Literatur

Samir HASANOW Politologe Molla Nasreddin. Aserbaidschans literarisch-geistige Perle

Calil Mammadguluzade. (1866-1932), Gründer und Herausgeber des satirischen Wochenblatts „Molla Nasreddin“

exportieren würde. Aber sind wirklich alle muslimischen Nationen in ihrer „zivilisationsfernen Wahnwelt“, wie be- hauptet, verfangen? Das folgende Beispiel beweist we- nigstens, dass die Aufrufe zur inneren Reformation des Islam bereits vor mehr als 100 Jahren und zwar in einem kleinen muslimischen Land ihren Lauf nahmen. Dem breiten deutschsprachigen Raum, wie im Üb- rigen der europäischen Öffentlichkeit sagt der Name „Molla Nasreddin“ sicherlich nicht viel. Wenigstens im akademischen Kreis ist Molla Nasreddin, um dessen Per- sönlichkeit als historische Figur sich bisher zahlreiche Mythen ranken, als Volksweiser, Schwanksammler und Eulenspiegel des Orients bekannt. Mit seinen kurz poin- tierten lustigen Erzählungen soll er von der Türkei über Aserbaidschan und bis nach Afghanistan einen gro- erschwörungsartige Klischees über Muslime in ßen Namen gemacht haben. Allerdings haben nur sehr der westlichen Welt sind im Lichte islamistischer wenige von der Existenz der gleichnamigen Zeitschrift VTerroranschläge in europäischen Großstädten in Aserbaidschan zwischen 1906-1931 was mitbekom- der letzten Jahre Gang und Gäbe. Sie seien meist un- men. Das vom berühmten aserbaidschanischen Schrift- gebildet, fanatisch, integrationsunfähig, können sich steller, Denker und Aufklärer Calil Mammadguluzade von reaktionären ideologischen Vorstellungen des Is- (1866-1932) konstituierte wöchentliche Magazin war lam nicht lösen und würden eine mittelalterlichpatri- die allererste, fortschrittlichste und liberal-demokratisch archalische Lebensweise führen. Muslimische Staaten ausgerichtete Illustrierte im gesamten Orient, welche hätten angeblich nie eine Phase der religiösen Aufklä- couragiert die politisch-sozialen Missstände ihrer Zeit rung gehabt. Islam als Glaubensrichtung hinke dem in extrem satirischer Form aufgegriffen hatte. Ihre re- Christentum und Judentum hinterher und sei im Grun- volutionären Auswirkungen auf die nachkommende de genommen eine Ideologie der Macht, der nur Ge- Journalisten- und Intellektuellengeneration im Süd- waltherrschaft und radikale Ansichten in die ganze Welt kaukasus, Türkei, Iran und Mittelasien ragen bis in die

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Aufrührerisch gleich zu Beginn. Die erste Ausgabe von Molla Nasreddin am 7. April 1906. Der auf der Titelseite dargestellte Hauptprotagonist versucht seine schlafende Nation zu wecken

