M. Eliade, Geschichte der religiösen Ideen Bd. I (1978) 253f. 239) Karl Meuli, Gesammelte Schriften Bd. 2 (1975) 865ff. ______Mythos 95 von den Göttern gegebenen Gabe – nicht die Virtuosität des Spieles, die hand- werkliche Beherrschung des Instruments. Die Frage war, welche Art der Musik – was natürlich vom Instrument abhängig war, die bessere, die »wissendere« sei. Es spielt durchaus eine Rolle, daß Marsyas ein Satyr, also ein Wesen der wilden Natur ist, und sein Aulos ein einfaches Instrument, Apollon aber ein kultivierter Gott, dessen Kithara schwieriger herzustellen ist.

Hinzu kommt, daß der Begriff »techne«, der bei Diodor erscheint, in der Hoch-Zeit des Marsyas-Mythos im 4. Jh.240 im Kreis der Philosophen Athens eine Konnota- tion hatte, die über »Kunstfertigkeit« weit hinausgeht und mit dem zu dieser Zeit von Xenophon in der Anabasis erwähnten Begriff sophia zusammenpaßt. Das Ausüben handwerklicher Künste wurde bei Platon als Metapher für das Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis und die sich daraus ergebende sittliche Einsicht verwendet. Die vollkommene techne der Handwerker war ein Paradigma sowohl für praktischen als auch theoretischen Vernunftgebrauch und ist im weite- ren Sinne mit den Ordnungsprinzipien im Kosmos, im Staat und für das Indivi- duum gleichgesetzt worden. Fachwissen führt zu Einsicht, Laienhaftigkeit dagegen zu Selbsttäuschung. techne läßt sich daher auch mit sittlicher Einsicht übersetz- ten.241 Dem gegenübergestellt wird bei Platon der Begriff »theia moira«, der sich mit Inspiration oder natürlicher Begabung übersetzen läßt. Diese Begabung ist eine göttliche Gabe, die einem ohne Zutun zufällt. Die Mythographen waren sich in diesem Punkt in bezug auf Marsyas wie oben gesehen nicht einig. So meint Palaiphatos, daß der Aulos selbst die göttliche Macht innehat, so wunderbar zu klingen, Marsyas kann also gar nichts dafür, während Diodor, Apollodor und Hyginus den musikalischen Eindruck der durch Übung er- reichten Kunstfertigkeit des Spielers zuschreiben, womit ein positives Licht auf Marsyas fällt.

Die Frage des Reglements Bei Diodor beschwert sich Marsyas über den Vergleich ungleicher Mittel beim Wettkampf, trotzdem gewinnt Apollon und zwar aufgrund seiner geradezu spitz- findigen Argumentation, daß entweder beide oder keiner Hände und Mund gebrau- chen dürften, die Schiedsrichter für sich, so daß er nach der dritten Runde endgül- tig der Sieger ist. So ist auch in dieser Fassung der Verstand entscheidend für den Ausgang des Wettkampfes. Durch Apollons Argumente wird der in der Realität bei

240) Aus dieser Zeit sind die meisten Vasenbilder überliefert und offensichtich gab es ein Satyr- spiel oder einen Dithyrambos, der dazu angeregt hat. 241) D. Thomsen, ›Techne‹ als Metapher und als Begriff der sittlichen Einsicht (1990). 96 Mythos ______musikalischen Agonen wohl nicht übliche Vergleich zwischen einem Blas- und eines Streichinstrumentes gerechtfertigt.242 Die Wettkampfbedingungen, nämlich die Austragung in mehreren Runden, die Argumentation über Erlaubtes und Unerlaubtes, die Anwesenheit von Schieds- richtern und Publikum, nämlich den Bürgern von Nysa, zeigen bei Diodor die vor- handene Streitkultur und lassen an die Formalien eines musischen denken, wie sie in klassischer Zeit in Athen üblich waren. Hier schimmert eine historische Dimension durch, die in einem späteren Kapitel noch zur Sprache kommt. In seiner frühen Form wird der Mythos solche historischen Elemente sicher nicht beinhaltet haben. Im Gegenteil gehören List und Betrug ganz selbstverständlich zu Wett- kämpfen im Mythos.243

Warum wird Marsyas bestraft? Normalerweise wird der Gewinner eines Wettkampfes mit einem Siegespreis be- lohnt, der Verlierer aber nicht bestraft. Worin besteht die Beleidigung, die Marsyas erst Athena und dann Apollon antut? a) Beleidigung Athenas Der Marsyas-Mythos ist die vermutlich erst in klassischer Zeit entstandene Ver- knüpfung zweier ursprünglich getrennter Mythen, wie schon die Geographie der Handlung zeigt. Der von der Chronologie der Handlung her erste Teil mit Athena spielt in Böotien, der zweite Teil mit Apollon in Phrygien.244 Der böotische Dichter Pindar, der bald nach 446 v. Chr. starb, und die ebenfalls böotische Dichterin Korinna überliefern den Konflikt zwischen Marsyas und Athena um das Aulos-Spielen nicht. Pindar äußert sich überhaupt niemals abfällig zum Aulos. Eine seiner Oden feiert einen siegreichen Auleten. Nach seiner Version (P 12,6-30) erfand Athena den Aulos nach der Enthauptung der Gorgo Medusa durch Perseus und zudem eine Melodie, die die Totenklage und das Wutgeheul der Euryale, der Schwester der Medusa, nachahmte. Athena machte aus dem unartiku- lierten Geschrei, dessen Anlaß Euryales Erschütterung über den Tod der Schwester ist, eine Kunstform, ist also für ihn eine positive Kulturbringerin. Nach Korinna lehrte Athena Apollon sogar das Aulos-Spielen.245 Da schon Herodot den Wettstreit zwischen Marsyas und Apollon kennt, ist die- ser (phrygische) Sagenteil wahrscheinlich der ältere, die Version mit Athena aber

242) Weiler, Agon im Mythos 58. 243) Vgl. Weiler, Agonales in Wettkämpfen 27; Weiler, Agon im Mythos 258ff. 244) Der Athena-Teil gilt als der jüngere, erst in der Klassik entstandene: Weiler, Agon im My- thos 43f. 245) Plutarch, de mus. 14p 1136b. ______Mythos 97 erst in der Hochklassik in Athen erfunden und mit dem älteren Teil verbunden worden. Diese attische Version, in der schlechte Konnotationen Böotien zugeordnet werden, spielte für Pindar naturgemäß keine Rolle. Schon im ersten Teil des neu zusammengefügten Mythos wird Marsyas Wider- setzlichkeit gegen Athenas Wunsch, der Aulos möge liegen bleiben, als Hybris, also als Freveltat, als Sakrileg betrachtet. Bei Hyginus (fab. 165), und nur bei ihm, droht Athena nicht einfach, sie hat schon im voraus einen Fluch ausgesprochen, als wüßte sie bereits, daß sie das Aufheben und Weiterleben der Flöte nicht verhindern kann Ein Fluch wird gewöhnlich nur ausgesprochen, wenn gegen ungeschriebene Gesetze, ja gegen Tabus verstoßen wurde bzw. werden wird, die die Ordnung in der menschlichen Gesellschaft oder im Verhältnis zu den Göttern gefährden. Die angedrohte Strafe ist unabwendbar; es handelt sich stets entweder um den Tod oder die Verstoßung aus der Gesellschaft. Prophezeiung, Fluch und Bestrafung für die Beleidigung eines Gottes gehören zu den grundlegenden epischen Motiven von Heroenmythen. Athenas Verfluchung bei Hyginus zeigt also, daß es bei der Sache um etwas Sakrosanktes geht. Das Aufheben des Aulos allein kann es nicht sein. Eher der Umstand, daß durch Marsyas’ Tun Athenas Erfindung, der Aulos, in der Welt blei- ben wird und damit auch die Erinnerung an das Ausgelachtwerden – oder an noch Schwerwiegenderes? Das spöttische Gelächter der anderen Göttinnen – es sind nach Hyginus übrigens Hera und Aphrodite, die auch ihre Konkurrentinnen beim Paris-Urteil waren – über das durchs Blasen entstellte Gesicht Athenas ist nicht an erster Stelle Ursache für Athenas Scham, denn die Scham empfindet sie auch in Ovids Version (fasti VI 697-709), in der sie allein ist. Erst bei Plutarch (mor. 456 b) wird Athena von Marsyas auf ihr Aussehen aufmerksam gemacht, bei den älte- ren Schriftstellern sieht sie es noch von selbst im Wasser. Hyginus beschreibt, daß Athena beim Aulos-Spielen blau wurde und die Wangen dick. Francoise Frontisi-Ducoux hat vermutet, daß der Grund für Athenas scharfe Reaktion, der Aussprache des Fluches, in der Ähnlichkeit zwischen Gorgonenge- sicht und Flötengesicht zu suchen sei:246 Die Gorgonenmaske mit verdrehten Au- gen, verkrampften Zügen, heraushängender Zunge ist das Abbild eines Besessenen. Der Aulos ist ein Instrument des dionysischen Thiasos, in dessen Verlauf die Teil- nehmer in Trance, mania (Wahnsinn) genannt, geraten. Auch wenn die Übereinstimmung von Flötengesicht und Gorgonengesicht keine vollständige ist, ist nicht zu übersehen, daß sich Athena durch das Flöten einer Be- sessenen, einer Anhängerin des Dionysos, angenähert hat. Wenn sie in diese Rolle schlüpft, gibt sie ihr Eigenständigkeit und Selbstbestimmtheit als Person auf oder

246) F. Frontisi-Ducroux, in: Die Bilderwelt der Griechen (1984) 229. Ovid, ars 3,503, ver- gleicht das Gesicht der Athena, als sie sich selbst sieht, mit einem vor Zorn geschwellten Gesicht und den Blick mit einem feuersprühenden Gorgoblick. 98 Mythos ______gefährdet sie zumindest, denn Ekstase bedeutet ja »aus sich selbst heraustreten« und in einer Fiktion ganz dem Dionysos anzugehören. Daß die Deutung richtig ist, bestätigt sich bei Plutarch (mor. 456b ff.), wo es heißt, der besessene Mensch müsse sich wie Athena im Spiegel betrachten, um sich zu beruhigen und seinen normalen menschlichen Zustand wiederzufinden. Athena empfand also Scham, weil sie die ihr ureigenste Charaktereigenschaft, die Weisheit, preisgegeben hatte. Schließlich weist auch Aristoteles (Politeia VIII 6,1341b) darauf hin, daß Athena weniger wegen ihrer Verärgerung über das entstellte Gesicht den Aulos fortwarf, sondern wahrscheinlich, weil der Flötenunterricht nichts für den Geist bedeute. Wohl ist aber Athenas heftige Reaktion weniger durch den Gegensatz von Geist (der Göttin) und Geistlosigkeit (des Instruments) zu erklären (vgl. Kap. zum mu- sikhistorischen Hintergrund), als durch denjenigen von Rationalität und ausufern- der Emotionalität. Der Göttin der Weisheit und Kunst stand es nicht an, sich eksta- tisch zu benehmen. Aus dem Zauber der Ekstase erwacht Athena bezeichnenderweise erst durch den Blick in den Spiegel, der ihr selbstkritische Distanz ermöglicht.

b) Beleidigung Apollons Die Herausforderung Apollons und die folgende Schindung im zweiten Teil des Mythos scheint von der Handlung her das logische Fortschreiten des Geschehens zu sein und wird der Bedeutung nach zu einer Steigerung des Hybrismotivs, so als hätten die beiden Mythenteile immer zusammengehört. Dämon und Gott stehen sich jetzt in direkter Auseinandersetzung gegenüber. Der Sieger kann mit dem Be- siegten tun, was er will. Wir wundern uns über die Radikalität dieser Abmachung und über Apollons Grausamkeit. Durch die Verknüpfung beider Mythenteile sieht es so aus, als sei die Ursache der Schindung nicht Apollons Rachsucht, sondern Athenas Fluch. Betrachtet man aber den zweiten Teil des Mythos allein, so besteht der Frevel des Marsyas wohl nicht so sehr in der Herausforderung des Apollon an sich, son- dern darin, tatsächlich so verführerisch spielen zu können wie der Gott selbst und ihn damit in Verlegenheit vor Richtern und Zuschauern zu bringen, so daß Apollon quasi nichts anderes übrigbleibt, als zu einem Trick zu greifen. Für diese Deutung spricht, daß Apollon im Wettkampf gegen Babys – in der kaiserzeitlicher Überlieferung ein Sohn des Marsyas und Bruder des Mäander – diesen, der nicht annähernd so gut spielt wie Marsyas, leben läßt, als ihn Athena auf dessen mangelnde Begabung hinweist.247 Marsyas übertrifft den Gott, indem er das sterbliche Publikum durch den be- sonderen Charme und die Kunstfertigkeit seiner Musik verzaubert und auf seine

247) Weiler, Agon im Mythos 62f. ______Mythos 99

Seite zieht, letztendlich dem Apollon Verehrer abspenstig macht und zum Eintritt in die dionysische Sphäre verführt. Marsyas wird bestraft, weil er Apollons Ansehen und seine Stellung als Gott in Gefahr bringt. Apollons rachsüchtige Grausamkeit ist mit Neid auf Marsyas’ Kön- nen und Wissen zu erklären. In allererster Linie bestraft aber Apollon Marsyas’ Griff nach Unsterblichkeit durch das Gegenteil, die Tötung.248

Bewertung des Wettkampfes und der Person des Marsyas Bis auf Lukian äußern die antiken Autoren keine Kritik über Verlauf und Ausgang des Wettkampfes249 – auch wenn sie von Apollons Trick berichten, die Kithara umzudrehen bzw. den Gesang mitzubewerten. Bei Apuleius gar schämt sich Apol- lon eines zu leichten Sieges. Bei Diodor findet man eine indirekte Bewertung, denn er läßt Apollon sein Tun hinterher bereuen und als Sühne dem Dionysos opfern. Zudem äußert Diodor an anderer Stelle (4.77.9), daß Mythenerzählungen die Menschen zu Mitleid und Ge- rechtigkeit führen sollen. Damit ist angedeutet, daß Diodor Apollons Handeln als nicht-mitleidig und ungerecht eingestuft hat. Apollon kann schließlich seine Ord- nung nur mit einem fragwürdigen Trick und mit wenig souverän wirkender Gewalt erhalten. Einzig der ironische Lukian, kritisierte in seinen parodistischen Dialogi Deo- rum 16 ausdrücklich den Ausgang des Wettkampfes. Hera sagt dort zu Leto: »Wer könnte jemanden bewundern, den Marsyas in der Musik übertroffen und lebendig mit eigenen Händen gehäutet hätte, wenn die Musen nur gerecht entschieden hät- ten? Nur weil er betrogen wurde und ungerechterweise die Wahl verlor, der arme Bursche, mußte er sterben.«250 Die große Trauer und der Tränenfluß der anderen anwesenden Naturgötter, der Nymphen, Satyroi und Faune, läßt auch bei Ovid (meta. 6,382ff.) das Mitleid des Lesers mit Marsyas durchaus zu, zumal es hier der Satyr ist, der sein Tun bereut. Der Leser (oder Betrachter) hatte zu allen Zeiten die Möglichkeit, sich mitleidig auf die Seite des Marsyas zu stellen. In der Klassik jedenfalls muß noch das Bild von dem weisen und die Menschen bezaubernden Marsyas vorgeherrscht haben,

248) Nur bei Palaiphatos finden wir die Variante oder dramatische Steigerung, daß Marsyas von sich aus nicht zu überleben wünscht, sollte er unterliegen 249) Ob das Hautabziehen notwendig den Tod zur Folge hat, wird, außer bei Ovid nicht ausge- sprochen. Nur bei Myth. Vat. II 115 überlebt er ausdrücklich. Weiler, Agonales in Wett- kämpfen 27, weist darauf hin, daß der Einsatz bei mythischen Herausforderungsagonen meist das Leben der Kontrahenten ist. 250) Übersetzung K. Marano, siehe K. Marano, Apollon und Marsyas (1998) 163. 100 Mythos ______der den Mut und die Fähigkeit hat, es mit einem Gott aufzunehmen; dem so übel mitgespielt wird und der elendig endet. In Platons Symposion (215c) wird das Werk des Marsyas, wie gesagt, göttlich genannt. Die Sympathie scheint bei Marsyas zu liegen, nicht bei Apollon. Im Gegensatz dazu wurde der Mythos des Marsyas spätestens in der Kaiserzeit wahrscheinlich belehrend und moralisierend erzählt. Es geht nicht mehr um den Vergleich von Weisheit, sondern um den manueller Geschicklichkeit. Besonders bei Apuleius wird Marsyas zu einem abschreckenden antiken Struwwelpeter, nicht nur in der Absicht, dem Leser die Vorteile gepflegten Aussehens vorzuführen, sondern auch, um ihn in eine Hierarchie einzubinden und ihn vor dem Aufbegeh- ren zu warnen. Der Widerspruch, daß Marsyas, herkunftsmäßig dem Dionysos an- gehörend, sich, weise und musikalisch, in dem Versuch Apollon gleichrangig zu werden, ihm annähert, wird in der Kaiserzeit aufgelöst, indem man ihn als beson- ders dumm und sein Spiel als schlecht schildert. Der Antagonismus von schön, klug und fähig einerseits und häßlich, dumm und unfähig andererseits läßt Marsyas zur bloßen Gegenbild des Apollon werden. Die Autoren, die Roheit und Wildheit des Marsyas betonen, haben den Wettstreit als Auseinandersetzung zwischen Kul- tiviertheit und Roheit verstanden. Folgerichtig läßt sich weder im klassischen Vasenbild noch beim kaiserzeit- lichen Sarkophagrelief die Sichtweise des Marsyas als ungepflegter Rohling bele- gen. Die Ikonographie charakterisiert Marsyas auf dem Sarkophag im Louvre ent- sprechend der hellenistischen Manier nur dezent durch längeres und etwas zottiges Haar, eine wulstigere Gesichtsbildung, spitze Ohren und einen kleinen Schweif als Satyr; sein Körper ist nicht weniger schön gebildet als der des Apollon. Er bleibt damit im Rahmen der im Hellenismus üblichen ›schönen‹ Darstellung von Misch- wesen. Wo auch immer die Sympathie des Zuhörers und Betrachters liegt, die literari- schen Darstellungen haben wie die der bildenden Kunst eine klare, unzweifelhafte Aussage, nämlich daß Apollon siegt. Allgemein gesagt heißt dies: die Macht der unsterblichen Götter übertrifft die der Sterblichen.

Die Überlegenheit der Unsterblichen Wenn es also im Wettkampf zwischen Marsyas und Apollon darum geht, die Macht sinnlicher Verführung und die von Techne (Fachwissen, der praktische und theoretische Gebrauch von Vernunft) gegeneinander auszuloten und Marsyas be- straft wird, weil seine Verführungskunst Athena als auch Apollon in Gefahr bringt, so ist das übergeordnete Thema das Machtverhältnis zwischen einem halbgöttlichen Mischwesen und den Olympiern. Mit der Darstellung einer Hierarchie einzelner Götter bzw. Göttergeschlechter im Marsyas-Mythos wird beispielhaft und in kleinem Rahmen eine fiktive Ordnung ______Mythos 101 vorgeführt. Denn versteht man Marsyas und Apollon in erster Linie als Repräsen- tanten verschiedener Göttergeschlechter, kann man sagen, das wilde Naturwesen, welches aufgrund seiner sexuellen Potenz als Fruchtbarkeitsdämon zu deuten ist, wird von einer dem olympischen Göttergeschlecht angehörenden Gottheit besiegt. Der Dämon ist dem Gott untergeordnet und sterblich. Die sogenannte Cambridge Schule unter den Anthropologen (auch Ritualisten genannt), mit ihrer hervorragendsten archäologischen Vertreterin J. Harrisson un- terschied zu Beginn des 20. Jhs. zwischen olympischer und chthonischer Reli- gion.251 Chthonische Vorstellungen, personifiziert in mütterlichen Erdgottheiten und Dämonen (Satyroi ordnete J. Harrisson den Fruchtbarkeitsdämonen zu252), ge- hören nach ihrer Theorie einem früheren kultischem Stadium an, leben jedoch als Überbleibsel, survivals im Sinne E. B. Taylors253, in lokalen Kultfesten der klas- sischen Zeit weiter. Von Robertson Smith254 beeinflußt ist ihre Auffassung, daß Götter in Tiergestalt (Theriomorphismus) denen in Menschengestalt (Anthropo- morphismus) vorausgehen. Wollte man den Marsyas-Mythos im Sinne der Cambridge Schule evolutio- nistisch verstehen, thematisiert er den Konflikt, der auf einer zeitlich früheren reli- gionsgeschichtlichen Stufe stehenden Göttervorstellung gegen eine spätere: Der chthonische, tiergestaltige Dämon Marsyas begehrt gegen den olympischen, men- schengestaltigen Gott Apollon auf. Im Sieg Apollons manifestiert sich nach dieser Auffassung eine religionsgeschichtliche Entwicklung. Ob dies wirklich historisch ist, ist zweifelhaft. R. Schlesier hat dargelegt, daß anhand der literarischen Quellen keine Vorstellung einer klaren Trennung zwischen chthonischen und olympischen Göttern zu beweisen ist und auch keine zeitliche Abfolge.255 Ebensowenig läßt sie sich in der Kunst belegen, eher schon im Kult.256 Auch ohne eine chronologische Unterscheidung zwischen chthonischen und olympischen Göttern vornehmen zu wollen, bleibt der starke Wesensunterschied zwischen den beiden Kontrahenten als eindrucksvolle Charakterbilder bestehen.

251) Der Gegensatz zwischen olympischer und chthonischer Religion bestimmte vorher schon die religionshistorische Forschung des 19. Jhs. Dies ist eine Unterscheidung, die in den literarischen Quellen jedoch eher nicht zu belegen ist: siehe Schlesier, Kulte 21-32. 174f. 252) J. Harrisson, Prolegomena to the Study of Greek Religion (1903, Nachdruck 1975) 420f.; dies., Themis. Astudy of the Social Origins of Greek Religion (1912, Nachdruck1927) 14. 253) E. Burnett Taylor, Primitive Culture: Researches into the Development of Mythology, Phi- losophiy, Religion, Art and Custom (1903) 4. 254) W. Robertson Smith, Lectures of the Religion of the Semites (1894) 2. 255) Schlesier, Kulte 174ff. Die Unterscheidung von chthonischer und olympischer Göttlichkeit sieht sie als Ausdruck literarischer Stilisierung einer religionsreformerischen Absicht. 256) K. Hübner, Die Wahrheit des Mythos (1985) 213f. 102 Mythos ______c. Die rituelle Ebene im Mythos

Ein Sarkophag ist mehr als ein Behältnis für den Verstorbenen. Die künstlerische Gestaltung des Objektes zeigt einen spirituellen Hintergrund. Seine Aufstellung im Freien oder in einem Grabhaus ist ein Akt, der in einem religiösen und kultischen Rahmen vollzogen wurde. Die Angehörigen haben sepulkrale Riten wie Opfer und Totenmahle am Grab abgehalten. Riten dienen dazu, Krisen und Umbruchzeiten im menschlichen Leben zu bewältigen, wie Geburt, Adoleszenz und Tod. Sie insze- nieren die Krise und spielen sie durch, um sie heilsam zu bewältigen.257 Welche Bezüge sind eventuell ursprünglich im rituellen Sinne mit dem Mar- syas-Thema verknüpft worden?

Initiation als Satyr Welches kultische Geschehen spiegeln allgemein die Darstellungen von Satyroi und welcher Sinn steht dahinter? Noch vor der Entstehung der Tragödie und des Satyrspiels seit dem Ende des 6. Jhs. v. Chr. gab es Kultriten, bei denen sich die beteiligten Männer oder Knaben durch das Tragen einer Bocksfell-Maske in Bockswesen, in Satyroi, verwandel- ten.258 G. Seiterle hat diese Masken und ihre Herstellung genau rekonstruiert und den Sinn ihrer Benutzung dargelegt.259 Die Verkleidung als Satyr war zum Beispiel während des dionysischen Früh- lingsfestes, den Anthesteria, üblich. Die Satyroi vollführten wilde Späße und be- gleiteten Dionysos. Neben ihren Auftritten bei öffentlichen Festen, zu denen selbst- verständlich auch Theateraufführungen gehörten (Satyrspiel), erschienen als Satyroi verkleidete Männer auch im mythischen Ritual, bei geheimen Reinigungsriten und Initiationen.260 Platon (leg. 815 b-c) und Xenophon (symp. 7,5) sagen klar, daß die mensch- lichen Satyroi der festlichen Thiasoi die mythischen Satyroi nachahmten. Das Auf- setzen der Satyr-Maske ermöglichte die Identifikation des Menschen mit dem Zie- genbock, speziell mit dem geopferten Ziegenbock. Dies und die angenommene Übertragung der Kräfte des Ziegenbocks auf den Maskenträger ist Voraussetzung für das rauschhafte Heraustreten aus sich selbst, die Ekstasis. Mit der übertragenen Kraft war in erster Linie die Zeugungskraft gemeint, denn der Ziegenbock galt als besonders fortpflanzungsfreudig und Satyroi wurden in der Kunst ithyphallisch

257) A. van Gennep, Übergangsriten (1986) (Les rites de passage, 1909). 258) W. Burkert, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche (1977) 170: »Das Mischwesen … eigentlich Masken sind, ist überaus wahrscheinlich.« 259) G. Seiterle, AntK 27, 1984, 135ff. 260) Euripides, Cyclops. Introduction and Commentary by R. Seaford (1984) 8ff. ______Mythos 103 dargestellt.261 Als Satyroi verkleidete Maskenträger trugen, wie man auf Vasenbil- den sehen kann, eine Hose, an der neben dem Pferdeschweif ein künstlicher Phal- los befestigt war.262 Den Auloi als Attribut der Satyroi kommt eine der Maske an Bedeutung fast entsprechende Rolle im Thiasos zu. Francoise Frontisi-Ducroux schrieb dazu, »Die Flöte erscheint als die musikalische Dimension der Maske, ihr tönernes Gegen- stück.« Sie bewirke auf der Klangebene, was auf der visuellen Ebene die Maske er- reichte, eine Öffnung zur Ekstase und den Bruch mit dem Alltäglichen.263 So ist es einleuchtend, in welcher Weise Satyroi auf Symposionsgeschirr dem männlichen Betrachter und Teilnehmer am Symposion die Möglichkeit zur Identifikation boten. Die Kultfeiern mit als Satyroi verkleideten jungen Männern werden am ehesten Initiationsriten gewesen sein, d. h. Ephebie-Feiern zum Frühlingsanfang, bei denen der Jüngling in die Kultgemeinschaft der Erwachsenen aufgenommen wurde, Hei- ratsfähigkeit erlangte, meist – da das Land agrarisch geprägt war – Bauer wurde und als Krieger angenommen wurde. In allen Kulturen ging der Initiation eine Phase der Absonderung der jungen Männer voraus. Indem sie eine Zeit lang abseits der Siedlungen ein nomadisches Hirtenleben führen mußten, wurden sie ganz aus der Gesellschaft ausgegliedert.264 Der Aufenthaltsort galt als ein Ort des Jenseits und der Ahnen. (Mädchen wurden eher innerhalb der Siedlungen in besonderen Gebäuden abgesondert.265) Bei Festen traten sie nur in Banden zusammengeschlossen auf. Zu diesen An- lässen wurde ein die sonst übliche Norm brechendes, wildes Verhalten an den Tag gelegt. Die Gewohnheit diese Gruppen junger Männer (oder Mädchen) in der Phase kurz vor der Initiation als Tiere zu bezeichnen, etwa als Stiere, Fohlen oder Bären,266 ist ein Hinweis auf ihr ungezügeltes Wesen. In gleicher Weise agierten auch die als Satyroi verkleideten jungen Männer und sie sind daher unschwer als Initianden anzusehen.

