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24/2016 Die Frage nach dem Ursprung ist die Frage nach ul- 24 timativen Ursachen, nach einem determinierenden Anfangspunkt. Zugleich aber liegt dieser Punkt jen- Ursprünge seits einer greifbaren Gegenwart. Ursprünge sind Leerstellen, welche gefüllt und rekonstruiert werden Origines müssen. Entsprechend ist Fiktion ein integraler Be- standteil von allen Texten, die Ursprünge reflektieren, ungeachtet ihrer Gattung und Funktion. Indem sie Origins imaginativ zu ergründen suchen, woher Dinge kom- men, haben Geschichten von Ursprüngen das Po- tential, sowohl die ‚Dinge, wie sie sind’ zu bestätigen als auch sie radikal zu hinterfragen. In seinem kom- paratistischen Interesse widmet sich der vorliegende Band von Variations dem Begriff des Ursprungs in der literarischen Vorstellung. In den enthaltenen Beiträ- gen werden Ursprünge sowohl konkretisiert als auch hinterfragt, sie werden bestimmt, dynamisiert und neu positioniert. So zeitlos beziehungsweise fixiert, so umfassend und allgemeingültig der Ursprung auch gedacht werden mag, die in Variations 24 enthal- tenen Untersuchungen und Lektüren zeigen ihn in all seiner Wandelbarkeit.

Variations Ursprünge Variations VARIA 2016 TIONS Literaturzeitschrift der Universität Zürich PETER LANG 24/2016 Die Frage nach dem Ursprung ist die Frage nach ul- 24 timativen Ursachen, nach einem determinierenden Anfangspunkt. Zugleich aber liegt dieser Punkt jen- Ursprünge seits einer greifbaren Gegenwart. Ursprünge sind Leerstellen, welche gefüllt und rekonstruiert werden Origines müssen. Entsprechend ist Fiktion ein integraler Be- standteil von allen Texten, die Ursprünge reflektieren, ungeachtet ihrer Gattung und Funktion. Indem sie Origins imaginativ zu ergründen suchen, woher Dinge kom- men, haben Geschichten von Ursprüngen das Po- tential, sowohl die ‚Dinge, wie sie sind’ zu bestätigen als auch sie radikal zu hinterfragen. In seinem kom- paratistischen Interesse widmet sich der vorliegende Band von Variations dem Begriff des Ursprungs in der literarischen Vorstellung. In den enthaltenen Beiträ- gen werden Ursprünge sowohl konkretisiert als auch hinterfragt, sie werden bestimmt, dynamisiert und neu positioniert. So zeitlos beziehungsweise fixiert, so umfassend und allgemeingültig der Ursprung auch gedacht werden mag, die in Variations 24 enthal- tenen Untersuchungen und Lektüren zeigen ihn in all seiner Wandelbarkeit.

Variations Ursprünge Variations VARIA 2016 TIONS Literaturzeitschrift der Universität Zürich PETER LANG Variations Variations Literaturzeitschrift der Universität Zürich 2 4 / 2 0 1 6

Redaktion: Roxane Barras, Marie Drath, Philippe Haensler, Stefanie Heine, Tatjana Hofmann, Simone Höhn, Mark Ittensohn, Clemens Özelt, Reto Zöllner

Beiträge und Rezensionen bitte an die Redaktion senden: Variations Deutsches Seminar der Universität Zürich Schönberggasse 9 CH-8001 Zürich [email protected], www.variations.uzh.ch

Erscheint demnächst / À paraître / Upcoming:

25 / 2017 Humor / Humour / Humour

Abonnement / Einzelnummern: Variations erscheint jährlich. Jahresabonnement (Fr. 45.–) und Einzelhefte (Fr. 50.–) können bestellt werden bei: Verlag Peter Lang Moosstrasse 1 Postfach 350 CH-2542 Pieterlen Tel.: +41 (0)32 376 17 17, Fax: +41 (0)32 376 17 27 [email protected] www.peterlang.com

PETER LANG Bern/Berlin/Bruxelles/Frankfurt am Main/New York/Oxford/Wien Herausgegeben von

Roxane Barras / Simone Höhn / Mark Ittensohn

Ursprünge / Origines / Origins

2 4 / 2 0 1 6

PETER LANG Bern/Berlin/Bruxelles/Frankfurt am Main/New York/Oxford/Wien

Variations ist eine Literaturzeitschrift der Universität Zürich und fördert den Austausch im Bereich der literaturwissenschaftlichen Fächer. Variations dankt folgenden Institutionen der Universität Zürich für die finanzielle Unterstützung: Rektoratsdienste Deutsches Seminar Englisches Seminar Romanisches Seminar Abteilung für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft Slavisches Seminar

Layout: Anna Büsching Endlektorat: Samuel Rusch

ISSN 1424-7631 e-ISSN 2235-6118

© Peter Lang AG, Internationaler Verlag der Wissenschaften, Bern 2016 Wabernstrasse 40, CH – 3007 Bern, Schweiz

[email protected], www.peterlang.com

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk einschliesslich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ausserhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Inhalt

Ursprünge / Origines / Origins

9 Editorial

Beiträge

19 L’origine préhistorique : une mémoire trouée Chloé Morille

33 Die Dialektik des Ursprungs: Narrationen des Ich in der ästhetischen Moderne Steffen Groscurth

45 Die Poetik des An-archismus. Zum Problem des Ursprungs bei Gustav Landauer und Demian Berger

61 The Birth of Moscow Conceptualism from the Musical Spirit of the Russian Avant-Garde. The Soundscapes of Moscow Conceptualism and its Sonoric Theatre of the Absurd Dennis Ioffe

79 Friedrich Schillers und Walter Scotts Einfluss auf die Form historischen Erzählens im späten 19. Jahrhundert. Zu Wilhelm Raabes Die schwarze Galeere und C. F. Meyers Jürg Jenatsch Heiko Ullrich

91 Le carnet d’écrivain au XXe siècle : forme originelle, forme terminale Sophie Hébert

105 Ab urbe condita: Überlegungen zur Systematik städtischer Ursprungsnarrationen der Vormoderne Edith Feistner und Jakob Nied

Variations 24 / 2016 117 Et avant ? Mise en récit des origines et commencement narratif Anne Isabelle François

