Molla Nasreddin. Aserbaidschans Literarisch-Geistige Perle
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Literatur Samir HASANOW Politologe Molla Nasreddin. Aserbaidschans literarisch-geistige Perle Calil Mammadguluzade. (1866-1932), Gründer und Herausgeber des satirischen Wochenblatts „Molla Nasreddin“ exportieren würde. Aber sind wirklich alle muslimischen Nationen in ihrer „zivilisationsfernen Wahnwelt“, wie be- hauptet, verfangen? Das folgende Beispiel beweist we- nigstens, dass die Aufrufe zur inneren Reformation des Islam bereits vor mehr als 100 Jahren und zwar in einem kleinen muslimischen Land ihren Lauf nahmen. Dem breiten deutschsprachigen Raum, wie im Üb- rigen der europäischen Öffentlichkeit sagt der Name „Molla Nasreddin“ sicherlich nicht viel. Wenigstens im akademischen Kreis ist Molla Nasreddin, um dessen Per- sönlichkeit als historische Figur sich bisher zahlreiche Mythen ranken, als Volksweiser, Schwanksammler und Eulenspiegel des Orients bekannt. Mit seinen kurz poin- tierten lustigen Erzählungen soll er von der Türkei über Aserbaidschan und Iran bis nach Afghanistan einen gro- erschwörungsartige Klischees über Muslime in ßen Namen gemacht haben. Allerdings haben nur sehr der westlichen Welt sind im Lichte islamistischer wenige von der Existenz der gleichnamigen Zeitschrift VTerroranschläge in europäischen Großstädten in Aserbaidschan zwischen 1906-1931 was mitbekom- der letzten Jahre Gang und Gäbe. Sie seien meist un- men. Das vom berühmten aserbaidschanischen Schrift- gebildet, fanatisch, integrationsunfähig, können sich steller, Denker und Aufklärer Calil Mammadguluzade von reaktionären ideologischen Vorstellungen des Is- (1866-1932) konstituierte wöchentliche Magazin war lam nicht lösen und würden eine mittelalterlichpatri- die allererste, fortschrittlichste und liberal-demokratisch archalische Lebensweise führen. Muslimische Staaten ausgerichtete Illustrierte im gesamten Orient, welche hätten angeblich nie eine Phase der religiösen Aufklä- couragiert die politisch-sozialen Missstände ihrer Zeit rung gehabt. Islam als Glaubensrichtung hinke dem in extrem satirischer Form aufgegriffen hatte. Ihre re- Christentum und Judentum hinterher und sei im Grun- volutionären Auswirkungen auf die nachkommende de genommen eine Ideologie der Macht, der nur Ge- Journalisten- und Intellektuellengeneration im Süd- waltherrschaft und radikale Ansichten in die ganze Welt kaukasus, Türkei, Iran und Mittelasien ragen bis in die 28 www.irs-az.com Nr. 15 HERBST-WINTER 2019 Aufrührerisch gleich zu Beginn. Die erste Ausgabe von Molla Nasreddin am 7. April 1906. Der auf der Titelseite dargestellte Hauptprotagonist versucht seine schlafende Nation zu wecken Moderne hinein. Neben unermüdlichem Engagement für mehr Bildung und Aufklärung in Aserbaidschan nahmen die Autoren der Zeitschrift unter anderem die Rückständigkeit des muslimischen Orients gegenüber dem christlichen Okzident, soziale Ungleichheit, kultu- relle Assimilation, den religiösen Fanatismus wie Funda- mentalismus der iranischen Mullahs und osmanischen Sultane sowie die absolutistische bzw. imperialistische Herrschaft des russischen Zarenreichs kühn aufs Korn. Die einzigartige Besonderheit von Molla Nasreddin (MN) manifestierte sich darin, dass die Verfasser nicht durch komplizierte Texte, sondern mittels humoriger Karikaturen und lustiger Cartoons die Nähe zu ihren Le- sern suchten, denn in der vom religiösen Extremismus verblendeten aserbaidschanischen Gesellschaft Anfang des 20. Jahrhunderts konnte die Mehrheit der Bevölke- rung weder lesen, noch schreiben. Über die lebensbe- drohlichen Gefahren, die mit der Veröffentlichung von MN zum Vorschein kamen, waren Calil Mammadguluz- ade, genannt auch Mirza Calil und sein ambitioniertes Team durchaus im Klaren. Die verbissenen Geistlichen in Persien hatten es nicht allein auf das Publikationsver- bot des Magazins angelegt. Sie sagten, dieses „schmäh- schanischen Publizisten, der als ein weiterer geistiger liche Papier“ gehöre nicht ins Haus eines Moslems. Man Vordenker des Magazins galt. solle es am liebsten „mit der Zange fassen und in der Zweitens genoss Tiflis als kulturelle Hauptstadt des Toilette entsorgen“. Sie trachteten zudem danach, Mirza Zarismus im südlichen Transkaukasien großes Ansehen Calil und seine Mitläufer um jeden Preis aus dem Weg unter liberal-kritischen Intellektuellen, wobei man sich zu schaffen. Mehrere Attentatsversuche schlugen fehl. vor allem nach der Niederlage Russlands im Krieg ge- In seinen späteren Memoiren erinnert sich der Schöp- gen Japan 1905 außer Reichweite der Zensur an gewis- fer: „Hätte ich das Journal nicht in Tiflis, sondern in Baku sen Freiheiten erfreuen konnte. Außerdem war hier der oder Eriwan (Hauptstadt der heutigen Republik Arme- Einfluss von iranischen Klerikern anders als in Baku und nien, wo zum damaligen Zeitpunkt die Aserbaidschaner Eriwan deutlich limitiert. überwiegende Mehrheit bildeten) veröffentlicht, hätten Die Genialität von Mirza Calil bestand in seinem die (Mullahs) meine Redaktion verwüstet und mich weitsichtigen Vermögen, die Gunst der Stunde zu nut- selbst ermordet.