261) F. Lissarague, Les satyrs et le monde animal, in: J. Christiansen – T. Melander, Proceedings of the 3rd Symposium on Ancient Greece and Related Pottery, Copenhagen 1987 (1988) 335-351; ders., The Sexual Life of Satyrs, in: D. M. Halperin – J. J. Winkler – F. J. Zeitlin, Before Sexuality, The Construction of Erotic Experience in the Greek World (1980) 63-81; ders., On the Wildness of Satyrs, in: T. H. Carpenter – C. A. Faraone, Masks of Dionysos (1993) 207-20. 262) C. Bérard – J.-P. Vernant u. a., Die Bilderwelt der Griechen (1985) Abb. 195-198. 263) F. Frontisi-Ducroux, in: Die Bilderwelt der Griechen (1984) 237. 264) M. Eliade, Das heilige und das Profane (1957) 111. 265) z. B. die Arrephoren auf der Akropolis: siehe W. Burkert, Kekropidensage und Arrhepho- ria, in: Wilder Ursprung (1990) 40ff. 266) W. Burkert, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche (1977) 170. 104 Mythos ______

Übergangsriten, wie derjenige der Initiation in die Erwachsenengemeinschaft, markieren den Wechsel des sozialen Status eines Menschen.267 Der Übergang eines Menschen in eine neue Lebensphase wurde bei der Initiation weniger als na- türlicher Vorgang und Höhepunkt eines Reifeprozesses aufgefaßt, denn als schwie- riger Sprung, der unterstützt bzw. erst hervorgerufen werden mußte. Das Ende des Kindseins war demnach zumindest äußerlich ein abruptes. Das Absondern der Ini- tianden führt quasi zu einem Sterben der infantilen Bindungen. Veränderungen in der sozialen Gruppe sind stets auch eine Gefährdung der be- stehenden Ordnung ihrer Mitglieder. Zwischen den Generationen wurden Span- nungen deutlich, wenn die Jüngeren mit neuem Anspruch auftraten (der die Über- nahme der Macht androht) und die älteren Männer die Jungen noch einmal ihre ganze Macht fühlen ließen. Die Machtkonflikte zwischen Elterngeneration und Heranwachsenden mußten also rituell kanalisiert werden. Die Gesetze der Gemeinschaft bzw. die Macht der Eltern wurden dem Initian- den durch rituelle Beschneidungen oder Tätowierungen grausam deutlich gemacht. Auch waren während der Initiation Agone bzw. Mutproben üblich, bei denen be- sonders in militanten Gesellschaften körperliche Pein zu erdulden war. Auch zu den Einweihungsriten, die zu Ehren des Dionysos stattfanden, gehörten neben Op- fern und Umzügen (Thiasoi) Mutproben in Form von musischen und athletischen Wettkämpfen.268 Die Älteren leiteten den rituellen Tod der Initianden ein und die anschließende Wiedergeburt. Diese stand meist in Zusammenhang mit Wasser und einer dunklen Höhle – in Anlehnung an Fruchtwasser und Gebärmutter.269

Marsyas als Initiand Die Satyrn treten gewöhnlich in der Gruppe auf, haben keine wirklich individuel- len Namen und sind in Verhalten und Aussehen typisiert.270 Es gibt auch keine mythische Überlieferung zu bestimmten Ereignissen mit Satyroi, außer zu Mar- syas, sieht man einmal von dem Silen genannten alten Satyr ab, der Erzieher des Dionysos gewesen sein soll (in der bildenden Kunst ab Mitte des 5. Jhs. v. Chr.), und der ebenfalls eine ganz unbestimmte Figur bleibt.

267) A. van Gennep a. O. 268) Seiterle a. O. 137ff. 269) W. E. Mühlmann, in: Wörterbuch der Soziologie. Hrsg. W. Bernsdorf 1969 463; M. Eliade, Das Heilige und das Profane (1957) 76. 108. 115; ders., Das Mysterium der Wiedergeburt (1961) 89f. Der Symbolismus der Rückkehr in die Gebärmutter hat nach Eliade immer einen kosmologischen Sinn. Mit dem Initianden kehrt die ganze Welt in die kosmische Nacht zurück, um neu erschaffen zu werden. 270) Zu Satyrnamen siehe A. Heinemann, in: Gegenwelten (Hrsg. T. Hölscher) (2000) 334f. ______Mythos 105

Marsyas ist der einzige Satyr, der als Einzelperson faßbar wird, der einen Na- men hat und von dem bestimmte Handlungen und Eigenschaften beschrieben wer- den. Marsyas scheint aber nicht aus dem Rahmen des für alle Satyroi Üblichen herauszufallen. Die Rolle des aufbegehrenden Wildlings, der umherschweift und sich einer besonderen Mutprobe unterwirft, trifft auch auf ihn zu, und so ist es ge- rechtfertigt, auch ihn als die Widerspiegelung eines Initianden im Kult anzusehen. Das lange Haar, um das Apollon ihn am Ende bringt, erinnert an das lange un- geschorene Haupthaar der Jünglinge, das bei Aufnahme in die Gruppe der Männer geschnitten wurde. Da paßt es auch, daß Apollon der Gott ist, der die Knaben bei der Initiation beschirmte. Dann könnte man den Wettstreit zwischen Marsyas und Apollon als einen mu- sischen Agon im Rahmen eines Fruchtbarkeits- und Initiationskultes verstehen. Dann ist Marsyas – der einzige der Satyroi, der als Individuum personalisiert ist – ein Jüngling mit Satyr-Maske, ein Initiand, der im Zustand der Ekstase einen er- wachsenen Mann bzw. Gott herausfordert. Beide haben eine gewisse Ebenbürtig- keit, so daß der Erfahrene den Jüngling erst in der dritten Runde des Wettkampfes besiegt. Um so grausamer läßt der ihn seine Übermacht spüren. Die Häutung ist ein Bild für die Passage, den Übergang: Marsyas, gehäutet wie eine Schlange oder aus dem Kokon gezogen wie ein Schmetterling, steht nun quasi mit neuer Haut da, ist also in ein neues Sein getreten. Das Prinzip des Sterbens und Auferstehens, des Zerstörens einer alten Ordnung und Etablierens einer neuen findet sich in allen Riten wieder. Im Initiationsritus wird der Jüngling zum Erwachsenen, zu einem vollwertigen Mitglied der Gesellschaft. Im Mythos macht die Metamorphose des Sich-Auflö- sens Marsyas zu einem Fluß. Dieser ist gleichsam das Fruchtwasser seiner neuge- wonnenen Göttlichkeit als Flußgott, also als Fruchtbarkeitsgott. Bei Palaiphatos 47 heißt es: »Die Phryger sagen, daß der Fluß aus dem Blut des Marsyas entstand.«271 – Pausanias (10,30,9) überliefert: »Die Phryger in Kelinai behaupten, daß der Fluß, der durch ihre Stadt fließt, einst jener Flötenspieler ge- wesen sei…«272 Auch Livius (38,13,6) verbindet den Fluß Marsyas direkt mit der Person des Satyrn: »Auch der Fluß Marsyas, der nicht weit von den Quellen des Mäanders entspringt, ergießt sich in den Mäander, und es hält sich die Sage, in Ke- lainai habe Marsyas mit Apollon den Wettkampf im Flötenspiel ausgetragen…«273 Die Verwandlung zum Flußgott ist eine Apotheose. Eliade beschrieb das Ein- tauchen ins Wasser als Symbolismus einer Rückkehr in den ungeformten Zustand

271) Palaephatus a. O. 272) Pausanias, Beschreibung Griechenlands (Übersetzung E. Meyer) (1967). 273) Livius, Römische Geschichte (Übersetzung H. J. Hillen) (1999). 106 Mythos ______einer Präexistenz, das Auftauchen dagegen als kosmogonischen Akt der Formwer- dung, als Wiedergeburt.274 Marsyas’ In-den-Fluß-Gehen kann zugleich aber auch als ein gesteigertes Bild für ein Tauchbad, eine rituelle Reinigung gesehen werden, wie sie bei griechischen Initiationskulten vorkommt und die von einer möglicherweise vorhandenen, quä- lenden obsessiven Jugendliebe befreien sollte.275 Einer für Geburts- bzw. Übergangsmythen typischen Regression quasi zurück in die Gebärmutter entspricht auch die Nachricht, daß es in Phrygien eine Höhle gegeben haben soll, in der Marsyas’ Haut aufbewahrt wurde.276 In allen diesen Mythen steht die Höhle symbolisch für die Gebärmutter. Die übriggebliebene Haut, quasi die Fruchtblase, dokumentiert den Aufbruch in ein neues Sein. Die Deutung des Marsyas als ein zuvor aufbegehrender Jüngling, und also des Wettstreits als ein Generationenkonflikt, liegt nicht fern. Bei Apuleius wird Marsyas ausdrücklich als unsauberer, ungepflegter und un- geschlachter Barbar mit tierischem Gesicht geschildert, dessen Körper mit Stacheln und Zotteln übersät ist. Apuleius legt ganz besonderes Gewicht auf die Beschrei- bung des körperlichen Zustandes des Satyrn und den Gegensatz zu dem schönen, glatten, gelockten und zart bekleideten Apollon, dem Musterbild eines kultivierten Ästheten. Das Sich-Messen der beiden Wesen hat in diesem Falle offensichtlich mit Musik wenig zu tun. Vielmehr geht es um Männlichkeit und Zivilisierung. Marsyas wirft Apollon denn auch vor, nicht mannhaft zu sein, sondern dekadent. Peter von Matt erläutert in seinem Buch »Verkommene Söhne, Mißratene Töchter« die traditionelle Vorstellung des Ungeschorenen, des wilden Mannes an- hand literarischer und historischer Beispiele. Ungezähmtes langes Kopfhaar steht seit Absalom, Sohn des Königs David, und in unzähligen Märchen und Sagen für den ungezähmten und widersetzlichen Charakter ihres Trägers. Scheren und Skal- pieren gehört zu den ältesten Strafen.

»Der radikale Wuchs steht zur radikalen Schur aber nicht in einem schlicht gegensätzli- chen, eher in einem dialektischen Verhältnis. Nach ältestem Verständnis ist das Haar der Sitz des Lebens, der Seele, der Kraft, damit wäre der Ungestutzte auch der Stärkste. Dem entspricht als berühmtester Beleg die Simson-Geschichte im Buch der Richter. Daß Sim- son die Kraft verliert, als ihm die Geliebte die Locken abschneidet, verweist auf den wei- teren Zusammenhang von Lebenskraft und Sexualität, insbesondere männliche Potenz.

274) M. Eliade, Das Heilige und das Profane (1957) 76. 275) G. Baudy, Ackerbau und Initiation, in: F. Graf (Hrsg.), Ansichten griechischer Rituale. Geburtstagssymposium für W. Burkert (1998) 149. 276) Xenophon, Anabasis 1,2,8 und Aelian 13,21 sprechen von einer Grotte. Vgl. M. Eliade, Das Mysterium der Wiedergeburt (1988). ______Mythos 107

Wer das abgeschnittene Haar besitzt, hat aber auch die Gewalt über den ehemaligen Eigentümer.«277

Die Charakterisierung als zotteliger Wilder macht Marsyas demnach zu einem Aufrührer, den wir verachten, mehr aber noch insgeheim für seine Kühnheit be- wundern. Die Figur des wilden Mannes wird von der psychoanalytischen Wissenschaft als eine Abspaltung wilder und ihm selbst als bedrohlich erlebter, eigener Gefühle in der Phantasie des Menschen gedeutet. Die Abspaltung entschärft das Bedroh- liche, in dem man es einem Objekt zuschiebt. Der Satyr ist also nicht nur einfach der wilde im Gegensatz zum zivilisierten Mann, sondern eigentlich das Unzivili- sierte in jedem Mann. Sein Tod ist Sühne für die Auflehnung gegen die kultivierte (Vater)figur des Apollon und zugleich Verzicht auf Sexualität d. h. eine begehrte Frau.278 Zugleich ist er auch so etwas wie eine Befreiung von der alten Körperlichkeit, die eine Er- höhung bedeutet, so daß der strafende Apollon quasi zum Erlöser wird. Die Marsyasgeschichte hat somit eine ganz typische Struktur, wie wir sie aus dem Drama und Literatur kennen. Freud führte jedes agonal strukturierte Drama auf den Ödipuskomplex, auf die Auflehnung des Sohnes gegen den Vater zurück:

»Der Held einer Tragödie muß leiden, dies ist noch heute der wesentliche Inhalt der Tra- gödie. Er hat die sogenannte ›tragische Schuld‹ auf sich geladen, die nicht immer leicht zu begründen ist; sie ist oft keine Schuld im Sinne eines bürgerlichen Lebens. Zumeist be- stand sie in der Auflehnung gegen eine göttliche oder menschliche Autorität…« »… der Chor begleitete den Helden mit seinen sympathischen Gefühlen, suchte ihn zurückzuhal- ten, zu warnen, zu mäßigen und beklagte ihn, nachdem er für sein kühnes Unternehmen die als verdient hingestellte Bestrafung gefunden hatten.«279

277) Peter von Matt, Verkommene Söhne, Mißratene Töchter. Familiendesaster in Literatur (1995) 48. Zu der Vorstellung von Marsyas als Initiand paßt schließlich der Brauch grie- chischer Jünglinge, bei Erreichen der Volljährigkeit ihren Haarknoten über der Stirn, eine Kinderfrisur, Apollon oder den Flußgöttern zu weihen, siehe E. Simon, AA 1998 376. Die Alternative Apollon oder einem Flußgott wird erst mittels des Marsyas-Mythos verständ- lich. 278) siehe hier ab S. 139. 279) S. Freud, Die infantile Wiederkehr des Totemismus (1912) GW Bd. IX 187f. Freud geht nach Darwin von einer Urhorde aus, in der das stärkste Männchen die sexuelle Promiskui- tät der anderen Männchen verhindert. Dadurch sind Exogamie und Inzestverbot erzwun- gen. Im animistischer Denken vertritt diese Vater-Rolle das Totemtier, das Exogamie, In- zestverbot und das Verbot der Tötung des Totemtieres als Tabuvorschriften bestimmt. Das totemistische Denken ist also aus dem Ödipus-Komplex erwachsen, aus dem Wunsch die Mutter zu heiraten und den Vater zu töten. Dies müssen nicht tatsächlich historische Er- eignisse gewesen sein, sondern dem liegen psychische Realitäten zugrunde. 108 Mythos ______

Diese Chorrolle haben in der Fassung bei Ovid, meta. 6,391-3 deutlich die Faune, Satyroi und Nymphen inne, die um Marsyas weinen. Die Entkleidung des Marsyas von seinem zottigen Fell, also seiner sexuellen Ungezügeltheit, sah schon Karl Kerényi als keine besondere Grausamkeit, sofern man in der tierischen Erscheinung nur eine Verkleidung sehe.280 Sie ist ein not- wendiges »Zurechtstutzen«, ohne die eine Eingliederung in die Gesellschaft nicht glücken kann.281 In den Darstellungen der antiken Kunst tragen Marsyas und andere Satyroi nur selten ein Fell am ganzen Körper282, und in der literarischen Überlieferung ist, bis auf die Ausnahme bei Apuleius, vom Abziehen der Haut283, nicht eines Felles, die Rede. Auf den wenigen Vasenbildern ist der Zusammenhang mit einer ursprüng- lichen kultischen Handlung nicht zu erkennen und derjenige mit einer Theaterauf- führung nur zu erahnen. Der Mythos wird als Realität geschildert und dadurch vielleicht eindrucksvoller. Führen wir die Schindung des Marsyas auf ein kultisches Geschehen mit Sa- tyroi zurück, ist zumindest an das Abziehen der Maske284 und der Hose mit Phal- los und Pferdeschweif zu denken – wenn nicht eines ganzen Felles – womit dem Maskierten seine magische (Zeugungs-) Kraft wieder genommen würde. Symbo- lisch kann damit, wie schon oben erwähnt, nur der Eintritt in die Gruppe der er- wachsenen und heiratsfähigen Männer bezeichnet sein, deren Mitgliedern natürlich eine Kanalisierung ihres Sexualtriebes abverlangt wurde, sprich eine passende Eheschließung. Nach dem Verlust der Maske und dem Ende der Ekstase mit ihrem wilden und erotischen Treiben blieb dem jungen Initiand, wie dem besiegten Mar- syas, nur die Unterwerfung, d. h. die Einordnung in die Gruppe. Dies strebte der Initiand nun auch an, denn nur dann fand er Anerkennung in der Gemeinschaft. Daraus läßt sich ableiten, daß die Marsyasfigur aus dem Blickwinkel eines Ini- tianden durchaus nicht negativ gesehen worden sein muß, sondern sich sogar zur

280) K. Kerényi, Die Mythologie der Griechen Bd. I: Die Götter- und Menschheitsgeschichten (1979) 143. 281) Folterungen, Tätowierungen, Haareschneiden etc. sind typische Initiationsriten: M. Eliade, Das Heilige und das Profane (1957) 112. 282) Satyr mit Fell am ganzen Körper: 1. Bauchamphora in Würzburg aus Vulci (550/40 v. Chr.): ABV 315,1 Mitte; 2. rf. Situla: »1768. Europa à la greque. Vasen machen Mode«, Kat. Freiburg (1999) Abb. 3; 3. Krater in Neapel, N. M. 3240 aus Ruvo (Schauspieler): A. Stewart, Greek Sculpture (1990) Abb. 484. Marsyas mit Fell am ganzen Körper: 1. Att. Kolonettenkrater (Anf. 4. Jh.): LIMC VI (1992) s. v. Marsyas I Nr. 22a Abb. (A. Weis). 2. Ital. Pelike (Ende 5. o. Anf. 4. Jh.): LIMC a. O. Nr. 37 Abb. 283) In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, daß das Tätowieren, also das Einritzen der Haut ein klassisches Initiationsritual ist. 284) In der Vasenmalerei wird die Maske als solche nur erkennbar, wenn sie nicht aufgesetzt ist. Wird sie auf dem Gesicht getragen, erscheint am Hals niemals ein Rand. ______Mythos 109

Identifikation anbot, denn schließlich durchläuft der Satyr, wie er selbst, nur einen schwierigen, aber notwendigen Reifeprozeß. Unter diesem Blickwinkel ist die Ver- wendung des Themas auf klassischem Symposionsgeschirr leicht nachvollziehbar. Dem Initianden Marsyas erwächst bei Apuleius zusätzlich noch eine soziale Ventil-Funktion. Seine schon erwähnte negative Schilderung des Marsyas als lächerlich, närrisch und von den Musen verspottet, weist auf den auch möglichen Blickwinkel des »Karnevalesken« hin, der allen Satyrn eigen ist. Ihr obszönes, komisches, groteskes und aggressives Verhalten im Thiasos dient dem entspannen- den gelegentlichen Außerkraftsetzen der sonst üblichen gesellschaftlichen Normen und Hierarchien, wie das auch im neuzeitlichen Karneval passiert und wie es sich in der Satire als literarischer Gattung manifestiert.285 Mit dieser speziellen Rolle (während eines Agons, also im Rahmen eines Festes) ausgestattet, kommt Marsyas nicht umhin, das Aufbegehren gegen die Obrigkeit (Apollon) mit Demütigung zu bezahlen. An dieser Stelle ist die grundsätzliche Frage aufgeworfen, wieviel Ritual im Mythos steckt. Wiederkehrende Strukturen und Motive müssen nicht notwendiger- weise ein survival sein, wie Fritz Graf für die vielen Spuren der Initiationsthematik im Epos betont hat, sondern können vom Ritual losgelöste Erzählmuster allgemei- ner menschlicher Erfahrung sein.286 Damit kommt er der Auffassung Freuds nahe, der sie aus den Grundkonstellationen der menschlichen Beziehungen erklärte, ob- wohl Freud in Totem und Tabu mit der Urhorde einen tatsächlich historischen Hin- tergrund rekonstruierte.

Die Bedeutung des Baumes. Der Hintergrund der Opferung Der Baum scheint als Bestandteil im Marsyas-Mythos von Anfang an vorhanden gewesen zu sein, allerdings nicht als Marterpfahl des Marsyas, sondern als heiliger Baum, an dem Apollon die übriggebliebene Haut des Marsyas aufhängte, wie Herodot berichtet. Dieses Aufhängen an den Baum erinnert deutlich an eine Opferhandlung: Das Opfern des der Gottheit gehörenden Teiles (von getöteten Tieren) durch Aufhän- gen an heiligen Bäumen ist bereits für das 2. Jt. v. Chr. als Brauch belegt.287 Ein Beispiel ist der Baum-Kult für eine chthonische Göttin in Dodona.288 Der noch er-

285) S. Döpp (Hrsg.), Karnevaleske Phänomehe in antiken und nachantiken Kulturen und Literaturen (1993); Ritualisierte Tabuverletzung, Lachkultur und das Karnevaleske. Bei- träge des Finnisch-Ungarischen Kultursemiotischen Symposiums Berlin (2000). 286) F. Graf, in: Zweihundert Jahre Homer-Forschung. Colloquium Rauricum Bd. 2 (1991) 358ff. 287) K. Meuli, Gesammlte Schriften II (1975) 957f. 1085ff. (Hrsg. Th. Gelzer). 288) G. Gruben, Die Tempel der Griechen (1980) 112. 110 Mythos ______kennbare Hintergrund des Baumkultes im Marsyas-Mythos deutet demnach entwe- der auf einen sehr frühen Zeitpunkt seiner Entstehung – das Schamanistische, Orpheusähnliche des 6. Jhs. v. Chr. (siehe hier S. 94) ist dann nur ein zugefügtes Element – oder ist ein kultisches survival des 2. Jt. oder des frühen 1. Jt. v. Chr. in einem später entstandenen Mythos.

Fesselung am Baum In der Vasenmalerei tritt die Fesselung des nicht aufgehängten, sondern stehend an einen Baum gebundenen Marsyas zuerst um die Mitte des 4. Jhs. v. Chr. in Italien auf, bleibt aber als Randszene neben dem musikalischen Wettkampf insgesamt selten.289 A. Weis führte dieses adligatus-Motiv mit Baum, in dem dem Tod geweihte oder bereits im Hades stehende Frevler dargestellt wurden (z. B. Amykos, Peiri- thoos), auf eine seit dem 5. Jh. v. Chr. bestehende ikonographische Tradition in Ita- lien zurück, die in Griechenland und Kleinasien nicht nachweisbar ist. Denn in Griechenland ist Marsyas ohne Baum gefesselt, in Kleinasien ist der Gefesselte gar nicht bekannt! In der Schindung des an einen Baum Gefesselten sieht sie eine typische Strafe für Hybris gegenüber den Göttern und verweist auf die literarisch belegbare Vor- stellung des arbor infelix, an den Verbrecher zur Strafe gefesselt wurden. So gese- hen wird die Person des Marsyas in der italischen Vasenmalerei ikonographisch deutlicher zum Gesetzesbrecher. Allerdings wäre zu fragen, ob Hybris einem nor- malen kriminellen Delikt gleichzusetzen ist bzw. ob überhaupt eine Unterschei- dung zwischen gesetzlicher und religiöser Strafe bestand. Es fällt jedenfalls auf, daß auch in den späten lateinischen Quellen die Neigung besteht, das Gewicht des Themas von Opfer auf aktive Bestrafung zu verschieben. Die inhaltliche Gewichtung liegt anscheinend nicht mehr so auf dem religiösen Frevel, sondern auf dem ›juristischen‹ Aspekt von Strafe. So sprechen drei späte antike Quellen (Martial 10.62; Myth. Vat. 1.125; Myth. Vat. 2,115) davon, daß Marsyas ausgepeitscht wurde.290 Trotz ihrer Deutung des Marsyas als Hybris-Verbrecher nennt A. Weis im glei- chen Atemzug die Fesselung an einen Baum »as a sort of consecration to the gods«.291

289) A. Weis vermutet als Vorbild ein Gemälde mit der Bestrafung des Amykos, das wiederum auf ein Theaterstück zurückgreift: A. Weis, AJA 86, 1982, 21ff. In der attischen Vasen- malerei sitzt oder kniet Marsyas mit gefesselten Händen ohne Baum. 290) Weis, Hanging Marsyas 64. 291) A. Weis, AJA 86, 1982, 27. Diese Form der Bestrafung ist auch in der Realität belegt: Cicero, Rab. Post. 4.13, vgl. Weis, Hanging Marsyas 60. ______Mythos 111

Was die Bestrafung für einen Gesetzesbruch mit einer Opferung an chthonische Götter292 zu tun hat, wird an dieser Stelle nicht erläutert. Einen Zusammenhang kann es nur geben, wenn eben nicht zwischen weltlicher und sakraler Schuld und Strafe unterschieden wurde. Wer gegen die Regeln der Gemeinschaft verstoßen hatte, bot sich natürlich auch als Menschenopfer an die Götter an. Weis erwähnt, daß Baumopfer für Apollon nicht üblich waren und die meist ge- nannte Pinie für Apollon kein typischer Baum sei.293 Einen kultischen Hintergrund – auch mit dem Kybele-Kult – lehnt sie ab. Nach den schriftlichen Quellen ist aber Apollon eindeutig nicht der Empfänger des Opfers Marsyas, sondern nur der Spen- der. Bei Diodor wird der das Opfer empfangende Gott auch benannt: es ist Diony- sos, dem Apollon die Kithara mit den zerrissenen Saiten und den Aulos bringt.294 (Von der Haut des Marsyas ist bei Diodor nicht die Rede.) Für Dionysos als die eigentliche Macht im Hintergrund spricht auch die Pinie, die der Baum des Diony- sos ist. Schließlich deutet der Aufbruch von Kybele und Apollon ins Land der Hy- perboreer bei Diodor auf eine abhängige Beziehung zwischen Apollon, Marsyas und Dionysos, denn immer wenn der eine Gott für ein halbes Jahr in ist, ist der andere bei den Hyperboreern.