129 Inaugurating Ambivalence. Toni Morrison’s God Help the Child Michelle Dreiding

141 „Du riechst nach deiner Geburt.“ Erzählen vom Ursprung in Catalin Dorian Florescus Jacob beschließt zu lieben Falk Quenstedt und Sarina Tschachtli

153 Am Anfang waren die Musen. Zur Poetologie der Jacques-Erzählung in Gottfried Kellers Züricher Novellen Annalisa Fischer

165 Erste Sätze. Christoph Ransmayrs zyklisch-serielle Ursprunglichkeit Claus Telge

Forum

177 Die Kunst, Raoul Schrott (nicht) zu glauben Oriana Schällibaum

191 Der Ursprung des Vorurteils. Nachrede zum Zauberberg Andreas Dorschel

Literarische und künstlerische Beiträge

204 Sonnensturzsonatinen (Auswahl) Sabine Bergk

208 Due to an A Priori Sensation Styliani Kokkali and Nikolas Vlahakis

6 Inhalt 210 Adieux Ivan de Monbrison

212 Poems Anne Lovering Rounds

216 Die Windharfe | The Eolian Harp Betrachtungen nach Verlassen eines Rückzugsorts | Reflections on Having Left a Place of Retirement S. T. Coleridge, aus dem Englischen von Florian Bissig

225 Adams Laufbahn oder Caspars Theater Sebastian Lubcke

229 Der Schlaf des Hermaphroditos (Romanausschnitt) Ekaterina Vassilieva, aus dem Russischen von der Autorin

Rezensionen

240 Georges Nivat, Les trois âges russes, Paris: Fayard, 2015 David Hallbeck

Charis Charalampous, Rethinking the Mind-Body Relationship in Early Modern Literature, Philosophy and Medicine. The Renaissance of the Body, New York: Routledge 2016 Simone Höhn

Wsewolod Nekrassow / Всеволод Hekpacob, Ich lebe ich sehe / Живу и вижy, ausgewählt, aus dem Russi- schen ubertragen und mit einem Nachwort versehen von Gunter Hirt und Sascha Wonders, Vorwort von Eugen Gomringer, Munster: Helmut Lang, 2016 Tatjana Hofmann

Almut Seiler-Dietrich, „Hinter dem Seidenhimmel spannt sich die flockige Nacht wie Zunder“. Erica de Bary. Eine Biographie, Angermunde: Horlemann, 2015 Seynabou Ndiaye

Jana Schuster, „Umkehr der Räume“. Rainer Maria Rilkes Poetik der Bewegung, Freiburg: Rombach, 2011 Lucia Ruprecht

Inhalt 7

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Friedrich Schillers und Walter Scotts Einfluss auf die Form historischen Erzählens im späten 19. Jahrhundert Zu Wilhelm Raabes Die schwarze Galeere und C. F. Meyers Jürg Jenatsch

Heiko Ullrich

Einleitung

Walter Scotts Waverley (1814) gilt als erster historischer Roman der Litera- turgeschichte, weil er die politische Entstehung eines modernen Staates an der privaten Liebesgeschichte eines mittleren Helden spiegelt und dabei das seit Vergils Aeneis etablierte Schema der Nationenbildung durch eine symbolische Hochzeit insofern modifiziert, als dieses Paar nicht mehr der Schicht der politisch Handelnden angehört, sondern den einfachen Bürger repräsentiert. Die Figuren Edward Waverley und Rose Bradwardine sind an der politischen Einigung nicht beteiligt. Diese ist über ihre Köpfe hinweg zustande gekommen und wird von ihnen lediglich nachvollzogen. 1 Anders als Grossbritannien oder das Deutsche Kaiserreich jedoch beziehen Staats- gebilde wie die Niederlande oder die Schweizer Eidgenossenschaft ihre na- tionale Identität – zumindest in der populären Selbstinszenierung – nicht aus dem als Ursprungserzählung fungierenden Narrativ eines schwierigen Einigungsprozesses, sondern aus dem eines erfolgreichen Freiheitskamp- fes gegen einen fremden Unterdrücker. Hier vertritt das Geschichtsdrama, genauer Schillers Wilhelm Tell (1804), die Rolle des Archetypen Waverley. Im Tell scheint das aus drei Gruppen bestehende Figurentableau Scotts zwar bereits vorgebildet: Die aufständischen Eidgenossen entsprechen den mit unverkennbarer Sympathie geschilderten jakobitischen Hochlandschotten um Fergus Mac-Ivor, die Habsburger den Engländern und zwischen den beiden Extrempositionen stehen bei Scott die Schotten der Lowlands um

1 Vgl. zur Charakterisierung Edward Waverleys als mittleren Helden insbesondere Erwin Wolff, „Sir Walter Scott und Dr. Dryasdust. Zum Problem der Entstehung des historischen Romans im 19. Jh.“, in: Wolfgang Iser und Ritz Schalk (Hgg.), Dargestellte Geschichte in der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1970, 15–32, 22.

Variations 24 / 2016 den Baron von Bradwardine, bei Schiller der kaisertreue Schweizer Adel um Ulrich von Rudenz. Während Scotts Lowland-Schotten sich jedoch zu- nächst enthusiastisch am Aufstand der Jakobiten beteiligen und nach des- sen Scheitern in einem langen, mühsamen und demütigenden Prozess wie- der in das englische Königreich eingegliedert werden, vollzieht Ulrich die umgekehrte Entwicklung: Er entscheidet sich nach langem Schwanken für die Beteiligung am Aufstand, der schliesslich auch aufgrund dieses Ein- greifens Erfolg hat. Dadurch wird er zum Protagonisten und nicht – wie der mittlere Held Scotts – lediglich zum Beobachter der allgemeinen Befreiung. Zwei am historischen Erzählen orientierte literarische Texte, die die Nationenbildung durch einen Unabhängigkeitskrieg beschreiben und sich deshalb zunächst in erster Linie auf den Tell berufen, sind Wilhelm Raabes Erzählung Die schwarze Galeere (1861), die den niederländischen Kampf ge- gen die spanischen Statthalter beschreibt, 2 und Conrad Ferdinand Meyers „Bündnergeschichte“ Jürg Jenatsch (1876), die ihren Titelhelden gleich gegen mehrere tyrannische Unterdrücker, die Habsburger und die Franzosen, ins Feld schickt und zeigt, wie dieser skrupellose Politiker die Feinde seines Heimatlandes so lange gegeneinander ausspielt, bis er sein Ziel erreicht hat. 3 Die neben der offensichtlichen Abhängigkeit von Schillers Geschichts- drama ebenfalls bedeutsame Orientierung am Schema des Waverley zeigt sich dagegen insbesondere im doppelten Ende, das sowohl Die schwarze Galeere als auch der Jürg Jenatsch vom Archetypen des historischen Ro- mans übernehmen und das neben dem Happy End eines glücklichen Paares (Edward und Rose, Jan und Myga, Heinrich und Amantia) auch den Un- tergang eines tragischen und mit Sympathie gezeichneten Helden (Fergus, Jeronimo, Jürg) aufweist. 4

