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Sächsisch-Böhmische Beziehungen im Wandel der Zeit

3 Bde.

Hg. v. Kristina Kaiserová und Walter Schmitz Buch_Usti_dt_kor_Layout 1 26.11.13 10:24 Seite 3

Sächsisch-Böhmische Beziehungen im Wandel der Zeit – Česko-saské vztahy v proměnách času

Textband

Hg. v. Kristina Kaiserová und Walter Schmitz

Thelem 2013 Buch_Usti_dt_kor_Layout 1 26.11.13 10:24 Seite 4

Die Entstehung dieses Buches wurde – ebenso wie die Drucklegung – durch den Europäischen Fond für regionale Entwicklung gefördert.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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ISBN 978-3-942411-91-2

© w.e.b., Universitätsverlag- und Buchhandel Eckard Richter & Co. OHG Bergstr. 70 | 01069 Tel.: 0351/4721463 | Fax: 0351/4721465 www.thelem.de Thelem ist ein Imprint von w.e.b. Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. © Univerzita J. E. Purkyně v Ústí nad Labem © Krajský úřad Ústeckého kraje

Gutachter: Prof. Dr. Zdeněk Beneš, CSc., Prof. Dr. Steffen Höhne Übersetzung: Jana Hubková, Jan Sommerfeldt Redaktion: Marco Iwanzeck, Jutta Müller Satz/Layout: c-macs publishingservice, Dresden Druck: Tiskárna Horák a.s., Ústí nad Labem Umschlagbild: Karte von Böhmen, Schlesien, Mähren und der Lausitz, Kupferstich, 1745 [Ausschnitt]; Foto: SLUB/Dresdner Digitalisierungszentrum Buch_Usti_dt_kor_Layout 1 26.11.13 10:24 Seite 5

Inhalt

Inhalt

Walter Schmitz/Kristina Kaiserová An der Grenze: Sächsisch-Böhmische Nachbarschaft seit der Frühen Neuzeit...... 7

1. Verbündete und Feinde Josef Matzerath Sachsen während der napoleonischen Zeit ...... 27 Josef Matzerath Sachsen zwischen Preußen und Österreich 1866 ...... 43 Václav Houfek Böhmen und Sachsen verteidigen die Heimat ...... 61

2. Vaterland und Glaube Josef Matzerath Sachsen und der Böhmische Aufstand 1618–1622...... 79 Jana Hubková Lebenserfahrungen des Leitmeritzer Bürgers und Pirnaer Exulanten Václav Nosidlo von Geblic (1592–1649). Ein Selbstzeugnis im Spiegel der Flugblattpublizistik des Dreißigjährigen Krieges...... 95 Kristina Kaiserová Geschichten aus dem ,zweiten Leben‘ der Reformation und Gegen- reformation im 19. Jahrhundert ...... 121

3. Grenzgänge: Verbechen, Abenteuer, Humor Marco Iwanzeck Grenzgänger. ,Räuberhauptmann‘ Karraseck im böhmisch-sächsischen Grenzraum um 1800 ...... 139 Walter Schmitz Karl Mays phantastische Werdejahre: Der Schriftsteller als Kleinkrimineller in der Armutsregion an der sächsisch-böhmischen Grenze ...... 154 Martin Krsek Ritter des Humors – ,Die Schlaraffia‘...... 186

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Inhalt

4. Landschaft: Naturraum ohne Grenze Walter Schmitz Die Entdeckung der Landschaft: Dresdner Maler um 1800 in böhmischer Nachbarschaft ...... 199

5. Konsum und Industrie Marco Iwanzeck ,Ein Böhmisch Marcipan‘. Böhmische Küche in Dresden im Laufe der Zeit...... 237 Marco Iwanzeck Die Sächsisch-Böhmische Dampfschifffahrt auf der Oberelbe...... 247 Josef Matzerath Die Debatte um den Eisenbahnbau in Sachsen ...... 260 Josef Matzerath Anfänge des Konsums in Sachsen...... 272 Jan Němec Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Sachsen und Nordböhmen in den Jahren 1750–1914 ...... 292 Václav Houfek August Bebel und die Anfänge der Arbeiterbewegung in Nordböhmen ...... 317 Martin Krsek Die Marke Odol, oder: Zwei Nationen – eine Zahncreme ...... 330

6. Die Nachbarn im Guten und Schlechten Martin Veselý Der bittere Weg zum Ende des deutsch-tschechischen Zusammenlebens ...... 339 Petr Karlíček Grenze der Freundschaft? Der tschechische Blick auf die gemeinsame Grenze in den Jahren 1945 bis 1989...... 357 Walter Schmitz 1945/1968. Literatur der Zeugenschaft...... 409 Václav Houžvička Die deutsch-tschechische Grenzregion im Kontext der tschechisch-deutschen Beziehungen nach 1989 ...... 441

Abkürzungsverzeichnis ...... 475

Abbildungsnachweis ...... 476

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An der Grenze: Sächsisch-Böhmische Nachbarschaft seit der Frühen Neuzeit

An der Grenze: Sächsisch-Böhmische Nachbarschaft seit der Frühen Neuzeit

Während seiner Reise in die Sächsische Schweiz überschritt der dänische Schriftsteller Hans Christian Andersen auch die Grenze nach Böhmen hin; es war wie in einem verwunschenen Wald: „Ich sehe den großen, offenen Fleck im Walde mit den un - geheuren Fichten, wo man uns sagte, daß wir nun die Grenze überschritten.“1 Wohl nur einem künftigen Autor von Kunstmärchen konnte diese Grenze so wie eine Fik- tion erscheinen, eine bloße Erzählung. Für gewöhnlich sind Grenzen höchst real, und jene zwischen Sachsen und Böhmen verläuft für lange Zeit mitten durch eine Land- schaft des Konflikts, mit Phasen der Gewalt und des Krieges vom 17. bis zum 20. Jahr- hundert, freilich auch unterbrochen von ruhigen, ja produktiven Phasen. Was sie für die Grenzbewohner dann auch bedeuten mochte, hat der Volkskundler Curt Müller- Löbau 1920 in seinem Geleitwort zu dem Band Grenzgeschichten. Erzählungen aus dem sächsisch-böhmischen Grenzgebiete dargelegt:2

Wer an einer Grenze wohnt, wie wir Lausitzer an der sächsisch-böhmischen, der weiß, daß tatsächlich die Grenze zu eigentümlichen Beobachtungen Anlaß gibt, da wir hier zweierlei Staatseinflüsse und Kulturen aneinander stoßen sehen, dann aber auch ein stetes Herüber und Hinüber feststellen müssen.

Die Grenze markiert den Unterschied; sie formt die Menschen, öffnet Möglichkeiten, verführt zu Gefahren, fixiert Konflikte. – Nach den Revolutionen des Jahres 1989 sind die Grenzen in Europa offener geworden. Und das gilt auch für die Grenze, die früher zwischen dem Kurfürstentum Sachsen und dem Habsburgerreich in Nordböhmen, dann zwischen dem Deutschen Reich und der Tschechoslowakischen Republik, jetzt zwischen dem Bundesland Sachsen und der Tschechischen Republik verläuft.

1 Hans Christian Andersen: Reise nach Dresden und in die Sächsische Schweiz [EA 1847]. Hamburg: Christians 1990, S. 46. 2 Curt Müller-Löbau: Zum Geleite. In: Grenzgeschichten. Erzählungen aus dem sächsisch-böhmischen Grenz - gebiete. Hg. v. Franz Rösler. Reichenau: Verlag der Oberlausitzer Heimatzeitung 1920, S. 17. Die Hinweise auf die in diesem Abschnitt zitierten Quellen verdanken wir dem instruktiven Buch von Caitlin A. Murdock: Changing Places. Society, Culture, and Territory in the Saxon-Bohemian Borderlands, 1870–1946. Michigan: University of Michigan Press 2010.

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Es ist eine alte Grenze, die im Laufe der Jahrhunderte allmählich an Stabilität ge wann.3 Böhmen war bis 1918 ein eigenständiges Königreich; der deutsche Kaiser und zugleich König von Böhmen Karl IV. (1316–1378), aus luxemburgischem Herrschaftsgeschlecht, residierte in Prag, und auch die Habsburger, die seit 1526 die Böhmischen Lande als böhmische Könige und deutsche Kaiser regierten, behielten Prag als Sitz des Kaiser- hofes bei – bis Rudolf II. (1552–1612), dessen Vision eines auf Kunst, Wissenschaft und vor allem konfessionellem Frieden basierten Reich dann im Dreißigjährigen Krieg zer- brechen sollte. Sein Nachfolger Matthias II. verlegte den Hof dann nach Wien. Der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation war seit dem Jahr 1526 in ununterbrochener Folge bis 1806 auch zugleich König von Böhmen. Sachsen wiederum hatte sich, dank seines Reichtums an Bodenschätzen, früh zum mächtigen Territorialstaat – und seit der Reformation auch zur protestantischen Vor- macht – innerhalb des Deutschen Reiches entwickelt. Zwar waren die sächsischen Kurfürsten generell prokaiserlich gestimmt, allerdings konnten auch Konflikte mit dem Kaiser in Wien auftreten.4 So verschob sich auch die politische Grenze zwischen diesen beiden Herrschaftsbereichen je nach der Gunst des Kriegsglücks und politi- schem Geschick. Sachsen gewann Land hinzu – so zum Beispiel 1635 die Nieder- und Oberlausitz – oder musste an den mächtigen Nachbarn Territorien abgegeben.5 Obschon die jeweils Herrschenden dies, solange es ihnen nur möglich ist, aus der Wahr- nehmung ausblenden: Die politischen Grenzen sind wandelbar, und zudem erweist sich das, was im Alltag schlichtweg als ‚Grenze‘ bezeichnet wird, bei genauer Betrach- tung gar als ein Bündel von Grenzlinien, die zuweilen auseinander treten und eigen- ständige Räume konstituieren können, die sich dem Primat der Politik nicht ohne wei- teres fügen.6 Die ‚Funktionssysteme‘ neuzeitlicher Gesellschaften bilden ihrerseits

3 Vgl. Robert Luft: „Alte Grenzen“ und Kulturgeographie. Zur historischen Konstanz der Grenzen Böhmens und der Böhmischen Länder. In: Grenzen in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert/aktuelle Forschungspro- bleme. Hg. v. Hans Lemberg. Marburg/Lahn: Verlag des Herder-Instituts 2000, S. 95–136, hier S. 95. 4 Kurfürst Johann Georg I. bewertete die einsetzende Gegenreformation in Böhmen durch den Kaiser als Ver- tragsbruch. Darauf verbündete sich Johann Georg mit dem schwedischen König Gustav Adolf und stellte sich gegen Kaiser Ferdinand II. Vgl. Katrin Keller: Landesgeschichte Sachsen. Stuttgart: Ulmer 2002, S. 141; Reiner Groß: Geschichte Sachsens. : Edition Leipzig 2001, S. 96f. 5 Vgl. Alexander Schunka: Die Oberlausitz zwischen Prager Frieden und Wiener Kongress (1635 bis 1815). In: Geschichte der Oberlausitz. Herrschaft, Gesellschaft und Kultur vom Mittelalter bis zum Ende des 20. Jahr - hunderts. Hg. v. Joachim Bahlcke. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2001, S. 143–179, hier S. 143f. 6 Vgl. Arjun Appadurai: Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy. In: Theory, Culture & Society 7 (1990), Nr. 2, S. 295–310. Appadurai unterscheidet verschiedene „-scapes“, ausgehend von der ‚land- cape‘, der Landschaft; also neben dem politischen Raum auch den Wirtschaftsraum, den Kulturraum, den Medienraum; Zur sächsisch-böhmischen Grenzzone vgl. Martina Krocová: Kontinuität und Wandel. Die Wahr- nehmung der sächsisch-böhmischen Grenze, 1780–1850. In: Grenzregionen. Ein europäischer Vergleich vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Hg. v. Christoph Duhamelle/Andreas Kossert/Bernhard Struck. Frankfurt a. Main/ New York: Campus 2007, S. 181–202, hier S. 184.

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Grenzen aus, Grenzen für Wirtschafts-, für Medien-, für kulturelle Räume. Diese wer- den im Alltag, da sie ‚normal‘ scheinen, nicht eigens hervorgehoben; wenn es aber zu einer Krise kommt – etwa im Miteinander der Religionen –, wenn gar Grenzüber- schreitungen geahndet werden – etwa beim Abhören verbotener Radiosender –, dann wird die Vielfalt der Begrenzungen über- deutlich. Freilich jede Grenze bietet auch die Chance zur Grenz überschreitung. Auch als der Katholik Ferdinand I. von Habsburg 1526 zum böhmischen König gewählt wurde, blieb das nordwestböh- mische Grenzgebiet nicht nur aus wirt- schaftlicher, sondern auch aus sozialer und kultureller Sicht eine eng mit Sach- sen verknüpfte Region. Ein wichtiges Bindeglied war der sächsische Adel, der sich auf der böhmischen Seite der Grenze niederließ. Zu diesem Adel gehörten beispielsweise die Adelsgeschlechter der Salhausen oder die Herren von Bünau. Als dauerhafte Zeichen dieser grenz über - schreitenden Gemeinsamkeit gehen auf diese sächsischen Adeligen in der nord - böhmische Region die Bauten der so ge - Kirche des hl. Florian in Krásné Březno/Schön- nannten ‚Sächsische Renaissance‘ zurück, priesen – Sicht in das Schiff von der Westempora wie etwa die Florianskirche von 1603.7 Doch von langwährendem bestimmendem Einfluss auf die künftige Entwicklung der Grenzegion wurde die Verbreitung der Reformation nach dem Jahr 1517, beson- ders unter der deutschsprachigen Bevölkerung. Der Augsburger Religionsfrieden, der im Jahr 1555 den Grundsatz festigte, dass der Landesherr die Religion seiner Untertanen bestimmt, legte die sächsisch-böhmische Grenze noch nicht als Glaubens- grenze fest. Erst das Haus Habsburg, zu dessen Verbündeten das Königreich Böhmen zählte, setzte in seinem Territorium energisch die Gegenreformation durch – ‚temno‘8 die ‚dunkle Zeit‘ nennt die tschechische national-kommunistische Publi-

7 Zum Begriff vgl. Eva Šamánková: Architektura české renesance. Prag: Státní Nakladatelství Krásne Literatury a Umění 1961, S. 15, 20, 23. Grundinformationen dazu auch bei Ivan P. Muchka: Idea renesance a její rozšíření v českých zemích. In: Kol. autorů.Velké dějiny zemí Koruny české. Prag: Paseka 2009, S. 318. 8 Nach dem Roman von Alois Jirásek: Temno, Praha 1915. In der Historiographie wurde dieser Begriff nur in den 50er Jahren des 20. Jahrhundert benutzt, vgl. Arnošt Klíma: Čechy v období Temna. Prag: Naše Vojsko 1959.

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zistik diese Ära, die bis ins 19. Jahrhundert währen sollte.9 Nachdem der Aufstand der böhmischen Stände mit der Schlacht auf dem Weißen Berge 1620 niedergeschla- gen und der von ihnen ins Land gerufene und gewählte ‚Winterkönig‘ Friedrich von der Pfalz nach einer kurzen Regierungszeit von nur einem Winter ins niederländische Exil geflohen war, geriet, wer von den Untertanen nicht katholisch war, unter Druck. Sie waren im Land ebensowenig noch erwünscht wie die Bilder des Reformators Luther noch geduldet werden konnten; Bilder ließen sich übertünchen – so wie es mit einem Fresko, das den Reformator Martin Luther zeigte, denn auch geschah;

Fresko von Martin Luther in der Friedhofskirche hl. Anna, 2. Hälfte des 16. Jahrhundert

die Menschen drängte man, sofern sie nicht an Leib und Leben verfolgt wurden, zu Auswanderung oder gar Flucht ins Exil; dies blieben oft genug die einzigen Mög- lichkeiten. Als Zufluchtsort bot sich das glaubensverwandte Sachsen an.10

9 Vgl. Petr Vorel: Velké dějiny zemí Koruny české VII. (1526–1618). Prag: Paseka 2005. – Kristina Kaiserová: „Černý kout – Schwarzer Winkel“. Sakrální genius loci Šluknovského výběžku. In: Miloš Havelka a kol.: Víra, kultura a společnost. Náboženské kultury v českých zemích 19. a 20. století. Prag: P. Mervart 2012, S. 147–164; zum Temno, der finsteren Epoche nach der Schlacht am Weißen Berg, vgl. Joachim Bahlcke: Land und Dynastie: Böhmen, Habsburg und das Temno. In: Deutsche und Tschechen. Geschichte – Kultur – Politik. Hg. v. Walter Koschmal/Marek Nekula/Joachim Rogall. München: Beck 2001, S. 57–65. 10 Vgl.Alexander Schunka:Gäste,die bleiben.Zuwanderer in Kursachsen und der Oberlausitz im17.und frühen18.Jahr - hundert. Hamburg: Lit Verlag 2006. Vgl. auch Wulf Wäntig: Alltag, Religion und Raumwahrnehmung – der böh- misch-sächsische Grenzraum in den Migrationen des 17. Jahrhunderts. In: Grenzraum und Transfer. Perspektiven der Geschichtswissenschaft in Sachsen und Tschechien. Hg. v. Miloš Řezník. : Duncker & Humblot 2007, S. 69–81.

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Exilierte sind allerdings nicht immer willkommen; uns ist mit dem Porträt des ehe- maligen kaiserlichen Soldaten und Steuereinnehmers Daniel Hubatka, das er einer um 1654 verfassten Bittschrift an den sächsischen Kurfürsten – wohl Johann Georg I. (1611–1656) – beilegte, ein besonders eindrucksvolles Zeugnis überliefert, „wie stabil die Kommunikationsstrukturen der böhmischen Exulanten waren und wie stark sie ins Ausland zurückwirkten.“11 Der Katholik Hubatka bat den Kurfürsten um Für- sprache beim Kaiser in Wien, da er – Hubatka – dort zu Unrecht der Steuerhinter- ziehung bezichtigt war; aber das Bildnis, das er dieser Bittschrift beilegte, übermittelt eine ganz andere Botschaft: Es zeigt Hubatka mit nacktem, von Wunden gezeichne- tem Oberkörper, und die Rückseite des Gemäldes zeigt den ebenso malträtierten Rücken des Bittenden – eine Ikonographie, die an den geschundenen Christus auf

Brustbild des böhmischen Steuereinnehmers Daniel Hubatka, Handzeichnung

seinem Leidensweg zur Kreuzigung erinnert – und erinnern soll: Der Appell an den Kurfürsten, dem Leidenden zu helfen, zeigt den Verklagten als Nachfolger Christi in einem offenbar ungerechten Prozess. So wird dem sächsischen Kurfürst, den seine böhmischen Glaubensverwandten schon mit Tausenden von Bittschriften be- stürmt hatten, hier die Rolle des Beschützers aller verfolgten Christen zugewiesen.

11 Alexander Schunka: Brustbild des böhmischen Steuereinnehmers Daniel Hubatka. In: Zuwanderungsland Deutschland. Migrationen 1500–2005. Hg. v. Rosmarie Beier-de Haan. Berlin: Deutsches Historisches Museum 2005, S. 156.

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Indem sich Hubatka „als Nichtlutheraner an den lutherischen Kurfürsten wandte, über- schritt er die Konfessionsgrenzen des 17. Jahrhunderts.“12 Wieweit es sich hier um das echte Pathos des Schmerzes handelt, und wieweit kluges Kalkül im Spiel ist – das lässt sich kaum entscheiden. Ob die Bitte Hubatkas erfolgreich war, ist nicht überliefert. Jedenfalls: Das Kurfürstentum nahm zwar Glaubensflüchtlinge auf, stellte aber auch Ansprüche an diese. Die böhmischen ‚Exulanten‘ mussten sich nun in Sachsen ein- fügen, und dazu gehörte neuerlich die Forderung nach einer Änderung des Glaubens, denn der Protestantismus hatte sich ausdifferenziert: Aus Böhmen flohen Anhänger verschiedener Richtungen, von den Reformierten (Neuutraquisten) bis zu der Brüder- Unität, die den Lehren Calvins anhing.13 Sachsen hingegen war streng orthodox- lutherisch, mit Ausnahme des Herrscherhauses, das – auch wenn dieser Schritt für die sächsisch-böhmische Nachbarschaft kaum eine Rolle gespielt hat – späterhin zum Katho lizismus konvertieren sollte. Auf diese Art wird sich Kurfürst August I. der Starke (1670– 1733) als König August II. die polnische Krone sichern können.14 In jedem Fall ist die sächsisch-böhmische Geschichte eine Beziehungsgeschichte, die über die beiden Partner hinausreicht. Um das benachbarte Schlesien führt Preußen im 18. Jahrhundert Krieg gegen Österreich. Freilich hätte sich auch Sachsen diese Landbrücke zum polnischen Herrschaftsgebiet aneignen wollen.15 Die aus diesem Konflikt hervorgehende Niederlage der Habsburger und der Sachsen verändert das gesamte Machtgefüge in der Mitte Europas. Die kriegerischen Auseinandersetzungen, in denen jetzt Preußen eine immer gewichtigere Rolle spielte, ziehen sich von den Napoleonischen ‚Weltkriegen‘, die sich seit dem Jahr 1792 anbahnen,16 bis zur Reichs- einigung 1871. Die sächsisch-böhmische Grenze ist demnach auch eine Kriegsgrenze; die großen Schlachtfelder liegen nahebei. Der Schriftsteller Theodor Fontane – übrigens ein Nachfahr von Hugenotten, also ebenfalls Glaubensflüchlingen – schrieb im Jahr 1870 über die Konfliktlandschaft mitten in Europa – und ihre grenzüber- schreitende Schönheit, die so viel Schrecken vergessen macht: 17

12 Ebd. 13 Vgl. Schunka, Gäste, die bleiben (wie Anm. 10), S. 9. 14 Vgl. dazu Ulrich Rosseaux: 1697 – Politik und Konfession. Die Wahl Augusts des Starken zum polnischen König. In: Zäsuren sächsischer Geschichte. Hg. v. Reinhardt Eigenwill. Beucha, Markleeberg: Sax-Verlag 2010, S. 118–135. 15 Zum Konflikt zwischen Preußen und Sachsen vgl. Winfried Müller: „Sachsen wäre jedoch am nützlichsten.“ Das Kalkül Friedrich II. und seiner Nachfolger. Sachsen und Preußen. In: Dresdner Hefte 30 (2012), H. 111: Sachsen und Preußen. Geschichte eines Dualismus, S. 4–16. 16 Diese Kriege hatten auch eine wesentlichen Einfluss auf die Formierung der modernen Nationen in Mitteleuropa, vgl. dazu: Napoleonské války a historická paměť. Hg. v. Lukáš Fasora/Jiří Hanuš/Jiří Malíř. Brno: Matice moravská 2005. 17 Theodor Fontane: Der deutsche Krieg von 1866. Der Feldzug in Böhmen und Mähren. Berlin: Verlag der königlichen Geheimen Oberhofbuchdruckerei 1870, S. 91 [unsere Hervorhebung].

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Böhmen – der alte Schlachtengrund zwischen Preußen und Österreich – ist der bastionsartig nach Norden vorspringende Theil des Kaiserstaats. Nach allen Seiten hin durch Gebirge abgeschlossen, zeigt es auch in seinem Innern ein stark-hüge- liges und wellenförmiges Terrain. Namentlich sind es die gegen Norden und Nord- westen hin die Grenze bildenden Gebirgszüge, welche ihre Vorberge zum großen Theil weit in das Land hinein erstrecken. Tief eingeschnittene Flußthäler wechseln hier mit steil aufsteigenden, bewaldeten Bergkegeln. Die Landschaften sind fast überall gleich anziehend.

Religion und Krieg verschränken sich in der Frühen Neuzeit oft genug; doch auch späterhin bleibt vor allem Sachsens Grenzlage prekär – zwischen den Polen deutscher Nationenbildung, Preußen und Österreich. – Doch die Grenze schottet nicht nur ab, kann aber für diejenigen, die sie überschreiten, auch Rettung und neue Perspektiven bedeuten. Dies bewährt sich in ganz anderem Maße im Felde der Wirtschaft. Nicht nur die politische Abgrenzung wird geregelt, auch die Ordnung der Wirtschaftsgebiete wird zunächst einmal verteidigt. Zölle sorgen dafür, dass die heimische Wirtschaft vor Konkurrenz geschützt wird, dass der Staat die Kontrolle über die Verteilung der Waren behält. Grenzüberschreitung andererseits sichert dem Handel seinen Profit. Wer aber die Zollgrenze illegal überschreitet, darf sich Gewinn erhoffen. Wagemutige Schmuggler, Verbrecher, die sich der Strafverfolgung entziehen – ihrer aller Ort ist eben das Grenzland. Grenze ist nicht immer, aber doch oft auch ein Raum des Abenteuers. Je strenger Ver- bote etabliert werden, desto größer ist die Versuchung, sie zu umgehen, desto mehr wächst die Neugier auf die ‚andere Welt‘ jenseits der Grenze – und die Gier auf das Vorenthaltene. Die Grenze ist ein Raum des Ungesicherten, befindet sich für gewöhn- lich an der Peripherie des Staatsgebietes, weit weg vom kontrollierenden Zentrum.18 Über die sächsisch-böhmische Grenze wacht im Norden an der Elbe die Festung Königstein; doch der Radius ihrer Macht beschränkt sich auf die unmittelbare Fluss- region; südlich scheint das Erzgebirge eine ‚natürliche Grenze‘ zu bilden, doch so un- wegsam es auch sein mag – es ließen sich unbeobachtete Wege finden. – Zwischen den beiden Staaten bewegt man sich im Niemandsland. Doch auch die Grenzregion ist von weniger stabilen Verhältnissen gekennzeichnet als das Kernland. Es gibt den geduldeten und auch den geförderten kleinen Grenz verkehr für den täglichen Aus- tausch von Waren, für den Wechsel von Arbeits kräften, für Besuche von Befreundeten

18 Vgl. Krocová, Kontinuität und Wandel (wie Anm. 3), S. 182; vgl. auch Karl Schlögel: Grenzen und Grenz - erfahrungen im alten und neuen Europa. In: Grenze und Grenzüberschreitungen im Mittelalter. Hg. v. Ulrich Knefelkamp/Kristian Bosselmann-Cyran. Berlin: Akademie Verlag 2007, S. 3–18, hier S. 13.

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und Verwandten. Aber ein Grenzübertritt kann auch Vorteile verschaffen. Was auf der einen Seite begehrt wird, ist auf der anderen vorhanden. So wird gerade auch der wirtschaftliche Austausch von Grenzen reguliert und wohl auch behindert, aber reguläre Grenzüberschreitung, Handel und Verkehr bringen immer neu die Nachbarn in den Grenzgebieten zueinander. Mit dem Beginn des industriellen Zeitalters um die Mitte des 19. Jahrhunderts findet der Austausch auf allen Ebenen statt: Sächsische Unternehmen werden in Böhmen tätig. Kleinunternehmer nutzen die Chance zur Ansiedlung im benachbarten Wirtschaftsraum, der sich ihnen damit erschließt.19 Jemand konnte Österreicher, Böhme, Tscheche, Grenzlandbewohner und zugleich ein internationaler Fabrikant – Kleinunternehmer, vielleicht sogar Großindustrieller – sein, und jede dieser (Teil-)Identitäten verband ihn mit einem anderen geographi- schen und sozialen Raum.20 In den 1890er Jahren war das Gebiet auf beiden Seiten der Grenze zudem von Arbeitssuchenden, Wanderarbeitern, auch Bettlern und Land- streichern – einer ‚bunten Menge‘, wie es in zeitgenössischen Quellen heißt – bevöl- kert: „A region was on the move. Trade, geography, and shared resources connected the Saxon-Bohemian borderland throughout their long rise as manufacturing and industrial areas“, schreibt Caitlin E. Murdock in ihrer Studie Changing Places zu dieser Region.21 Facharbeiter werden gesucht, angeworben und auch abgeworben. Die Bewegung geht in beide Richtungen; Geld- und Warenströme gehen über die Grenze; die Menschen nutzen die wirtschaftlichen Chancen, die Mobilität nimmt zu – aber gewiss sind viele auch von Not getrieben. Im Jahr 1909 beschreibt Wenzel Holek, ein böhmischer Wanderarbeit, seine Ankunft an einem international geprägten Arbeits- platz, einer Glasfabrik in Dresden: „Müde, naß und durstig stieg ich vom Rade herunter, forschte und horchte: polnisch, russisch, tschechisch und deutsch klang es durcheinander.“22 Später wird sich der tschechische Arbeiter Holek in Dresden in der Internationalen Sozialistischen Arbeiterbewegung engagieren. Holek, der nicht zu den Wohlhabenden gehört, kommt mit dem Fahrrad nach Dres- den. Für die aufstrebende Industrie sind selbstverständlich ganz andere Dimensionen des Verkehrs notwendig: Verkehrswege werden erschlossen und verbessert, bis die Mechanisierung mit Eisenbahn und Dampfschiff im 19. Jahrhundert Einzug hält.

19 Vgl. Petr Lozoviuk: Grenzland als Zwischenwelt. Zur Ethnographie der sächsisch-böhmischen Grenze. In: Grenz- raum und Transfer. Perspektiven der Geschichtswissenschaft in Sachsen und Tschechien. Hg. v. Miloš Řezník. Berlin: Duncker & Humblot 2007, S. 119–137, hier S. 127. 20 Vgl. Murdock, Changing Places (wie Anm. 2), S. 19. 21 Ebd., S. 33. 22 Wenzel Holek: Lebensgang eines deutsch-tschechischen Handarbeiters – 2. Vom Handwerker zum Jugenderzieher. Jena: Diederichs 1921, S. 1f. Vgl. bei Murdock, Changing Places (wie Anm. 2), S. 47–50 den Abschnitt zu den ‚ausländischen Arbeitern‘.

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Handel überwindet aber nicht nur die Grenzen, sondern bedarf in gewisser Weise auch der Distanz: Wir wollen das, was es anderswo gibt. Der Handel schafft es herbei. Das Andere kann schlichtweg lebensnotwenig sein, wenn es um Waren des alltäg - lichen Bedarfs geht; es kann besser sein als das heimische Produkt, und es kann auch – über den bloßen Nutzen hinaus – einen Reiz des Fremden mit sich tragen. Das gilt vor allem für den Konsum, der ja ein ‚Image‘ für seine Güter benötig. Auch die ‚böh- mische Küche‘ wird zu einem solchen Markenzeichen, und man möchte sie selbst- verständlich auch in Sachsen genießen.23 Die Grenze definiert Fremdheit allerdings nicht nur, wenn es um Neugierde und Genuss geht. Stets sind vielmehr Nähe und Distanz miteinander verknüpft, und die nächsten Nachbarn können uns sogar besonders fern stehen, werden durch die Grenze zunächst als Fremde gekennzeichnet. Im sächsisch-böhmischen Grenzgebiet markierte für lange Zeit der Konfessionsunterschied eine entscheidende Differenz, die sich im 19. Jahrhundert lockert: Mit den sächsischen Unternehmern kehrt in die Grenzgebiete auch der Protestantismus zurück, der in begrenztem Umfang mit dem Toleranzpatent von Kaiser Josef II. aus dem Jahre 1791 erlaubt wurde;24 Spannungen erwachsen wie stets aus der jetzt wieder möglichen unmittelbaren Begegnung. Grenzüberschreitend ist der zum erstenmal formierte Gegensatz von ‚Kapital‘ und ‚Arbeit‘; in der Arbeiter - bewegung finden Deutsche und Tschechen zueinander. Die parallel dazu aufkom- mende nationale Bewegung hingegen verschärft die Trennung an der Grenze. Jetzt wird besonders die Differenz der Sprachen zu einem wichtigen Kriterium der Distanz. Sicherlich hört man für lange Zeit diesseits und jenseits der Grenze das Deutsche, schließlich ist Deutsch die Amtssprache im Habsburger Reich. Doch mit dem An- spruch der Tschechen, eine eigene Nation zu bilden, wie er sich im Laufe des 19. Jahr- hunderts formiert, verschärft sich auch der Streit um die volle Gleichstellung der tschechischen Sprach als Amtssprache. Erst mit dem Ende der Monarchie wird das Tschechische auch als Sprache gleichberechtigt, wenngleich es vorher schon längst im Böhmischen Bestand hatte.25 Die wenigen, die anders sprechen, sind für gewöhn-

23 Caitlin E. Murdock: Böhmisches Bier und Sächsisches Textil. Die sächsisch-böhmische Grenze als Konsumregion, 1900–1933. In: Konsum und Region im 20. Jahrhundert. Hg. v. Hannes Siegrist. Leipzig: Leipziger Universitäts- verlag 2001, S. 66–76. 24 Vgl. Jan Němec: Karl Huffzky a jeho podnikání s děčínskými Thun-Hohensteiny. In: Děčínské vlastivědné zprávy, XIII, 2004, Nr. 4. 25 Zu den deutsch-tschechischen Sprachkonflikten innerhalb Böhmens vgl. Monika Baár: „Grenzen“ in nationalen Historiographien. Drei Fallstudien über das 19. Jahrhundert: Polen, Böhmen und Rumänien. In: Grenzregionen. Ein europäischer Vergleich vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Hg. v. Christoph Duhamelle/Andreas Kossert/ Bernhard Struck. Frankfurt a. Main/New York: Campus 2007, S. 77–96, hier S. 83f. vgl. außerdem Murdock, Changing Places (wie Anm. 2), S. 62; Jiří Kořalka: Tschechen im Habsburgerreich und in Europa 1815–1914: sozialgeschichtliche Zusammenhänge der neuzeitlichen Nationsbildung und der Nationalitätenfrage in den böhmischen Ländern. Wien: Verl. f. Geschichte und Politik 1991.

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lich auch die Fremden, die ‚Anderen‘. Man machte sich Bilder von ihnen, die oft genug von Argwohn und Vorurteilen geprägt waren. So ist auch die sächsisch-böh- mische Grenze immer auch eine Vorurteilsgrenze gewesen, so wie ja auch die Ge- meinschaft zwischen den Tschechen und den Deutschen im größeren Rahmen von dem bedeutenden tschechischen Historiker Jan Křen mit Recht als eine Konflikt - gemeinschaft gekennzeichnet wurde.26 Man sieht sich gegenseitig mit Argwohn. Die Seiten von Český vystěhovalec/Tsche- chischer Aussiedler, einer Publikation, die seit 1904 in Prag mit dem Ziel, die Verbin- dung der Tschechen im Ausland mit ihrer Heimat zu sichern, erschien, sind voller Misstrauen gegen Assimilation und Angleichung in der Fremde; die nationale Iden- tität sollte gewahrt bleiben.27 Auf der anderen Seite ruft – als einer in einem sehr viel breiteren Spektrum – der Nationalökonom Lujo Brentano zum Schutz der nationalen Arbeit auf, die – so wie schon durch die Polen im Ruhrgebiet – jetzt auch durch die tschechischen ‚Gastarbeiter‘ in Sachsen gefährdet sei: Oder wolle man denn – so die rhetorische Frage Brentanos, der übrigens zu den ‚Liberalen‘ zu zählen ist, – Crimmitschau so in eine tschechische Enklave verwandeln wie bereits Dortmund in eine polnische?28 Und doch gelang es bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, derartige Konflikte, wenn sie sich aufbauten, auch immer wieder zu entschärfen und durch wechselseitige Kenntnis, durch wechselseitigen Vorteil, durch wechselseitige Anerkennung zu redu- zieren. Gerade im 19. Jahrhundert, nachdem die Napoleonischen Kriege noch einmal gezeigt hatten, wie beliebig und dem Umsturz preisgegeben die räumliche Ordnung Mitteleuropas doch war, tritt die Suche nach solchen Räumen ein, die den Brüchen, der Unsicherheit und dem Chaos der Geschichte entrückt sind. Es werden Räume und Identitäten von langer Dauer gesucht, und Kunst und Kultur gehen hier voran.29 – Will man Sachsen und Böhmen als Kulturräume miteinander vergleichen und auch gegenüberstellen, so muss man gewiss zuerst den Blick auf ihre Hauptstädte, auf Dres- den und auf Prag, richten. Wissenschaft und Kunst suchen die Nähe von Macht und Geld, wie sie sich in diesen großen Städten ballen. So lange der Hof in Prag existiert,

26 Vgl. dazu Jan Křen: Die Konfliktgemeinschaft: Tschechen und Deutsche 1780–1918. Aus dem Tschech. v. Peter Heumos. München: Oldenbourg 1996; vgl. Prozesse kultureller Integration und Desintegration. Deutsche, Tschechen, Böhmen im 19. Jahrhundert. Hg. v. Steffen Höhne/Andreas Ohme. München: Oldenbourg 2005. 27 Vgl. Murdock, Changing Places (wie Anm. 2), S. 51. 28 So in Lujo Brentano: Gelerten Gutachten über Crimmitschau. In: Der Textilarbeiter [Reichenberg] , 7.1.1904; zit. n. ebd., S. 43; vgl. James J. Sheehan: The Career of Lujo Brentano. A Study of Liberalism and Social Reform in Imperial . Chicago: University of Chicago Press 1966, S. 155–165. 29 Vgl. Winfried Eberhard/Christian Lübke: Die Vielfalt Europas: Identitäten und Räume. Einführung. In: Die Vielfalt Europas: Identitäten und Räume; Beiträge einer internationalen Konferenz, Leipzig, 6. bis 9. Juni 2007. Hg. v. Winfried Eberhard/Christian Lübke. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2009, S. 1–6, hier S. 1.

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ist er weit ausstrahlendes Zentrum für Kunst und Kultur, aber auch die frühe Natur- wissenschaft, die Ent deckungen des Astronomen Keppler etwa, sind ohne den Kaiser in Prag, den Mäzen Rudolf II. (1552–1612) – mit seiner Vorliebe für die geheimen ‚Künste‘, welche die Rätsel der Welt entschlüsseln und Gottes Botschaft in der Natur offen legen – nicht denkbar.30 Ähnlich glanzvoll und berühmt ist auch der Dresdner Hof, der insbesondere im Verlauf des 18. Jahrhunderts Dichter, bildende Künstler und Musiker anlockte und durch die überwältigende Menge an kostbar kunstvollen Gegenständen – Instrumenten der Naturforschung etwa – und Kunstwerken, gesam- melt unter August dem Starken und dessen Sohn Friedrich August II., zu einem bewunderten Zentrum der Kultur avancierte. Unmittelbar an der Grenze finden sich immerhin Städte, die zwar mit Prag und Dresden nicht vergleichbar, gleichwohl aber Zentren der Kultur und Künste sind – zum Beispiel Teplitz-Schönau (Teplice). Die böhmische Bäderlandschaft zog ein reiches und gebildetes Publikum an, das ein ent- sprechendes Fluidum forderte31 – und Goethes Marienbader Elegie erinnert an den Weimarer Staatsminister als regelmäßigen Gast, dessen Dichtungen uns freilich all die anderen damaligen prominenten Gäste, Adlige, Fürsten gar, in unserer kulturellen Erinnerung nachgerade vergessen läßt. Um 1800 aber wandte man in der Suche nach kultureller Orientierung den Blick weg von den Institutionen und allen Einrichtungen, die die Menschen gemacht haben. Man sucht nun nach einem Rückhalt, den die Menschen nicht verändern können, und findet ihn in der Natur. Nicht in der Natur, die von den Naturwissen - schaften inzwischen – wie es einer ihrer Begründer, Francis Bacon, geraten hatte – auf die Folter bank gespannt und zum Sprechen gebracht wird, nicht von der Natur, die für Technik und Industrie ausgenutzt und auch vernutzt wird – bis hin zum Raubbau und zur Umweltschädigung, gerade im nordböhmisch-sächsischen Raum, bis zum Ende des 20. Jahrhunderts – etwa mit dem Waldsterben im Erzgebirge,

30 Vgl. dazu Eliška Fučíková/Otto Werdau: Die Kunst am Hofe Rudolfs II. Hanau: Dausien 1988; Eliška Fučikova: Rudolf II. und Prag. Kaiserlicher Hof und Residenzstadt als kulturelles und geistiges Zentrum Mitteleuropas. Prag/London: Thames & Hudson 1997; vgl. Walter Schmitz: Jakob Böhme – Gotterkenntnis und Naturspeku- lation in der mitteleuropäischen Konfessionslandschaft. In: Die Oberlausitz im frühneuzeitlichen Mitteleuropa. Beziehungen – Strukturen – Prozesse. Hg. v. Joachim Bahlcke. Leipzig: Sächsische Akademie der Wissenschaften 2007, S. 348–362; Zur Bedeutung Prags als Kulturzentrum der Moderne vgl. auch Walter Schmitz/Ludger Udolph (Hg.): „Tripolis Praga“. Die Prager ‚Moderne‘ um 1900. Katalogbuch. Dresden: Thelem 2001. 31 Vgl. Jitka Budinská/Petra Zerjatke: Kapitoly z dějin lázeňství / Kapitel aus der Geschichte des Bäderwesens. Monografická studie Regionálního muzea v Teplicích, svazek 39. Teplice: Regionální muzeum v Teplicích, 2006. Allgemein dazu vgl. Reinhold P. Kuhnert: Urbanität auf dem Lande. Badereisen nach Pyrmont im 18. Jahrhun- dert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1984; zu Goethes Bäderreisen und Aufenthalten in Böhmen vgl. Walter Schmitz/Annette Teufel/Ludger Udolph/Klaus Walther: Böhmen am Meer. Literatur im Herzen Europas. Chemnitz: Chemnitzer Verlag 1997, S. 61. 32 Vgl. Např.: Ročenky životního prostředí Ústeckého kraje – Ústecký kraj In: www.kr-ustecky.cz/VismoOnline_ ActionScripts/File.ashx?id_org, Zugriff am 10. 08. 2013.

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mit der langwährenden erst allmählich wieder reduzierten Verschmutzung der Elbe32 –, sondern es geht um die Natur, die uns umgibt, die schon da ist und die noch da sein wird, wenn die Menschen wieder verschwunden sind. Flüsse verbinden die Regionen;33 Gebirgszüge sind menschlicher Gestaltung nicht unterworfen. Diese Natur kennt keine Grenzen, zeigt vielmehr ihre freie Schönheit, aber um sie zu entdecken, bedarf es der Kunst. Und so zeigen uns Maler wie (1774–1840) Landschaften, die von keinen Grenzen durchzogen werden, und die Wissenschaftler beginnen, über das Erdleben zu diskutieren, um jene langen Zeiträume einer Naturgeschichte zu erklären, in denen die Menschen allenfalls am letzten Kapitel mitarbeiten, dann allerdings, wie sie immer wieder zeigen, nicht nur fördernd, sondern auch zur Zerstörung bereit, zu erklären. Dass die Schönheit der Landschaft jetzt nicht nur entdeckt wird, sondern auch genossen werden will, kommt wiederum den Menschen im Grenzgebiet zugute. Ausflüge und Tourismus sind nicht nur ein Wirtschaftsfaktor, sondern schaffen sich eigene Räume mit eigenen Ordnungen, mit Annehmlichkeiten vielfältiger Art.34 So treten neben die großen Kunstwerke der Landschaftsmalerei die Zeugnisse der Populärästhetik für die Reisenden und die Zuhause-Gebliebenen: Postkarten, vielfältig reproduzierte Ansichten touristischer Sehenswürdigkeiten. Das 20. Jahrhundert schien es sich allerdings vorgenommen zu haben, alles, was es an Miteinander und Gemeinsamkeit im sächsisch-böhmischen Grenzraum gegeben hat, zu vernichten.35 Es ist das Jahrhundert einer Dominanz der Politik – und es ist für lange Zeit eine Politik des Konflikts, der sich an der Grenze entzündet. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die erste Tschechoslowakische Republik ins Leben gerufen. Unter ihrem Präsidenten Tomáš Garrigue Masaryk (1850–1937) war sie ein Hort der Freiheit und Demokratie, doch zeigten sich allmählich beim großen deutschen Nach- barn, aber auch im Süden, im klein gewordenen Österreich, die Tendenzen zu einem autoritären und bald dann auch zu einem diktatorischen Staatsgebilde überdeutlich.