Moderne hinein. Neben unermüdlichem Engagement für mehr Bildung und Aufklärung in Aserbaidschan nahmen die Autoren der Zeitschrift unter anderem die Rückständigkeit des muslimischen Orients gegenüber dem christlichen Okzident, soziale Ungleichheit, kultu- relle Assimilation, den religiösen Fanatismus wie Funda- mentalismus der iranischen Mullahs und osmanischen Sultane sowie die absolutistische bzw. imperialistische Herrschaft des russischen Zarenreichs kühn aufs Korn. Die einzigartige Besonderheit von Molla Nasreddin (MN) manifestierte sich darin, dass die Verfasser nicht durch komplizierte Texte, sondern mittels humoriger Karikaturen und lustiger Cartoons die Nähe zu ihren Le- sern suchten, denn in der vom religiösen Extremismus verblendeten aserbaidschanischen Gesellschaft Anfang des 20. Jahrhunderts konnte die Mehrheit der Bevölke- rung weder lesen, noch schreiben. Über die lebensbe- drohlichen Gefahren, die mit der Veröffentlichung von MN zum Vorschein kamen, waren Calil Mammadguluz- ade, genannt auch Mirza Calil und sein ambitioniertes Team durchaus im Klaren. Die verbissenen Geistlichen in Persien hatten es nicht allein auf das Publikationsver- bot des Magazins angelegt. Sie sagten, dieses „schmäh- schanischen Publizisten, der als ein weiterer geistiger liche Papier“ gehöre nicht ins Haus eines Moslems. Man Vordenker des Magazins galt. solle es am liebsten „mit der Zange fassen und in der Zweitens genoss Tiflis als kulturelle Hauptstadt des Toilette entsorgen“. Sie trachteten zudem danach, Mirza Zarismus im südlichen Transkaukasien großes Ansehen Calil und seine Mitläufer um jeden Preis aus dem Weg unter liberal-kritischen Intellektuellen, wobei man sich zu schaffen. Mehrere Attentatsversuche schlugen fehl. vor allem nach der Niederlage Russlands im Krieg ge- In seinen späteren Memoiren erinnert sich der Schöp- gen Japan 1905 außer Reichweite der Zensur an gewis- fer: „Hätte ich das Journal nicht in Tiflis, sondern in sen Freiheiten erfreuen konnte. Außerdem war hier der oder Eriwan (Hauptstadt der heutigen Republik Arme- Einfluss von iranischen Klerikern anders als in Baku und nien, wo zum damaligen Zeitpunkt die Aserbaidschaner Eriwan deutlich limitiert. überwiegende Mehrheit bildeten) veröffentlicht, hätten Die Genialität von Mirza Calil bestand in seinem die (Mullahs) meine Redaktion verwüstet und mich weitsichtigen Vermögen, die Gunst der Stunde zu nut- selbst ermordet.“ zen und MN in kürzester Zeit zu einem Gravitationszen- Es gab zwei entscheidende Beweggründe, weshalb trum für „helle Köpfe“ seiner Periode wie namhafter Sa- ausgerechnet Tiflis als Gründungsort von MN auserko- tiriker , Dramatiker Abdurrahim bay ren war: Erstens hatte in der heutigen aserbaidschani- Haqverdiyev, Literaturwissenschaftler Salman Mumtaz, schen Exklave Nachtschiwan geborene Mammadgu- Dichter Ali Nazmi, Romanschriftsteller Mammad Said luzade ein Großteil seiner Jugend in Georgien verbracht Ordubadi, Komponist Üzeyir Hacibeyli etc. zu katapul- und dort im Lehrergymnasium der Stadt Gori (Geburts- tieren. Abgerundet wurde diese Reihe durch professio- stadt von Joseph Stalin) studiert. Nachdem er ab 1903 nelle deutsche Cartoonisten wie Oskar Schmerling und in Tiflis heimisch wurde, kam es zur engen Freundschaft Joseph Rotter, denen sich später aserbaidschanischer und langjährigen Zusammenarbeit mit Ömar Faig Karikaturist Azim Azimzade(1880-1943) angeschlossen Nemanzade(1872-1940), dem prominenten aserbaid- hatte. Je tiefer man in die politisch-gesellschaftlichen www.irs-az.com 29 Literatur

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Gestern wie heute. Zwangsverheiratung in der muslimischen Gesellschaft

Verwirrungen des südlichen Kaukasus zwischen 1905- langjährigen Kampf von Mirza Calil und co. für die 1917 eintaucht, desto bewunderungswerter erscheint Emanzipation aserbaidschanischer Gesellschaft aus die Tatsache, unter welchen großen Entbehrungen die den Finsternissen des Mittelalters, ihre westorientierte Publikation des Blatts überhaupt stattfand, und Transformation, Gleichberechtigung und allgemeine wie die Autoren dabei erhebliche Risiken billigend in Schulpflicht für Frauen ließen die treuen Verfolger von Kauf nahmen. Nach über 300 gelungenen Ausgaben MN 1919 Wirklichkeit werden, indem den Frauen etwa in Tiflis im besagten Zeitabschnitt zog die Redaktion zur gleichen Zeit wie in den USA oder Deutschland das mit dem Zerfall des Zarenreichs und der Etablierung Wahlrecht gewährt wurde. der Demokratischen Republik Aserbaidschan(DRA), Als Aserbaidschan 1920 sowjetisiert wurde, war der ersten demokratisch legitimierten Staatsformation der radikale islamische Klerikalismus in den Köpfen der islamischen Welt, 1918 nach Baku. Eine genauere weitestehend zurückgedrängt worden, zumal die neu- Analyse offenbart in diesem Zusammenhang das un- en Machthaber die Religion als ein konkurrierendes schätzbare literarische Vermächtnis dieser einzigarti- Denksystem zum Kommunismus betrachteten. In der gen Aufklärergeneration, die um MN herum zusam- Entstehungsphase der Sowjetherrschaft setzte das Sa- mengeschlossen war. Es ging darum, dass sich unter tirejournal zwischen 1922-1931 mit aserbaidschanisch einer breiten Leserschaft des Magazins auch die Grün- und gelegentlich russischsprachigen Beiträgen seine dungsväter der DRA wie Mammad Amin Rasulzadeh, intensiven Modernisierungsbestrebungen in Baku Fatali Khan Xoyski, Nasif bay Yusifbayli etc. fanden. Den weiter fort. Sie setzte sich außerdem mit erzwungener www.irs-az.comTitelseite der satirischen Zeitschrift „Molla Nasreddin“ 31 Literatur