2 Zu Raabes Bezug auf den niederländischen Unabhängigkeitskrieg sowie dabei vor allem sein quellentechnischer Umgang mit Karl Curths Fortsetzung von Schillers Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung unter dem Titel Der Niederländische Revolutionskrieg vgl. Christian Sinn, „Schiffbau mit Zuschauer. Dekonstruktion einer Daseinsmetapher in Wilhelm Raabes ‚Die schwarze Galeere‘ (1861)“, Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 2006, 17–49, 23. 3 Vgl. dazu neben der detaillierten Analyse der Figur und ihrer Übertragung auf die Zeitgeschichte Bettina Plett, Problematische Naturen? Held und Heroismus im realistischen Erzählen, Paderborn: Schöningh, 2002, 232–242. auch Hans Mayer, Von Lessing bis . Wandlungen der bürgerlichen Literatur in Deutschland, Pfullingen: Neske, 1959, 327. 4 Zur Bedeutung der historischen Romane Walter Scotts für das Erzählwerk Conrad Ferdinand Meyers vgl. Michael Andermatt, „‚Engelland‘ als Metapher. Walter Scott, Augustin Thierry und das mittelalterliche England in Conrad Ferdinand Meyers Novelle ‚Der Heilige‘“, in: Susanne Stark (Hg.), The Novel in Anglo-German Context. Cultural Cross- Currents and Affinities, Amsterdam: Rodopi, 2000, 195–211, 196f.; insbesondere auch Isabel Hernández, „‚Der Heilige‘. Zu einer Interpretation von Conrad Ferdinand Meyers Novelle in der Tradition Walter Scotts“, Angermion 3 (2010), 117–133, 120f. Zu Raabes Orientierung am Waverley vgl. auch Roman Lach, „‚Im wilden Wald der Welt‘. Historisches Erzählen als allegorische Technik in Wilhelm Raabes ‚Hastenbeck‘“, Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 2012, 51–70, 58–64.

80 Heiko Ullrich Wilhelm Raabes Die schwarze Galeere – eine triviale Liebesgeschichte

Dass es sich bei der Schwarzen Galeere, die das Schiller und Scott gemeinsame Drei-Parteien-Schema aus Unterdrückern (Spanien), Unterdrückten (Bürger Antwerpens) und Aufständischen (Wassergeusen) wiederholt, 5 letztlich um eine triviale Liebesgeschichte handelt, betont nachdrücklich Lydia Marhoff, die vom „stark standardisierten Rollenverhalten der Protagonis- ten“ spricht: „Jan ist die Verkörperung des Helden, der sich der Lösung ei- ner Aufgabe mit seiner ganzen Persönlichkeit stellt, und sie, unbehindert durch Selbstzweifel, löst. Myga ist das unschuldige und passive Opfer, das sich vom Helden retten lässt.“ 6 Dass gerade dieses standardisierte Rollen- verhalten erst „die Gestalt der befreiten Braut gleichsam mit dem befreiten Vaterland verschmelzen lässt“, wie Walter Haussmann im Nachwort seiner Textausgabe schreibt, 7 findet dabei ein deutliches Vorbild imTell , wo Rudenz zur Befreiung Berthas eilt, die – ebenso wie ihr Vaterland – „eingeschlossen auf des Vogts Geheiss“ 8 im Kerker schmachtet. Typisch für die historische Dichtung im Gefolge des Tell ist eine enge Verflechtung von Staatsaktion und Privathandlung, wenn Rudenz im Dialog mit Bertha erkennt, dass die Freiheit der Schweizer auch sein persönliches Glück begründen wird:

Rudenz: Weh mir! Wie kann ich Euch erringen, Euch besitzen, Wenn ich der Macht des Kaisers widerstrebe? Ist’s der Verwandten mächt’ger Wille nicht, Der über Eure Hand tyrannisch waltet? Bertha: In den Waldstätten liegen meine Güter, Und ist der Schweizer frei, so bin auch ich’s. Rudenz: Bertha! welch einen Blick tut Ihr mir auf! (WT, v. 1654–1661)

5 Vgl. dazu insbesondere die Charakterisierung der Väter der beiden Protagonisten in Wilhelm Raabe, Die Schwarze Galeere, Sämtliche Werke 3, hgg. Karl Hoppe, Hans Oppermann und Eberhard Rohse, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, ²2005, 409–465 [= SG], 429; dazu die Analyse von Franziska Mayer, „Zwischen Leben und Tod: Grenzverletzungen in Wilhelm Raabes ‚Die schwarze Galeere‘ (1861)“, in: Thomas Betz und Franziska Mayer (Hgg.), Abweichende Lebensläufe, poetische Ordnungen I, München: K. Kieser, 2005, 343–364, 353f. 6 Lydia Marhoff, „Wilhelm Raabes ‚Die schwarze Galeere‘ als Perseus-und-Andromeda- Allegorie“, Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft (1992), 48–50, 48. Bekannte Beispiele für dieses zentrale Schema des Liebesromans wären etwa bei Longos die Rettung Chloes aus den Händen des Entführers Lampsis oder bei La Roche die des Fräuleins von Sternheim aus denen Lord Derbys. 7 Walter Haussmann, „Nachwort“, in: Wilhelm Raabe, Die schwarze Galeere, hg. Walter Haussmann, : Reclam, 1986, 61–73, 72. 8 , „Wilhelm Tell“, Werke. Nationalausgabe X, hg. Siegfried Seidel, Weimar: Böhlau, 1980, 127–277 [= WT], v. 2883.