33 Für unsere nordböhmisch-sächsische Region vgl. den Katalog zu einer Ausstellungsreihe in Dresden, Hamburg und Prag, die im Jahr 1992 zugleich die neue Wahrnehmung des Gemeinsamen betont hat: Die Elbe. Ein Lebenslauf. Ausstellungskatalog. Hg. v. Deutsches Historisches Museum/Deutsches Hygiene Museum. Berlin: Nicolai 1992. 34 Vgl. Hasso Spode: Zeit, Raum, Tourismus. Touristischer Konsum zwischen Regionalisierung, Nationalisierung und Europäisierung im langen 19. Jahrhundert. In: Die Vielfalt Europas. Identitäten und Räume. Hg. v. Winfried Eberhard/Christian Lübke. Leipzig: Universitätsverlag 2009, S. 251–264. Dazu auch vgl. Andrea Dietrich: Die Entwicklung der Stadt Dresden zur Tourismusmetropole von den Anfängen bis zum Vorabend des ersten Welt- krieges. Diss. Leipzig: 1992. Vgl. Ulrich Rosseaux: Badekur und Sommerplaisir. Die Entdeckung der stadtnahen Landschaft als Erholungsraum im 18. und 19. Jahrhundert am Beispiel Dresdens. In: Volkskunde in Sachsen, 18/2006, S. 193–206. Vgl. auch Martin Pelc: Umění putovat. Dějiny německých turistických spolků v českých zemích, Brno: Matice moravská 2010. 35 Vgl. Murdock, Changing Places (wie Anm. 2), S. 158–209. – Nützlich die knappe Übersicht: Deutsch-tschechische Beziehungen. Arbeitstexte zur politischen Bildung. Dresden: Sächsiche Landeszentrale für politische Bildung1998.

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Caspar David Friedrich: Böhmische Landschaft, um 1810

Das ‚Dritte Reich‘ hielt solch kleinräumige Grenzen wie die sächsisch-böhmische für völlig überflüssig. Man entwarf Großraumphantasien. Ganz Mitteleuropa wurde zum Raum eines neuen Imperiums, und der sogenannte ‚Anschluss‘ vom Protektorat Böh- men und Mähren im Jahr 1939, dem die Zerstörung der gesamten Tschechoslowaki- schen Republik folgte, sollte nur einen ersten Schritt bedeuten. Dass nicht wenige aus der deutschen Minderheit in der Tschecho slowakei diesen Einmarsch der Truppen des ‚Dritten Reiches‘ nicht nur ersehnt, sondern auch begeistert begrüßt hatten, blieb eine schwere Hypothek für die Zukunft.36 Die Zwangsumsiedlung der deutschen Be- völkerung schreibt diese Hypothek gleichsam fort. Nach dem Untergang des ‚Dritten Reiches‘ 1945 wurde die Grenze zwischen Sachsen und Böhmen schließlich neu installiert, und obschon der aus der sowjetischen Besatzungszone entstandene Teilstaat, die Deutsche Demokratische Republik, und die zweite Tschechoslowakische Republik unter kommunistischer Herrschaft offiziell eng

36 Grundlegend dazu vgl. Detlef Brandes: Die Tschechen unter deutschem Protektorat: Besatzungspolitik, Kolla- boration und Widerstand im Protektorat Böhmen und Mähren bis Heydrichs Tod (1939–1942), Bd. 1. München: Oldenbourg 1969; Ders.: Die Tschechen unter deutschem Protektorat: Besatzungspolitik, Kollaboration und Widerstand im Protektorat Böhmen und Mähren von Heydrichs Tod bis zum Prager Aufstand, Bd. 2. München: Oldenbourg 1975.

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verbündet waren, wurde die Grenze im Wesentlichen wieder zur Ab grenzung benutzt. Deutsche waren wenig willkommen in der Tschechoslowakei; offiziell wandte man sich zwar scharf gegen jeden Revanchismus, aber im Volk steckte der Argwohn gegen alles Deutsche. Ausnahmen – etwa, dass die Intellek tuellen früh wieder zueinander fanden oder dass ein Schriftsteller wie Reiner Kunze, seit 1961 verheiratet mit Elisabeth Littnerová aus Brünn, mit den Autoren der tschechischen Moderne, die im kommu- nistischen Land ihrerseits unterdrückt waren, freundschaftliche und produktive Ver- bindungen einging, – solche besonderen Fälle änderten nichts daran, dass die Grenze nach dem Willen beider Nachbarstaaten möglichst dicht sein sollte.37 Wie sich im Alltag wiederum ein kleiner Grenzverkehr entspinnt, wie Menschen ihren Vorteil su- chen, wie sogar der Schmuggel trotz des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) blühen konnte, dies ist eine Alltagsgeschichte, die sich mit der großen Geschichte, wie sie in den historischen Handbüchern nachzulesen ist, nicht verrechnen lässt. Sie hat ihre eigene Tendenz. Diese Tendenz war wichtig, denn aus formalen ‚brüderlichen‘ Kontakten entstanden oft echte freundschaftliche Kontakte (im Sport, bei gemein- samen Urlauben, aber auch bei individuellen Reisen in die beliebten, weitgehend frei- lich auch konkurrenzlosen Urlaubsziele wie Ostsee und Riesengebirge). In manchen Fällen hielten diese Beziehungen auch über das Umbruchjahr 1989 hinaus. Und zudem wird im 20. Jahrhundert noch ein weiterer Raum mit ungeahnter Effizienz und Wirkungsmacht erschlossen, die Raumgliederung um die Dimension der Medien erweitert.38 Medienräume halten sich für gewöhnlich nicht an Grenzen; Medien sind oft genug dafür geschaffen, Grenzen zu überwinden. Dies kann der Verständigung dienen; die Nachbarn erfahren aus der Presse, aus dem Rundfunk, dann auch aus dem Fernsehen und in vielfältigen anderen Variationen mehr voneinander und lernen sich besser kennen. Die Sprachgrenze freilich, auch das muss im Blick auf die neue Ent- grenzung des Medienraums durch die digitalen Medien bis hin zum Internet betont werden, besteht weiterhin. Und im sächsisch-böhmischen Grenzraum ist sogar eine feindselige Medienstrategie an eben dieser Sprachgrenze gescheitert. Denn im Jahr 1968, als in der Tschechoslowakischen Republik die Reform des Kommunismus begann, als man einen ‚Sozialismus mit menschlichem Antlitz‘ entwarf, als die Menschen vom ‚Pra- ger Frühling‘, dem Aufbruch zum Neuen sprachen, war es für die herrschenden Regime

37 Zum Grenzabkommen zwischen beiden Staaten, vgl. Klára Horalíková: Die Anfänge der Zusammenarbeit zwi- schen den Sicherheitsapparaten der DDR und der ČSSR. In: Die Tschechoslowakei 1945/46 bis 1989. Studien zu kommunistischer Herrschaft und Repression. Hg. v. Pavel Žáček/Bernd Faulenbach/Ulrich Mählert. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2008, S. 215–235, hier S. 217. 38 Vgl. Walter Schmitz: Medien und Milieu. Deutschsprachige Zeitschriften in Prag um 1900. In: Deutschsprachige Öffentlichkeit und Presse in Mittelost- und Südosteuropa (1848–1948). Hg. v. Andrei Corbea-Hoişie/Ion Lihaciu/ Alexander Rubel. Iaşi: Editura Universitătii „Alexandru Ioan Cuza“/Konstanz: Hartung-Gorre 2008, S. 45–74.

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von besonderer Bedeutung, den Nachrichtenfluss über die Grenze zu blockieren – aber es gelang ihnen nicht.39 Die Medienräume gehen ineinander über, auf vielen Kanälen dringen die Nachrichten durch: Sie werden mündlich übermittelt, es finden sich Presse - erzeugnisse, die über die Grenze gelangen, man hört Radiosender, die eigentlich fürs Ausland eingerichtet werden. Der Versuch der DDR aber, eine Gegenpropaganda mit streng linientreuen tschechischen Nachrichten von sächsischem Gebiet aus zu starten, missling völlig, ironischerweise gerade wegen der mangelnden Sprachkenntnis der Spre- cher.40 Jeder Tscheche bemerkte, dass diese Nachrichten nicht aus dem Inland kommen konnten, und die Absicht war schließlich leicht zu erkennen. Der militärische Einmarsch bedeutet eine krasse Grenzverletzung. Vom sächsischen Territorium aus brechen in den letzten Augusttagen 1968 die vereinigten Armeen der sozialistischen Brüderstaaten auf, um in Prag das zu besiegen, was sie als Konter - revolution bezeichnen. Die freiheitlichen Regelungen werden unterdrückt, eine Periode der sogenannten ‚Normalisierung‘, die man genauer als eine Zeit der Repres- sion benennen würde, setzt ein, bis schließlich die sächsisch-böhmische Grenze 1989 zur Freiheitsgrenze wird.41 DDR-Bürger flüchten massenhaft Richtung Prag, ver- schaffen sich Zutritt zur Botschaft der Bundesrepublik, kehren mit Sondergenehmi- gungen ein letztes Mal zurück, um über Dresden in den ‚freien Westen‘ zu reisen.42 Bald schließlich sind die Eingrenzungen des Kalten Krieges gänzlich überwunden. Mit dem Entstehen einer neuen Tschechoslowakischen, dann Tschechischen Republik verändert sich die jahrhundertelang währende Nachbarschaft zwischen Sachsen und Böhmen noch ein weiteres Mal. Mittlerweile werden an der Grenze keine Kontrollen mehr durchgeführt, neben der Bahnverkehrslinie ist eine Autobahnverbindung ge- schaffen worden, die räumlichen Distanzen haben sich gleichsam verkürzt, werden in immer geringerem Zeittakt überwunden – und auch die inneren Distanzen zwi- schen den Bewohnern des Grenzlandes verringern sich allmählich wieder.43 Auf staat-

39 Vgl. Konstantin Hermann: Verbrannt wegen einer Zeitung – die Dresdner Zeitung „Zprávy“ gegen den Prager Frühling. In: Sachsen und der „Prager Frühling“. Hg. v. dems. Beucha: Sax-Verlag 2008, S. 139–149, hier S. 140. 40 Der Geheimsender ‚Radio Moldau‘ (Radio Vltava) sendete von Dresden-Wilsdruff in tschechischer Sprache die ideologischen Leitideen des Warschauer Paktes. Vgl. Claus Röck: Störer ohne Hörer: der Geheimsender „Radio Moldau“. In: Ebd., S. 127–137, hier S. 127. 41 Vgl. Murdock, Changing Places (wie Anm. 2), S. 209ff. den Abschnitt mit der schönen Überschrift: „Death and Ressurection“. 42 Vgl. Axel Schützsack: Exodus in die Einheit. Die Massenflucht aus der DDR. Melle: Verlag Ernst Knoth 1990, S. 37f.; Wolfgang Mayer: Flucht und Ausreise. Botschaftsbesetzungen als wirksame Form des Widerstands und Mittel gegen die politische Verfolgung in der DDR. Berlin: Tykve Verlag 2002. 43 Zur Gründung der Euroregion Elbe/Labe am 24. Juni 1992 in Ústí nad Labem, vgl. Hartmut Kowalke/Milan Jeřábek/Olaf Schmidt: Grenzen öffnen sich. Chancen und Risiken aus Sicht der Bewohner der sächsisch- böhmischen Grenzregion. In: Dresdner Geographische Beiträge 10 (2004), S. 15; Kurt Biedenkopf: „Češi a Němci na cestě k dobrému sousedství.“ Rozhovory o sousedství. Praha: Karlova univerzita 1997.

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Dresden. Offizieller Baubeginn für die Bundesautobahn 17 am 21.08.1998 am künftigen - dreieck Dresden-West

licher und schneller noch auf lokaler und regionaler Ebene wird selbst eine so prekärer Thema wie der ‚odsun‘ / die ‚Vertreibung der Deutschen nach 1945 neu betrachtet – nicht ohne Irritationen, nicht ohne Konfrontation – aber vielleicht doch auf dem Weg zu einer gemeinsamen, vielleicht sogar ‚europäischen‘ Erinnerung, die Schuld und Verantwortung keinesfalls nivellieren und verwischen wird. Die Grenze zwischen Sachsen und Nordböhmen jedenfalls ist gleichsam niedriger geworden; und zudem haben sich auch auf beiden Seiten die territorialen Bedingungen verändert. Zum ers- ten Mal in ihrer langen Geschichte ist die Identität der Grenzregion zu einem Thema geworden. Der Freistaat Sachsen wurde 1990 neu gegründet und von Beginn an auch kulturell begründet44 – aus einer großen historischen Tradition, aus der Verantwor- tung für ein Erbe, das zunächst überhaupt erst wieder erkundet und bewusst gemacht werden muss – einschließlich der Hypotheken an Schuld und Verantwortung aus den beiden Diktaturen. Damit wird auch das Gespräch mit dem Nachbarn möglich – über die Grenze hinweg. Aber auch auf der tschechischen Seite wurden zunächst ein- mal strukturelle Voraussetzungen geschaffen, um den rigiden Zentralismus aus der Ära der Diktatur zu überwinden,45 regionale Selbstverantwortung zu stärken und

44 Vgl. Reiner Groß: Geschichte Sachsens. Leipzig: Edition Leipzig 2001, S. 304–310. 45 Ebenso vgl. Catherine Perron: Les pionniers de la démocratie: élites politiques locales tchèques et est-allemandes, 1989–1998. Paris: Presses universitaires de France 2004.

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damit einer Region wie Nordböhmen heute den Weg zur Suche nach ihrer besonderen Identität zu eröffnen. Vieles geschieht bereits in der Region; die Vergangenheit wird erkundet, ohne die alten Feindschaften fortzusetzen, aber auch die Gegenwart wird neu gestaltet – mehr und mehr auch gemeinsam mit dem angrenzenden Freistaat Sachsen. Dass in einem ‚Europa der Regionen‘46 an einer EU-Binnengrenze grenz- überschreitende Räume der Gemeinsamkeit entstehen, hat sich im Westen Deutsch- lands längst gezeigt;47 die Grenzregion wird zum Labor einer Zukunft, die andernorts schon Gegenwart ist.

* * *

Aus dieser neuen Offenheit, aus dem Geist guter Nachbarschaft, der sich immer mehr bewährt, wurde das vorliegende Projekt geplant. Den Anstoß gab das Kreisamt Ústí. Die WissenschaftlerInnen der Jan-Evangelista-Purkyně-Universität Ústí nad Labem und der Technischen Universität Dresden wurden als Partner gewonnen. Beide Uni- versitäten haben längst schon ihre guten Erfahrungen in gemeinsamer grenzüber- schreitender Arbeit sammeln dürfen. Eine deutsch-tschechische Arbeitsgruppe fasst nun den Vorsatz, einige Streiflichter auf die vier Jahrhunderte böhmisch-sächsischer Nachbarschaft zu werfen. Die dunklen Seiten sollten erhellt, aber nicht beschönigt werden. Die vielen Beispiele für gegenseitige Hilfe und Förderung, der wechselseitige Gewinn aus dem Leben an der Grenze und über die Grenze hinweg konnten zwar nicht vollständig bilanziert, aber mit vielen Beispielen im Einzelnen verdeutlicht werden. Dabei zeigte sich, dass dieses Projekt zugleich eine wissenschaftliche Heraus - forderung bedeutet. Nicht allein der Politik geschichte, sondern auch neueren Ent- wicklungen in Methode und Fragestellungen, also alltagsgeschichtlichen, religions- geschichtlichen, wirtschafts- und konsumgeschichtlichen und nicht zuletzt kultur- geschichtlichen Fragen bot sich hier ein reiches Feld, das noch kaum bestellt war. Es wurden neue Quellen erschlossen und gesichtet. Wo dies möglich war, wurden auch Zeitzeugen nach ihrer Erfahrung der Nachbarschaft befragt. Es sollte ein Buch ent- stehen, das wissenschaftlich gründlich gearbeitet ist, doch dabei zugleich zum Lesen und Entdecken einlädt, und dieses Buch sollte sich nicht zuletzt an die jüngere

46 Vgl. Walter Schmitz: ‚Gedachte Ordnung‘ – ‚erlebte Ordnung‘: Region als Sinnraum. Thesen und mitteleuropäische Beispiele. In: Konstruktionsprozesse der Region in europäischer Perspektive. Kulturelle Raumprägungen im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. v. Gertrude Cepl-Kaufmann/Georg Mölich. Essen: Klartext-Verlagsgesellschaft 2010, S. 23–44. 47 Das bedeutet sowohl ein kulturelles wie – vor allem auch – ein beträchtliches wirtschaftliches Entwicklungs - potential; vgl. dazu Bernhard Müller: Innovationsregionen durch grenzüberschreitende Zusammenarbeit. In: Ein anderes Europa. Innovation – Anstöße – Tradition in Mittel- und Osteuropa. Dokumentation zum 3. Säch- sischen Mittel- und Osteuropatag. Hg. v. Walter Schmitz. Dresden: Thelem 2007, S. 39–49.

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Generation richten. Nicht das universitäre Fachpublikum, sondern Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler sollten hier jeweils ihre Anregungen für neue Themen, Projekte und Exkursionen finden – Grenzüberschreitungen also nicht nur geographisch praktizieren, sondern vielleicht auch eingefahrene geistige Grenzen über- winden. Neben den Aufsätzen, die sich exemplarisch Themen aus der sächsisch- böhmischen Beziehungsgeschichte widmen, wurde deshalb auch ein Quellenband er- arbeitet, der nicht nur die Resultate der Aufsätze belegt und bereichert, sondern auch unmittelbar für die eigene Weiterarbeit genutzt werden kann. Einige didaktische Vor- schläge, wie dieser Fundus zu nutzen wäre, runden schließlich unser dreibändiges Werk ab. Dass es entstehen konnte, verdanken wir einer Förderung im Rahmen des Ziel-3-Pro- gramms der Europäischen Union, und wir möchten allen persönlich danken, die zur Einrichtung und zum Gelingen dieses Projektes beigetragen haben. Es hat Mühe ge- kostet, hier gleichsam Neuland zu erschließen, aber wir wurden für diese Mühe auch durch viele neue Einsichten, vor allem aber durch jenes Gespräch über die Grenzen hinweg, belohnt, das diejenigen, die das Buch lesen und nutzen, hoffentlich fortsetzen werden.

Ústí nad Labem / Dresden, im Sommer 2013

Kristina Kaiserová / Walter Schmitz

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1. Verbündete und Feinde Buch_Usti_dt_kor_Layout 1 26.11.13 10:24 Seite 26 Buch_Usti_dt_kor_Layout 1 26.11.13 10:24 Seite 27

Sachsen während der napoleonischen Zeit

Josef Matzerath

Sachsen während der napoleonischen Zeit

„... doch regten sich schon in jener Zeit Ahnungen und Gerüchte von naher Feindesstö- rung, und in jedem deutschen Herzen ward schon lauter die Mißbilligung über die immer höher steigende Anmaaßung Napoleon Bonapartes empfunden.“1 Die 17-jährige Johanne Friederike (Jenny) Freiin von Friesen vertraute im Frühjahr 1806 ihrem Tagebuch an, was sie über den Kaiser der Franzosen dachte.Die sächsische Adelige nahm mit ihrer Notiz vor- weg, was sich im Oktober desselben Jahres noch ereignen sollte;Sachsen geriet nämlich in den Konflikt derGroßmächte,die um dieVorherrschaft in Europa Krieg führten.Denn ob - wohl Habsburg*und Frankreich im Jahre 1805in Pressburg Frieden geschlossen hatten, wa - ren die Napoleonischen Kriege keineswegs beendet, denn trotz Napoleons Sieg von Auster- litz am 2. Dezember 1805 kam weder ein Frieden mit Russland, noch einer mit England zustande.2 Preußen, Europas fünfte Großmacht, hatte bislang eher abseits gestanden. Nach seinem Sieg bei Austerlitz nötigte Napoleon dem preußischen Kabinettminister Christian von Haugwitz einen Vertrag ab, nach dem Preußen den rechtsrheinischen Teil des Herzogtums Kleve an das Großherzogtum Berg, Neuchâtel an Frankreich und Ansbach-Bayreuth an das sich mit Napoleon verbündete Bayern abgeben sollte. Kleve war seit 1614 brandenburgisch. Neuchâtel oder Neuenburg gehörte seit 1707 zu Preußen. Die Fürstentümer Ansbach und Bayreuth waren im Jahre 1792 preußisches Verwaltungs- gebiet geworden. Als Entschädigung sollte Preußen das Kurfürstentum Hannover er- halten. Hannover war aber das Stammland der englischen Könige. Wäre es Napoleons Plan geblieben, hätte es einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Großbritannien und Preußen ge geben. Obwohl Preußen Hannover zunächst besetzte, bot Napoleon in den Friedensverhandlungen mit der englischen Regierung an, ihr das Land als Manövriermasse zurückzugeben. Damit war für Preußen das Maß voll. Sein äußerst zögerlicher König Friedrich Wilhelm III. ging jetzt ein Bündnis mit Russland ein, akti- vierte seinen Verbündeten, das Kurfürstentum Sachsen, und verlangte von Frankreich ultimativ die Räumung Süddeutschlands.3

1 StA Leipzig, Grundherrschaft Rötha, Nr. 3966, Tagebuch der Johanne Friederike von Friesen, Bl. 213. 2 Vgl. Wolfgang Burgdorf: Ein Weltbild verliert seine Welt. Der Untergang des Alten Reiches und die Generation 1806. München: Oldenbourg 2006, S. 99. Zu den Bedingungen des Friedensvertrags vgl. Rudolfine Freiin von der Oer: Der Friede von Pressburg. Ein Beitrag zur Diplomatiegeschichte des Napoleonischen Zeitalters. Münster: Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung 1965. 3 Vgl. Dorit Körner: Sachsen und Preußen am Ende des Alten Reichs. In: Geschichte Sachsens im Zeitalter Napo- leons. Vom Kurfürstentum zum Königreich 1791–1815. Hg. v. Guntram Martin/Jochen Vötsch/Peter Wiegand. Beucha: Sax-Verlag 2008, S. 69–81, hier S. 75.

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Preußen erklärte Frankreich am 9. Oktober 1806 den Krieg. Schon fünf Tage danach kam es am 14. Oktober zur Doppelschlacht von Jena und Auerstedt. Bei Jena er- drückte Napoleon mit einer Übermacht von 96.000 Truppen ein preußisch-sächsi- sches Militärkorps von 53.000 Mann. Der erstaunlichere Sieg gelang dem Marschall Davout 25 km entfernt bei Auerstedt. Dort standen 27.000 Franzosen gegen ca. 50.000 Preußen. Davout verfügte über 1.300 Reiter, während die preußische Kavallerie aus 8.800 Mann bestand. Auch die preußische Artillerie war drückend überlegen, denn die Preußen verfügten über 230, die Franzosen nur über 44 Kanonen.4

Jacques François Joseph Swebach-Desfontaines: Schlacht bei Jena [undatiert]

Auf der politisch-diplomatischen Ebene stellt sich rückblickend auch die Frage, wie das Kurfürstentum Sachsen dazu kam, sich gemeinsam mit Preußen gegen Napoleon zu stellen. Der sächsische Kurfürst Friedrich August III. gilt in der Geschichtsschreibung doch eigentlich als legalistisch*, als ein Vertreter des herkömmlichen Rechts. Hanno- ver musste aus dieser Perspektive als Besitzstand der Welfen* gelten, gleichgültig ob

4 Vgl. Gerd Fesser: 1806 – Die Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt. Jena: Bussert & Stadeler 2006; Holger Nowak/Birgitt Hellmann/Günther Queisser/Gerd Fesser: Lexikon zur Schlacht von Jena und Auerstedt 1806. Personen, Ereignisse, Begriffe. Jena: Städtische Museen Jena 1996.

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Georg III. zugleich König von Großbritannien war. Was veranlasste daher den rechts- treuen Dresdner Fürsten, seine Truppen gegen Napoleon marschieren zu lassen, um Hannover für Preußen zu retten? In den älteren Handbüchern zur sächsischen Ge- schichte liest man dazu: Sachsen sei „ohne Begeisterung aber in treuer Waffenbrüder- schaft in den Kampf“5 gezogen. Das ist die Formulierung, die Helmut Kretzschmar 1935 benutzte. Zwei neuere Handbücher zur sächsischen Geschichte verdecken mit ihrer Formulierung die Zusammenhänge eher, als sie zu klären. In der Geschichte Sachsens, die Karl Czok 1989 noch vor dem Ende der DDR herausgegeben hat, heißt es:6

Als sich Sachsen in seinem Festhalten am Reichsgedanken von Österreich und den Habsburgern verlassen sah, lehnte man sich folgerichtig erneut an Preußen an. Das führte den kursächsischen Staat in der epochalen Auseinandersetzung mit dem napoleonischen Frankreich im Oktober 1806 auf die Schlachtfelder von Jena und Auerstedt.

Demnach wäre letztlich der unzuverlässige Kaiser Franz II. schuld, dass sein treuer Ver- bündeter Sachsen in die Arme Preußens getrieben wurde und mit ihm unterging. Sach- sen war in dieser Sichtweise ein Opfer, dem keine Alternative blieb. Reiner Groß schrieb in seiner Geschichte Sachsens, die die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung im Jahre 2001 herausgab, diesen Satz noch einmal. Allerdings mit der Einschränkung, dass aus der „epochalen Auseinandersetzung“ mit Napoleon eine „grundsätzliche Aus- einandersetzung“ wurde.7 Warum Sachsen mit Preußen gegen Napoleon kämpfte, bleibt so verschwommen wie zuvor. Alternativen werden nicht erwogen. Nach wie vor bleibt der Eindruck, dass die Habsburger schuld waren. Dagegen wird in Katrin Kellers Landes geschichte Sachsen, die 2002 erschien, Habsburg keine Schuld zugewiesen. Viel- mehr spielt das Kurfürstentum Sachsen selbst eine aktive Rolle. Keller schreibt:8

Bereits 1796 hatte man [Sachsen] allerdings an der von Preußen betriebe- nen norddeutschen Neutralität partizipiert und hoffte so, die Kriegsgefahr auf Dauer vom Land fern halten zu können. Erst 1806 wurden der Kurfürst und

5 Vgl. Hellmut Kretzschmar: Geschichte der Neuzeit seit der Mitte des 16. Jahrhunderts. Achter Teil. Vom alten Reich zum Deutschen Bund 1806–1866. In: Sächsische Geschichte. Werden und Wandlungen eines Deutschen Stammes und seiner Heimat im Rahmen der Deutschen Geschichte. Hg. v. Rudolf Kötzschke/Hellmut Kretzsch - mar. Dresden: Heinrich 1935, Nachdruck Frankfurt a. Main: Verlag Wolfgang Weidlich 1965, S. 299–320, hier S. 300. 6 Vgl. Reiner Groß: Kurstaat und Königreich an der Schwelle zum Kapitalismus (1789–1830). In: Geschichte Sachsens. Hg. v. Karl Czok. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1989, S. 297–331, hier S. 315. 7 Vgl. Reiner Groß: Geschichte Sachsens. Leipzig: Edition Leipzig 2001, S. 181. 8 Vgl. Katrin Keller: Landesgeschichte Sachsen. Stuttgart: Verlag Eugen Ulmer 2002, S. 160.

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die Regierung dann erneut aktiv, als man sich nach dem Zerfall des Alten Rei- ches mit Preußen verbündete, um aus den verbliebenen Territorien, die weder dem Rheinbund[*] noch dem Habsburger Reich zugehörig waren, einen Norddeutschen Reichsbund in Nachfolge des Reiches zu konstituieren. Die strikte Beharrung auf dem Reichsgedanken schlug sich hierin erneut praktisch nieder. Direkte Folge dieses Bündnisses war freilich die gemeinsame Nieder- lage von sächsischen und preußischen Truppen im Oktober 1806 bei Jena und Auerstedt.

Katrin Keller verweist somit zunächst auf eine langfristige Ausrichtung der sächsische Politik. Dresden wollte neutral bleiben. Man mochte sich nicht in die große europäische Kontroverse einmischen. Das ist eine richtige Perspektive, klärt aber die Zusammen- hänge noch nicht gänzlich auf. Als Mittelmacht brauchte das Kurfürstentum Sachsen einen starken Partner, an den es sich anlehnen konnte, um in europäischen Konflikten bestehen zu können. Seit Mitte der 1790er Jahre rückte Sachsen deshalb zunehmend an die Seite Preußens. Denn König Friedrich Wilhelm III. garantierte zumindest für den Augenblick die Reichsverfassung*, die ja für den sächsischen Kurfürsten nach wie vor der Bezugspunkt seiner Politik war.9 Nach dem Ende des Alten Reiches versuchte der preußische König die territoriale Integrität des Reiches zu wahren.10 Die Pläne zu einem Norddeutschen Bund als Nachfolger des Alten Reiches wurden allerdings mehr von Preußen als von Sachsen vorangetrieben.11 Das besetzte Kurfürstentum Hannover, Kur- hessen und Kursachsen sollten unter preußischer Führung in einem norddeutschen Bund zusammengefasst werden.12 Sachsens Regierung und Kurfürst suchten immer wieder nach rechtlich legitimen Anschlussmöglichkeiten, aber zu mehr als einem Verteidigungs- abkommen mit Preußen fanden sie sich nicht bereit. Sachsen suchte eine bewaffnete Neutralität; nur eine ‚Sicherstellung des nördlichen Deutschlands‘ sollte notfalls mit mili tärischen Mitteln garantiert sein. Am 13. August 1806, also nach der Gründung des von Frankreich dominierten Rhein- bundes, sieben Tage, nachdem Franz II. die deutsche Kaiserkrone niedergelegt hatte, und zwei Monate vor der Schlacht bei Jena und Auerstedt verfassten die Geheimen Räte* in Dresden ein Gutachten über die neue Lage. Sie erwogen zunächst eher pro

9 Vgl. Reiner Marcowitz: Finis Saxoniae? Frankreich und die sächsisch-polnische Frage auf dem Wiener Kongress 1814/15. In: Neues Archiv für sächsische Geschichte 68 (1997), S. 157–184, hier S. 162. 10 Vgl. Körner, Sachsen und Preußen (wie Anm. 3), S. 74. 11 Vgl. ebd., S. 74. 12 Vgl. Karlheinz Blaschke: Von Jena 1806 nach Wien 1815. Sachsen zwischen Preußen und Napoleon. In: Umbruch im Schatten Napoleons. Die Schlachten von Jena und Auerstedt und ihre Folgen. Hg. v. Gerd Fesser/Reinhard Jonscher. Jena: Bussert 1998, S. 143–156, hier S. 144.

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forma, ob Sachsen selbst die deutsche Kaiserkrone übernehmen sollte. So realistisch war das Dresdner Kabinett aber doch, dass man sich nicht „unendlichen Schwierig- keiten“ aussetzen wollte.13 Anschließend erörterten die Geheimen Räte vier realistische Optionen. Es erschien wenig Erfolg versprechend, auf sich allein gestellt neutral bleiben zu wol- len. Wenn Frankreich eine Entscheidung fordern würde, hatte man ohne ein Bündnis militärisch nichts entgegen zu setzten. Nicht einmal Truppendurchmärsche hätte Sachsen verhindern können. Eine Möglichkeit bestand deshalb darin, sich dem Rheinbund anzuschließen. Dagegen hatte man in Dresden rechtliche Be denken. Denn dieser Weg stand nicht in der Tradition des Alten Reiches.14 Und man kalku- lierte realpolitisch, dass sich Sachsen durch einen solchen Schritt in die Abhängigkeit Frankreichs begeben würde. Allerdings war der zu erwartende Lohn den Geheimen Räten des sächsischen Kurfürsten durchaus klar. Als Rheinbund-Mitglied hätte der Dresdner Herrscher sich die Gebiete der thüringischen Kleinpotentaten* einverleiben können. Außer den Wettinern der ernestinischen Linie wären die Standesherrschaften Schwarzburg, Reuß, Stollberg, Schönburg und Solms von der Landkarte verschwun- den.15 Sachsen selbst hätte aber auch Kontributionen an Frankreich zu entrichten ge- habt. Es hätte zudem ein Truppenkontingent stellen und an Napoleons Landkriegen teilnehmen müssen. Das war umso weniger ver lockend, als ein solcher Schritt den mächtigen Nachbarn Preußen nachhaltig verärgert hätte. Auf dieses Spiel mit Vor- und Nachteilen ließ sich Dresden jedenfalls auch nicht ein. Eine weitere Option war ein Anschluss an Österreich. Schließlich grenzte Sachsen an Böhmen, das zum Reich der Habsburger gehörte. Die Geheimen Räte waren aber auch gegen diesen Kurs, weil man – wie sie schrieben – aus Erfahrung wisse, „daß das Haus Sachsen aus einer engeren Verbindung mit Österreich, nie wahren Vorteil gezogen, sondern Schaden erlitten und sich den größten Gefahren ohne Nutzen aus- gesetzt habe.“ Nach Austerlitz war Habsburg als Schutzmacht ohnehin verbraucht. „Die so sehr gesunkene Macht dieses Hauses“, meinten die Geheimen Räte, könne „kaum sich selbst geschweige seine Alliierten“ schützen.16 Damit blieb als letzter Ausweg eigentlich nur, sich Preußen anzuschließen. Die säch- sischen Minister trugen ihrem Kurfürsten vor, für einen Anschluss an Preußen gebe

13 Vgl. Dorit Petschel: Sächsische Außenpolitik unter Friedrich August I. Zwischen Rétablissement, Rheinbund und Restauration. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2000, S. 276. 14 Vgl. Winfried Müller: Das Ende des Alten Reiches und die deutschen Terretorien: Sachsens Weg in den Rhein- bund und zur Königskrone. In: Geschichte Sachsens im Zeitalter Napoleons. Vom Kurfürstentum zum Königreich 1791–1815. Hg. v. Guntram Martin/JochenVötsch/PeterWiegand. Beucha: Sax-Verlag 2008, S. 54–68, hier S. 62f. 15 Vgl. Blaschke, Von Jena 1806 nach Wien (wie Anm. 12), S. 146. 16 Zitiert nach Petschel, Sächsische Außenpolitik (wie Anm. 13), S. 277.

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es sogar eine reichsrechtlich tradierte Basis. Sachsen habe ja bereits seit 1614 eine Erbvereinigung mit dem Kurfürsten von Brandenburg.17 Das hatte selbstver- ständlich überhaupt keinen konkreten politischen Wert mehr. Aber es beruhigte wohl den traditionsverhafteten sächsi- schen Kurfürsten. Als es dann im Spät- sommer 1806 zwischen Preußen und Napoleon zum Konflikt um Hannover kam, befand sich Sachsen auch geogra- fisch in einer brisanten Position. Denn Napo leons Truppen standen in Franken. Wenn sie auf Berlin hin in Bewegung gesetzt würden und die Preußen ih- nen ent gegenmarschierten, dann würde wohl Sachsen das Schlachtfeld werden. Carl Christian Vogel von Vogelstein: Krieg im eigenen Land wollten Friedrich König Friedrich August von Sachsen [1823] August III. und seine Minister unter gar keinen Umständen. Sie verhandelten daher mit Berlin über eine Militärkonvention, in der vorgesehen war, dass der Krieg von Sachsen und besonders von Dresden fern gehalten werden müsse.18 Zu diesen Konditionen machte Friedrich August III. seine Truppen am 12. September 1806 mobil und unterstellte sie am 1. Oktober 1806 bedingungslos dem preußischen Oberbefehl. Als „verführte Unschuld“19 war Sachsen jedenfalls nicht in die Schlacht von Jena und Auerstedt geraten. Man war sich der Chancen und Risiken der eigenen Politik bewusst und schloss sich sehenden Auges an Preußen an. Ein wesentliches Ziel lag darin, das eigene Land von direkter Kriegseinwirkung fern zu halten. Die Außen- politik unterlag dem Primat, den inneren Zustand des Landes möglichst zu schonen. Ob man diese Politik für der Lage unangemessen halten soll, ob sie naiv und rückwärts gewandt war,20 wie Dorit Petschel in ihrer Dissertation zur Politik von Friedrich August III. meinte, das erscheint nicht zwingend. Es gilt wohl nur, wenn man den skrupellosen Machtpoker der Großmächte für das Maß aller Dinge hält.

17 Vgl. ebd., S. 277. 18 Vgl. ebd., S. 287; Körner, Sachsen und Preußen (wie Anm. 3), S. 73. 19 Körner, Sachsen und Preußen (wie Anm. 3), S. 76. 20 Vgl. Petschel, Sächsische Außenpolitik (wie Anm. 13), S. 285.

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Es lässt sich bezweifeln, dass nach den Maßstäben des frühen 19. Jahrhunderts der Sinn einer Regierung allein darin bestand, immer mächtiger zu werden. Vermutlich galten aus der Perspektive eines zeitgenössischen Fürsten Selbsterhaltung und Landeswohlfahrt als durchaus gleichrangig mit einem expansiven Machtzuwachs. Jedenfalls sind in der europäischen Geschichte alle militärischen Übermächtigungsversuche spätestens auf mittlerer Strecke gescheitert. Das Kalkül der Dresdner Räte erscheint daher gar nicht so abwegig. Sachsens Linie der Selbsterhaltung setzte sich im Grunde genommen auch nach der Schlacht von Jena und Auerstedt fort. Am 15. Oktober, also unmittelbar nach Ende der Kampfhandlungen, ließ Napoleon die sächsischen Offiziere zu sich berufen und sie den Eid schwören, nicht mehr gegen Frankreich zu kämpfen.21 Während der folgenden Wochen ergab sich Friedrich August III., um im Gegenzug von einer französischen Eroberung verschont zu bleiben. Denn er nahm bereitwillig Napoleons Angebot an, Sachsen nicht als Feindesland zu betrachten, sondern als neutral. Wie sich aus dem Briefwechsel beider Herrscher nachvollziehen lässt, der unmittelbar nach der Schlacht von Jena und Auerstedt einsetzte, hatte der sächsische Kurfürst schon vor dieser französischen Offerte darum ersucht, sein Land zu ver- schonen.22 Bereits am 28. Oktober 1806, also 14 Tage nach Ende der kriegerischen Auseinandersetzung, bat Friedrich August III. den französischen Kaiser, ihm „wohl- wollend eine allgemeine Neutralität per formeller Erklärung gewähren zu wollen.“ Als Grund gab der Kurfürst im selben Schreiben an, dass es für die Ruhe im Land unumgänglich sei, diesen Status zu erhalten, da „angesichts der gegenwärtigen Um- stände“23 die öffentliche Ordnung nicht gewährleistet wäre. Diese neue Neutralität hatte allerdings auch einen Hegemon: Napoleon. Der französische Außenminister, Charles-Maurice de Talleyrand, stellte dem sächsischen Kurfürsten am 6. November 1806 die Bedingung, dass sein Land Mitglied des Rheinbundes werden müsse. Zudem sollten künftig Kontributionen an Frankreich in Höhe von 30 Millionen Livres geleistet werden, und Sachsen hatte 20.000 Mann unter das Kommando des Rheinbundheeres zu stellen.24

21 Vgl. Tim Blanning: Die Schlacht bei Jena 1806 – Hybris und Nemesis. In: Das Jahr 1806 im europäischen Kon- text. Balance, Hegemonie und politische Kulturen. Hg. v. Andreas Klinger/Hans-Werner Hahn/Georg Schmidt. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2008, S. 85–99, hier S. 86ff. – Die künstlerische Umsetzung des Schwurs ist im Gemälde von Pietro Benvenuti dargestellt. Vgl. Klaus Lankheit: Von der napoleonischen Epoche zum Risor - gimento. Studien zur italienischen Kunst des 19. Jahrhunderts. München: Bruckmann 1988, S. 68–83. 22 Vgl. Mein Herr Bruder… Napoleon und Friedrich August I. Der Briefwechsel des Kaisers der Franzosen mit dem König von Sachsen (1806–1813). Hg. v. Rudolf Jenak. Beucha: Sax-Verlag 2010, S. 15. 23 Ebd. 24 Vgl. Karl von Weber: Zur Geschichte Sachsens während der letzten drei Monate des Jahres 1806. In: Archiv für die Sächsische Geschichte. Band 11. Hg. v. Karl von Weber. Leipzig: Verlag Bernhard Tauchnitz 1873, S. 1–31, hier S.18f.

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Am 11. Dezember 1806 schlossen Frankreich und Sachsen in Posen einen Frieden, der diese Bedingungen festlegte. Aber Friedrich August III. ging bei diesem Vertrag auch nicht ganz leer aus. Er wurde zum König erhoben.25 Eine besondere Begeis- terung hat dieser Aufstieg in der Dynastie der Wettiner* nicht entfacht. Friedrich August ließ sich nicht einmal eine Krone anfertigen. Der Dresdner Hof hat sich bis 1918 nie zu Gedächtnis- oder gar Jubiläumsfeiern für dieses Ereignis hinreißen lassen.26 Sachsen bekam durch den Posener Frieden im Jahr 1806 den bis dahin preußischen Kreis Cottbus zugesprochen.27 Cottbus lag bis dahin als Enklave in der sächsischen Niederlausitz. Für das Kurfürstentum Sachsen ist noch von Bedeu- tung, dass nun die römisch-katholische Konfession mit dem evangelisch-lutheri- schen Glaubensbekenntnis gleichgestellt wurde. Auch das war eine Bedingung des Posener Friedens, die Napoleon an Sachsen stellte, da Frankreich mehrheitlich katholisch war. Bei Jena und Auerstedt starben rund 17.000 Soldaten. Die fliehenden wurden durch eine scharfe Verfolgung zur Kapitulation genötigt. Napoleon rückte mit seinen Trup- pen rasch nach Berlin vor. Am 27. Oktober zog er in die preußische Hauptstadt ein. Von Berlin aus erklärte Napoleon England den Wirtschaftskrieg.28 Er schloss alle preußischen Häfen für englische Waren. Alle englischen Waren im Lande wurden beschlagnahmt. Die Konsequenz war ein ausgiebiger Schmuggel, der umgehend in Fahrt kam. Dennoch zeigte die Sperre einige Wirkung. Das englische Pfund verlor 1808 an Wert. Es kam auf den britischen Inseln zu einer Wirtschaftskrise. Allerdings nicht nur dort, auch in Frankreich litt die Wirtschaft unter der Kontinentalsperre, weil ihre Handelsbeziehungen mit England gestört waren. Ab 1809 vergab Napoleon deshalb an französische Unternehmen Linzenzen, die Ausfuhren nach England und Einfuhren von dort gestatteten. Das weckte natürlich Unzufriedenheit bei den fran- zösischen Verbündeten.29

25 Vgl. Müller, Das Ende des Alten Reiches (wie Anm. 14), S. 66. 26 Vgl. Josef Matzerath: Die sächsische Verfassung von 1831. In: Festveranstaltung: „175 Jahre sächsische Verfassung“ am 4. September 2006. Hg. v. Sächsischen Landtag (Veranstaltungen des Sächsischen Landtags, Heft 35), S. 28f. Zu den Herrschaftsjubiläen der Wettiner im 19. Jahrhundert. Vgl. Simone Mergen: Monarchiejubiläen im 19. Jahrhundert. Die Entdeckung des historischen Jubiläums für den monarchischen Kult in Sachsen und Bayern. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2005, S. 21. 27 Bei den Friedensverhandlungen mit Frankreich trug Sachsen vielfältige Wünsche hinsichtlich territorialer Erweiterung vor. Vor allem beispielsweise Erfurt, Mühlhausen, Halberstadt und Cottbus standen auf der Liste des sächsischen Kurfürsten. Vgl. Rudolf Jenak: Sachsen, der Rheinbund und die Exekution der Sachsen betref- fenden Entscheidungen des Wiener Kongresses (1803–1816). Neustadt a. d. Aisch: Verlag PH. C. W. Schmidt 2005, S. 12. 28 Vgl. Hans-Werner Hahn: Die industrielle Revolution in Deutschland. München: Oldenbourg 2005, S. 11. 29 Vgl. Hans Schmidt: Napoleon I. (1799/1804–1814/15). In: Die Französischen Könige und Kaiser der Neuzeit 1498–1870. Hg. v. Peter Claus Hartmann. München: C.H. Beck 2006, S. 347 f.

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Weil englische und überseeische Waren zur Mangelware wurden, blieb auch in Sach- sen die Kritik an der Kontinentalsperre nicht aus, wie Johanne Friederike Freiin von Friesen in ihrem Tagebuch berichtet:30

Da nun aber dennoch viele überseeische Producte mit unter auch englische Fabrik - waaren unentbehrliche Bedürfniße geworden waren, so wurden dann zwar in einigen Häfen welche eingelaßen, der Handel damit aber, sollte in den Händen französischer damit Beauftragter bleiben, und die Preise wurden dadurch aufs höchste gesteigert.