Hautabziehen am Baum Mit Aufhängen und Hautabziehen am Baum assoziiert Weis einleuchtend den Be- griff »Schlachten«, weniger »Strafe« – wobei man Schlachttiere aber gewöhnlich kopfüber aufhängt. Dies ist bei dem Marsyas der hellenistischen Schindungsgruppe nicht der Fall.295 Der Künstler der großplastischen Gruppe hat auf der Suche nach einem dramatischen, rein optisch spannungsvollen Motiv zwar das Thema Hängen

292) Der Zusammenhang zwischen Töten und Opfern an chthonische Götter wird psycholo- gisch mit dem Schauder beim Töten und dem schlechten Gewissen des Menschen über seine Tat begründet, denn Opfern ist nichts anderes als rituelles Schlachten oder anders gesagt eine sakrale Verbrämung des Tötens. Das gemeinsame Tun beim Opfern verbindet die Mitglieder einer Gruppe und entlastet sie von ihren Skrupeln vor dem Töten und ihrem schlechten Gewissen danach, indem sie Teile des Opfers an die Götter abtreten: W. Robertson Smith, Die Religion der Semiten (1899, Nachdruck 1967); K. Meuli, Griechi- sche Opferbräuche (1946) 224-252; S. Freud, Die infantile Wiederkehr des Totemismus (1912) GW Bd. IX 140ff; W. Burkert, Homo Necans (1972) 24. W. Burkert, Griechische Tragödie und Opferriual, in: ders., Wilder Ursprung (1990) 21ff. 293) Weis, Hanging Marsyas 65. 294) Vgl. Pausanias 2,7,8: Die Flöte soll den Mäander hinuntergeschwommen und später in einem Tempel in Korinth aufgehoben worden sein. 295) Weis, Hanging Marsyas 64. 112 Mythos ______gewählt, was noch an Opfern erinnert, aber einen kopfüber hängenden Marsyas wohl als zu drastisch vermieden.296 Die Schindung des Satyrs ausdrücklich an einem Baum297, nicht etwa am Bo- den, erscheint in der Literatur erst in den späten Quellen, d. h. nicht vor dem 1. Jh. v. Chr. und ist offensichtlich erst von der bekannten späthellenistischen Skulptu- rengruppe des hängenden Marsyas angeregt298. Ursprünglich ging es in dem phrygischen Mythos nicht um eine Schindung am Baum – der Gefesselte ist wie gesagt ikonographisch in Kleinasien nicht faßbar – sondern um das Aufhängen der Haut des Marsyas als ein Opfer am Baum. Die ab- gezogene Haut ist wie ein altes (Kinder-)Gewand, das zum Zeitpunkt der Initiation der Gottheit des Übergangs dargebracht wird. Die Schindung speziell am Baum ist wohl eine spätere italische Zufügung. Der Religionswissenschaftler Frazer hielt allerdings die Folter am Baum für ein ur- sprüngliches Element, da es sich bei vielen Kulten nachweisen läßt und die Kiefer in Phrygien besonders verehrt wurde, er überdies Marsyas als eine Dublette des Attis ansah. (Beide spielen ein Blasinstrument und sterben an einer Kiefer; Attis Bild wurde alljährlich an einer Kiefer aufgehängt.) Die »Attis« genannten Priester der Kybele ließen sich an einer Kiefer die Arme aufschneiden und das Blut heraus- fließen, was Frazer als Ersatzhandlung für ein Menschenopfer deutete.299 Hinter einem dargebrachten Tieropfer oder einer Scheintötung eines Menschen steht immer die Möglichkeit des Menschenopfers.300 Was die Opferrolle des Marsyas angeht, so könnte der Mythos evolutionistisch betrachtet ein Reflex des Übergangs vom Menschen- zum Tieropfer sein, der in Mythen ja nicht selten thematisiert wird. Es scheint dann so, als sei Marsyas, ei- gentlich ein verkleideter Mensch, nur zum Mischwesen gemacht worden, um die Ungeheuerlichkeit des Menschenopfers zu verschleiern. Sehen wir andererseits in Marsyas mehr den halbtierischen Dämon, so mag es in seiner Opferung darum gehen, dieses in einer überwundenen animistischen Ent- wicklungsphase angebetete Wesen, welches in der polytheistischen Phase der olympischen Götter nun wegen seiner Triebhaftigkeit zum Dämon abgestempelt

296) siehe aber die durch Giulio Romano eingeführte Darstellung des Kopfüberhängens in der Renaissance-Malerei: K. Marano, Apollon und Marsyas (1998) 152ff. Abb. 87. 297) In der Literatur und Bildenden Kunst werden ganz unterschiedliche Baumarten als Baum des Marsyas genannt bzw. dargestellt: Fichte, Pinie, Platane, Ölbaum, Eiche und Palme. (A. Michaelis, AZ 1869, 47 Anm. 32) Aus der Art des Baumes läßt sich daher keine Deutung herleiten. Plinius N. H. 16,108 nennt Bäume, die keine Früchte tragen, Un- glücksbäume. 298) Weis, Hanging Marsyas 62. 299) J. G. Frazer, Der goldene Zweig (1968) 516f. 300) Burkert, Wilder Ursprung (1990) 24. ______Mythos 113 ist, emotional abzuwehren, wie Freud meinte, der allerdings von einer phasen- mäßigen Religionsentwicklung ausging, die heute weitgehend abgelehnt wird.301 Das Misch- oder Maskenwesen läßt sich nach heutiger Auffassung nicht reli- gionshistorisch-chronologisch deuten und einordnen, sondern steht ganz einfach für eine bestimmte emotionale Phase eines jeden jungen Menschens, die durch die rituelle Tötung, das Opfer, aufgelöst wird. Im Marsyas-Mythos verschmilzt die soziale Problematik von Initiation und (Menschen-) Opfer. Marsyas ist zugleich der Initiand und das Opfer. Im Ritual der menschlichen Gemeinschaft stirbt ein Opfertier stellvertretend für den Initiand, der sein altes Leben ablegt und ein neues beginnt. Im Mythos stirbt das Mischwesen selbst. In der Realität vernichtete ein gemeinschaftliches Opfer der Gruppe quasi den aufständischen Jugendlichen bzw. im Theater wird das Geschehen nur vorge- spielt vollzogen; im Mythos muß der rebellische Marsyas sterben, um die Meta- morphose zum Flußgott, die Wiederbelebung zu erleben.

Marsyas als vergöttlichter Ahne und geopfertes Totem? Neben der Deutung des Satyr als Initiand oder Personifizierung ungezügelter, be- sonders sexueller Triebe, verblüfft es, in dem ursprünglichen Mischwesen Marsyas eine Ahnfigur, vielleicht eine Art Totem der Phryger zu erkennen. Denn auch noch der Marsyas der Kaiserzeit hat einige Merkmale, die dem Totemismus zugerechnet werden können.302

1. Das Totem gilt als Ahn und Stammvater seiner Gruppe, als Schutzgeist und Helfer. Bezüglich der Rolle des Marsyas als Schutzgeist ist auf die Stelle bei Pausanias 10,30,9 hinzuweisen: »… sie (die Phryger in Kelainai) erzählen auch, daß sie das Heer der Galater abgewehrt hätten, weil ihnen Marsyas gegen die Barbaren mit Wasser vom Fluß und Flötenspiel zu Hilfe kam.« Neben seiner Funktion als ›Schutzgeist‹ gegen Feinde und Fruchtbarkeitsspender war der Fluß Marsyas für die Stadt Kelainai ein identifizierendes Merkmal, dessen man sich zweifellos rühmte: »Die Phryger in Kelainai behaupten, daß der Fluß, der durch ihre Stadt fließt, einst jener Flötenspieler gewesen sei…« (Pausanias 10,30,9).303

301) S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur (1930) GW Bd. XIV Anm. 1. 302) Zur Diskussion über Existenz und Definition von Totemismus siehe C. Lévi-Strauss, Das Ende des Totemismus (1965) mit der älteren Literatur. 303) Pausanias, Beschreibung Griechenlands (Übersetzung E. Meyer) (1967). 114 Mythos ______

2. In Tänzen, anläßlich von Festen, werden die Eigenheiten des Totem, häufig ein Tier, nachgeahmt. Man legt etwa die Haut des Tieres an, und nimmt damit seine Kräfte bzw. die des Ahnen, der sich dahinter verbirgt, an. Die Parallele hierzu sind die als Satyrn mit Maske und Phallos-Hose verkleide- ten Schauspieler im Thiasos, speziell im Theater. Denn was ursprünglich alle Ini- tianden einer Gruppe vollzogen haben, wird später nur noch von ausgewählten Ex- ponenten, den Schauspielern, vorgeführt. Statt dessen machte sich der Zuschauer das Marsyas-Thema zueigen, indem er Vasen mit Bildern, das Haus mit Skulpturen oder Fresken oder den Sarkophag mit einem Relief des Marsyas-Mythos schmückte. Die Rolle des Initianden schließt diejenige als Totem nicht aus, im Gegenteil, denn der Ort an den sich die Initianden zurückziehen, wurde als ein Jenseitsort, als ein Ort der Ahnen verstanden, den man erst durch Wiedergeburt wieder verläßt.304 Einen Hinweis auf ein mögliches Verständnis des Marsyas bzw. aller Satyroi als Ahnen gibt auch das Ergebnis Meulis, nach dem Maskenfeste – so auch alle Feste, die Karneval entsprechen – stets die Rückkehr der toten Seelen bedeuten, die am Ende wieder fortgeschickt werden.305

3. Nur im Rahmen einer Zeremonie ist es gestattet, das Totem zu töten d. h. zu opfern. Es wird dann feierlich beweint. Daß Marsyas geopfert wurde, ist oben bereits dargestellt worden. Ein zeremo- nieller Rahmen – eine Person allein darf das Totemtier nicht heimlich töten, sonst wäre es Mord – wird im Mythos durch den Kreis der Zuschauer (Nymphen, Musen oder Bürger von Nysa) und den Skythen hergestellt, der mit dem gezückten Messer als Opferdiener fungiert. Was das feierliche Beweinen betrifft, sei an die Beschrei- bung in den Metamorphosen des Ovid 6,382ff. erinnert: »Tränen vergossen des Hains Gottheiten, die ländlichen Faune, Satyrn, die Brü- der, um ihn und der schon ruhmreiche Olympus samt dem Nymphengeschlecht…« (Übersetzung R. Suchier)

Konstruktion einer Phylogenese Zusammenfassend läßt sich sagen: In der literarischen und archäologischen Über- lieferung zum Marsyas-Mythos lassen sich die Überreste zweier einstmals auch rituell ausgestalteter Rollen identifizieren, die des Initianden und des Totems oder Schutzgottes. Diese sind beide für das stammesgeschichtliche Bild, das eine Gruppe von und für sich selbst entwirft, relevant.

304) A. van Gennep, Les rites de passage (1909) 131. 305) K. Meuli, Gesammelte Schriften II (1975) 1043ff. (Hrsg. Th. Gelzer). Meuli konnte diese Schrift nicht mehr fertig ausarbeiten. ______Mythos 115

Die Geschichte des Marsyas ist eine individualisierte Einzelepisode aus dem rituellen Geschehen um den Fruchtbarkeitsgott Dionysos, dem zu Ehren die Initi- anden bzw. Schauspieler, Fruchtbarkeit beschwörend, tanzen, musizieren und Op- fer darbringen. Dieses sich jährlich wiederholende Geschehen ist natürlich für den Fortbestand der sozialen Gemeinschaft, für die Stammesgeschichte von großer Be- deutung, denn die Einbindung des Nachwuchses sichert die Zukunft für weitere Generationen. Über die rituellen Gebräuche hinaus gestaltet die Marsyas-Geschichte die Phase der Aufmüpfigkeit des noch wild umherstreifenden Jungendlichen in erzählerischer Form – eine, wie noch gezeigt wird, auch sexuell geartete Konkurrenz gegen Apollon. Durch die feste Anbindung des Geschehens an einen realen Ort, an die Stadt Kelainai und ihren Fluß Marsyas in Phrygien wird der Mythos zum Ortsmythos, der Satyr zu einer Orts-, nämlich Flußpersonifikation gewandelt. Ein geographi- scher Bezug beinhaltet zugleich automatisch einen chronologischen Fixpunkt, an dem sich das Geschehen abgespielt haben muß, wenn dieser auch unbestimmt bleibt: in grauer Vorzeit. Nach der angenommenen Metamorphose ist der Satyr eine Schutz- und Fruchtbarkeitsgottheit für die Stadt Kelainai geworden, der zugleich ein Ahne sein muß, weil das Geschehen als reale Vergangenheit der Stadt angesehen wird. Indem der Mythos die landschaftlichen Gegebenheiten um Kelainai begründet, den Fluß, seinen Namen und die Grotte, wird er zur »Historie« von Kelainai und damit im hohen Maße identifikationsstiftend für die Bürger der Stadt.

d. Der musikhistorische und politische Hintergrund

Die historische phrygische Auletenschule Mythen erklären häufig den Ursprung kultureller Errungenschaften. Die Überliefe- rung antiker Musiktheoretiker über die ersten Aulos-Musiker und die Einführung der Auletik in Griechenland formt aus der mythischen Figur des Marsyas einen historischen Musiker, einen berühmten Aulos-Spieler. Der Musiker Hyagnis306 aus dem phrygischen Kelainai, sein Sohn Marsyas307 und dessen Sohn oder Schüler

298) Ps.-Plutarch, de mus. 4.7; Marmor Parium 10, Hyagnis erwähnt bei Glaukos von Rhegion (5. Jh. v. Chr.) »Peri ton archaion poeton kai mousikon«. Siehe RE VIII,2 (1913) s. v. Hyagnis (H. J. Abart); Der neue Pauly V (1998) s. v. Hyagnis (F. Zamirer). 307) So Ps.-Plutarch, de mus. 4.7. Für Pausanias (10,30,9) ist Marsyas der Erfinder der Lieder im Kybelekult. 116 Mythos ______

Olympos308 – oder einer von den dreien – sollen zuerst den Aulos geblasen haben. Hyagnis oder Marsyas oder Olympos gelten in der antiken Musikliteratur als Be- gründer der phrygischer Flötenschule und ihrer Harmonielehre. Wie die Verwandt- schaftsverhältnisse, so sind auch die zeitlichen Angaben zu den drei Personen widersprüchlich. Bei Platon und bei Aristoteles ist Olympos eine um 700 v. Chr. wirkende histo- rische Person, die zu der ausschließlich aus Saitenspiel und Gesang bestehenden griechischen Musik die phrygische Auletik und das enharmonische Tongeschlecht eingeführt haben soll.309 Nach der Einschätzung von Max Wegner bezeugt diese mythische Überliefe- rung, daß tatsächlich eine bedeutende phrygische Auletenschule die Musik des griechischen Festlandes stark beeinflußt hat.310 In der älteren Forschung wurde vertreten, daß der phrygische Aulos in der archaischen Zeit, als barbarisch und dionysisch-orgiastisch geltend, von der ioni- schen Kultur, deren wichtigstes Instrument die Kithara war, weitgehend abgelehnt wurde, sich aber trotzdem ab dem 7. Jh. v. Chr., wie andere kultische Einflüsse aus dem Osten, langsam durchsetzte. Heute dagegen ist es gesichert, daß der Aulos schon im 3. Jt. v. Chr. in Griechenland bekannt war. Bereits in Linear B-Schriften wurde Dionysos genannt und bereits auf dem Sarkophag von Hagia Triada von 1400 v. Chr. erscheinen Aulos und Kithara. Ab dem Beginn des 1. Jt. v. Chr. ist der Aulos im Kybelekult in Kleinasien belegt.311 Für eine Ablehnung in der Archaik gibt es keine Anhaltspunkte.

308) Ps.-Plutarch, de mus. 5.7; RE XVIII (1939) s. v. Olympos Nr. 26, 321-324 (M. Wegner); LIMC VII (1994) s. v. Olympos I,II (A. Weis); Lexikon der Alten Welt S. 2007 s. v. Musik (G. Wille). Bei Apollodor I 24 ist Olympos der Vater des Marsyas. 309) Der Kleine Pauly III (1979) 1487 s. v. Musik (U. Klein). Wie andernorts beim Aulos schimmert bei Diodor die Konstruktion einer historischen Entwicklung für die Kithara durch, denn über Apollon heißt es nach dem Wettkampf: »Voll Zorn über die eigene Tat nahm er die Kithara, zerriß die Saiten und zerstörte so die entdeckte Harmonie. Diese wurde später in ihren Teilen wieder aufgefunden, und zwar die Mese von den Musen, der Lichnos von Linos, Hypate und Parhypate durch Orpheus und und Tamyris.« Diodor be- schreibt also ein viersaitiges Instrument, dessen Töne als festumrissenen Begriff »die Harmonie« bilden. Erfinder des Instrumentes ist, wie Diodor weiter oben erwähnt, Her- mes. Nach Apollons Zerstörung der Kithara scheint die Erfindung einige Zeit verloren gewesen zu sein, denn andere Musiker und die Musen müssen die Tonfolgen neu erfinden; d. h. zuvor war das Instrument noch ein einmaliges Einzelstück. Die Art der Aufzählung: die Musen erfinden die Mese, Linos den Lichnos, Orpheus und Tamyris die Hypate und Parhypate, erweckt den Eindruck, daß die Wiederentdeckungen auch nicht gleichzeitig, sondern in zeitlichem Abstand erfolgten. 310) RE XVIII (1939) 321f. s. v. Olympos (M. Wegner). 311) Geschenke der Musen. Gesang und Tanz im alten Griechenland, Kat. Musikinstrumenten- Museum Berlin (2003) Kat. Nr. 3.6.13.85. ______Mythos 117

Marsyas und Aulos in der klassischen Kunst und Dichtung in Athen – auf Vasenbildern Ab 530 v. Chr. werden Darstellungen musischer Agone (sicheres Kennzeichen ist ein Bema, auf dem der Vortragende steht312) auf attischen Symposiongefäßen häufiger.313 Die Darstellung von Aulos-Agonen hört interessanterweise nach den Perser- kriegen auf und erscheint erst wieder nach der Mitte des 5. Jhs., um zum Ende des 5. Jhs. v. Chr. dann ganz zu enden, da man sich allgemein anderen Themen zu- wandte.314 Ab ca. 430 v. Chr. bis zum Ende des 4. Jhs. treten Bilder des Marsyas-Themas auf, d. h. in den dreißig Jahren von ca. 430 bis 400 v. Chr. laufen das Marsyas- und das Aulos-Agon-Thema parallel nebeneinander.315 Es scheint also Gründe gegeben zu haben, den Aulos in der ersten Hälfte des 5. Jhs. v. Chr. erst gar nicht mehr darzustellen und dann nur noch kurze Zeit paral- lel zum Marsyas-Thema, bis beide Themen etwa gleichzeitig enden. Vermutlich geriet der Aulos als östliches, »persisches« Instrument während der Perserkriege in Mißkredit, zumindest in bestimmten Kreisen, und wurde deshalb nicht dargestellt. Um 450 v. Chr. war diese Implikation wieder zunehmend ver- gessen.

– in der Skulptur Die Skulpturengruppe von Athena und Marsyas von Myron, deren Rekonstruktion, ja selbst Datierung in der Forschung nach wie vor umstritten ist, soll wegen dieser Unsicherheit hier nicht als Argument für die allgemeine Zurückweisung des Instru- mentes in der ersten Hälfte des 5. Jhs. v. Chr. dienen.316 Da vor allem die Haltung der linken Hand der Athena, deren Gestik für die Bedeutung entscheidend ist, nicht gesichert ist, sind diesbezüglich nur Spekulationen möglich. Von aufforderndem Wohlwollen, Anspornen, Befehlen über Ablehnung und Verfluchung ist die Rede gewesen.

312) H. Kotsidu, Die musischen Agone der Panathenäen in archaischer und klassischer Zeit (1991) 105. 313) Kotsidu a. O. 32ff.: schon im 6. Jh. v. Chr. muß es musische Agone anläßlich der Panathe- näen gegeben haben, nicht erst seit Perikles wie Plutarch, Perikles 13, behauptet. 314) Kotsidu, a. O. 125. 315) Froning, Dithyrambos 40ff. Kat. der Vasen mit Marsyas. 316) G. Daltrop – P. C. Bol, Athena des Myron. Liebieghaus Monographien Bd. 8 (1983); A. Zschätzsch, Verwendung und Bedeutung griechischer Musikinstrumente in Mythos und Kult (2002) 6ff., hält sogar eine erst kaiserzeitliche Zusammenstellung der beiden Figuren für möglich. 118 Mythos ______

– in der philosophischen Literatur Die Ablehnung des phrygischen Aulos, eine harte Diskussion um den Wert der Aulos-Musik, ist für eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe, einen Kreis um Sokrates am ausführlichsten belegt. Bei Platon (Politeia 398d ff.) werden die ionischen und lydischen Tonarten als weichlich beschrieben: Die dorische und phrygische Tonart, eine gewaltige und eine gemächliche für den Unglücklichen und den Glücklichen seien allein nötig. Instrumente mit vielen Saiten wie Harfen und Zimbeln, Nachahmer des Aulos und auf alle Tonarten ein- gerichtet, seien nicht notwendig, da tapfere Männer nur wenige Tonarten bräuch- ten. Aulos-Macher und Aulos-Spieler gehörten nicht in die Stadt, sondern Lyra und Kithara, der Aulos sei für Hirten auf dem Lande (399d), das Instrument Apollons dem des Marsyas vorzuziehen. Die Stadt, die vorher schwelgte, sei zu reinigen.

Das Saiteninstrument wird hier von Platon, wie später auch bei Aristoteles, auf eine höhere kulturelle Stufe gestellt als der Aulos, d. h. das Griechische galt als dem Phrygischen überlegen. Vermutet worden ist, daß Platon sich in seiner Argumenta- tion auf den Musiktheoretiker Damon von Oa stützte, der den Aulos wegen seiner Unschicklichkeit – weil er den Spieler im Gesicht entstelle – verwarf.317 Bei Plutarch (Alkibiades 2ff.) (Anf. 2. Jh. n. Chr.) gipfelt Alkibiades' Ableh- nung von Flötenbau und Flötenspiel bei den Böotern in der Verspottung der The- baner. Alkibiades lehnt Perikles’ Wunsch, das Aulos-Blasen zu erlernen, ab, weil er es als etwas Unedles und Niedriges ansieht; dabei verweist er auf Athenas Reak- tion im Mythos. Offensichtlich steht in dieser Szene der Erbauer des Odeions in Athen, Perikles, für die Befürworter des Flötenspiels.318 Im platonischen Symposion (214d f.), dessen Rahmenhandlung 416 v. Chr. in Athen spielt, ist die Situation deutlich verändert. Alkibiades kommt, von einer Flö- tenbläserin begleitet, zum Gastmahl des Agathon. Alkibiades beschreibt den Reiz des Flötenspiels und seine außerordentliche Verführungskraft. Er zeigt sogar Be- wunderung für Olympos. In den Wolken des Aristophanes (310ff., uraufgeführt 423 v. Chr.) ist der Aulos als Instrument dionysischer Festesfreude offensichtlich etwas bereits allgemein Akzeptiertes. Der Dithyrambendichter Telestes aus Selinus, der wahrscheinlich

317) F. Lasserre, Das Satyrspiel, in: B. Seidensticker (Hrsg.), Das Satyrspiel (1989) 264; A. J. Neubecker, Altgriechische Musik (1994) 18f. 318) Von Hermipp, einem Vertreter der Alten Komödie gab es ein Stück mit dem Namen »Moirai« (F42 50 PCG), in dem Perikles kritisiert wurde! J. Schwarze, Die Beurteilung des Perikles durch die attische Komödie (1971) 101-109. ______Mythos 119

402 v. Chr. zum ersten Mal in Athen siegte, bestreitet sogar, daß Athena die Auloi verworfen haben soll und nennt Olympos den König der Auloi.319 Folglich hatte sich die Meinung über das Aulos-Spiel – es scheint überhaupt nur von Einzelnen abgelehnt worden zu sein – in der zweiten Hälfte des 5. Jhs. zum Positiven gewandelt und das Instrument hatte eine uneingeschränkte Bedeu- tung, was ja auch die Vasenbilder bezeugen. Aristoteles bestätigt im achten Buch der Politeia (1341 a 21ff.), daß nach den Perserkriegen – damit muß die zweite Hälfte des 5. Jhs. v. Chr. gemeint sein – die Flötenkunst zum Bildungsgut der Freigeborenen in Athen wurde, später aber wie- der aus der Mode kam, weil die Menschen einsahen, daß der Aulos nicht der Tu- gend diene. Auch habe Athena wohl weniger wegen der Entstellung des Gesichts den Aulos fortgeworfen, sondern weil das Instrument nicht dem Intellekt diene.

– im Dithyrambos Um die Mitte des 5. Jh. v. Chr. war Athen durch Verbesserung der Instrumente mittels Erweiterung der Tonbereiche auch in der Musikentwicklung eine treibende Kraft geworden. In dieser Zeit bildete sich ein großes Interesse für Dithyrambos und Drama heraus und es entstand der sogenannte Neue Stil in der Musik, der eine Betonung des Musikalischen vor dem Gesang bedeutete und von einigen heftig be- kämpft wurde. Als Urheber des neuen Stils gelten in den späteren musiktheoreti- schen Schriften die Musiker Phrynis aus Mytilene und Melanippides aus Melos. Der letztere begründete den sogenannten jüngeren Dithyrambos.320 Dithyramben, von Knaben oder Männern zu Ehren des Dionysos aufgeführte Chorlieder, haben einigen Einfluß auf die gleichzeitige Bildniskunst der Vasen- malerei gehabt. Man hat das plötzliche Auftauchen des Marsyas-Themas mit der Anregung durch ein dramatisches Stück begründet. Froning, die die Zusammenhänge zwi- schen literarischer Vorlage und Vasenbildern untersucht hat, kommt aber zu dem Ergebnis, daß ein Satyrspiel als Vorlage für die attischen Marsyasdarstellungen wenig wahrscheinlich ist, sondern daß der Dithyrambos des Melanippides mit Namen »Marsyas« Vorlage für die Marsyas-Vasenbilder gewesen sein muß.321

319) M. Wegner, Das Musikleben der Griechen (1949) 165. 320) Der Kleine Pauly III (1979) Sp. 1488 s. v. Musik (U. Klein). Plutarchs Bemerkung über Perikles als Organisator musischer Agone (Perikles 13) wird auch als ein wenn auch ent- stellter Reflex der Diskussion um Musik und Aufführungen zu dieser Zeit zu verstehen sein. 321) Diese Ansicht vertrat vorher auch schon J. Boardman, JHS 76, 1956, 18-20. Es geht hier um eine spezielle, literarisch nicht belegte Version des Mythos, in der Marsyas (auch) auf der Kithara spielen muß, d. h. die Kontrahenten hatten das gleiche Instrument zu spielen. Dies deutet vielleicht auf einen historischen Hintergrund, nämlich auf die Einrichtung von vergleichbaren Wettkampfbedingungen. Vielleicht ist diese besondere Version aber auch eine Erfindung des Melanippides. 120 Mythos ______

Froning wies darauf hin, daß gerade der Marsyas-Mythos, in dem Musik ein unabdingbares Element ist, sich bestens für die musikalischen Neuerungen des Melanippides eignete.322 In dem Marsyas-Fragment des Melanippidides ist auch erstmals die Szene zwischen Athena und Marsyas überliefert, in der Athena die Flöte verärgert fortwirft (Athenaios 14, 616f):

»Athena öffnete ihre heilige Hand und warf das Instrument weg, dabei sprechend: fort von mir, Schmach und Schande meines Körpers, ich liefre mich nicht der Unanständig- keit aus!« (Übersetzung Verfasserin)

Die Begriffe Schmach, Schande und Unanständigkeit, die Athena ausspricht, wei- sen zweifelsfrei auf die Ablehnung des Aulos als etwas, das gegen gute Sitte ver- stößt. Das genaue Entstehungsdatum des »Marsyas«-Dithyrambos von Melanippides ist nicht bekannt. Lasserre datiert ihn früh, nämlich vor 460 v. Chr., und vermutet in Melanippides den Schöpfer der neu zusammengesetzten attisch-phrygischen Sage von Athena und Marsyas. Vielleicht war sein Marsyas-Dithyrambos Anregung für Myrons um 450 v. Chr. entstandene Athena-Marsyas-Gruppe.323 Melanippides selbst ist, wie auch Platon, wohl von dem Musiktheoretiker Damon von Oa beeinflußt, der dem Aulos aschemosyne (Unschicklichkeit) zuschrieb.324 Aus einer Tragödie oder einem Satyrspiel ist ein weiteres, allerdings anonymes Fragment325 erhalten, in dem ebenfalls der Begriff der Schicklichkeit, des Anstan- des (euthemovei) angebracht wird.

Antagonismus der Götter Apollon und Marsyas und der Instrumente Aulos und Kithara? Von Marsyas' Aulos-Spiel heißt es bei Diodor, daß es sich bestürzend (kataplextai) anhörte und Erstaunen oder Befremden hervorrief (kataplexai tas akoas to xeni- zonti), trotzdem aber als schön empfunden wurde (eumeleia = eigentlich: schöner Gesang, wird als schöne Harmonie oder schöne Melodie übersetzt).

