200 Mitteilungen MÄRZ 2011 NEUES DÖW-PROJEKT: VERTREIBUNG – EXIL – EMIGRATION Die Jüdisch-Österreichischen NS-Vertriebenen Im Spiegel Der Sammlung Ebner
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DÖW DOKUMENTATIONSARCHIV DES ÖSTERREICHISCHEN WIDERSTANDES FOLGE 200 Mitteilungen MÄRZ 2011 NEUES DÖW-PROJEKT: VERTREIBUNG – EXIL – EMIGRATION Die jüdisch-österreichischen NS-Vertriebenen im Spiegel der Sammlung Ebner Mehr als 130.000 ÖsterreicherInnen wurden nach dem „Anschluss“ 1938 aus Österreich vertrieben – die überwiegende Mehrheit Ju- den und Jüdinnen im Sinn der „Nürnberger Gesetze“. Seit seinen Anfängen stellt die Erforschung des österreichischen Exils, das als integrierender Bestandteil von Widerstand und Verfolgung betrachtet wird, für das DÖW einen wichtigen Arbeitsbereich dar. In jahre- langer Such- und Sammelarbeit konnte eine umfassende einschlägige Sammlung von Publikationen, Flugschriften und Korresponden- zen aufgebaut werden, ihrerseits Grundlage der vom DÖW ab 1981 herausgegebenen Publikationsreihe Österreicher im Exil. Mit dem 2010 angelaufenen Projekt Vertreibung – Exil – Emigration. Die österreichischen NS-Vertriebenen im Spiegel der Samm- lung der Rechtsanwaltskanzlei Dr. Hugo Ebner will das DÖW der Forschung auf diesem Gebiet einen neuen Anstoß geben. Die quan- titative und qualitative Auswertung des Teilnachlasses von Dr. Hugo Ebner und PartnerInnen soll auf empirischer Grundlage und in Form einer sozialstrukturellen und kollektivbiographischen Analyse neue Erkenntnisse zur sozialen Zusammensetzung, zur Vertrei- bungsgeschichte, aber auch zum späteren Schicksal der erzwungenen EmigrantInnen erarbeiten. DÖW-Mitarbeiter Herwig Czech skizziert im Folgenden die Grundzüge des Projekts. Im Jahr 2006 erhielt das DÖW einen Ak- Überlebens im Zufluchtsland ebenso wie herauszuarbeiten. Damit ermöglicht dieser tenbestand des verstorbenen Rechtsan- die Nachkriegsgeschichte der Vertreibung Bestand eine Pionierarbeit zu wesentli- walts Dr. Hugo Ebner zur Aufbewahrung und wissenschaftlichen Bearbeitung. Die Kanzlei, in der Ebner mit verschiedenen Heinrich Strauß, Partnern und Partnerinnen zusammenar- geboren am beitete, hatte sich unter anderem auf die 25. November 1896 Vertretung von NS-Verfolgten speziali- siert, und zwar in erster Linie von Emig- Der Kaufmann Heinrich rantInnen, d. h. aus Österreich vertriebe- Strauß aus Wien wurde am nen Jüdinnen und Juden, aber auch poli- 26. Februar 1942 wegen tisch Verfolgten. Der bemerkenswerte Be- „Nichttragens des Juden- stand umfasst ungefähr 7000 Akten, aus sterns“, gefälschter „ari- denen nicht nur die Vertreibungsgeschich- Nicht mehr anonym scher“ Papiere und „Rassen- te, sondern auch Einzelheiten der Lebens- schande“ (er hatte eine „ari- umstände und der Ausbildungs- und Be- Die Datenbank enthält derzeit über 4600 Fotos sche“ Lebensgefährtin) von rufslaufbahn der Betroffenen vor und nach aus der Erkennungsdienstlichen Kartei der der Gestapo verhaftet und in der Flucht hervorgehen. Gestapo Wien, ergänzt durch Kurzbiographien das Zuchthaus Stein/Donau Aufgrund der anwaltlichen Auflagen so- der Opfer, Auszüge aus Dokumenten etc. eingeliefert. Von Stein wurde wie datenschutzrechtlicher Bestimmungen er nach Anforderung durch werden die erfassten Daten