Tatsächlich verspürte das sächsische Textil verarbeitende Gewerbe eine Verknappung und Verteuerung der englischen Baumwollgarne.31 Mochte die Verteuerung englischer Garne von Friesen eher indirekt betreffen, sah sie ihre Häuslichkeit durch „die Entzie - hung von Caffe und Zucker welcher Niemand mehr entbehren mochte“ unangenehm gestört.32 Auch Napoleons Feldzüge gerieten zunehmend in Turbulenzen. Nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt verschob sich das Kriegsgeschehen weiter nach Osten. Ein Winterfeldzug in West- und Ostpreußen konfrontierte die französische Armee mit bislang unbekannten Problemen: Regen, Schnee und Schlamm behinderten sie. Es gab nur wenige und schlechte Quartiere. Denn das Land war weit und dünn besiedelt. Am 8. Februar 1807 forderte eine letztlich unentschiedene Schlacht bei Preußisch- Eylau (d.i. in Ostpreußen, südlich von Königsberg) 25.000 Tote unter den Russen und Preußen sowie 18.000 Tote unter den Franzosen und ihren Alliierten. Im Som- mer, am 7. Juli 1807, schlossen der russische Zar und Napoleon den Frieden von Tilsit. Preußen verlor alle Gebiete westlich der Elbe. Aus diesem Grundstock schuf Napoleon für seinen Bruder Jérôme das Königreich Westfalen.33 Die Kontinentalsperre durchzusetzen, überspannte aber zunehmend die Kräfte Frank- reichs. Im Jahre 1807 intervenierte Napoleon mit einer Armee in Portugal. Das Königreich war ein alter Verbündeter Großbritanniens. Die Franzosen konnten auch rasch Lissabon besetzen. Die portugiesische Königsfamilie entwich ihnen aber und setzte sich nach Brasilien ab. Mit dieser französischen Invasion auf der Iberischen Halb- insel begann ein unkalkulierbares Abenteuer. Es sollte erheblich zum Scheitern Napo- leons beitragen. Denn in Spanien kam es im März 1808 zu einer innenpolitischen Aus-

30 Tagebuch der Johanne Friederike von Friesen (wie Anm. 1), Bl. 225. 31 Vgl. Rainer Karlsch/Michael Schäfer: Wirtschaftsgeschichte Sachsens im Industriezeitalter. Leipzig: Ed. Leipzig 2006, S. 28. 32 Tagebuch von Friesen (wie Anm. 1), Bl. 226. 33 Zur Lage nach dem Tilsiter Frieden vgl. Schmidt, Napoleon I. (wie Anm. 29), S. 348f.

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einandersetzung, ob man die Partei Frankreichs oder Großbritannien ergreifen sollte. Der Frankreich zugeneigte König Karl IV. von Spanien musste zu gunsten seines Sohnes Ferdinand auf den Thron verzichten. Ferdinand wollte mit England gehen.34 Napoleon intervenierte dagegen. Er sandte erneut eine Armee über die Pyrenäen. Die französischen Truppen setzten sich gegen die spanische Armee rasch durch. Napoleon zwang beide Kontrahenten um die Krone abzudanken und proklamierte am 6. Juni 1808 seinen Bruder Joseph zum König von Spanien. Das führte überall im Lande zu Aufständen und entwickelte sich zu einem dauerhaften Kleinkrieg. Diese Form der kriegerischen Auseinandersetzung nannte man ‚Guerilla‘: Kleiner Krieg. Gemeint war damit, dass es nicht zu großen Schlachten kam, sondern kleine selbständig operierende Einheiten zermürbten die Gegner gleichsam durch Nadelstiche. Die Guerilla-Taktik führte auf französischer Seite zu brutalen Gegenmaßnahmen. Die Iberische Halbinsel blieb dennoch ein unlösbares Problem für Napoleon. 1808 stand er mit 180.000 Mann in Spanien. Im Dezember konnte er eine englische Invasionstruppe wieder aus Portugal verdrängen.35 Dann nutzte aber im April 1809 Österreich erneut die Lage, um Frankreich den Krieg zu erklären. Dieser Konflikt betraf Sachsen auch direkt, weil es als Mitglied des Rhein- bundes ein Truppenkontingent stellen musste. Das sächsische Territorium war in diesem Konflikt zwar nur ein Nebenkriegsschauplatz, aber durch Scharmützel an der Grenze zu Böhmen unmittelbar betroffen. An dieser standen sich sächsische und böhmische Soldaten als Feinde gegenüber. In einem dieser Gefechte wurde ein Bruder von Johanne Friederike Freiin von Friesen tödlich verwundet, wie ihr Tagebuch berichtet. Als sächsischer Dragoner sollte er mit seiner Einheit das Grenzgebiet zwischen Sachsen und Böhmen sichern, als er am 12. Juli, am Tag des Waffenstillstands zwischen Frankreich und Österreich, von einer Kugel getroffen wurde.36 Zwar waren die Soldaten gezwun- gen, sich als Feinde gegenüberzustehen und sich zu bekämpfen, aber die Stimmung in Sachsen schien durchaus nicht gegen Österreich gerichtet, sondern gegen die bestehen- den Verhältnisse. In der Bevölkerung spürte man eine antifranzösische Atmosphäre.37 Napoleon brauchte diesmal bis zum Herbst, um sich militärisch durchzusetzen. Inzwischen wurde der Frieden mit Russland brüchig. Denn seit Ende 1810 weigerte sich der Zar die Kontinentalsperre länger mitzumachen. Dass ein Krieg gegen Russland kein leichtes Unterfangen werden würde, war Napoleon klar.Das wusste er aus dem Winter - feldzug 1806/1807, als er bis nach Ostpreußen vordrang. Der Feldzug gegen den Zaren

34 Zu Napoleons Intervention auf der Iberischen Halbinsel vgl. ebd., S. 349–351. 35 Vgl. ebd., S. 352. 36 Tagebuch von Friesen (wie Anm. 1), Bl. 222. 37 Vgl. Roman Töppel: Die Sachsen und Napoleon. Ein Stimmungsbild 1806–1813. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2008, S. 115ff.

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wurde daher mit großer Sorgfalt vorbereitet.Im Jahre 1812 hatte Napoleon insgesamt ein Heer von 1,1 Millionen Mann unter Waffen. Seine Invasion nach Russland begann er mit einer Armee von 560.000 Mann.Nur die Hälfte der Soldaten kam aus Frankreich, die andere Hälfte aus Spanien, den deutschen Ländern, Polen und Italien. Sachsen stellte ein Kontingent von 21.000 Mann. Diese Invasionsarmee vermochte zwar am 15. Septem - ber bis nach Moskau vorzudringen, die Stadt war aber niedergebrannt worden, so dass die Grande Armée dort nicht überwintern konnte. Der Zar verweigerte jegliche Friedens - verhandlungen. Dennoch blieb Napoleon bis zum 19. Oktober in Moskau. 38 Erst dann begann der Rückzug. Nur ein Drittel des Weges zwischen Moskau und Warschau gelang in geschlossener Formation. Regen und Schlamm, Schnee und Eis behinderten den Marsch. Hunger und Durst führten zu Schwäche und Krankheit. Bewaffnete Bauern, Kosaken und die russische Armee setzten den Fliehenden zu. Von der Armee aus 560.000 Mann erreichten 10.000 einigermaßen geordnet Königsberg. Weitere 40.000 Versprengte trafen nach und nach ein. 100.000 gerieten in russische Gefangenschaft. Der Rest, mehr als 400.000 Menschen, waren tot. Napoleon selbst verließ das Heer am 5. Dezember, weil sich in Paris das Gerücht verbreitet hatte, er sei tot. Daraufhin bildete sich eine provisorische Regierung. Napoleon eilte daher in die französische Hauptstadt, um wenigstens dort zunächst die Lage für sich zu retten.39 In Europa geriet die Ordnung, die Napoleon dem Kontinent aufgezwungen hatte, aber dennoch ins Wanken. Eine antifranzösische, national gesonnene Empörung er- griff Preußen und die norddeutschen Territorien. Unter dem Eindruck der verlorenen Kriege und der Fremdherrschaft schlug der Begriff ‚Nation‘, also eine Gemeinschaft von Menschen mit gemeinsamen kulturellen Merkmalen, in die Bedeutung des Nationalstaats um. Damit stand man jeder Fremdherrschaft ablehnend gegenüber.40 In Österreich und den Rheinbundstaaten fand dieser aufkeimende Nationalismus weniger Nährboden. Allerdings agitierte Theodor Körner, ein in Dresden geborener Dramatiker und Dichter, der seit dem Sommer 1812 ein Engagement am Wiener Burgtheater hatte, für eine militärische Erhebung der Völker gegen Napoleons Herr- schaft. Er dichtete: „Dies ist kein Krieg, von dem die Kronen wissen, / es ist ein Kreuz- zug, ist ein heiliger Krieg.“ 41 Die Regierungen und Monarchen der beteiligten Staaten blieben auch ohne nationale Leidenschaft.42

38 Zum Russlandfeldzug Napoleons vgl. Schmidt, Napoleon I. (wie Anm. 29), S. 357–359. 39 Vgl. ebd., S. 359. 40 Vgl. Wolfgang Schmale: Geschichte Frankreichs. Stuttgart: Ulmer 2000, S. 323. 41 Diese Zeilen stammen aus der Gedichtsammlung Leyer und Schwerdt. In dem Gedicht Aufruf forderte Theodor Körner das deutsche Volk auf, sich gegen die französische Bevormundung zu wehren. Vgl. Theodor Körner: Leyer und Schwerdt. Von dem Vater des Dichters verwaltete Ausgabe. Wien: o.V. 1814, S. 40-42, hier S. 40. 42 Vgl. Schmidt, Napoleon I. (wie Anm. 29), S. 359f.

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Napoleon gelang es zunächst, im Jahre 1813 erneut ein Heer aus 450.000 Soldaten aufzu - stellen. Seine Gegner – Russland, England und Preußen – schlossen Mitte Juni 1813 eine Koalition – weniger gegen Frankreich, sondern mehr noch um das europäische Gleich- gewicht wiederherzustellen. Das entsprach eher den Machtinteressen der Beteiligten als die Hegemonie Napoleons. Die antinapoleonische Koalition versuchte nicht, Sachsen in ein Bündnis einzubeziehen. Denn Preußen und Russland hatten im Vertrag von Kalisch eine Vereinbarung getroffen, die es Preußen erlaubte, Sachsen zu annektieren. Aus diesem Grund näherte sich der sächsische König wieder Österreich an und war gewillt, sich auch den Bündnispartnern Russland, England und Preußen anzuschließen.43 Sachsen ent - wickelte sich in der Auseinandersetzung zum zentralen Schlachtfeld dieses Jahres. Im Frühjahr 1813 siegte Napoleon zuerst in der Schlacht bei Großgörschen bzw. Lützen, dann bei . Am 26. August 1813 setzte er sich in der Schlacht bei Dresden durch. Im Jahre 1813 erlebte auch der 15-jährige Curt Robert Freiherr von Welck an seinem Geburtsort Meißen die Schrecken des Krieges.44 Sein Tagebuch dokumentiert, wie die Alltäglichkeit des Krieges in das Bewusstsein eines Heranwachsenden eindrang. Am 12. März 1813 findet sich die erste Eintragung Robert von Welcks über französische Truppen. Welck hatte von morgens um 7 bis 19 Uhr Latein, Englisch, Französisch, Ge- schichte, Geometrie gepaukt, Klavier geübt, noch einmal Latein und Griechisch gelernt bzw. vorbereitet. Dann heißt es im Tagebuch, es seien viele Franzosen nach Meißen gekommen. In der ganzen Stadt gab es Einquartierungen, und von Welck schreibt:45

Abends wurde noch bestimmt daß die Brücke sollte verbrannt werden, doch legten wir uns nieder. ¾ 12 U[hr] wurden wir geweckt, und gingen auch an die Trübsche[46] hinunter, wo sehr viel Menschen waren. Es gewährte einen fürchterlichen aber pompösen Anblick; eine ganz ruhige Nacht war es, es wehte nicht ein Lüftchen, der Mond schien etwas, vorzüglich das Einstürzen der beyden [Brücken-]Bögen, war vorzüglich etwas herrlich anzusehen. – Um ½ 2 U[hr] brannte nichts mehr und nicht der geringste Schaden war außerdem angerichtet wurden. Die brennen- den Bogen schwammen noch weit hinunter. – Wir legten uns nieder.

43 Vgl. Kretzschmar, Vom alten Reich zum Deutschen Bund (wie Anm. 5), S. 304. Vgl. auch Blaschke, Von Jena 1806 nach Wien (wie Anm. 12), S. 147f. 44 Zur Konstituierung des adeligen Bewusstseins am Beispiel von Curt Robert von Welck vgl. Josef Matzerath: „Während wir aßen kam der Kaiser“: Konstanz oder Bedeutungswandel des Adels zwischen 1805/6 und 1813? In: Zäsuren und Kontinuitäten im Schatten Napoleons. Eine Annäherung an die Gebiete des heutigen Sachsen und Tschechien zwischen 1805/06 und 1813. Hg. v. Oliver Benjamin Hemmerle/Ulrike Brummert. Hamburg: Verlag Dr. Kova 2010, S. 25–35. 45 Sächs. HStA Dresden, Grundherrschaft Radibor, Familiennachlass v. Welck, Curt Robert v. Welck, Bündel 1, unfoliert, Tagebuch vom 12. März 1813. 46 Die Triebisch ist ein Flüsschen, das bei Meißen in die Elbe mündet.

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Sachsen während der napoleonischen Zeit

Am nächsten Morgen, noch vor sieben Uhr, waren alle Franzosen wieder auf den Bei- nen und verließen Meißen. „Es war ein entsezlicher Lärm und Tumult“, schrieb von Welck in sein Tagebuch.

Traurige Überreste der Meißner Elbbrücke, gezeichnet nach der am 12. März 1813 auf Befehl des Marschalls Dareust geschehene Abbrennung [1813]

Schon am folgenden Tag, am 13. März 1813, vermerkte er: „Kosacken streichen auf dem ganzen jenseitigen Ufer herum.“47 Sie setzten aber einstweilen noch nicht über die Elbe. Dazu kam es erst am 27. März 1813. Robert von Welck traf zunächst bei einem Spaziergang auf eine Gruppe von etwa 80 russischen Uhlanen. Diese Soldaten ließen „sich aus der Stadt Schnaps und Brot kommen“, ritten „dann aber wieder fort“. Als von Welck und die anderen Spaziergänger wieder in die Stadt herabstiegen, bemerkten sie, dass an der Elbe Kosaken landeten. Er notierte im Tagebuch: „die Kosacken saßen in Kähnen und die Pferde schwammen hinterher.“48 Aber auch diese Truppen zogen ohne nennenswerte Zwischenfälle oder Kampfhandlungen weiter. Einen unerwarteten Aspekt des Kriegsgeschehens zeigt hingegen eine Eintragung vom 21. Oktober 1813, als von Welck schrieb: „Ich kaufte einen Pfeil den heute ein Baschkir auf einen Franzosen geschossen hatte.“ Zwei Tage später drangen exotische Kämpfer, nämlich Baschkiren und Kirgisen, nach Meißen ein und machten mit ihren Flitz - bogen Jagd auf die Franzosen. Sie nahmen laut von Welcks Tagebuch „noch auf den

47 Tagebuch v. Welck vom 13. März 1813 (wie Anm. 45). 48 Ebd., 27. März 1813.

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Gassen [Meißens] sehr viel Franzosen gefangen“. 49 Noch für denselben Tag, an dem die Pfeil-und-Bogen-Kämpfer nach Meißen kamen, berichtet von Welck, habe es am Abend den Befehl des russischen Kommandanten gegeben, die Stadt zu illuminieren und Vivatrufe auf den russischen Kaiser Alexander auszubringen. Gleichzeitig wurde in Meißen bekannt, dass nach der Leipziger Völkerschlacht im Oktober 1813 der sächsische König – wie von Welck schreibt – „sich hat in Leipzig fangen lassen“. 50 Von der Völkerschlacht und ihren vielen Toten steht nichts im Tage buch. Aber im Vorfeld des riesigen Gemetzels hatte es in Meißen bereits Kriegshandlungen gegeben. Ende September 1813 lieferten sich Franzosen und Russen bzw. Preußen Kanonenduelle über die Elbe hinweg und setzten dadurch Gebäude in Meißen sowie Teile des rechts - elbischen Dorfes Cölln in Brand. Am 2. Oktober 1813 berichtet von Welck, dass „russi- sche Jäger ... in Broschwitz[51] alles geplündert, zerhauen und mitgenommen“ haben. Da sie den Sohn des Besitzers Friedrich von Berlepsch „ganz ausgezogen“ hatten, flüchtet der in Bauernkleidern nach Meißen zur Familie von Welck.52 Am 6. Oktober zog ein französisches Regiment nach dem anderen durch Meißen. Robert von Welck ging zwar an diesem Tag nach St. Afra in die Schule, aber Unter- richt fand wegen der dauernden Durchmärsche kaum statt. Die Truppen trieben auch eine gestohlene Viehherde mit sich. Robert von Welck las und übersetzte in diesen Tagen in der Schule unter anderem Shakespeares Hamlet. Am Sonntag, den 10. Ok- tober 1813, überschneiden sich die Eintragungen des Tagebuches zum Schulstoff mit denen über die militärischen Geschehnissen auf seltsame Weise:53

Früh übersezte ich die Rede aus dem Hamlet, to be or not to be. Dann zeichnete ich bis gegen Mittag. Nachtisch ging ich mit der Mutter und Caroline[54] in die Moral=Stunde. Dann ritt ich mit Vieth auf die Leipziger Straße, wo sehr viel tode Pferde und – Menschen – liegen. Von Meißen bis auf den Rebock[55] zählt man 30, so an Mattigkeit gestorbenen Franzosen. – Ich blies Tschakan[56] und arbeitete französisch. Abends spielten wir alle mit H[einrich] Fiedler[57] Dippen.

49 Ebd., 21. Oktober 1813. 50 Ebd., 21. Oktober 1813. 51 Proschwitz war ein Meißen gegenüberliegendes Rittergut. 52 Tagebuch v. Welck vom 2. Oktober 1813 (wie Anm. 45). 53 Tagebuch v. Welck vom 10. Oktober 1813 (wie Anm. 45). 54 Eine mit Robert von Welck etwa gleichaltrige Heranwachsende der Meißner Gesellschaft, von der im Tagebuch immer nur der Vorname genannt wird. 55 Der Rehbock ist ein linkselbischer Berg stromabwärts von Meißen. 56 Gemeint ist ein Csakan, eine ungarische Stockflöte. 57 Der Pfarrerssohn Heinrich Ferdinand Gottlob Fiedler (1793–[unbekannt]) besuchte die Fürstenschule St. Afra in Meißen. Vgl. Afraner-Album. Verzeichnis sämmtlicher Schüler der Königlichen Landesschule zu Meißen von 1543 bis 1875. Meißen: Klinkicht 1876, S. 413.

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Sachsen während der napoleonischen Zeit

Schließlich wurde von Welck Zeuge eines Kriegsverbrechens: In Meißen war seit August 1813 ein französisches Lazarett im Dom untergebracht. Am 13. Oktober 1813 schreibt von Welck: „Alle Kranke sind eingeschifft worden, die Russen haben sie aber beschossen und die an das Ufer sich flüchtenden, haben Oestreichische Husa- ren vollends zusammen gehauen.“58 Fünf Tage später rapportiert das Tagebuch: „Nachtische gingen wir mit den Damen und Vieth spatzieren in den Klostergarten wo noch unbegrabene Franzosen liegen. – Den ganzen Nachmittag und Abend machte ich Verse, die entsezlich schwer sind.“59 Der Krieg zog zwar eher durch Meißen durch, als dass er ständig den Alltag des Robert von Welck bestimmte. Aber als die Kriegsmaschine über die Stadt rollte, machte auch der 15-jährige Robert Erfahrungen mit ihr, die ihn nicht unberührt lassen konnten. Er sah exotische Sol- daten, und am 7. Oktober 1813 beobachtete von Welck, wie Napoleon am Haus seiner Eltern vorüber ritt.60 Robert von Welck durchlebte gefährliche Situationen und Kriegszerstörung. Tod und menschliches Elend zogen in unmittelbarer Nähe an ihm vorüber. „Es arbeitete sich recht schwer“, schrieb er am 27. September 1813, „weil es immer etwas giebt“.61 Die entscheidende Schlacht des Jahres 1813 verlor Napoleon in der Ebene von Leipzig. Diese sogenannte Völkerschlacht tobte vom 16. bis 18. Oktober 1813.62 Da Sachsen zu- nächst auf der Seite Napoleons eingriff und seine Truppen erst im Verlaufe der Schlacht die Seiten wechselten, wurde es von den Alliierten später als besiegter Gegner behandelt. Es stand daraufhin einige Zeit unter russischer und später unter preußischer Verwal- tung. Auf dem Wiener Kongress ver hinderte lediglich das Eintreten Österreichs, Eng- lands und Frankreichs, dass Preußen sich Sachsen ganz einverleibte. Das Königreich Sachsen musste jedoch mehr als die Hälfte seines Territoriums mit etwa der Hälfte seiner Bevölkerung abtreten.63

58 Tagebuch v. Welck vom 13. Oktober 1813 (wie Anm. 45). 59 Ebd., 18. Oktober 1813. 60 Vgl. Matzerath, „Während wir aßen kam der Kaiser“ (wie Anm. 44), S. 35. 61 Tagebuch v. Welck vom 27. September 1813 (wie Anm. 45). 62 Zur Leipziger Völkerschlacht vgl. Katrin Keller: Die Völkerschlacht bei Leipzig. In: Europäische Erinnerungsorte. Bd. 2: Das Haus Europa. Hg. v. Pim de Boer/Heinz Duchhardt/Georg Kreis/Wolfgang Schmale. Müchen: Oldenbourg 2012, S. 421–430. Jan N. Lorenzen: 1813 – Die Völkerschlacht bei Leipzig. In: Die großen Schlachten. Mythen, Menschen, Schicksale. Hg. v. dems. Frankfurt a. Main: Campus Verlag 2006, S. 101–140. 63 Zur räumlichen Ausdehnung Sachsens vgl. Karlheinz Blaschke: Die Ausbreitung des Staates in Sachsen und der Ausbau seiner räumlichen Verwaltungsbezirke. In: Blätter für Deutsche Landesgeschichte 91 (1954), S. 74–109; ders.: Königreich Sachsen und thüringische Staaten. In: Deutsche Verwaltungsgeschichte. Hg. v. Kurt G.A. Jeserich/Hans Pohl/Georg-Christoph v. Unruh. Bd. 2, S. 608– 645; Thomas Klein: Kursachsen. In: Ebd., Bd. 1, S. 803–843; Thomas Klein: Grundriß der deutschen Verwaltungsgeschichte 1815–1945. Bd. 6: Provinz Sachsen, Bd. 14: Sachsen, Bd. 15: Thüringen. Marburg: Johann-Gottfried-Herder-Institut 1975, 1982 und 1983.

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Sachsen während der napoleonischen Zeit

Glossar

Haus Habsburg: Die Habsburger sind eine europäische Dynastie, die über Jahr- hunderte als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation von ihrem Stammland Österreich aus regierten | legalistisch: Starr an Paragraphen und Vor- schriften festhaltend | Welfen: Ein deutsches Adelsgeschlecht, das im 19. Jahrhun- dert sowohl Großbritannien als auch das Kurfürstentum und spätere Königreich Hannover regierte | Reichsverfassung: Die Bestimmungen des Westfälischen Frie- dens 1648 hinsichtlich der Reichsterritorien, der Landeshoheit sowie der konfes- sionellen Regelungen wurde als eine informelle Verfassung des Deutschen Reiches angesehen. Sie galt bis zur Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im Jahr 1806 | Rheinbund: Ein Staatenbund deutscher Fürstentümer (unter anderen Sachsen), der unter der Vormachtsstellung Napoleons 1806 ge gründet wurde | Geheimer Rat: Ein Kollegium von Räten, das den Landesherren unterstand und meist in Staatsangelegenheiten als Beratungsorgan diente | Kleinpotentat: Landesherr über kleine Herrschaftsgebiete | Haus Wettin: Ein deutsches Adels - geschlecht, das das Kurfürstentum, ab 1806 Königreich Sachsen regierte

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Sachsen zwischen Preußen und Österreich 1866

Josef Matzerath

Sachsen zwischen Preußen und Österreich 1866

Als Napoleon im Jahre 1813 in Dresden mit Metternich zusammentraf, sagte er ihm:1

Euere Herrscher, geboren auf dem Thron, können sich zwanzig Mal schlagen las- sen und doch immer wieder in ihre Residenzen zurückkehren; das kann ich nicht, der Sohn des Glücks. Meine Herrschaft überdauert den Tag nicht, an dem ich auf- gehört habe stark und folglich gefürchtet zu sein.

Rund ein halbes Jahrhundert später im Jahre 1866 kam es in Sachsen nach dem Deutsch- deutschen Krieg zu einer solchen Rückkehr nach einer militärischen Niederlage. Der sächsische König Johann wurde sogar triumphal empfangen, obwohl er künftig einen ganz anderen Weg gehen musste, als er mit aller Gewalt hatte durchsetzen wollen. Schon in den Anfangsmonaten des Jahres 1866 hatte sich in Sachsen die Erwartung ver- dichtet, dass für das Land entscheidende Ereignisse bevorstanden.2 Denn der Dualismus* zwischen Preußen und Österreich um die Vormachtstellung in Deutschland drohte in eine kriegerische Auseinandersetzung umzuschlagen. In Dresden tagte deshalb seit dem 26. Mai 1866 ein außerordentlicher Landtag,* um der Kriegsteilnahme Sachsens zustim- men und Kriegskredite zu bewilligen. König Johann stimmte die Landtagsmitglieder bereits durch seine Thronrede auf das ein, was die Staatsspitze von den Kammern er- wartete. Er sagte bei der feierlichen Eröffnung am 28.5.1866 im Dresdner Schloss: „In einer verhängnißvollen Zeit habe Ich Sie heute um Mich versammelt, wo Verwicklungen zwischen den deutschen Großmächten Deutschland mit einem blutigen inneren Kampfe bedrohen.“3 Und der König fuhr fort, es könne „nicht Aufgabe der unbetheiligten Staa- ten Deutschlands sein, für eine der streitenden Theile Partei“ zu nehmen. Statt für Öster- reich oder Preußen zu kämpfen, müsse Sachsen vielmehr mit den anderen deutschen Mittelstaaten „auf Erhaltung des bundesverfassungsmäßigen Landfriedens“ hinwirken und die „Streitfragen auf bundesrechtlichem Wege der Entscheidung“ zuführen.4

1 Zitiert nach:Elisabeth Fehrenbach:Vom Ancien Régime zum Wiener Kongress. München: Oldenbourg 2008,S. 128. 2 Vgl. Hellmut Kretzschmar: Geschichte der Neuzeit seit der Mitte des 16. Jahrhunderts. Achter Teil. Vom alten Reich zum Deutschen Bund 1806–1866. In: Sächsische Geschichte. Werden und Wandlungen eines Deutschen Stammes und seiner Heimat im Rahmen der Deutschen Geschichte. Hg. v. Rudolf Kötzschke/Hellmut Kretzsch - mar. Frankfurt a. Main: Verlag Wolfgang Weidlich 1965, S. 341–361, hier S. 358. 3 [o. V.]: Mittheilungen über die Verhandlungen des außerordentlichen Landtags im Königreich Sachsen während des Jahres 1866. Dresden: Teubner 1866, Nr. 1, S. 7. 4 Ebd.

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Sachsen zwischen Preußen und Österreich 1866

Dann spielte König Johann darauf an, dass Preußen Sachsen schon mit militärischen Maßnahmen gedroht habe, weil das Land erste Maßnahmen zur Mobilmachung eingeleitet hatte.5 Der König betonte aber noch einmal ausdrücklich, dass Sachsens „Wehrkraft unversehrt dem [Deutschen] Bunde zur Verfügung“ gestellt werden solle und nicht etwa Österreich. Der Mo- narch verkündete, er habe den Deutschen Bund „in versöhnlichem und friedlichem Sinne um seine Vermittlung angegangen“. Zugleich erklärte Johann aber: Ich habe „aber nunmehr auch zugleich Mein Heer unter die Waffen gerufen, um von keinem unvorhergesehenen Angriffe überrascht werden zu können; denn auch der Min- dermächtige würde sich entehren, wenn er unberechtigten Drohungen nicht mit König Johann von Sachsen [um 1870] männlichem Muthe entgegenträte.“6 Das war ein Bekenntnis zur virilen Militanz. Denn Johann spielte mit dem Klischee des drangsalierten Kleineren: Wenn jemand schlecht behandelt wird, darf er sich auch gegen einen Großen wehren. Die diplomatischen und strategischen Vorgänge werden durch diese Analogie so simplifiziert, als handele es sich bei einem Krieg zwischen Staaten um das Raufen auf einem Bolzplatz. Sachsens Widerstand gegen das starke Preußen soll als gerecht erscheinen. Dass es hier nicht ums Raufen, sondern um einen Krieg ging, der viele Tote fordern würde, blendete Johanns Rhetorik aus. Nach Aus- kunft des veröffentlichten Protokolls kam Johanns Rede bei den Landtagsmitgliedern und der anwesenden Hofgesellschaft auf ungewohnte Weise gut an. Das Wortprotokoll quittierte: „lang andauernden lebhaften Beifall“. Normalerweise wurde bei den Feier - lichkeiten zur Landtagseröffnung nicht einmal applaudiert und die Kammern des Parlaments spendeten den Rednern ihres Hauses nicht einmal während der Plenar- sitzungen Beifall.7

5 Vgl. Kretzschmar, Geschichte der Neuzeit (wie Anm. 2), S. 359. 6 Mittheilungen (wie Anm. 3), S. 7. 7 Vgl. Josef Matzerath: Krieg oder Parlament. Ein verdecktes Vabanquespiel von Monarch und Regierung. In: Aspekte sächsischer Landtagsgeschichte. Formierungen und Brüche des Zweikammerparlaments (1833–1868). Hg. v. dems. Dresden: Sächsischer Landtag 2007, S. 98–103, hier S. 98.

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Sachsen zwischen Preußen und Österreich 1866

Sachsens Fürst bekannte sich dann noch dazu, auf Preußens Vorschlag einer Reform der Bundesverfassung eingehen zu wollen.8 Am 9. April 1866 stellte Preußen einen Antrag auf Reform des Deutschen Bundes. Der Vorschlag sah die Einberufung eines nach direkten und allgemeinen Wahlrecht gewählten deutschen Parlaments vor und nicht mehr die Entsendung von Gesandten. Er sei „mit Freuden bereit“, sagte Johann, zu einer „den wahren Bedürfnissen Deutschlands entsprechenden, auf dem Wege des Rechts und unter Theilnahme von Vertretern der Nation ins Leben zu rufenden Reform der Bundesverfassung die Hand zu bieten.“9 Diese Deklaration, sich auf ein deutsches Parlament aus Volksvertretern einzulassen, führte sogar zu lautem Beifall. Die um den König Versammelten standen in ihrer Mehrheit liberalen oder gar demo - kratischen Gesellschaftskonzeptionen eher fern.10 Dennoch entfachte der Gedanken an einen deutschen Nationalstaat offenbar bei allen Anwesenden Enthusiasmus. Es stellt sich daher die Frage, welche Art von Nationalstaat sächsische Konservative und Traditionalisten vor Augen hatten, wenn sie an Deutschland dachten. Ganz ohne Zweifel konnte es sich aus dieser Perspektive nur um eine Monarchie handeln. Man dachte wohl an so etwas wie „Vereinigte Staaten von Deutschland“.11 Es sollte ein Gebilde entstehen, in dem kein Duodezfürst* oder etwa gar der sächsische König sei- nen rechten Platz vermisste. Auf alle Fälle sollte dieser deutsche Bundesstaat freiwillig entstehen und nicht als kriegerische Zwangsvereinigung durch Preußen oder Öster- reich. Da Johanns Vision vom deutschen Nationalstaat vage genug blieb, konnten alle Anwesenden bei der Landtagseröffnung Ende Mai 1866 kräftig mitjubeln. Sach- sens König ließ bei der berauschten Stimmung keinen Zweifel aufkommen, was er vom Landtag wollte. Er erinnerte in seiner Thronrede die „Herren Stände“ an ihren „bewährten patrioti- schen Sinn“ und erwartete, dass sie seiner „Regierung diejenigen finanziellen Ermäch- tigungen, welche die Lage der Dinge“ nötig mache,12 bewilligten. Der Aufruf des

8 Vgl. Jonas Flöter: Beust und die Reform des Deutschen Bundes 1850–1866. Sächsisch-mittelstaatliche Koalitions - politik im Kontext der deutschen Frage. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2001, S. 474ff. Vgl. dazu Winfried Baumgart: Bismarck und der deutsche Krieg 1866. Im Lichte der Edition von Band 7 der „Auswärtigen Politik Preußens“. In: Historische Mitteilungen 20 (2007), S. 93–115, hier S. 101f. Vgl. auch Kretzschmar, Geschichte der Neuzeit (wie Anm. 2), S. 359. 9 Mittheilungen (wie Anm. 3), S. 7. 10 Welchen weltanschaulichen Ausrichtungen die Mitglieder der beiden Landtagskammern nahestanden, lässt sich aufgrund des Wahlrechts nicht präzise erfassen. Die Umbrüche der Landtagsgeschichte während der Jahre 1848 und 1850 legen die Annahme eines hohen Anteils konservativer Monarchisten allerdings nahe. Vgl. Josef Matzerath/ Uwe Ulrich Jäschke: Aspekte sächsischer Landtagsgeschichte. Die Mitglieder und Wahlbezirke der sächsischen Landtage (1833 bis 1952). Teil I und III: 1833–1918, Dresden 2011. 11 Zur Idee eines solchen Staatsgebildes. Vgl. Otto Meißner: Die Vereinigten Staaten von Deutschland und ihr Verhältnis zu Europa. Hamburg: o. V. 1860. 12 Mittheilungen (wie Anm. 3), S. 7.

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Königs verhallte nicht ungehört in den beiden Kammern des sächsischen Land- tags. Im selben Ton wie Johann eröffnete auch der Präsident der Zweiten Kammer, Daniel Ferdinand Ludwig Haberkorn, am selben 28. Mai 1866 die erste öffent- liche Sitzung des Unterhauses:13

Meine Herren! Nur in dringenden Angelegenheiten erfolgt die Einberu- fung eines außerordentlichen Land- tags, und dass die derzeitigen politi- schen Constellationen den Ruf ‚Das Vaterland ist in Gefahr‘ rechtfertigen, beweisen die kriegerischen Maßregeln, welche bei [uns] und rings um uns ge- troffen werden. Ludwig Haberkorn [vor 1873]

Der Handel stocke, meinte Haberkorn, und die Menschen hätten Angst vor dem „Ausbruch eines Bruderkrieges“. In dieser Lage wolle die Regierung „die Stimme des Landes vernehmen“. Als persönlichen Wunsch sprach der Präsident der Zweiten Kammer aus, es möge „ohne Schädigung der deutschen und sächsischen Ehre und Interessen gelingen, den Frieden zu erhalten“. Die streitenden Parteien sollten sich „der schweren Verantwortlichkeit vor Gott und den Menschen bewusst bleiben, welche Denjenigen trifft, welcher ohne Noth Blutvergießen und die Gräuel eines Bruderkrieges verschuldet.“14 König Johann und die sächsische Regierung hatten sich jedoch längst entschieden, welche Partei sie in der bevorstehenden militärischen Konfrontation ergreifen wollten. Man beabsichtigte, mit Österreich zu gehen und entweder gemeinsam mit Bayern militärischen Widerstand zu leisten oder sich mit der Armee vor einem Angriff über- legener preußischer Truppen auf habsburgisches Territorium zurückzuziehen. Eine Allianz mit Preußen wäre gegen den Willen des Königs und der Regierung nicht durchführbar gewesen.15 Am 24. März 1866 hatte Preußen in einer königlichen

13 Mittheilungen über die Verhandlungen des außerordentlichen Landtags im Königreich Sachsen während des Jahres 1866. Dresden: Teubner 1866, II. Kammer, Nr. 1, S. 1. 14 Ebd. 15 Vgl. Andreas Neemann: Landtag und Politik in der Reaktionszeit. Sachsen 1849/50 bis 1866. Düsseldorf: Droste 2000, S. 482; Kretzschmar: Geschichte der Neuzeit (wie Anm. 2), S. 358.

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Depesche in Sachsen angefragt, ob es ihm Unterstützung gegen einen österreichischen Angriff gewähren würde. In seiner Antwort verwies Dresden Berlin gegenüber auf die Deutsche Bundesakte*aus dem Jahre 1815.Darin hatten sich die Staaten des Deutschen Bundes untereinander verpflichtet „einander unter keinerley Vorwand zu bekriegen, noch ihre Streitigkeiten mit Gewalt zu verfolgen, sondern sie bey der Bundes - versammlung anzubringen“.16 Trotz dieser Rechtslage waren Sachsens Chancen, neutral zu bleiben, schon wegen der geographischen Lage zwischen beiden Großmächten begrenzt. Die sächsische Armee begann jedenfalls schon einmal Pferde anzukaufen und zog vorzeitig Rekru- ten ein. Die preußische Regierung verstand diesen Schritt durchaus richtig als bevorstehende Parteinahme für Österreich. Berlin verlangte deshalb, die Rüstung einzustellen, und drohte andernfalls mit militärischen Aktionen gegen Sachsen. Ende Mai, als der sächsische Landtag zusammenkam, stellte die Regierung einen Antrag an das Parlament, der verschwieg, dass auch Österreich forderte, ihm das sächsische Militär zu Verfügung zu stellen. Auf diese Weise konnte behauptet wer- den, die sächsische Mobilmachung* sei rein defensiv. Preußen habe die Maßnahme nur mutwillig als Aggressionsabsicht gedeutet. Der nördliche Nachbar suche einen Vorwand für eigene Militäraktionen gegen Sachsen.17 Ohne die Allianzpläne mit der habsburgischen Großmacht nahm sich dann der Kon- flikt zwischen Dresden und Berlin aus wie der Versuch einer schlecht kaschierten Überwältigung. Die sächsische Regierung erklärte im Parlament, sie unterliege der18

gebieterischen Pflicht […], Alles zu thun, was auch ein kleiner Staat den Drohun- gen eines übermächtigen Nachbars gegenüber zu thun verpflichtet ist, um seine Ehre aufrecht zu erhalten, seine Armee zu retten und die Interessen des Landes soweit irgend thunlichst zu schützen und zu vertheidigen.

Dazu benötige sie einen einmaligen Mehraufwand von 4,65 Millionen Talern. Als die Zweite Kammer des Landtages am 5. Juni 1866 über die Bewilligung dieser Kriegs- kosten beriet, schloss sich die Finanzdeputation* des Unterhauses dem Wunsch der Re- gierung an. Der Abgeordnete Franz August Mammen, ein liberal eingestellter Kaufmann aus Plauen, trug dem Plenum als Referent die Ansichten der Finanz deputation vor. Er stellte klar, dass nach der Ansicht des Ausschusses die Gelder „nur dazu dienen [sollten],

16 Protokolle der deutschen Bundes-Versammlung, Dritter Band, Erstes Heft. Frankfurt a. Main: Verlag der Andreäischen Buchhandlung 1817, S. 41. 17 Vgl. Neemann, Landtag und Politik (wie Anm. 15), S. 482. 18 Mittheilungen über die Verhandlungen des außerordentlichen Landtags Königreich Sachsen während des Jahres 1866. Dresden: Teubner 1866, II. Kammer, Nr. 4, S. 21.

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um fern von jeder einseitigen Partheinahme die Interessen Sachsens und des gesamten deutschen Vaterlandes zu wahren.“19 Die Finanzdeputation hatte sich wegen dieser Zweckbindung noch einmal bei den Regierungsvertretern rückversichert und die könig- lichen Kommissare, die die Verhandlungen mit dem Parlament führten, gaben erneut die Auskunft, die Thronrede habe sich schon eindeutig zur neutralen Position Sachsens bekannt. Zudem gaben die Regierungsvertreter die Versicherung, dass „gegenwärtig und für die Zukunft die Absichten der Regierung dahin gehen, für keinen der streitenden Theile einseitig Partei zu ergreifen“. Mammen resümierte, diese Auskunft der Staatsspitze sei so „fest und bündig, dass sie der Befürchtung, die sächsische Regierung werde im Falle eines Krieges einseitig die Partei Oesterreichs ergreifen, keinen Raum“ gebe.20 Mammen definierte sodann die ökonomischen Interessen des Landes:21

Sachsen hegt die freundlichsten und wohlwollendsten Gesinnungen für das öster- reichische Volk; es kann aber auch keinen Augenblick zweifelhaft sein, daß die geistigen und materiellen Interessen dasselbe unauflöslich verknüpft mit dem preu- ßischen Volke. Es wäre Frevel, wenn man selbst die Axt an den Baum legen wollte, dessen Früchte bis jetzt die besten gewesen sind, die ein Verein deutscher Regie- rungen je dem Volke geboten hat. Wer den [Deutschen] Zollverein sprengt, zer- stört den Wohlstand und die ganze volkswirtschaftliche Entwicklung aller Staaten, die ihm angehören.

Die sächsische Wirtschaft war demnach auf den von Preußen dominierten Deutschen Zollverein existentiell angewiesen. Um den drohenden Krieg zwischen Preußen und Österreich abzuwenden, schien nach Ansicht der Landtagsdeputation, für die Mammen sprach, nur noch ein Weg offen zu stehen: „die schleunige Einberufung eines deutschen Parlaments“.22 Denn es sei doch ganz offensichtlich, dass die preußische „Regierung, welche mit dem Volke im eigenen Lande in Unfrieden lebt, in jeder Hinsicht nicht im Sinne der weitaus großen Mehrheit des preußischen Volkes handelt“. Es mussten daher nach Mammens Ansicht rasch legitimierte Vertreter des Volkes aller deutschen Staaten her. Nur sie könnten den konfliktträchtigen Machtdrang vor allem der preußischen Re- gierung ausbremsten. Es drohe in ganz Deutschland ein volkswirtschaftlich unüber- sehbarer Schaden. Deshalb schlug Mammen im Auftrag der Finanzdeputation der Zweiten Kammer vor, der sächsische Landtag solle von seiner Regierung fordern, dass

19 Ebd., S. 23. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Ebd.

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sie energisch für „Wahlen zum deutschen Parlamente auf Grund allgemeiner und directer Wahl in ganz Deutschland“ eintrete.23 Da höchste Dringlichkeit vorliege, solle nach dem Reichswahlgesetz gewählt werden, das die Frankfurter Paulskirche am 27. März 1849 verabschiedet hatte. Die Wahlen sollten noch im Juni 1866 durchgeführt werden, und das Parlament aller deutschen Länder in kürzester Frist zusammenkommen.24 Dieser Plan spekulierte also damit, dass eine nationale Dynamik entstehen könnte, wenn alle erwachsenen Männer Deutschlands zur Wahl gerufen würden. Das Gros der deutschen Männer durfte auf- grund des Zensuswahlrechts in den Einzelstaaten bislang nicht wählen. Es sollte eine nationale Hochstimmung entfacht werden, die den Krieg zwischen Österreich und Preußen unmöglich machte. Der preußische Kanzler Otto Graf von Bismarck hatte bereits mit dem allgemeinen Wahlrecht für erwachsene Männer gewunken. Preußen wollte durch demokratisch egalitäre Affekte für sich Stimmung machen.25 Denn es gab in der deutschen Öffent- lichkeit einen erheblichen Missmut gegen die preußischen Kriegstreibereien. Eine allzu rasch wieder erwachte Nationalbewegung musste allerdings nicht unbedingt zu Preußens Vorteil ausschlagen. Sie hätte vielmehr den Entscheidungsspielraum der antagonistischen* Kabinette in Wien und Berlin einschränken können. Wenn ein derartiges Potenzial für die Friedenserhaltung überhaupt zu gewinnen war, dann musste es an die Breitenwirkung anknüpfen, die die Revolution von 1848/49 erzielt hatte. Aus heutiger Perspektive ist ein solcher Rückbezug wenig beunruhigend. Man muss sich aber klar machen, was dem sächsischen Landtag darin abverlangt wurde. Das Parlament Sachsens war seit Sommer 1850 wieder nach dem Wahlrecht aus dem Vormärz zusammengesetzt. Dazu war ein Verfassungsbruch notwendig ge- wesen.26 Jetzt forderte Mammen, die sächsische Regierung solle wieder eine nationale Bewegung mit egalitären Tendenzen entfachen.27 Noch zwei Jahre zuvor, beim Landtag 1864, hatte die Zweite Kammer sich mit großer Mehrheit gegen die Wiedereinführung des allgemeinen Männerwahlrechtes aus - gesprochen. Selbstverständlich regte sich auch im Mai 1866 Widerspruch. Nicht jeder hielt es für eine gute Idee, einen national-revolutionären Geist zu entfesseln, um einen deutsch-deutschen Krieg zu verhindern. Beispielsweise polemisierte der Abgeordnete

23 Ebd. 24 Ebd. 25 Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte – 3: Von der "Deutschen Doppelrevolution" bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914. München: Beck 1995, S. 279–282 und 292–294. 26 Josef Matzerath: Finis Saxoniae. Eine verfassungswidrige Wahlrechtsänderung im Sommer 1850. In: Aspekte säch- sischer Landtagsgeschichte. Formierungen und Brüche des Zweikammerparlaments (1833–1868). Hg. v. dems. Dresden: Sächsischer Landtag 2007, S. 83–87. 27 Mittheilungen (wie Anm. 18), S. 23.