Ganz im Sinne der kolonialen Bildungspolitik. Auf den Bildern: Einem Regierungsbeamten sind ungebildete, fanatische Schüler aus religiösen Einrichtungen viel lieber als rebellische Kader aus modernen säkularen Schulen.

Reformpolitik der Bolschewiki kritisch auseinander. Auf autoritärer Tendenzen unter Joseph Stalin wurde das diese Epoche fallen mehr als 400 erschienenen Ausga- Umfeld für kritische Stimmen in der Sowjetunion ge- ben. Mit zunehmender Verschärfung innerstaatlicher gen Ende der 1920er immer prekärer. Aus dem Zentralkomitee wurden die Aufforderun- gen lauter, Mirza Calil solle die ideologischen wie the- matischen Richtlinien von MN auf die des Sozialismus anpassen. Einher ging die Abwärtsentwicklung mit der sukzessiven Verschlechterung des Gesundheitszu- stands des Herausgebers. Mit der letzten Edition von MN im Jahre 1931 schloss Mammadguluzade das letzte Kapitel seiner herausragenden akademischen Karriere. Molla Nasreddin war und bleibt ein geistig-kultu- relles Meisterwerk und ganzer Stolz der aserbaidscha- nischen Renaissance Anfang des 20. Jahrhunderts. Die einst um dieses Satireblatt gescharte Creme a la Creme, die sich wiederum mit anspruchsvollen Ab- handlungen neue Wege für die Artikulation ihrer Vi- sionen aussuchte, leitete eine epochale Phase bei der Herausbildung des nationalstaatlichen Selbstver- ständnisses der Aserbaidschaner ohne konfessionellen

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Titelseite der satirischen Zeitschrift „Molla Nasreddin“

Rahmen ein. Selbst mehr als 100 Jahre danach sorgen die progressiven Reformansätze des Vorzeigeprojekts von Mirza Calil und co. dafür, dass Aserbaidschan im 21. Jahrhundert in Sachen Säkularismus, Modernisie- rung und interreligiöse Toleranz zu den Vorreitern der islamischen Welt zählt. Es sprengt gleichzeitig sämtli- che Stereotypen in vielen westlichen Ländern über vermeintlich ungebildete, unzivili- sierte oder zum Terrorismus neigende Muslime. Für westliche Islamwissenschaftler, Politik-Experten oder Medienvertreter wäre es sicherlich hilfreicher, im öf- fentlichen Islamdiskurs sich an die Errungenschaften der islamischen Aufklärung in Aserbaidschan anzu- knüpfen und die Notwendigkeit eines vergleichbaren Entwicklungsstadiums für die restliche muslimische Welt in der Gegenwart zu akzentuieren, statt auf defizi- täre Wertevorstellungen in muslimischen Gesellschaf- ten oder auf „unüberbrückbare kulturelle Differenzen“ zwischen dem christlichen Westen und muslimischen Osten hinzuweisen.

Quellen:

1. Б. Бабаев: Ю.В.Чеменземинли и журнал „Молла Насреддин“, Вестник КазНУ. Серия филологиче- ская, No2(132). 2011, C. 244-246. 2. Caferoglu, Ahmed: Die moderne aserbaidschanische Literatur, in: Spuler, B. u.a.: Handbuch der Orienta- listik. Der Nahe und Mittlere Osten. Altaistik. Erster Abschnitt Türkologie, Leiden/Köln 1982, S. 423f. 3. Encyclopedia Irania: Molla Nasreddin ii. Political and Social Weekly, in: http://www.iranicaonline.org/arti- cles/molla-nasreddin-ii-political-and-social-weekly 4. Khalilova, Konul: How Muslim had satire years before Charlie Hebdo, 28. February 2015, in: http://www.bbc.com/news/world-europe-31640643