“ zen und MN in kürzester Zeit zu einem Gravitationszen- Es gab zwei entscheidende Beweggründe, weshalb trum für „helle Köpfe“ seiner Periode wie namhafter Sa- ausgerechnet Tiflis als Gründungsort von MN auserko- tiriker Mirza Alakbar Sabir, Dramatiker Abdurrahim bay ren war: Erstens hatte in der heutigen aserbaidschani- Haqverdiyev, Literaturwissenschaftler Salman Mumtaz, schen Exklave Nachtschiwan geborene Mammadgu- Dichter Ali Nazmi, Romanschriftsteller Mammad Said luzade ein Großteil seiner Jugend in Georgien verbracht Ordubadi, Komponist Üzeyir Hacibeyli etc. zu katapul- und dort im Lehrergymnasium der Stadt Gori (Geburts- tieren. Abgerundet wurde diese Reihe durch professio- stadt von Joseph Stalin) studiert. Nachdem er ab 1903 nelle deutsche Cartoonisten wie Oskar Schmerling und in Tiflis heimisch wurde, kam es zur engen Freundschaft Joseph Rotter, denen sich später aserbaidschanischer und langjährigen Zusammenarbeit mit Ömar Faig Karikaturist Azim Azimzade(1880-1943) angeschlossen Nemanzade(1872-1940), dem prominenten aserbaid- hatte. Je tiefer man in die politisch-gesellschaftlichen www.irs-az.com 29 Literatur 30 www.irs-az.com Nr. 15 HERBST-WINTER 2019 Gestern wie heute. Zwangsverheiratung in der muslimischen Gesellschaft Verwirrungen des südlichen Kaukasus zwischen 1905- langjährigen Kampf von Mirza Calil und co. für die 1917 eintaucht, desto bewunderungswerter erscheint Emanzipation aserbaidschanischer Gesellschaft aus die Tatsache, unter welchen großen Entbehrungen die den Finsternissen des Mittelalters, ihre westorientierte Publikation des Blatts überhaupt stattfand, und Transformation, Gleichberechtigung und allgemeine wie die Autoren dabei erhebliche Risiken billigend in Schulpflicht für Frauen ließen die treuen Verfolger von Kauf nahmen. Nach über 300 gelungenen Ausgaben MN 1919 Wirklichkeit werden, indem den Frauen etwa in Tiflis im besagten Zeitabschnitt zog die Redaktion zur gleichen Zeit wie in den USA oder Deutschland das mit dem Zerfall des Zarenreichs und der Etablierung Wahlrecht gewährt wurde. der Demokratischen Republik Aserbaidschan(DRA), Als Aserbaidschan 1920 sowjetisiert wurde, war der ersten demokratisch legitimierten Staatsformation der radikale islamische Klerikalismus in den Köpfen der islamischen Welt, 1918 nach Baku. Eine genauere weitestehend zurückgedrängt worden, zumal die neu- Analyse offenbart in diesem Zusammenhang das un- en Machthaber die Religion als ein konkurrierendes schätzbare literarische Vermächtnis dieser einzigarti- Denksystem zum Kommunismus betrachteten. In der gen Aufklärergeneration, die um MN herum zusam- Entstehungsphase der Sowjetherrschaft setzte das Sa- mengeschlossen war. Es ging darum, dass sich unter tirejournal zwischen 1922-1931 mit aserbaidschanisch einer breiten Leserschaft des Magazins auch die Grün- und gelegentlich russischsprachigen Beiträgen seine dungsväter der DRA wie Mammad Amin Rasulzadeh, intensiven Modernisierungsbestrebungen in Baku Fatali Khan Xoyski, Nasif bay Yusifbayli etc. fanden. Den weiter fort. Sie setzte sich außerdem mit erzwungener Titelseitewww.irs-az.com der satirischen Zeitschrift „Molla Nasreddin“ 31 Literatur Ganz im Sinne der kolonialen Bildungspolitik. Auf den Bildern: Einem Regierungsbeamten sind ungebildete, fanatische Schüler aus religiösen Einrichtungen viel lieber als rebellische Kader aus modernen säkularen Schulen. Reformpolitik der Bolschewiki kritisch auseinander. Auf autoritärer Tendenzen unter Joseph Stalin wurde das diese Epoche fallen mehr als 400 erschienenen Ausga- Umfeld für kritische Stimmen in der Sowjetunion ge- ben. Mit zunehmender Verschärfung innerstaatlicher gen Ende der 1920er immer prekärer. Aus dem Zentralkomitee wurden die Aufforderun- gen lauter, Mirza Calil solle die ideologischen wie the- matischen Richtlinien von MN auf die des Sozialismus anpassen. Einher ging die Abwärtsentwicklung mit der sukzessiven Verschlechterung des Gesundheitszu- stands des Herausgebers. Mit der letzten Edition von MN im Jahre 1931 schloss Mammadguluzade das letzte Kapitel seiner herausragenden akademischen Karriere. Molla Nasreddin war und bleibt ein geistig-kultu- relles Meisterwerk und ganzer Stolz der aserbaidscha- nischen Renaissance Anfang des 20. Jahrhunderts. Die einst um dieses Satireblatt gescharte Creme a la Creme, die sich wiederum mit anspruchsvollen Ab- handlungen neue Wege für die Artikulation ihrer Vi- sionen aussuchte, leitete eine epochale Phase bei der Herausbildung des nationalstaatlichen Selbstver- ständnisses der Aserbaidschaner ohne konfessionellen 32 www.irs-az.com