322) Froning, Dithyrambos 34ff. Einen Dreifuß im Zentrum des Bildfeldes wertet sie nicht als Kennzeichen für einen Wettstreit (37), sondern als Kennzeichen für eine apollinische oder dionysische Dithyrambos-Aufführung. Nach Kotsidu (124f.) kann ein Dreifuß einen Sie- gespreis meinen oder allgemein Sinnbild für den Sieg sein. 323) F. Lasserre, in: Satyrspiel (Hrsg. B. Seidensticker) (1989) 263f.; C. Del Grande, Ditiram- bografia (1946) unterscheidet einen älteren Melanippides (geb. 520/17, Sieger in Athen 494/3 v. Chr.) und einen jüngeren (490-415 v. Chr.). 324) Lasserre a. O. 264. Bei Athenaios 14, 616e heißt es, daß Melanippides im ›Marsyas‹ die Kunst des Aulos-Spiels lächerlich machte. 325) TrGF II adespota 381. ______Mythos 121

Durch Euripides »Bakchen« (123f.378.686) und durch viele Vasenbilder ken- nen wir den Aulos als Instrument des dionysischen Thiasos, von Satyroi oder Mä- naden gespielt, dessen Klänge berauschen. »Die mit dem Blasinstrument hervorge- brachte Musik hat mehr orgiastisch rhythmischen als melodischen Charakter. Ihr liegt weniger an musikalischer Erbauung als an ekstatischer und magischer Betö- rung.«326 Demgegenüber wird Apollons Kitharaspiel und seine Stimme als harmonisch und bezaubernd geschildert. Das Saitenspiel als melodisch und wohlklingend. Hier tritt ganz offensichtlich das Heitere und Kultivierte des Apollinischen dem Wilden und Fremden des Dionysischen gegenüber, der olympische Gott (der nichts- destotrotz im Mythos einen grausamen Zug offenbart) dem phrygischen Walddä- mon und Dionysosanhänger. Kithara und Flöte repräsentieren die charakterlichen Wesenszüge ihrer Besitzer Apollon und Marsyas. Im Mythos treffen zwei gegen- sätzliche Götter mit technisch und klanglich ganz unterschiedlichen Instrumenten aufeinander. Die verschiedenen Instrumente repräsentierten auch in der Realität et- was abweichende Ausdrucksformen der Festkultur. Aulos-Musik, die in Lautstärke und Tonumfang der Kithara überlegen war, begleitete in erster Linie Waffentänze, Reigen, sportliche Agone, Leichenzüge und Opferhandlungen, besonders des Dio- nysoskultes, sowie Dithyramben- und Tragödienaufführungen, Kitharamusik aber eher Sologesang und Chorlyrik. Ein wirklicher kultischer Antagonismus, eine klare Funktionstrennung läßt sich aber nicht feststellen. Der Aulos gehörte auch zum Apollonkult, ebenso wie die Kithara im dionysischen Umfeld auftauchen kann. Die gemeinsam verwendeten Instrumente Aulos und Kithara repräsentierten schließlich in Delphi die Kultverbindung von Dionysos und Apollon.327

Wie Eliade328 formuliert hat, offenbart Apollon den Weg, der von der hellseheri- schen Vision zum überlegten Denken führt. Was dem Dionysos die Ekstatik ist, ist Apollon die Trance. Er inspiriert das Delirium der Pythia, er ruft durch seine Leier Visionen hervor; führt aber darüber hinaus zu einem geistigen Zustand, dessen Ruhe und Meditation im Sinne des ›Erkenne dich selbst‹ erst geistige Arbeit, also

326) Daltrop – Bol a. O. 17. 327) H. Huchzermayer, Aulos und Kithara in der griechischen Musik, Diss. Münster 1930 54ff. W. Schmidt-O. Stählin, Geschichte der Griechischen Literatur, Hdb. d. Altertumswissen- schaften 7,1,1 (1959) 329ff. Zu Aulos und Leier auch: U. v. Wilomowitz-Moellendorf, in: ders. – K. Krummbacher – J. Wackernagel u. a., Die griechische und lateinische Liter- atur und Sprache (1912) 37f. A. J. Neubecker, Altgriechische Musik (1994) 14ff. 47. 77. A. Zschätzsch, Verwendung und Bedeutng grichischer Musikinstrumente in Kult und Mythos (2002) 12. 328) M. Eliade, Geschichte der religiösen Ideen Bd. I (1978) 253f; L. Bruit Zaidmann, Die Religion der Griechen (1994) 194ff. 122 Mythos ______

Wissenschaft und Weisheit ermöglichen. Dahinter steht wie oben erläutert die Vor- stellung aus dem Schamanentum, daß besonderes Wissen nur in einem besonderen Geisteszustand erfahren und geschaut werden kann, wozu die Musik unabdingbar ist. Dies ist bei der Figur des Orpheus ganz ähnlich. Dagegen bedeutet die dionysische Ekstase die Befreiung von inneren und äuße- ren Regeln und Grenzen wie Gewissen, Scham und Konvention, um in der mania den Gott selbst zu erfahren.329 Aber auch der ekstasis folgt ein Zustand der kathar- sis. Die Unterschiede des Dionysischen und Apollinischen sind weniger als ein Gegensatz zu sehen, denn als Phasen menschlichen Seins, als ein Wechselspiel.

Rekonstruktion eines soziopolitischen Konfliktes Die Ablehnung eines barbarischen Instrumentes, in dem sich phrygische Kultur, also östlicher Einfluß manifestiert, durch einen intellektuellen Kreis der attischen Gesellschaft, ist unmittelbar nach den Erfahrungen der Perserkriege nicht verwun- derlich. Auch die Entstehung der veränderten attischen Version des Marsyas-Mythos in der ersten Hälfte des 5. Jhs. v. Chr., in dem Athena eine wichtige Rolle übernimmt, ist mit den äußeren, historischen Umständen erklärlich. Es ist nichts Neues, daß in der Tragödie des 5. Jhs. v. Chr. aktuelle politische Konflikte verarbeitet wurden, ähnlich scheint es auch im Dithyrambos »Marsyas« gewesen zu sein. Die Göttin Athena steht selbstverständlich für die Stadt Athen und das Land Attika. Nach der attischen Auffassung des Mythos spielt sich nun die Begegnung von Marsyas und Athena in Böotien ab. Der Aulos galt in Athen als böotisches In- strument, denn Schilf vom böotischen Kopais-See wurde zu Auloi verarbeitet. Der Böoter galt dem Athener als rückständig und etwas barbarisch, glich darin also dem Phryger. In der Schlacht von Platäa 479 v. Chr. hatten die Athener die Thebaner für ihre Kollaboration mit den Persern bestraft. In der Schlacht von Oinopytai 457 v. Chr. in Böotien siegten noch einmal die Athener über Spartaner und Thebaner.330 Die Böoter war demnach in der ersten Hälfte des 5. Jhs. v. Chr. neben den Per- sern der Feind. Die Versetzung des Marsyas nach Böotien, seine Vernichtung durch Athenas Fluch ist als ein Gleichnis für die aktuelle politischen Situation leicht verständlich. Der Auseinandersetzung mit äußeren Feinden stehen im Innern des Gemein- wesens ebenfalls Konflikte gegenüber.

329) Eliade a. O. 340. 330) Daltrop – Bol a. O. 54. ______Mythos 123

Wenn im Zusammenhang von Marsyas und Aulos immer wieder von Un- schicklichkeit die Rede ist, das Aulos-Spiel als nicht-bildend, weichlich, unedel und damit negativ für die Jugend beschrieben wird, so wird deutlich, daß man in der attischen Gesellschaft der ersten Hälfte des 5. Jhs. v. Chr. die Verführung und Verwahrlosung der Jugend durch fremde, orientalische Einflüsse befürchtete, der Athena als Beschützerin der Jugend und Bewahrerin der Erziehung entgegenzu- treten hatte. (Eine Befürchtung übrigens, die zu allen Zeiten gegenüber der Jugend besteht.) Verständlicherweise pries man der nach Neuem Ausschau haltenden Ju- gend lieber den Weg apollinischer Selbsterkenntnis an, als den der dionysischen Ekstase. Die Verunglimpfung des weisen Marsyas war passend, weil der Aulos sich als negatives Symbol anbot, und sie war nötig, weil man ein Anti-Paradigma brauchte. Die Bedeutung der Rolle des Marsyas als jugendlicher Aufrührer, die sich schon auf der rituellen Ebene herausschälen ließ, ist auch hier wieder virulent. Marsyas wird zum Verführer der Jugend, zum ›Rattenfänger von Hameln‹. Er ist ein Frem- der, der von außen in die vorher geschlossene Polis-Gesellschaft eindringt. Wenn gute Musik einen guten Charakter bildet, so bedeutet dies aber auch, daß schlechte Musik zur Gefahr wird. Die Ordnung der Töne wurde mindestens seit den Pythagoreern mit der staatlichen Ordnung gleichgesetzt. Laut Platon (Politeia 424c) hat Damon vor der Einführung neuer Musikgattungen gewarnt, weil dies auch stets eine Änderung der bürgerlichen Ordnung mit sich bringe. Diese Quelle ist ein eindeutiger Hinweis darauf, daß Marsyas mit seiner Aulos- Musik als Gefahr für die bestehenden Verhältnisse angesehen wurde.

Der Gebildete der Kaiserzeit kannte die klassische Auseinandersetzung um Kithara und Flöte wie sie bei Platon und Aristoteles festgehalten ist. Offensichtlich hat sie auch zu dieser Zeit noch berührt und zum Nachdenken herausgefordert, sonst hätte Plutarch in seinen Doppelbiographien nicht Alkibiades so ablehnend über den Aulos sprechen lassen. Selbst Aulus Gellius, der in Athen studiert hat, (15.17) ist im 2. Jh. n. Chr. diese Diskussion noch bekannt. Daß der kaiserzeitliche Sarkophagbildhauer, der das Marsyas-Thema aufgreift, noch mit der musiktheoretischen Debatte und den politischen Gegebenheiten des klassischen Athens vertraut war, scheint aber ganz unwahrscheinlich. Vermutlich hat er auch wenig oder nichts über die Umstände der Entstehungszeit der großpla- stischen Gruppe mit Marsyas, Apollon und Aphrodite-Moira um 100 v. Chr. gewußt.

124 Mythos ______e. Die soziologisch-philosophische Ebene: Pädagogisch-kosmologische Ausdeutung

Musik als Erziehungsmittel Eng verknüpft mit der vorigen Deutungsebene ist die pädagogisch-kosmologische Ausdeutung, für die wir uns auf dieselben Quellen stützen. Dabei gehen Platons und Aristoteles Äußerungen zur Musik vermutlich auf die pythagoreische Schule und Damon von Oa zurück. Die pythagoreische Schule beschrieb als erste die Beziehung zwischen Musik und seelischer Bewegung. Der um die Mitte des 5. Jhs. in Athen lebende Sophist und Musiktheoretiker Damon glaubte, daß durch Musik sittliche Haltung erzeugt und gestärkt werden könne und schrieb daher der Musikererziehung eine besonders wichtige Rolle in der Jugenderziehung zu. Das Streben nach Harmonie in der Mu- sik galt als seelen- und charakterbildend, führe zur . Den Tonarten ordnete er einen eigenen ethischen Wert zu und formulierte den Gegensatz von phrygischer und lydischer Harmonie.331 Musikalische Erziehung führt zur Sittlichkeit, der Rhythmus und der Wohl- klang zur Wohlanständigkeit der Seele:

So sagt Platon, Politeia 401d: »Beruht nun nicht eben … das Wichtigste in der Erziehung auf der Musik, weil Zeitmaß und Wohlklang am meisten in das Innere der Seele eindringen und sich ihr auf das kräf- tigste einprägen, indem sie Wohlanständigkeit mit sich führen …« (Übersetzung F. Schlei- ermacher)

Bei Aristoteles, Politika 1340b ff. heißt es: »Es ergibt sich daraus, daß in der Tat die Musik den Charakter der Seele zu beeinflussen, vermag. Kann sie dies, so muß man die jungen Leute zu ihr hinführen und in ihr erzie- hen.«

Da gute Musik einen guten Einfluß auf die Jugend hat, kann aber auch schlechte Musik einen verderblichen Einfluß ausüben und es ist nötig, die Jugend in diesem Sinne zu überwachen.

Aristoteles, Politika 1341a f.: »Man soll prüfen, wie weit die auf die staatsbürgerliche Tugend hin Erzogenen sich mit solcher Arbeit befassen, welche Lieder und Rhythmen sie beherrschen und was für In- strumente sie benutzen sollen; denn auch das macht offenbar einen Unterschied.«

331) Neubecker a. O. 127ff. ______Mythos 125

Aristoteles, Politika 1342b: »Sokrates im ›Staat‹ läßt mit Unrecht neben der dorischen nur die phrygische Harmonie gelten, und dies, obschon er unter den Instrumenten die Flöte verwirft. Dabei hat unter den Harmonien die phrygische dieselbe Bedeutung wie unter den Instrumenten die Flöte. Beide sind orgiastisch und leidenschaftlich. Das zeigen die Dichtungen. Denn jede diony- sische und verwandte Bewegung stellt sich unter den Instrumenten am meisten in der Flöte dar, und von den Harmonien sind es die phrygischen, in denen diese sich angemes- sen ausdrücken.« »Und wenn es endlich eine Harmonie gibt, die dem Knabenalter entspricht, weil sie bil- dend und zugleich disziplinierend wirkt, so mag dies von allem Harmonien am meisten die lydische sein.«

Der Aulos hatte also den negativen Beigeschmack des Orgiastischen.

Aristoteles, Politika 1341a: »Auch ist die Flöte nicht ethisch, sondern orgiastisch, so daß man sie bei solchen Gele- genheiten verwenden soll, wo das Hören mehr der Reinigung als eine Belehrung anstrebt und Belehrung. Als ein Hindernis im Sinne der Bildung ist noch beizufügen, daß die Flöte es unmöglich macht, dazu zu reden. So haben die Früheren mit Recht ihren Gebrauch bei Jungen und Freigeborenen abgelehnt, obschon sie sie zuvor selbst verwendet hatten. Als sie nämlich durch den Wohlstand auch mehr Muße bekamen und in ihrer Tüchtigkeit großgesinnter wurden, schon vorher und vor allem nach den Perserkriegen von Stolz er- füllt wegen ihrer Taten, interessierten sie sich für alle Bildungsgegenstände mit Begierde und ohne Auswahl. Da kam denn die Flötenkunst zu den Bildungsstücken dazu … Später kam diese Kunst durch die Erfahrung selbst wieder außer Mode, da die Menschen besser zu beurteilen lernten, was der Tugend dient und was nicht.« (Übersetzung Olof Gigon)

Auch Pratinas, ein Dichter des 5. Jhs. v. Chr., brachte die Aulos-Musik mit der Aufmüpfigkeit der Jugendlichen in engen Zusammenhang. Bei Athenaios 14, 617d heißt es, er habe gesagt: »… der Aulos jedoch soll erst in zweiter Linie beim Tanze wirken, denn er ist der Dienende. Er mag bei Trinkgelagen und bei wüsten Raufe- reien angetrunkener Jugendlicher auf den Straße den Ton angeben wollen.« (Über- setzung C. Friedrich) Die Auffassung, daß gute Musik und ein guter Charakter zusammengehören, wird später von Plutarch im ›Perikles‹ (1ff.) bestritten, da man zwar das Produkt einer handwerklichen Tätigkeit bewundern könne, nicht aber zwingend auch den bewundern müsse, der es geschaffen habe. Ein trefflicher Flötenspieler könne durchaus ein schlechter Mensch sein bzw. es ist sogar wahrscheinlich, daß ein her- vorragender Flötenspieler ein schlechter Mensch ist. (Diesen Satz legt Plutarch dem Kyniker Antisthenes in den Mund.) Hier ist nicht einmal mehr entscheidend, ob es Musik von guter oder schlechter Harmonie ist, wie noch Aristoteles meinte. 126 Mythos ______

Wie seine musiktheoretischen Vorgänger unterscheidet aber auch Plutarch332 »niedere und gefährliche Reize der Kultur, »kakomousia« genannt, von positiven Reizen. Die verführerische Kraft der Musik konnte durchaus auch eine zum Schlechten sein und die musische Thematik wurde oft mit erotischen Vorstellungen verbun- den, die um Liebreiz und verführerische Kraft kreisen.333 Vom Gesang der Sirenen z. B., meinte man, gehe eine verzaubernde magische Wirkung aus. Die Federn der Musen sind nach Pausanias 9,34,2 Symbol ihres rei- nen Charakters im Gegensatz zu demjenigen der Sirenen.

Die möglichen negativen Einflüsse des Flötenspiels sind bereits aufgezeigt worden. Daß die Figur des Aulos-Spielers Marsyas sich als pädagogisches Exempel gera- dezu anbot, ergibt sich nicht nur durch die der Musik zugeschriebenen positiven oder negativen Einflüsse, sondern auch durch die an ihm vollzogene Schindung. Auf die Bedeutungsebene des Hautwechselns oder Hautverlierens ist schon im Rahmen der rituellen Deutung eingegangen worden. Daß das Gerben der Haut eine Metapher für den Entwicklungsprozeß vom jun- gen, quasi rohen Menschen zum gebildeten und tugendsamen Erwachsene gemeint ist, ist bei Platon »Euthydemon« 285c,d klar ausgesprochen. In diesem Textstück geht es um das Streben nach Erkenntnis, Tugend und Weisheit, um die individuelle Entwicklung des Menschen: »… wenn nur am Ende nicht aus meinem Fell, wie aus dem des Marsyas' ein Schlauch wird, sondern Tu- gend.« (Übersetzung F. Schleiermacher) Das Gerben führt entweder zur Tugend oder es wird, sollte es auf zu sehr Widerstand treffen, zur Schindung, die letztendlich zur Vernichtung führt. Ob der Metapher von der Schindung als Entwicklungsprozeß zur tugendsamen gebildeten Person auch als auf den Marsyas nach der Schindung zutreffend angese- hen wurde, ist nicht klar, da die Quellen sich zu dem Wesen des entstandenen Fluß- gottes nicht äußern.

Allerdings stellte man sich Marsyas teilweise auch schon vor bzw. unabhängig von der Schindung als einen Weisen vor, wie wir bereits oben anläßlich der Stelle bei Platon (sym. 216d) oder bei Diodor gesehen haben. Die Angleichung des Sokra- tesbildes in der Literatur als auch in der bildenden Kunst an einen Silen bzw. Mar- syas, geht darauf zurück, daß der Silen, also der alte Satyr, der als Personifikation höchster Weisheit galt, im Mythos Erzieher von Götter- und Heroenkindern ist.334

332) Plutarch mor. quaest. convi. 7,5 704 c, 706 d; Vgl. H. I. Marrou, mousikos aner (1938, Nachdruck 1964) 242f. 252ff. 333) B. C. Ewald, RM 105, 1998, 245ff. 334) P. Zanker, Die Maske des Sokrates (1996) 44. ______Mythos 127

Bei Plutarch (Consolatio ad Apollonium 115c) ist eine Aristoteles-Notiz über- liefert, nach der Midas einen Silen, wohl den gereiften Marsyas335, einfangen läßt, um von ihm die Geheimnisse des Lebens zu erfahren. Der Silen besitzt also eine außerordentliche Weisheit, deren Offenbarung er übrigens ablehnt, mit dem Hin- weis, daß es besser sei, nicht alles von den Menschen zu kennen. Hier wird dem Silen eine universale Größe zuerkannt, die einem Salomon gleichkommt. Handelt es sich wirklich um Marsyas – zumindest ist es ein gleichar- tiges Wesen –, dann bedeutet die Musik zu kennen, die Ordnung der Welt zu erken- nen. In diese Deutungsrichtung geht auch die Rolle des Marsyas als Lehrer seines jungen Schülers Olympos. Erinnert sei an dieser Stelle auch noch einmal an den oben erläuterten Begriff der techne in Platons Verständnis. Um techne und sophias ging es im Wettkampf nach Xenophon und Diodor, das ist nach dem platonischen Begriff das Streben nach Vernunft und sittlicher Einsicht. Man hat den Eindruck, daß sich zu allen Zeiten die unterschiedlichen Charak- terbilder des Marsyas als jugendlicher Verführer oder als weiser Lehrer als zwei Seiten derselben Medaille gleichsam changierend übereinandergeschoben haben.

Die Bedeutung der Musik im Kosmos Zwischen Musik, Mathematik und Astronomie stellte Pythagoras im 6. Jh. v. Chr. eine enge Beziehung her: Die Gleichmäßigkeit im Lauf der Gestirne wurde als göttliche Ordnung verstanden, die Harmonie der Sphären mit der Harmonie von Musik gleichgesetzt. Man glaubte, daß die Bewegung der Sphärenringe Musik er- zeuge. Die Zahlengrundlage (Intervallproportionen) der Musik wurde somit als Abbild der Weltordnung angesehen. Sie beeinflusse Seele und Charakter des Men- schen und habe damit eine wichtige Rolle in der Gesellschaft. Harmonische Musik erzeuge einen guten Charakter und eine ausgeglichene Seele. Folglich greift, wer eine unharmonische Musik erzeugt wie Marsyas, auch die göttliche Ordnung, die kosmische Harmonie an. Diese zeigt sich im ewigen Ablauf der Tage, Wochen, Monate und im Zyklus der Jahreszeiten, was ein Gedeihen der Erde garantiert. Diese kosmologischen Vorstellungen der Pythagoreer und Platoni- ker waren auch in der römischen Kaiserzeit noch bekannt und verbreitet.336 Eine mögliche gedankliche Einbindung des Marsyas-Mythos in die Vorstellung einer kosmischen Ordnung deuten im 2. Jh. n. Chr. der Barberini-Sarkophag, eine

335) Darauf könnte die Textestelle bei Hyginus, fab. 24 deuten, wo Midas auch im Zusammen- hang mit Marsyas vorkommt. 336) Daß der Sieg Apolls im Marsyas-Mythos schon unter Augustus als Metapher für dessen Sieg über Antonius und der in seinem Reich herrschenden Concordia propagandistisch ausgeschlachtet wurde, halte ich bisher für nicht belegbar. 128 Mythos ______

Stuckdecken-Dekoration und ein Mosaik mittels der mit ihnen verbundenen Jah- reszeitensymbolik an: Auf dem Barberini-Sarkophag symbolisieren die verschiedenen Früchte an den Girlanden und die verschiedenen Attribute unterhalb der Eroten die Jahreszeiten.337 Im Zentrum des Tonnengewölbes eines Ziegelgrabes antoninischer Zeit an der Via Salaria in Rom befand sich der Sonnengott Apollo-Sol mit Gespann, umgeben von den vier Büsten der personifizierten Jahreszeiten, zwischen diesen jeweils eine Szene des Marsyas-Mythos.338 Und ein spätantoninisches Mosaikbild von Marsyas und Apollon aus El Djem in Tunis wird von den Medaillons der vier personifizierten Jahreszeiten umgeben.339 Der belgische Archäologe F. Cumont entwarf zu Anfang des 20. Jhs. ein ausführliches Bild der pythagoreische Deutung des Marsyas-Mythos340: Er be- deute den Sieg der göttlichen Lyra oder Kithara über die menschliche Leiden- schaften erweckende Flöte. Denn die Akkorde der siebensaitigen Kithara oder Lyra seien das irdische der Sphärenharmonie. Das siebenseitige Instrument ahme die Sphärenmusik der sieben Planten nach, wo sich die reinen Seelen befänden. Die Bestrafung des überheblichen Aulos-Spielers stehe beispielhaft für die schul- digen Seelen, die im Nebel aufgehängt seien. Cumont stützt sich als Quelle für die- ses Bild auf Aristides Quintilianus (Ende 3. Jh. n. Chr.) (de musika II 108f.341). Dort heißt es:

»Denn der Phryger, der unmittelbar am Flusse zu Kelainai wie ein Weinschlauchbalg aufgehängt sei, habe den luftigen, von Windeswehen erfüllten und finsteren Platz inne, da er zwar oberhalb des Wassers, aber am Äther hänge. Apollon dagegen und seine Instru-

337) 1. Girlande: Glockenblumen, Blüten, Ähren. 2. Girlande: Ähren, Blüten, Weintrauben. 3. Girlande: Efeu, Pinien- und Olivenzweige. Unter den Eroten ein Böckchen (Frühling), Ährenkorb (Sommer), Traubenkorb (Herbst) und Hase (Winter). 338) Die Dekoration ist nur durch den Codex Pighianus bekannt: H. v. Hesberg, JdI 102, 1987, 405; S. Reinach, Réperoitre de la peinture greque et romaine (1922) Abb. 30.1; E. Wyss, The myth of Apollon and Marsyas in the art of the Italian Renaissance (1996) Abb. 10-12. Die Schindung des Marsyas ist auch an der Decke des rechten Seitenschiffes der Basilika Sotteranea in Rom dargestellt: E. Strong-N. Jolliffe, JHS 44, 1924, 90f. Abb. 14. 339) K. Dubabine, The Mosaics of Roman North Africa (1978) 147f.; LIMC V (1990) 532 Nr. 221 s. v. (L. Abad Carol). G. Charles-Picard, in: Hommage à W. Deonna (1957) 385-393. 340) F. Cumont, Recherches sur le symbolisme funéraire des Romains (1942) 18f. 147. 303f. 316f. Siehe auch G. Ch. Picard, Une mosaique pythagoricienne à El-Jem, Collection Latomus 28, 1957, 383. Die Deutung Picards zusammengefaßt bei K. Dunbabin, The Mo- saics of Roman North Africa (1978) 147. 341) Aristides Quintilianus, Von der Musik. Eingel., übersetzt und erläutert von R. Schäfke (1937) 303f. ______Mythos 129 mente hätten das höhere und ätherische Wesen und er sei der Schirmherr dieses höheren Seins.«

Marsyas ist demnach eine ruhelose Seele, die zwischen Himmel und Erde in einer luftigen, aber dunklen Schicht unterhalb des Äthers hängt, während sich Apollon im leuchtenden Äther befindet und über den Lauf der Planeten und Jahreszeiten wacht. Symbol dieser Harmonie ist die Kithara oder Lyra. Diese Vorstellung, daß die Seele nach dem Tode aus dem Körper in den Äther emporfährt, ist seit dem späten 5. Jh. v. Chr. belegt. Das Emporsteigen in den Him- mel ist für die Gerechten und Frommen mit der Hoffnung verbunden, unter den Sternen oder unter den Göttern am lichten Himmelsgewölbe einen Platz einnehmen zu dürfen.342 Bei Ovid etwa ist die grausame Art und Weise, wie Marsyas seines Körper entledigt wurde, noch ein Akt der Befreiung, denn die Metamorphose zum Fluß- gott führt in ein unsterbliches Sein. Bei Aristides Quintilianus aber erfährt Marsyas keine Befreiung von irdischer Qual, ist die Schindung kein Purifikationsakt der Seele, sondern Marsyas bleibt ein Wesen ohne Erlösung von Schuld und Strafe. Diese Vorstellung mutet bereits recht christlich geprägt an. Im »Haus des « in Nea Paphos auf Zypern343 (4. Jh. n. Chr.) (Abb. 21) be- findet sich, neben anderen, dionysischen Fußbodenmosaiken, eines mit einer ein- zelnen Szene aus dem Marsyas-Mythos. Es ist der Moment, in dem Marsyas von zwei Skythen abgeführt wird. Die dargestellten Figuren sind inschriftlich als »Mar- syas«, »Skythen«, »Apollon«, »Olympos« bezeichnet, eine bekränzte weibliche Figur im Hintergrund zwischen Marsyas und Apollon als »Plané«. Planés linker Arm ruht auf einem Pfeiler, der linke Fuß ist weit vorgestellt und überkreuzt den rechten.344 Die zwei Skythen fassen Marsyas grob ins Haar und führen ihn so in deutlich schmerzhafter Weise. In der gleichen, bis dahin ikonographisch nicht übli- chen Weise, wird Marsyas auch von einem Skythen auf einem Mosaik in Oran/ Algerien aus Portus Magnus festgehalten.345 Es ist ebenfalls aus dem 4. Jh. n. Chr. Der herausgegriffene Aspekt liegt nicht mehr auf dem musikalischen Wettbe- werb, sondern auf dem Moment des Richtens – wie es der Akzentuierung bei Ari- stides Quitilianus entspricht – dies ist schon dadurch offensichtlich, daß es sich um eine Einzelszene handelt.

342) A. Chaniotis, in: Gegenwelten zu den Kulturen Griechenlands und Roms in der Antike (Hrsg. T. Hölscher) (2000) 164; Anm. 16 mit Lit. zum Thema und epigraphischen Belegen. 343) W. A. Daszewski, Dionysos der Erlöser (1985) 27-29. 43 Abb. 3 Taf. 2,6. 344) Säule und Haltung erinnern an die weibliche Figur hinter Apollon auf dem Sarkophag im Konservatorenpalast. 345) E. F. Ghedini, in: Africa Romana. Atti VI Conv. di Studi, Sassari (1989) 217-218 Taf. 5,1. 130 Mythos ______

Das Wort »Plané« (von planao o. planésis) bedeutet Umherirren, Irrweg, Verirren, Irrsinn aber passiv auch Getäuscht- oder Verführtsein. Die Figur hinter Marsyas ist also eine Personifikation eines psychischen Affektes, die als Beifigur auf einen be- stimmten Aspekt der Interpretation hinweist.346 W. Daszewski, der das Mosaik publizierte, versteht es so, daß ein der »Plané« verfallener Geist, Marsyas, durch seine Hybris die göttliche Ordnung herausgefordert hatte. Aber die kosmische, dionysisch-apollinische Ordnung, vertreten durch den richtenden Apollon, siegte selbstverständlich.347 Interessanterweise war es bei Diodor im 1. Jh. v. Chr. (noch) nicht Marsyas, sondern Apollon, der die Harmonie tatsächlich zerstörte, indem er, aus Zorn und Reue über sein eigenes grausames Tun, die Saiten zerriß – ein wenig apollinisches Verhalten. Da die weiblichen Personifikationen auf spätantiken Mosaiken durchweg posi- tive Begriffe verkörpern, und sich die Plané neben Apollon befindet, ist es wahr- scheinlicher, daß die Figur – abgeleitet von planés, Wandelstern, Planet – hier we- niger »Verirrung« meint, sondern einen positiven, nämlich kosmischen Aspekt vertritt, im Sinne von »der Wandelstern entscheidet über das Schicksal«. Die Plané wäre dann also eine Schicksals- und Entscheidungs-Personifikation oder -göttin. Wir kommen auf die Plané und Marsyas Verirrung weiter unten zurück.