Friedrich Schillers und Walter Scotts Einfluss auf die Form historischen Erzählens im späten 19. Jahrhundert 81 Zwar fragt auch Rudenz zunächst kaum minder zaghaft als Edward Waverley, „Doch wie mich retten – wie die Schlinge lösen, / Die ich mir töricht selbst ums Haupt gelegt?“ (WT, v. 1723f.), jedoch kommt er Berthas Aufforderung, „Zerreisse sie mit männlichem Entschluss!“ (WT, v. 1725), im weiteren Verlauf der Handlung nach und beeinflusst so den weiteren Verlauf des Aufstandes massgeblich in seinem Sinne, was Scotts glücklo- sem Kämpfer für das jakobitische Königshaus nicht gelingt. 9 Die Parallelität von privatem Glück und politisch-kriegerischem Handeln demonstriert die Hauptfigur Jan Norris in derSchwarzen Galeere bereits im – später erfüllten – Heiratsversprechen der Braut Myga van Bergen gegenüber:

Noch eine kurze Zeit, und ich hole dich – gib Achtung – vielleicht mit einem stattlichen Hochzeitsgeleit, dass keine Königin sich dessen zu schämen hätte. Vielleicht läuten sie die Glocken, rühren sie die Trommeln, vielleicht feiern sie mit Geschützesdonner die selige Stunde, in welcher ich dich davonführe aus Antwerpen. (SG, 434)

Das souveräne Handeln der Figuren sowohl auf der politischen als auch auf der privaten Ebene, das die historische Dichtung in der Tradition Schillers deutlich von den mittleren Helden Walter Scotts unterscheidet, zeigt sich in der Figur Jan Norris als eine optimistische Einstellung gegenüber den Mög- lichkeiten des Einzelnen, nicht nur sein eigenes Schicksal, sondern auch den Verlauf der Geschichte massgeblich zu beeinflussen: 1 0

wild harmonisch erschallte der Gesang der Sieger durch die Nacht: „Wilhelmus von Nassaue Bin ich von deutschem Blut, Dem Vaterland getreue Bleib ich bis in den Tod –“ Vom Stern des Andrea Doria blies jetzt der Trompeter der schwarzen Galeere dieselbe Weise zur Stadt hinüber, und im wilden Chor fiel die siegreiche Mannschaft ein: „Dass euch die Spanier kränken, O Niederlande gut, Wenn ich daran tu denken, Mein edel Herz, das blut’t.“ […] Auch Myga van Bergen erwachte dadurch wieder zum Leben, und lachend und weinend sang sie in den Armen Jans den Freiheitsgesang mit. „Sieh, ich halte doch Wort; unter Kanonendonner und Glockengeläut und Trompetenklang führ ich dich heim! Gerettet, gerettet!“ jauchzte Jan Norris. (SG, 460)

Die feierliche Beschwörung des gemeinsamen politischen Handelns im ly- rischen Text 1 1 verbindet Raabes Erzählung mit Schillers Drama und der zen-

9 Walter Scott, Waverley, hg. Peter Garside, Edinburgh University Press, 2007 [= WA], 301. 10 Zum Ende der Erzählung Raabes vgl. insbesondere Claudia Stockinger, „Erzählen als Drama. Zur Wiederkehr der Frühen Neuzeit am Beispiel von Raabes ‚Die schwarze Galeere‘“, Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft (2013), 23–50, 34f. 11 Vgl. dazu auch Stockinger, „Erzählen“, 46.

82 Heiko Ullrich tralen Rolle des Rütlischwurs, auf den Melchthal im Augenblick des Sieges rekurriert: „So stehen wir nun fröhlich auf den Trümmern / Der Tyrannei, und herrlich ist’s erfüllt, / Was wir im Rütli schwuren, Eidgenossen“ (WT, v. 2924–2926). Dass Raabe in der Schwarzen Galeere auch vom mittleren Helden Walter Scotts beeinflusst ist und dem optimistischen Freiheitshelden den pessimis- tischen mittleren Helden als reinen Betrachter gegenüberstellt, zeigt sich an der bislang von der Forschung übersehenen Tatsache, dass Raabe das nie- derländische Volkslied in einer Montagetechnik präsentiert, mithilfe deren er verschiedene Strophen und deren Aussagen miteinander verschränkt: Zunächst wird dabei eine Anklage gegen die spanische Fremdherrschaft formuliert und damit der Aspekt des Kampfes gegen die unrechtmässigen Unterdrücker akzentuiert. 1 2 Diese aus historischer Perspektive simplifizie- rende Sicht der Freiheitskämpfer um Jan Norris demontiert Raabe dann in der Figur des spanischen Soldaten Jeronimo, der über den aus seiner Sicht verlorenen Krieg klagt 1 3 und in diesem Zusammenhang die zweite Hälfte der ersten Strophe nachliefert, in der die wesentlich komplexeren histori- schen Zusammenhänge deutlich werden:

„Und dieses Volk vermeinen sie noch immer zwingen zu können?“ murmelte er. „Wie lange schon liegt die Blüte Spaniens, der Kern seiner Kraft in diesem Boden begraben! Wehe dir, armes Vaterland!“ […] In den Geschützdonner hinein und den Klang der niederländischen Trompeten summte der Hauptmann Jeronimo: „Ein Prinze von Oranien, Bin ich frei unverwehrt, Den König von Hispanien Hab ich allzeit geehrt.“ (SG, 463)

Dass der Text am Ende nicht die Perspektive der jubelnden Sieger, sondern die des wenig später tödlich verwundeten spanischen Hauptmannes ein- nimmt, ist eine Schlusswendung, die in vielen historischen Erzähltexten des späten 19. Jahrhunderts wie Fontanes Vor dem Sturm oder Dahns Ein Kampf um Rom zu beobachten ist und in erster Linie auf Walter Scotts beim Leser identifikatorische Begeisterung weckende Schilderung der todge- weihten Hochlandschotten um den heroischen Clanführer Fergus Mac-Ivor (vgl. z. B. Wa, 341–343) zurückgeführt werden kann: Wie Scott, Fontane, Dahn und viele andere relativiert Raabe hier den optimistischen Glauben an die Möglichkeit einer Befreiung aus eigener Kraft und einer idyllischen Volksherrschaft, in der die „freie Schweizerin dem freien Mann“ die Hand

12 Auf eine offensichtlichere, aber kaum weniger gravierendere Entstellung des Originaltextes an einer anderen Stelle der Erzählung verweist auch Sinn, „Schiffbruch“, 33. 13 Zu Jeronimos Klage vgl. auch Sinn, „Schiffbruch“, 37.