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der Oberlausitzer Rittergutsbesitzer, Hermann von Nostitz-Wallwitz, ein deutsches Parlament, das auf einem allgemeinen Wahlrecht beruhe, verleugne den „geistigen Charakter des Volkes“. Das allgemeine Wahlrecht rufe doch auch die wenig gebildete Masse zu den Urnen. Das sei ein „Volkszahlsystem“ schimpfte Nostitz-Wallwitz. Der politische Einfluss der Masse sei „auf die Dauer“ nicht mit einem „constitutionell- monarchischen Regiment“ vereinbar.28 Von der Gegenseite konterte Hermann Friedrich Theodor Schreck, ein Advokat aus , der als Abgeordneter die Städte seiner Region vertrat.29 Schreck argumentierte: Wenn Sachsen weder preußisch noch österreichisch werden wolle, könne es nur für die Einberufung eines deutschen Parlamentes votieren. Zwar habe die sächsische Regierung sich auch für diesen Weg ausgesprochen. Aber das habe sie ja bereits im Revolutionsjahr 1848, beim Dreikönigsbündnis 1849 und auf dem deutschen Fürsten - tag 1863 in unterschiedlichen Varianten befürwortet und dann wieder verworfen. Schreck sprach die Hoffnung aus, dass nun beim vierten Anlauf die sächsischen Minister nicht noch einmal einen Rückzieher machen würden.30 Der liberale Redner erinnerte daran, dass außer dem Wunsch nach einem deutschen Parlament noch andere Forderungen seiner politischen Freunde offen stünden. Sachsen habe beispielsweise immer noch kein liberales Presse-, Vereins- und Ver- sammlungsrecht. Dennoch müsse man nun den kriegstreiberischen Kabinetten in Wien und Berlin entgegentreten, um das Wettrüsten zu beenden, das im Streit um die Vormachtstellung in Deutschland lediglich das Vermögen des Volkes verschleu- dere, statt auf seine Stimme zu hören. Schreck klagte: Es stünden inzwischen in Deutschland eineinhalb Millionen Männer unter Waffen, die „der Arbeit, dem Berufe und ihren Familien und dem edleren Streben des Volkes entzogen“ seien. Die Armeen kosteten monatlich 100 Millionen Taler. Dadurch gingen „dem Volke Milliarden an seinem Privateigenthum verloren“. Zugleich würden „Tausende an Familien unglücklich und [verlören] ihr Alles und ihr Glück“. Hinter Webstuhl und Pflug wische sich „der deutsche Mann […] den Schweiß der Arbeit von der Stirn, […] deren sauer verdienten Lohn er hinträgt, um die großen Armeen zu bezahlen. Und das Alles geschieht ohne irgendwelchen Erfolg! blos um zu zeigen, wer die meisten Soldaten hat!“31 Das Gebahren der deutschen Großmächte sei doch ein „sittlich=häßliches Schau- spiel“, wobei Sachsen weder hierhin noch dorthin neigen könne. Denn Öster-

28 Ebd., S. 29. 29 Schreck war Abgeordneter für Hohnstein, Wehlen, Schandau, Pirna, Königstein, Lauenstein, Neugeising, Lieb- stadt, Bärenstein, Berggießhübel, , Gottleuba, Dippoldiswalde und Rabenau. 30 Mittheilungen (wie Anm. 18), S. 32. 31 Ebd., S. 31.

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reich sei „der Sitz der principiellen Reaction“, seine Finanzkraft erschüttert und der dortige Staat „ein schwerer Patient“. Schreck scheute sich nicht nachzufragen, ob denn das Gerücht stimme, dass die sächsische Regierung „im Stillen ein Bünd- niß“ mit Österreich geschlossen habe. Er hoffe, man könne sich auf das Wort des Königs verlassen, der in der Thronrede versichert habe, Sachsen werde neutral bleiben.32 Denn auch in der Hinwendung zu Preußen sah Schreck keine Alternative. Dort breche bekanntlich die Regierung „von Monat zu Monat die Verfassung“, unter- grabe „durch Militärherrschaft den Wohlstand des Volkes“ und wolle nun alle Welt ernsthaft glauben machen, Sachsen beabsichtige, den neunmal größeren Staat der Hohenzollern* anzugreifen. In Berlin werde man demnächst auch noch für glaubhaft halten, dass die sächsische Regierung „eine Elbflotte habe herstellen [lassen], um die preußische Marine zu bedrohen“.33 Unter diesen Umständen sah sich Schreck genötigt, das Geld für die sächsische Mobilmachung zu bewil- ligen, damit das Land neutral bleiben könne. Auch der sächsische Außenminister von Beust griff in die Debatte ein. Er ver - sicherte den Abgeordneten der Zweiten Kammer noch einmal, dass Sachsens Beziehungen zu Österreich „durch keine andere Betrachtung bedingt worden [seien], als: gewissenhafte Erfüllung der Bundespflichten und genaue, gewissen- hafte Beobachtung der eigenen Landes- interessen“.34 Der Minister antwortete in seiner Rede auf viele Bedenken, die von Kammermitgliedern geäußert wor- den war. Er beruhigte explizit den Ab- geordneten Schreck: Es gebe kein ge - heimes Bündnis mit Österreich, und von Beust schloss mit dem Appell,35 Friedrich Graf Beust [vor 1868]

32 Ebd. 33 Ebd., S. 32. 34 Ebd., S. 49. 35 Ebd., S. 53.

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daß die hohe Kammer für die Erhaltung des Friedens und für die gute Gestaltung in Deutschland etwas sehr Wesentliches thut und thun wird, wenn sie der Regie- rung vertrauensvoll die Mittel gewährt, um ihre Selbständigkeit und ihre bundes- mäßige Haltung zu behaupten und zu verthei digen, und wenn sie zugleich zu er kennen giebt, daß sie für den Ernst der Bundesreform der Regierung vertraut.

„Bravo“, scholl es aus den Reihen der Landtagsmitglieder zurück, und am Ende der Debatte entschied sich die Mehrheit der Zweiten Kammer für den Vorschlag, den der Referent der Finanzdeputation Mammen ganz im Sinne der Staatsspitze vorgetragen hatte. Auch die Erste Kammer stimmte am 8. Juli 1866 Vorlagen zu, die die Absichten der Regierung billigten. Hinter den Kulissen aber erschrak Carl von Weber,36 der Protokollant der sächsischen Regierung. Denn von Weber wusste, dass der sächsische Außenminister entgegen seiner Erklärung in der Zweiten Kammer längst mit Wien paktiert hatte. In sein Tagebuch schrieb von Weber:37

Zu dieser Zeit war ein österr[eichischer] General unter anderm Namen hier ge- wesen, der schriftliche Vertrag mit Oesterreich war abgeschloßen vielleicht ohne daß der König es wusste, da die Sache bloß zwischen Beust und [Kriegsminister Bernhard von] Rabenhorst verhandelt worden. [Innenminister Richard Freiherr von] Friesen erfuhr es erst[,] als alles abgeschloßen war. Als nun Beust jene Worte in der Kammer gesprochen [hatte,] sagte ihm Friesen, aber wie können Sie nur so Etwas sagen, der Vertrag liegt ja vor. Beust antwortete[:] ja ich kann mich jetzt nicht vor den Kammern bloß geben. Siegen wir, so ist Alles gut, kein Mensch wird fragen[,] was vorhergegangen ist, werden wir besiegt, so ist Alles verloren, Sachsen hört auf und dann ist es auch gleich[,] was ich gesagt habe.

Es ist selbstverständlich äußerst bedenklich, wenn die Volksvertreter von der Regie- rung vor einem Krieg belogen werden. Wichtiger ist aber etwas anderes: Wenn man den Liberalen in der sächsischen Kammer zuhört, wird klar, dass es in ihren Kreisen keinen naiven Preußenhass gab. Die klugen und gut informierten Männer aus der

36 Zu Carl von Weber vgl. Cäsar Dietrich v. Witzleben: Dr. Karl von Weber. In: Archiv für die Sächsische Geschichte, NF, Bd. 6, 1880, S. 356–382; Hellmut Kretzschmar: Karl von Weber, Berichte über die Verhandlungen der Säch- sischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Berlin: Philologisch-historische Klasse 1958; Kurt Wensch: Ar- chivgeschichte und Genealogie. Zur sozialen Herkunft leitender sächsischer Archivare. In: Reiner Groß/Manfred Kobuch: Beiträge zur Archivwissenschaft und Geschichtsforschung. Weimar: Böhlau 1977, S. 145–167; Aus dem Tagebuch weiland des Geheimrats und Direktors des Königl. Sächsischen Hauptstaatsarchives Dr. Carl von Weber in Dresden. In: Konservative Monatsschrift, März 1897, S. 239–262; Den Manen Carl v. Webers. In: Leipziger Zeitung. Wissenschaftliche Beilage, 1879, S. 356 und 389–391; ADB, Bd. 41, S. 345–349. 37 Sächs. HStA Dresden, Nachlass Carl von Weber, Tagebücher, 5. Bd., 28. Mai 1866.

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Wirtschaft hatten einen klaren Begriff davon, was ein Krieg kostete. Sie wussten sehr genau, wohin Sachsen seine Exporte lenkte. Der Deutsche Zollverein unter Preußens Leitung war die Basis für den sächsischen Wohlstand.38 Österreich hingegen bot kei- nen interessanten Markt.39 Politisch erwarteten sich die sächsischen Liberalen weder von Preußen noch von Habsburg eine besondere Aufmerksamkeit gegenüber den allgemeinen Bürgerrechten. Sachsens König und Regierung kalkulierten ganz anders: Bei ihnen gab eine langfris- tige Strategie den Ausschlag für Österreich.40 Der sächsische Außenminister von Beust stand für eine Nähe zu Österreich. Er hoffte, dass Wien Sachsen mehr Bewegungs- freiheit lassen werde, als es von Berlin aus zu erwarten hatte. König Johann schloss sich dem offenbar an. Er hat wohl auch von Beusts zynischen Umgang mit dem Par- lament tatkräftig mitgetragen. Für König Johann war das Parlament zumindest 1866 nur ein Instrument, um seine Politik zu finanzieren. Danach wurde der Landtag mit etwas Gastfreundschaft verwöhnt und nach Hause geschickt. Am Donnerstag den 14. Juni 1866 gab nämlich König Johann für die beiden Kammern anlässlich des Land- tagsabschiedes noch ein Essen in Pillnitz. Carl von Weber berichtet darüber: „Diner in Pillnitz mit reglementwidrigem 6fachen Hoch auf den König, worüber die bloß an 3 Vivats gewöhnten Hoftrompeter das Blasen vor Maulaufsperren vergaßen“. Und das Tagebuch fährt fort: „Wir stehn also [...] am Vorabend eines furchtbaren Krieges.“ Und noch am selben Donnerstag, den 14. Juni 1866, verzeichnete von Weber die ersten Ankündigungen für eine preußische Invasion:41

Hohenthal [d.i. der sächsische Botschafter in Berlin: Carl Adolph Graf von Hohenthal] telegraphirte aus Berlin, daß Preußen in der Nacht vom Freitag zum Sonnabend in Sachsen einrücken werde. Beust glaubt es nicht, aber die Andern.

König Johann, seine Familie, die meisten Minister und die sächsische Armee bereite- ten sich jedenfalls darauf vor, das Land zu verlassen. Auch Sachsens staatliche Zentral - verwaltung stellte sich auf den Ernstfall ein. Von Weber notierte:42

38 Vgl. Rainer Karlsch/Michael Schäfer: Wirtschaftsgeschichte Sachsens im Industriezeitalter. Leipzig: Ed. Leipzig 2006, S. 58. Zu den preußisch-sächsischen Wirtschaftsbeziehungen vgl. Hans-Werner Hahn: Gute Nachbarschaft. Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Sachsen und Preußen im 19. Jahrhundert. In: Dresdner Hefte 30 (2012), H. 111, S. 26–33. 39 Vgl. Roman Sandgruber: Die Anfänge der Konsumgesellschaft. Konsumgüterverbrauch, Lebensstandard und Alltagskultur in Österreich im 18. und 19. Jahrhundert. Wien: Verlag für Geschichte und Politik 1982, S. 99. 40 Vgl. Neemann, Landtag und Politik (wie Anm. 15), S. 485. 41 Sächs. HStA Dresden, Nachlass Carl von Weber, Tagebücher, 5. Bd., 14. Juni 1866. 42 Ebd.

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Berathung im G[esammt] Minist[erium] was werden soll, wenn die zurück - bleibenden Minister in einem preuß[ischen] Kerker modern. Protocoll darüber, daß die Behörden sich[,] wenn die Minister außer Thätigkeit gesetzt werden, doch sich noch an sie zur Resolutionseinhaltung wenden sollen.

Am Mittag des folgenden Tages, des 16. Juni 1866, verriet der Kultusminister Johann Paul von Falkenstein Carl von Weber unter dem Siegel der Verschwiegenheit, dass Preußen ein Ultimatum gestellt hatte. Sachsen solle binnen 24 Stunden erklären, ob es Freund oder Feind sei. Zehn Minuten später begegnete von Weber dem General Eduard Christoph Freiherr von Reitzenstein, der dieselbe Information vom Kron- prinzen erhalten hatte und sich auf dem Weg in die Ressource,43 den Dresdner Club für adelige Männer, befand. Es war klar, dass sich nun die Nachricht wie ein Lauffeuer ausbreiten würde.44 Carl von Weber gehörte als Referent zu einer Landeskommission, die während der herannahenden Besatzungszeit den sächsischen Staatsapparat dirigieren sollte. Sie bestand aus dem Kultusminister Johann Paul Freiherr von Falkenstein, dem Finanz - minister Richard Freiherr von Friesen, einem Rat im Justizministerium Dr. Robert Schneider und Generalleutnant Carl August Maximilian v[on] Engel.45 Bevor König Johann außer Landes ging, erschien am 16. Juni 1866 aber noch eine Resolution* des Monarchen, die die Zusammenhänge unangemessen verkürzte:46

An Meine treuen Sachsen! Ein ungerechtfertigter Angriff nöthigt Mich, die Waffen zu ergreifen! Sachsen! Weil Wir treu zur Sache des Rechts eines Bruderstammes standen, weil wir fest hielten an dem Band, welches das große deutschen Vaterland umschlingt, weil wir bundeswidrigen Forderungen uns nicht fügten, werden wir feindlich be- handelt. Wie schmerzlich auch die Opfer sein mögen, die das Schicksal uns auf- erlegen wird, lasst uns muthig zum Kampfe gehen für die heilige Sache! Zwar sind wir gering an Zahl, aber Gott ist in den Schwachen mächtig, die auf ihn trauen und der Beistand des ganzen bundestreuen Deutschlands wird uns nicht aus - bleiben. Bin Ich auch für den Augenblick genöthigt, der Uebermacht zu weichen

43 Vgl. Generallieutenant v. Dziembowski u.a.: Die Ressource. Hundert Jahre einer Dresdner Herrengesellschaft. Dresden: Baensch 1898. 44 Sächs. HStA Dresden, Nachlass Carl von Weber, Tagebücher, 5. Bd., 16. Juni 1866. 45 Zur Entstehung und Zusammensetzung der Landeskommission vgl. ebd., den 29. März, 2., 25. und 26. April sowie 16. Juni 1866. 46 Extra-Blatt des Dresdner Journals. Sonnabend, den 16. Juni 1866, vormittags 10 Uhr. In: Sächs. HStA Dresden, Nachlass Carl von Weber, Tagebücher, 5. Bd., Beilage zum 16. Juni 1866.

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und Mich von Euch zu trennen, so bleibe Ich doch in der Mitte Meines tapferen Heeres, wo Ich Mich immer noch in Sachsen fühlen werde und hoffe, wenn der Himmel unsere Waffen segnet, bald zu Euch zurückzukehren. Fest vertraue Ich auf Eure Treue und Liebe. Wie Wir in guten Stunden zusammen gehalten haben, so werden Wir auch in den Stunden der Prüfung zusammenstehen; vertraut auch Ihr auf Mich, deren Wohl das Ziel Meines Strebens war und bleibt. Mit Gott für das Recht! Das sei unser Wahlspruch.

Mit anderen Worten: Die Feinde sind im Unrecht. Das kleine Sachsen verteidigt den österreichischen ‚Bruderstamm‘ und den Deutschen Bund. Zumindest in Bezug auf den Deutschen Bund könnte man wohl auch formulieren, dass Sachsens politische Elite um die unumschränkte Herrschaft in ihrem Staat kämpfte. Man wollte sich von Berlin nicht hereinreden lassen. Ob das zum Nutzen der Mehrheit war, darf bezweifelt werden. Zumindest lässt sich vermuten, dass für die Untertanen nicht jedes Opfer sinnvoll war. Jedenfalls hielt sich die eigene Opferbereitschaft des Monarchen in Grenzen. Denn er selber ging den preußischen Truppen aus dem Weg und überließ sein Land und dessen Bürger der feindlichen Militärgewalt. Dass sich König Johann außerhalb Sach- sens inmitten seiner Truppen bewegen werde, entsprach ebenfalls nicht seiner Absicht. Er hielt sich immer in sicherer Entfernung vom möglichen Kampfgeschehen. Seine Familie wich nach Regensburg zu den Fürsten Thurn und Taxis aus. Die Resolution König Johanns sollte daher lediglich die Kampfmoral der Öffentlichkeit stärken. Währenddessen verursachte die drohende preußische Besetzung Sachsens einiges an Durcheinander, wie von Weber berichtet:47

Ganz unnöthiger Weise hat man die Meißner Brücke gesprengt, den Löbauer Bahn- hof zerstört, Friesen war über letzteres sehr unwillig, weil man der Verwaltung davon keine Nachricht gegeben, daher zwei große Packzüge mit den Locomotiven die jen- seits Löbau liegen nun in die Hände der Preußen fallen. Mit rechten Dummheiten fängt man also an. Die Ri[e]saer Brücke soll nicht gesprengt, sondern bloß ungang- bar gemacht werden. Die Anordnung auf einen der hohen Dämme bei Löbau eine falsche Weiche zu stellen, so daß der Zug in den Abgrund stürzen müßte, die vom Militair gegeben worden, hat Friesen hintertrieben. Ein solches Mittel beim Beginn des Krieges gleich angewendet, würde die größte Erbitterung mit Recht hervor - gerufen haben und wenn ein Paar 100 Menschen das Leben verloren hätten, so würden Tausende von Sachsen dies haben büßen müssen.

47 Sächs. HStA Dresden, Nachlass Carl von Weber, Tagebücher, 5. Bd., 16. Juni 1866.

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In Dresden blieb die Lage auch verwirrend. Der König brach sehr gemächlich in den Krieg auf. Er speiste noch im Dresdner Residenzschloss, begab sich dann zu dem Teil der Armee, der im Großen Garten biwakierte. Das erschien dem Minister von Beust so saumselig, dass er schon fürchtete, die Preußen könnten den sächsischen Monar- chen gefangen nehmen – wenn sie nur wollten. Die Soldaten im Großen Garten hatten übrigens seit 48 Stunden nur trockenes Brot zu essen bekommen. Inzwischen zogen immer mehr Mitglieder der vornehmen Dresdner Gesellschaft von ihren Sommerhäusern in die Stadt zurück, weil sie das für sicherer hielten. Die sächsischen Dampfschiffe fuhren sämtlich nach Böhmen, um vor der Invasion sicher zu sein. Damit war die Elbverbindung ins Nachbarland unterbrochen.48 Am 16. Juni kamen die Preußen immer noch nicht. Stattdessen kursierten fortwäh- rend Gerüchte. In Meißen beispielsweise sollte bereits ein Dampfzug von den Preußen requiriert worden sein. Die Truppen seien deshalb in Kürze in der Residenzstadt zu erwarten. – Aber auch am 17. Juni wurde Dresden noch nicht preußisch besetzt.49 Erst am Montag, den 18. Juni 1866 trafen gegen halb 12 Uhr preußische Truppen in Dresden ein. Nach von Weber ist der Einmarsch ohne Zwischenfälle verlaufen:50

Wir warteten in der Landescommißion von gegen 11 ½ an, wo die ersten Preußen eintrafen bis 3 Uhr und dann wieder den Nachmittag auf das Eintreffen des Ober- commandanten Herwarth von Bittenfeld, den General Engel sofort begrüßen sollte. Er traf erst gegen 5 Uhr ein.

Über die militärische Einnahme und Besetzung der Stadt berichtet von Weber: „Etwa 6000 M[ann] rückten [nach Dresden] ein, 120 M[ann] wurden ins Schloß gelegt [...], ans Prinzenpalais 2 Schildwachen, die Hauptwache fand ich um 5 nicht besetzt.“ In der Landeskommission machte man sich inzwischen Gedanken darüber, „ob [General von] Engel seinen preuß[ischen] Stern [d.i. ein Orden] anlegen solle“. Schließlich war man doch im Krieg. Andererseits konnte der Orden Sympathien wecken und somit nützlich sein. Von Weber kalkuliert da ganz protokollarisch:51

So lange Jemand einen Orden nicht zurückgegeben hat, muß er bei den Ver - anstaltungen, wo die Sitte gebietet[,] ihn zu tragen, ihn anlegen, um den andern[,] zu dem er geht[,] nicht zu beleidigen. Jetzt kommt Alles darauf an[,] den

48 Ebd., 16. Juni 1866. Vgl. auch Sächs. HStA Dresden, Bestand 12561, Fürstennachlass Johann, König von Sachsen, Hausarchiv-Johann-9:Tagebuch geführt in denTagen vom16. Juni bis mit 26.Oktober1866, S.1, hier der16.Juni1866. 49 Sächs. HStA Dresden, Nachlass Carl von Weber, Tagebücher, 5. Bd., 17. Juni 1866. 50 Ebd., 18. Juni 1866. 51 Ebd.

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Preuß[ischen] General, der sehr auf Formen sehn soll, günstig zu stimmen, er würde es entschieden übel genommen haben, wenn Engel das Gesetz der Höflich- keit gleich beim ersten Besuch bei ihm vernachläßigt hätte. Engel folgte denn auch meinem Rath, ging erst noch in seine Wohnung im [Taschenberg-]Palais […] und holte den Stern.

Weber fährt fort: „Die Truppen sind meist Rheinländer und benehmen sich bis jetzt sehr gut. Um 10 Uhr herrschte in der eroberten Stadt die tiefste Ruhe. Ein Theil campirte auf dem Böhmischen Bahnhof.“ Die anderen wurden in die Häuser von Dresdner Bürgern einquartiert. „Ich habe meine Einquartierung verdungen“, schreibt von Weber, d.h. er hat die Soldaten angeheuert, um sie sich zu verpflichten. Welche Kosten dieser Versuch, eventuellen Schäden vorzubeugen, verursachte, hing selbst- verständlich davon ab, wie lange von Weber zahlen musste. Deshalb überlegte er: „Wollen sehn wie lange es dauert und ob es nicht zu theuer wird.“52 Insgesamt lief im Jahre 1866 die preußische Besetzung Dresdens jedenfalls ohne große Exzesse ab. Diese Information erreichte am 20. Juni, also zwei Tage nach dem Einmarsch der Preußen in Dresden, König Johann. Der Monarch befand sich zu diesem Zeitpunkt mit den Ministern von Beust und von Rabenhorst in Prag.53 Das für ihn geführte Kriegstagebuch vermerkt an diesem Tag: „Dresden von 12 000 Mann unter General Herwarth besetzt, das Schloß intakt, ein preußischer Civil Gouverneur zum Über- nehmen der Verwaltung erwartet, die Gerüchte von Erhebungen im Lande unbe- gründet.“54 Das klang alles soweit beruhigend. Das Landhaus des Ministers von Beust in Laubegast verwüsteten allerdings drei preußische Offiziere. Sie zerschlugen Möbel und Spiegel, warfen Weinflaschen zum Fenster hinaus und ritten im Garten herum, um so die Anpflanzungen zu ruinieren. Einer der Offiziere, ein Herr von Treskau, gab dann noch seine Visitenkarte ab. Der preußische Oberkommandierende, General Karl Eberhard Herwarth von Bittenfeld, und der preußische Zivilkommissar für Sachsen, der Landrat Günther Karl Lothar von Wurmb aus Weißenfels waren keineswegs begeistert von dieser Zügellosigkeit.55 Insgesamt darf man wohl hinter der Mäßigung der preußischen Truppen in Dresden eine Strategie vermuten. Schließlich sollte Sachsen ein Bestandteil des künftig von Preußen dominierten Deutschlands werden. Es wäre unklug gewesen, unnötig Aver- sionen* zu schüren.

52 Ebd. 53 Sächs. HStA Dresden, Bestand 12561, Fürstennachlass Johann, König von Sachsen, Hausarchiv-Johann-9: Tagebuch geführt in den Tagen vom 16. Juni bis mit 26. Oktober 1866, S. 2, 19. Juni 1866. 54 Ebd., 20. Juni 1866. 55 Sächs. HStA Dresden, Nachlass Carl von Weber, Tagebücher, 5. Bd., 19. und 20. Juni 1866.

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Die militärische Auseinandersetzung zwischen Preußen und Österreich sowie den jeweiligen Verbündeten fand bereits am 3. Juli 1866, also rund 14 Tage nach der Be- setzung Dresdens, statt. In der Schlacht bei Königgrätz in Nordböhmen trafen rund 450.000 Soldaten aufeinander.56 Militärisch entscheidend war wohl das Zündnadel- gewehr, mit dem die preußischen Truppen ausgestattet waren. Man konnte mit dieser Waffe sieben Schuss in der Minute abgeben. Ein herkömmliches Gewehr, wie es die Österreicher hatten, schaffte nur zwei Schuss pro Minute.57 Der Unterschied lag einerseits darin, dass die Zündnadelgewehre der Firma Dreyse Hinterlader waren. Man musste nicht Pulver und Blei von vorne in den Lauf ein - füllen, sondern konnte – und das ist die zweite Neuerung – eine Klappe am hinteren Ende des Laufes öffnen und eine Patrone hineinschieben. Das ging bei Bedarf auch im Liegen, d.h. in der Deckung. Die Patrone hatte einen Zündsatz, der durch eine Nadel des Abzugshahns ausgelöst wurde. Die Nadel durchschlug die Patrone, zündete das Pulver, und das Geschoss flog durch den Gewehrlauf. Daher erklärt sich der Name Zündnadelgewehr.58 Allein auf österreichischer Seite gab es etwa 30.000 Tote. Preußen beklagte dagegen nur ungefähr 9.000 Tote und Verwundete. Von der sächsischen Armee vermeldete man 1500 Tote, Verwundete und Gefangene. In der Sprache der Armee heißt das ‚Verluste‘. Im Tagebuch, das während des Krieges für den sächsischen König Johann geführt wurde und das unpubliziert im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden liegt, kann man nachlesen, dass Johann an eben dem 3. Juli 1866, als es in Königgrätz zur Schlacht kam, in Wien eintraf und Quartier in Schloss Schönbrunn bezog. Als er auf dem Weg dorthin in Iglau, etwa 90 km südlich von Königgrätz, den Zug bestieg, traf er auf dem Bahnhof den österreichischen Kaiser, der – wie das Tagebuch schreibt – „sehr schlechte Nachrichten“ hatte. Es sei eine „große Schlacht bei Königgrätz verloren“ worden. Erst in Schloss Schönbrunn erhielt König Johann dann am 7. Juli 1866, d.h. vier Tage nach der Schlacht, einen offiziellen Rapport* seines Sohnes Albert, wie es denn bei der sächsischen Armee aussehe. Dieser Bericht enthält keine Schilderungen des Elends, das auf einem Schlachtfeld herrscht, sondern es geht um die verbliebene Kampfkraft nach der Niederlage: Die Verlustliste, die Kronprinz Albert mitschickte, war denn auch noch unvollständig. Er meldete aber, „daß das ganze sächsische Corps in der Gegend von Zwittau [rund 70 km südlich von Königgrätz] vereinigt ist und noch gegen 15.000 M[ann] zählt, von den 6 Granatkanone-Batterien fehlt nur 1 Geschütz.“ Weiter heißt es, eine „ge-

56 Vgl. Gordon A. Craig: Königgrätz. München: dtv 1987, S. 11. 57 Zur Technik und Wirkung der Feuerwaffen vgl. Karl-Horst Bichler/ Ruijun Shen: Der Preußisch-Österreichische Krieg in Böhmen 1866. Berlin: Ina Walzog Verlag 2009, S. 387ff. 58 Ebd., S. 391ff.

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zogenen Batterie“ sei mit den Österreichern abmarschiert. Drei weitere „gezogene Batterien“ seien möglicherweise aufgegeben worden. „Gezogene Batterien“ meint Geschütze mit gezogenem Lauf, wie sie die Firma Krupp herstellte. In Königgrätz beschossen sich beide Seiten mit Krupp-Kanonen. König Johann machte an diesem Tag, dem 7. Juli 1866, auch schon Besuche im Lazarett. Es müssen daher wohl verletzte sächsische Soldaten per Eisenbahn in die Nähe Wiens transportiert worden sein. Anschließend resümiert das Kriegstagebuch des sächsischen Monarchen:59

Die angebliche Unordnung beim Rückzug scheint sehr übertrieben worden zu sein, die Verluste sehr bedeutend besonders an Offizieren; doch noch nicht Alles constatirt. S[eine] M[ajestät] macht Mitteilung an S[eine] M[ajestät] den Kaiser, mit dem ausdrücklichen Bemerken, daß die Truppen zu erschöpft sind, um schlag- fertig zu sein.

Diese Analyse galt offensichtlich auch für die österreichischen Truppen. Preußen hat 1866 übrigens auch die Armeen des Königreichs Hannover, des Kur - fürstentums Hessen und des Königreichs Bayern geschlagen.60 Es bestand daher die Gefahr, dass die preußische Armee in Wien einmarschieren würde. Österreich be- mühte sich nunmehr um einen Waffenstillstand. Mit den raschen preußischen Siegen war ein Kalkül Napoleons III. nicht aufgegangen, dass er sich im Verlaufe eines lang- wierigen Krieges als Schiedsrichter einschalten könne und für Frankreich Gewinne machen würde.61 Österreich bat Napoleon allerdings gegenüber Italien um Vermitt- lung. Damit hätte sich doch noch eine Chance zur französischen Intervention ergeben können. Jedenfalls war Bismarck klar, dass der Frieden auch mit Blick auf das Gleichgewicht der europäischen Mächte maßvolle Konditionen für Österreich bieten musste. Am 14. Juli 1866 kam es darüber zu einer Vereinbarung zwischen Berlin und Paris. Preußen durfte Schleswig und Holstein annektieren. Weiterhin wurden Hannover, Kurhessen und Nassau Preußen direkt angegliedert. Darüber hinaus schloss Preußen am 18. August 1866 mit 17 norddeutschen Kleinstaaten ein Bündnis. Hessen-Darmstadt, Sachsen, Sachsen-Meiningen und Reuß ältere Linie mussten diesem Norddeutschen Bund ebenfalls beitreten. Die insgesamt 22 Staaten lagen alle nördlich des Mains. Die Süd-

59 Sächs. HStA Dresden, Bestand 12561, Fürstennachlass Johann, König von Sachsen, Hausarchiv-Johann-9: Tagebuch geführt in den Tagen vom 16. Juni bis mit 26. Oktober 1866, S. 8, 7. Juli 1866. 60 Allgemein zum Deutsch-Deutschen Krieg vgl. Craig, Königgrätz (wie Anm. 56), S. 78f. 61 Vgl. hierzu Michael Erbe: Napoleon III. In: Französische König und Kaiser der Neuzeit. Von Ludwig XII. bis Napoleon III. 1498–1870. Hg. v. Peter C. Hartmann. München: Beck 2006, S. 445–447.

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Sachsen zwischen Preußen und Österreich 1866

deutschen Staaten Bayern, Württemberg und Baden blieben außerhalb des Nord- deutschen Bundes. Rechnet man den deutschsprachigen Teil des Habsburger Reiches noch dazu, war Deutschland nun in drei Teile geteilt.62 Sachsens König Johann kehrte aufgrund des rasch ausgehandelten Friedens schon am 26. Oktober 1866 per Sonderzug von Wien über Prag in sein Königreich zurück. Er wurde schon an der Grenze mit Glockenläuten, Salutböllern und Begrüßungsreden empfangen. Der Königin brachten junge Frauen Blumenbouquets. In Pirna füllte eine jubelnde Menge den Bahnhof und in Pillnitz winkten die Menschen dicht ge- drängt mit weißen Tüchern, als der Monarch und seine Frau in ihrer Sommerresidenz ankamen.63

Glossar:

Dualismus: Gegensätzlichkeit | Landtag: parlamentarische Vertretung auch Stände- versammlung genannt | Duodezfürst: Herrscher eines sehr kleinen Fürstentums | Deutsche Bundesakte: Verfassungsgesetz über die Gründung des Deutschen Bundes, das im Jahr 1815 in Kraft trat | Mobilmachung: Vorbereitungsmaßnahmen einer Armee für den Kriegseinsatz | Deputation: Entsendung Einzelner oder Mehrerer von Seiten einer Behörde, Gesellschaft oder sonstigen Institution zur Besorgung eines Geschäfts | Frankfurter Paulskirche: Sitz des ersten deutschen Parlaments, der Frankfurter Nationalversammlung | antagonistisch: einander entgegenwirkend | Hohenzollern: deutsche Dynastie, die von 1701 bis 1918 die preußischen Könige stellte | Resolution: Beschlussfassung | Aversion: Abneigung oder Ablehnung | Rapport: Bericht

62 Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 25), S. 296. 63 Sächs. HStA Dresden, Bestand 12561, Fürstennachlass Johann, König von Sachsen, Hausarchiv-Johann-9: Tagebuch geführt in den Tagen vom 16. Juni bis mit 26. Oktober 1866, S. 42 f., 26. Oktober 1866.

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Böhmen und Sachsen verteidigen die Heimat

Václav Houfek

Böhmen und Sachsen verteidigen die Heimat

I. Die Napoleonischen Kriege

Im 19. Jahrhundert wurden die Nachbarn Böhmen und Sachsen, wie schon in vorangegangenen Epochen, wechselweise zu Widersachern und Verbündeten – in dieser Zeit, vor der Entstehung der modernen Nationalstaaten, aber zum letzten Mal. Dabei ist die Rede vom Beginn des 19. Jahrhunderts – die Zeit der Napoleonischen Kriege –, zugleich aber vor allem vom späteren Preußisch-Österreichischen Krieg von 1866. Das Böhmische Königreich war damals ein autonomer Teil des österreichischen Kaisertums. Nach der Gründung des Deutschen Kaiserreiches auf der einen und der Entstehung von Österreich-Ungarn 1867 und seiner Nationalisierung im Inneren auf der anderen Seite kam es zu keinen selbstständigen Beziehungen zwischen Böhmen und Sachsen mehr. Die traditionellen staatlichen Strukturen in Böhmen und Sachsen, die ihre historische Identität aus der Legitimität der Herrscherdynastien ableiteten, gerieten an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in Konfrontation mit der neuen Ideologie der Franzö- sischen Revolution, die sich über Europa ausbreitete. Mit dem Höhepunkt des fran- zösischen Einflusses zu Beginn des 19. Jahrhunderts positionierten sich beide Staaten auf unterschiedliche Weise. Während Böhmen als fester Teil des Kaisertums Öster- reich praktisch für die gesamte Zeit der Napoleonischen Kriege ein Gegner Frank- reichs war, konnte Sachsen die Position als Verbündeter des französischen Kaisers Napoleon I. für seinen signifikanten Aufstieg nutzen. Im Jahre 1806 stand Sachsen zwar noch auf der Seite der Feinde Napoleons, es war allerdings am 11. Dezember 1806 in Posen gezwungen, ein französisches Friedens - angebot nach der Niederlage in der Schlacht bei Jena anzunehmen. Der sächsische Kurfürst Friedrich August III. trat dem Rheinbund* bei, erhielt den Königstitel und regierte als Friedrich August I. weiter. Am 8. Juli 1807 erhielt das Königreich Sachsen im Frieden von Tilsit als Verbündeter Napoleons das eigens geschaffene Herzogtum Warschau, von Preußen Cottbus und von Österreich schließlich Westgalizien und Krakau zugesprochen. Napoleon erwog damals gar ernsthaft, dass sich Böhmen Sach- sen anschließt oder sich ein selbstständiger böhmischer Staat herausbildet. Dagegen verlor Österreich nach der Niederlage in der Schlacht bei Austerlitz 1805 im soge- nannten Frieden von Pressburg Tirol, die italienischen Länder eingeschlossen Venedig,

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Böhmen und Sachsen verteidigen die Heimat

Istrien und Dalmatien und wurde damit de facto zu einem europäischen Binnenstaat. Kaiser Franz II. legte am 6. August 1806 die Krone des Heiligen Römischen Reiches nieder, erklärte die römische Kaiserwürde für erloschen und entband die Reichsstände von ihren Pflichten gegenüber dem Kaisertum des Heiligen Römischen Reiches Deut- scher Nation. Von dieser Zeit an regierte er nur noch als österreichischer Kaiser Franz I. weiter – ein Titel, den er bereits seit 1804 führte. Im Jahr 1809 brach ein weiterer Krieg aus. Schon am 21. Mai 1809 stießen die öster- reichische Armee und Freiwilligenregimenter über die böhmisch-sächsische Grenze vor. Früh gelang es ihnen zwar Dresden zu besetzen, doch war der weitere Verlauf des Krieges dem Napoleonischen Frankreich und seinen Verbündeten – einschließlich Sachsen – gewogener. Die österreichischen Truppen zogen sich deshalb wieder schritt- weise aus Sachsen zurück. Darauf erlebte Nordwestböhmen im Jahre 1809 einen säch- sisch-westfälischen Einmarsch. Etwa 2.000 Soldaten aus Sachsen und Westfalen be- setzten am 8. Juni Komotau (Chomutov) und hielten sich hier bis zum 10. Oktober auf. Zum Glück der ortsansässigen Bevölkerung kam es zu keinen bedeutenderen kriegerischen Zusammenstößen. Die Ansprüche der sächsisch-westfälischen Truppen waren nicht besonders groß, die Soldaten begnügten sich mit einem Tribut von zwei- hundert Gulden, weiterhin verlangten sie Bekleidung, Schuhe und selbstverständlich auch Essen, Bier und Branntwein. Dem Bürgermeister von Komotau, Jakub Do- brauer, gelang es sogar, Bestände an Salz und Alaun*, die für die österreichische Armee bestimmt waren, vor ihnen zu verbergen. Und obwohl der sächsische König in den Friedensverhandlungen Anspruch auf das nordböhmische Grenzgebiet von Eger (Cheb) über Aussig (Ústí nad Labem) bis hinter Reichenberg (Liberec) erhob, bekam Sachsen am Ende nur die historischen Exklaven* Böhmens zugesprochen. Österreich erlitt aber weitere große Gebietsverluste, und vor allem war seine politische und militärische Macht auf Jahre hin geschwächt. Das Kaisertum Österreich unterwarf sich dem Einfluss Frankreichs, im Jahre 1812 trat es gar als französischer Verbündeter in den Krieg gegen Russland ein. Die österreichischen Einheiten entzogen sich aber während des Feldzuges ernsthaften Konfrontationen mit den russischen Truppen und zogen ohne größere Schäden wieder aus Russland ab. Ebenso entsandte Sachsen eine Armee mit einer Stärke von 21.000 Mann nach Russland. Diese kehrte letztlich aller- dings mit großen Verlusten zurück. Als russische Truppen nach der Katastrophe der französischen Grande Armée in Russ- land 1812 zeitig im Frühjahr 1813 Memel und Weichsel überschritten, schloss Öster- reich mit Russland eine Waffenruhe und begann seine Armee aufzustocken. Im Feb- ruar 1813 wechselte der preußische König Friedrich Wilhelm III. auf die russische Seite. Im Rücken der neuen Koalition stand in erster Linie die finanzielle Kraft Groß- britanniens. Napoleon I. siegte zwar im Mai 1813 in den Schlachten bei Lützen und

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Böhmen und Sachsen verteidigen die Heimat

Bautzen über die russische und preußische Armee, doch fehlten ihm die Kräfte, um diese Siege zur endgültigen Niederschlagung seiner Gegner zu nutzen. Für Österreich bot sich endlich die Gelegenheit, unter die europäischen Großmächte zurückzukeh- ren. Bereits im Mai 1813 platzierte Kaiser Franz I. an der Spitze der neugebildeten Armee Karl Philipp Fürst zu Schwarzenberg; zum Führer des Generalstabs wurde Joseph Wenzel Graf Radetzky von Radetz ernannt. Hinterland und Schauplatz des Krieges zugleich wurde Südböhmen. Der russische Zar und der preußische König sammelten gemeinsam ihre Kräfte im schlesischen Reichenbach. Ihr Erzfeind Napo- leon hatte sein Hauptquartier im sächsischen Dresden. Der österreichische Kaiser Franz I. ließ sich auf dem Schloss in Jitschin (Jičín) nieder. Im Juni und Juli 1813 fanden intensive Verhandlungen zwischen der antinapoleoni- schen Koalition, Österreich und Frankreich statt. Zum entscheidenden Treffen zwi- schen Napoleon und Metternich kam es am 26. Juni in Dresden. Der erste neun- stündige, zähe Verhandlungszyklus endete ergebnislos. Erst später kam es zu der Einigung, einen Friedenskongress nach Prag einzuberufen und die Waffenruhe um 20 Tage zu verlängern. Ebendiese 20 Tage brauchte Fürst Schwarzenberg, um die österreichische Armee auf den Krieg vorzubereiten. Der Prager Kongress begann zwar am 12. Juli, doch glaubte praktisch niemand an dessen Erfolg. Um Mitternacht vom 10. auf den 11. August lief die Waffenruhe ab. Frankreich nahm die Bedingungen der Alliierten nicht an und Österreich trat auf ihrer Seite in den Krieg ein. Ab dem 11. August begann die russisch-preußische Bünd- nisarmee nach Ostböhmen einzuziehen. Gleichzeitig wurden eine Feldbefestigung erbaut und die städtischen Befestigungsanlagen von Prag, Leitmeritz (Litoměřice), Raudnitz an der Elbe (Roudnice n. L.), Melnik (Mělník) und Dauba bei Hirschberg am See (Dubé u Doks) verstärkt. Die Franzosen warteten nicht auf den Feind, son- dern marschierten selbst am 18. August 1813 von Sachsen aus in Nordböhmen ein. Die Armeekorps von Marschall Poniatowski und General Vandamme besetzten Rum- burg (Rumburk), Friedland (Frýdlant), Schluckenau (Šluknov), Gabel (Jablonné v Podještědí), Niemes (Mimoň) und Böhmisch Leipa (Česká Lípa). Nur in Rumburg und Böhmisch Leipa kam es zu kleinen Zusammenstößen zwischen der öster - reichischen und der französischen Kavallerie. Die Aktion war für die Franzosen nicht sehr erfolgreich; es kam zu keinen bedeutenden Kämpfen, lediglich zwei deutsche Regimenter liefen in Reichenberg auf die Seite der Alliierten über. In Zusammenhang mit weiteren Ereignissen zogen sich die Franzosen bis Ende August aus Nordböhmen zurück. Als Reaktion auf die Besetzung Nordböhmens stieß die alliierte Armee am 22. August 1813 gegen Dresden vor. Unaufhörlicher Regen erschwerte den Übergang über das Erzgebirge; die Soldaten interessierte eher das Plündern von Dörfern in der Um -