Der Agon als ethisches System: Gottesurteil und Gericht Das für den Menschen nicht endende Streben nach Sittlichkeit und Weisheit, das wie oben beschrieben, nicht trennbar ist von kosmischer und musikalischer Har- monie, hat nur einen befriedigenden Sinn, wenn es am Ende des Menschenlebens bzw. im Jenseits auch gewürdigt wird. Dazu bedarf es erst eines göttlichen Urteils. In früher Zeit hat man sich aber kein Totengericht vorgestellt, das über sittliche Merkmale abstimmt, sondern Leben oder Tod allein war schon Entscheidung und Hinweis auf die Gottgefälligkeit. Beides konnte durch einen Agon herbeigeführt werden. Der Ethnologe Karl Meuli348 hat die Kampfspiele auf Leben und Tod, die bei Bestattungen üblich waren349, und die im Schmerz der Trauernden enthaltene

346) Dies gibt es schon in der Klassik: H. v. Hesberg, JdI 103, 1988, 308ff.; W. Raeck, Moder- nisierte Mythen (1992) 144: »Die beischriftlich benannte Personifikation gewährleistet und reglementiert zugleich den gedanklichen Zugang des Betrachters zum Bild.« 347) Für N. Hannestad, AW 33, 2002, 636, ist Plané ein christlicher Begriff in heidnischem Kontext. 348) K. Meuli, Der Ursprung der Olympischen Spiele, in: Gesammelte Schriften II (1975) (Hrsg. Th. Gelzer) 881ff.; ders., Der griechische Agon. Kampf und Kampfspiele im To- tenbrauch, Totentanz,Totenklage und Totenlob (1968) 15-30. ______Mythos 131

Aggressivität damit erklärt, daß man sich in früher Zeit keinen natürlichen Tod vorstellen konnte, sondern davon ausging, daß jeder Tod durch einen bösartigen Schadenszauber verursacht sei. Man stellte sich den Toten zürnend vor350 und glaubte, ihn nur versöhnen zu können, indem man ihm das Leben eines anderen bzw. seines Mörders darbrachte. In magischem Denken verhaftet, konnte der ver- meintliche Mörder dann durch das Gottesurteil des Zweikampfes ermittelt werden nach der Idee: Wer fällt, ist auch schuldig. Das Kampfspiel hatte demnach süh- nende Wirkung. Der Tote, zu dessen Ehren es stattfand, war nun versöhnt, er würde die Lebenden nicht zürnend heimsuchen. Als Relikt dieser Denkungsart gesehen beinhaltet der Marsyas-Mythos einen Hintergrund aus dem Totenkult351, denn Marsyas und Apollon sind zweifelsohne Duellanten auf Leben und Tod – wenn auch die mythische Ur-Situation dadurch kultiviert wurde, daß die beiden nicht im militärisch-athletischen Sinne, sondern nur mittels Musik miteinander kämpfen – und Marsyas ist der Schuldige. Wer könnte der zu Bestattende sein, für den der Wettkampf stattfindet? In der schriftlichen Überlieferung wird dazu nichts gesagt. Bei Diodor ist es der von ihrem Vater ermordete Liebhaber der Kybele, Attis, der unbestattet blieb und seine Totenruhe noch nicht gefunden hatte. Man könnte auch an die im Herbst sterbende Natur denken, an Dionysos, der ein halbes Jahr verborgen bleibt. Auf dem Bildträger Sarkophag ist es der Verstor- bene im Sarkophagkasten, zu dessen Ehre der Kampf stattfindet.

Dieses System, mittels Kampf göttlichen Willen sowie Schuld festzustellen und böse Absichten aufzulösen, ist ein primitives, weil hier zeitlich nur das Ergebnis einer kurzen Zeitspanne und inhaltlich nur die Besänftigung von Rache zählt. Wesentlich entwickelter ist da die Vorstellung vom Totengericht, dem jeder Mensch nach seinem Tode gegenübertritt, um seinen Lebensweg zu rechtfertigen und in der Folge möglichst in den leuchtenden göttlichen Äther versetzt zu werden. Voraussetzung für die Entstehung dieser Vorstellung ist ein Begriff einer allumfas- senden kosmischen Gerechtigkeit, die politisches, religiöses und soziales Handeln

349) Der Zweikampf auf Leben und Tod ist noch in den Gladiatorenkämpfen der Kaiserzeit lange mit dem Anlaß der Bestattung verknüpft. 350) S. Freud erklärte die verdeckte Aggressivität gegenüber dem Verstorbenen mit einer im- mer vorhandenen Ambivalenz des Trauernden gegenüber dem Verstorbenen. Er ist nicht nur von Liebe und Abschiedsschmerz erfüllt, sondern auch von einem gewissen Haß, weil der Tote ihn allein zurück läßt. Meuli kannte die Schriften Freuds. 351) W. Burkert, Homo Necans (1997) 68. »Opferriten,Totenriten und Initiationsriten sind so eng verwandt, daß sie durch die gleichen Mythen gedeutet werden können, ja teilweise zu- ammenfallen mögen: der Mythos erzählt vom Tod und Untergang, der Ritus vollzieht die Tötung am Tier…« 132 Mythos ______

überspannt, eine ›Schuldkultur‹ wie J. Assmann sagt. Schuldkultur entsteht durch das Gewissen einer Gemeinschaft, welches vom Gedächtnis, von Erinnerung ab- hängig ist.352 Daß die Betonung des Moment des Richtens und der drohenden Bestrafung des frevlerischen oder gar kriminellen (an den Baum gefesselten) Marsyas in Italien ab der Mitte des 4. Jhs. v. Chr. in der Vasenmalerei auftritt und in der Spätantike diese Sichtweise in der Literatur eine vorherrschende ist (wie sie auch auf den zwei ge- nannten Mosaiken vorkommt), ist oben (S. 110) dargelegt worden. Marsyas hat als Symbol von Rechtssprechung eine eigene Ausdeutung in der etruskisch-römischen Kultur erfahren, denn auf dem Forum in Rom stand seit dem 4. oder 3. Jh. v. Chr. eine Statue des Marsyas mit erhobener Hand und Wein- schlauch auf der Schulter, die einen Gerichtsplatz bezeichnete, wo sich demnach die Prozeßgegner trafen und Recht gesprochen wurde.353 Die Statue, die übrigens ehrfurchtsvoll bekränzt wurde, symbolisierte anscheinend plebejisches Recht. Re- produktionen der Statue erscheinen auf Münzen, im Relief und in der Skulptur vom 3. Jh. v. Chr. bis zum 3. Jh. n. Chr. Auf provinziellen Münzen scheint das Abbild auf den Status einer colonia der Stadt hinzuweisen.354 Das Auswechseln der rachsüchtigen und gewaltsamen Macht des Apollon durch das in der menschlichen Gemeinschaft herrschende Recht, ist der kulturelle Schritt, durch den aus dem zuerst nur dem Hybris-Begriff unterworfenen Wildling ein Krimineller, dann im gegenteiligen Sinne ein Rechtssymbol wurde (nicht un- ähnlich der neuzeitlichen »Justitia«, die von der Moira, das Symbol der Waage übernommen hat).

f. Die erotische Motivation

Die in ihrer Jungfräulichkeit gefährdete Athena Beim Marsyas-Mythos geht es auch um sexuelle Wünsche, um Verführung, sexu- elle Konkurrenz und Verzicht. Wenden wir uns zuerst der Episode mit Athena zu. Ihr Gefühl der Scham ergibt sich, wie oben gesagt, aus dem Verlust von Selbstkontrolle, den das dionysische Flötespielen bedeutet. Es ist Scham über unkontrollierte Gesichtszüge und mentale Ekstase. Dahinter steht aber noch mehr. In dem Fragment des Melanippides aus

352) Assmanns Schuldkultur ist im Grunde das Gleiche wie Freuds »nachträglicher Gehorsam«, der den Anfang von Religion, Sittlichkeit, Gesellschaft und Kunst bedeutet, siehe S. Freud, Totem und Tabu (1912) GW Bd. IX. 353) M. Torelli, Typology and structure of Roman historical reliefs (1982) 90. 98f. 354) siehe LIMC VI (1992) 377 s. v. Marsyas I (A. Weis) mit der dort angegebenen Literatur. ______Mythos 133 dem 5. Jh. v. Chr. ruft die Göttin zum Aulos »Fort von mir Schmach und Schande meines Körpers«. In dieser Quelle kommt am stärksten Athenas entrüstete Abwehr, ja der Ekel vor sich selbst zu Tage, und auch der Umstand, daß es sich um etwas Körperliches handelt, welches die Göttin so empört. Wir fühlen uns an die Prinzes- sin im Märchen vom Froschkönig erinnert, die angeekelt den Frosch aus ihrem Bett nimmt und gegen die Wand wirft. Was anderes könnte die jungfräuliche Athena so aufgebracht von sich weisen als eine sexuelle Avance? Zweifelsohne ist die Flöte ein Phallossymbol und der Satyr ursprünglich kein Kunstbeflissener, sondern ein geiler Wildling355, der mit seiner wilden Musik auch zur sexuellen Verführung stimuliert. Daß der Musik, insbesondere der Aulos-Musik im dionysischen Thiasos diese starke Macht seit dem 5. Jh. v. Chr. von den Philosophen zugeschrieben wurde, ist oben bereits erwähnt worden. Den Aulos in den Mund nehmen, ist ein symbolisches Bild für den Geschlechtsakt. Auch bei Athenaios (14,616f) wird die Ekstasis mit dem Aspekt der Gefähr- dung von Athenas Jungfräulichkeit verknüpft. Es heißt dort:

»Telestes von Selinus ist allerdings gegen Melanippides in der ›Argo‹ mit folgenden Worten zu Felde gezogen – es ist die Rede von Athena: ›Ich nehme es nicht an, daß einst die göttliche Athene klug und mit Verstand begabt, dies Instrument, das sie im dichten Bergwald fand, nur weil sie vor der Häßlichkeit erschrak, es wieder aus den Händen gab zum Ruhm des Marsyas … Wie konnte denn ein helles Liebeslied für anmutige Schönheit ihr zuwider sein, wo ihr Klotho jungfräulich zu sein – und ohne Ehe, ohne Kinder – zugeteilt?‹ Als ob es an ihrer Jungfräulichkeit läge, daß sie sich nicht vor der Schande des Anblicks bewahrt hat !«356

Dieser Text ist nicht leicht zu verstehen. Telestes sagt, er glaube nicht, daß Athena, vor ihrer eigenen Häßlichkeit beim Spielen erschrocken, den Aulos weggeworfen habe – es muß also einen anderen Grund gegeben haben – und spezifiziert im nächsten Satz, es bestehe die Meinung, ihr sei ein Liebeslied, das anmutige Schön- heit ausstrahle, zuwider gewesen – was Telestes aber für ganz unwahrscheinlich hält, denn Athena wäre Jungfräulichkeit vorbestimmt gewesen.

355) Durch ethnologische Forschungen ist belegt, daß ithyphallische Figuren ursprünglich die Androhung von sexueller Gewalt ausdrückten: siehe M. Weissel, in: F. Brein (Hrsg.), Emanuel Löwy. Ein vergessener Pionier (1998) 73. 78. Die Betrachtung K. Junkers (JdI 117, 2002, 145ff.), nach der Athena den Menschen die Auloi zu ihrem Nutzen geplant überläßt und Marsyas ein vermittelnder Kulturbringer ist, widerspricht völlig dem in fast allen Versionen betonten Ekel Athenas und dem ausgesprochenen Fluch. Da der Aufsatz nach Fertigstellung dieses Manuskriptes erschien, wird auf ihn nicht näher eingegangen. 356) Athenaios, Das Gelehrtenmahl (Übersetzung Cl. Friedrich) (2001); Plinius Secundus, Naturkunde (Übersetzung R. König) (1992). 134 Mythos ______

Einfach ausgedrückt heißt das letzte: Telestes glaubt nicht, daß ein Liebeslied Athena zuwider gewesen sein könne, denn der Zustand der Jungfräulichkeit war und ist ihr in jedem Falle sicher. Der Umkehrschluß dieser Aussage ist: Wenn die Jungfräulichkeit Athenas nicht sicher ist, muß ihr das Liebeslied des Marsyas zu- wider gewesen sein. Oder anders herum gesagt, Athena ist das Liebeslied des Mar- syas zuwider, weil es ihre Jungfräulichkeit gefährdet. – Dies ist natürlich eine un- geheuerliche Aussage! Daß es nötig schien, sie verklausuliert darzulegen, wundert nicht. Noch mal klar gesagt heißt dies: Marsyas hat versucht, Athena mittels seiner Flötenmusik zu verführen. Athenas Jungfräulichkeit war gefährdet und dies wurde der Göttin beim Blick in den Spiegel bewußt und rief höchste Abwehr in ihr her- vor.357 Der Autor Athenaios wirft dann ein: es lag sicher nicht an ihrer Jungfräulich- keit, daß sie sich nicht vor der Schande des Anblicks bewahrt hat. Auch darüber muß man erst nachdenken. Hier scheint der Gedanke provoziert zu werden: es lag also am Gegenteil, an ihrer sexuellen Neugierde, daß sie sich eben der Schande aussetzte. Jetzt versteht man auch, warum die Göttin so tief beschämt war: sie, die Kopfgeburt des Zeus, hat sich nicht nur mänadischer Ekstase ausgesetzt, sondern wäre auch fast sexuell verführbar geworden. Die Anspielung auf sexuelle Tatsachen war offensichtlich in der Antike nicht nur durch Sprache, sondern auch durch Musik möglich, jedenfalls wenn ein Satyr der Musikant ist. Scham und Verlegenheit als Reaktion sind nur das Eingeständnis, daß man die Anspielung verstanden hat. Mit dieser Auslegung der Begegnung von Marsyas und Athena wurde Verfüh- rung und Verweigerung von Sexualität thematisiert.358

Diodors Kybele in ihrer mänadischen Phase In Diodors Version kommt die Göttin Athena nicht einmal vor. Die jungfräuliche Athena ist durch die wesentlich interessantere Göttin Kybele ersetzt worden. In ihrem Lebenslauf haben sexuelle Motive eine große, ja eine entscheidende Bedeu- tung. Die dramatischen Elemente der Vita des schönen, klugen und königlichen Kin- des sind typische Märchenmotive wie sie seit der Antike bis in die Neuzeit in Mär- chen vorkommen: Aussetzung bzw. Verlust der Eltern als Säugling, Auffindung

357) D. Anzieu, Das Haut-Ich (1998) 70 Anm. 4, beschreibt Athenas Ekel als eine Abscheu vor dem Phallos, entsprechend der symbolischen Gleichsetzung von Flöte und Phallos. 358) Unter diesem Aspekt erscheint die berühmte Myron-Gruppe aus der Mitte des 5. Jhs. v. Chr. in ganz anderem Licht. Sie ist im Grunde ein früher Prototyp des Themas der »Ver- weigerung der Lüste«, das im Hellenismus durch zahllose Satyr-Nymphengruppen darge- stellt wird, nur ist hier Begehren und Abwehr subtil verkleidet. ______Mythos 135 durch Hirten, Aufwachsen in der Fremde, Wiederfinden der Eltern während der pubertären Phase, Eifersucht und Rache des Vaters, Umherirren der jungen Frau, Heirat und dadurch Erlösung.359 Kybele führt Jahre nach ihrer Aussetzung ein unbeschwertes Leben in den Ber- gen, zu dem auch die sexuelle Freiheit gehörte, sich mit Attis zu verbinden. In einem übertriebenen Racheakt für ihren ›vorehelichen‹ Kontakt zu Attis ermordet der Vater sowohl den Liebhaber als auch die Zieheltern. In der Folge befällt Kybele Raserei, sie irrt so lange umher bis sie mit Apollon eine neue Verbindung eingehen kann. In dem Zustand der Raserei und des Umherirrens gleicht sie einer Mänade. Das weibliche Gegenstück zum Satyr ist die Mänade (auch lenai oder thyiades genannt). Das Wort mainades bedeutet Wahnsinnige, Rasende oder Delirierende. Mänaden sind einerseits mythische Frauen, die Dionysos während seines Zuges durch die Wälder begleiten; andererseits sind es sterbliche, also reale Frauen, die im Ritual des Dionysoskultes die Rolle einer Mänade annehmen. Bekanntestes Beispiel für mythische Mänaden sind die Töchter des Kadmos Ino, Autonoe und Agaue (siehe Euripides Tragödie Die Bakchen, uraufgeführt 405 v. Chr.); mit Wahnsinn geschlagen werden auch die Töchter des Proitos. Sterbliche Frauen als Mänaden zeigt uns z. B. ein berühmtes Vasenbild und für die hellenisti- sche Zeit sind mehrfach offizielle mänadische Frauenvereine nachgewiesen.360 Die mythischen wie die realen Mänaden zogen nachts in wildem Taumel mit aufgelöstem Haar, mit Efeu bekränzt, in Felle gehüllt und mit Schlangen gegürtet, mit Tympana, Flöten und Fackeln in die Wälder, um Dionysos zu begegnen. Man glaubte, daß sie mit ihren Thyrsosstäben Milch, Wein und Honig aus den Felsen schlügen. Als Höhepunkt der ekstatischen Raserei wurde ihnen das Zerreißen jun- ger Tiere und der Verzehr ihres rohen Fleisches nachgesagt, was als Vereinigung mit dem Gott gedeutet wurde.361 Da sich der Dionysoskult, der ursprünglich aus Thrakien stammte, nach seiner Ausbreitung nach Phrygien, mit Elementen des dortigen Kybelekultes vermischte, ist Kybele in vielen Darstellungen der griechischen Kunst eine Teilnehmerin am dionysischen Thiasos. Bei Diodor 3,58-59 wird Marsyas als Begleiter und Freund der phrygischen Kybele geschildert. Darüber hinaus gibt es eine weitere Quelle, die einen Zusam- menhang zwischen Kybele, Marsyas und Flötenmusik herstellt.

359) Es ist dies die weibliche Fassung des typischen Kindheitsromans wie er von Freud und Rank für den Knaben geschildert wurde und der seine Wurzeln im Ödipuskonflikt hat: O. Rank, der Mythos von der Geburt des Helden (1909). 360) siehe S. Moraw, Die Mänade in der attischen Vasenmalerei des 6. und 5. Jhs. v. Chr. (1998) 191f. Kat. Nr. 266 Taf. 34a-b; LIMC VIII 1 (Suppl.) s. v. Mainades 781 (I. Krauskopf – E. Simon – B. Simon). 361) Euripides Tragödie Bacchae bietet die ausführlichste Schilderung des Mänadentums. 136 Mythos ______

Pausanias (2. Jh. n. Chr.) 10.30.9: »Die Phryger in Kelainai … behaupten auch, daß die Flötenweise im Kult der Göttermutter eine Erfindung des Marsyas sei…« In der klassischen Vasenmalerei läßt sich noch kein direkter Zusammenhang zwischen den Individuen Kybele und Marsyas belegen, wenn auch die Satyroi, zu denen Marsyas ja gehört, üblicherweise Teilnehmer am dionysischen Thiasos sind. Auf einem attischen Krater des Villa-Giulia-Malers im Badischen Landes- museum um 450 v. Chr. schreitet Marsyas mit der Doppelflöte – er ist als solcher schriftlich bezeichnet – dem Zug eines Kindsatyrn mit Fackel, einer Mänade und eines erwachsenen Satyrn mit Thyrsos und Kantharos voran. Kybele allerdings ist hier nicht dabei – wie es überhaupt nur eine einzige ganz gesicherte Kybeledarstel- lung klassischer Zeit gibt, nämlich die auf dem Krater aus Spina in Ferrara, wo die mit Sabazios thronende Kybele einem Thiasos beiwohnt. 362 Auf den spätklassischen attischen Vasen, die mit dem Marsyas-Mythos deko- riert sind, gehört in keinem Falle Kybele zu den Zuhörern des Marsyas. Erst ab dem späten Hellenismus gibt es ein Zeugnis für eine Verbindung zwi- schen Kybele und Marsyas: Aus dem 1. Jh. n. Chr. ist ein Silbertablett in Tunis er- halten, auf dem Kybele dem Marsyas-Apollon-Wettkampf beiwohnt,363 wie sie es ja auch auf den späteren Sarkophagen des 2. Jhs. n. Chr. tut. Ob der flötende Satyr neben der thronenden Kybele auf einer früheren (?) Terrakotta-Plakette wirklich Marsyas ist, bleibt ungewiß.364 So ist ein Zusammenhang zwischen Kybele und dem Marsyas-Mythos philolo- gisch wie auch archäologisch seit dem späten Hellenismus belegt. Mänaden und Nymphen stehen in engem Zusammenhang miteinander, ja sind sogar eigentlich identisch.365 Nymphen heißen die Frauen um Dionysos, solange sie seine Ammen sind. Später, als sein Gefolge, werden sie Mänaden genannt. (Nymphe ist der Ausdruck aus dem Mythos, Mänade stammt aus dem Drama.366) Beiden ist das Tanzen und Musizieren und der Dienst für Dionysos eigen, dabei müssen Mänaden nicht immer Rasende sein, sondern können auch friedlich auf- treten. Erwähnenswert ist auch, daß Mänaden und Musen miteinander verschmelzen können. Was dem Dionysos die Mänaden sind, sind Apollon die Musen. Beide ge- hören zum jungfräulichen Gefolge eines Gottes und beschäftigen sich mit Tanzen und Singen.367

362) Moraw a. O. Kat. 330 Abb. 39; CVA XXXVII Ferrara (6) Taf. 11, 1-4. 363) LIMC II 1 (1984) s. v. Apollon/Apollo Nr. 462b (E. Simon). 364) LIMC VI (1992) s. v. Marsyas Nr. 3 (A. Weis). 365) Dies ist auch relevant für die Benennung der Lauschenden auf dem Louvre-Sarkophag. 366) Moraw a. O. 16ff. 36. 59. 367) siehe Moraw a. O. 49 Anm. 245. ______Mythos 137

Allgemein bedeutet das Mänadentum einen zeitlich begrenzten Aufstand gegen eine patriarchalische Ordnung, gegen die Reglementierung der Frau. Der mänadische Zustand der Bindungslosigkeit ist mit dem Übergangsstadium der Initiation eng verbunden. Für junge Mädchen charakterisiert er die Phase vor der Verheiratung. Diodor 4,3,3 überliefert, daß bei den Festumzügen zu Ehren des Dionysos in vielen griechischen Städten nur unverheiratete Mädchen der mänadi- schen Kultgemeinschaften den Thyrsos tragen durften. In Mythen nimmt die mä- nadische Raserei, etwa bei den Töchtern des Proitos, stets durch Verheiratung der Frauen ein Ende. Sicher haben in den kultischen Vereinen die älteren Frauen die jungen Mäna- den auf ihre neue Rolle als Ehefrau und Mutter vorbereitet. Daß während der Thia- soi eine erotische Atmosphäre geherrscht hat, ist unbestritten, daß aber während der nächtlichen Feiern alle Reglementierung im geschlechtlichen Umgang aufge- hoben gewesen wären, wie vielfach behauptet, ist eher unwahrscheinlich, denn es steht im Widerspruch zu der Abwehr der Männer, die ja an dem Treiben nicht teil- nehmen durften. Das gemeinsame Tun der jungen Mädchen gehört in die pubertäre Phase gleichgeschlechtlicher Freundschaft. Tatsächliche heterosexuelle Erfahrun- gen wird es für unverheiratete Mädchen während des Festes nicht gegeben haben, wie auch auf den Vasenbildern die Mänaden zwar häufig von Satyroi bedrängt werden, es aber fast nie zu einer Vereinigung kommt. Neben Raserei und Umherirren erwähnt Diodor ausdrücklich Kybeles offenes Haar, womit die Angleichung an eine Mänade evident ist. Peter von Matt hat die Bedeutung des wilden Haares nicht nur für die männ- liche, sondern auch für die weibliche Seite treffend charakterisiert:

»Eine deutliche Verwandtschaft mit dem freien Haarwuchs als einem Signal der Insubor- dination beim Mann hat die Gebärde des Auflösens der geflochtenen, gebundenen, be- deckten Haare bei der Frau, vor allem deren offenes Flatternlassen.« … »Der Vorgang besitzt eine unverkennbar erotische Leuchtkraft, weit stärker als etwa bei der Relation von männlicher Haartracht und genitaler Potenz.« … »Dennoch geht die Gebärde des freien Fallen- und Wehenlassens über das Erotische hinaus. Sie signalisiert Autonomie und Selbstbestimmung … daß hier eine Frau in keines Besitz und niemandem untertan ist. Das wild flatternde Haar gehört zwingend zum Bild der Mainaden, der sicher extremsten Form weiblicher Existenz und ekstatischer Gesetzlosigkeit … Eine charakteristische Ver- bindung von Autonomie und Erotik ereignet sich dort, wo das lange freie Haar zur ge- zielten Bezauberung« der Männer eingesetzt wird…«368

Autonomie, auch in bezug auf ihre Sexualität, ist auch das herausragende Charak- termerkmal der Kybele. Schon in ihrer ersten Zeit in den Bergen, in der sie Vieh

368) Von Matt a. O.; vgl. I. Hohenwaller, Venit dodoratos elegia nexa capillos. Haar und Frisur in der römischen Liebeselegie (2001). 138 Mythos ______und Säuglinge heilte, hatte die junge Kybele ihre besondere Selbständigkeit und Unabhängigkeit bewiesen. Diese Eigenschaften erlaubten ihr auch ganz frei, ohne Einfluß der Eltern oder anderer Verwandter, einen Geliebten zu wählen, was real keinem attischen Bürger-Mädchen möglich gewesen wäre. Der Konflikt mit dem Vater ist also bei der Rückkehr Kybeles ins Elternhaus vorprogrammiert. Völlig klar ist, daß sich die junge Frau, die bereits ihre weibliche Reife erreicht hat, sich nicht mehr dem Diktat des Vaters unterwirft und nach dessen inzestuösen, eifer- süchtigen Wüten auch nicht mehr unter seinem Dach bleibt. Kybeles Zustand der Trauer und Raserei kann nur durch einen neuen Geliebten beendet werden. Nach dem Sieg Apollons über Marsyas und nachdem er Kithara und Aulos dem Dionysos in einer Höhle geopfert hat, verliebt er sich in Kybele und die beiden tun sich zusammen. Gemeinsam ziehen sie – Kybele hat ihr wahn- sinniges Rasen durch diese »Heirat« offensichtlich verloren – zu den Hyperboreern, einem Volksstamm im Norden. Was dieses Ende im religiösen und kultischen Sinne bedeutet, wird nur klar, wenn man weiß, daß nach alter Vorstellung Apollon stets die Wintermonate im Norden bei den Hyperboreern verbrachte, bevor er wieder nach Delphi zurück- kehrte. In der Zeit seiner Abwesenheit aber wurde dort Dionysos geopfert.369 Die Abwesenheit des Apollon während der Wintermonate ist eine Todessymbolik. Apollon wird in diesem Falle als Vegetationsgott aufgefaßt, der erst im Frühjahr, in der Vegetationsphase, wieder erscheint. Wenn nun auch die sterbliche Kybele, die Königstochter, mit Apollon für ein halbes Jahr im Norden verschwindet, so muß auch sie gestorben sein, eine Meta- morphose durchlaufen haben, nachdem die Heirat ihrer Raserei ein Ende bereitet hatte. Daß auch sie, wie Marsyas, einen anderen Zustand erreicht hat, nämlich un- sterblich geworden ist, wird aus dem von Diodor erzählten Anhang klar: Als in der Folge von Apollons und Kybeles Verschwinden eine Seuche aus- bricht und die phrygische Bevölkerung einen Gott befragt, was sie tun soll, fordert dieser sie auf, den Leichnam des Attis zu begraben und Kybele als Göttin zu vereh- ren. Der schon verweste Attis bekommt nachträglich ein Bild und eine Leichen- feier. Kybele erhält Altäre und Opferfeste, später einen Tempel. Diodors Kybele hat eine dreiphasige Entwicklungsgeschichte durchlaufen: Zu- erst war sie eine Nymphe (denn sie heilte typischerweise Säuglinge und krankes Vieh), dann wurde sie eine rasende Mänade, schließlich eine Muttergöttin – glei- chermaßen wie der ungebärdige Marsyas zum Fruchtbarkeit bringenden Flußgott wurde.