Friedrich Schillers und Walter Scotts Einfluss auf die Form historischen Erzählens im späten 19. Jahrhundert 83 reicht und dieser die Bühne mit den pathetischen Worten: „Und frei erklär ich alle meine Knechte“ verlassen kann (WT, v. 3290f.). 1 4

Conrad Ferdinand Meyers Jürg Jenatsch – tragischer Held und Volksbefreier

Auch Conrad Ferdinand Meyers historischer Roman scheint zunächst auf das sowohl dem Tell als auch dem Waverley zugrunde liegende Komödien- schema anzuspielen, nämlich das einer abschliessenden Heirat zwischen den Vertretern einer Partei der radikalen Aufständischen (Bündner Protes- tanten) und denen einer Partei der gemässigten Vermittler (Bündner Ka- tholiken) – allerdings nur, um seinen Titelhelden letztlich nicht, wie in der Komödie, zur Hochzeit mit Lucretia, sondern, wie in der Tragödie, zum Staatsbegräbnis zu führen. 1 5 Dass Meyer diesem Schema aber letztlich nicht auf dem vorgezeichneten Weg, sondern auf charakteristischen Umwe- gen folgt, 1 6 zeigt eine Stelle aus der Mitte des Romans, wo die Nebenfigur Wertmüller 1 7 in einem Brief an den Vetter in Mailand ein Treffen der Prot­ agonisten Jürg und Lucretia beschreibt, das nicht zufällig von vornherein als Szene „heftig ausbrechender Gefühle“ gekennzeichnet wird:

In einem solchen vulkanischen Ausbruch aber habe die bescheidene, von der senti- mentalen Herzogin in Szene gesetzte Vorführung einer Schutzflehenden plötzlich umgeschlagen. Er selbst habe die Lunte angezündet, indem er den Heldenspieler ein- geführt, einen tapfern Soldaten, aber leider ehemaligen Pfarrer, der ihm trotz einiger

14 Vgl. dazu auch Mayer, „Zwischen Leben und Tod“, 355, 360. 15 Vgl. dazu insbesondere Paul Michael Lützeler, „Oszillierende Charaktere. Intertext und Zitat in Conrad Ferdinand Meyers ‚Jürg Jenatsch‘“, in: Monika Ritzer (Hg.), . Die Wirklichkeit der Zeit und die Wahrheit der Kunst, Tübingen: Francke, 2001, 251–268, 267f. Zu einem Vergleich der Konfessionsstereotypen bei Raabe und Meyer vgl. auch Sabine Doering, „Standhafte Krieger und sittenlose Verführer. Konfessionelle Stereotypen in Reformationsdichtungen bei Wilhelm Raabe, Conrad Ferdinand Meyer und “, Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft (2003), 1–20, die allerdings auf Die schwarze Galeere überhaupt nicht und auf den Jürg Jenatsch nur am Rande (13f.) eingeht. 16 Conrad Ferdinand Meyer, Jürg Jenatsch. Eine Bündnergeschichte, Sämtliche Werke 10, hg. Alfred Zäch, Bern: Benteli-Verlag, 1958 [= JJ], 96. Eine deutliche Parallele zu Jan Norris zeigt Meyers Titelheld in der Ausdeutung der Legende vom Heiligen Georg, in der dieser jedoch bezeichnenderweise nicht sich, sondern den Herzog von Rohan in der Rolle des Drachentöters als christliche Version des Perseus sieht; vgl. dazu auch Valentin Herzog, Ironische Erzählformen bei Conrad Ferdinand Meyer dargestellt am „Jürg Jenatsch“, Bern: Francke, 1970, 104f., und Lützeler, „Charaktere“, 254–256. 17 Zur Beurteilung Jenatschs durch Wertmüller und deren Relativierung durch den fragwürdigen Charakter des Urteilenden vgl. neben und ergänzend zu Walter Huber, Stufen dichterischer Selbstdarstellung in C. F. Meyers „Amulett“ und „Jürg Jenatsch“, Bern: Peter Lang 1979, 142, auch Wolfgang Taraba, „Conrad Ferdinand Meyers ‚Jürg Jenatsch‘. Geschichte in der Geschichte“, in: Anna Grotans, Heinrich Beck und Anton Schwob (Hgg.), De consolatione philologiae, Göttingen: Kümmerle, 2000, 551–569, 562f., und Plett, Problematische Naturen, 215f.

84 Heiko Ullrich tüchtiger Eigenschaften wenig sympathisch sei, da demselben gewisse pompöse Ma- nieren, wahrscheinlich von der Kanzel her, ankleben und ein leidiger Hang zu grandi- osem Komödienspiele. In seiner Jugend sei der Pfarrer ein wütender Demokrat gewe- sen und einer der bösen Gesellen, die den Pompejus Planta umgebracht. Statt nun still, wie er, der taktvolle Wertmüller, es getan, im Hintergrunde zu bleiben, habe sich der Abenteurer sofort der bündnerischen Dame als Mörder ihres Vaters und zugleich als ehemaligen zärtlichen Liebhaber vorgestellt. […] Für die Herzogin, deren poetischer Schwung allen Verstand übersteige, sei es eine Wonne gewesen. […] – Jetzt arbeite sie daran, einen würdigen Schlussakt herbeizuführen nach dem Muster der gegenwärtig in Paris Furore machenden Komödie, deren Autor einen Vogelnamen – etwas wie Doh- le oder Krähe – trage und die einen ähnlichen Gegenstand behandle. Dort schliesse der Konflikt mit Heiratsaussichten; hier aber werde es hoffentlich, und wenn noch Ver- nunft im Leben sei, nicht dazu kommen. (JJ, 136f.)