Titelseite der satirischen Zeitschrift „Molla Nasreddin“ www.irs-az.com 33 Kunst

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Ädalet WELIJEW Professor für Kunstwissenschaften Aserbaidschanisches Kino-120 www.irs-az.com 35 Kunst Das erste Filmstudio in Baku. 1923

as Kino ist die jüngste der am weitesten ver- im Stadtgarten“ und „Gotscha!“. Deshalb wurde der 2. breiteten Kunstformen, die ihren Auftritt un- August in Aserbaidschan zum Tag des Kinos erklärt. So Dmittelbar dem wissenschaftlichen und techno- feierte das aserbaidschanische Kino letztes Jahr sein logischen Fortschritt verdankt. Der Tag des Entstehens 120-jähriges Jubiläum. der Kinokunst wird am 28. Dezember 1895 gewürdigt, Zu Beginn des 20. Jh. gab es in Baku, dem damaligen als der erste von den Brüdern Lumière gedrehte Film Weltzentrum der Erdölförderung, Niederlassungen einer in Paris gezeigt wurde. Und sehr bald - am 2. August Reihe ausländischer Filmstudios wie Pate, Pirone und 1898 – fand in Baku ein spezielles Filmfestival statt, das Film, die vorwiegend unterhaltsame Filme drehten. Das die ersten Dokumentarfilme in Aserbaidschan zeigte, Kino fand rasche Verbreitung und dessen Entwicklung die vom Bakuer Fotografen Alexander Mischon gedreht führte zur Begeisterung des Publikums und zu einer all- wurden - „Feuer am Erdölbrunnen in Bibi Hejbat“, „Kau- gemeinen Faszination in vielen Ländern für diese Kunst- kasischer Tanz“, „Der Erdölbrunnen in Balakhani“, „Feste art. 1910 gab es in Baku 14 Kinosäle, von denen sich viele in eigenen dafür errichteten Räumlichkeiten befanden. In einigen anderen Städten wie Gendsche, Nakhtschivan und Lankaran wurden ebenfalls Lichtspielhäuser eröff- net. Gleichzeitig wurden in den verschiedenen Landkrei- sen mobile Kinoinstallationen eingesetzt. Vor der Sowjetisierung wurden sowohl Dokumen- tar- als auch Spielfilme gedreht, wie „Die Frau“, „Wie Frau- en Karriere für Ehemänner machen“, „Liebe ohne Schu- he“, „Eine Stunde vor dem Tod“ usw. Die überwiegende Mehrheit dieser Filme waren typische Produktionen,

Annonce in der populären Zeitung “Kaspi“ über Filmdemonstration in Baku. 1898

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um den kommerziellen Filmmarkt zu bedienen, aller- ideologische Ausrichtung der gedrehten Filme sollten dings zählte zu ihnen auch der Film „Arschin Mal Alan“ den Grundlagen des sozialistischen Verständnisses des (Der wandernde Händler), der auf der beliebten gleich- Wesens der Kunst entsprechen. Die ersten Werke des namigen aserbaidschanischen Operette beruhte. Eben- sowjetischen aserbaidschanischen Kinos waren die falls wurden in dieser Zeit Dokumentarfilme wie „Erdöl- Chroniken „Einzug der 11. Roten Armee in Baku“, „Er- förderung“ und „Volkstag der Freiheit in Baku“ gedreht. ster Jahrestag des sowjetischen Aserbaidschans“ und Der Wendepunkt in der Geschichte des vorrevolutionä- „1. Kongress des Ostens in Baku“. ren aserbaidschanischen Kinos war 1916, als der erste Am 28. April 1923 fand in Baku die offizielle Eröffnung abendfüllende Spielfilm „Im Reich des Erdöls und der der staatlichen Filmproduktionsfabrik unter der Führung Millionen“ nach dem Roman von Ibrahim Musabejow des Aserbaidschanischen Staatsamts für Foto und Film gedreht wurde. Er zeigt das Leben von Millionären in statt. Der nach der Legende „Der Mädchenturm“ gedreh- Baku und das Leben von Arbeitern, die durch harte Ar- te gleichnamige Film, der 1924 auf den Kinoleinwänden beit auf den Erdölfeldern ihr Brot verdienen. Die Haupt- rolle des Lutfeli Bej, einem gescheiterten Millionär, ver- körperte der berühmte aserbaidschanische Schauspie- ler und Theaterdarsteller Hüsejn Areblinski, der damit zum ersten Filmschauspieler Aserbaidschans wurde. Der bolschewistische Putsch von 1920 markier- te den Beginn einer neuen Etappe in der Geschichte des aserbaidschanischen Kinos, die zum Sprachrohr der kommunistischen Ideologie wurde. In der sowje- tischen Anfangszeit, wie auch in späteren Zeiten, wur- de das Kino von der regierenden Kommunistischen Partei als das wichtigste Element der ideologischen Bildung der Massen angesehen. Das Thema und die www.irs-az.com 37 Kunst