369) L. Bruit Zaidman – P. Schmitt Pantel, Die Religion der Griechen (1994) 200. ______Mythos 139

Marsyas: Verliebtheit und Verzicht Der Satyr Marsyas wird bei Diodor merkwürdigerweise als sexuell uninteressiert dargestellt, ja als einer, der als Zeichen seiner Weisheit bis zu seinem Tod auf den Genuß körperlicher Liebe verzichtete. Dies steht im Gegensatz zu dem Umstand, daß sonst in der Mythologie Satyroi als ständig sexuell begierig und ithyphallisch beschrieben bzw. dargestellt werden. Marsyas Kontakt mit Kybele wird als bloße Freundschaft geschildert und nur aus Mitleid und alter Freundschaft sei er der wahnsinnig gewordenen Kybele nach dem Massaker ihres Vaters gefolgt. Soll man dies glauben? Es wäre ein Widerspruch zum Satyrwesen an sich. Die sexuelle Abstinenz ist nur die Kehrseite der sexuellen Lust. Verzicht auf sexuelle Trieb- wünsche bedeutet ja auch nicht, daß diese nicht vorhanden wären, sondern daß sie sublimiert und auf anderen Aktivitäten verschoben wurden. Das kann bei Marsyas nur sein kulturelles Streben, sein Aulos-Spiel sein. Mit diesem möchte er, wenn er damit schon keine Göttin verführen kann, zur Befriedigung seines Selbstwert- gefühls Ruhm und Unsterblichkeit erlangen. Denn Triebkräfte des Phantasierens beim Erwachsenen sind – besonders beim jungen Mann – »entweder ehrgeizige Wünsche, welche der Erhöhung der Persön- lichkeit dienen, oder erotische.« Meist sind beide Wünsche miteinander verbunden, »so können wir an den meisten ehrgeizigen Phantasien in irgendeinem Winkel die Dame entdecken, für die der Phantast all diese Heldentaten vollführt, der er alle Erfolge zu Füßen legt.«370 Freuds Beschreibung des egozentrischen Tagtraumes eines narzißtischen Helden trifft auch auf den ehrgeizigen Marsyas zu, der Ruhm erringen möchte. In der antiken Gruppe ist die Zuhörerschaft, die applaudiert oder verwirft, auf eine einzige Figur reduziert: Die gesuchte Dame kann nur die junge Göttin sein, die Marsyas zuhört, die sinnliche, verführerische Aphrodite-Urania, oder bei Dio- dor Kybele, welche an die Stelle der abweisenden, jungfräulichen Athena trat. Nicht umsonst wird die einzige weibliche Figur mit erotischer Strahlkraft ausge- stattet worden sein. Nicht umsonst war die jungfräuliche Athena in der älteren Mythenversion so entrüstet. Psychoanalytisch gedeutet ist wohl in der Figurenkonstellation ein Abbild des Ödipus-Komplexes zu sehen: in Aphrodite-Urania die vom Knaben inzestuös be- gehrte Mutter, in Apollon der Vater, den er verdrängen möchte. Marsyas allerdings begehrt aussichtslos und spielt aussichtslos, trotzdem erreicht er eine gewisse Gleichrangigkeit mit Apollon, dadurch daß er unsterblich wird.371

370) S. Freud, Der Dichter und das Phantasieren (1908) GW Bd. VII 217. 371) Vergleichbar ist der Mythos des Sängers Thamyris, der die Musen zum Wettkampf herausfordert und als Preis eine der Musen zur Frau möchte. Nachdem er verloren hat, rauben ihm die Musen die Sehkraft. 140 Mythos ______

Der Religionswissenschaftler Frazer hatte die Idee, in Marsyas eine Dublette des Attis zu sehen, weil beide im Kult für Kybele flöten, beide an einer Kiefer sterben und ihr Bildnis bzw. ihre Haut an einem solchen Baum aufgehängt wurde.372 Wichtig ist auch, daß beide Kybele begleiten und beide in erotischer Spannung zu ihr stehen. Die ödipale Konstellation wird bei Attis dadurch deutlich, daß er sowohl als Geliebter wie auch als Sohn der Kybele bezeichnet wird. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang die Überlieferung der Leute von Pessinus, daß Attis sich an einer Kiefer entmannte und dort verblutete. Parallel könnte man hinter Apollons rachsüchtigem Akt ebenfalls eine verdeckte Kastration vermuten. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch, daß in der Neuzeit Giulio Romano als der erste Künstler des auch in der Renaissance beliebten Marsyas-The- mas, den Satyr über Kopf aufgehängt malte und vor allem die Schindung deutlich als das darstellte, was sie eigentlich ist oder auch ist, eine Kastration des Satyrn.373 Welche Argumente, außer der Charakterisierung von Satyrn als lüsternd im Allgemeinen und der von Aphrodite-Moira als erotisch im speziellen Fall, spre- chen für eine solche erotische Deutung des Mythos? Die Geschichten, in denen die antiken Dichter die Emotionen von Verliebtheit, Konkurrenz und Liebesleid verarbeiten, sind häufig in das Lebensumfeld der Hir- ten verlagert. Die Erotik ist ein zentrales Thema der Bukolik. Und seit dem Paris- Urteil ist der bukolische Bereich mit dem Thema der Konkurrenz – in Form eines geordneten Wettbewerbes – verknüpft. Im Daphnisroman des Sositheos (3. Jh. v. Chr.) entscheidet Pan in einem Wettstreit des Daphnis gegen Menalkas für Daph- nis, der dann das Mädchen Thaleia zugesprochen bekommt. In Theokrits, Eidyllia 8 ist es ein Sängerwettbewerb, in dem der Hirte Daphnis den Hirten Menalkas be- siegt und als Preis eine begehrenswerte Frau, die Nymphe Nais, erhält. Das Thema wird von Vergil in seinen Hirtengedichten im 1. Jh. v. Chr. wiederaufgenommen. Das literarische Motiv der Werbung von Hirten um ein schönes junges Mäd- chen, eine nymphé, ist also ein altes und immer wieder bearbeitetes. Im Hirtenmilieu spielt auch die Marsyas-Geschichte und sie hat auch den Wett- bewerb als zentrales Thema. Marsyas wird in zwei Quellen, einer frühen und einer späten, ausdrücklich als Hirte bezeichnet (Palaiphatos: »agroikos«, Hyginus: »pa- stor«). Zudem ist das Annähern eines Satyrs an Aphrodite ein festes literarisches Motiv. Man findet es bei Ovid (Fasti 4,141ff); vermutlich ist es auch schon in den zwei kurzen Fragmenten des Satyrspiels »Moiren« des Achaios (5. Jh. v. Chr.) ge- meint.374

372) J. G. Frazer, Der goldene Zweig (1968) 515f. 373) K. Marano, Apollon und Marsyas. Ikonologische Studien zu einem Mythos in der Renais- sance (1998) 159f. 168. 374) R. Krumeich u. a. (Hrsg.), Das griechische Satyrspiel (1999) 536ff. ______Mythos 141

Schließlich entspricht die junge Kybele, die sich als wildes, ungebundenes Mädchen um Säuglinge und Vieh kümmerte, damit der typischen Rolle der Nym- phe: Sie ist Kindermädchen375 und wird von einem Hirten oder Satyrn bedrängt. Angesichts der Vergleichbarkeit des Schauplatzes, der Figurenkonstellation und des Wettbewerb-Themas ist man wohl berechtigt, auch gleiche Motivation der Figuren anzunehmen. Die Darstellungen von Marsyas mit einer jungen Göttin sind eine Angleichung an dieses vertraute bukolische Thema und dokumentieren eine Verschiebung der Mythenversion auf diesen erotischen Aspekt. Die Erotisierung der Mythologie im Hellenismus – d. h. Eros ist der Anfang und Grund des ganzen mythischen Geschehens – ist ein allgemein in dieser Zeit feststellbares Phänomen. Einen Denkanstoß in Hinblick auf auch literarisch belegte Vorstellungen zur Verbindung von Eros und ehrgeizigem Streben gibt auch der Begriff der »Plané« auf dem Mosaik in Nea-Paphos (Abb. 21). Da Plané, zugleich zu ihrem positiven oder neutralen Begriff der Schicksals- entscheidung, im negativen Sinne »Verirrung«, meinen kann, so könnte damit auch »Verführung« im sexuellen Sinne beinhaltet sein; also eine Hybris, die durch eroti- sche Wünsche hervorgerufen wurde und die Erfüllung dieser Wünsche anstrebt. Ikonographisch ist bei der Figur des Mosaiks kein Hinweis darauf gegeben; anders aber bei einigen ihrer ikonographischen Vorläuferinnen: Der Typus der weiblichen Figur mit einem überkreuz aufgestellten Fuß, welche sich mit einem Arm auf eine Säule oder Fels aufstützt, begegnet schon im 4. Jh. v. Chr. auf einer apulischen Marsyas-Vase in Brüssel und zwar in eindeutig verführe- rischer Absicht: die kapriziöse Figur entblößt zu Marsyas hin die Schulter. Ober- halb von Marsyas und Apollon sitzt Aphrodite mit dem Glücksrad, in Begleitung von Eros.376 Verblüffend ist, daß genau diese Haltung mit Griff an die Schulter schon die Muse auf dem Glockenkrater im Louvre G516 einnimmt, welche die Schriftrolle überreicht bekommt. (Abb. 19)377 Und auch die weibliche Figur mit gleicher Fußhaltung, lesend vor einem Pfei- ler, ganz links auf dem Sarkophag im Konservatorenpalast hat demonstrativ die äußere Schulter weit entblößt. (Abb. 4)378 Da der erotische Aspekt für die spätantike Plané auf dem Mosaik keine Rolle (mehr) spielte, sondern sie abgeklärt auf kosmische Ordnung zu verweisen hatte, ist es logisch, daß sie die Schulter züchtig bedeckt.

375) Die Nymphen zogen auch das Dionysos-Kind groß. 376) siehe Anm. 152. 377) siehe Anm. 147. 378) Vgl. hier S. 24. 142 Mythos ______

Daß jedenfalls in der Antike die Vorstellung geläufig war, Verliebtheit könne zur zentralen, den Menschen beherrschenden Macht werden, ja zur Krankheit, die bis zur geistigen Verwirrung führt, ist z. B. bei dem Mythographen Parthenios (um die Zeitenwende) in seinen Erotika Pathemata zu sehen. Von Leiden (pathos) durch Verliebtheit ist bei fast allen dieser mythischen Fälle die Rede;379 auch vom Über- wältigtsein durch Liebesleiden, von Krankheit, von Umnachtung, die bis zum Selbstmord führt.380 Bereits in seinen Eidyllia 11 erklärt Theokrit (3. Jh. v. Chr.) seinem Freund, dem Arzt Nikias, daß man durch unerhörte Liebe seinen Verstand verlieren könne, z. B. der in Galatea verliebte Polyphem, und es nur eine Medizin gegen unglückli- che Liebe gebe, nämlich den Musengesang. So tröstete sich der Kyklop Polyphem singend über seine unglückliche Liebe zu der Nymphe hinweg.381 Das Musizieren wurde also als ein Heilmittel gegen unerfülltes Liebesverlangen angesehen; heute würde man wie Freud sagen, als eine Möglichkeit der Sublimierung libidinöser Triebe. Auch in Longos, Daphnis und Chloe II 7 (um 200 n. Chr.) heißt es – in An- spielung auf die Theokrit-Stelle – daß gegen die Liebe kein Kraut gewachsen sei, es also keine Medizin gegen diese Krankheit gebe – außer, so sagt Longos, die der Vereinigung der Liebenden. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang auch der in Daphnis und Chloe (2,34) eingefügte Mythos vom Ursprung des Instruments Syrinx. Der bocksbeinige Hirtengott Pan wird von dem Mädchen Syrinx zurückgewiesen, weil er weder ganz Mensch noch ganz Tier ist. Diese Mischwesenhaftigkeit, die bedeutet, daß auch ein entsprechendes menschliches Bewußtsein noch nicht da ist, wird auch ein Grund für Marsyas Mißerfolg bei der Lauschenden sein, obwohl er bereits einen höheren Zustand als alle anderen Satyroi erreicht hat, indem er durch das Aulos-Spiel seine Triebhaftigkeit sublimiert. Hier wird der Gegensatz von reiner Sexualität als Instinkt, wie sie normaler- weise von Satyroi vorgeführt wird – das Halbtierische ist Symbol für rohe Trieb- haftigkeit – und Liebeskunst als Techne, als eine erlernte Fähigkeit, die eine innere Reife verlangt und nur vom Menschen erreicht wird, deutlich.382 Der Sieg Apol- lons ist ein Sieg über die tierische Sexualität.

379) K. Brodersen (Hrsg.), Liebesleiden in der Antike. Die »Erotika Pathemata« des Parthenios (2000) Nr. 5 Leukippos, Nr. 11 Byblis, Nr. 13 Harpalyke, Nr. 16 Laodike, Nr. 17 Perian- dros, Nr. 27 Alkinoe und Nr. 31 Thymoites. 380) Häufig ist Inzest der Grund für diese schlimmste Folge von fehlgeleiteter Liebe; außer a. O. Nr. 16 und 27. 381) Ähnlich auch bei Kallimachos, Epigramm 46 Pf. 382) D. Teske, Der Roman des Longos als Werk der Kunst. Untersuchungen zum Verhältnis von Physis und Techne in »Daphnis und Chloe« (1991) 47ff.; H. Bernsdorff, Hirten in der ______Mythos 143

Diese literarischen Erläuterungen zur Liebes-Krankheit zusammengebracht mit den bei Diodor beschriebenen Umständen, daß, nachdem der Liebhaber Attis tot ist, zuerst Marsyas die junge Kybele begleitet, Apollon aber am Ende mit ihr davon zieht, lassen vermuten, daß Marsyas’ Irrsinn auch als eine unglückliche Liebes- krankheit interpretierbar ist – nicht etwa nur als bloße Hybris im Sinne der Sucht nach Triumph.383 Überhaupt gehören Triumph und Sexualität eng zusammen, siehe das Freud-Zitat oben (S. 139), aber auch weil Unsterblichkeit immer nur durch diese beiden erreicht werden kann: durch Zeugung von Nachkommen oder aber durch Nachruhm. Marsyas hat bei Diodor seine Triebhaftigkeit schon vor dem Wettkampf durch den totalen Verzicht auf Sexualität überwunden. Freud beschreibt den in vielen literarischen Produktionen geschilderten Topos des heroischen Verzichts auf die Geliebte als die logische Folge des Wunsches, von allen geliebt zu werden. Wenn man keiner gehört, wird man von allen geliebt. Wenn man ein Flußgott geworden ist, wird man von allen angebetet, die Wasser brauchen. Tatsächlich aber ist die Askese nur eine positive Verbrämung von Marsyas Er- folglosigkeit bei seiner Liebeswerbung (schon zu Zeiten als Attis noch sein Kon- kurrent war). Denn der Aulos hat wahrscheinlich die gleiche Funktion als ein Aus- drucksmittel speziell für die Sehnsucht nach der Geliebten, wie die Syrinx. Die Nymphe Syrinx wurde von dem Hirtengott Pan verfolgt und verwandelt sich, als er sie erreicht, in ein Schilfrohr. Pan schneidet daraus die Hirtenflöte, die zum Me- dium der unerfüllten Sehnsucht wird. Das Spiel auf der Flöte wird darüber hinaus bei Ovid (meta. 1,689-712) als Ersatz für die Vereinigung mit der Geliebten be- schrieben.

»Folgen wir diesen Erzählungen, dann scheint besonders bemerkenswert, daß die Flöte an die Stelle der verlorenen, begehrten und geliebten Frau tritt, sie gleichsam ersetzt – ohne sie freilich ersetzen zu können; und daß sie zugleich den Verlust und die Trauer über den Verlust verwandelt in Dialog und musikalisches Spiel…«384

nicht-bukolischen Dichtung des Hellenismus (2001) 155ff. Vgl. die Szene in »Daphnis und Chloe«, 3,13,2ff., in der Daphnis in Nachahmung der Ziegenböcke vergeblich mit Chloe den Liebesakt zu vollziehen versucht. Dem Hirten wird eine animalische Form der Erotik unterstellt. 383) Der erotischen Ausdeutung widerspricht das Motiv des Aufhängens des Marsyas nicht; denn die Seelen derjenigen, die durch Eros Allmacht gefangen sind, stellte man sich als aufgehängt und hilflos in den Fesseln der Liebe zappelnd vor. So deutete M. Mertens- Horn, Antike Welt 18, 1997, 217ff., die aufgehängten Jünglingsfiguren an den Waag- schalen des Bostoner Thrones als Seelen, die durch Eros gefangen in den Fesseln der Liebe zappeln. 384) U. Brunotte – H.-U. Treichel, Der schlimme Flötenton, in: H. W. Henze (Hrsg.), Musik und Mythos. Neue Aspekte der musikalischen Ästhetik (1999) 107. 144 Mythos ______

Die Färbung des Marsyas-Mythos als einer Geschichte, die sexuelle Verlockung und Freiheit, Jungfräulichkeit und Verzicht, Konkurrenz und Eroberung beinhaltet, hat zweifelsohne dazu geführt, daß sich ein breites Publikum davon angesprochen fühlen konnte. Es hat intuitiv die Brisanz des Themas verstanden, das zu allen Zeiten ausdeutbar war. Neben dem Element des musikalischen Wettbewerbs um eine Frau, spielt die Haut des Satyrn die wichtigste Rolle im Marsyas-Mythos. Der Psychoanalytiker Didier Anzieu, der den tiefenpsychologischen Begriff des Haut-Ich für das sich beim Säugling durch die mütterliche Berührung entwickelnde Ich geprägt hat, un- terscheidet drei Funktionen der Haut, die er auch in Bezug auf Marsyas be- schreibt.385 Die Haut ist Grenzfläche zur Außenwelt gegen das Eindringen anderer, aggres- siver Menschen oder Objekte. Bei der Schindung des Marsyas wird die Haut als die Grenzfläche dieses Individuums zerstört. Die Haut ist als reizaufnehmende Fläche Kommunikationsmittel. In dieser Funktion erleidet sie – die mit dem nicht immer erwähnten Fell natürlich schon Hinweis auf die tierische, triebhafte Natur des Marsyas ist – unsäglichen Schmerz. Die Haut hat die Funktion einer Tasche, die das Gute, Geborgenheit und Wohl- befinden enthält. Die abgezogene Haut des Marsyas, die über der Quelle des Flus- ses in der Höhle aufgehängt war, hat diese Funktion insofern inne, als die Haut hier Sinnbild für ausströmende Fruchtbarkeit ist. Marsyas ist immer auch von einer akustischen Hülle umgeben. Das Rauschen des Wassers ist an die Stelle der Aulos- Musik getreten und verkündet nun auf diese Weise Fruchtbarkeit und Auferste- hung. Anzieu weist nebenbei darauf hin, daß nur der Mensch erotische Erfüllung in der Beziehung zu einem anderen Menschen erreiche, der sich in seiner Haut wohl- fühlt.

Ontogenese eines Satyrs Haben wir Marsyas im Kapitel über die rituelle Ebene als pubertären Rebell erfah- ren, steht er als Fast-Verführer der Athena oder als verdeckter Freier um eine junge Göttin auf der Stufe sexueller Reife, die er aber nicht ausleben kann (oder bei Dio- dor nicht ausleben will) und in seiner Musik sublimiert. Die aufreizende Musik ist zugleich das Instrument, mit dem er zu verführen sucht. Den vollständigen Verzicht auf die wilde Satyr-Sexualität, das Umschlagen ins Gegenteil, hat Diodor schon in die Zeit vor der Begegnung mit Kybele gelegt. Wurde Marsyas’ musikalische Erfindung, das Tonsystem der Syrinx auf den Aulos zu übertragen, als Zeichen von Verstand angesehen, so ist die sexuelle Askese weit mehr: ein Zeichen von Weisheit. Der Satyr wird von Diodor zu einem in die Jahre

385) D. Anzieu, Das Haut-Ich (1996) 69ff. ______Mythos 145 gekommenen Weisen umgebildet. Dies paßt natürlich nicht zu der Wettkampfauf- forderung an Apollon. Wer so weise und beherrscht ist, fordert doch keinen Gott heraus. Nur unvollständig ist es also Diodor gelungen, den ursprünglich jungen sexuell begehrlichen Satyr durch eine kraß gegenteilige Beschreibung zu verber- gen. Letztere ist wohl ein Hinweis auf jenen inneren Reifezustand, den Diodor am Ende individueller Entwicklung als wünschenswert ansah. So verbinden sich in den verschiedenen Facetten der Figur des Marsyas drei verschiedene Entwick- lungsstadien des Mannes: der im Umbruch befindliche Jüngling, der Erwachsene im Vollbesitz seiner Fähigkeiten und der Gereifte im Zustand des Verzichts.

3. Die entsprechenden Verständnisebenen bezüglich der Moiren

Der Marsyas-Mythos ist für den modernen Mythenforscher ein Glücksfall, denn die üppige Quellenlage in Kunst und Literatur erlaubt es, doch mehr oder weniger differenziert die antiken Vorstellungen, die mit der Figur des Marsyas verknüpft waren, zu verfolgen. Bei den mit Marsyas’ Schicksal verbundenen Moiren scheint dies auf den ersten Blick eher fruchtlos, denn die schriftliche und bildliche Überlieferung zu ihnen ist spärlich. Mit dem vergleichenden Blick auf den Marsyas-Mythos ist aber erstaunlicherweise festzustellen, daß alle dort herausgearbeiteten Verständnisebe- nen sich in ähnlicher Weise bei den Moiren finden lassen, nur daß es sich um den weiblichen Aspekt handelt.

a. Das Offensichtliche

Auf dem Sarkophag in Konya ist, neben den abstrakten Begriffen, die sich mit den Moiren verbinden, auch der Hinweis auf ganz Konkretes aus der Alltagssphäre der Verstorbenen zu finden. Läßt man die mythologische Bedeutung der Figuren bei- seite, präsentieren die drei Frauen im Zentrum der Hauptseite ein Spektrum wichti- ger weiblicher Aufgaben und Rollen im realen Leben:

1. Die gute Hausfrau, die Stoffe herstellt, das ist die Frau mit dem Spinnrocken. 2. In Gräbern der Rhein-Maas Region hat man häufig Spinnrocken in Frauengrä- bern gefunden, die, aus Bernstein oder Gagat gefertigt, aber keine Gebrauchs-, sondern reine Schmuckgegenstände sind.386

386) Gewöhnlich werden sie als Zeichen für die züchtige Hausfrau gedeutet, zu deren wichtig- sten Aufgaben das Spinnen und Weben gehörte. 146 Mythos ______

3. Die Geliebte und Fruchtbarkeitsbringerin, das ist die halbnackte Aphrodite- Moira. Der Wein und der Wendehals-Vogel deuten unmißverständlich auf Fruchtbarkeit. 4. Die Gebildete und geistige Gefährtin, das ist die Frau mit der Schriftrolle. Der Hinweis auf diese Aufgabe der Ehefrau begegnet dann im 3. Jh. n. Chr. häufig auf Philosophen-Sarkophagen.387 Eine Matrone mit verhülltem Kopf und Schriftrolle steht dem als Philosophen stilisierten Ehemann zur Seite.

Als einfachste Interpretation könnte man die Darstellung sowohl auf dem Sarko- phag im Louvre, als auch bei dem in Konya unter das Motto »Das Leben ist Kampf (beim Mann) bzw. Arbeit (bei der Frau), der Tod gewiß« stellen. Während sich, ganz allgemein gesehen, der Mann in Auseinandersetzung mit anderen Männern befindet, liegt die Aufgabe der Frau auf allen Ebenen in der Für- sorge und Produktion für die Familie – geht es nun um Stoffe (siehe den Spinn- rocken), Haushaltsführung (siehe das Diptychon, im Sinne einer Bilanzliste) oder um Bildung und geistige Verbundenheit (siehe die Schriftrolle). So ist neben der Aussage über Leben und Tod, wenn man die beiden Sarko- phagreliefs ganz »wörtlich« nimmt und allen mythischen Beiwerks entkleidet, in den Hauptfiguren zugleich die Aufgabenverteilung von Mann und Frau angedeutet, und in dieser Aufgabenverteilung an die Geschlechter konnte sich jeder wiederfin- den, ohne daß man gleich an eine Identifizierung mit Marsyas und Aphrodite- Moira im engeren Sinne denken müßte. Beide Sarkophagreliefs haben nicht nur eine formale Gemeinsamkeit, den Ty- pus der Sitzenden, sondern auch mindestens eine inhaltliche Übereinstimmung, die allegorisch angesprochene Unausweichlichkeit des Schicksals.

b. Die mythische Ebene

Die Aussage, daß die Macht der Unsterblichen die der Sterblichen in jedem Falle überragt, beinhalten auch die Moiren auf dem Sarkophag in Konya. Ein bestimmtes mythologisches Geschehen ist hier allerdings nicht angesprochen; eine dramatische Handlung fehlt. Dieses Fehlen von Handlung ist nicht ungewöhnlich: Wie die anderen Dreihei- ten kommen auch die Moiren in Mythen nicht sehr häufig vor und spielen keine ausführliche Rolle. Sie stehen aber wachend über dem Geschehen, das sie selbst vorbestimmen, und demonstrieren so die Macht der Unsterblichen.

387) siehe B. Ewald, Der Philosoph als Leitbild. Ikonographische Untersuchungen an römi- schen Sarkophagreliefs (1999) 42ff., z. B. Taf. 24.1, 42.2, 48.1. ______Mythos 147

So sind sie in den wenigen bildlichen Darstellungen nur noch das als Symbol übriggebliebene Fragment eines Mythos. Genauer gesagt handelt es sich meist um den Anfang eines Mythos. Sie tauchen dann bei der Geburt des Helden oder der Heldin auf, dessen weiteren Lebensweg sie vorausbestimmen und voraussagen.388 Auch bei Hochzeiten, diesem wichtigen Wendepunkt, sind sie zugegen389 und beim Lebensende, denn sie bestimmen den Todeszeitpunkt. Aus klassischen und hellenistischen Theaterstücken sind ähnliche, nämlich auf die Handlung vorausweisende Figuren bekannt, deren Namen stets abstrakte Be- griffe sind, die also Personifikationen sind. Sie heißen Prologfiguren. Der Dichter Menander verwendete in der neuen Komödie z. B. die Prologfigur Agnoia, die wie eine Schicksalsgöttin der menschlichen Welt gegenübertritt.390 Die Prologfigur hatte nicht nur die Aufgabe, den Zuschauer auf das Kommende einzustimmen391, ähnlich wie die Moiren, sie war auch ein Mittel, um den Zuschauer auf eine mora- lische und vernünftige Haltung hinzuweisen, die die Menschen zum Guten lenken sollte. Sie unterstützte die Katharsis des Publikums. Auf kaiserzeitlichen Sarkophagen ist das Auftauchen der Moiren sonst nur mit einem einzigen Mythos fest verbunden, dem des Prometheus392 – womit die Singularität der Darstellung des Konya-Sarkophages deutlich wird. Prometheus hat übrigens mit Marsyas einige Gemeinsamkeiten: Als Titan ge- hört er wie der Satyr einem nicht-olympischen Geschlecht an. Er bringt den Men- schen durch seine Hybris eine neue kulturelle Errungenschaft (der Musiker Mar- syas die Aulos-Musik, Prometheus das Feuer) und beide werden grausam bestraft. Ob Prometheus für immer am Felsen hing und von einem Adler seiner Leber be- raubt wurde oder doch Erlösung fand, wird unterschiedlich erzählt; jedenfalls war er als Titan unsterblich.393 Daß die Moiren nur mit diesem einen Mythos verbunden erscheinen, und zwar in einer lokal (stadtrömisch) und zeitlich (Mitte 2. Jh. n. Chr.) begrenzten Gruppe, läßt auf ein ganz bestimmtes, damals aktuelles Vorbild schließen: ein Theaterstück etwa oder eine andere literarische und bildliche Vorlage, ähnlich wie beim Mar- syas-Mythos.