Indem Meyer hier das zentrale Vorbild für die Konstruktion seiner Liebes- handlung um Jenatsch und Lucretia durch die kaum verschleierte Anspie- lung auf Pierre Corneilles Tragikomödie Le Cid (1637) 1 8 offenlegt, demons- triert er nicht nur ein differenziertes Bewusstsein für den schematischen Aufbau der Komödie und die Möglichkeiten des spielerischen Umgangs mit demselben, 1 9 sondern orientiert sich bei der Ausgestaltung der histori- schen Quellen über deren Parallelität mit dem Tell-Stoff in der Ermordung Gesslers bzw. Plantas hinaus an der poetischen Formung in Schillers Ge- schichtsdrama, beispielsweise an dem Dialog zwischen dem Titelhelden und dem unglücklichen Johannes Parricida:

Parricida: Bei Euch hofft ich Barmherzigkeit zu finden, Auch ihr nahmt Rach’ an Euerm Feind. Tell: Unglücklicher! Darfst du der Ehrsucht blut’ge Schuld vermengen Hast du der Kinder liebes Haupt verteidigt? Des Herdes Heiligtum beschützt? das Schrecklichste, Das Letzte von den Deinen abgewehrt? – Zum Himmel heb ich meine reinen Hände, Verfluche dich und deine Tat – Gerächt Hab ich die heilige Natur, die du Geschändet – Nichts teil ich mit dir – Gemordet Hast du, ich hab mein Teuerstes verteidigt. (WT, v. 3173–3183)

18 Pierre Corneille, Le Cid. Tragi-Comédie, Paris: François Targa, 1637; vgl. zu den Parallelen zwischen den beiden Handlungsverläufen auch Herzog, Ironische Erzählformen, 106f., Lützeler, „Charaktere“, 262f., und Christof Laumont, Jeder Gedanke als sichtbare Gestalt. Formen und Funktionen der Allegorie in der Erzähldichtung Conrad Ferdinand Meyers, Göttingen: Wallstein, 1997, 130f. 19 Vgl. dazu auch Franziska Ehinger, Kritik und Reflexion. Pathos in der deutschen Tragödie, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2009, 354, sowie zur Charakterisierung der Herzogin auch Herzog, Ironische Erzählformen, 39, und John Osborne, Vom Nutzen der Geschichte. Studien zum Werk Conrad Ferdinand Meyers, Paderborn: Igel, 1994, 62f.

Friedrich Schillers und Walter Scotts Einfluss auf die Form historischen Erzählens im späten 19. Jahrhundert 85 Auch Meyer stellt seinem Titelhelden in Rudolf Planta eine negative Kon­ trastfigur gegenüber, 2 0 vor der dieser sich strahlend abheben kann, wenn er die Forderung nach einer Auslieferung Rohans an die Spanier mit folgenden Worten zurückweist: „Ich bin mit Spanien in Unterhandlungen getreten, um die Freiheit und Würde meines Heimatlandes zu sichern: Ihr aber habt Euch nie darum gekümmert, sonst würdet ihr mir eine solche Niedertracht nicht zutrauen“ (JJ, 219). Planta dagegen, der – wie Parricida über den „Räuber meines Erbes“ (WT, v. 3166) – darüber klagt, dass er „von allen meinen an- gestammten Gütern und festen Sitzen in Bünden […] verjagt […] und – Gott sei’s geklagt – noch immer verschuldet, ein armer fahrender Ritter“ sei (JJ, 219), erwartet von Jenatsch Kooperationsbereitschaft oder zumindest Ver- ständnis: „Doch keinen Groll! Wir essen jetzt das Brot desselben Herrn“ (JJ, 219). Darauf reagiert Meyers Titelheld ebenso brüsk wie derjenige Schillers, der Parricida durch sein „Nichts teil ich mit dir“ zurückweist: „‚O Schmach‘, brach Jenatsch los, ‚von einem solchen Schurken zu seinesgleichen gezählt zu werden‘“ (JJ, 219). Dass der Gegensatz zwischen Parricidas Egoismus und Tells Notwehr auch für Meyer im Vordergrund steht, zeigt eine wei- tere Parallele zwischen Baumgarten, der die Ermordung des Vogtes Wol- fenschiessen mit den Worten rechtfertigt, „Mein gutes Hausrecht hab ich ausgeübt / Am Schänder meiner Ehr’ und meines Weibes“ (WT, v. 83f.), und dem ‚schwarzen Joder’, der von einem Franzosen, der seiner Braut nachge- stellt habe, im Gasthaus folgende Geschichte berichtet:

Der Franzose machte sich täglich mit meinem Gewehr zu schaffen und lag mir an, ihn auf die Gemsjagd mitzunehmen, auf die er sich besser als ich zu verstehen behauptete. Ich nahm ihn mit und stieg mit ihm am Piz Beverin herum. Als wir über den Glet- scher kamen, hatten sich die Spalten während des langen Regens etwas verändert. Ich sprang über ein paar hinweg, und als ich mich umsah, war der Franzose nicht mehr hinter mir. Er muss den Sprung zu kurz genommen haben. So war es und so hab’ ich es vor Gericht niedergelegt – das müsst ihr mir bezeugen, Ammann Müller. (JJ, 162f.) 2 1

Die Geschichte, die „auf den Gesichtern einzelner Gäste zweifelndes Nach- sinnen oder einverstandene Schadenfreude“ (JJ, 163) zum Vorschein bringt, erinnert nicht nur an Baumgartens Tat, sondern ausserdem auch an die Begegnung Gesslers und Tells auf dem schmalen Gebirgspfad über dem

20 Zu diesem Konflikt zwischen Jenatsch und Rudolf Planta vgl. auch Andrea Jäger, Die historischen Erzählungen von Conrad Ferdinand Meyer. Zur poetischen Auflösung des historischen Sinns im 19. Jahrhundert, Basel: Francke, 1998, 148f., Herzog, Ironische Erzählformen, 41f., sowie Lützeler, „Charaktere“, 253. 21 Herzog sieht in „Joder und Corporal Henriot […] symbolische Präfigurationen Jenatschs und Rohans“ (Herzog, Ironische Erzählformen, 45); vgl. auch Herzog, Ironische Erzählformen, 64.