dank deren Talent viele Filme ein hohes Niveau haben. 1935 wurde unter der Regie von Boris Barnet die Komö- die „Am blauen Meer“ gedreht, die der erste aserbaid- schanische Tonfilm war. Im Allgemeinen wurde das Kino als Kunst selbst zu einem der Schlüsselelemente der Kultur, indem es sich auf die Werke der aserbaidschanischen Literatur und die Kunst der Schauspieler stützte und auf der Leinwand das Zeitalter, das Leben und den Charakter der Menschen in seinem national unverwechselbaren Ausdruck reflek- tierte. Die Regisseure beherrschten erfolgreich die Aus- drucksmittel des Kinos, wendeten verschiedene Techni- erschien, war der erste Film der Filmproduktionsfabrik. In ken der kompositorischen Bearbeitung von Filmen an den folgenden Jahren wurde die Filmproduktionsfabrik und sammelten immer mehr spezielle Erfahrungen in immer wieder umbenannt in Aserbaidschanisches Staat- der Arbeit mit den Filmschauspielern. Diese Aufgabe liches Kino, Aserkino, Aserfilm und Aserbaidschanische wurde durch die Teilnahme von Filmschauspielern der Staatliche Kinoindustrie, bis sie 1958 zu dem Filmstudio realistischen Schule wie Mirzaga Aliyev, Khejri Emirzade, Aserbaidschans wurde und im nächsten Jahr nach dem Merzije Dawudowa, Alesker Alekberov, Lütfeli Abdulla- Dichter und Dramatiker Dschafar Dschabbarly benannt jew, Aga-Sadig Geraibejli, Möhsun Senani und anderen wurde. Unter diesem Namen ist „Aserbaidschanfilm“ erheblich erleichtert. noch heute bekannt. In den 1920er und 1930er Jahren In den 1940er Jahren waren Krieg und Patriotismus wurden in der Filmfabrik solch bedeutsame Spielfilme die Hauptthemen des Kinos, und es wurden meist Do- wie „Im Namen Gottes“, „Hadschy-Gara“ (Regisseur Abbas kumentarfilme gedreht. Mirza Scharifzade), „Sevil“ (Regisseur Alexander Beknaza- Das größte filmische Ereignis dieser Zeit war die rov), „Almaz“ (Regie von Agarza Gulijev), „Die Bauer“ (Re- Schaffung der musikalischen Komödie „Arshin-mal- gie von Samed Mardanov) gedreht. Diese Filme waren Alan“ (Der wandernde Händler) durch die Regisseure vor allem den Veränderungen in der Gesellschaft und Reza Tehmasib und Nikolaj Leschenko, basierend auf dem Kampf gegen den Aberglauben und die Ignoranz der oben genannte Operette von Usejir Hadjibejow, gegenüber den neuen sozialistischen Werten gewidmet. mit dem beliebten Sänger Reschid Behbudow in der Aus heutiger Sicht erscheint natürlich die ideologi- Hauptrolle. Gefilmt im klassischen Stil mit einer extrem sche Ausrichtung dieser Filme mit ihrem Pseudopatrio- ausgeprägten Nationalfarbe, entstand die Komödie ei- tismus nicht sehr überzeugend, dennoch bleiben sie als nige Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Zeugnisse des damaligen Filmschaffens wertvoll. Durch und wurde von den Zuschauern in der gesamten So- diese Filme entwickelten sich im aserbaidschanischen wjetunion begeistert aufgenommen und eroberte die Kino zwei Trends: die pathetische Darstellung der Reali- Kinoleinwände in Dutzenden von Ländern der Welt tät der Moderne und die Professionalität der Darsteller, mit Triumph. Eine neue Etappe in der Entwicklung des aserbaid- schanischen Kinos begann Mitte der 50er Jahre, als eine Gruppe von Absolventen der Moskauer Filmakdemie im Filmstudio in Baku zu arbeiten begann. Es gelang dem nationalen Kino, bis zu einem gewissen Grad sein Erscheinungsbild zu formen und eine Reihe von Mei- stern des Films vorzustellen, die sich durch die Origi- nalität ihrer Welt des Schauspiels und der Kinosprache auszeichneten. Unter ihnen waren solch prominente Regisseure wie Hesen Sejidbejli, Aschdar Ibrahimow, Schamil Mahmudbejow, Letif Safarow und Tofig Tagiz- ade, die in der Geschichte des aserbaidschanischen Ki- nos tiefe Spuren hinterlassen haben. In 1950er Jahren