388) In der Vasenmalerei z. B. bei der Geburt von Athena und Dionysos. 389) siehe den Dinos des Sophilos mit der Hochzeit von Peleus und : LIMC VI (1992) s. v. Moira Nr. 24. (St. de Angeli). 390) L. Petersen, Zur Geschichte der Personifikation in der griechischen Dichtung und bilden- den Kunst (1939) 1.55. 391) Vgl. Dion von Prusias IV 85ff., der die allegorische Personifikation als Ausdrucksform von Dichtern und bildenden Künstlern schildert. 392) Prometheus-Sarkophage mit Moiren: siehe C. Robert, Die mythologischen Sarkophage, ASR III 3 (1919) Nr. 351. 353-356. 393) Bei Silius Italicus (8,502-4) gibt es die Version, daß Marsyas nach Ialien entkam. 148 Mythos ______c. Initiation mit Hilfe der Moiren

Über den Kult der Moiren ist außer der Stelle bei Pausanias I 19,2 (Aphrodite Ura- nia als älteste der Moiren wird in Form eines Pfeilers verehrt) philologisch nichts weiter überliefert. Von Opferhandlungen und Weihgeschenken wissen wir durch einige Inschriften, von Altären und Heiligtümern durch Pausanias.394 Einige we- nige Reliefs mit Moiren sind erhalten,395 jedoch keine Kultstatuen. Es gab Moiren- Priester und -Priesterinnen, die in Athen im Dionysostheater besondere Sitzplätze hatten.396 Für die Moiren sind daher alle kultischen Handlungen anzunehmen, die wir auch für andere Götter kennen. Moiren sind Göttinnen des Übergangs, zum Leben, zum Erwachsensein oder zum Tod, daher war ihr Wirken bei allen Übergangsriten anläßlich von Geburt, Hochzeit und Tod relevant. So wie Mädchen, die durch die Hochzeit den Status der Erwachsenseins erreichten, werden auch junge Männer die Moiren bei ihrer Initia- tion angerufen haben. In der Vorstellungswelt des Menschen wurde das Thema des Erwachsenwerdens stets mit dem des Todes als eine ähnlich starke Veränderung parallelisiert, d. h. Be- stattungsriten sind stets gleichsam Initiationsriten, die den Übergang des Verstor- benen aus der Welt der Lebenden in die Welt der Ahnen begleiten.397 Die Auswahl des Moiren-Themas für einen Sarkophag verwundert nicht. Sowie die Wahl des Marsyas-Mythos, welcher als ein Mythos des Überganges und der Metamorphose gleichsam Initiation und Tod umfaßt, für einen Sarkophag einleuchtend ist.

d. Erziehung und Wissenserwerb mit Hilfe der Moiren

Das Spinnen und Weben wurde von der antiken griechischen Gesellschaft als eine der wichtigsten Tätigkeiten ihrer Frauen angesehen. An der Kleidung ließ sich Ge- schicklichkeit und Fleiß der Frau ablesen. Schöne Kleidung hatte auch einen eroti- schen Stellenwert. Alle im Haus benötigten Stoffe waren insgesamt Gradmesser für den Stand der Zivilisation und des Luxus.398 Mit der manuellen Bewegung bei der Herstellungstechnik des Spinnens ver- band sich das Bild eines sich endlos wiederholenden Vorganges, der ein scheinbar

394) siehe RE XV 2 (1932) s. v. Moira 2451f. (S. Eitrem). 395) z. B. LIMC VI (1992) s. v. Moira Nr. 3 (St. de Angeli). 396) IG III 1,357. 397) R. Hertz, Contribution to the Study of the Collective Representation of Death, in: ders., Death and the Right Hand (1907) (Nachdruck 1960). 398) E. Reeder, Textilien, in: Pandora. Frauen im Klassischen Griechenland, Kat. Antikenmu- seum Basel (1996) 200ff. ______Mythos 149 endloses Produkt, den Faden, entstehen ließ. Dieser Ewigkeitsgedanke wird für die kosmologische Ausdeutung des Spinnens bzw. der Moiren bei Platon relevant. Mit der handwerklichen Fertigkeit des Spinnens assoziierte man zudem Pla- nung und Voraussicht und ganz allgemein Wissen.399 Während Erziehung und Wissensaneignung bei Knaben mit den Begriffen Schinden und Hautgerben ver- bunden wird,400 wofür Marsyas ein Symbol ist, ist für Mädchen das Spinnen ein Metapher für ihre handwerkliche, aber auch für eine geistige Entwicklung. Der Vergleich ist einleuchtend, denn den Lebensfaden der Moiren entlanggehen, be- deutete Erfahrung und Wissen sammeln. Folglich sind die Moiren indirekt Wissen bringende und selbst wissende Göttinnen. Die Moira mit dem Spinnrocken auf dem Sarkophag in Konya symbolisiert nicht weniger als diejenige mit der Schriftrolle oder die dritte mit dem Diptychon Wissenserwerb und geplantes Handeln.

e. Die Moiren als Richterinnen und kosmische Göttinnen

Die Moiren bestimmen nicht nur die Zukunft. Als Hüterinnen der Ordnung und des Rechts beurteilen und rächen sie frevelhaftes Verhalten. In den Eumeniden des Aischylos sind die Erinyen die von den Moiren Beauftragten, die die Rache für Bluttaten (Mord) in die Tat umsetzen. Apollon, der den Orest entsühnt und einem weltlichen Gericht unterstellt, beschneidet damit die älteren Rechte der Moiren, so der Vorwurf der Eumeniden.401 Daß dies nicht nur die Vorstellungen aus der Literatur sind, sondern des prakti- zierten Volksglaubens, beweisen die an die Moiren gerichteten Fluch-Tafeln, die man gefunden hat.402 Schon in der Antike bestand die Vorstellung, daß sich der Mensch am Ende seines Lebens einer moralischen Bewertung seines Tuns unterwerfen müsse und davon das ›Leben‹ nach dem Tode abhänge. So beschreibt A. Chaniotis, daß die Gleichbehandelung der Verstorbenen unabhängig von ihrer moralischen Haltung im Leben als Ungerechtigkeit angesehen wurde:

»Daß nicht alle Toten das gleiche Schicksal erwartet, predigen seit der klassischen Zeit die Mysterienreligionen, die ihren Eingeweihten ein seliges Leben versprechen; aber auch der Gedanke, daß die Glückseligkeit im Jenseits durch den Automatismus eines

399) Reeder a. O. 202. 400) Platon, Euthydemon 285c-d. 401) Aischylos, Eumeniden 171. 321-335. 470ff. 402) H. Petersmann, in: G. Bauchhenss (Hrsg.), Matronen und andere Gottheiten, Beih. BJb Bd. 44 (1987) 198. 150 Mythos ______

Einweihungsrituals errungen werden konnte, stieß auf Kritik (z. B. des Kynikers Dioge- nes). Einen Platz unter den Seligen verdient nicht der Mystes, sondern der Tugendhafte; der Ort der Seligen (makarioi) wird zunehmend als Ort der Frommen (eusebeis) bezeich- net, zu dem eine Person ›wegen ihrer Tugend‹ (ant’) zugelassen wird…«403

Er erwähnt das Grabgedicht von Anno aus Smyrna, die als »gerichtet, beurteilt« (kekrimena) bezeichnet wird. Nur wer gerichtet worden war, konnte demnach das Reich der Seligen erreichen. Bei Platon (Gorgias 523a ff.) und Lukian (Über die Trauer 2-7404) sind es drei Totenrichter, die mythischen Könige und Zeussöhne , Aiakos und Rhada- manthys, die an einem Kreuzweg durch Betrachtung der bloßen Seele jedes Ein- zelnen entscheiden, ob der Weg des Verstorbenen zu den Inseln der Seligen oder zum Tartaros führt. Durch ihre Dreizahl und ihre vorausweisend bestimmende und richtende Funk- tion bilden die Moiren gleichsam ein (weibliches) Gegenstück zu den drei männ- lichen Totenrichtern. Auf dem Grabepigramm eines jungen Dionysosmysten heißt es: »Mich haben als Gefährten weggenommen Bromios und die Moirai, damit Dio- nysos mich als Mitmysten bei seinen Reigentänzen habe.«405 Die Moiren richten, indem sie bestimmen, das Vollstrecken ihres Urteils ist aber Aufgabe des Totengottes Thanatos oder der Keren. Die charakteristische Tätigkeit des Abwägens und Richtens bei den Musen (die eben eine geistige Tätigkeit ist und daher nicht so leicht darzustellen wie eine phy- sische) ist anhand der rotfigurigen Vasen des Pothos-Malers weiter oben beschrie- ben worden. Das erst in der Kaiserzeit gelegentlich erscheinende Attribut der Waage ist nicht das ursprüngliche Symbol für diesen Akt, sondern das Diptychon, auf dem das Gute und Schlechte, das Für und Wider, Anfang und Ende festgehalten sind. Auf die gleiche Tätigkeit deutet auch das Diptychon auf dem Marsyas-Sarkophag im Louvre und auf dem Sarkophag in Konya. Darüber hinaus ist die Figur der auf dem Felsen sitzenden Göttin schon durch ihre Haltung und von ihrem ursprüng- lichen Kontext her eine Abwägende. Da die drei Göttinnen des Sarkophages in Konya deutlich beim Betrachter den Verlauf des Schicksals und den Tod ansprechen, sind sie gleichsam ein »memento mori«, und sie beinhalten als Richterinnen und Rächende durchaus eine nicht nur mahnende, sondern auch drohende Haltung. Der Mensch ist nicht nur vom Tod an sich bedroht, sondern auch von der Auseinandersetzung mit göttlichen Mächten

403) A. Chaniotis, in: Gegenwelten zu den Kulturen Griechenlands und Roms in der Antike (Hrsg. T. Hölscher) (2000) 169. 404) Text zitiert bei Chaniotis a. O. 161f. 405) Chaniotis a. O. 170. ______Mythos 151 und von ihrem göttlichen Richterspruch.406 Diese Auseinandersetzung, die auf dem Marsyas-Sarkophag tatsächlich als Zweikampf sichtbar ist, ist auf dem Relief des Konya-Sarkophages nur indirekt erfahrbar, aber deshalb nicht weniger ein- drücklich für den Betrachter. Der Gedanke des göttlichen Urteils leitet über zu dem Bereich der kosmologi- schen Deutung: Von den Totenrichterinnen und dem göttlichen Urteil ist es nur noch ein Schritt in den außerirdischen Bereich jenseits des menschlichen Lebensraumes, in dem die Moiren primär agieren. Platon beschreibt das Sein der Moiren im Kosmos zusam- mengefaßt folgendermaßen: Am Ende des Himmels hängen Bänder. An diesen Bändern ist die Spindel der Notwendigkeit befestigt, durch die die Sphären angetrieben werden. An der Spin- del ist eine Stange, um die die Sphärenringe kreisen. Die Spindel wird im Schoß der Notwendigkeit gedreht. Auf jedem Kreis ist eine Sirene, die einen Ton von sich gibt. Aus allen 8 Tönen entsteht Harmonie.

»Drei andere aber, in gleicher Entfernung rings umher jede auf einem Sessel sitzend, die weiß bekleideten, am Haupte bekränzten Töchter der Notwendigkeit, die Moiren Lache- sis, Klotho und Atropos, sängen zu der Harmonie der Sirenen, und zwar Lachesis das Geschehene, Klotho das Gegenwärtige, Atropos aber das Bevorstehende. Und Klotho be- rühre von Zeit zu Zeit mit ihrer Rechten den äußeren Umkreis der Spindel und drehe sie mit, Atropos aber ebenso die inneren mit der Linken, Lachesis aber berühre mit beiden abwechselnd beides, das äußere und das innere.«407 (Die Rollenverteilung Lachesis – Vergangenheit, Atropos – Zukunft ist hier verdreht.)

Die Moiren treiben also durch das Drehen der Spindel die sieben Sphärenringe an und bewirken dadurch die kosmische Harmonie. Sie repräsentieren Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Durch sie und ihr Wirken in einem mechanischen Gefüge am Himmel ist der Mensch in allen Phasen seines Werdens, Seins und Vergehens fest eingebunden. Auch in Aristoteles Schrift Perì kósmu408 werden die Moiren als Element des himmlischen Kosmos beschrieben: Von Gott (Zeus) geht eine Urbewegung aus, die an die Sterne weitergeht. Die Bewegung der Sterne am Himmel als ein gleich- förmiger Ablauf verursacht Tag und Nacht, die Jahreszeiten, das Wetter und damit

406) Im übrigen konkurrieren bekanntlich auch die Götter untereinander: in den ›Eumeniden‹ (171) des Aischylos werfen die Erynnien Apollon vor, daß er das Recht der alten Götter, die Macht der Moiren, breche. 407) Platon, Politeia 616cff. Übersetzung F. Schleiermacher. 408) Aristoteles, Über die Welt (Hrsg. u. Übersetzer P. Golke 1949). Die Schrift wird von eini- gen für pseudo-aristotelisch gehalten, nicht aber von Golke. 152 Mythos ______die Fruchtbarkeit und das Wachstum, evozieren also den Zeitbegriff. Gott selbst ist ewige Gesetzmäßigkeit und Schicksal. Schicksal und Zeit werden durch die drei Moiren und ihre Tätigkeit mit dem Faden symbolisiert:

»Schicksal und Spindel weist in die gleiche Richtung: Denn es gibt drei Gottheiten des Schicksals, je nach den Zeiten; und der Faden der Spindel ist teils schon fertig, teils noch zu spinnen, teils gerade auf der Spindel. Und für das Vergangene ist die erste der Schick- salsgöttinnen, Atropos, weil alles vergangene unabänderlich ist, für das Künftige Lache- sis, da uns für dies alles die natürliche Wahl noch bleibt, und für das gerade Eintretende Klotho, die jedem vollendet und zuspinnt, was ihm gebührt.«409

(Die Rollenverteilung von Lachesis und Klotho ist in diesem Text nicht ganz logisch. Wenn Lachesis, wie hier angenommen, die für die Zukunft zuständige Moira ist, so müßte sie eigentlich auch vollenden und zuspinnen, was gebührt, und Klotho als Göttin der Gegenwart müßte diejenige sein, die selbst abwägt oder das Abwägen des Menschen begleitet.) Im letzten Satz ist der Gedanke der freien Wahl des Menschen bezüglich sei- nes Handelns ausgesprochen und die daran anknüpfende Idee, daß dies durch die letzte Moira beurteilt und, was dem Menschen gebührt, dann zuerkannt wird. Es ist also nicht alles im Leben im Detail durch die Moiren vorgegeben, sondern der Mensch selbst hat Entscheidungsfreiheit. Das Problem, wie sich die Entscheidungsfreiheit des Menschen mit der An- nahme vereinen läßt, daß alles durch eine feste Schicksalsordnung (= , das Gesetz des Kosmos, nach dem alles kontinuierlich abläuft) vorbestimmt ist, ist von verschiedenen Denkern immer wieder aufgegriffen worden.410 Ist der Mensch in seinem Handeln vollständig vorbestimmt und kann über sein Handeln gar nicht frei bestimmen, so kann er dafür auch nicht zur Verantwortung gezogen werden. Folglich nehmen Aristoteles, Chrysipp und Plutarch an, daß das Schicksal sowohl durch die göttliche Vorsehung (prónoia) als auch durch den freien Willen des Menschen bestimmt ist. Es gibt keinen reinen Zufall. Die Schicksalsordnung legt zwar fest, daß eine bestimmte Ursache eine bestimmte Wirkung hat. Die Ursache selbst ist aber nicht festgeschrieben. Der Mensch hat die Möglichkeit die Ursache zu beeinflussen. Derselbe Gedankengang liegt auch der Marsyas-Geschichte zugrunde: Vor dem Hintergrund allumfassender göttlicher Gerechtigkeit entscheidet sich der Satyr für eine von Hybris getragene Handlungsweise. Darin ist die ganze Problematik von Entscheidungsfreiheit, Abwägen, Richten und Strafen enthalten. Eine Folge von

409) Aristoteles, Über die Welt a. O. 401b 14-22. 410) Chrysipp, Perì heimarméne; Cicero, De fato, Plutarch, Perì heimarménes in den Moralia. ______Mythos 153

Begriffen, die ohne den Begriff von Gerechtigkeit und Gewissen nicht denkbar wäre. Letztendlich geht es bei beiden Sarkophagen um die Frage der Entscheidungs- freiheit und Selbstverantwortlichkeit des Menschen bezüglich seines Schicksals, das durch göttliche Gabe, die Inspiration, als auch durch Techne d. h. selbsterwor- benes Wissen gelenkt ist und über das man am Ende vor den Totenrichtern Rechenschaft ablegen muß.

f. Die erotische Seite der Moira

Um uns der erotischen Bedeutungsebene der einen, der mittleren Moira, der Aph- rodite-Moira oder Lachesis anzunähern, machen wir einen Umweg über die psy- choanalytische Literaturinterpretation.411 Am 23. 6. 1912 schrieb Sigmund Freud an seinen Freund Sandor Ferenczi den folgenden Abschnitt in einem Brief:

»Ein einziger Einfall, der Sie amüsieren wird, war, daß die Eingangsszene im Lear das- selbe bedeuten muß, wie die Wahlszene im Kaufmann von Venedig. Drei Kästchen sind doch dasselbe wie drei Frauen, drei Schwestern. Immer ist dann die Dritte die richtige Wahl. Diese dritte aber ist eigentümlich, sie redet nicht oder versteckt sich, sie ist stumm. Erinnern Sie sich an den Wortlaut des Parisurteils in der ›Schönen Helena‹412…« … »Also das Motiv der Wahl zwischen drei Schwestern, von denen die dritte stumm ist. Mit einigen Assoziationen habe ich herausbekommen, daß es die drei – Schicksalsschwestern, die Parzen, sind, von denen die dritte stumm ist, weil sie den Tod symbolisiert (Stekel)413. Der Zwang des Verhängnisses wird in das Motiv der Wahl verwandelt.«… »Die drei Par- zen sind das Weib in jenen drei Haupterscheinungen: die Gebärerin, die Genußspenderin und die Verderberin oder Mutter, Geliebte und Mutter Erde = Tod. Später habe ich herausbekommen, daß die Dreizahl von den Horen, d. h. von den Jahreszeiten herrührt, von denen die Alten zuerst nur 3 unterschieden haben. Von der Vegetation also auf das Menschenschicksal übertragen.«414

411) Freud begründete seine Literatur- und Mytheninterpretationen damit, daß die dichterische Phantasie wie die Träume aus dem Unbewußten kommt. Da mythologische Kunstwerke nichts anderes sind als die plastische Darstellung von Mythologie, gründen sie also auf dichterischer Phantasie. Freund unterscheidet den manifesten d. h bewußten und den la- tenten d. h. unbewußten Trauminhalt, der nicht ohne Deutung zugänglich ist. Bewußtes und Unbewußtes kommt auch im Werk des Künstlers zum Ausdruck. Vgl. Kuhns, Theorie, bes. 22ff. 412) 1. Akt 7. Szene Libretto von M. Meilhac u. L. Halévy zu Jacques Offenbachs Operette La belle Hélène, 1864. 413) W. Stekel, Sprache des Traumes, Wiesbaden (1911) 351. 414) Zitiert aus dem Vorwort von Ilse Grubrich-Simitis zur Faksimilie-Ausgabe »Das Motiv der Kästchenwahl« von Sigmund Freud, Fischer Verlag (1977) 42f. 154 Mythos ______

Aus diesem Gedankengang ging Freuds Schrift »Das Motiv der Kästchenwahl« hervor, die im Jahre 1913 erschien.415 Zentrales Objekt der Studie ist das literari- sche Motiv der Freierwahl in Shakespeares Stück »Der Kaufmann von Venedig«:

»Die schöne und kluge Porzia ist durch den Willen ihres Vaters gebunden, nur den von ihren Bewerbern zu Manne zu nehmen, der von drei ihm vorgelegten Kästchen das rich- tige wählt. Die drei Kästchen sind von Gold, von Silber und von Blei; das richtige ist jenes welches ihr Bildnis einschließt. Zwei Bewerber sind bereits erfolglos abgezogen, sie hatten Gold und Silber gewählt. Bassanio, der dritte, entscheidet sich für das Blei; er gewinnt damit die Braut, deren Neigung ihm bereits vor der Schicksalsprobe gehört hat. Jeder der Freier hatte seine Entscheidung durch eine Rede motiviert, in der er das von ihm bevorzugte Metall anpries, während er die beiden anderen herabsetzte. Die schwerste Aufgabe war dabei dem glücklichen dritten Freier zugefallen; was er zur Verherrlichung des Bleis gegen Gold und Silber sagen kann, ist wenig und klingt gezwungen.«416

Freud legt im folgenden dar, daß das Motiv der Kästchenwahl, das auch aus ande- ren Kulturen und Zeiten bekannt ist, ein altes Märchenmotiv ist. Typisch sind die drei Kästchen, drei Bewerber und drei Leitsprüche, die auf den Kästchen eingra- viert sind; auch daß die zwei äußerlich wertvollen Kästchen in Wirklichkeit wert- los sind, das äußerlich wertlose aber Glück bringt. Der Spruch auf dem dritten Kästchen verspricht: »Wer mich wählt, muß alles geben und wagen, was er hat.« (2. Akt 7. Szene). Dieser Spruch ist derjenige, der deutlich macht, daß bei der Werbung der höchstmögliche Einsatz, das Leben, zu erbringen ist. So ist die Bedeutung von ›Blei‹ gleich ›Tod‹ bei Shakespeare wie auch in ande- ren Versionen des Themas deutlich hergestellt. Auf den Tod deutet auch die Frage des Prinzen von Marokko, des ersten Freiers: »Ist es wahrscheinlich, daß Blei sie enthält? Es wäre Verdammnis einen so niederen Gedanken zu denken, es wäre zu grob ihr Leichentuch im dunklen Grab zu umschließen…« (Zusätzlich sprechen die Gedichte auf den Zetteln im goldenen und im silbernen Kästchen und das Lied, das gesungen wird, während Bassanio wählt, von Vergänglichkeit und Tod.) Porzias Bleikästchen ist also eine Mahnung an das Ende, eine Erinnerung an das Unaus- weichliche. Das Mädchen, das insgeheim seine Wahl schon getroffen hat, bringt ihren Ge- liebten dazu, das richtige Kästchen zu wählen. So stehen die Kästchen für die Cha- raktere der drei Freier – aber auch gleichzeitig für drei Frauen, zwischen denen ein Mann die Wahl hat.

415) S. Freud, GW Bd. X. Ernest Jones setzt auf Grund eines bisher unveröffentlichten kurzen Freud-Briefes an Karl Abraham den 14. Juni 1912 als den Zeitpunkt an, zu dem Freud von dem Einfall zu dem kleinen Essay ergriffen wurde: Faksimilie-Ausgabe S. 48 (Nachwort von Heinz Politzer). 416) S. Freud GW Bd. X 24. ______Mythos 155

Warum wählt aber Bassanio das Todes-Kästchen? »… was er (Bassanio) zur Verherrlichung des Bleis gegen Gold und Silber sagen kann, ist wenig und klingt gezwungen«,417 stellte Freud fest und sucht nach den eigentlichen, den verborge- nen Motiven für die Entscheidung. Er legt im weiteren Verlauf seiner Studie dar, »daß es Motive im Seelenleben gibt, welche die Ersetzung durch das Gegenteil als sogenannte Reaktionsbildung herbeiführen«.418 Das heißt, es findet eine »Wunsch- verkehrung« statt: die Notwendigkeit dem Tod gegenüberzutreten wird durch die anscheinend freie Wahl einer schönen Frau ersetzt.

»Es ist kein stärkerer Triumph der Wunscherfüllung denkbar. Man wählt dort, wo man in Wirklichkeit dem Zwange gehorcht, und die man wählt ist nicht die Schreckliche, sondern die Schönste und Begehrenswerteste.« – »Und diese Ersetzung war technisch keineswegs schwer; sie war durch eine alte Ambivalenz vorbereitet, sie vollzog sich längs eines ural- ten Zusammenhangs, der noch nicht lange vergessen sein konnte. Die Liebesgöttin selbst, die jetzt an die Stelle der Todesgöttin trat, war einst mit ihr identisch gewesen. Noch die griechische Aphrodite entbehrte nicht völlig der Beziehungen zur Unterwelt, obwohl sie ihre chthonische Rolle längst an andere Göttergestalten … abgegeben hatte.419

Freud hat hier die Charakteristika herausgearbeitet, die auch für unsere halbnackte, lauschende Aphrodite-Moira von Belang sind: Die Bedeutung der Dreizahl als Symbol von drei Lebensphasen und Frauenrollen und das Motiv der Wahl zwi- schen Frauen bzw. Männern, welches ein Ersetzen von Bedrohlichem durch Be- gehrenswertes ist. Wie oben zitiert: »Der Zwang des Verhängnisses (Tod) wird in das Motiv der Wahl (Liebeswahl) verwandelt.« Die Entstellung (Einführung des Gegenteils) ist ein Abwehrmechanismus ge- gen die Angst vor dem Tod und bildet sie zum Triumph der Wunscherfüllung um (Eroberung der Liebesgöttin). Auf dem Sarkophag in Konya ist Aphrodite-Moira im Verbund mit ihren zwei Schwestern zu sehen, was die Funktion als Moira betont. Die Position in der Mitte, der schöne, kaum bekleidete Körper und der Wein spezifizieren sie aber darüber hinaus als diejenige, die für die Lebensphase des üppigen Lebens, der Liebe und Fruchtbarkeit zuständig ist. Nur ihre beiden Begleiterinnen mahnen mit dem Spinn- rocken den Gedanken an das Lebensende an. Der Betrachter, der dem Sarkophag in Konya gegenübertritt, kann sich in die Rolle Bassanios oder Paris’420 einfühlen: Drei Frauen stehen ihm gegenüber, der

417) Ebd. 24. 418) Ebd. 33. 419) Ebd. 34. 420) R. von Ranke-Graves, Griechische Mythologie (1965) Bd. 1, beschreibt auch Athene, Aphrodite und Hera als drei Phasen der weiblichen Entwicklung. Athene ist das jungfräu- liche Mädchen, Aphrodite die heiratsfähige Nymphe, Hera die alte Frau. 156 Mythos ______mittleren möchte er den Apfel reichen oder von ihr möchte er erwählt werden, womit aber der Tod bereits gegenwärtig ist. Auf dem römischen Sarkophag im Louvre füllt Aphrodite-Moira die gleiche Rolle aus. Die Szene läuft auf eine Freierwahl hinaus, allerdings sind es nur zwei Freier. Marsyas schafft es zwar nicht, der Wunschverkehrung entsprechend die Göttin zu erobern, aber es gelingt im etwas Besseres, nämlich dem Vergessen zu entkommen, indem er zum Flußgott wird.