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Böhmen und Sachsen verteidigen die Heimat

gebung Dresdens als der Kampf. Napoleon aber kam früh mit Verstärkung nach Dres- den zurück und bereitete den Alliierten einen blutigen Empfang. Am 27. August brachte die französische Kavallerie einen erfolgreichen Gegenangriff zu Stande und am Abend gab Schwarzenberg den Befehl zum Rückzug nach Böhmen. Die Franzosen verloren etwa 10.000 Soldaten, die Alliierten zweieinhalbmal so viele. Die alliierte Armee wurde in der Schlacht bei Dresden in den Tagen vom 26. und 27. August 1813 von Napoleon I. zu Fall gebracht. Es wurde aber nicht nur in unmittelbarer Nähe der sächsischen Metropole gekämpft. In der Umgebung von Pirna und Königstein fanden gleichzeitig Kämpfe am rechten Flügel der angreifenden Alliierten statt und zwar zwischen dem Armeekorps von General Vandamme und russischen Regimentern. Als am Morgen des 28. August die böhmischen Truppen den Rückzug über das Erzgebirge einleiteten, sandte Napoleon zur Verfolgung Einheiten der Kommandanten Mortier, Murat, St. Cyra und Van- damme aus. Letztgenannter sollte in den Rücken der böhmischen Armee vorstoßen und die auf dem Rückzug befindlichen Einheiten im Erzgebirge einschließen. Der kürzeste Weg für die französischen Soldaten nach Böhmen war der Nollen- dorfer Pass. Hier mussten sie aber unentwegt mit sich zurückziehenden russischen Regimentern ringen. In der Nacht vom 28. auf den 29. August wurde in Peterswald/ Petro vice gekämpft, wo es den Russen gelang, einen der französischen Angriffe abzu- wehren. Am Morgen des 29. August überquerten die russischen Einheiten den Nollen- dorfer Pass. Auf nicht ganz 15.000 Männer des russischen Generals Ostermann-Tolstoi stürzten sich 40.000 französische Soldaten des Armeekorps von General Vandamme. Ort der Entscheidungsschlacht war Kulm (Chlumec) bei Aussig. In sich ständig wiederholenden Angriffen, im blutigen Kampf Mann gegen Mann konnten die rus- sischen Regimenter die Verteidigungslinie halten. Um den Preis großer Verluste konnte der gefährliche Plan, die alliierte Armee einzuschließen, vereitelt werden. Diese stieg in der Nacht auf dem 30. August vom Erzgebirge herab und schickte eine Reihe Verteidiger. Zum Oberbefehlshaber der alliierten Truppen wurde der russische General Barclay de Tolly ernannt. Neben den verstärkten russischen Regimentern wurden auch die österreichischen Truppen unter General Hieronymus von Colloredo-Mansfeld im Kampf eingesetzt. Vor allem die österreichischen Fußtruppen setzten sich aus Soldaten zusammen, die ihren Ursprung in Böhmen hatten. Ebenso waren Truppen aus Ungarn und Dragoner* aus Halič dabei. Insgesamt zählten die Allliierten ca. 50.000 Mann. Am zweiten Tag des Kampfes war das zahlenmäßige Übergewicht auf ihrer Seite. Die Kämpfe wurden auch am 30. August 1813 in unvermindertem Ausmaß fortgesetzt. General Vandamme führte den Kampf von der Anhöhe des Kappelenberges. Um die Mittagszeit beobachtete er sich nähernde Truppen aus Nollendorf (Nakléřov). An- fangs dachte er, es handle sich um Verstärkung, bemerkte dann aber schnell seinen

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Böhmen und Sachsen verteidigen die Heimat

Die Schlacht bei Kulm [1813]

Irrtum: Es waren Einheiten der preußischen Armee, die von General Friedrich von Kleist geführt wurden. Die Preußen schlossen damit den Ring um die Franzosen. Unter den französischen Truppen brach Verwirrung aus. und ihre Verteidigung zer- brach schnell. Über 10.000 französische Soldaten fielen in Gefangenschaft, einschließ- lich des Oberbefehlshabers General Vandamme. Über 11.000 französische Soldaten waren verwundet oder gefallen. Auf Seite der Alliierten gab es insgesamt über 9.000 Tote und Verwundete. Die umfangreichen Schäden betrafen auch die ortsansässige Bevölkerung. Hunderte Häuser und Gehöfte brannten nieder. Die Kriegsereignisse berührten auch die Stadt Aussig (Ústí nad Labem), die an jenem Tag von den französischen Soldaten des General Creuzer besetzt wurde. Diese nah- men den Stadtrat gefangen und beanspruchten die örtlichen Vorräte an Heu und Mehl. Am selben Tag wurde zur Hilfe für die besetzte Stadt die Brigade des Generals Johann Longueville aus Theresienstadt losgeschickt. Am Morgen des 30. August kam es im Elbtal zwar zu kleineren Plänkeleien, doch bleib Aussig von größeren Kämpfen verschont. Die alliierten Streitkräfte verhinderten mit ihrem Sieg in der Schlacht bei Kulm und Priesten (Přestanov), dass Napoleon die in der Schlacht bei Dresden gewonnene Vor- macht nutzen konnte. Der Sieg bestärkte die Alliierten in dem Entschluss, gegen

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Böhmen und Sachsen verteidigen die Heimat

Napoleon zu kämpfen. Für die böhmischen Länder war dieser Sieg auch insofern be- deutend, als er ein weiteres Vordringen der französischen Truppen ins Landesinnere unterband und eine mögliche Besetzung Böhmens und Prags verhinderte. Berichten zufolge, die damals in Böhmen kursierten, soll Napoleon gerade General Vandamme für den Sieg die Böhmische Krone versprochen haben. Zu weiteren kleineren Plänkeleien und Zusammenstößen alliierter und französischer Truppen kam es im Erzgebirge auch in den nachfolgenden Wochen. Auf dem Kamm des Erzgebirges auf der Höhe von Graupen (Krupka) und Kulm tauchten am 9. Sep- tember französische Truppen auf. Am 15. September griffen sie über Nollendorf Vordertellnitz (Přední Telnice) an. Die Angriffe soll Napoleon persönlich befehligt haben. Die heftigsten Kämpfe brachen am 17. September 1813 bei Warwaschau (Var- važov) aus. Es gelang nicht nur, den französischen Angriff zu stoppen, sondern auch im Laufe des Abends und der folgenden Nacht die Franzosen aus Böhmen zu ver- treiben. Die Franzosen verloren etwa 2.000 Mann, ungefähr die gleiche Zahl wurde gefangengenommen. Die Alliierten verloren etwas mehr als tausend Soldaten. Die Kämpfe setzten sich auch am folgenden Tag fort. Nach den Gefechten im Tal von Kninitz (Knínic) und Vordertellnitz (Telnice) zogen sich die französischen Truppen schließlich nach Sachsen zurück. Damit endeten zwar die direkten Kämpfe in der Region Aussig und in Nordböhmen, doch die Kriegsleiden für die örtliche Bevölkerung nicht. Zu den Ende August zer- störten Ortschaften kamen weitere. Auch wurde ganz Nordböhmen zu einem großen Lazarett für tausende verwundete und getötete Soldaten. Ihre Gräber sind heute noch in der Region Laun (Louny) oder in Prag zu finden. Auch die alliierten Armeen benötigten Quartier, Essen und Futter für die Pferde. Die gesamte Last trugen die Zivilbevölkerung und die Orte, die die Soldaten beherbergten. Oft kam es auch von Seiten der alliierten Truppen zu Plünderungen und Gewalttätigkeiten gegenüber der einfachen Bevölkerung. Der Erfolg in der Schlacht bei Kulm stärkte die Koalition von Österreich, Russland, Preußen und Schweden, der sich am 3. Oktober in Teplitz (Teplice) Großbritannien und auch Bayern offiziell anschlossen. Bald brachen die alliierten Truppen aus Böhmen nach Sachsen auf. Ihr Ziel: Leipzig. In den Tagen vom 16. bis 19. Oktober 1813 wütete die blutige Völkerschlacht bei Leip- zig. Die Entschlossenheit der Franzosen und ihrer Verbündeten konnte die Truppen der antinapoleonischen Koalition, die zahlenmäßig mehr als zweimal so stark waren und von den österreichischen Generälen und böhmischen Aristokraten Karl zu Schwarzenberg und Joseph Wenzel Radetzky von Radetz befehligt wurden, nicht aufhalten. Am 3. Oktober überschritt weiterhin eine alliierte Armee aus Schlesien kommend die Elbe, und am 4. Oktober machten sich alliierte Truppen aus Nord- deutschland auf den Weg Richtung Leipzig.

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Karl Schwarzenberg griff mit seinen Truppen am 16. Oktober südlich von Leipzig an. Dieser erste Zusammenstoß endete ohne Entscheidung. Am Mittag dieses Tages entschied sich der französische Marschall Murat zum Gegenangriff. Gerade er lieferte hier die wohl größte Reiterschlacht der Napoleonischen Kriege, an der 15.000 Männer und Pferde beider Seiten teilnahmen. An der Spitze dieser bunten Masse aus Men- schen und Pferden leuchteten die gelben Uniformen der spanischen Dragoner. Die Antwort war dichtes Feuer aus den alliierten Kanonen. Unmittelbar darauf begann der Gegenangriff der preußischen und österreichischen Kavallerie. Der siebenstündige bittere Kampf blieb ergebnislos. Auf den Feldern lag ein Drittel der spanischen Dra- goner-Regimenter. Mit ihnen hunderte Franzosen und ihre deutschen Verbündeten sowie polnische Ulanen und auf der anderen Seite russische Kosaken, preußische Wehrpflichtige, ebenso wie österreichische Kürassiere, bei denen niemand zu unter- scheiden vermochte, wer Böhme und wer Ungar war, welcher aus den Kron- oder den Alpenländern kam. Die preußischen Einheiten stießen in Richtung der Siedlung Möckern vor. Nach einem blutigen Kampf bemächtigten sie sich ihrer. Im Süden von Leipzig in Wachau war die Situation umgekehrt: Die Franzosen griffen an, Russen und Preußen ver - teidigten sich. Die alliierten Truppen hatten noch frische Erfahrungen aus den Kriegs- ereignissen in Nordböhmen, unweit von Aussig. Auf Anordnung des französischen Kaisers verkündeten die Leipziger Glocken am 16. Oktober um zwölf Uhr mittags die Hoffnung auf einen schnellen Sieg. Das preußische Korps wurde in die Sümpfe des Flüsschens Pleiße zurückgedrängt. In letzter Minute unterstützten sie eine öster- reichische Reservedivision und russische Garderegimenter. Die Franzosen vermochten nicht durchzubrechen, und ihre Aussichten auf den Sieg zerronnen. Während des 17. Oktobers 1813, einem Sonntag, verstummten die Kämpfe. Schlechtes Wetter mit starkem Regen machte Gefechte unmöglich. Einen Gottesdienst gab es in Leipzig an diesem Tag nur in der Nikolaikirche. Alle übrigen Kirchen und weitere Gebäude waren von Kranken und Sterbenden überfüllt. Allein im Gemeindekornspeicher drängten sich an die 6.000 Menschen. Beide Seiten aber mobilisierten alle mögliche Verstärkung. Die Franzosen verstärkten um 14.000 Mann, während auf alliierter Seite etwa 145.000 Soldaten hinzukamen. Insgesamt standen sich über 520.000 Mann gegenüber. Am 18. Oktober ging die Völkerschlacht weiter. Die Alliierten eröffneten eine schwere Offensive; besonders heftige Kämpfe tobten um das Dorf Dölitz und in der Gegend von Probstheida. Die benachbarte Anhöhe bekam nach der Schlacht den Namen Monarchenhügel, da an diesem Tag die Verbündeten Kaiser Franz I. von Österreich, Zar Alexander I. von Russland und König Friedrich Wilhelm III. von Preußen mit ihren Stäben von hier aus die Kampfhandlungen verfolgt und hier vom Fürsten

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Schwarzenberg schließlich auch die Nachricht vom Rückzug Napoleons überbracht bekommen haben sollen. An den Kämpfen beteiligte sich die österreichische leichte Kavallerie, geführt von dem böhmischen Fürsten Bubna. Ein anderer böhmischer Adeliger, der österreichische Untermarschall Klenovec z Klenové, bemächtigte sich eines Hügels bei Holzhausen, auf welchem er seine Artillerie zusammenzog, die die französische Verteidigung zermalmte. Am Nachmittag schalteten sich von Norden heranziehende russische Einheiten in die Schlacht ein, gegen die Napoleons Marschall Ney seine letzten Reserven zum Gegenangriff schickte, der aber rasch abgewehrt wurde. Die Wende in der Schlacht vollendeten württembergische und sächsische Ein- heiten, die von der französischen Armee zu den Alliierten überliefen. Die Schlacht endete faktisch mit Rückzugskämpfen in den Straßen und Gärten der Leipziger Vor- städte und hinter dem städtischen Befestigungsring. Der Rückzug der Franzosen brachte etwa 30.000 Mann in notdürftige Sicherheit. In der Hauptsache handelte es sich um Deutsche aus dem ehemaligen Reichsgebiet, Polen, Italiener, Portugiesen und andere. Der letzte, der die Hoffnung nicht aufgab, war der sächsische König. Niemand vermochte ihm die Vorstellung auszureden, dass Napoleon binnen weniger Tage Leipzig zurückerobern würde. Letztlich wurde der sächsische König von den Alliierten gefangengenommen und ins preußische Berlin gebracht. Einige der dramatischsten Szenen während der Rückzugskämpfe spielten sich an den Übergängen über die angeschwollenen Läufe der örtlichen Flüsse ab. Die Brücke vor dem Ranstädter Tor wurde durch ein Versehen der Pioniere in dem Augenblick durch Beschuss zerstört, als ein Teil der sich zurückziehenden Soldaten noch am falschen Ufer stand. Einige tausend Mann waren abgeschnitten. Manche versuchten den an- geschwollenen Fluss zu durchschwimmen und bezahlten dies mit ihrem Leben. Unter ihnen war auch der französische Marschall Fürst Poniatowski. Der Rest der napoleo- nischen Armee zog sich Richtung Frankreich zurück. Den Sieg auf dem Schlachtfeld feierte die Koalition der Armeen des Kaisertums Österreich, Russlands, Preußens und Schwedens. Nicht weniger als 120.000 Soldaten aller teilnehmenden Armeen über- lebten die Schlacht nicht. Drei Wochen nach der Schlacht kapitulierte das eingeschlossene und ausgehungerte Dresden mit seiner vom französischen Befehlshaber St. Cyrem befehligten Besatzung. Sachsen erlitt umfangreiche Schäden an Mensch und Material. Die Völkerschlacht wurde zum Wendepunkt im Fortgang der Napoleonischen Kriege und kündigte so den endgültigen Fall Kaiser Napoleons I. an. Das Kaisertum Österreich triumphierte und erneuerte seine Großmachtstellung in Europa. Das Königreich Sachsen hingegen reihte sich auf der Seite der Verlierer ein. Sachsen wurde von Preußen und Russland besetzt. Freilich im Zeichen des neuen Patriotismus, der den Landesstolz mit dem deutschen Nationalbewusstsein verband, nahmen an weiteren Kämpfen gegen Frank-

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Böhmen und Sachsen verteidigen die Heimat

reich ein etwa zweitausend Mann starkes Korps sächsischer Freiwilliger und später auch die sächsische Armee teil. Dies half dem sächsischen König sich in den inter - nationalen Verhandlungen dem Anspruch Preußens, ganz Sachsen zu annektieren, entgegen zu stellen. Diese Ansprüche riefen in Sachsen eine starke antipreußische Stimmung und eine landespatriotische Welle hervor. Auf dem Wiener Kongress wurde der sächsische König Friedrich August I. am 18. Mai 1815 gezwungen, die gesamte Niederlausitz und den nordöstlichen Teil der Oberlausitz gemeinsam mit anderen Gebieten an Preußen abzutreten. Über den Verlust großer Teile des Territoriums sahen die Sachsen die Mission ihres Herrschers in der Verteidigung der staatlichen Unabhängigkeit als erfolgreich an und bereiteten ihm eine feierliche Begrüßung. Insgesamt verlor Sachsen 58 Prozent seines Gebietes und war gezwungen, in den Deutschen Bund einzutreten. In diesem eignete sich das Kaisertum Österreich eine tonangebende Rolle an, einen starken Konkurrenten aber hatte es in seinem vormaligen Verbündeten, dem Königreich Preußen. Die Ereignisse dieses Krieges wurden selbstverständlich zu einem häufigen Sujet in Werken der bildenden Künste, patriotischen Texten, aber auch musikalischen Kom- positionen. In der Region, in der sich die genannten historischen Ereignisse vollzogen, wurde schrittweise eine große Menge an Gedenktafeln und Denkmälern aufgestellt. Das älteste Denkmal in der Umgebung des Schlachtfelds bei Kulm im Jahre 1813 ist ein preußisches Denkmal, das am 8. September 1817 unter Teilnahme von Ehrenwachen preußischer Garden und einer Reihe offiziell geladener Gäste feierlich enthüllt wurde. „Die gefallenen Helden ehrt dankbar König und Vaterland“, wie der Text auf dem Denkmal verrät. Anwesend war auch der Befehlshaber der preußischen Truppen in der Schlacht bei Kulm General Friedrich Graf Kleist von Nollendorf. Seinen Bei - namen erhielt er gerade dank seiner Teilnahme an den dortigen Kämpfen.1 Das eigentliche Denkmal ist das Werk des Architekten und Bildhauers Karl Friedrich Schinkel. Es handelt sich um eine gusseiserne Stele gekrönt von einem Eisernen Kreuz.2 Es ist die einzige seiner erhaltenen Arbeiten in Böhmen. Am 17. September 1825 wurde nur einige Meter vom preußischen Denkmal entfernt das sogenannte Österreichische Denkmal feierlich enthüllt. Sein Grundanliegen ist die Ehrung des Kommandanten der österreichischen Einheiten in den Kämpfen bei Kulm und Warwaschau General Hieronymus Colloredo-Mansfeld. Schöpfer der Plastik ist einer der bedeutendsten böhmischen Bildhauer des Hochklassizismus, Václav Prachner. Die beiden erwähnten Denkmale befinden sich an einer Landstraße, die in ihrer Zeit ein Hauptverkehrsweg war, der Prag über Teplitz und den Grenzübergang Peterswald

1 Nollendorf ist die deutsche Bezeichnung für Nakléřov. 2 Diese Auszeichnung wurde kurz vor der Schlacht bei Kulm im März 1813 in der preußischen Armee eingeführt.

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(Petrovice) mit Sachsen und Dresden verband. Auf diesem Weg fand ein reger Han- dels- und Touristenverkehr statt, vor allem in Richtung des Kurortes Teplitz. Das dritte Denkmal, das auch an dieser Landstraße entstand – allerdings um einige Kilometer näher an Teplitz – befindet sich bei Priesten. Gewidmet ist es der Erinne- rung an die russischen Garden, die hier ihre schwersten Kämpfe führten. Der Grund- stein für dieses Denkmal wurde am Gedenktag des Heiligen Wenzel, am 28. Sep - tember 1835, in Anwesenheit des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III., des österreichischen Kaisers Ferdinand I. und des russischen Zaren Nikolaus I. gelegt. Schöpfer des Denkmals ist Peter von Nobile, damaliger Leiter der Architekturschule der Akademie der bildenden Künste in Wien. Die Heldenhaftigkeit der russischen Garden symbolisiert die antike Siegesgöttin Nike, für die damals als Vorlage eine antike Statue im italienischen Brescia gefunden wurde. Erst am 27. Juni 1837 wurden die einzelnen Teile des Denkmals auf elf Wagen nach Priesten überführt, und zum Jubiläum am 29. August 1837 wurde das Denkmal feierlich eingeweiht. Neben diesen Denkmälern entstanden über die Zeit über 20 Monumente in Nordostböhmen. Das hundertjährige Jubiläum 1913 wurde Anlass zur Austragung prächtiger Feiern. Sie standen ganz im Zeichen der Festigung der politischen und militärischen Allianz Österreich-Ungarns und des Deutschen Reiches, das monumentale Feiern der Schlacht vorbereitete. Das eigentlich erste Denkmal, das an die Teilnahme öster - reichischer Truppen in der Schlacht von Kulm im August 1813 erinnert, wurde das Jubiläumsdenkmal in Kulm.3 Der Anlass zu seinem Bau war die Feier des 50-jährigen Thronjubiläums von Kaiser Franz Joseph I. im Jahre 1898. Bald wurde ein Verein zur Gründung eines Denkmales für die im Jahre 1813 gefallenen österreichischen Krieger in Kulm gegründet, dem sein Protektor und gleichzeitiger Besitzer des Kulmer Her- rensitzes Ottokar Graf von Westphalen zu Fürstenberg ein Grundkapital inklusive des Grundbesitzes stiftete. Architekt des Denkmals war Julius Schmiedel, der ihm die Gestalt eines sich mäßig verengenden Zylinders aus Steinquadern mit einer Höhe von 25 Metern gab. Schöpfer der Löwenstatue ist Adolf Mayerl. Teil des Denkmals ist ein kleiner runder Saal mit einem Deckenfresko von Karl Krattner. Die feierliche Einweihung des Denkmals fand am 30. August 1913 in Anwesenheit des Erzherzogs Karl (späterer österreichischer Kaiser Karl I.), des Statthalters von Thun, Nachfahren aus den Familien der Generäle Kleist und Colloredo-Mansfeld, Vertretern des Gros des böhmischen Adels und bedeutender Persönlichkeiten aus der weiteren Umgebung statt. Selbstverständlich durften Angehörige der österreichischen und deutschen Armee nicht fehlen. Das Jahr 1913 war voller Jubiläumsveranstaltungen – nicht nur in der Region Aussig. Auch in Wien legte der Herrscher während einer

3 Das österreichische Denkmal in Warwaschau aus dem Jahre 1825 ist dem 17. September 1813 geweiht.

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großen militärischen Feierlichkeit einen Kranz zum Andenken des Feldmarschalls Karl Schwarzenberg nieder; in Prag fand eine Feier auf dem Kleinseitner* Ring am Denkmal des Feldmarschalls Joseph Wenzel Radetzky statt. Der Charakter dieser Feiern war wesentlich durch die politische Situation in Europa und die Nationalisierung der mitteleuropäischen Gesellschaft beeinflusst. Dies zeigte sich in der Deklaration alldeutscher Solidarität und in oft schon geradezu militanten kriegerischen Äußerungen. Der alldeutsche Patriotismus zeigte sich vor allem zum Jubiläum der Schlacht bei Leipzig, als beispielsweise auch in Kulm eine öffentliche Versammlung deutscher Vereine stattfand. Dies war wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass die tschechische Gesellschaft und die tschechischen Medien die Feierlich- keiten oft gar nicht erwähnten. Ebenso spielte eine Rolle, dass die tschechische Öf- fentlichkeit ein allgemeines Desinteresse am Geschehen in den deutschsprachigen Gegenden und eine schlechte Orientierung in diesem Raum hatte. Dies konnten auch die wenigen publizistischen Texte4 oder Erwähnungen in militärischen Hand- büchern5 kaum ändern. Zu den Kriegsereignissen des Jahres 1813 auf seinem eigenen Boden hatte Öster- reich im Wesentlichen eine positive Einstellung und so gedachte es derer mit den oben erwähnten Festivitäten. An die verlorene Schlacht bei Austerlitz beispielsweise erinnerte aber lange kein bedeutenderes Denkmal. In Sachsen war die Situation ähnlich. Die ersten Vorschläge zur Errichtung eines Denkmals an die Schlacht bei Leipzig kamen kurz nach dem Ende der Napoleonischen Kriege auf. Unter den Initiatoren waren der Dichter Ernst Moritz Arndt und der Architekt Karl Friedrich Schinkel. Sachsen hatte aber aus begreiflichen Gründen keine besonders starken Motive zum Bau dieses Denkmals, auch wenn 1863 der Grundstein gelegt wurde. Die Situation änderte sich aber allmählich nach der Konsolidierung des Deutschen Reiches mit der Festigung der deutschen nationalen Identität. Am 18. Oktober 1898 wurde der Grund- stein des fünfzehn Jahre dauernden Baus begonnen, den der Baumeister Clemens Thieme nach dem Entwurf des Architekten Bruno Schmitze leitete. Den Skulp - turenschmuck des Denkmals schufen Christian Behrens und sein Schüler, der deutsch-tschechische Bildhauer Franz Metzner. Inspiration waren ihnen damals die antiken ägyptischen Denkmäler. In der Symbolik des Denkmals hinterließen auch die deutschen Freimaurer signifikant ihre Handschrift, denen die Erbauer zum Teil angehörten.

4 Vgl. als einen von wenigen Justin V. Prášek: Po stu letech. Vzpomínka na velké události roku 1813 [Nach ein- hundert Jahren. Eine Erinnerung an die großen Ereignisse des Jahres 1813]. Prag: Kober 1913. 5 Vgl. Ferdinand Čenský: Kniha vojínův Rakousko-uherských [Buch der österreichisch-ungarischen Soldaten]. Těšín: Nákladem kněhkupectví pro vojenskou literaturu Karla Prochasky 1876, S. 128–129, 132–133.

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Es gelang ihnen das bekannteste Symbol Leipzigs und derzeit größte Nationaldenkmal Deutschlands zu schaffen. Die monumentale Kathedrale des Todes und der Freiheit reckt sich unweit des ehemaligen Befehlsstützpunktes Napoleons in eine Höhe von 91 Metern empor; der imposante Komplex erstreckt sich insgesamt über eine Fläche von vier Hektar. Zu seiner Zeit handelte es sich um eines der größten Betonbauwerke in Deutschland. Die Figur auf der Basis stellt den Erzengel Michael dar, der als Schutzpatron der Soldaten angesehen wird. In der Kuppel der Ruhmeshalle, deren Wände gigantische Ausmaße haben, sind 324 beinahe lebensgroße Reiter dargestellt. Für seinen Wächter in der Krypta des Denkmals hatte Franz Metzner seine Vorlage in den altägyptischen Statuen von Theben gefunden. Es handelt sich um ein sehr monströses Denkmal, ebenso monströs wie die Schlacht, die sich hier abspielte. Der Erste Weltkrieg überstieg mit seinen Grauen bald alles, was bis zu dieser Zeit möglich war. Auch die Denkmäler der Napoleonischen Kriege rangen mit unter- schiedlichen Neuinterpretationen, die ihnen die neuen Verhältnisse aufzwangen. Die Tschechoslowakei widmete sich eher dem positiven Verhältnis zu ihrem Verbündeten Frankreich, und aus diesem Blickwinkel waren die Denkmäler an den österreichischen Sieg eher lästig. Für einige nationalistisch geprägte ortsansässige Deutsche war die Feier des Sieges über Frankreich auch eine politische Demonstration. Mit dem Auftreten totalitärer Regime im Raum Sachsens und ab 1948 auch in Böh- men kam es zu einem weiteren Missbrauch der historischen Tradition zugunsten der Bedürfnisse ihrer Ideologien. Dies änderte sich erst am Ende des 20. Jahrhunderts, als sich mit der Demokratisierung der Verhältnisse auch der Raum für eine freie Er- innerung an die tragischen und dramatischen Ereignisse der Napoleonischen Kriege zum Zweck historischer Erkenntnis und Versöhnung öffnete. Die Treffen militärischer historischer Vereinigungen aus allen Ländern Europas geben so die Möglichkeit zum gegenseitigen Kennenlernen und zur Zusammenarbeit.

II. Der Krieg von 1866

Nach Niederschlagung der revolutionären Bewegungen der Jahre 1848 und 1849 sym- pathisierte Sachsen zuerst mit Preußen in der Frage der Schaffung eines deutschen Bundesstaates unter Ausschluss Österreichs und unter Führung Preußens. Die Ängste vor einer Hegemonie Preußens riefen erstmals um das Jahr 1860 Bemühungen hervor, Sachsen eine führende Rolle unter den mittelgroßen deutschen Staaten zu verleihen, als eine dritte Macht neben Preußen und Österreich, ein Rang den freilich auch Bay- ern anstrebte. Früh jedoch wandte sich Sachsen von diesem Gedanken ab und stellte sich gemeinsam mit Österreich gegen die Bemühungen Preußens um die Beherr-

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schung des Deutschen Bundes. Im preußisch-österreichischen Zwist um Schleswig- Holstein war der österreichische Standpunkt Sachsen und den kleineren Staaten näher, sodass sie sich mit Sachsen bei der Abstimmung in der Bundesversammlung vom 11. Juni 1866 auf die Seite Österreichs stellten. Dies führte zum Ausbruch des preußisch-österreichischen Krieges. Am 15. Juni 1866 gab der sächsische König Johann ein Kriegsmanifest als Antwort auf Preußens brutale Note heraus. Zwei Tage später folgte eine Kriegsnote vom öster- reichischen Kaiser Franz Joseph I. In diesen Tagen rückten bereits preußische Truppen ins Innere Sachsens vor; auch die Zerstörung der Elbbrücken in Meißen und Riesa hielt sie nicht auf. Die sächsische Armee hatte nicht genügend Kräfte, um Widerstand zu leisten und wich deshalb in einer Stärke von 20.000 Mann schrittweise nach Böh- men zurück. Hierher folgten ihr nicht nur der Königshof mit den Krönungsklein- odien, sondern auch 142 Lokomotiven und einige Tausend Waggons. Das grünweiße sächsische Banner wehte nur noch über der Festung Königstein. Auf der Seite Österreichs und Sachsens kämpften auch Armeen weiterer Verbündeter, in erster Linie Hannovers und Bayerns. Demgegenüber hatte Preußen seinen wich- tigsten Verbündeten mit Italien, das früh eine südliche Front gegen Österreich eröff- nete, um Venedig und Tirol unter seine Herrschaft zu bringen. Hier gelang es den österreichischen Truppen aber Italien bei Custozza und in der Seeschlacht bei der Insel Lissa niederzuschlagen. Obwohl sich Italien letztlich vom Schlachtfeld zurück- zog, blieben hier beträchtliche militärische Kräfte gebunden, die entsprechend auf dem nördlichen Kriegsschauplatz in Böhmen fehlten. In Nord- und Nordostböhmen mobilisierte sich die österreichische Armee unter dem Kommando Ludwig Benedeks, in welche schrittweise sächsische Einheiten unter dem Befehl von Prinz Albert eingegliedert wurden. Erstmals in der modernen Kriegs - geschichte kam es zu einem massiven Einsatz der Eisenbahn beim Truppentransport. Zu den ersten ernsten Zusammenstößen kam es am 27. Juni 1866, als die Österreicher kleinere Schlachten bei Nachod (Náchod) und Tratenau (Trutnov) verloren; einen Tag später bei Münchengrätz (Mnichovo Hradiště). Am 29. Juni kam es zur Schlacht bei Jitschin, wo sich Sachsen und Österreich gemeinsam standhaft gegen Preußen stellten, den Verbund der vorrückenden preußischen Truppen aber nicht abwehren konnten. Die Österreicher verloren mehr als 4.700 Mann, Sachsen über 560, Preußen nicht ganz 1.500. Die österreichische und sächsische Armee begannen sich Richtung Königgrätz (Hradec Králové) zurückzuziehen. Hier spielte sich am 3. Juli 1866 eine der größten Schlachten des 19. Jahrhunderts ab. Die preußische Armee verfügte über ca. 220.000 Mann unter dem Kommando von Helmuth von Moltke, die alliierten Armeen Österreichs und Sachsens über ca. 215.000. Die österreichischen Kräfte wurden innerhalb einer Verteidigungslinie aufgestellt, die

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Die Sachsen in der Schlacht bei Königgrätz [1866]

sich auf die Elbe und die Festung Königgrätz stützte. Der preußische Angriff begann von Westen und Nordwesten. Am Vormittag war die Situation insgesamt ausgeglichen, es gelang den Verteidigern die Mehrzahl der preußischen Angriffe abzuwehren, und sie ließen sich auch auf Gegenangriffe ein. Erfolgreich war vor allem die öster - reichische Artillerie, der es gelang die Preußen bei Sadowa (Sadová) zu stoppen. Einer der preußischen Fußdivisionen aber gelang es nach dem Mittag einige österreichische Divisionen in den Kämpfen um den Wald Svíb an sich zu binden. Dies ebnete der 2. Preußischen Armee den Weg in den Rücken der österreichischen Armee beim Dorf Chlum. Hier kam es zu heftigen Gefechten, in denen sich letztlich die Preußen be- haupteten. Die sächsischen Divisionen verteidigten standhaft den linken Flügel der Verteidigung, letztlich wurden sie durch den schnell angreifenden Feind beständig zurückgedrängt. Benedek ordnete den Rückzug Richtung Königgrätz an, es wurden weiter anstrengende Rückzugskämpfe geführt. Auf österreichischer Seite fielen in der Schlacht bei Königgrätz beinahe 5.500 Mann, etwa 7.200 wurden verletzt, über 7.300 vermisst und fast 22.000 gefangen genommen. Die Sachsen hatten mehr als 130 Ge- fallene, über 940 Verletzte und über 420 Vermisste. Die Verluste auf preußischer Seite waren bei Weitem geringer: Über 2.000 Gefallene und fast 7.000 Verletzte, nur 278 Vermisste. Zum Glück der Österreicher und Sachsen verfügte die preußische Armee nicht über ausreichende Kräfte zur Verfolgung. Der wahren Bedeutung der Schlacht wurden sich die Preußen erst in den darauffolgenden Tagen bewusst. Währenddessen

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befahl Ludwig Benedek den Rückzug des geretteten Kerns seiner Truppen in Richtung Olmütz (Olomouc) und nach Wien. Immer noch kam es zu kleinen Zusammen - stößen. In den ersten Tagen nach der Schlacht zogen die österreichischen Kräfte über Olmütz Richtung Süden ab, und obwohl sie gezwungen waren, Mähren zu verlassen, konnten sie sich mit der Armee vereinigen, die auf dem italienischen Schlachtfeld gesiegt hatte. Am 22. Juli spielten sich im Südwesten der Slowakei die letzten schwereren Zusam- menstöße ab. In einem dieser Zusammenstöße bei Senice gelang es drei berittenen sächsischen Schwadronen, einen berittenen preußischen Kundschafterverbund in einem Geplänkel mit zwei der ihrigen Schwadronen zu vernichten. Während der letzten größeren Schlachten bei Lamač unweit von Preßburg (Bratislava) wurde am 26. Juli in Nikolsburg (Mikulov) ein Waffenstillstand geschlossen, an den der so - genannte Prager Frieden vom 23. August 1866 anknüpfte. Mit diesem Friedensvertrag verlor Österreich Venedig zum Vorteil Italiens, das Zerwürfnis um Schleswig-Holstein wurde zugunsten Preußens entschieden, der Deutsche Bund wurde aufgelöst, unter Preußens Führung wurde der Norddeutsche Bund gegründet, der zum Instrument der gesamtdeutschen Einheit wurde. Auch wenn es während der diplomatischen Verhandlungen dank Frankreich und Deutschland gelang, die direkte Annexion Sachsens durch Preußen abzuwenden, so konnte das schrittweise Verschlingen Sachsens durch die deutsche Einheit nicht ver- hindert werden. Preußen nämlich setzte eine bedeutende Beschränkung der sächsi- schen Souveränität durch, einschließlich direkter Interventionen bei der Zusammen- setzung der Regierung. Vier Jahre später führten die sächsischen Armeen bereits an der Seite Preußens Krieg gegen Frankreich, dessen direktes Ergebnis die Bildung des deutschen Kaiserreichs im Jahre 1871 war. Die fortschreitende Zentralisierung und Nationalisierung der Gesellschaft in Deutsch- land führte zur weiteren Unterdrückung wirtschaftlicher und sozialer Besonderheiten oder kultureller Traditionen Sachsens. Während sich das deutsche Kaiserreich kon- solidierte und wuchs, rief die Niederlage im Kaisertum Österreich eine weitere Stär- kung nationalistischer Strömungen und der wachsenden Tendenz zur Spaltung hervor, die sich in der Notwendigkeit dokumentierte, einen Vertrag mit Ungarn über dessen Autonomie anzunehmen und 1867 Österreich-Ungarn zu bilden. Die damit verbun- denen Bemühungen wurden während des Konflikts direkt von Preußen gefördert, das polnischen und ungarischen Separatisten seine Akzeptanz ebenso zukommen ließ, wie es sich bemühte, die ethnischen Tschechen und ihre Anstrengungen um einen unabhängigen tschechischen Staat zu unterstützen. Die tschechische Gesellschaft aber blieb diesen Angeboten gegenüber kühl und erwartete für ihre Treue Unterstützung für einige ihrer nationalen Forderungen. Die folgenden Zwiste mit der Zentralregie-

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rung und der Misserfolg in den Verhandlungen führten die tschechische Gesellschaft schrittweise zu einem sich radikalisierenden Nationalismus an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Der Zerfall Österreich-Ungarns in der Konsequenz des Ersten Weltkrieges bekundete lediglich das Ergebnis dieser Entwicklung. Auf den böhmischen Schlachtfeldern der Kämpfe von 1866 befinden sich heute hun- derte Denkmäler und Gedenktafeln. Unter ihnen ist auch ein Denkmal für die gefallenen Sachsen zu finden, die gemeinsam mit den Tschechen und weiteren Natio - nalitäten des österreichischen Kaiserreiches ihre Heimat verteidigten. Diese Denk- mäler sind nicht besonders bekannt, letztlich hing ihr Schicksal nach Untergang des den Krieg führenden Staates oft auch vom Zufall und dem Wohlwollen der Sieger- macht ab. Trotzdem blieb eine Fülle von ihnen erhalten und oft kümmern sich die Gemeinden oder Freiwillige um sie. Unter letzteren ist abermals eine Reihe militär- historischer Vereine zu nennen, unter denen man auch Gönner der sächsischen Armee findet. Dank ihnen bleiben diese Denkmäler an die gemeinsame Vergangenheit Sach- sens und Böhmens erhalten.

Glossar:

Alaun: ein sowohl zum Flammschutz von Holz als auch zur Tuchherstellung ver- wendetes Mineral | Exklave: Teil eines politischen Gebietes, das durch Grenzen vom Kernland abgetrennt und von fremden Gebiet vollständig umschlossen ist | Dragoner: ursprünglich berittene Infanterie, die Pferde nur zum Transport be- nutzte; später eine Art Kavalerie | Prager Kleinseite: Stadtteil von Prag, unterhalb der Prager Burg, der Altstadt an der Moldauseite gegenüberliegend | Rheinbund: 1806 auf Initiative Napoleons gegründeter Bund deutscher Staaten, die gemeinsam aus dem Heiligen Römischen Reich austraten und ein Militärbündnis mit Frank- reich eingingen, löste sich nach der Niederlage Napoleons in der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 auf

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Josef Matzerath

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Die kursächsischen Landstände sollten erwägen,1

was nunmehr bey aufforderung des iezigen erwehlten [böhmischen] Königs, oder der [böhmischen, märischen, schlesischen, ober- und niederlausitzischen] Stände vermöge der Erbvereinigung zuthun, und ob man sich nochmals neutral erzeigen, oder welchen Theil anhänngig machen solle.

Der sächsischen Kurfürst Johann Georg I. verhandelte bereits seit dem Prager Fens- tersturz* vom 23. Mai 1618 mit seinem Landtag darüber, wie sich Kursachsen zu den politischen Ereignissen im Königreich Böhmen verhalten sollte. Denn im Nachbarland wurde die Lage immer angespannter, und es zeichnete sich bereits früh ab, dass die Konflikte, die den Dreißigjährigen Krieg auslösen sollten, sich auf das Alte Reich und auf Europa ausweiten würden. Letztendlich musste sich der sächsische Kurfürst zur Neutralität bekennen oder sich offen auf die Seite einer der beiden Konflikt parteien schlagen. Die Grundlinien der sächsischen Reichspolitik wurden schon unter Kurfürst August, dem Urgroßvater von Johann Georg I., gelegt. Mitte des 16. Jahrhunderts hatten die sächsischen Kurfürsten die Kirchengüter in ihrem Herrschaftsbereich eingezogen. Die Klöster wurden säkularisiert und die katholischen Bischöfe aus den Hochstiften* Meißen, Merseburg und Naumburg/Zeitz verdrängt.2 Der Augsburger Religionsfriede von 1555* bestätigte dies. Darüber hinaus wurden die Dresdner Wettiner auch noch mit dem Amt des obersächsischen Kreisobersten ausgestattet,3 was ihre reichspoliti- sche Stellung hervorhob und ihnen die Aufgabe zuwies, innerhalb des obersächsischen Reichskreises über die Einhaltung des Landfriedens zu wachen und Reichsgerichts- urteile zu exekutieren. In der Reichspolitik des späten 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts teilte sich das nicht-katholische Lager in zwei Fraktionen. Kursachsen nahm die führende Rolle

1 Vgl. Sächs. HStA Dresden, Loc. 9171/1: Anno 1619, fol. 184–190. 2 Vgl. Frank Müller: Kursachsen und der Böhmische Aufstand 1618–1622. Münster: Aschendorff 1997, S. 14 u. 18. 3 Vgl. Reiner Groß: Landesgeschichte Sachsens. Leipzig: Edition Leipzig 2001, S. 74.

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unter den lutherischen Reichsständen ein und galt traditionell als Vormacht der Lutheraner. Die Pfalz hingegen stand an der Spitze der calvinistischen Herrschaften.4 Kursachsen konnte daher seit der Mitte des 16. Jahrhundert als weithin saturiert gel- ten.5 Allenfalls zeigte es noch Interesse, sich in Richtung des Erzbistums Magdeburg auszuweiten, oder durch die beiden Lausitzen seinen Besitz zu arrondieren. Bei Mag- deburg lag das Interesse auf der Hand, weil es sich um besonders fruchtbares Land handelte. Die Magdeburger Börde* zählt auch heute zu den fruchtbarsten Gebieten Deutschlands. Außerdem war die Stadt an der Elbe ein wichtiger Handelsplatz.6 Bei den Lausitzen lag das kursächsische Interesse anders. Beide Markgraftümer waren keine konfessionell geschlossenen Territorien, sodass sie nur bedingt an ein rein lu- therisches Herrschaftsgebiet wie Kursachsen anschlussfähig waren. Außerdem hatten die Ober- und die Niederlausitz über die Landwirtschaft hinaus wenig ökonomisches Entwicklungspotential. Interessant waren sie vor allem, weil die Habsburger als Her- ren dieser Nebenländer den Warenzufluss zur Messestadt Leipzig durch hohe Zölle beschwerten.7 Dresden hatte mehrfach versucht, deswegen in Wien zu intervenieren – aber vergeblich. Trotz solch begrenzter Expansionsabsichten konzentrierte sich die kursächsische Politik seit Kurfürst August vorwiegend auf die Sicherung des Erreich- ten. Man wollte die Reichsverfassung in der Abstufung beibehalten, wie sie war.8 Denn die eigene Position war in diesem Gefüge durchaus günstig. Ein großer, be- waffneter Konflikt zwischen den Konfessionsparteien hätte das reichspolitische Gleich - gewicht leicht zerstören können. Aus dieser konservativen Haltung gegenüber den bestehenden Rechtsverhältnissen erklärt sich dann auch die Loyalität gegenüber dem habsburgisch-österreichischen Kaiserreich.9 Der Kaiser war die Symbolfigur für die Rechtmäßigkeit der Zustände im Reich. Sachsen verfolgte ein handfestes Interesse und war keineswegs gefühls - duselig kaisertreu. Der Sohn des Kurfürsten August, Christian I., stellte in seiner kur- zen Regierungszeit (1586–1591) diese Grundlinie der sächsischen Politik in Frage.10 Nicht nur im Lande erhob sich der Widerstand gegen eine solche Annäherung

4 Vgl. Eduard Vehse: Geschichte der deutschen Höfe seit der Reformation. Fünfte Abtheilung: Sachsen. Hamburg: Hoffmann und Campe 1854, S. 56. 5 Vgl. Müller, Kursachsen (wie Anm. 2), S. 21. 6 Vgl. ebd., S. 35f. 7 Vgl. ebd., S. 31ff. 8 Vgl. Katrin Keller: Landesgeschichte Sachsen. Stuttgart: Verlag Eugen Ulmer 2002, S. 133f. 9 Vgl. ebd., S. 141. 10 Blaschke argumentiert, dass sich Christian I. aufgrund seiner Erziehung von seinen Eltern abwendete und sich von „ihrer Wesensart, ihren Wertvorstellungen und ihrer konfessionellen Haltung“ befreite. Vgl. Karlheinz Blaschke: Der Fürstenzug zu Dresden. Denkmal und Geschichte des Hauses Wettin. Leipzig: Urania-Verlags - gesellschaft 1991, S. 154.