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entstanden die Ikonen des aserbaidschanischen Kinos wie „Wenn nicht diese, dann die andere“ (1955, Regie von Hüsejn Sejidzade), „An weiten Ufern“ (1958, Regie von Tofig Tagizade) usw. Die 60- und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts werden als „goldenes Zeitalter“ des aserbaidschanischen Kinos bezeichnet. In Filmen dieser Zeit werden verschiedene Sichtweisen auf Geschichte und Moderne vorgestellt, die ernste soziale und ethische Probleme aufgriffen. In mehreren Filmen dieser Zeit kann man den Atem des wirklichen Lebens spüren, wenn eine lebende Person mit ihren dringlichen Nöten im Bild erscheint. Zu den Errungenschaften des nationalen Kinos tru- Dokumentarfilme von „Aserbaidschanfilm“ die Doku- gen nicht nur die Regisseure, sondern auch die Vertre- mentarfilmstudios „Rakurs“, „Salname“ und „Jaddasch“ ter anderer Berufe in der Filmbranche bei. Das aserbaid- gegründet, die die Tradition der aserbaidschanischen schanische Kino brachte mehrere Generationen von Dokumentarfilme fortsetzten. In den Dokumentarfil- Drehbuchautoren hervor. Gute Autoren zeichnen sich men Aserbaidschans wurde von der Geburt des Kinos durch die Fähigkeit aus, gute Drehbücher zu entwic- eine Chronik erstellt, die die wichtigsten Ereignisse im keln. Sie sollen Oberflächlichkeit vermeiden, das Leben gesellschaftspolitischen, kulturellen und wirtschaftli- und das Schicksal der Helden in ihrer Vielfalt widerspie- chen Leben aufzeigt. Durch ein umfangreiches chro- geln, damit das Publikum diese nicht vergisst. nologisches Filmmaterial sowie Tausende von Doku- Im aserbaidschanischen Kino der Nachkriegszeit bil- mentarfilmen, die im Laufe vieler Jahrzehnte zu den dete sich eine wunderbare Schauspielschule heraus, die Themen geistige Werte, historische Denkmäler und de- eine riesige Galerie von aserbaidschanischen Persön- ren Schutz, Volksbräuche und Traditionen sowie zu den lichkeiten verschiedener Altersgruppen und sozialem herausragenden Persönlichkeiten des aserbaidschani- Status hervorbrachte, anhand derer sich künftige Gene- schen Volkes gedreht wurden, wurde ein Porträt der rationen ein Bild von ihren Landsleuten aus dem 20. Jh. Ära geschaffen, das ein eindruckvolles Bild des Landes machen können. und der Menschen vermittelt. Das aserbaidschanische Kino hatte auch nicht we- Heute können wir mit Zuversicht sagen, dass das nige ausgezeichnete Kameraleute. Einer von ihnen war aserbaidschanische Kino der Nachkriegszeit trotz der Rasim Odschagow, der später selbst Regisseur wurde Bedingungen schwerwiegender ideologischer Be- und viele sehr gute Filme drehte. schränkungen, die durch das sowjetische Partei- und Viele großartige Musikstücke für Filme wurden von be- Staatssystem auferlegt wurden, in hohem Maße seinen kannten aserbaidschanischen Komponisten wie Gara Ga- eigenen Stil entwickelt und eine Reihe bemerkenswer- rajew, Fikret Amirow, Tofig Gulijew, Nijasi usw. komponiert. ter Meisterwerke des Kinos hervorgebracht hat. 1968 wurde im Filmstudio Aserbaidschan eine Werk- Der Zusammenbruch der UdSSR markierte das statt für Animationsfilme eröffnet. Diese ermöglichte es Ende eines wichtigen Kapitels in der Geschichte des nun, eigene Animationsfilme zu produzieren. Seit 1970 existiert in Aserbaidschan das satirische Fernsehmagazin „Mozalan“ (die Hummel), das bis heu- te rund 200 Ausgaben gedreht hat. Gegenstand seiner Kritik waren die Mängel im öffentlichen und privaten Leben in der Sowjetzeit, und es entlarvte die Karrieri- sten und Bürokraten als korrupte und betrügerische Menschen. Das Fernsehmagazin erfreut sich bei dem Publikum immer noch sehr großer Beliebtheit, seine letzten Veröffentlichungen wurden von Hunderttau- senden von Zuschauern im Internet heruntergeladen. 1989 wurden auf der Grundlage der Vereinigung der www.irs-az.com 39 Kunst