86 Heiko Ullrich Abgrund, wo Schillers Titelheld sich so harmlos benimmt wie Meyers Ne- benfigur das von sich behauptet:

Und als der Herre mein ansichtig ward, Und mich erkannte, den er kurz zuvor Um kleiner Ursach willen schwer gebüsst, Und sah mich mit dem stattlichen Gewehr Dahergeschritten kommen, da verblasst’ er, Die Knie versagten ihm, ich sah es kommen, Dass er jetzt an die Felswand würde sinken. – Da jammerte mich sein, ich trat zu ihm Bescheidentlich und sprach: „Ich bin’s Herr Landvogt.“ Er aber konnte keinen armen Laut Aus seinem Munde geben – Mit der Hand nur Winkt’ er mir schweigend, meines Wegs zu gehen, Da ging ich fort, und sandt’ ihm sein Gefolge. (WT, v. 1558–1570)

Helden wie Baumgarten oder der ‚schwarze Joder’, aber auch der Mörder Gesslers oder derjenige des Pompejus Planta 2 2 erscheinen auf dem Schluss- tableau eines Geschichtsdramas oder historischen Romans als gefeierte Helden oder tragische Leichen; als Identifikationsfiguren jedoch taugen sie nur bedingt. Deutlich wird dies insbesondere am Ende des Tell, wo nach der allgemeinen Huldigung „Es lebe Tell! der Schütz’ und der Erretter!“ (WT, v. 3282) noch die Szene um Bertha und Rudenz folgt, die für das künftige Staats- und Gesellschaftsgebilde der Schweiz wesentlich aussagekräftiger ist als die beinahe schon an Gesslers Hut erinnernde Heldenverehrung dem Meisterschützen gegenüber:

Bertha: Landleute! Eidgenossen! Nehmt mich auf In euren Bund, die erste Glückliche, Die Schutz gefunden in der Freiheit Land. In eure tapfre Hand leg ich mein Recht, Wollt ihr als eure Bürgerin mich schützen? Landleute: Das wollen wir mit Gut und Blut. Bertha: Wohlan! So reich ich diesem Jüngling meine Rechte, Die freie Schweizerin dem freien Mann! Rudenz: Und frei erklär ich alle meine Knechte. (WT, v. 3283–3291)

22 Vgl. dazu Barbara Potthast, Die Ganzheit der Geschichte. Historische Romane im 19. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein, 2007, 289, sowie auch Paul Michael Lützeler, „Historismus und Zeitkritik. Der Dreissigjährige Krieg in Conrad Ferdinand Meyers ‚Jürg Jenatsch‘“, in: Alo Allkemper und Norbert Otto Eke (Hgg.), Literatur und Demokratie, Berlin: Erich Schmidt, 2000, 81–98, 91f., und Markus Fauser, „Historische Grösse. Rekonstruktion und Semantik einer Denkfigur des Historismus“, in: Rosmarie Zeller (Hg.), Conrad Ferdinand Meyer im Kontext. Beiträge des Kilchberger Kolloquiums, Heidelberg: Winter, 2000, 205–221, 218f.

Friedrich Schillers und Walter Scotts Einfluss auf die Form historischen Erzählens im späten 19. Jahrhundert 87 Dadurch, dass Schiller den exzeptionellen Helden von der Last der Verant- wortung für den Prozess der Nationenbildung befreit und diese Aufgabe an einen Durchschnittscharakter wie Ulrich von Rudenz weiterreicht, wird er auf den ersten Blick zum alleinigen Vorbild für Meyers „Bündnergeschich- te“. Jenatsch trägt Züge des Tell – mit dem er ja als einer der „sogenann- ten drei bündnerischen Telle“ (JJ, 100) im Roman auch explizit verglichen wird 2 3 – und er kann die Eingliederung Graubündens in die Schweizer Eid- genossenschaft letztlich den Heiratsplänen seines Jugendfreundes Heinrich Waser überlassen, dessen Annäherungsversuche an Amantia Sprecher eine Eingliederung der umkämpften Heimat Jenatschs in die Schweizer Eidgenossenschaft andeuten: 2 4

An dem Ehrenplatze, zwischen dem Hausherrn und seinem blonden Töchterlein, sass, als gefeierter Gast, der Herr Amtsbürgermeister Heinrich Waser. Heute am Tag der öffentlichen Überreichung der Friedensakte, wozu ihn seine den drei Bünden immer besonders gewogene Vaterstadt, die Republik Zürich, abgeordnet hatte, befand er sich in voller Amtstracht und im Schmucke seiner bürgermeisterlichen Kette. […] Heute sah er bewegt aus, besonders wenn er mit seiner Nachbarin sprach, deren Worten und Mienen er eine prüfende liebevolle Aufmerksamkeit schenkte. Ihr kindliches Köpf- chen, das auf einem lichten Halse über dem blauen Tuchkleide und den von ihrer Mut- ter geerbten Holländerspitzen des durchsichtigen Flügelkragens schwebte, hatte für ihn etwas äusserst Anziehendes. Die weiche Rundung des hellen Gesichtes, der damit übereinstimmende sanfte Glanz ihrer unter langen blonden Wimpern und angenehm gelockten Haaren hervorleuchtenden Augen machten einen Eindruck von befriedigter Ruhe, welche Herrn Waser an die silberne Luna erinnerte, wie sie sich in den klaren Wassern des Zürchersees spiegelt. Immer sehnlicher wünschte er, dieses anmutige Ge- stirn möchte glückbringend an seinem Abendhimmel aufgehen. (JJ, 249)

An dieser Stelle ist jedoch nicht nur abzusehen, dass über kurz oder lang auch diese „freie Schweizerin dem freien Mann“ die Hand zur Vermählung reichen wird. 2 5 Auch die Charakterisierung der Braut als „kindlich“, „sanft“ und „anmutig“ deutet eher auf die entsprechende Darstellung der Rose Bradwardine bei Scott hin (WA, 69–71) als auf Schillers tatkräftige Bertha. Vor allem aber entspricht die Parallelisierung der Annäherung zweier ver- liebter Menschen mit der „Friedensakte“ der Konstruktion im Waverley, wo sich die Rehabilitation des Barons – und damit die Eingliederung Schott- lands in das Vereinigte Königreich – mit der Heirat Edwards und Roses in entsprechender Weise verbindet, während Bertha und Rudenz zu diesem

23 Zur Rolle des Volkes im Jürg Jenatsch vgl. neben Mayer, Lessing, 331, auch Monika Ritzer, „Rätsel des Daseins und verborgene Linien. Zu Conrad Ferdinand Meyers literarischer Philosophie“, in: Monika Ritzer (Hg.), Conrad Ferdinand Meyer. Die Wirklichkeit der Zeit und die Wahrheit der Kunst, Tübingen: Francke, 2001, 9–33, 26f.; zur Verehrung Jenatschs als bündnerischer Tell vgl. auch Taraba, „Geschichte“, 560f., und Lützeler, „Charaktere“, 257– 259. Zur Exzeptionalität Jenatschs vgl. auch Huber, Stufen, 136. 24 Das übersieht Mayer, Lessing, 322f., in seiner Analyse der Titelfigur. 25 Zur Charakterisierung Wasers als gesetzter Bürger vgl. auch Jäger, Erzählungen, 176.