anonymisiert die Zentralstelle für jüdische und kollektivbiographisch ausgewertet. www.doew.at Auswanderung in das Sam- Eine quantifizierende Aufarbeitung und mellager Kleine Sperlgasse Auswertung des Bestandes bietet die ein- in Wien-Leopoldstadt über- malige Chance, anhand einer relevanten Die Kartei, die aus Beständen des Wiener stellt und am 14. September Stichprobe – es handelt sich dabei um Stadt- und Landesarchivs stammt, wurde 2001 1942 nach Maly Trostinec rund fünf Prozent der aus Österreich Ver- im DÖW gescannt und in einer Datenbank deportiert. triebenen – den sozialen Hintergrund, le- erfasst. Fehlende Fotos konnten teilweise aus Dort wurde Heinrich Strauß bensgeschichtliche Brüche infolge der den Beständen des DÖW ergänzt werden. nach der Ankunft ermordet. Flucht, genderspezifische Aspekte des 2 Mitteilungen 200 chen Faktoren der vom NS-Regime er- wenigen Ausnahmen abgesehen, auf Spe- her auch Informationen zu politisch und zwungenen Emigration, die bislang vor al- zialstudien mit relativ eng begrenztem aus anderen Gründen Verfolgten zu erwar- lem anhand von Einzelschicksalen oder in Fokus. Zahlreiche Forschungserträge sind ten. Angesichts der Tatsache, dass es bis- Bezug auf einzelne Berufsgruppen oder zudem auf eine unüberblickbare Zahl von her praktisch keine umfassenden auf em- Zielländer bearbeitet wurde. Studien zur „deutschsprachigen“ Emigra- pirischer Grundlage beruhenden Arbeiten tion verstreut. Zu den Fragen um Vertrei- zur erzwungenen Emigration aus Öster- Die Massenflucht vor dem NS-Regime bung, Beraubung und späterer Entschä- reich insgesamt gibt, sind von diesem Pro- wurde zwar in Deutschland bereits wenige digung sind die Arbeiten von Brigitte jekt wesentliche neue Erkenntnisse zur so- Jahre nach Kriegsende zu einem Thema Bailer sowie die einschlägigen Studien der zialen Zusammensetzung, zur Vertrei- der Forschung, in Österreich ließen ent- österreichischen Historikerkommission zu bungsgeschichte sowie zum späteren sprechende Arbeiten jedoch wesentlich nennen, die wichtige Vorarbeiten zu dem Schicksal dieser zahlenmäßig größten länger auf sich warten. Der Fokus lag in hier vorgestellten Projekt darstellen. Gruppe von NS-Verfolgten zu erwarten. dieser frühen Phase zudem fast aus- In quantitativer Hinsicht geht es zunächst schließlich auf dem politischen Exil, wäh- Die dem Projekt zugrunde liegende um eine kollektive Charakterisierung der rend das Schicksal der großen Mehrheit Sammlung von Anwaltsakten stellt einen auf Basis der nationalsozialistischen anti- der Vertriebenen zunächst kaum Beach- einzigartigen Quellenbestand zu den ös- jüdischen Politik aus Österreich vertriebe- tung fand. Eine Erforschung auf breiterer terreichischen NS-Vertriebenen dar, da nen Menschen. Basis fand erst ab den 1970er Jahren statt. dieser im Gegensatz zu vielen anderen Diese Daten werden eine detaillierte so- Dennoch blieb auch weiterhin zu beobach- Beständen (wie z. B. die Auswandererkar- zialstrukturelle Analyse und damit eine ten, dass der Schwerpunkt in erster Linie tei der IKG) auch Aussagen über das kollektivbiographische Annäherung er- auf dem Schicksal von Prominenten aus Nachkriegsschicksal der Betroffenen teil- möglichen. In einem weiteren Schritt wer- Wissenschaft, Kunst und Kultur sowie po- weise