det, das die Formen der staatlichen Unterstützung im Filmbereich und die rechtlichen Grundlagen der staat- lichen Politik der Förderung und Entwicklung des Kinos festlegte. Die Ergebnisse der staatlichen Unterstützung ließen nicht lange auf sich warten. In den 90er Jahren wurden so bedeutende Spielfilme wie „Gazelkhan“ (Re- gie von Schahmar Alekberow), „Der Zauberer“ (Oktay Mir-Gasymow), „Wehklagen“ (Dschejhun Mirzajew), „Al- les wird gut“ (Wagif Mustafajew), „Fledermaus“ (Ajaz Sa- lajew), „Fremde Zeit“ (Hüsejn Mehdijew), „Schöne Blon- de“ (Jawer Rzajew), „Wie wunderbar ist diese Welt“ (Eldar Gulijew) und zahlreiche Dokumentarfilme gedreht, die aserbaidschanischen Kinos und eröffnete ein neues nach modernen ästhetischen Maßstäben das wirkliche Kapitel, das sich durch die Suche nach neuen Entwick- Leben widerspiegeln. lungswegen unter neuen gesellschaftspolitischen und 1993 wurde die Aserbaidschanische Staatliche wirtschaftlichen Bedingungen auszeichnet. Filmstiftung gegründet, die eine herausragende Rolle Der Zusammenbruch der UdSSR verursachte in den bei der Erhaltung der Primärmaterialien der aserbaid- 90er Jahren des letzten Jahrhunderts Krisen- und Sta- schanischen Filme und der Bildung einer Sammlung gnationsprozesse in fast allen Lebensbereichen Aser- von Werken des ausländischen Kinos spielte. 2009 baidschans, wie auch in allen anderen postsowjetischen wurde in Baku ein Gebäude für die Stiftung gebaut Ländern. Das Kino bildete da keine Ausnahme: Die Zahl und in Betrieb genommen. der produzierten Filme ging stark zurück, viele Stadtki- Die Zeit nach der Unabhängigkeit Aserbaidschans ist nos und mobile Filminstallationen stellten ihre Arbeit gekennzeichnet durch die Entstehung und den Ausbau ein, und das Verlangen der Jugend nach dem Beruf des eines Netzwerks von privaten Film- und Produktionsun- Kameramanns nahm erheblich ab. ternehmern, die heute tätig sind. In den letzten Jahren Nach und nach verbesserte sich jedoch die Wirt- haben private Studios mehr als 60 Spielfilme produziert. schaft des Landes, und der Staat begann trotz finanziel- Insbesondere drehten die unabhängigen Studios be- ler Schwierigkeiten, Mittel für die Produktion von Filmen deutende Filme, die bei internationalen Wettbewerben bereitzustellen. 1998 wurde das Filmgesetz verabschie- Preise und Diplome erhielten. Gegenwärtig gibt es in