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an den Calvinismus, sondern auch der Kaiser misstraute dieser Religionspolitik. Als Christian I. nach fünf Jahren starb, kehrte Dresden unter Christian II. wie- der zur Politik des Kurfürsten August zu- rück. Die Lage änderte sich nur wenig als Johann Georg I. seinem Bruder, Chris- tian II., auf dem Thron folgte. Auch Jo hann Georg I. wurden schon in der protestantisch gefärbten Geschichts- schreibung des 19. Jahrhunderts Charak- terschwächen angelastet. Er habe nur eine mangelnde Befähigung zum Herr- scher gehabt und nur zögerlich Entschei- dungen fällen können, weil er von einer Johann Georg I., Kurfürst von Sachsen (1585–1656) beschränkt-biederen Grundgesinnung gewesen sei. Einen Blick für größere Zusammenhänge habe dieser Wettiner nicht gehabt.11 Diese Beurteilung ist deshalb so problematisch, weil es kaum möglich ist, herauszufinden, wie in Dresden in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts politische Entscheidungen zustande kamen. Denn die überlieferten Akten geben solche In formationen nicht her. Es haben sich keine Quellen erhalten, aus denen sich ent- nehmen ließe, in welchem Umfang Johann Georg I. politische Konstellationen über- schaut hat. Die ältere Historiografie hat den Befund erarbeitet, dass die kursächsische Position schwer auszuloten war. Der einfachste Weg das zu erklären, lag dann in der Behaup- tung: Der Kurfürst konnte sich nicht entscheiden, er war wankelmütig. Die Politik erscheint damit als simpler Ausdruck eines Charakters.12 Was in den Quellen zu fin- den ist, wird in der historischen Darstellung in umgekehrter Logik präsentiert: Der Fürst ist entscheidungsschwach, also ist die Politik wankelmütig. Statt: Die Politik ist wankelmütig, das könnte daran liegen, dass der Fürst entscheidungsschwach war.

11 Vgl. ebd., S. 164. Auch bei Keller, Landesgeschichte (wie Anm. 8), S. 139. 12 Johann Georg I. sei „Objekt und kein Träger der geschichtlichen Wandlungen“ gewesen. Vgl. Rudolf Kötzschke/ Hellmut Kretzschmar: Sächsische Geschichte. Werden und Wandlungen eines Deutschen Stammes und seiner Heimat im Rahmen der Deutschen Geschichte. Frankfurt a. Main: Verlag Wolfgang Weidlich 1965, S. 239. So wird von einer wenig entschlossenen Politik von Johann Georg I. gegenüber den calvinistischen Fürsten ge- sprochen. Vgl. Karl Czok/Reiner Groß: Das Kurfürstentum, die sächsisch-polnische Union und die Staatsreform (1547–1789). In: Geschichte Sachsens. Hg. v. Karl Czok. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1989, S. 239.

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Die Annahme vom charakterschwachen Johann Georg I. könnte auch stimmen, wenn denn sicher wäre, dass dem Kurfürsten die politischen Entscheidungen auch zurecht zugerechnet werden dürfen. Das ist aber durchaus die Frage. Hier hat Frank Müllers Studie Kursachsen und der Böhmische Aufstand 1618–1622 das Verständnis entscheidend vorangetrieben. Müller unterscheidet nämlich zwischen zwei Typen von frühneuzeitlichen Fürsten. Einerseits gab es den Herrscher, der ein persönliches Regiment führte. In Sachsen ist der Prototyp eines solchen Fürsten der Kurfürst August. Er hat die Reichs- und Außenpolitik sowie die Strategien zur inneren Entwicklung seines Herrschaftsgebietes grundlegend selbst konzipiert.13 Die Regie- rungsentscheidungen sind in zentralen Bereichen das persönliche Werk des Fürsten. Auch ein solcher Fürst gab die alltäglichen Aufgaben der Justiz und Verwaltung an andere weiter. Aber die wichtigen Angelegenheiten hat er mit Hilfe seiner vertrautes- ten Ratgeber in Persona begleitet. Demgegenüber haben andere Fürsten ihre Hauptaufgabe vor allem in repräsentativen Funktionen gesehen. Christian I. und auch Christian II. haben aufgrund eines solchen Verständnisses auch Bereiche wie die Außen-, Reichs- und Finanzpolitik in die Hände von Räten gegeben. In dieser Linie ist auch Johann Georg I. zu sehen.14 Diese Sicht- weise lässt sich aus zwei unterschiedlichen Quellenbeständen belegen. Zunächst ist die Korrespondenz zwischen Johann Georg I. und seinen Räten für einige Zeiträume erhalten. Immer dann, wenn man sich – aus welchen Gründen auch immer – räum- lich nicht so nahe war, dass Dinge mündlich verhandelt werden konnten, entstand eine Korrespondenz. Schaut man in diese Schriftstücke hinein, zeigt sich, dass Johann Georg I. alles unterzeichnet hat, was man ihm vorlegte. Er hat auch fast keine Mar- ginalien an die zugeleiteten Schreiben gemacht. Der Fürst verlangte von seinen Räten fertige Vorlagen und bezog nur selten zu den Sachfragen Stellung, oder um es mit den Worten von Frank Müller zu sagen: „der vollständige Entscheidungsvorgang in tagespolitischen Fragen [lag] bei den Räten“.15 Etwas mehr noch versteht man von dem, wie in Dresden regiert wurde, wenn man in die Berichte schaut, die zeitgenössische Beobachter über den Dresdner Hof Johann Georgs I. verfassten. Denn einer Audienz beim Kurfürsten folgte grundsätzlich eine längere Besprechung mit den Räten. Aber nicht das, was Johann Georg I. im persön- lichen Gespräch mit einem Gesandten gesagt hatte, war als offizielle kursächsische Willensäußerung zu werten. Diesen Status hatte vielmehr das Ergebnis der Bespre- chung mit den Räten. Diejenigen, die vom Kurfürsten mit der Führung der Regie-

13 Vgl. Müller, Kursachsen (wie Anm. 2), S. 37. 14 Vgl. ebd., S. 40ff. 15 Ebd., S. 40.

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rungsgeschäfte beauftrag waren, gaben die offizielle Antwort auf das Anliegen anderer Mächte. Damit fielen also auch reichspolitische Grundsatzentscheidungen zumindest zu Teilen in die Entscheidungskompetenz der Geheimen Räte. Wenn Johann Georg I. bei Sitzungen des Geheimen Rates überhaupt anwesend war, erscheint er in den Protokollen als derjenige, der ein Gutachten erbittet und der sich am Ende der Mehr- heitsmeinung fügt.16 Aus Sicht der auswärtigen Gesandten, die an den Dresdner Hof kamen, ergab sich aus dieser Konstellation aber nicht das Bild von einem Fürsten, der der Reichpolitik keine Beachtung geschenkt hätte. Niemand berichtete nach einem Gespräch mit dem Fürsten nach Hause, dieser sächsische Kurfürst besitze nicht hinreichend Kenntnisse, um kompetent die Probleme zu beurteilen. Aus der Sicht der Diplomaten verliefen die Gespräche mit Johann Georg I. durchweg positiv. Oft glaubten sie, einen stabilen Partner gefunden zu haben, der ihre Argumentation wohlwollend anhörte und ihr gegenüber aufgeschlossen war.17 Das Problem waren die Räte. Sie ließen durch zögerliches Abwägen das Resultat, das der Gesandte beim Landesherrn vermeintlich schon erzielt hatte, wieder obsolet wer- den. Und am Ende der diplomatischen Mission stand dann ein schriftlicher Bescheid, der das Gespräch mit Johann Georg I. geradezu auf den Kopf stellte. Die meisten Diplomaten verstanden am Ende ihrer Reise nach Dresden die Welt nicht mehr. Einer der wenigen, die überhaupt durchschaut haben, was hier gespielt wurde, war der Botschafter des Kaisers. Denn der war nicht nur für kurze Zeit als Sonderbotschafter in einer bestimmten Angelegenheit in Dresden. Er war über lange Zeit präsent und somit als Typ eines Gesandten eine Art Geschäftsträger.18 Dieser Karl Hannibal von Dohna,19 ein katholischer Adeliger aus Schlesien, konnte nach einiger Zeit die takti- schen Manöver der Verantwortlichen in Dresden von den grundlegenden kursächsi- schen Interessen unterscheiden. Aus Dohnas Perspektive erschien Johann Georg I. in erster Linie als ein ausführendes Organ. Der Fürst übernahm demnach den Kurs, den seine Räte ihm als wünschenswert plausibel machten und blieb bei dieser Linie, bis die Räte ihn über einen Kurswechsel informierten. Der Kurfürst erweckte schon des- halb den Eindruck einer größeren Konstanz als die Räte selbst. Aber der eigentliche Träger der Dresdner Reichs- und Außenpolitik war die oberste Regierungsbehörde, der kursächsische Geheime Rat. Aufgrund einer solchen Aufgabenteilung, nach der der Kurfürst als Repräsentant die Gesandten der auswärtigen Mächte empfing und auch die Grundlinien der sächsi-

16 Vgl. ebd., S. 42. 17 Vgl. ebd., S. 42f. 18 Vgl. ebd., S. 43f. 19 Arno Duch: „Dohna, Karl Hannibal Burggraf von “. In: Neue Deutsche Biographie 4 (1959), S. 51.

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schen Politik kannte, aber die Räte die Entscheidungen über Strategie und Taktik fällten, ist es geraten, die persönlichen Eigenschaften des Kurfürsten in ihrer Bedeu- tung für die Politik nicht zu hoch einzuschätzen. Im Gegenteil, sie werden von der traditionellen Landesgeschichtsschreibung gewaltig überschätzt. Dass Johann Georg I. wie sein Bruder der festlichen Lebensfreude, der Jagd und dem Alkohol zugewandt war, dass er Calvinisten hasste und nur das orthodoxe Luthertum gelten ließ – das alles spielte keine große Rolle. Denn er fungierte nur als Repräsentant einer Politik, die der Geheime Rat* festlegte. Oder um es noch einmal in den Worten zu sagen, die v. Dohna niederschrieb, als er vom Dresdner Hof wegging – oder soll man sagen floh: „an diesem Hof [wird] schier mehr von saufen und fressen und von jagden als von andern sachen discurrirt“.20 Die große Politik interessierte nicht. Da hatte v. Dohna wohl recht, aber Johann Georg I. und sein Hof spielten für das ‚Politik machen‘ in Sachsen eben keine aktive Rolle. Diese Arbeit machte der Geheime Rat.21 Der Geheime Rat selbst war für die auswärtigen Gesandten noch einmal ein Problem für sich. Denn er gab Antworten oder Zusagen immer nur unter dem Vorbehalt, dass sich die gerade aktuelle Konstellation in der Politik nicht ändern würde. Wandelten sich die Anforderungen oder Gegebenheiten, fühlte sich Dresden an seine Zusagen nicht mehr gebunden. Das führte selbstverständlich tendenziell zur Unzuverlässigkeit. Aus der Perspektive der Vertragspartner sah es häufig noch drastischer aus, nämlich wie ein interessenspezifisch inspirierter Verrat. Insofern lagen die Diplomaten mit ihrer Wahrnehmung, dass in Dresden nicht Johann Georg I., sondern seine Räte das Problem für sie darstellten, gar nicht so verkehrt.22 Für die Geschichte Sachsens besitzt die Institution des Geheimen Rates aber noch einen wesentlich interessanteren Aspekt. Wenn man sich die Frage stellt, in wessen Interesse die Mitglieder des Geheimen Rates denn Politik betrieben, fällt die Antwort gar nicht so leicht. Johann Georg I. entwickelte offensichtlich keine eigenen Ideen für ein Herrschaftskonzept. Um die Alltagsgeschäfte scherte er sich ohnehin nicht. Wenn der Landesherr aber keine Richtung der Politik vorgab, folgten die Geheimen Räte dann vielleicht den Interessen ihrer sozialen Herkunftsgruppe. Nach dem Sturz des bürgerlichen Kanzlers Nikolaus Krell wurde der Geheime Rat im frühen 17. Jahr- hundert ausschließlich mit Adeligen besetzt. Man griff nicht auf landfremde Adelige zurück, die allein von der Gunst des Herrschers abhängig gewesen wären und an-

20 Zitiert nach Johannes Voigt: Des Grafen Christoph des Aeltern von und zu Dohna Hof- und Gesandtschaftsleben. In: Historisches Taschenbuch. Hg. v. Friedrich von Raumer. Leipzig: Brockhaus 1853, S. 1–168, hier S. 139. Ebenso bei Axel Gotthard: Johann Georg I. (1611–1656). In: Die Herrscher Sachsens. Markgrafen, Kurfürsten, Könige. 1089–1918. Hg. v. Frank-Lothar Kroll. München: Beck 2007, S. 147. 21 Vgl. Müller, Kursachsen (wie Anm. 2), S. 59–65. 22 Vgl. ebd., S. 59f.

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sonsten über keine oder nur spärliche Vernetzungen in den einheimischen Adel hätten verfügen können. Diesen Weg ging später August der Starke, um sich dem Einfluss des sächsischen Adels – so gut es eben ging – zu entziehen. Zu einer solchen Maßnahme war aber offensichtlich die Lage nicht geeignet, als im Jahre 1601 Kurfürst Christian II. volljährig wurde und selbst die Regierung übernahm. Er berief einen Geheimen Rat aus einheimischen Adeligen, die vermögende Ritter- gutsbesitzer waren.23 Sie waren also nicht einmal auf Gedeih und Verderb auf ihr Amt angewiesen, sondern konnten aufgrund ihres Besitzes auch ohne Position im Staat des Kurfürsten leben. Denn auf ihren Rittergütern übten sie Herrschaft aus, und in Angelegenheiten des Landes redeten sie auf den Ständeversammlungen mit. An die Ritterschaft, ihre Herkunftsgruppe, band sie dagegen einiges: Zunächst kann man von einer gemeinsamen Interessenlage ausgehen.24 Was allen übrigen Ritterguts- besitzern nutzte oder schadete, kam auch denjenigen Rittergutsbesitzern gelegen oder ungelegen, die im Geheimen Rat saßen. Zu Abgaben, Leistungen und Zöllen etwa dürften alle Besitzer von Rittergütern ähnliche Ansichten vertreten haben. Über diese Interessensparallelitäten hinaus muss man annehmen, dass die Mitglieder des Gehei- men Rates mit anderen Mitgliedern ihres Standes in engen freundschaftlichen oder verwandtschaftlichen Verbindungen standen. Wenn sich nun ein Geheimer Rat an die Perspektive der Landesherrschaft gewöhnte, sie zu seiner eigenen machte und die Interessen seines Standes vernachlässigte, lief er auch Gefahr, dass seine Freunde und Verwandte ihm das deutlich mitteilten. Man konnte gesellschaftlich unmöglich werden. Eine solche Einbuße an Prestige konnte sich wiederum als Schwierigkeit auswachsen, seine Kinder standesgemäß zu ver - heiraten. Es gab also gute Gründe, seine Macht als Geheimer Rat nicht gegen die Interessen der eigenen Herkunftsgruppe zu richten. Dennoch lässt sich für den Beginn des Dreißigjährigen Krieges feststellen, dass in Sachsen die Geheimen Räte eine Position entwickelten, die keineswegs mit der der Ritterschaft deckungsgleich war. Sachsens Ritterschaft verweigerte sogar den Kriegs- dienst, als sie die Politik des Geheimen Rates mit Waffengewalt durchsetzen sollten. Als Kurfürst Johann Georg I. auf den 17. Februar des Jahres 1622 seine Stände nach Torgau zum Landtag berief, waren seit dem Prager Fenstersturz, mit dem der Drei-

23 Die Geschäfte als Kanzler und Geheimer Rat übernahm Bernhard von Pöllnitz. Weitere Geheime Räte waren Christoph von Loß sowie Sigismund von Berbisdorf. Vgl. Eduard Vehse: Geschichte der Höfe des Hauses Sachsen. Dritter Teil. Hamburg: Hoffmann und Campe 1854, S. 34f. 24 Zur Unterscheidung des Sozialverhaltens adeliger Gutsbesitzer innerhalb ihrer Herkunftsgruppe gegenüber dem nichtbesitzenden Adel, vgl. Christoph Franke: Der sächsische Adel im 19. und 20. Jahrhundert. Soziales Verhalten und soziale Strukturen. In: Schritt in die Moderne. Sächsischer Adel zwischen 1763 und 1918. Hg. v. Silke Marburg/ Josef Matzerath. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2001, S. 201–229, hier S. 225.

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ßigjährige Krieg begann, schon fast vier Jahre vergangen. Seit dem Beginn der „Un- ruhen im Königreich Böhmen“, wie man den Ausgangskonflikt des Krieges im Geheimen Rat am Dresdner Hof zunächst nannte, trat 1622 die sächsische Stände- versammlung zum ersten Mal zusammen.25 Allerdings hatten der Fürst bzw. seine engsten Berater den sächsischen Landständen auch zuvor immer wieder Informationen über ihre Absichten zukommen lassen. Kur- sachsens politische Führung war über die Ereignisse exzellent informiert, da der Dresdner Hof in Wien und lange Zeit auch in Prag einen ‚Agenten‘, eine Art ständi- gen Vertreter, unterhielt. Als am 23. Mai 1618 in Prag die Ereignisse eskalierten,26 waren daher dem sächsischen Fürsten und seinen Räten die Konfliktstellung zwischen dem protestantischen böhmischen Adel und den katholischen Habsburgern nur zu vertraut. Wie ernst Dresden die Ereignisse in Böhmen nahm, zeigt schon der Umstand, dass der Kurfürst am 2. Juni 1618 wegen der „gefährlichen unruhe“ alle seine Räte einbestellte. Ansonsten wurde das außenpolitische Alltagsgeschäft nur von einigen seiner engsten Berater betrieben.27 Am 4. Juni 1618 ließ Johann Georg I. das ‚Landesdefensionswerk‘, ein militärisches Aufgebot der Ritterschaft und Städte, in Bereitschaft versetzen. Da die streitenden Parteien in Böhmen Truppen sammelten, kam es nämlich in Sachsen zu Durchzügen kleinerer und größerer Söldnerhaufen. Außerdem verbot er in einem Mandat an seine Landstände allen Untertanen und auch dem Adel, böhmische Heeresdienste anzu- nehmen. Alles das war schon geschehen, ehe die ersten Gesandtschaften aus Prag und Wien versuchten, Kursachsen jeweils auf ihre Seite zu ziehen. Im August 1618 ver- sammelte der sächsische Kurfürst seine Räte, die Repräsentanten des Defensionswerks und fünf Mitglieder des Engeren Ausschusses der Ritterschaft* in Torgau. Er wollte mit ihnen die Stellung des Landes zum Böhmischen Aufstand festlegen. Der Engere Ausschuss der Ritter war das Führungsgremium der Landstände. In Torgau bemühte sich der Geheime Rat gegenüber den Repräsentanten des Landtages die längst ein - geschlagene Linie plausibel zu machen.28 Caspar v. Schönberg, der einflussreichste Rat Johann Georgs I., und seine Amts - kollegen warben dafür, das Land in erster Linie durch das Defensionswerk zu sichern.

25 Vgl. Josef Matzerath: „diß vorhaben gienge wieder ihre lieben Nachbarn, Bluts= und andere Freunde“. Teile der sächsischen Ritterschaft verweigern Kurfürst Johann Georg I. die Heeresfolge. In: Aspekte sächsischer Landtags- geschichte. Die Ständeversammlung des 17. und frühen 18. Jahrhunderts. Hg. v. Josef Matzerath. Dresden: Säch- sischer Landtag 2013, S. 12–15, hier S. 14f. 26 Die böhmischen Stände erklärten die Statthalterregierung des böhmischen Königs Friedrich von Steiermark für abgesetzt. Der gewalttätige Akt ging als Prager Fenstersturz in die Geschichte ein. Vgl. Johannes Burkhardt: Der Dreißigjährige Krieg. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 78. 27 Vgl. Müller, Kursachsen (wie Anm. 2), S. 62–64 und 148f. 28 Vgl. ebd., S. 149f.

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Zusätzlich wollten sie noch eine kleine Reitertruppe von zweihundert Mann anwer- ben, um eine zusätzliche militärische Sicherungsmaßnahme zur Verfügung zu haben. Politisch stellte sich aber vor allem die Frage, ob die Auseinandersetzung in Böhmen konfessionellen Charakter trage. Dann wäre Sachsen als Vormacht der Protestanten gefordert gewesen. Die Alternative war, den Böhmischen Aufstand rein politisch zu bewerten. Das wollten die fürstlichen Räte. In Torgau argumentierten sie daher rein formal: Kaiser Matthias habe noch nach dem Ausbruch des Aufstandes versichert, die Konfessionen in Böhmen nicht einseitig verändern zu wollen. Es gehe daher nicht um den Protestantismus. Dresden interpretierte die Erhebung im Nachbarland somit als primär politisch.29 Unter diesem Aspekt erschien es geraten, den Konflikt möglichst nicht auszuweiten und so rasch wie möglich beizulegen. Die Räte vermuteten: Wenn Sachsen nun auf- rüste, oder gar militärisch interveniere, könne das leicht andere Reichsstände auf den Plan rufen. Es entstünde dann aus dem „particular- ein ganz general- undt universal- werck“.30 Wie ein solch großer Krieg ausgehen würde, blieb selbstverständlich ebenso ungewiss, wie die Frage, ob Sachsen seinen bisherigen Status im Reich dann würde behaupten können. Denn im Vergleich zu der zeitgenössischen Supermacht Habsburg und auch gegenüber den anderen europäischen Großmächten waren die Kraftreserven Kursachsens doch gering. Diplomatische Vermittlungsbemühungen waren daher aus sächsischer Sicht das Gebot der Stunde.31 Die Repräsentanten der Landstände, die Johann Georg I. nach Torgau geladen hatte, stimmten mit der in Dresden konzipierten Neutralitätspolitik überein. Auch bei späterer Gelegenheit bestätigte man sich gegenseitig, wie richtig es sei, neutral zu bleiben. Das war der Fall, als Teile des Landtags zusammenkamen. Der Engere Ausschuss der Stände - versammlung trat vom 5. bis 10. November 1618 zusammen.32 Am 6. Juni 1619 verhan- delte der Kurfürst mit sämtlichen Ausschüssen des Landtags in Dresden. Zunächst war man sich also einig.33 Aber seit Dezember 1619 schlugen sich Johann Georg I. und seine Berater insgeheim auf die Seite des Kaisers, der für ein militärisches Engagement auf seiner Seite territorialen Zugewinn in Aussicht stellte. Dresden wurde nun initiativ. Es wollte die ernestinischen* Vetter in Thüringen auf seine neue Linie einschwören und

29 Vgl. Blaschke, Der Fürstenzug (wie Anm. 10), S. 160. Auch Wien war wenig daran gelegen, den Konflikt religiös aufzuladen und schrieb somit Kursachsen eine Brückenfunktion zu, denn einerseits war der sächsische Kurfürst eindeutig lutherisch, aber auf der anderen Seite habsburgfreundlich. Damit ließen sich gewisse konfessionelle Kon- fliktwahrnehmungen abmildern. Vgl. Thomas Brockmann: Dynastie, Kaiseramt und Konfession. Politik und Ord- nungsvorstellungen Ferdinands II. im Dreißigjährigen Krieg. Paderborn/München/Wien: Schöningh 2011, S. 173. 30 Vgl. Müller, Kursachsen (wie Anm. 2), S. 153. Hier findet sich auch das Zitat. 31 Vgl. Thomas Brockmann, Dynastie, Kaiseramt und Konfession (wie Anm. 29), S. 85. 32 Vgl. Sächs. HStA Dresden, Loc. 9169/3: Anno 1618/19, Bl. 13. 33 Proposition vom 5. Juni 1619. Vgl. Sächs. HStA Dresden, Loc. 9173/4: Anno 1619 und 1620, Bl. 184–190.

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versuchte, den obersächsischen Reichskreis, zu dem neben Kursachsen als Vorsitzendem Brandenburg, Pommern, Anhalt und die Thüringischen Duodezfürsten, also durchweg protestantische Territorien, gehörten, für den Kaiser zu aktivieren. Nicht zuletzt aber bemühten sich die Räte des sächsischen Kurfürsten, ohne die Karten offen auf den Tisch zu legen, die eigenen Landstände auf den Kurswechsel vorzubereiten beziehungsweise zu höheren Rüstungsausgaben zu bewegen. Doch die vorsichtigen Hinweise, es könne geraten sein, sich im Streit um die Wenzelskrone* neu zu positionieren, verfingen nicht. Die Vertreter der Landstände votierten auf dem Dresdner Ausschusstag* vom 20. bis 22. Januar 1620 dafür, ihr Landesherr möge sich weiterhin „der Böhmischen Unruhen halber neutral verhalten“.34 Damit hielten sie für vereinbar, dass der sächsische Kurfürst den Kaiser als rechtmäßig gekrönten böh- mischen König ansehe. Denn der sächsische Kurfürst hatte inzwischen gemeinsam mit den anderen Kurfürsten – übrigens auch mit Friedrich von der Pfalz – als Nach- folger des verstorbenen Kaisers Matthias den Erzherzog Ferdinand aus der steierischen Nebenlinie des Hauses Habsburg zum Kaiser gekürt. Der neu gekrönte Kaiser Ferdinand II. hatte aber bei seiner Wahl im Kurfürstenkolle- gium den Platz des böhmischen Königs eingenommen, obwohl die böhmischen Stände dagegen protestiert hatten. Der Pfälzer Kurfürst war inzwischen auch zum König von Böhmen gewählt worden. Sachsen behandelte das lediglich als ein Problem des diplo- matischen Protokolls.35 Das sahen auch die Ausschüsse des Sächsischen Landtags so. Sie empfahlen Johann Georg I., den Pfälzer um Nachsicht zu bitten, dass er dessen Königstitel nicht benutze.36 Mit dieser Empfehlung folgten die Ausschusstagsmitglieder einem Vorschlag ihres Fürsten, der es sich wegen seiner Lehen bei der böhmischen Krone mit keiner Seite verderben wollte. Darüber hinaus glaubten die Ständevertreter, gelte es, die Zufuhr des böhmischen Getreides und anderer Lebensmittel nach Sachsen nicht zu gefährden. Weiterhin stimmten der Landesherr und die Ausschussmitglieder darin überein, dass ein Krieg in Böhmen unausweichlich bevorstehe. Die Stände hielten es daher für angemessen, wenn der Kurfürst nun 4.000 Landsknechte* anwerbe. Man wollte noch rechtzeitig Kräfte an sich binden, mit denen man auch Kriegsvolk, das in großen Verbänden durch Sachsen nach Böhmen ziehe, den Durchmarsch verwehren könne. Mit solchen Truppen ließen sich auch fremde Söldner abweisen, die versuchten, sich in Sachsen schadlos zu halten, weil sie in Böhmen nicht bezahlt wurden.37

34 Vgl. ebd., Bl. 411–421. 35 Vgl. Müller, Kursachsen (wie Anm. 2), S. 154. 36 Vgl. Sächs. HStA Dresden, 10024 – Geheimer Rat (Geheimes Archiv): Unruhen im Königreich Böhmen, Loc. 9173/4: Anno 1619 und 1620, Bl. 411–421: Die aus der Ritterschafft und den Städten erforderten und iezo Anwesenden an Johann Georg I., Dresden, den 22.1.1620. 37 Vgl. ebd.

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Aus der Perspektive der Landstände konnte es scheinen, als wenn Kursachsen durch der- artige Maßnahmen von anfänglichen diplomatischen Vermittlungsversuchen zu einer bewaffneten Neutralität fortschritt. Sachsen wollte stark genug sein, sich gegen mögliche Übergriffe zu wehren. Der Landesherr und seine Räte dagegen mochten meinen, eine Chance ergriffen zu haben, mit der sie die Spaltung des Reiches in zwei unversöhnliche Konfessionsparteien verhindert hatten. Nebenbei würde wohl noch eine Gebietserwei- terung für das Herrscherhaus anfallen. Staatspolitisch verfolgten die sächsischen Räte das Ziel, den böhmischen Konflikt zu lokalisieren. Durch diese Eindämmung wollten sie die bisherige Stellung Kursachsens im Reich behaupten. Wenn Sachsen demnächst militärisch in den Konflikt eingreifen würde, war das durchaus mit diesen politischen Absichten vereinbar. Für die Landstände lag das Kalkül anders. Ihnen nutzte Sachsens Rolle im Reich wenig. Auch von einer Erweiterung der wettinischen Herrschaft hatten sie kaum etwas Positives zu erwarten. Der Landtag wollte die Kriegsbelastung Kur - sachsens möglichst gering halten. Die Stände mochten weder Handelsbeschränkungen mit Böhmen hinnehmen, weil das militärisch erforderlich war, noch wollten sie hohe Steuern für einen Expansionskrieg aufbringen. Der Nutzen einer Expansion würde ohne hin mehr dem Fürstenhaus als dem Land zugute kommen. Bemerkenswert an der Konstellation, in der der Ausschusstag im Januar 1620 stattfand, ist die eindeutige Positionierung der Geheimen Räte auf der Seite des Kurfürsten. Sie ent- schieden sich damit nämlich für die Machtambitionen des Fürstenstaates und gegen ihre Standesinteressen als adelige Rittergutsbesitzer. Offensichtlich verlangte eine hochrangige Herrschaftsausübung im Auftrag des Landesherrn bereits damals – zumindest gelegentlich –, einer Logik des Amtes zu folgen und hinter diesem Erfordernis die Vorteile der eigenen Herkunftsgruppe zurückzustellen. Ob dies für die adeligen Räte Konsequenzen nach sich zog, ist bislang nicht erforscht. Für bürgerliche Ratgeber sächsischer Kurfürsten war es jedenfalls durchaus gefährlich, sich gegen ständische Interessen zu stellen.38 Wie dem auch sei: Im Sommer des Jahres 1620 wurde der Seitenwechsel Sachsens offensichtlich. Am 31. August verlangte Johann Georg I. von den mit Böhmen verbündeten Ober- lausitzer Ständen, ihn als kaiserlichen Kommissar anzuhören und ihm ihre Rückkehr in die Botmäßigkeit des Hauses Habsburg zu bestätigen.39 Als der sächsische Ge-

38 Dies betraf in Sachsen bspw. den Geheimen Rat Nikolaus Krell und den nobilitierten David von Döring. Vgl. Christa Schille: „Crell, Nikolaus“. In: Neue Deutsche Biographie 3 (1957), S. 407f. und Gerhard Schmidt: „Döring, David von“. In: Neue Deutsche Biographie 4 (1959), S. 32. 39 Die Oberlausitz als Nebenland der böhmischen Krone erstrebte mit dem Bündnis größere politische Entschei- dungsfreiheiten. Ersichtlich wurde dies, als die Oberlausitzer Ständevertreter erstmals bei der Wahl Friedrichs V. im August 1619 den böhmischen König mitwählten. Vgl. Norbert Kersken: Die Oberlausitz von der Gründung des Sechsstädtebundes bis zum Übergang an das Kurfürstentum Sachsen (1346–1635). In: Geschichte der Ober- lausitz. Herrschaft, Gesellschaft und Kultur vom Mittelalter bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Joachim Bahlcke. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2001, S. 99–141, hier S. 101.

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sandte, der diese Botschaft an die in Bautzen versammelten Stände überbringen sollte, dort verhaftet wurde, drangen sächsische Söldner in die Oberlausitz ein. Seit dem 9. September belagerten die kurfürstlichen Verbände Bautzen. Da dort auch Truppen aus dem aufständischen Schlesien standen, kam es zu einer dreiwöchigen Belage- rung,40 während der sich die sächsischen Offiziere über die tatsächliche Stärke ihrer Gegner übertriebene Vorstellungen machten. Ob die führenden Militärs und viel- leicht sogar die Geheimen Räte latent oppositionell gegen die Strafexpedition bzw. zu milde gegen die aufständischen Oberlausitzer gesinnt waren, wie der österreichische Gesandte in Dresden vermutete, bleibt im Unklaren.41

Matthäus Merian d. Ä: Belagerung der Statt Budissin oder Bautzen [Kupferstich, 1620]

Offensichtlich wurden solche Motive hingegen, als Johann Georg I. am 21. September 1620 in Meißen die Ritterschaft des Meißnischen Kreises und am 28. September 1620 in Torgau die des Thüringischen und Kurkreises zur Landesdefension aufbieten wollte. Denn die angeforderten Kompanien fanden sich zwar ein, verweigerten sich aber einer Musterung. Sie beschwerten sich darüber, dass der Landesherr von ihnen ver-

40 Vgl. ebd., S. 101. 41 Vgl. Müller, Kursachsen (wie Anm. 2), S. 396–402.

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langte, selbst die Transportmittel (Heerwagen) für den Kriegszug zu stellen, auf eigene Kosten für drei Monate Dienst zu tun und außer Landes, eben in der Oberlausitz, eingesetzt zu werden. Die angeforderte Ritterschaft sah auch noch ein weiteres Hin- dernis. Ihre Heeresfolge sollte ja nicht im eigenen Interesse des Landesherrn, sondern im Rahmen von dessen Kommission für den Kaiser geleistet werden. Vor allem aber richte sich der Kriegseinsatz doch „wieder ihre lieben Nachtbarn, Bluts= und andere Freunde, auch eigene Religionsverwandten“. Dies schade ihrem „Gewissen und guten nahmen“, und die Ritter müssten auch ihr „eigen heil und wohlfarth inn acht neh- men“.42 Hier kontrastierten die Vasallen ihre Interessen mit den Absichten des Lan- desherrn. Sie sträubten sich, ihr Seelenheil durch einen Krieg gegen Lutheraner zu belasten und Schaden für ihren Stand in Kauf zu nehmen, indem sie innerhalb des eigenen Heiratskreises Kämpfe für den Fürsten ausfochten. Die sächsische Ritterschaft folgte anders als die Räte des Kurfürsten nicht der fürstenstaatlichen Intention. Für sie war es weniger wichtig, den Rang Kursachsens im Reich zu sichern oder gar durch territoriale Expansion zu steigern. Offensichtlich stellte hier eine soziale Führungsformation ihre Interessen noch vor die des Fürsten bzw. des Kaisers. Johann Georg I. lenkte zwar in der Frage der Heer- wagen ein. Er gab auch eine Erklärung ab, es gehe ihm darum, als kaiserlicher Kom- missar in den Lausitzen die Augsburger Konfession zu erhalten. Dennoch mussten die Musterungskommissare letztlich aufgeben. Die Reiter des Defensionswerks ritten fast alle wieder nach Hause. Trotzdem gelang es dem Kurfürsten, mit militärischen und diplomatischen Mitteln die Ober- und Niederlausitz sowie Schlesien zur erneuten Anerkennung der habsburgischen Herrschaft zu bringen.43 Die Verweigerung der Heerfolge durch Teile der sächsischen Ritterschaft führte jedoch auf dem Landtag 1622 zu einer eigenen Debatte. Johann Georg I. ließ neben den allgemeinen Forderungen, der sog. ‚Proposition‘, die er an seine Stände richtete, eine Beiproposition nur über diesen Punkt vortragen. Er stützte darin seine Forderung nach Ritterdiensten im Jahre 1620 nicht auf ein sächsisches Staatsinteresse, sondern

42 Sächs. HStA Dresden, Bestand 10015, Loc. 9364/1, Bl. 304-310: Beyproposition, Torgau, den 7. März 1622 (Beschwerde des Kurfürsten wegen der verweigerten Musterung der Ritterschaft 1620); zur gesamten Debatte vgl. ebd., Loc. 9364/1, Bl. 311: Resolution uff die Bey Proposition, Torgau den 10. März 1622 (Ritterschaft und Städte); Loc. 9364/1, Bl. 322–325: Replica auff die Resolution wegen der Beyproposition, Torgau, den 13. März 1622 (Johann Georg I.); Loc. 9364/1, Bl. 326: Duplica wegen der Ritterdinste, Torgau, den 16. März 1622 (Ritter - schafft und Städte); Loc. 9364/1, Bl. 329- 331: Triplica wegen der Ritterdienste, Torgau, den 17. März 1622 (Johann Georg I.); Loc. 9364/1, Bl. 332: Endliche Resolution wegen der Ritterdienste, Torgau, den 17. März 1622 (Ritterschaft); Loc. 9364/1, Bl. 333: Der Grafen Erklerung uf die Beyproposition, Torgau, den 9. März 1622; Loc. 9364/2: Landtag 1622, Andere Buch, M, Vorgegangene Musterung und Herrfartswägen, erliddene Durchzüge und ungelegenheit deß Defensionswerks / geheimen raths. 43 Vgl. Müller, Kursachsen (wie Anm. 2), S. 396–420.

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erklärte, seine Absicht sei es gewesen, für die Lausitzen und Schlesien die protestan- tische Konfession zu sichern sowie seiner Pflicht gegenüber Kaiser, Reichstagsabschied und Exekutionsordnung zu genügen. Der Landtag solle daher sein Urteil darüber ab- geben, was mit denen zu geschehen habe, die sich „mit anzüglichen harten Reden“ diesen lauteren Intentionen des Fürsten widersetzt und ihre Ritterdienste verweigert hätten.44 Die Landtagsgremien der Ritterschaft und der Städte bekundeten daraufhin ihre Freude darüber, dass Gott dem Kurfürst als kaiserlichem Kommissar bei seinen „Ex- peditionen glücksegen und gedeylichen Success allergnedigst vorliehen“ habe. Es sei dankenswert, dass der Fürst den Landfrieden erhalten habe. Daher wollten Ritter- schaft und Städte Johann Georg I. in ihr Gebet aufnehmen und zu Gott für dessen „bestendige Leibesgesundheitt, langes leben, ferner glückliche Regierunge, und alles zeitliche und ewige wolergehen“ beten. In der Sache aber wichen die beiden Corpora des Landtags* wenig von dem ab, was ein Teil der Ritterschaft schon bei der ver - weigerten Musterung reklamiert hatte. Die Corpora vermittelten zwischen den Wort- führern der widersetzlichen Ritter und dem Kurfürsten. Statt einer exemplarischen Bestrafung zuzustimmen, brachten sie ihren Lehnsherrn dazu, eine Entschuldigung anzunehmen, die dieser wegen seiner „angebohrene[n] sanfftmuth und Clemenz“ annahm.45 Ansonsten versicherten Ritterschaft und Städte lediglich, sie hielten sich für verpflichtet, dem Kurfürsten „bis ann die Landtgrenzenn gehorsamlich zu folgen“, hofften aber, der Landesherr werde dann auch für ihre Ver- sorgung einstehen. Auf Nachfrage präzisierten sie noch einmal, dass darunter nicht nur die Stellung von Heerwagen und der Unterhalt der Ritter selbst, sondern auch das Pferdefutter und eine Schadensersatzleistung „für Leib undt Pferdt“ zu verstehen sei, falls „einer vonn dem feinde gefangen, beschädigt würde, oder umbs Pferdt kome“.46 Man könnte auch salopp formuliert sagen, die Stände waren zum Kriegsdienst bereit, wenn der Landesherr sie Vollkasko versicherte. Trotz aller förmlichen Devotion gegenüber dem Lehnsherrn deklarierten die lokalen Führungsgruppen damit auch die Grenzen ihres Engagements für den Fürsten. Sie waren willens, sich gegen feind- liche Übergriffe zu verteidigen. Landesherrliche Expansionsbestrebungen lagen aber nicht im Interesse der Landstände. Denn deren Untertanen hatten am Ende die Kosten und Folgen eines Krieges zu tragen.

44 Sächs. HStA Dresden, Bestand 10015, Loc. 9364/1, Bl. 304–310: Beyproposition, Torgau, den 7. März 1622 (Beschwerde des Kurfürsten wegen der verweigerten Musterung der Ritterschaft 1620). 45 Sächs. HStA Dresden, Bestand 10015, Loc. 9364/1, Bl. 329–331: Triplica wegen der Ritterdienste, Torgau, den 17. März 1622 (Johann Georg I.). 46 Ebd.

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Das Gesagte zeigt, wie wenig ein gängiges Klischee der alten politischen Ereignis - historiographie zutraf. Man kann dem Fürsten und seinem heranwachsenden Staat nicht ohne weiteres ein Engagement für die Gesamtgesellschaft zuschreiben und mit diesem angeblichen Einsatz für das Gemeinwohl ein egoistisches Partikularinteresse der Landstände kontrastieren. Die Motive Johann Georgs I. und seiner Berater waren ebenso egoistisch wie die des Landtages. Die Staatsspitze deklarierte zunächst eine Neutralitätspolitik, dann ein militärisches Eingreifen – beides, um ihre Position in der Reichspolitik zu behaupten. Oder genauer: Es ging um die Position des sächsi- schen Kurfürsten, die aber von den Geheimen Räten erarbeitet und gemanagt wurde. Ein so definiertes Landeswohl konnten die führenden ländlichen und städtischen Sozialformationen – das sind die Ritterschaft und die Städte, die auf den Landtag kamen – nicht als für die Gesamtheit nützlich anerkennen. Deshalb verweigerten viele von ihnen im Jahre 1620 den Kriegsdienst außer Landes.

Glossar:

Prager Fenstersturz: Ereignis, das den Dreißigjährigen Krieg auslöste; dabei warfen Vertreter der protestantischen böhmischen Stände nach einem Schauprozess die königlichen Statthalter der katholischen Habsburger aus dem Fenster der böhmi- schen Hofkanzlei in Prag | Augsburger Religionsfriede: Ein 1555 in Kraft getretenes Reichsgesetz des Heiligen Römischen Reiches, das den Anhängern der ‚Augsburger Konfession‘ (Luthertum) ihren Besitzstand und die freie Ausübung ihrer Religion garantieren sollte | Ausschusstag: Im Gegensatz zu einem Landtag versammelten sich hier nur einzelne ‚Consilia‘ (Ausschüsse) der Ständeversammlung, um i. d. R. nur eine bestimmte Angelegenheit der Landespolitik zu beraten | Engerer Ausschuss der Ritterschaft: siehe ‚Landtagscorpora‘ | Ernestiner/Albertiner: 1485 teilten die Wettiner-Brüder Herzog Ernst und Herzog Albrecht ihr gemeinschaftliches Herr- schaftsgebiet Sachsen in der sog. ‚Leipziger Teilung‘ untereinander auf; dessen Teile blieben fortan voneinander unabhängig. Gleichsam teilte sich das Fürstenhaus Wettin so in zwei eigenständige Herrscherdynastien, die sich nach ihren Stamm- vätern benannten | Geheimer Rat (Kursachsen): Kollegium aus Räten, die die wichtigsten Angelegenheiten der Landespolitik berieten und dem Kurfürsten zur Beschlussfassung vorschlugen, somit wichtigstes politisches Entscheidungs gremium | Hochstift: Ein Territorium im Heiligen Römische Reich, in dem die weltliche Landesherrschaft durch einen Bischof ausgeübt wurde | Landsknecht: zu Fuß kämp- fender, i. d. R. deutscher Söldner des 15. und 16. Jahrhunderts | Landtagscorpora

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Sachsen und der Böhmische Aufstand 1618–1622

(Kursachsen): frühneuzeitliche Landtage/Ständeversammlungen setzten sich aus den drei ‚Corpora‘ Prälaten, Grafen und Herren, Ritterschaft und Städte zusam- men. Diese Gremien unterteilten sich wiederum in mehrere ‚Consilia‘. Dieses waren für den Ersten Corpus zum einen die Prälaten, Grafen und Herren und zum anderen die Universitäten. Im zweiten und dritten Corpus existierten jeweils ein Engerer und ein Weiterer Ausschuss, sowie die ‚Allgemeine Ritterschaft‘, res- pektive die ‚Allgemeinen Städte‘ | Magdeburger Börde: eine fruchtbare deutsche Landschaft und Kulturregion nordöstlich des Harzes; zentrale Landschaft des Bundeslandes Sachsen-Anhalt | Wenzelskrone: Krone des Königreichs Böhmen

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Lebenserfahrungen des Leitmeritzer Bürgers und Pirnaer Exulanten Václav Nosidlo von Geblic (1592–1649)

Jana Hubková

Lebenserfahrungen des Leitmeritzer Bürgers und Pirnaer Exulanten Václav Nosidlo von Geblic (1592–1649)

Ein Selbstzeugnis im Spiegel der Flugblattpublizistik des Dreißigjährigen Krieges

Es ist uns aus der Heiligen Schrift gut bekannt, dass niemand zu einer Religion mit Gewalt gezwungen werden sollte und deshalb verlangen auch wir, diese Freiheit zu genießen, weil wir gerade für sie unsere Heimat verließen.