bis in unser Jahrzehnt erlaubt. den die Daten mit den Ergebnissen frühe- litischen AktivistInnen lag. Beispielhaft Was den Umfang der Akten angeht, so rer Projekte am Dokumentationsarchiv, in für eine große Fülle von Arbeiten sei an reicht dieser von wenigen Blättern bis zu erster Linie der Namentlichen Erfassung dieser Stelle nur auf Siglinde Bolbechers umfangreichen, mehrere Jahrzehnte um- der österreichischen Holocaust-Opfer ab- und Konstantin Kaisers Standardwerk fassenden Konvoluten. Von besonderem geglichen, um zu vergleichenden Aussa- Lexikon der österreichischen Exilliteratur Interesse ist, dass die Akten häufig persön- gen über die Gruppen der Überlebenden (Wien–München 2000) hingewiesen. Das lich gehaltene Briefe enthalten, da Hugo und der Getöteten zu gelangen (Alters- Dokumentationsarchiv des österreichi- Ebner und seine PartnerInnen offenbar struktur, Geschlechtsverteilung, soziale schen Widerstandes lieferte mit einem auch über ein umfangreiches persönliches Position etc.). Auch ein Abgleich mit pu- internationalen Symposium im Jahr 1975 Netzwerk unter den NS-Vertriebenen ver- blizierten Daten zur Wiener jüdischen und der Reihe Österreicher im Exil (mit fügten. Die Auswertung dieser Briefe wird Bevölkerung bzw. zur Gesamtbevölke- Bänden zu Frankreich, Belgien, Spanien, wertvolle zusätzliche Aufschlüsse über die rung ist geplant. Weiters wird zu prüfen USA, Mexiko, Sowjetunion und Großbri- Lebenswirklichkeit der EmigrantInnen ge- sein, inwieweit eine Verknüpfung mit wei- tannien) wichtige Impulse für die Erfor- ben. Geographisch waren die KlientInnen teren Quellenbeständen wie den Unterla- schung des politischen Exils. Eine Pio- weit verstreut, neben den USA und Groß- gen der Vermögensverkehrsstelle (circa nierleistung bei der Erforschung der Ver- britannien fanden sich in einer ersten 47.000 Vermögensanmeldungen) zeitöko- treibung von Wissenschaftlern und Wis- Stichprobe auch Schreiben aus Lateiname- nomisch machbar ist und weitere interes- senschaftlerinnen stellen die beiden Bände rika, Kanada, Belgien und der Schweiz. sante Ergebnisse erwarten lässt. zur Vertriebenen Vernunft (Wien 1987 und 1988) von Friedrich Stadler dar, die ein Ziel des Projekts ist es, durch eine umfas- Als Geldgeber konnten der Nationalfonds breites Spektrum an akademischen Fel- sende quantitative und qualitative Aus- der Republik Österreich für Opfer des dern abdecken. wertung zu verallgemeinerbaren Aussagen Nationalsozialismus, der Österreichische In merkwürdigem Gegensatz zur in den zu jenen rund 130.000 bis 140.000 Men- Zukunftsfonds, die Stadt Wien sowie das letzten 20 Jahren stark wachsenden Lite- schen zu gelangen, die ab dem Jahr 1938 Sozialministerium gewonnen werden. Das ratur zu den verschiedensten Aspekten der wegen ihrer jüdischen Herkunft (und zum Dokumentationsarchiv stellt über die be- NS-Herrschaft ist die Zahl derjenigen Ar- Teil auch aus politischen Gründen) aus willigten Mittel hinaus Personal- und beiten, die die Vertreibung der jüdischen Österreich vertrieben wurden bzw. flüch- Sachressourcen als Eigenleistung zur Ver- Bevölkerung Österreichs insgesamt in den teten. In einem geringeren Maße sind da- fügung. Blick nehmen, bis heute beschränkt. Am besten ist noch die Verfolgung in Öster- reich selbst