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Aserbaidschan mehr als 50 Kinosäle, hauptsächlich in des aserbaidschanischen Kinos“ und eine Reihe von Bü- Baku und seinen Vororten. In verschiedenen Städten chern zur Geschichte und Theorie des Kinos veröffent- des Landes sind beinahe 250 Kulturpaläste und Kultur- licht worden. häuser in Betrieb, die alle notwendigen Voraussetzun- In den letzten Jahrzehnten wurden mit den Mitteln gen für die Vorführung von Filmen anbieten. aus dem Staatshaushalt in Aserbaidschan 44 Spielfilme, Ein wichtiges Ereignis im Hinblick auf die Entwick- 50 Kurzfilme, 208 Dokumentarfilme und 22 Animations- lung des aserbaidschanischen Kinos war die Verab- filme, 18 Ausgaben des satirischen Filmmagazins Moza- schiedung des staatlichen Programms zur Entwick- lan gedreht. Davon sind dem Thema des Karabachkrie- lung des Kinos für die Jahre 2008 - 2018. In letzter Zeit ges 9 Spiel- und 85 Dokumentarfilme gewidmet. Die wurde die materielle und technische Basis des Filmun- Kunst-, Dokumentar- und Animationsfilme wurden ternehmens erheblich gestärkt und der Umfang der mehr als 200 Mal auf zahlreichen internationalen Film- Produktion von Spiel-, Dokumentar- und Animations- festivals gezeigt. Bei den renommierten internationalen filmen erheblich erweitert sowie die Ausbildung der Festivalwettbewerben wurden 21 aserbaidschanische Filmschaffenden und die internationalen Beziehungen im Bereich des Kinos ausgebaut. Auch die Beteiligung der aserbaidschanischen Filmemacher an internatio- nalen Projekten wurde jetzt intensiver und eine Reihe von Schritten wurde unternommen, um die gemein- samen Filme mit den Filmstudios aus den anderen Ländern zu produzieren. In Baku wurde nach gründli- cher Rekonstruktion und Umbau, in dem Kino namens Nizami ein mit der neuesten Technologie ausgestatte- tes Filmzentrum eröffnet. Dieses Filmzentrum entwic- kelte sich auch zum wichtigsten Verleihunternehmen des Landes. In letzter Zeit sind das „Enzyklopädische Wörterbuch www.irs-az.com 41 Kunst Kinozentrum “Nizami” in Baku

Filme mit dem Preis für den besten Film ausgezeichnet, des Aserbaidschanischen Kinos in einer Reihe von Län- 6 für die beste Regiearbeit, 9 für das beste Schauspiel, 4 dern statt - in der Türkei, in Georgien, im Iran, in Tadschi- für das beste Drehbuch. Auf den Internationalen Film- kistan, Italien, Frankreich, Großbritannien, Ungarn, festspielen in Cannes wurde auf Initiative und mit Unter- Russland, Usbekistan, Korea und in Brasilien. Daneben stützung der Hejdar Alijew-Stiftung in den Jahren 2011- fanden in Baku fünf internationale touristische Filmfe- 2016 ein separater aserbaidschanischer Kinopavillon be- stivals, zwei internationale Sportfilmfestivals und das 9. trieben. Mit Unterstützung der Stiftung drehte Regisseur Internationale Kurzfilmfestival statt. Asif Kapadia 2015 nach dem bekannten Roman von Kur- Heute bringt eine ganze Reihe talentierter Regisseu- ban Said den Film „Ali und Nino“, dessen Weltpremiere re, Schauspieler und Drehbuchautoren der mittleren, im Rahmen des Sundance International Film Festivals und jungen Generation frischen Wind in das aserbaid- in Los Angeles stattfand. Im Jahr 2013 drehte der Regis- schanische Kino. Darüber hinaus wurde durch die staat- seur Robert Magrenot im Auftrag derselben Stiftung die liche Linie eine Ausbildung in den wichtigsten Fachge- Dokumentation „Das Ziel ist Baku: Wie Hitler den Kampf bieten des Films, einschließlich technischer Filmberufe, um das Erdöl verlor“, die der Rolle des Bakuer Erdöls im an Universitäten in Russland, der Türkei, Großbritannien Zweiten Weltkrieg gewidmet ist. Dieser Film wurde auf und Kanada eingerichtet. Die filmschaffenden Künstler dem internationalen Fernsehkanal National Geographic werden auch im Land selbst von der staatlichen Univer- in 26 Sprachen gezeigt. Der Dokumentarfilm „Ewige Ge- sität für Kultur und Kunst Aserbaidschans ausgebildet. schäftsreise“ der Regisseure Vugar Islamzade und Fariz Die aufgeführten staatlichen Maßnahmen zur Ent- Ahmedow, der dem dramatischen Schicksal der Mitglie- wicklung des Kinos in Aserbaidschan und bestimmte der der aserbaidschanischen Delegation auf der Pariser Erfolge, die bereits nach der Unabhängigkeit des Lan- Friedenskonferenz von 1919 gewidmet ist, fand breite des erzielt wurden, stimmen daher optimistisch im Hin- Anerkennung beim Publikum in Aserbaidschan. blick auf die Zukunft des nationalen Kinos. In den Jahren der Unabhängigkeit fanden die Tage

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