88 Heiko Ullrich Zeitpunkt längst auf derselben Seite der Konfliktparteien stehen und nicht mehr in gleicher Weise ein Zusammenwachsen der Nation symbolisieren können. Noch deutlicher als im Happy End wird die Abhängigkeit des dop- pelten Endes in Meyers Jürg Jenatsch von demjenigen des Waverley bei der Be- trachtung des tragischen Elements: Während Tell am Ende als sein eigenes Denkmal – unbeteiligt und überflüssig geworden – ziemlich verloren neben Bertha und Rudenz steht und die eigentlichen Verlierer des historischen Prozesses gar nicht mehr erst ins Blickfeld des Zuschauers geraten, gehen Fergus Mac-Ivor und Jenatsch einem tragischen Untergang entgegen, 2 6 ohne dass die biederen Freunde Edward Waverley bzw. Heinrich Waser 2 7 etwas gegen das drohende Unheil zu unternehmen vermögen (WA, 350; JJ, 264).

Fazit und Ausblick

Wenn im Jürg Jenatsch weniger der melodramatische Blick auf eine zum Un- tergang verurteilte Gesellschaft wie die Clanwelt der Highlands im Mittel- punkt steht als vielmehr die Problematik eines intriganten und skrupello- sen Politikers wie Fergus Mac-Ivor oder eben Jürg Jenatsch, der trotz oder gerade wegen seines Kampfes für die gute Sache sowohl an den äusseren Widerständen gegen dieselbe als auch an seinen eigenen Methoden zugrun- de geht, zeigt dies C. F. Meyer bereits auf einem Höhepunkt seines histori- schen Erzählens, das sich stärker als Scotts Entwurf eines farbenprächtigen Panoramas der differenzierten Figurenpsychologie des Protagonisten zu- wendet. Sein jüngerer Zeitgenosse Raabe weist diese Differenziertheit in seiner anderthalb Jahrzehnte früher entstandenen Schwarzen Galeere, wo die beiden Schemata Schillers und Scotts relativ unverbunden nebenein- ander stehen, noch nicht auf; seine Figuren bleiben reine Funktionsträger der historischen Ursprungserzählung ohne problematisiertes Innenleben. Tatsächlich wird Raabe in seinen nach 1871 entstandenen historischen Er- zähltexten 2 8 das Projekt einer Verknüpfung von historischem Roman und Geschichtsdrama zugunsten einer reinen Orientierung an Walter Scott und an dessen Vorbild, dem antiken Nationalepos, aufgeben. 2 9 Diese Um­

26 Vgl. dazu auch Karl S. Guthke, „Lebenskunst, Sterbenskunst. Conrad Ferdinand Meyer und die Kultur des letzten Wortes in Europa“, in: Monika Ritzer (Hg.), Conrad Ferdinand Meyer. Die Wirklichkeit der Zeit und die Wahrheit der Kunst, Tübingen: Francke, 2001, 92–125, 119f. 27 Zur Funktion Heinrich Wasers als mittlerer Held in der Tradition Scotts vgl. auch Helmut Brandt, Die grossen Geschichtsdichtungen Conrad Ferdinand Meyers. Ihre historische und ästhetische Problematik, Diss. Jena, 1957, 89, und, gegen Lützeler, „Historismus und Zeitkritik“, 84f., auch Jäger, Erzählungen, 144–146. 28 Zur Bedeutung der historischen Ereignisse von 1866 und 1871 für den Jürg Jenatsch, die derjenigen für die historischen Erzähltexte in Raabes Spätwerk weitgehend entspricht, vgl. auch Mayer, Lessing, 320f. 29 Vgl. dazu Heiko Ullrich, „Vom Krähenfeld aufs ‚Odfeld‘ und nach ‚Hastenbeck‘.

Friedrich Schillers und Walter Scotts Einfluss auf die Form historischen Erzählens im späten 19. Jahrhundert 89 orientierung, die mit einem Wechsel vom geschichtsmächtig handelnden Jan Norris zu einem der Geschichte ausgelieferten mittleren Helden wie vor allem Pold Wille in Hastenbeck einhergeht, stellt einen Bruch mit der Tradition des Tell dar, der dem auf das Einigungsschema fokussierten Deut- schen Raabe auch aufgrund des bevorzugten Sujets der eigenen nationalen Geschichte für den historischen Roman leichter fällt als dem von der Legen- de des Freiheitskampfes geprägten Schweizer Meyer. Und doch greift auch Meyer in seinem ausführlichsten Beitrag zur poetischen Deutung der Ge- schichte des eigenen Heimatlandes mit der Figur des Heinrich Waser gegen Schillers Drama auf einen – allen gegenteiligen Behauptungen Paul Michael Lützelers zum Trotz – geradezu idealtypischen und ohne die direkte Orien- tierung an Scotts Waverley kaum denkbaren mittleren Helden zurück.

Heiko Ullrich, Gymnasiallehrer in Bruchsal, wurde 2012 an der Universität Hei- delberg mit einer Arbeit über den historischen Roman im Spätwerk Wilhelm Raabes promoviert und publiziert seither im Bereich der mittleren und neue- ren Literaturwissenschaft sowie der Fachdidaktik des Deutschen.

Abstract

Neben Scotts Waverley (1814) bestimmt auch Schillers Geschichtsdrama Wilhelm Tell (1804) die Gattungsgeschichte des historischen Romans, indem die beiden Werke komplementäre Deutungsschemata anbieten: Während Scott einen mühevollen Einigungsprozess beschreibt, glorifiziert Schiller einen erfolgreichen Freiheitskampf. Obgleich Letzteres auch für Raabes Die schwarze Galeere (1861) und C. F. Meyers Jürg Jenatsch (1876) gilt, orientieren sich beide nicht allein an Schiller, sondern auch an Scott, dessen eher resig- natives als optimistisches Geschichtsbild die Erzählungen (mit)prägt.

Wilhelm Raabes Auseinandersetzung mit Walter Scotts ‚Waverley‘“, Euphorion 109 (2015), 401–436. Die dort präsentierten Ergebnisse ersetzen die im Detail vielfach überholten Thesen aus der Dissertation des Verfassers (Heiko Ullrich, Wilhelm Raabe zwischen Heldenepos und Liebesroman, Berlin: de Gruyter, 2012).

90 Heiko Ullrich