Dieses Zitat aus einer Petition der böhmischen Exulanten in Sachsen verfasste der Leitmeritzer Bürger Václav Nosidlo von Geblic (1592–1649), dessen Leben sich an beiden Seiten der böhmisch-sächsischen Grenze abspielte. Er verbrachte nämlich einige Jahre als Exulant in Pirna und gehörte zu denjenigen, die von seinem Auf- enthalt in dieser sächsischen Grenzstadt ein schriftliches Zeugnis hinterließen.1 Seine privaten Eintragungen chronistischer Prägung2 betreffen die Jahre 1626 bis 1639 und sind als ‚Selbstzeugnis‘3 oder ‚Ego-Dokument‘4 zu bezeichnen. Sie gehören

1 Die Erinnerungen von Jiří Bydžovský Kezelius behandelte Zdeněk Kamper (Hg.): Kronika Mladoboleslavská. Mladá Boleslav 1935. Zu den Einschreibungen von Karel Pfefferkorn vgl. Josef Volf: Genealogické příspěvky rodu Pfefferkornů z Ottopachu. In: PA 23, 1908, S. 333–338, 587–590. Die Erinnerungen des Bořek Mateřovský vgl. Stephan Kekule von Stradonitz: Ein Gedenkbuch eines böhmischen Exulanten. Der deutsche Herold 5, 1908; Marie Ryantová: Těžké časy urozeného a statečného rytíře Bořka Mateřovského z Mateřova, exulanta v městě Pirně. In: Víra nebo vlast. Hg. v. Michaela Hrubá.Ústí nad Labem 2001, S. 249–257; Petermanns Pirnische Chronik. Hg. v. Richard Flachs. Pirna 1914. 2 Der Text der Chronik von Nosidlo wurde lange Zeit nur aus zwei späteren Abschriften aus dem 18. Jahrhundert bekannt. Die lange vermisste handschriftliche Version, in Form der Eintragungen in Veleslavíns Kalender aus dem Jahre 1590, entdeckte Jan Martínek 1971 in der heutigen Bibliothek der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik in Prag. Vgl. Jan Martínek: Svědectví nově objeveného rukopisu o povaze a rozsahu Nosidlových pamětí. In: SK 9/1974, S. 99–113. Zu Nosidlo und seiner Chronik am ausführlichsten vgl. Martina Lisá: Pirenská exulantská obec během třicetileté války očima kroniky Václava Nosidla z Geblic [Die Pirnaer Exulantengemeinde während des Dreißigjährigen Krieges mit den Augen der Chronik von Václav Nosidlo von Geblic]. In: Sborník Národního muzea v Praze, řada C – literární historie, 54/2009/1–4, S. 3–43. 3 Vgl. Benigna von Krusenstjern: Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert. In: Historische Anthropologie 2, 3/1994, S. 462–471; dies.: Selbstzeugnisse der Zeit des Dreißigjährigen Krieges: Beschreibendes Verzeichnis. Berlin 1997. 4 Vgl. Winfried Schulze: Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegung für die Tagung „EGO-DOKUMENTE“. In: Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Hg. v. dems. Berlin 1996, S. 11–30.

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Lebenserfahrungen des Leitmeritzer Bürgers und Pirnaer Exulanten Václav Nosidlo von Geblic (1592–1649)

zu den Quellen, die uns der Gedankenwelt und dem Alltag sowohl der Angehörigen einer der vielen Exilwellen der Frühen Neuzeit als auch der Gesellschaft, die diese Flüchtlinge annahm, näher bringen können. Sie führen uns in die Zeit, als viele europäische Herrscher überzeugt waren, dass nur die Durchsetzung einer einzigen vom Herrscher bestimmten Konfession im Lande die politische Stabilität des Staates garantiert. Václav Martin Nosidlo wurde am 16. September 1592 in einer wohlhabenden Bürgerfamilie in der nordböhmischen Stadt Litoměřice (Leitmeritz) geboren. Sein Vorfahre Martin, der Weinhändler und Leitmeritzer Bürgermeister war, wurde schon 1542 geadelt. Damals wurde ihm auch das Wappen mit Symbolen des Wein- baus und des Handels erteilt.5 Sein Vater bekleidete das Amt des Stadtsenators. Der kleine Václav besuchte zuerst die Stadtschule, die einen guten Ruf hatte.6 Verhältnis- mäßig bald begann er an der Prager Universität zu studieren.7 In Prag erlebte er die Atmosphäre der letzten Jahre der Regierung des kunstliebenden Kaisers Rudolf II. Er verfolgte aufmerksam auch die Verhandlungen der nicht-katholischen böhmi- schen Stände mit dem Kaiser über die Erteilung umfangreicher Religionsfreiheit. Davon berichtete auch eine der ersten regelmäßig herausgegebenen gedruckten Wochenzeitungen, die in deutscher Sprache erschien und im weithin deutschsprachi- gen Raum gelesen wurden. Da die Mehrheit der potentiellen Leser in Gebieten lebte, die nach dem Grundsatz ‚Cuius regio, eius religio‘* verwaltet wurden, musste in der Zeitungsnachricht vom 3. Februar 1609 präzisiert werden, dass die böhmischen Stände Ihrer Majestät eine Schrift übergaben, in der sie verlangen, dass „ein jeder / ja sogar der Bawersmann / was er selbst in seinem Gewissen befinde / ohn einige Molestation glauben möge.“8 Sowohl die regelmäßige als auch die unregelmäßige Berichterstattung informierte über die neue Organisation des religiösen Lebens der böhmischen, nicht-katholischen Christen: die dortigen auf der Basis der böhmi- schen Konfession vereinigten Hussiten (Utraquisten*), Böhmischen Brüder und Lutheraner sollten ein gemeinsames Konsistorium mit einem Administrator an der

5 Abbildung des Wappens vgl. Lisá, Nosidlo (wie Anm. 2), S. 9; August von Doerr: Der Adel der böhmischen Kronländer. Prag 1900, S. 19. 6 Vgl. Lenka Bobková: Exulanti z Prahy a severozápadních Čech v Pirně v letech 1621–1639 [Die Exulanten aus Prag und Nordwestböhmen in Pirna in den Jahren 1621–1639]. Prag 1999, S. 171; Lisá, Nosidlo (wie Anm. 2), S. 9. 7 Vgl. Beda Dudík: J. P. Ceroni‘s Handschriftensammlung (Mährens Geschichts-Quellen), T. 1. Brünn 1850, S. 457: „Sein Vater […] schickte ihn frühzeitig an die Hohe Schule nach Prag […]“. 8 Walter Schöne: Der Aviso des Jahres 1609 [Faksimiledruck]. Leipzig 1939, Ausgabe vom 20. Februar, 3. Meldung: „Jetzt vernemblich / das die Behemischen Stendt / ihrer Mayet. ein Schrifft über geben / darinnen sie unter anderen begehren / die Religion in gemein durch und durch / das ein jeder/ ja so gar der Bawersmann / was er selbst in seinem Gewissen befinde / ohn einige Molestation glauben möge.“

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Spitze gründen.9 Durch die damaligen Flugblätter und Flugschriften wurden bald sowohl Extrakte aus Rudolfs Majestätsbrief über die religiöse Freiheit als auch der Wortlaut eines parallel erschienenen Dokuments, das die religiösen Rechte der nicht so zahlreichen katholischen Landesbewohner garantieren sollte, veröffentlicht. Václav war sich der Bedeutung solcher Gewährleistung der Religionsfreiheit bewusst. Er kannte persönlich einige Studenten und Professoren des ehemaligen evangelischen Ständegymnasiums, die der katholische Landesherr Ferdinand von Steyermark des Landes verwiesen hatte, weil sie es ablehnten, zum Katholizismus zu konvertieren. Viele von ihnen – z.B. auch der berühmte Astronom Johann Kepler oder der spätere Prorektor der Karls-Universität Peter Fradelius – fanden gerade in Prag Zuflucht. Damals war Václav wohl zum erstenmal Zeuge der Haltung derjenigen Personen, die zwischen ihrem Glauben und ihrer Heimat wählen mussten und freiwillig die Unsicherheit des Exils bevorzugten. Am 17. September 1615 wurde Václav Nosidlo ‚Baccalaureus artium liberalium‘ (Bachelor der Freien Künste). Danach wirkte er als Verwalter an einigen Schulen, und 1616 wurde er Rektor der Schule in Poděbrady.10 Dabei blieb er immer im Kon- takt mit der Universität, welche die Aufsicht über die utraquistischen Stadtschulen im Lande ausübte. Ohne Zweifel kannte er persönlich alle führenden Persönlichkeiten des damaligen Universitätsmilieus, einschließlich des Rektors Johann Jessenius, des Arztes, der die erste öffentliche Autopsie in den böhmischen Ländern durchführte. Zu dieser Zeit fand Václav an den gedruckten und oft auch illustrierten Flugblättern Gefallen, deren Verfasser informieren, belehren oder amüsieren wollten. Im Besitz der Karls-Universität war auch die große Flugblätter- und Flugschriftensammlung des ehemaligen Rektors Marek Bydžovský (1540–1612),11 in der sich Drucke befanden, die alles Wichtige erfassten, das während der Lebenszeit dieses Sammlers passiert war. Auf den Seiten der neuen nicht periodisch erscheinenden Flugblätter wurden alle aktuellen Ereignisse mit Text und Bild kommentiert: Tod des Kaisers Rudolf, Thron- besteigung seines kinderlosen Bruders Matthias und dessen Bemühen, dass die böh-

9 Ebd., Ausgabe vom 21. August 1609, Siebte Meldung: „Gestern haben sich die Böhmischen Stendt / samptlichen darin verglichen und beschlossen / daß sie nemlich bey I. M. ubergebenen […] Confeßion / einhelliglich / und ohne zerstreung / verbleiben wollen/ und derselben Namen / als Böhmisch Confession gegeben werden / nach solcher Vergleichung haben die Stendt einander die handt geboten / und darbey zu bleiben und zu halten gelobt / darauff solle das Consistorium auffgericht / und mit 7 geistlichen Persohnen bestellet werden / und ob woln der Administrator Lutherisch / der ander dritt / und vierdte / einer andern Religion seyn wird / so solle doch keiner weder Lutherisch / hußitisch / Piccardisch / Brüderisch / oder dergleichen Nahmen / sondern allein Böhmisch Evangelisch gegeben / und durch den Administratorn / und seine mit Collegen / die Priester ordinirt werden […].“ 10 Vgl. Bobková, Exulanti (wie Anm. 6), S. 171; vgl. auch Lisá, Nosidlo (wie Anm. 2), S. 9. 11 Die Sammlung von Marek Bydžovský von Florentin wurde teilweise benutzt von Jaroslav Kolár (Hg.): Svět za tří českých králů [Die Welt zur Regierungszeit dreier Könige von Böhmen]. Prag 1987.

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mischen Stände noch zu seinen Lebenszeiten seinen Verwandten Ferdinand von Steiermark zum künftigen König wählten. Matthias, König von Böhmen und zugleich Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, übersiedelte aus Prag nach Wien. Mit dem böhmischen Milieu blieb er mittels der katholischen Statthalter im Kontakt. Zu der Zeit kam es zu einigen Konflikten, welche die nicht-katholische Mehrheit der Bevölkerung für eine Verletzung von Rudolfs Majestätsbrief hielt. Die größte Aufmerksamkeit von Václav Nosidlo erweckte der sich hinschleppende Streit zwischen dem Prager Erzbischof Jan Lohelius und seinen nicht-katholischen Untertanen aus der nordböhmischen Bergmannsstadt Klostergrab (Hrob), der darin gipfelte, dass der Erzbischof die vor kurzem erbaute evangelische Kirche nieder- reißen ließ.12 Václav Nosidlo las ohne Zweifel auch Drucke, die von den Ereignissen berichteten, die zum Auftakt des Dreißigjährigen Krieges wurden: Tagung der böhmischen nicht- katholischen Stände an der Prager Universität (21.–22. Mai 1618), Prager Fenster- sturz,13 Ausweisung der Jesuiten aus Böhmen, Konstituierung der ständischen Regierung, Tod des Kaisers Matthias, Absetzung Ferdinands von Steiermark vom Generallandtag der Stände der böhmischen Krone, Wahl Friedrichs von der Pfalz zum neuen böhmischen König, Friedrichs Krönung in Prag und seine Huldigungs- reise in die Kronländer (Mähren, Schlesien, Oberlausitz, Niederlausitz). Die Karls- Universität in Prag wurde damals zum Zentrum der böhmisch-pfälzischen Flugblatt- publizistik.14 Unter Führung des Prorektors Peter Fradelius nahmen viele von Václavs Freunden und Bekannten am Verfassen dieser Text- und Bildpropaganda teil.15 Ihre Hoffnungen endeten jedoch im November 1620 mit dem Sieg der kaiserlichen Truppen unter Führung von Maximilian von Bayern am Weißen Berg. Danach kam wieder die kaiserliche Propaganda mit der Schilderung der siegreichen Schlacht zu Wort.16 Nach der Besetzung von Prag wurde die Vergeltung des siegreichen Ferdinand II. er- wartet. Das weckte die Erinnerungen an die Strafen nach dem sog. Ersten Aufstand

12 Vgl. Jan Kilián: 11.12. 1617. Zboření kostela v Hrobu [11. 12. 1617. Das Niederreißen der Kirche in Klostergrab]. Prag 2007. 13 Vgl. Johann Faber: Warhafftige Zeitung und Geschicht […], Kuttenberg 1618. In: www.vd17.de, Zugriff am 01.07.2013, VD17 3:625852Q. 14 Zur Karls-Universität als Zentrum der böhmisch-pfälzischen Propaganda vgl. Jana Hubková: Fridrich Falcký v zrcadle letákové publicistiky [Friedrich von der Pfalz im Spiegel der Flugblattpublizistik]. Prag 2010, S. 121–146. 15 Vgl. M. P. F. S. (d.i. Peter Fradelius): Abrieß deß böhmischen Löwens. Prag 1619; Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Bd. 2. Hg. v. Wolfgang Harms. München 1980, Nr. 153; ebenso Hubková, Fridrich Falcký (wie Anm. 14), S. 128, 579. 16 Vgl. Warhaffte und eigentliche Abbildung was in der newlichen Zeit […]bey der Stadt Prag […] zugetragen, o. O. 1620. In: VD17 23:675989K (wie Anm. 13).

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Peter Fradelius: Abrieß deß böhmischen Löwens [Prag, 1619]

gegen die Habsburger (1547), der paralell zu dem Krieg zwischen dem protestan - tischen Schmalkaldischen Bund und den katholischen Truppen des Kaisers Karl V. verlief. Der böhmische König Ferdinand I., Bruder des Kaisers Karl V., wollte mit dem böhmischen Landesheer in die Kämpfe gegen die deutschen Protestanten ein- greifen. Die Stände des Königreichs Böhmen lehnten dies jedoch mit der Begründung ab, dass das Landesheer ausserhalb des Königreichs Böhmen nicht eingesetzt werden

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dürfe. Neben Prag gehörte auch Leitmeritz zu den Hauptzentren des Aufstands. Nach der Niederlage des Schmalkaldischen Bundes besetzte der böhmische König Ferdi- nand I. diese Stadt. Er ließ sich im Rathaus nieder und lud die aufständischen Ade- ligen und Vertreter der böhmischen königlichen Städte zum Verhör vor. Damals wurde auch Václavs Vorfahr Martin als bedeutender Repräsantant der nicht-katho - lischen Bürger zuerst in Leitmeritz und dann in Prag verhaftet.17 Schließlich wurden fünf Todestrafen verhängt (zwei Bürger, zwei Ritter, ein Drucker). Besonders betrof- fen waren der ‚Oberlausitzer Sechsstädtebund‘ im sog. ‚Pönfall‘* sowie auch Städte in Böhmen.18 Zu den königlichen Strafmaßnahmen gehörten auch strenge Restrik- tionen des Buchdrucks in Böhmen und das Verbot des Kolportierens von Flugschrif- ten aus den deutschen lutherischen Gebieten. Die Sanktionen des Königs Ferdinand II. waren jedoch viel härter. In ganz Europa wurden die Flugblätter und Flugschriften mit den Nachrichten von der außerordent- lich grausamen Hinrichtung von 27 Herren und Bürgern am Altstädter Ring in Prag,19 die als führende Personen des Aufstands bezeichnet wurden, verbreitet. Viele von ihnen kannte Václav sehr gut, z. B. Kaspar Kaplíř von Sulevice, Friedrich von Bühlau auf Řehlovice oder den Bürgemeister der nordböhmischen Stadt Saaz (Žatec) Max- milian Hošťálek. Mit ihnen bereitete sich auch Václavs Verwandter, der berühmte Arzt Matyáš Borbonius,20 auf den Tod vor. Erst beim Verlesen des Urteils am Hin- richtungsplatz erfuhr Borbonius, dass er begnadigt wurde. Die Häupter der Hin - gerichteten wurden auf Pfähle gespiesst und lange Monate in verächtlicher Weise auf dem Turm der Karlsbrücke ausgestellt. Während die katholischen kaiserlichen Flugblätter und Flugschriften die strengen Strafen begründeten und Bitten der Ver - wandten der Verurteilten um Gnade verspotteten,21 wurde auf den Radierungen der gedruckten Berichte protestantischer Provenienz über dem Hinrichtungsplatz der Regenbogen als Sinnbild des Märtyrertodes dargestellt. Der Exekution folgten weitere

17 Vgl. Julius Lippert: Geschichte der Stadt Leitmeritz. Prag 1871, S. 274; Oldřich Kotyza / Jan Smetana / Jindřich Tomas: Dějiny města Litoměřic. Litoměřice 1997, S. 367. 18 Vgl. Lenka Bobková: Der Böhmische Aufstand 1547 und der Sechsstädtebund. In: 1547. Pönfall der Oberlausitzer Sechsstädte. Kamenz 1999, S. 51–65. 19 Vgl. Eigentliche Abbildung deß Prozess der Pragerischen Execution, o.O. 1621. In: VD17 23:676032D (wie Anm. 13); Deutsche illustrierte Flugblätter (wie Anm. 15), Nr. 173. 20 Matyáš Borbonius von Borbenheim (alias Matěj Burda) war Leibarzt des Kaisers Rudolf II., der ihn schon 1596 adelte. In den Jahren 1599–1609 bekleidete er das Amt des Landesarztes. Borbonius‘ Patientin war auch die Gemahlin des Kaisers Matthias. Bei der Heilung von Polyxena von Lobkowicz (Gattin des Obersten Kanzlers des Königreichs Böhmen) benutzte er ermalwasser aus der Umgebung von Eger (später Franzensbad) mit Erfolg. Zur Verwandschaft zwischen Matyáš Borbonius und Václav Nosidlo Josef Hejnic vgl. Jan Martínek: Rukověť humanistického básnictví v Čechách a na Moravě. Prag 1966–1982, Teil 4, S. 44 (Nosidlo z Geblic). 21 Vgl. Michal Pěčka z Radostic: ronus Justiciae. Prag 1621. Vgl. auch Hubková, Fridrich Falcký (wie Anm. 14), S. 142–144, 594, 595.

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Sanktionen – vor allem Inhaftierungen und Vermögenskonfiskationen. Die Tendenz des Herrschers, nur eine einzige und zwar die katholische Konfession im Lande durch- zusetzen, kam dadurch drastisch zum Ausdruck. Diese Situation verursachte einige Exilwellen. Die aktivsten Teilnehmer des Aufstan- des verließen das Land unmittelbar nach der Schlacht am Weißen Berg, eine beträcht- liche Zahl der Bewohner flohen nach der Altstädter Exekution. Im Jahre 1622 wurden tschechische nicht-katholische Geistliche und Lehrer des Landes ausgewiesen, ein Jahr später mussten auch deutsche lutherische Prediger und Lehrer ins Exil gehen. Laut den kaiserlichen Dekreten aus den Jahren 1624 und 1626 mussten sich auch alle Bürger und Adeligen entscheiden, entweder zum Katholizismus zu konvertieren oder ins Exil zu gehen. Diejenigen, die ihrem Glauben treu blieben, suchten zuerst in den Nachbarländern Asyl. Ihr Ziel wurde von ihrer Konfession beeinflusst. Die Mitglieder der Brüderunität zogen in der Regel nach Polen, Ungarn, später auch nach Branden- burg, in die Niederlanden und nach England, die böhmischen Utraquisten suchten Zuflucht in Sachsen. Mit dem Motiv des Exils arbeitete auch die zeitgenössische Propaganda. Schon im Laufe des Jahres 1621 erschien eine enorme Zahl von prokaiserlichen, spöttischen, illustrierten Flugblättern gegen Friedrich von der Pfalz. Ihre anonymen Verfasser zeig- ten den ehemaligen König, seine Frau sowie seine Verbündeten in verschiedenen fiktiven Situationen, z. B. als obdachlose Wanderer und arme Exulanten, die auf Lie- besgaben und Hilfe anderer angewiesen sind und Fronarbeiten für diejenigen leisten müssen, bei denen sie Zuflucht fanden.22 Bald danach wurden auch aus Böhmen aus- gewiesene nicht-katholische Geistliche und Lehrer zur Zielscheibe desselben Spottes.23 Gegenteilige Standpunkte enthielten Flugschriften, in denen die Exulanten selbst ihre Haltungen erklärten. Nach dem Verbot aller nicht-katholischen Schulen in Böhmen verlor auch Václav Nosidlo seine Arbeit. Er kehrte 1624 in seine Heimatstadt zurück, die damals etwa 6.000 überwiegend nicht-katholische Einwohner zählte. Er war als Stadtschreiber tätig und heiratete bald danach Anna, die Tochter eines Leitmeritzer Bürgers. Damit endete eine relativ ruhige erste Etappe seines Lebens. Zu dieser Zeit war Leitmeritz von den Strafen des siegreichen Ferdinand II. betroffen. Die Bürger wurden – je nach ihrem Anteil am Aufstand – in sechs Gruppen geteilt: Den Bürgern der ersten Gruppe, die sich am aktivsten am Aufstand beteiligt hatten, wurde ihr gesamtes Ver-

22 Die drei Blinden aus Böhmen, o. O. 1621. In: VD17 12:671790U (wie Anm. 13). Vgl. weitere thematisch ver- wandte Flugblätter: Deß Pfaltzgrafen Urlaub, o. O. 1621. In: VD17 12:671621A; Grindliche Weissagung, o. O. 1621. In: VD17 12:128886S; Deß Pfaltzgraf Scharwerch bey den Staden, o. O. 1621. In: VD17 14: 007181C. 23 Der anonyme Einblattdruck: MARTIN LVTHER. Nuhn Muess es Ia gewandert sein, o. O. 1623. In: Deutsche Illustrierte Flugblätter (wie Anm. 15), Nr. 168.

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Die drey Blinden auß Böhmen [ohne Ort, undatiert]

mögen genommen, die Bürger der zweiten Gruppe verloren fünf Sechstel ihres Eigentums, der dritten Gruppe wurden vier Sechstel des Vermögens konfisziert, die vierte Gruppe verlor drei Sechstel ihres Guts, die fünfte Gruppe kam um zwei Sechstel ihres Besitzes und der sechsten Gruppe wurde ein Sechstel des Eigentums beschlag- nahmt. Václav Nosidlo war nicht zu schlimm betroffen, weil er in die sechste Gruppe gehörte. Das erwähnte ein Sechstel des Vermögens stellte sein Haus in der Pokraticer

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Strasse und Weinberge in Kamenatky in der Gesamtsumme von fünfhundert Schock* dar. Das baufällige Haus hinter dem Cimicer Tor durfte er für zehn Schock ver - kaufen.24 Die folgenden Rekatholisierungsmaßnahmen betrafen alle Bürger, ohne Rücksicht darauf, ob sie einen Anteil an dem Aufstand hatten oder nicht. Im Jahre 1624 nahmen sechs Rekatholisierungskommissionen ihre Tätigkeit auf, die die tatsächliche Situation in einzelnen böhmischen Pfarrbezirken feststellen und das Wirken mancher, sich noch illegal im Land aufhaltender nicht-katholischer Geistlicher verhindern sollten. Zuerst suchte man die nicht-katholische Bevölkerung mittels Unterricht, Theater und verschiedenen Festivitäten zu überzeugen, danach wurden härtere Mittel an - gewendet.25 Das Drängen auf die Konversion der Leitmeritzer Bürger spitzte sich vor allem nach dem 1. Januar 1626 zu, als die Frist für die Entscheidung der dortigen Ratsherren für den Übertritt oder das Fortgehen abgelaufen war. Nach Leitmeritz gelangte die Mission unter der Führung des Kapuziners František, Grafen von Roz - dražov. Sie wurde von den Soldaten des spanischen Hauptmanns Baltasar Marradas begleitet, die den Druck noch steigerten. Manche Bürger konvertierten, andere lehnten es ab. Manchen gelang es, die falsche Bestätigung einer Beichte zu kaufen, die als Beleg der Konversion diente. Aus einer unstimmigen Bemerkung von Václav Nosidlo geht hervor, dass auch seine Schwester Dorota diesen zeitweiligen Notbehelf benutzte.26 Denjenigen, die nicht konvertierten, wurde verboten, ihre Gewerbe zu betreiben, und Soldaten wurden in ihre Häuser geschickt. In dieser schweren Zeit brachte Anna Nosidlova ihre Tochter Dorota zur Welt. Sie erhielt am 29. Januar in der Leitmeritzer Aller Heiligen-Kirche von einem katholischen Priester die Taufe. Weil allein lebende Frauen oder Witwen die Möglichkeit hatten, sich von der Pflicht der Soldaten - einquartierung durch Zahlung einer Kaution loszukaufen, entschied Václav Nosidlo, seiner Frau die Situation zu erleichtern und die Stadt zu verlassen. Vierzehn Tage nach der Geburt seiner Tochter nahm er von seiner Frau Abschied, und gemeinsam mit einem anderen Leitmeritzer Bürger schlüpfte er heimlich zwischen Soldaten - wachen aus der Stadt, ohne ein genaues Ziel ihrer Flucht. Den beiden Flüchtlingen bot der Obrigkeitsbeamte von Zahořany, Jiří Mejschner Hilfe, indem er ihnen eine Bewilligung verschaffte, damit sie sich in der Nacht auf das Herrschaftgebiet des lutherischen Adeligen Wilhelm Kinsky in Benešov begeben konnten. Beim dortigen

24 Vgl. Tomáš V. Bílek: Dějiny konfiskací v Čechách po r. 1618. Prag 1882, S. 1127. 25 Vgl. Ivan Martinovský: Die Rekatholisierung am Beispiel der nordböhmischen Gemeinde Karbitz bei Aussig. In: Weit drin in Sachsen wie im Böhmerland… Kapitel aus der sächsisch-böhmischen Geschichte für Lehrer. Hg. v. Kristina Kaiserová/Zdeněk Radvanovský/Martin Veselý. Ústí nad Labem 2004, S. 64–68. 26 Vgl. Lisá, Nosidlo (wie Anm. 2), S. 10, Chronik von V. Nosidlo – Einschreibung zum 6. Januar 1626.

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Lebenserfahrungen des Leitmeritzer Bürgers und Pirnaer Exulanten Václav Nosidlo von Geblic (1592–1649)

Richter Šebestin verbrachten sie sechs Wochen. Erst nach der Bekanntgabe des Statt- halterverbots über das Beherbergen von Flüchtlingen gingen beide Leitmeritzer Bürger nach Pirna in Sachsen.27 Nach der Ankunft in der Stadt mietete Nosidlo mit zwei anderen Exulanten die Wohnung „in mittleren oberen Zimmern“ des Hauses von Hans Funcke am Marktplatz. Die Miete für zwei Zimmer und vier Abstell - kammern betrug 24 Reichstaler pro Vierteljahr. Für diesen Preis war es damals mög- lich, zwei Pferde zu kaufen.28 Bald danach kam auch Anna Nosidlová mit dem sieben Wochen alten Töchterchen in Pirna an. Gemeinsam mit einigen Frauen anderer Leit- meritzer Bürger musste sie eine gefährliche Elbschifffahrt bei sehr kaltem Wetter bestehen.29 Für die Exulanten war es keinesfalls einfach, ihr Heim zu verlassen. Manche Flücht- linge kehrten noch wiederholt legal oder illegal zurück. Das betraf auch die Familie Nosidlo, die sich schon im Herbst desselben Jahres nach Leitmeritz begab, weil ihnen angeblich aufgrund eines neuen Dekrets eine ‚Amnestie‘ versprochen wurde.30 Zu Hause warteten jedoch nur Schikanen, wie zwanghafte Belehrung zum katho- lischen Glauben im Rathaus sowie Steuer-, Kontributions- und Zehntzahlung, auf sie. Aufs Neue wurden sie gezwungen, ihr Vermögen schnell zu veräußern und wieder zwischen der Konversion und dem Exil zu wählen. Den Leitmeritzern, die bei ihrer alten (in der Regel utraquistischen oder lutherischen) Konfession blieben, wurde die Aufenthaltsfrist nach wiederholten Bitten bis zur Fastnacht 1627 verlän- gert. Danach musste sich die Mehrheit von ihnen wieder auf den Weg ins Ausland begeben. Die Familie Nosidlo ging wieder nach Pirna. Einige Monate darauf schrieb Václav Nosidlo die traurige Nachricht in seine Chronik ein, dass seine Tochter Dorota im Alter von einem Jahr, zwanzig Wochen und drei Tagen gestorben und auf dem Friedhof bei der St. Nikolaus-Kirche in Pirna mit „dem deutschen Prozess“ begraben worden war. Das Epitaph auf Dorotas Grabstein verfasste ein Familien- freund und Exulant in Pirna – der bedeutende Prager Dichter und Historiograph Jan Černovický von Libá Hora. In demselben Jahr erließ Ferdinand II. die sog. Ver-

27 Vgl. ebd., Einschreibung zum 11. Februar 1626. 28 Vgl. Bobková, Exulanti (wie Anm. 6), S. XXI. Zu den beiden Mitbewohnern und ihrem Quartiergeber ebd., S. 152, 168, 219. 29 Vgl. Lisá, Nosidlo (wie Anm. 2), S. 11, Chronik von V. Nosidlo – Einschreibung zum 16. März 1626. 30 Vgl. ebd., S. 11, in Anm. 84. Das erwähnte Dekret enthielt die zeitlich begrenzte Bewilligung zur Rückkehr nach Böhmen, um Vermögensangelegenheiten zu erledigen. Das wurde dank der Intervention des sächsischen Kur- fürsten erreicht und bedeutete praktisch die Verlängerung der Frist, während der die Exulanten ihr Vermögen in Böhmen verkaufen konnten. Die umfangreiche Korrespondenz zwischen dem Leitmeritzer Bürgermeister Šimon Aulík und den Pirnaer bzw. sächsischen Behörden aus den Jahren 1626 und 1627, die Nosidlo in seine Einschrei- bungen abschrieb, zeugt davon, dass der Bürgermeister wirklich Interesse an der Rückkehr der Exulanten hatte. In diesem Zusammenhang konnten irreale Versprechen gegeben werden oder konnten diese Mitteilungen schlecht begriffen werden.

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neuerte Landesordnung für Böhmen, d. h. ein neues Grundgesetz, durch das der katholische Glauben als einzig erlaubte Konfession im Lande endgültig festgelegt wurde. Im folgenden Jahr erloschen auch die letzten und verlängerten Fristen zur Konversion des böhmischen nicht-katholischen Adels und eine weitere Welle von Flüchtlingen verließ das Land. Das registrierte auch die sächsische Stadt Pirna. Seit Beginn des böhmischen Ständeaufstands an erwies der sächsische Kurfürst Johann Georg seine Loyalität gegenüber dem Kaiser nicht nur durch seine Neutralität. Schon im September 1620 fiel er im Gebiet des Königreichs Böhmen ein und belagerte und eroberte die Stadt Bautzen.31 Später, im Juni 1623, wurde ihm die Ober- und Nieder- lausitz vom Kaiser als Entschädigung für die Kriegskosten verpfändet. Im Jahre 1621 zögerte Johann Georg nicht, sogar seinen ehemaligen Erzieher und von Friedrich von der Pfalz ernannten Lausitzer Landesvogt Joachim Andreas Grafen Schlick zu verhaf- ten, den Kaiserlichen auszuliefern und auf diese Weise seinen Weg auf den Altstädter Hinrichtungsplatz zu versiegeln.32 Andererseits verwehrte der Kurfürst den böhmi- schen Exulanten nicht, sich in Sachsen niederzulassen. Er wollte aber sowohl ihre Be- wegung im Lande, als auch ihre religiöse Überzeugung unter Kontrolle haben. Er verlangte von ihnen, sich zur Augsburgischen Konfession zu bekennen. Jeder Neu- angekommene musste um eine Aufenthaltsbewilligung ansuchen, die sich auf einen bestimmten Ort bezog. Am schwersten war es, die Aufenthaltsbewilligung in Dresden zu erhalten, weil der Kurfürst seine Residenzstadt vor armen, unbedeutenden oder politisch unannehmbaren Leuten schützen wollte. Weiter brauchten die Exulanten auch Erlaubnis, ihr Vermögen einzulagern. Falls jemand Sachsen verlassen wollte, um z. B. seine Besitz- oder Erbschaftangelegenheiten in Böhmen zu erledigen, war es nötig, um einen Pass anzusuchen. Dieser Beleg versicherte das Recht auf Rückkehr nach Sachsen und schützte seinen Inhaber vor der Verfolgung in Böhmen. Solch eine Reise nach Böhmen war oft die einzige Möglichkeit, das Leben im Exil finanziell ab- zusichern. Aus der Sicht der Exulanten hatte die Stadt Pirna eine ideale Lage. Sie lag im Grenz- gebiet, nicht weit von Dresden und war durch den Elbweg schnell erreichbar. Auch traditionelle Handelskontakte zwischen Pirna und nordböhmischen Städten waren von Bedeutung. In der Umgebung von Pirna hatten auch manche deutsche luthe - rische Adelsfamilien, die zugleich Güter in Böhmen besaßen, ihre Besitzungen. So

31 Wahre Abbildung der Hauptstatt Budissin oder Bautzen. In Oberlaußitz: Wie dieselbe von dem […] Herrn Johann Georgen Hertzogen zu Sachsen […] den 30. Augusti Anno 1620 belägert, und 25. Septemb. erobert worden, o. O. 1620. In: VD17 39:123962G (wie Anm. 13). 32 Außer ihm wurden weitere Beamte, die mit der böhmischen Verwaltung der Oberlausitz beauftragt waren, nach Böhmen gebracht, so z.B. Ambrosius Hademar und Dr. Abraham Kaul. Der Letztgenannte war in Pirna verhaftet worden, wo er bei seiner Schwiegermutter Zuflucht gesucht hatte. Beide verbrachten lange Monate im Gefängnis.

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z. B. die Herren von Bünau, denen Lauenstein und Wesenstein in Sachsen und Tetschen (Děčín) und Eulau (Jílové) in Nordböhmen gehörten. Die Bünaus nahmen zwar keinen Anteil am Aufstand, waren jedoch nicht bereit, ihren Glauben zu wech- seln. Schon 1621 mieteten sie ein Haus in Pirna, damit sie nötigenfalls eine Zuflucht hatten. Gemahlin und Schwiegermutter von Wolf von Salhausen auf Benešov, der sich am Aufstand beteiligte, deponierten manche Sachen bei dem Pirnaer Bürger- meister Valentin Schönborn. Das erste Verzeichnis der Personen, die in der Stadt ‚losament‘ oder wenigstens ein Versteck für wertvollere Immobilien fanden, erstellten die Pirnaer Stadtbeamten auf Anweisung des Kurfürsten schon im Januar 1621. Nach Sachsen gingen die Angehörigen der in Böhmen im Laufe des 16. Jahrhunderts nie- dergelassenen sächsischen lutherischen Adelsfamilien, die ihre Kontakte mit dem Dresdner Hof nie abgebrochen hatten. Pirna wurde zum Ziel vieler ausgewiesener tschechischer und deutscher nicht-katholischer Geistlicher, von denen manche in Wittenberg oder an anderen deutschen Universitäten studierten. Ihre Situation er- leichterte der sächsische Kurfürst mit seinem Erlass vom 13. Dezember 1622, nach dem sich die Geistlichen in Sachsen ohne besondere Bewilligung aufhalten durften. Diese hatten gewöhnlich gute Kenntnisse des sächsischen Milieus, und manchmal trugen sie zur Ankunft weiterer Exulanten in den Ortschaften bei, in denen sie sich selbst niederließen. Nach Pirna gingen auch Familien der Teilnehmer des Böhmischen Ständeaufstands, einschließlich der Witwen und Verwandten der Herren, die am 21. Juni 1621 am Altstädter Ring hingerichtet wurden. Möglicherweise wurden sie vom utraquistischen Geistlichen Jan Rosacius Hořovský eingeladen, der den Verur- teilten den letzten Trost vor der Hinrichtung geboten hatte. Später beschrieb er sowohl in tschechischer als auch in deutscher Sprache den Verlauf dieser Exekution in einer Schrift, die unter Exulanten beliebt, verbreitet und oft abgeschrieben wurde.33 In Pirna fanden auch Lehrer der nicht-katholischen böhmischen Stadtschulen Asyl. Mit seiner Tochter lebte hier der letzte nicht-katholische Rektor der Prager Karlsuniversität Magister Mikuláš Troilus Hagiochoranus. Während der Jahre 1626 bis 1628 wurde die Gemeinde der böhmischen Exulanten nicht nur deutlich größer, sie wurde zudem – dank einer beträchtlichen Anzahl gebildeter Personen – zum inoffiziellen Zentrum des böhmischen Exils in Sachsen. Manche brachten auch Teile ihrer Bibliotheken nach Pirna mit. Václav Nosidlo nahm unter den Exulanten eine verhältnismäßig bedeutende Stellung ein, und auch aus diesem Grund enthalten seine Aufzeichnungen wertvolle Informa-

33 Vgl. Jan Rosacius Hořovský: Koruna neuvadlá mučedlníkův božích českých, to jest: Pravdivá zpráva o pobožném k smrti se připravování věrných a při pravdě Boží stálých Čechův. Prag 1913. – Eine parallele deutsche Schilderung bietet die Flugschrift eines lutherischen Geistlichen, der einigen Verurteilten auch den letzten Trost bot, vgl. David Lippach: Prägerische Execution, o. O. 1621. In: VD17 14:007571T (wie Anm. 13).

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tionen über die böhmische Exulantengemeinde in Pirna. Er beschrieb ausführlich auch Schritte, die die Exulanten unternahmen, um die Bewilligung zum Gottesdienst in tschechischer Sprache zu erhalten. Schon im Januar 1628 wandten sie sich in dieser Angelegenheit an den Stadtrat in Pirna und dann auch an den Kurfürsten von Sach- sen. Ihre nach Dresden abgesandten Deputierten argumentierten mit der Sprach - barriere, die manche Tschechen hinderte, sich am Gottesdienst zu beteiligen.34 In der folgenden regen Korrespondenz zwischen dem Kurfürsten, dem Dresdner Konsisto- rium und dem Pirnaer Stadtrat spielten nicht nur Befürchtungen vor dem Einsickern des Kalvinismus eine Rolle, sondern auch vor dem möglichen Enstehen eines nicht kontrollierbaren Raumes einer fremdsprachigen Institution. Laut der kurfürstlichen Anordnung beauftragte der Pirnaer Stadtrat Jiřík Nysl,35 einen Kürschner aus Leit- meritz, alle Exulanten und ihre Familienmitglieder der Reihe nach zu besuchen und zwei Verzeichnisse zu erstellen. Im ersten sollten diejenigen verzeichnet werden, welche die deutsche Sprache nicht beherrschten, und in der zweiten Liste sollten die jenigen registriert werden, die Deutsch konnten.36 In den folgenden Wochen waren die sächsischen Behörden argwöhnisch, weil Nosidlo zwischen Februar und April 1628 insgesamt vier Anklagen wegen Kalvinismus in sei- nen Aufzeichnungen registrierte, die eine verschiedene Zahl von Personen betrafen. Am 22. Februar lud der Superintendent fünf in Pirna lebende böhmische Geistliche vor, und diese wurden einem gründlichen Verhör unterzogen. Wenn auch „nichts Abwegsames“ gefunden wurde, wurde einem von ihnen, Tobiáš Wokounek, der bald darauf starb, das ordentliche Begräbnis verweigert.37 Das passierte damals und auch später vielen anderen, die in Verdacht gerieten. Oft betraf es auch diejenigen, die am Begräbnis solcher Personen teilnahmen. Am 7. April 1628 aber genehmigte der sächsische Kurfürst doch den tschechischen Gottesdienst.38 Dieser fand dreimal wöchentlich (Dienstag, Donnerstag und Sonntag) in der St. Nikolauskirche in der Vorstadt statt.39 Diese Erlaubnis wurde für ein Jahr erteilt und musste alljährlich verlängert werden. Zum tschechischen Prediger durfte nur ein Absolvent einer rein evangelischen-lutherischen Universität werden. Dieser

34 Vgl. die Passage der Supplik bei Christian Adolph Pescheck: Die böhmischen Exulanten in Sachsen. Leipzig 1857, S. 143, Beilage VI. 35 In den Verzeichnissen als Georg Nößel angeführt. Vgl. Bobková, Exulanti (wie Anm. 2), S. 171. 36 Vgl. Lisá, Nosidlo (wie Anm. 2), S. 26, Chronik von V. Nosidlo – Einschreibung zum 18. Februar 1628. 37 Vgl. ebd., S. 27, Einschreibung zum 1. April 1628. 38 Vgl. Eduard Winter: Die Tschechische und slowakische Emigration in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin 1955, S. 31; Pescheck, Exulanten (wie Anm. 34), S. 33; Bobková, Exulanti (wie Anm. 2), S. XXI, Anm. 70; Frank Metasch: Exulanten in Dresden. Einwanderung und Integration von Glaubensflüchtlingen im 17. und 18. Jahrhundert. Leipzig 2011, S. 189–196. 39 Vgl. Lisá, Nosidlo (wie Anm. 2), S. 27, Chronik von V. Nosidlo – Einschreibung zum 17. April 1628.