IV. Deutung

1. Das Unbewußte des Musikers Marsyas

Seit alters her besteht die Vorstellung, daß der Künstler selbst nicht wirklich weiß, was ihn zu seinen Schöpfungen treibt und was er genau ausdrückt. Nach der psy- choanalytischen Theorie wird er, wie alle Menschen, von bewußten und unbewuß- ten Wünschen und Affekten bewegt, bei ihm kommt aber eine besondere Gestal- tungskraft hinzu. Schiebt man die inspirierende Kraft der Muse zu, externalisiert man sie aus der Persönlichkeit des Künstlers und gliedert sie in die mythische Sphäre ein. Die Konsequenz ist, daß keine ureigene Beziehung zwischen der Persönlichkeit des Künstlers und dem Kunstwerk angenommen wird, sondern der Künstler nur der von der Muse gelenkte Ausführende ist. Der Künstler wird damit von seiner Ver- antwortlichkeit für das Kunstwerk zum Teil entlastet. Psychoanalytisch gesehen bedeutet dieses Bild, daß der Ursprung seiner Kreativität der Verdrängung unter- liegt; er ruht im Unbewußten.421 Ähnlich verhält es sich mit der Personifikation des Schicksals, der Moira. Ex- ternalisiert man den Verlauf des persönlichen Schicksals, entledigt man sich zumindest teilweise der Verantwortlichkeit für das eigene Sein – für Wünsche, Gefühle und Handlungen, welche den Lebensweg bestimmen. Freud beschrieb die Kindheitsentwicklung als einen fortlaufenden Prozeß der Loslösung von den Eltern. Im Laufe der Zeit treten an ihre Stelle die Einflüsse von Lehrern, Autoritäten und Vorbildern, bis wir einen Zustand der Reife, der Ich- Stärke erreicht haben, in dem wir uns davon lösen können. »Die letzte Gestalt die- ser mit den Eltern beginnenden Reihe ist die dunkle Macht des Schicksals, das erst die wenigsten von uns als unpersönlich zu erfassen vermögen.«422 Das meint, wenn die Bedeutung der Eltern für das Über-Ich, das Gewissen im Laufe der Zeit zurückgetreten ist, so bleibt es in der Folge doch sehr schwer, sich von der Vor- stellung der letzten Autorität, dem ›Schicksal‹ zu lösen. Wir sind sehr geneigt, unser Schicksal zum Objekt zu machen und uns dadurch von Eigenverantwortlich- keit zu distanzieren. Tatsächlich aber ist unser Lebensweg nicht unerheblich auch durch unseren Charakter bestimmt. »Was die Austeilung der Schicksale betrifft, so bleibt eine unbehagliche Ahnung bestehen, daß der Rat- und Hilflosigkeit des Men- schengeschlechts nicht abgeholfen werden kann. Hier versagen die Götter am ehesten; wenn sie selbst das Schicksal machen, so muß man ihren Ratschlag uner-

421) Kuhns, Theorie 45f. 422) S. Freud, Das ökonomische Problem des Masochismus, GW XIII 381. Freud bestätigt an dieser Stelle, daß die Moira durch Logos und Anake ersetzt werden kann. 158 Deutung ______forschlich heißen, dem begabtesten Volk des Altertums dämmert die Einsicht, daß die Moira über den Göttern steht und das die Götter selbst ihr Schicksal haben.«423 Die Muse Aphrodite-Moira ist letztendlich die Personifikation und Verschmel- zung dreier Bereiche im Leben des Künstlers Marsyas. Wir haben gesehen, daß die halbnackte Schöne mit der Betonung der Rolle als Aphrodite zuerst einmal das von Marsyas begehrte Objekt seiner sexuellen Wünsche ist. Da Marsyas diese nicht ausleben kann, muß er seinen Glücksanspruch mäßigen, sein Leid lindern, indem er seine Ziele auf den intellektuellen und künstlerischen Bereich verschiebt. Er übt das Aulos-Spiel bis zur Perfektion. Er wird so gut, daß er sich mit einem Gott ver- gleichen kann und beim Publikum Ruhm erntet. Zweitens verkörpert die Schöne in der Rolle als Muse die Schöpfer- und Aus- druckskraft des Musikers, die Inspiration des Künstlers, die nichts anderes ist als der sublimierte Trieb.424 Die Lauschende symbolisiert drittens in der Rolle als Moira die Entscheidungs- möglichkeit des Marsyas auf seinem Schicksalsweg – damit letztendlich seine Cha- rakterstruktur, die für sein Handeln entscheidend ist. Alle drei Bereiche sind wohl als unbewußte oder nur teilweise bewußte Kräfte zu denken. Die Aphrodite-Moira ist damit in gewissem Sinne eine »Dreiheit«, aber nicht in Form von drei gleich aussehenden jungen Frauen wie sie sonst in der grie- chischen Mythologie zu finden sind, sondern als Verdichtung dreier Bereiche der Psyche des Musikers Marsyas in einer einzigen weiblichen Person.425 Begehren, kulturelle Leistung als Sublimierung und die Suche nach Anerkennung auf einem selbstbestimmten Lebensweg und schließlich die Erfahrung des Todes sind im übrigen ganz allgemein Elemente der Conditio humana und damit für jeden Men- schen von Bedeutung.

2. Chronologie der Mythosschichten

Charakteristisch für den Mythos ist, daß er keine feste Form hat, sondern aus vie- len Varianten besteht. Er unterliegt ständig der sekundären Bearbeitung, wird in jeder Epoche immer wieder verändert. Die durch mehrere Kulturepochen gepräg- ten Schichten entstellen und verdecken die jeweils vorhergehenden. So lassen sich auch im Marsyas-Mythos zeitliche Ebenen unterscheiden. Für jede dieser Phasen

423) S. Freud, Die Zukunft einer Illusion (1927) GW Bd. XIII 341. 424) S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur (1930) GW Bd. XIV 438ff. 425) Es wurden also nicht nur Naturkräfte zu Göttergestalten und Dämonen personifiziert, als Reaktion des Menschen auf seine Angst vor der Natur, sondern auch Bereiche der mensch- lichen Psyche, die für den Menschen schwer zu durchschauen und zu beherrschen sind. ______Deutung 159 stellt sich auch die Frage nach dem mythenproduzierenden Subjekt und seiner Her- kunft. Die früheste Phase des Marsyas-Mythos ist die archaische Zeit, das 6. Jh. v. Chr. oder früher, ein religiöses Zeitalter, in dem die rituellen Handlungen wie die Initiationsriten für die Jünglinge, bei denen man sich als Tier verkleidete, noch ur- tümlich und von großer Bedeutung waren sowie auch das Opfern am Baum, Frucht- barkeitskulte und der Agon. Es war die Zeit, in der Musikinstrumente erfunden wurden. Geographisch gehört der Ursprung des Marsyas-Mythos zweifellos nach Phry- gien und nach den Aussagen der Mythographen müssen wir die Bürger der Stadt Kelainai als die Schöpfer des Mythos ansehen. Marsyas, der Fruchtbarkeitsdämon einer religionsgeschichtlich frühen Stufe, zugleich ein Initiand aus dem Kreis des Dionysos, wurde eine Ortspersonifikation Kelainais. Im 5. und 4. Jh. v. Chr., in dem sich die Religiosität wandelte, weil die Aufklä- rung durch die Philosophen eine immer größere Rolle zu spielen begann, entstand in Athen die historisierende Interpretation. Der Mythos wurde einerseits mit den aktuellen Diskussionen der Zeit verflochten, die sich um Musiktheorie und die Er- ziehung der Jugend drehte. Marsyas bekam eine soziopolitische Funktion, indem das Bild des Gegners auf ihn projiziert wurde: der rückständige Böoter, der den Persern nahe steht, ein jugendlicher Aufrührer, der die attische Jugend zu dionysi- scher Ekstase verführt und ihr den Charakter verdirbt. Die Philosophen gaben dem Mythos seinen kosmologischen Überbau: In Marsyas Niederlage tut sich göttlicher Willen oder göttliches Urteil als Teil der kosmischen Ordnung kund. Zur Zeit des Sokrates, Ende des 5. Jhs. entstand wohl andererseits das konträre Charakterbild des weisen Marsyas, der nicht bloß Musikerzieher ist, sondern auch Vorbild im Charakter für seinen Schüler Olympos. Marsyas wird zu einem Musi- ker gemacht, der tatsächlich gelebt hat. Mythenschöpfer dieser Variante war viel- leicht Sokrates selbst. Nichtsdestotrotz war die rituelle Ebene im Theater (z. B. beim Dithyrambos des Melanippides) noch spürbar. Im Hellenismus nahm sich offensichtlich eine Dichterpersönlichkeit des Stof- fes an. Eine geographische Zuweisung ist nicht möglich. Wahrscheinlich aber stammte er doch aus Kleinasien, wo die kulturellen Hochburgen der Zeit lagen. Es kam zur Ausarbeitung einer literarischen Fassung (entsprechend der bei Diodor), die einen stärker erotischen Akzent in die Geschichte einführte. Das Viehische, Triebhafte bei Marsyas und das Rohe, Rachsüchtige des Apollon wurde eher abgemildert. Marsyas ist nun ein liebeskranker, bukolischer Held, der seine sexuellen Wünsche nicht erfüllen konnte und sich daher der Askese unterwirft. Apollon ist eine Figur, die eigene Unvollkommenheit und daher auch Reue empfinden kann. Beide Charaktere wirken wesentlich differenzierter als das, was vorher und nachher geschildert wird. Aphrodite-Moira ist inhaltlich der Dreh- und 160 Deutung ______

Angelpunkt der Geschichte. Ihre Rolle kann nicht nur auf diejenige einer Schieds- richterin reduziert und simplifiziert werden. Aus dieser Vorlage entsteht in der bildenden Kunst das Original der großplasti- schen Wettkampfgruppe. Im Italien der republikanischen Zeit entwickelten die Römer eine etruskisch- römische Version des Mythos, in der der bestrafte Rechtsbrecher Marsyas zum Symbol von Rechtsprechung, speziell plebejischer Rechte wurde. In der Kaiserzeit, im 2. Jh. n. Chr. wurde offensichtlich die hellenistische, bu- kolische Version wieder aktuell. Die hellenistische Wettkampfgruppe fand in vie- len Kopien als Repräsentationsstück für Theater, Palästren und Odeia Aufstellung. Möglicherweise hat diese Mythenversion dramatisiert eine Rolle im Theater ge- spielt. Ein politischer Hintersinn ist nach der derzeitigen Quellenlage nicht beweis- bar. In dieser Zeit wurde das Marsyasthema auch in den sepulkralen Kontext einge- führt, indem es auf Sarkophagen und an den Decken von Grabbauten in Rom zur Darstellung kam. Versehen mit der Jahreszeitensymbolik spielt die bildliche Dar- stellung auf die apollinische kosmische Ordnung an. Solche Zeitstufen lassen sich bei den Moiren nicht unterscheiden. Die Überlie- ferung ist zu gering.

3. Faszination des Marsyas-Mythos

Das Verfolgen der verschiedenen archäologischen und literarischen Versionen des Marsyas-Mythos hat es erlaubt, die Tiefe der Figur des Marsyas und die Rolle der Aphrodite-Moira für den Mythos zu erkennen und die Verflechtungen der unter- schiedlichen Akzentuierungen zu verschiedenen Zeiten zu erhellen. Damit ist deutlich geworden, daß der Marsyas-Mythos auf einem Sarkophag keineswegs allein eine Allegorie für Hybris und Strafe und für Tod und Unsterb- lichkeit ist. Schon diese beiden Wortpaare werfen ja die Frage auf, warum denn die Hybris mit Unsterblichkeit belohnt wird. Die anklingenden Widersprüchlichkeiten und changierenden Bedeutungen sind Hinweis auf eine tiefere psychologische Funktion. Der Psychoanalytiker G. Devereux hat dargelegt, daß sich »unterschiedliche uns sogar widersprüchlich erscheinende Versionen einer bestimmten mythologi- schen Episode sich psychologisch nicht nur nicht widersprechen, sondern sich in Wirklichkeit ergänzen und eine tiefere Einsicht in die zentrale Bedeutungsschicht eines basalen Themas oder Motivs erlauben.«426

426) R. Vogt, Psychoanalyse zwischen Mythos und Aufklärung oder das Rätsel der Sphinx (1986) 133; nach G. Devereux, Inter. Journal Psychoanalysis 34, 1953, 132-141. ______Deutung 161

Das Widersprüchlichste des Marsyas ist seine Hybris und Verführungsgabe ge- genüber der konträren Stilisierung zum Weisen und Lehrer, das Satyrhafte einer- seits und die sexuelle Askese andererseits. Das Letztere verdeckt das erstere immer nur unzureichend. Die dahinterstehenden drei geheimen Wünsche des Marsyas waren psychologisch gesehen zu jeder Zeit in jeder Mythosschicht vorhanden, wenn auch unterschiedlich betont: Sieg über den Konkurrenten, sexuelle Erobe- rung und das Erringen von Ruhm bzw. Unsterblichkeit. Dies »kennt« jeder Knabe und jeder Mann bewußt oder unbewußt – wie auch die zwingende Niederlage, die eine Anpassung an die herrschende Ordnung ist, aber doch noch zum Sieg umgedeutet werden kann, wenn man den Wunsch auf ein anderes Objekt verschiebt, sich mit etwas anderem zufrieden gibt. Die Befriedigung des Betrachters an der Niederlage, die Lust am Grausamen kann keine andere Erklärung haben, als die auf die Frage, warum wir im Theater grausame Geschichten anschauen oder ebensolche lesen. Nach Freuds Tragödien- Theorie ist das Thema immer der Konflikt zwischen privaten (meist sexuellen) Be- dürfnissen und öffentlichen Verpflichtungen moralischer oder politischer Art. Als Zeuge der Handlung werden wir vor Entscheidungen gestellt, die zwiespältige Re- aktionen in uns wachrufen. Das Schmerzhafte auf der einen, das Lustvolle auf der anderen Seite hält uns in Spannung. Es kommt zum Vorgang der »Spaltung« beim Zuschauer: Gleichzeitig mit dem schmerzlichen Durchleiden des Konfliktes, der Rührung und Erschrecken hervorruft, empfinden wir Vergnügen daran. Das Ver- gnügen entsteht dadurch, daß das Publikum den Handlungsverlauf schon über- blickt und daher das Gefühl hat, ihn zu beherrschen. Dies gibt ihm die Rolle des Voraussehenden, wie das sonst nur die Unsterblichen können. Damit wird der Zu- schauer gottähnlich und das Leiden dient letztendlich dazu, uns die eigene Macht zu beweisen. Das Durchleben des Konflikts führt am Ende zur Auflösung der widerstreitenden Gefühle, zu einem befreienden Gefühl.427

427) Nach Kuhns, Theorie 120-130.

V. Anhang

Schriftquellen zu Marsyas

5. Jh. v. Chr.: Herodot 7,26: »In dieser Stadt (Kelainai) hängt auch die abgezogene Haut des Silens Marsyas, die nach der phrygischen Sage Apollon dem Marsyas abgezogen und hier aufgehängt hat.« (Übersetzung A. Horneffer)

4. Jh. v. Chr.: Xenophon, Anabasis 1,2,8: »Hier soll Apollon dem Marsyas, nachdem er ihn im Wettstreit um die Weisheit besiegte, die Haut abgezogen und sie in der Quellgrotte aufgehängt haben. Darum heißt der Fluß Marsyas.« (Übersetzung W. Müri)

Palaiphatos, Peri apiston 47

Platon, Symposion 215b ff.: Sokrates wird wegen seines Hochmuts, wegen seiner häßlichen Gesichtszüge und wegen seines bezaubernden Wesens von Alkibiades mit Marsyas verglichen.

»Denn mittels Instrumenten bezaubert jener mit der Gewalt seines Mundes die Menschen und auch jetzt noch, wenn einer nach seiner Weise Flöte spielt. Denn was Olympos spielte, rechne ich Marsyas zu, der es lehrte.« (vgl. Plutarch (ca. 46 n. Chr.-120 n. Chr.), Alkibiades 2) (Übersetzung K. Hildebrandt)

Platon, Euthydemos 285a-d: »Denn wenn sie (die Fremden) verstehen, Menschen auf solche Weise untergehen zu las- sen, daß sie sie aus schlechten und unvernünftigen zu guten und vernünftigen machen, mögen sie nun einen solchen Tod und Untergang selbst erfinden oder von anderen ge- lernt haben, daß sie einen als einen Schlechten untergehen und als einen Guten wieder- hervorkommen lassen … so wollen wir ihnen beiden dies zugestehen.« … »Darauf sagte Ktesippos: Auch ich, o Sokrates, bin bereit mich zu gerben, ärger als sie es schon jetzt tun, wenn nur am Ende nicht aus meinem Fell wie aus des Marsyas ein Schlauch wird, sondern Tugend.« (Übersetzung F. Schleiermacher)

2. Jh. v. Chr. Apollodor (2. Jh. v. Chr.) 1,4,2: »Apollon opferte auch den Marsyas, einen Sohn des Olympos. Dieser, der die Flöten ge- funden hatte, die Athena fortgeworfen hatte, weil sie ihr Gesicht entstellten… (Über- setzung C. G. Moser – D. Vollbach) ______Anhang 163

1. Jh. v. Chr. Didoros Siculus, Bibliotheke historike 3.58.1ff.

Archias von Mytilene, Epigramm in der Anthologia Palatina 7,696 überliefert. (H. Beckby, Anthologia Palatina 4. Bd. 1965-67; A. Gow-D. Page, The Greek Anthol- ogy. Hellenistic Epigrams I (1965)

1. Jh. n. Chr: Ovid, Metamorphosen 6,382-400: Nur die Schindung wird dargestellt, dabei sind Nymphen anwesend.

Ovid, Fasti 6,696-711

Pseudo-Plutarch, peri musikes (de. mus.) 1132 F: Marsyas ist ein Sohn des Hyagnis.

Martialis, Epigrammata 10.62

2. Jh. n. Chr.: Hyginus (2. Jh. n. Chr.), Fabulae 165: »Minerva soll als erste eine Flöte aus einem Hirschknochen gefertigt haben und zum Mahl der Götter gekommen sein, um zu spielen. Juno und Venus lachten sie aus, weil sie blau wurde und ihre Backen aufblies. Weil sie häßlich ausgesehen hatte und beim Spiel verspottet worden war, ging sie in den Wald Ida zu einer Quelle. Dort betrachtete sie sich beim Flöten im Wasser und sah sich zu Recht verspottet. Daher warf sie die Flöte weg und sprach die Verwünschung aus, daß wer sie aufhebe, schwer bestraft werden solle. Der Hirt Marsyas, ein Sohn des Oiagros, ein Satyr, fand die Flöte. Durch ständiges Üben brachte er von Tag zu Tag einen süßeren Klang hervor, so daß er Apollo zum Wett- streit mit seinem Kitharaspiel herausforderte. Als Apollo gekommen war, nahmen sie die Musen zu Schiedsrichterinnen. Marsyas schien bereits als Sieger aus dem Wettkampf hervorzugehen, da drehte Apollo die Kithara um, und der Klang war derselbe. Dies konnte Marsyas mit der Flöte nicht tun. Deshalb band Apollo den besiegten Marsyas an einen Baum und übergab ihn einem Skythen, der ihm gliederweise die Haut abzog. Den übrigen Körper übergab er seinem Schüler Olympos zum Begräbnis. Nach seinem Blut hat der Fluß Marsyas seinen Namen bekommen.« (Übersetzung F.-P. Waiblinger)

Hyginus, Fabulae 191: »Der phrygische König Midas, ein Sohn der Göttermutter, wurde von Tmolos (Lydischer König, ursp. Form nach Plinius ist Timolus) zum Schiedsrichter bestimmt, als Apoll mit Marsyas oder Pan einen Wettstreit mit der Flöte austrug. Als Tmolos Apoll den Sieg zu- sprach, sagte Midas, man müsse ihn eher dem Marsyas zuerkennen. Da sagte Apoll em- pört zu Midas. »Wie dein Verstand war, den du bei deinem Urteil hattest, so sollen auch deine Ohren sein. Mit diesen Worten bewirkte er, daß Midas Eselsohren bekam.« (Über- setzung F.-P. Waiblinger) 164 Anhang ______

Lukianos, Dialogi Deorum, 16,2 (Parodie der Götterwelt) Hera antwortet Leto, die sich mit Apollons musikalischem Ruhm brüstet: »Du bringst mich zum Lachen Leto. Wer könnte jemanden bewundern, den Marsyas in der Musik übertroffen und lebendig mit eigenen Händen gehäutet hätte, wenn die Musen nur ge- recht entschieden hätten? Nur weil er betrogen wurde und ungerechter Weise die Wahl verlor, der arme Bursche, mußte er sterben.« (Übersetzung K. Marano, Apollon und Marsyas. Ikonologische Studien zu einem Mythos in der Renaissance [1998] 163.)

Pausanias, Periegesis tes Hellados 10,30,9: s. o. Die Flötenweise im Kult der Göt- termutter ist eine Erfindung des Marsyas

Pausanias, Periegesis tes Hellados 2,7,8: Die Flöte soll den Mäander hinunterge- schwommen sein. In einem Tempel in Korinth habe man sie aufbewahrt.

Apuleius, Florida 3 (Apul. flor.): Marsyas wird als großsprecherisch, dumm und ungepflegt beschrieben.

3. Jh. n. Chr.: Aelian, Piokile historia. 13,21 (überliefert in der Suda und bei Stobaios, Eklogai): Die Haut des Marsyas hängte man in einer Grotte bei Kelainai auf. Wenn man neben ihr eine phrygische Weise spielte, bewegte sie sich, spielte man aber eine Weise zur Ehre Apollons blieb sie unbewegt und wie taub. (H. Helms, Bunte Geschichten, 1990)

5. Jh. n. Chr.: Nonnos aus Panopolis, Dionysiaka, 19,323ff.

6. Jh. n. Chr.: Fulgentius, Myth. (Fulg. myth.) 3,9,726f. (um 500 n. Chr.) nennt Marsyas einen »stultus«, einen Dummkopf.

Stephanus Byzantios, Ethnika: unter dem Stichwort Pessinous: Grab des Marsyas in Kelainai in oder auf einem Hügel.

Mythographi Vaticani II 115 (drei mittelalterliche Mythendarstellung eines Ano- nymus aus vatikanischen Handschriften; zwischen dem 5. und 10. Jh. n. Chr. ver- faßt, schöpfen aus antiken Quellen) (G. H. Bode, Script. rer. myth. latini (1834/1968).

______Anhang 165

Abkürzungsverzeichnis

Flashar, Apollon M. Flashar, Apollon Kitharoidos (1992)

Froning, Dithyrambos H. Froning, Dithyrambos und Vasenmalerei in Athen (1971)

Koch, Weibliche Sitzstatuen L. Koch, Weibliche Sitzstatuen der Klassik und des Hellenismus und ihre kasierzeitliche Rezeption. Die bekleideten Figuren (1994)

Kuhns, Theorie R. Kuhns, Psychoanalytische Theorie der Kunst (1986)

Muth, Leben S. Muth, Leben im Raum. Zur Funktion römischer Mosaikbilder in der römischen Wohnarchitektur (1998)

Schlesier, Kulte R. Schlesier, Kulte, Mythen und Gelehrte. Anthropologie der Antike seit 1800 (1994)

Weis, Hanging Marsyas A. Weis, The Hanging Marsyas and it’s copies (1992)

Im übrigen gelten die Abkürzungen des Deutschen Archäologischen Instituts: siehe www.dainst.de/de/red/abk6html 166 Anhang ______

Abbildungen ______Anhang 185

Abbildungsnachweis

Abb. 1: Marsyas-Sarkophag Palazzo Doria Pamphili, Rom: DAI Rom Inst. Neg. 71.1489

Abb. 2: Girlandensarkophag Slg. Barberini, Rom; Detail linke Seite: DAI Rom Inst Neg. 74.1024

Abb. 3: Girlandensarkophag Slg. Barberini, Rom; Front total: DAI Rom Inst Neg. 74.1023

Abb. 4: Friessarkophag im Konservatorenpalast, Rom: DAI Rom Inst. Neg. 69.977 (Felbermeyer)

Abb. 5: Marsyas-Sarkophag im Musée du Louvre (Inv. 2347): R. M. N. (Chuzeville)

Gruppe aus Leptis Magna, MuseumTripolis Abb. 6: Göttin, Inv.: DAI Rom Inst. Neg. 61.1786 Abb. 7: Marsyas, Inv. 20: DAI Rom Inst. Neg. 61.1718 Abb. 8: Apollon, Inv. 19: DAI Rom Inst. Neg. 61.1732

Abb. 9: Psyche aus Baiae, Mus. Naz. Neapel: DAI Rom Inst. Neg. 83.1898

Abb. 10: Bronzestatuette Diaulospieler Belgrad Nat. Mus Br. 822/I Repro (s. Anm. 56)

Fries im Theater von Hierapolis: Abb. 11: Marsyas und Göttin Abb. 12: Abführung des Marsyas Abb. 13: Schindung des Marsyas Repros (s. Anm. 59 u. 60)

Girlandensarkophag in Konya, Museum Konya, Inv. 1343, Abb. 14 : Front Abb. 15 : Detail der Front Abb. 16: lk. Schmalseite: Photos R. Özgan, mit freundlicher Genehmigung von R. Özgan

Abb. 17: Glockenkrater des Pothos-Malers, Heidelberg, Antikenmuseum B195 (208): Photo Mus. N. S. 855a 186 Anhang ______

Abb. 18: Glockenkrater des Pothos-Malers, Louvre G 490: R. M. N. (P. Lebaude)

Abb. 19: Glockenkrater des Pothos-Malers, Louvre G 516: R. M. N. (Chuzeville)

Abb. 20: Apulische Pelike in Neapel, Mus. Naz. Inv. 81392 H3231, Neg. Nr. 2734

Abb. 21: Mosaik im »Haus des Aion« in Nea Paphos, Zypern: Repro nach LIMC, mit freundlicher Genehmigung von W. Daszewski

166 Anhang ______

Abb. 1: Marsyas-Sarkophag mit Musenchor, Palazzo Doria Pamphili, Rom ______Anhang 167

Abb. 2: Girlandensarkophag in der Sammlung Berberini, Rom – Detail der Front 168 Anhang ______

Abb. 3: Girlandensarkophag in der Sammlung Berberini, Rom – Front ______Anhang 169

Abb. 4: Friessarkophag im Konservatorenpalast, Rom 170 Anhang ______

Abb. 5: Marsyas-Sarkophag im Musée du Louvre, Paris ______Anhang 171

Abb. 6: Göttin der Marsyas-Gruppe aus Leptis Magna, Museum Tripolis 172 Anhang ______

Abb. 7: Marsyas der Gruppe aus Leptis Magna, Museum Tripolis ______Anhang 173

Abb. 8: Apollon der Marsyas-Gruppe aus Leptis Magna, Museum Tripolis 174 Anhang ______

Abb. 9: Psyche und Eros aus Baia, N. M. Neapel ______Anhang 175

Abb. 10: Diaulosspieler, N. M. Belgrad

Abb. 11: Marsyas-Fries im Theater Hierapolis (Phrygien), Marsyas und Göttin 176 Anhang ______

Abb. 12: Marsyas-Fries im Theater von Hierapolis, Abführung des Marsyas

Abb. 13: Marsyas-Fries im Theater von Hierapolis, Schindung des Marsyas ______Anhang 177

Abb. 14: Dokimeischer Girlandensarkophag aus Ikonion (Front), Museum Konya 178 Anhang ______

Abb. 15: Dokimeisches Girlandensarkophag aus Ikonion (Detail der Front), Museum Konya ______Anhang 179

Abb. 16: Dokimeischer Girlandensarkophag aus Ikonion (linke Schmalseite), Museum Konya 180 Anhang ______

Abb. 17: Glockenkrater des Pothos-Malers in Heidelberg, Antikenmuseum ______Anhang 181

Abb. 18: Glockenkrater des Pothos-Malers im Musée du Louvre, Paris (G 490) 182 Anhang ______

Abb. 19: Glockenkrater des Pothos-Malers im Musée du Louvre, Paris (G 516) ______Anhang 183

Abb. 20: Apulische Pelike in Neapel, N. M. 184 Anhang ______

Abb. 21: Mosaik im »Haus des Aion« in Nea Paphos, Zypern