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war verpflichtet, einen Eid im Konsistorium zu leisten und dem deutschen Super - intendent in Pirna seine Unterstellung – einschließlich der Einhaltung der vor - geschriebenen Zeremonien – zu versprechen. Diese Bedingungen erfüllte der gebil- dete und weitgereiste Magister Samuel Martinius von Dražov, der bald danach (am 22. April 1628) den ersten tschechischen Gottesdienst zelebrierte. Ein Versuch, den böhmischen Exulanten die Glaubenslehre des lutherischen Milieus näher zu bringen, ist die tschechische Übersetzung der Schrift des kurfürstlichen Hofpredigers Matthias Hoë von Hoënegg, des Evangelischen Handbuchs;40 der bilinguale böhmische Exulant Christoph Megander fertigte sie an. Dieser brachte ins Exil seine Druckerei aus Böhmen mit, die zunächst in Dresden und später in Pirna betrieben wurde. Magister Samuel Martinius besaß sie in den Jahren 1629 bis 1632, dann verkaufte er sie an den Drucker Jan Ctibor Kbelský, der schon für die beiden vorigen Besitzer gearbeitet hatte. Auf das Jahr 1628 bezieht sich auch eine ausführliche Aufzeichnung Nosidlos, die das bedeutendste bis heute erhaltene Denkmal der böhmischen Exulanten in Sachsen – das sog. Pirnaer Wappenbuch – betrifft.41 Die Entstehung des Wappenbuchs wurde während der Zusammenkunft im Hause von Zikmund Celestýn,42 in dem die wichtigsten Angelegenheiten offensichtlich regelmäßig verhandelt wurden, entschieden.43 Das Wappenbuch sollte den Grund für eine finanzielle Sammlung bilden, die zur Hilfe der Bedürftigsten dienen sollte. An der ersten Stelle wurden die Dokumente über die Entstehung der Pirnaer tschechischen Kirchengemeinde (Gesuche um Bewilligung und ihre bejahende Erledigung) ins Wappenbuch abge- schrieben. Diesen Belegen folgten die Einlagen der Exulanten. Diejenigen, die zur Sammlung beitrugen, setzten ihre Unterschrift bei, Adelige und nobilitierte Bürger konnten noch ihre Devisen hinzufügen und ihre Wappen malen lassen. Im Wap- penbuch wurden 158 Wappen dargestellt, manche weitere blieben unvollendet. Neben den Pirnaer Exulanten trugen auch diejenigen bei, die sich in anderen säch- sischen Städten (Dresden, Freiberg und Meißen) niederließen. Das Wappenbuch

40 Vgl. Christof Megander (Hg.): D. Mattyásse Höe Kurfirsstského Sasského Přednjho Dwořského Kazatele w Drážďianech Ewangelitská Ručnj Knjžka. [Dresden] 1627. 41 Zum Wappenbuch vgl. Bobková, Exulanti (wie Anm. 2), S. XXII. Vgl. auch Václav Elsnic: Pirenská erbovní kniha. In: Heraldika a genealogie 27/2, 1994, S. 75–90. Das Wappenbuch gehört der Evangelisch-Lutherischen Stiftung Böhmischer Exulanten zu Dresden, die als Stiftung die Tätigkeit der Evangelischen Exulantengemeinde, die bis 1999 bestand, fortsetzt. Sie pflegt die Tradition der Exulanten, archivalische sowie bewegliche Denkmäler und unterstützt die Forschung. Vgl. Lisá, Nosidlo (wie Anm. 2), S. 25, Anm. 204. 42 Der Prager Bürger und bis 1622 auch Ratsherr Zikmund Celestýn Nebeský von Freifeld (?–1636) lebte in Pirna mit seiner Familie im Hause des Georg Möllerin im ersten Viertel. Vgl. Bobková, Exulanti (wie Anm. 2), S. 140 und 223. 43 Vgl. Lisá, Nosidlo (wie Anm. 2), S. 25, Chronik von V. Nosidlo – Einschreibung zum 1. Mai 1628.

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enthält auch die Einträge der Gönner und Unterstützer des böhmischen Exils, einschließlich der Beiträge und des Wappens des Hofpredigers Matthias Hoë von Hoënegg und des Dresdner Super intendenten Aegidius Stracius. Den Ehrenplatz nehmen sowohl das Porträt des Kurfürsten Johann Georg als auch das Wappen der Stadt Pirna ein. Nosidlo führt weiter namentlich die Personen an, denen das Einnehmen und Verwalten der auf diese Weise gesammelten finanziellen Mittel an vertraut wurde.44 Im Jahre 1629, d.h. nach der letzten Exilwelle, erreichte die Zahl der Exulanten in Pirna ihr Maximum. Im Auftrag des Kurfürsten erstellte der Pirnaer Stadtrat schon im Januar dieses Jahres ein sehenswertes Verzeichnis. Dieses wurde nach den Namen der Besitzer der Häuser geführt, in denen die Exulanten ihre Wohnungen mieteten. Beim Erstellen verfuhr man nach der Gliederung der Stadt in vier Viertel innerhalb der Stadtmauern und in vier Vorstädte ausserhalb der Stadtmauer. Als Grundeinheit galt ein Haushalt, den eine vollständige oder nicht vollständige Familie oder eine alleinstehende Person bilden konnte. Im Fall der Familienangehörigen (Frauen, Kinder, Eltern und andere Verwandte) und der Dienerschaft (Magd, Diener, Knecht und Kutscher) wurde nur ihre Zahl registriert, ohne Namensangaben. Es wurde auch angeführt, woher die Leute stammten. Ähnliche Verzeichnisse wurden noch 1631 und 1636 erstellt, und sie stellen für uns eine wertvolle Quelle an Informatio- nen dar.45 Das Verzeichnis aus dem Jahre 1629 registrierte 594 tschechische Haushalte, die in 293 Häusern wohnten. Im Innenstadtbereich lebten 1.431 Personen (einschließlich der Kinder), in den Vorstädten wurden 692 Personen festgestellt. In der Stadt fanden also insgesamt 2.123 Exulanten Zuflucht. Sie wohnten praktisch in allen Stadt - häusern, oft je zwei oder drei Familien bei einem Vermieter. Die nicht vollständi- gen Haushalte, d.h. selbstständig wirtschaftende Frauen mit Kindern oder allein- stehende Personen bildeten 23 Prozent (140 Haushalte).46 Einige bürgerliche, oft verwandte Familien hatten nur eine Magd oder einen Knecht zur gemeinsamen Verfügung, die Adeligen hielten eine größere Zahl an Dienerschaft. Václav Nosidlo und seine Frau Anna wohnten zu dieser Zeit im Haus des Steinhauers Hans Schwenke. Dort wohnte auch der Adelige Václav Kamýcký von Lstiboř mit zwei Dienern.47 Nach dem Abschluss des Verzeichnisses, am 10. April 1629, brachte Anna

44 Der ehemalige Rektor der Karls-Universität in Prag Mikuláš Troilus Hagiochoranus, Jan Petráček d. Ä., Jiří Nero, Lorenc Odháje aus Pražan, Jan Mostník aus Leitmeritz. 45 Die Verzeichnisse aus diesen Jahren publizierte und bewertete Bobková, Exulant (wie Anm. 2). Siehe auch die dort veröffentlichte deutsche Zusammenfassung. 46 Ebd., S. XXIII–XXIX, Deutsche Zusammenfassung S. LV–LVII. 47 Ebd., S. 33.

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Nosidlová die Tochter Lidmila, die von Samuel Martinius in der St. Nikolaus- Kirche getauft wurde, zur Welt. Als Paten wurden Exulanten aus dem Gebiet von Leitmeritz angeführt.48 Für die Stadt Pirna, die nicht mehr als 4.000 Einwohner hatte, muss der langjährige Aufenthalt der mehr als 2.000 Exulanten belastend gewesen sein, wenn auch die neuen Bewohner die Unterkunft bezahlten. Der Zustand, der zuerst beidseitig für vorübergehend gehalten wurde, wurde allmählich zum Dauerzustand und zwar mit allen Folgen für die Versorgung, Hygiene und Ordnung. Kein Wunder, dass der Pir- naer Stadtrat den Kurfürsten um ein Verbot bat, weitere Exulanten aufzunehmen. Das Jahr 1629 gehörte weder aus der Sicht der Protestanten im Reich noch aus der Sicht der böhmischen Exulanten zu den glücklichsten. Die kaiserlichen Truppen er- reichten nach dem Sieg im Dänischen Krieg eine feste Position. Kaiser Ferdinand gab das Restitutionsedikt* heraus, und die weitere Entwicklung war unsicher. Genauso wie in anderen Niederschriften aus diesem dramatischen Jahr befindet sich auch in der Chronik von Václav Nosidlo eine größere Zahl an Eintragungen, die das Interesse an nicht gewöhnlichen Naturerscheinungen, an Omen, Offenbahrungen und an Pro- phezeiungen zeigen. Deren Interpretation bot nicht nur den Exulanten eine gewisse Orientierung im Chaos der Kriegsereignisse. Unter anderen – als Omen interpretierte – Erscheinungen führt Nosidlo das ungewöhnliche Vorkommen von vier Sonnen am Himmel über der Stadt Pirna,49 den Kampf zwischen dem Löwen und Adler am Him- mel über der Stadt Torgau50 sowie auch eine ausführliche Beschreibung des Polar- lichtes, das in Pirna beobachtet wurde, an.51 Was die Auslegungen dieser Zeichen angeht, bleibt Nosidlo eher skeptisch. Eine größere Aufmerksamkeit widmete er den Lebensgeschichten und Visionen des Handwerkers Christoph Kotter aus der schlesi- schen Stadt Sprottau,52 die auch Interesse am kurfürstlichen Hof in Berlin weckten. Bald schon (1625) war sie von J. A. Comenius ins Tschechische übersetzt worden, und Ende der 1620er Jahre wurden sie unter anderem auch in der tschechischen Exulanten- druckerei in Pirna gedruckt. Das löste negative Reaktionen des böhmischen ortho- dox-lutherischen Flügels aus, den z.B. Christoph Megander repräsentierte, und trug

48 Vgl. Lisá, Nosidlo (wie Anm. 2), S. 12, Chronik von V. Nosidlo – Eintragung zum 10. April 1629. Als Paten sind folgenden Exulanten angeführt: Nikodem Beneš – der ehemalige Primator der Stadt Welwarn (Velvary), Regina Houšková aus Milleschau (Milešovka) und Veronika Mitysová aus Leitmeritz (Litoměřice). 49 Es ging um eine der sog. optischen Haloerscheinungen, die durch die Widerspiegelung oder den Durchgang der Sonnen- oder Mondstrahlen durch kleine Eiskristalle in der Troposphäre entstehen. Vgl. Lisá, Nosidlo (wie Anm. 2), S. 22, Chronik von V. Nosidlo – Einschreibung zum 26. April 1629. 50 Ebd. 51 Ebd., S. 21, Einschreibung zum 4. Februar 1630. 52 Zu Christoph Kotter vgl. Hubková, Fridrich Falcký (wie Anm. 14), S. 361–365, 384–390; dies.: Comenius, Görlitz und der Prophet aus Sprottau. In: Görlitzer Magazin 22 (2009), S. 45–53.

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auch zur Verschlimmerung der Beziehungen zwischen den Häuptern der Exilgemein- den in Pirna und in der polnischen Stadt Lissa bei – Samuel Martinius und Jan Amos Comenius. Am Anfang des Jahres 1629 besuchte Kotter auch Pirna. Zu der Zeit war auch er schon ein Exulant, der in Hennersdorf Zuflucht gefunden hatte. Nosidlo edierte Kotters Gespräche mit den Vertretern der böhmischen Exulanten, auf die Kotter mit seinen „schönen und friedlichen Antworten“ einen positiven Eindruck machte. Unter den Fragen, die ihm gestellt wurden, befand sich natürlich auch die Frage, ob die Exulanten auf Rückkehr nach Hause hoffen könnten. Diese Frage beantwortete Kotter bejahend und ermahnte alle zu Frömmigkeit, Eintracht und zum Beten.53 Das Zusammenleben der Pirnaer Altansässigen mit den böhmischen Exulanten brachte sowohl positive als auch negative Erlebnisse. Für beide Bevölkerungsgruppen bedeutete es die Begegnung mit dem Fremden. Reibungsflächen entstanden zwar auch aus ökonomischen Gründen, z.B. zwischen den einheimischen Handwerkern und ihren Konkurrenten aus den Reihen der Exulanten (Streitigkeiten zwischen Flei- schern und Fischern). Ein viel größeres Problem stellte das gegenseitige Missverständ- nis dar, das sich aus der Auseinandersetzung zwischen zwei unterschiedlichen pro - testantischen Traditionen ergab. Am 9. März 1629 schrieb Nosidlo, dass der Pirnaer Superintendent den tschechischen Prediger im Dresdner Konsistorium anklagte, dass er bei den Kindertaufen den böhmischen Ritus anstatt des lutherischen benutzt hätte. Dabei beschrieb er, wie der Prediger versuchte, die Bewilligung des in Böhmen übli- chen Ritus zu erreichen. Diesen Ritus hielt auch Nosidlo kleinen Kindern gegenüber aus gesundheitlichen Gründen für rücksichtsvoller, weil es dabei nicht nötig war, das Kind in oft kalten Kirchenräumen auszuziehen.54 Aber sowohl dieses Argument als auch andere Begründungen des tschechischen Predigers blieben schließlich erfolglos. Noch größere Probleme verursachte das Kurfürstendekret (1630), das allen Exulanten, die das Abendmahl noch nicht auf lutherische Weise einnahmen, befahl, dies unver- züglich zu tun. Denjenigen, die dazu nicht bereit waren, drohten strenge Strafen, ein- schließlich der Ausweisung und Entfernung aus der Stadt durch die Büttel. Damals stellten die Exulanten eine gemeinsame Antwort zusammen, die Magister Jiří Kolsín ins Lateinische übersetzte. In diesem Text betonten sie, dass sie wegen eines ähnlichen Drängens und wegen der ähnlichen Bemühung, über das Gewissen der anderen zu herrschen, dem Kaiser nicht gehorcht hatten und lieber ins Exil gegangen waren; jetzt aber befänden sie sich in derselben Situation. Dann belegten sie auf Grundlage der damals allgemein an -

53 Vgl. Lisá, Nosidlo (wie Anm. 2), S. 23, Chronik von V. Nosidlo – Einschreibung zum 11. Januar 1629. 54 Vgl. ebd., S. 29, Einschreibung zum 27. April 1630.

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erkannten Autorität – der Heiligen Schrift –, dass „niemand zu einer Religion mit Gewalt gezwungen werden sollte.“ Aus diesem Grund verlangten auch sie, „diese Frei- heit zu genießen“, weil sie gerade dafür ihre Heimat verlassen hatten. Wenn auch diese Argumente nicht ohne Wirkung blieben, so verhinderten schließlich eher die Kriegsereignisse die volle Durchsetzung dieses Dekrets.55 Diese böhmischen Exulanten waren bereits von zu Hause her an ein langjähriges Zu- sammenleben der Angehörigen verschiedener protestantischer Konfessionen gewöhnt. Nach der Erfahrung mit der katholischen Konfessionalisierung kamen sie ins luthe- risch konfessionalisierte Land und konnten die neue Situation nur schwer begreifen. Der Prediger Samuel Martinius versuchte einerseits die Einheit der Exulanten - gemeinde zu erhalten, andererseits musste er den Anforderungen des Konsistoriums gegenüber loyal sein und sich der sächsischen Konfessionspraxis voll anpassen. So be- fand er sich zwischen zwei Mühlsteinen. Schließlich teilte sich die Exulantengemeinde in zwei Gruppen. Diejenigen, die bereit waren nachzugeben und den lutherischen Ritus anzunehmen, gruppierten sich um Samuel Martinius. Ein wenig beiseite stand die zweite Gruppe, zu der auch der Utraquist Václav Nosidlo gehörte. Sie verharrte in der gewohnten Praxis der böhmischen Konfession. Diese konfessionellen Auseinandersetzungen der Gemeinde der böhmischen Exulan- ten in Pirna waren jedoch nicht neu. Schon früher wurde sie von der katholisch- kaiserlichen Propaganda registriert, die versuchte, zumindest manche Exulanten zur Rückkehr zu bewegen. Das belegt auch die anonyme Flugschrift RewKauff, 56 die 1628 erschien. Sie ist in Form eines fiktiven Briefes eines nicht-katholischen, aus der Alt- stadt Prags stammenden Bürgers geschrieben, der diesen aus Pirna nach Prag sandte. Der Verfasser weist auf verschiedene materielle Nachteile des Lebens der böhmischen Exulanten in Pirna hin und macht auf die strenge Aufsicht über das Einhalten der Augsburgischen Konfession aufmerksam. Gerade diese Tatsache sollte es – seiner Meinung nach – vor allem den Anhängern der Brüderunität unmöglich machen, ein Leben im Einklang mit ihrer Überzeugung zu führen. Aus diesem Grund – so der Verfasser – wäre es besser, nach Böhmen zurückzukehren und zum katholischen Glauben überzutreten. Im Jahre 1631 wurde ein weiteres Verzeichnis erarbeitet, das sich nicht nur auf die Zahl der Flüchtlinge bezog, sondern auch auf die Angaben, wovon sie leben. Nosidlos Chronik informiert uns darüber, wie diese Informationen gesammelt wurden. Am 27. Januar 1631 sollten alle Quartiergeber ins Rathaus kommen, um zu beantworten,

55 Vgl. Lisá, Nosidlo (wie Anm. 2), S. 30. Zu Kolsín (M. Georgius Colsinius, Jiří Kavka) vgl. Bobková, Exulanti (wie Anm. 2), S. 141. 56 RewKauff, o. O. 1628. In: VD17 12:124091Z (wie Anm. 13); vgl. Bobková, Exulanti (wie Anm. 2), S. XXII.

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wer von den Exulanten wie lange bei ihnen wohnte, ob er Gemahlin, Kinder und Gesinde habe, ob er Kaufmann oder Handwerker sei, ob er seinen Beruf ausübe und wie er sich benähme. Weiter wurde festgestellt, ob der Exulant Pferde besitze, wozu er sie benutze, wie oft er mit ihnen Pirna verließe und wie weit er mit ihnen fahre. Schließlich wurde den Pirnaer Bürgern verboten, weitere Flüchtlinge anzunehmen, nicht einmal diejenigen, die bei ihnen schon früher gewohnt hatten und nach einer Zeit zurückkehrten. Ein Ergebnis dieser Zählung war die Feststellung, dass 1.962 Exu- lanten in Pirna wohnten, davon 1.302 Personen in der Innenstadt und 660 Personen in den Vorstädten. Diese Leute lebten in 541 Haushalten, von denen sich 343 in der Innenstadt und 198 in den Vorstädten befanden. Die Exulanten wohnten in 199 Pir- naer Häusern innerhalb der Stadtmauer und in 82 Häusern in den Vorstädten. Nach der Weise ihres Lebensunterhalts waren sie in vier Gruppen zu teilen. Zur ersten und größten Gruppe gehörten 299 Haushalte, die eine Barschaft, Wertsachen, bzw. Ein- kommen hatten, von denen sie leben und Miete bezahlen konnten. Die Höhe dieser Mittel war verschieden und manchen ermöglichte sie nur ein ärmliches Leben. Die zweite Gruppe (167 Haushalte) lebte von ihrer Arbeit. Diese Personen übten ihren Beruf oder ihr Handwerk aus, machten Hausarbeiten, leisteten Dienste oder arbeite- ten für Lohn. Die dritte Gruppe bildeten 14 Haushalte, die von Almosen lebten, und im Fall der vierten Gruppe (61 Haushalte) fehlen die Angaben. Václav Nosidlo und seine Frau wohnten zu dieser Zeit noch immer im Hause des Steinhauers Hans Schwenke, verglichen mit dem Verzeichnis aus dem Jahre 1629 hatte sich jedoch die Zahl der Mieter in diesem Haus verdoppelt. Die Familie Nosidlo gehörte zur ersten Gruppe, die ihr Leben im Exil aus eigenen Quellen finanzierte.57 Viele Exulanten, die in Pirna wohnten, pflegten Kontakte sowohl mit dem politischen Zentrum des böhmischen Exils, das sich um den Grafen Matthias von Thurn grup- pierte, als auch mit den sächsischen Militärkreisen. Bald nach der Zählung der Exulanten (am 19. Februar 1631) kamen die Repräsentanten der in Dresden, , Freiberg und Bautzen lebenden Exulanten in der Behausung des Herrn Abraham Gersdorf in Pirna zusammen.58 Ihre Aufgabe war, eine Petition zu erarbeiten, die ihre Vertreter auf der Versammlung der protestantischen Stände in Leipzig59 übergeben sollten. Im Herbst 1631 trat Sachsen als Verbündeter von Schweden in den Krieg gegen Kaiser Ferdinand II. ein, und die Hoffnung der Exulanten auf Rückkehr in die Heimat belebte sich wieder. Gerade Böhmen wurde nämlich zum Ziel der sächsischen Armee, an deren Spitze General Johann Georg von Arnim stand. Dieses Heer brach

57 Vgl. Bobková, Exulanti (wie Anm. 2), S. XXIX–XXXIV, Deutsche Zusammenfassung S. LVII–LVIII. 58 Vgl. ebd., S. XXXIV. 59 Vgl. Rudolf Kötzschke/Hellmut Kretzschmar: Sächsische Geschichte. Werden und Wandlungen eines Deutschen Stammes und seiner Heimat im Rahmen der Deutschen Geschichte. Frankfurt am Main 1965, S. 246.

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Lebenserfahrungen des Leitmeritzer Bürgers und Pirnaer Exulanten Václav Nosidlo von Geblic (1592–1649)

aus Görlitz in zwei Richtungen auf. Der erste Teil besetzte Schluckenau (Šluknov) und Tetschen, der zweite überschritt den Nollendorfer Pass und besetzte Aussig (Ústí nad Labem), Teplitz (Teplice) und Leitmeritz. Diese Phase des Zugs erfasst z.B. die Flugschrift Die Böhmische Martins Gans.60 Die vereinigten Truppen zogen danach ge- meinsam ins Kernland weiter, und am 15. November standen sie schon vor Prag. Noch am selben Tag schlossen die Vertreter dreier Prager Städte mit General von Arnim den Vertrag über die Kapitulation,61 und am folgenden Tag verlautbarte der General die Verordnung mit der Instruktion über die Winterquartiere und über das korrekte Verhalten der Soldaten den Zivilisten gegenüber.62 Am 21. November 1631 zog auch der Kurfürst von Sachsen in die Hauptstadt Böhmens ein und quartierte sich auf der Kleinseite ein. Manche Exulanten traten in die sächsische Armee ein, andere schlossen sich nur an und kehrten unter ihrem Schutz nach Böhmen zurück. Manche Bürger und Adelige nahmen ihr Vermögen wieder in Besitz. Zu diesen gehörte nicht nur Günter von Bühnau, dem die Adelsfamilie von Thun den vollen Preis für die ver- kaufte Herrschaft Tetschen noch nicht auszahlte, sondern auch Václav Nosidlo. Die zurückkehrenden Exulanten bemühten sich vor allem die Verhältnisse wieder her- zustellen, die in Böhmen vor der Schlacht am Weißen Berg geherrscht hatten. Dies gelang vor allem in Prag. In die neue Regierung (‚Direktorenkorps‘) wurde auch der Pirnaer Exulant Václav Písecký von Kranichfeld berufen, viele vertriebene nicht- katholische Geistliche kehrten in ihre Kirchen zurück. Am ersten Adventsonntag wurden die Köpfe der im Juni 1621 hingerichteten Herren und Bürger pietätvoll von dem Brückenturm heruntergenommen und in der Teinkirche begraben. Die Predigt hielt der Pirnaer tschechische Prediger Magister Samuel Martinius von Dražov, der als Administrator an der Spitze der neuen Kirchenverwaltung stand. Er spielte auch eine bedeutende Rolle bei der Wiederübernahme der Karls-Univer- sität, zu deren Probst er gewählt wurde. Die zeitgenössische Flugblattpublizistik kommentierte diese Veränderung der Verhältnisse mittels der imaginären Figur desselben Prager Kochs aus dem königlichen Palais am Hradschin, der nach der Schlacht am Weißen Berg über den Tellern mit kalten Gerichten geschimpft und die Flucht Friedrichs von der Pfalz aus Prag schadenfroh kommentiert hatte. Jetzt,

60 Die Böhmische Martins Gans, o. O. 1631. In: VD17 23:255708Y (wie Anm. 13). 61 Accord Der Stadt Praag / Geschlossen den 15. Novembr. Anno 1631. Durch Herrn Johann Georg von Arnheimb[…] Und Ehrnvesten / Wolweisen / Bürgemeister unnd Rath der dreyer Prager-Städten, o. O. 1631. In: VD17 23:290996U (wie Anm. 13). 62 Des Durchlauchtigsten Hochgebornen Fürsten […] Johann Georgens […] bestalter General FeldtMarschall: Ich Hanns George von Arnimb […] Füge allen und jeden […] hiermit zu wissen […], o. O. 1631. In: VD17 14:010298R (wie Anm. 13).

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nach dem sächsischen Sieg, änderte der Koch seine Ansichten, schilderte die schlechten Zeiten unter der Herrschaft der Anhänger des Kaisers Ferdinand und bot seine Dienste den neuen Herren an.63 Der Erfolg der sächsischen Armee war jedoch nur vorübergehend. Schon im Mai 1632 wurde Prag von den Truppen Albrechts von Wallenstein wieder besetzt. Das sächsische Heer musste weichen, und mit ihm kehrten auch die meisten Exulanten, einschließlich Václav Nosidlo, zurück nach Sachsen. Für seine Beteiligung an diesem Einfall wurde er später (1634) in Böhmen in Abwesenheit zur endgültigen Kon fis - kation der ihm noch verbliebenen Reste seines Vermögens verurteilt.64 Die Soldaten, die aus Böhmen zurückkehrten, schleppten die Pest nach Sachsen ein. Die Epidemie brach auch in der übervölkerten Stadt Pirna aus. Es gab in allen Schich- ten der Bevölkerung zahlreiche Opfer, besonders oft starben Frauen und Kinder. Als erste unter den Exulanten starb der neunzehnjährige Sohn von Veronika Mitysova, die Patin von Nosidlos Tochter Lidmila war. Auch ein namentlich nicht bekanntes Kind von Václav Nosidlo wurde am 8. August 1632 begraben.65 Diese für uns nur schwer vorstellbaren Verhältnisse der Pestepidemie spitzten die Konflikte zwischen den Gesunden und Kranken sowie den Einheimischen und Neuangekommenen zu. Nach Nosidlos Aufzeichnungen waren für die Exulanten besonders schwer manche der strikt angewandten Maßnahmen, welche die Verbreitung der Ansteckung hindern sollten, zu ertragen, so z.B. das Verbot des Besuchens und der Betreung der Kranken in anderen Häusern und des Geleitens der Verstorbenen auf den Friedhof. Die sächsisch-schwedische Allianz zerfiel bald nach dem Tod des Königs Gustav Adolf in der Schlacht bei Lützen. Der ehemalige Verbündete wurde zuallerletzt als Feind bezeichnet, und die sächsische Diplomatie versuchte einen Frieden mit dem Kaiser zu erreichen. Die Verhandlungen in Leitmeritz und Pirna (1634) zwischen der sächsischen und kaiserlichen Seite mündeten in den Friedensvertrag, der im Mai 1635 in Prag verkündet wurde und als ‚Prager Frieden‘ bekannt ist. Dieser Vertragskomplex wurde zwischen dem Kaiser, der als Haupt der katholischen Seite angesehen wurde, und dem Kurfürst von Sachsen geschlossen, der für den Führer der evangelischen Partei gehalten wurde. Diese Verträge erweckten die Mißbilligung der anderen nicht-katholischen Reichsstände, die der sächsische Kurfürst umging und vor eine vollendete Tatsache gestellt hatte. Den Pakt mit dem katholischen Kaiser missbilligten auch manche Lutheraner, besonders diejenigen, die infolge des

63 Der widerkommende Pragische Koch, o. O. 1632, vgl. Deutsche Illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahr - hunderts. Bd. 4. Hg. v. Wolfgang Harms/Cornelia Kemp. Tübingen 1987, Nr. 213. 64 Vgl. Bílek, Dějiny konfiskací (wie Anm. 24), S. 1134–1135; vgl. auch Kotyza/Smetana/Tomas, Litoměřice (wie Anm. 17), S. 409. 65 Vgl. Lisá, Nosidlo (wie Anm. 2), S. 12.

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Vertrags den Rekatholisierungsmaßnahmen ausgesetzt wurden (Augsburg, Schle- sien). Während die kaiserliche und die offizielle sächsische Propaganda den ‚Prager Frieden‘ priesen,66 erklärten seine Gegner diesen für einen betrügerischen und schimpflichen Frieden. Unter den vielen Artikeln, die der ‚Prager Frieden‘ enthielt, registrierten die böhmischen Exulanten besonders die Bestimmungen, die die Markgrafschaften Ober- und Nieder- lausitz betrafen. Der Kaiser trat diese böhmischen Kronländer dem Kurfürsten von Sachsen als Ersatz für seine militärische Hilfe ab. Die meisten Exulanten hielten dies für einen Eingriff in die Integrität des Königreichs Böhmen und für den Faktor, der ihre Rückkehr nach Hause verhinderte oder mindestens aufschob. Die strengen For- mulierungen eines späteren Mandats des Kurfürsten Johann Georg gegen die Gegner des ‚Prager Friedens‘67 zeigen nichtdestoweniger, dass dieser Pakt mit dem Kaiser auch den Unwillen der einheimischen sächsischen Bevölkerung und sogar von Personen, die sich im unmittelbaren Umfeld des Kurfürsten bewegten, hervorrief. Vor allem die kur- fürstlichen Diplomaten, die sich an den Verhandlungen beteiligten, wurden öffentlich angegriffen. Nicht einmal Václav Nosidlo fand eine positive Bewertung für sie. Immerhin wurde nach der Erklärung des ‚Prager Friedens‘ die Kriegssituation ruhiger, und die sächsischen Staatsorgane konnten sich wieder auf innere Angelegenheiten konzentrieren, zu denen auch die Aufsicht über die religiöse Orthodoxie gehörte. In- folge dessen nahmen auch die Spannungen zwischen dem Magister Samuel Martinius und manchen Mitgliedern der tschechischen Kirchengemeinde zu. Einerseits eröffnete der Pirnaer Prediger eine gedruckte Polemik mit dem Exulantenzentrum der böhmi- schen Brüder in Lissa (Polen), dessen führende Persönlichkeit J. A. Comenius war, andererseits kam es zur Verfolgung mehrerer böhmischen Exulanten in Pirna, die zur Lehre der Brüderunität neigten. Die Probleme begannen schon im April, als das ordentliche Begräbnis des ehemaligen Prager Prokurators, des achzigjährigen Matěj Kaucký, abgelehnt wurde. Nach dem Bericht des Václav Nosidlo wurde eine größere Zahl von Personen angeklagt, von denen er namentlich nur zehn Männer und Frauen angibt. Diese wurden vor das Dresdner Konsistorium zitiert und mussten sich wegen des ‚Vergehens‘ des Kalvinismus, der Sektiererei, sowie der Teilnahme an Haus - andachten und Hauspredigten verantworten. Dann wurde ihnen eine zwei Wochen dauernde Frist gegeben, während der sie zur Kommunion kommen mussten. Im Laufe des Juli und August wurden wiederum mehr als 40 Personen angeklagt, die

66 Deß H. Römischen Reiches von Gott eingesegnete Friedens Copulation, o. O. 1635. In: VD17 1:091162A, VD17 23:244744M (wie Anm. 13). 67 Abdruck Churfürstl. Durchl. Zu Sachssen etc. Abmahnungs- und VerwarnungsPatents […], Dresden 1637. In: VD17 14: 001053S (wie Anm. 13).

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von einer Kommission am Rathaus in Pirna verhört wurden. Diesen wurde befohlen, sich entweder während der drei folgenden Wochen zur Augsburger Konfession zu be- kennen oder die Stadt zu verlassen. Manche von ihnen reisten nach Frankfurt an der Oder, nach Berlin oder nach Polen ab.68 Danach beruhigte sich die Situation wieder. Im Winter 1636 ordnete der Kurfürst Johann Georg eine neue Listenerfassung der Exulanten in Sachsen an. Der Pirnaer Stadtrat führte diesen Auftrag bis zum 15. Dezember 1636 durch. Die Ergebnisse zeigten, dass die Zahl der Exulanten sank und zwar nicht nur infolge der Pestepidemie, sondern auch wegen der Abwanderung der Exulanten. In Pirna wurden 464 Haushalte der Exulanten, zu denen 1.610 Perso- nen gehörten, gezählt. In der Innenstadt wohnten 1.225 Personen in 352 Haushalten, in den Vorstädten lebten 385 Personen in 112 Haushalten. Václav Nosidlo mit seiner Familie wurde im Haus von Rudolph Hacker registriert.69 Nach 1635 bemühte sich der Kurfürst Johann Georg – vor allem aus ökonomischen Gründen – das Verhältnis der böhmischen Exulanten zu den Habsburgern zu klären und ihre rechtliche Stellung in Sachsen zu verankern. Eine Gelegenheit zur Verhand- lung bot sich nach dem Tod Ferdinands II. Während der Krönung des Kaisers Ferdi- nand III. überreichten ihm die sächsischen Gesandten u. a. auch die Bittschrift der böhmischen Herren, Ritter und Bürger, die wegen ihres Glaubes ihre Heimat ver - lassen und beim sächsischen Hof Zuflucht genommen hatten. Sie baten um die Auf - hebung der Konfiskationsmaßnahmen, um religiöse Freiheit und um die Bestätigung aller Ständeprivilegien. Die Böhmische Kanzlei reagirte darauf am 28. Januar 1637 mit der Anforderung, ein Namenverzeichnis der in Sachsen lebenden Exulanten zu erarbeiten. Während der folgenden Monate wurden die Unterschriften der in Dres- den, Pirna, Königstein, Bad Schandau, Freiberg, Marienberg, Annaberg und Zittau lebenden Exulanten tatsächlich gesammelt. Die Liste mit mehr als zweihundert Namen wurde am 15. Juni 1637 der Kurfürstenlanzlei übergeben und dann nach Prag abgesandt. Im August wurde noch eine weitere Fürbitte für die Aufhebung der Kon- fiskationsurteile und ein Gesuch um Erlaubnis des freien Reisens für die böhmischen Exulanten aus Dresden geschickt. Die Antwort von Ferdinand III. vom November 1637 brachte jedoch keine Veränderungen. Der Kaiser teilte zwar mit, dass er das Rei- sen der Exulanten nicht verhindere, aber auf der Anforderung eines einzigen Glaubens im Land verharrte er entschieden. Was die Konfiskationen betrifft, verwies er die Betroffenen auf die Tätigkeit der Revisionskommission.70

68 Vgl. Lisá, Nosidlo (wie Anm. 2), S. 12, 13; Bobková, Exulanti (wie Anm. 2), S. XXXVI–XXXVII sowie das Zeug- nis von Jiří Kezelius Bydžovský bei Kamper, Kronika Mladoboleslavská (wie Anm. 1), S. 222ff. 69 Vgl. Bobková, Exulanti (wie Anm. 2), S. XXXVIII, deutsche Zusammenfassung S. LX. Zur Familie Nosidlo ebd., S. 123. 70 Vgl. ebd., S. XLVII, XLVIII.

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Die sächsischen Behörden bemühten sich zwar darum, dass die Exulanten dem Kur- fürsten Johann Georg den Treuschwur leisteten, das gelang aber nicht ganz. Was die Exulanten in Pirna (Männer, Priester, Adelige, Witwen und Weisen) betrifft, so spra- chen diese im Januar 1638 nur den allgemein formulierten Eid aus, durch den sie sich verpflichteten, nichts zum Schaden des Landes zu unternehmen und keine Allianzen mit den Feinden des Kurfürsten und des Kaisers zu schließen.71 Ihre Situation war jedoch nicht beneidenswert. Einerseits brauchten sie den Schutz des Kurfürsten, andererseits brachte der neue sächsische Feind – Schweden – neue Hoffnung auf Ver- änderung der Verhältnisse. In der schwedischen Armee dienten auch manche ihrer Familienmitglieder oder Verwandten. Im Fall von Pirna brachten die schwedischen Truppen jedoch auch den Untergang der böhmischen Exulantengemeinde. Die Chro- nik von Nosidlo informiert uns darüber nicht mehr, weil ihr Text mit der Eintragung vom 12. März 1639 endet, die die Atmosphäre der Furcht vor dem erwarteten schwe- dischen Sturm widerspiegelt. Bestandteil der strategischen Maßnahmen zur Verteidigung der Stadt Pirna war auch die Räumung der Vorstadt um die Nikolaus-Kirche herum und am Fluß Elbe (vor dem Schifftor). Das verursachte vielen Exulanten, die hier wohnten, Schwierigkeiten. Sie waren zu Militäraktionen nicht eidlich gebunden, und das hielten manche Alt- eingesessene in Pirna für Undank. Nach der Eroberung der Stadt steigerte sich die Gehässigkeit gegenüber den Exulanten, die der Kollaboration mit den Schweden ver- dächtigt wurden.72 In der lateinischen Handschrift des böhmischen Exulanten Jan Theodor Sixt von Ottersdorf Pirna Hermundurorum a Suecis armata, manu capta et direpta73, in der der Verfasser von der Belagerung und Eroberung der Stadt Pirna be- richtete, finden sich jedoch die gegenteiligen Belege. Seine Schilderung wurde von dem tragischen Ton der Beschreibungen des Untergangs antiker Städte inspiriert. Die Schweden fielen am 3. Mai in die Stadt ein, nachdem sie gegen Mittag das Dohnaer Tor durchbrochen hatten. Dann beschreibt Sixt die grausame Plünderung, die 38 Tote und 157 Schwerverletzte forderte, zu denen auch sein Sohn Vratislav gehörte. Die schwedischen Soldaten wüteten sowohl in den Häusern der Einheimischen als auch in den Wohnungen der Exulanten. Auch die Exulantendruckerei und Sixts reiche

71 Vgl. ebd., S. XLIX; Lisá, Nosidlo (wie Anm. 2), S. 31 sowie das Zeugnis des Jiří Kezelius Bydžovský bei Kamper, Kronika Mladoboleslavská (wie Anm. 1), S. 227. 72 Auf die Unwahrkeit dieser Beschuldigung machte 1889 der Pirnaer Historiker Oskar Speck aufmerksam. Vgl. Oskar Speck: Zur Geschichte der Stadt Pirna im dreißigjährigen Kriege. Pirna 1884. Vgl. Auch Antonín Rezek: Drobné příspěvky k českým dějinám v XVII století.1. Osudy českých exulantů v Perně r. 1639 [Kleine Bei- träge zur Geschichte von Böhmen im 17. Jahrhundert. 1. Schicksale der böhmischen Exulanten in Pirna]. In: ČČM 65, 1891, S. 402–412. 73 Zur Handschrift vgl. Bobková, Exulanti (wie Anm. 2), S. XIII.

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Bibliothek mit Familiendokumenten und mit jahrelang bewahrten königlichen Urkunden und Privilegien wurden verrnichtet.74 Das Schicksal der eroberten Stadt schildert auch Petermanns Pirnische Chronik, die auf der Basis älterer Familienüber- lieferungen vor 1729 geschrieben wurde. Nach diesen Ereignissen verließen die meisten Exulanten die Stadt Pirna. Manche schlossen sich an den schwedischen Zug nach Böhmen an, kehrten jedoch, nachdem die Schweden zum Rückzug gezwungen wurden, wieder nach Sachsen zurück. Dies- mal ließen sie sich jedoch in anderen Orten nieder. Václav Nosidlo und seine Familie fanden höchstwahrscheinlich in Bad Schandau Zuflucht, aber von den weiteren zehn Jahren ihres Lebens haben wir leider keine genauen Nachrichten. Václav Nosidlo starb 1649 in Bad Schandau und wurde dort im Friedhof der St. Johannis Kirche begraben. Seine Frau Anna hat ihren Mann um sechs Jahre überlebt, sie starb am 3. Juli 1655 und wurde an derselben Stelle wie ihr Mann bestattet. Etwa drei Jahre später bezahlte ihre nicht namentlich genannte Tochter eine gewisse Summe für ihr Grab, und so wissen wir, dass mindestens ein Kind der Familie Nosidlo seine Eltern überlebte.75 Zu dieser Zeit wurde jedoch schon Dresden zum neuen Zentrum der böhmischen Exulanten.76 Im Jahre 1650 wurde in der dortigen St. Johannis Kirche die tschechische Gemeinde gegründet, die die Denkmäler der Pirnaer Exulanten weiterhin auf - bewahrte. In der Gesamtschau auf das Phänomen des böhmischen Exils in Sachsen stellte die böhmische Exulantengemeinde in Pirna nur eine Episode dar. Trotzdem bietet sie das nüzliche Modellbeispiel der Situationen und Denkmuster, die beim Zusammen- prall der unterschiedlichen Traditionen, Vorstellungen und Vorurteile entstehen. Die Probleme des Zusammenlebens in Pirna äußerten sich auf dem sozialen, wirtschaft- lichen, religiösen und sanitären Feld, und sowohl die sächsischen Behörden als auch die Pirnaer Bürger müssen durch die entstandene Situation überrascht, überfordert und überlastet gewesen sein. Am stärksten äußerten sich diese Unterschiede selbst- verständlich auf dem Gebiet der Religion. Die Exulanten, die in Böhmen an die Ko- existenz mehrerer protestantischer Konfessionen im Lande gewöhnt waren und etwas ähnliches im neuen Milieu erwarteten, stießen in Sachsen auf stark konfessionalisierte Verhältnisse. Der Prozess der Einführung eines einzigen Glaubens im Lande, mit dem in Böhmen erst begonnen wurde, war in Sachsen schon beendet. So erlebten die Exulanten paradoxer Weise änliche Situationen, wie diejenigen, die in Böhmen geblieben waren, wenn auch im Rahmen einer anderen, verwandteren Konfession

74 Vgl. ebd., S. L. 75 Vgl. Lisá, Nosidlo (wie Anm. 2), S. 12, einschließlich der Anm. 96. 76 Vgl. Metasch, Exulanten in Dresden (wie Anm. 38).

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und auf eine gemäßigtere Weise. Trotz aller dieser Probleme trug die Erfahrung aus Pirna zur Bildung eines gewissen Modells des Umgangs mit den Exulanten bei. Außer Exulantengemeinden in sächsischen Städten entstanden auch viele Exulantensied- lungen und -städtchen auf sächsischem Gebiet, von denen die neu gegründete Berg- stadt Johanngeorgenstadt zu den bekanntesten gehört. Die böhmischen Exulanten gliederten sich allmählich in die sächsische Gesellschaft ein und trugen bedeutend zu der Erneuerung Sachsens nach dem Dreißigjährigen Krieg bei.

Glossar:

„Cuius regio, eius religio“: dt.: „Wessen Gebiet, dessen Religion“, lateinische Rede- wendung, die den wesentlichen Inhalt des Augsburger Religionsfriedens von 1555 zusammenfasst, und besagt, dass der Herrscher eines Gebietes auch den zu prak- tizierenden Glauben der Bewohner dieses Territoriums vorgibt | Pönfall: eine mittel alterliche und frühneuzeitliche Bezeichnung für die Bestrafung eines Fehl- verhaltens. In der konkreten Situation des ‚Oberlausitzer Pönfalls‘ fielen die sog. ‚Oberlausitzer Sechsstädte‘, ein Bund aus den sechs Königsstädten Bautzen, Görlitz, Kamenz, Lauban (Lubań), Löbau und Zittau, im Jahr 1547 beim böhmischen König Ferdinand I. in Ungnade, da sie nicht gewillt waren, gegen ihre Glaubens- genossen zu Felde zu ziehen und ihm nur nach langem Zögern und für nur kurze Zeit Truppen für den sog. Schmalkaldischen Krieg gegen die Protestanten stellten. Unterstützt durch den königstreuen Oberlausitzer Adel, entzog der König den Städten alle ihre Besitztümer und Privilegien, welche jedoch in den Folgejahren weitestgehend wiedererlangt wurden | Restitutionsedikt: am 6. März 1629 erlassene Verordnung von Kaiser Ferdinand II., die ohne Einverständnis der protestantischen Reichsstände den Zustand des geistlichen Besitzes im Reich vor dem Jahr 1552 wie- derherstellen sollte und damit den Augsburger Religionsfrieden von 1555 zugunsten der katholischen Position auslegte | Schock: böhmische, oft variierende Münz - einteilung; ein Schock waren etwa 60 Stück böhmische Groschen, was etwa 3 Gul- den entsprach | Utraquisten: Anhänger der Lehre von Johann Huss, Angehörige der Hussitischen Kirche, die das Abendmahl „sub utraque specie“/„in beiderlei Gestalt“ (d.h. als Brot und Wein) zu empfangen forderten. Nach der Forderung des Kelches nicht nur für Priester, sondern auch für Laien wurden sie auch als Kalixtiner bezeichnet

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Geschichten aus dem ‚zweiten Leben‘ von Reformation und Gegenreformation im 19. Jahrhundert

Kristina Kaiserová

Geschichten aus dem ,zweiten Leben‘ von Reformation und Gegenreformation im 19. Jahrhundert

I. Die Bewegung ,Los von Rom‘

Im 16. Jahrhundert breitete sich in der sächsisch-böhmischen Grenzregion sehr schnell das Luthertum aus. Doch die Sieger der Schlacht am Weißen Berg sollten im Jahr 1620 diese Situation wieder umkehren. Die Rekatholisierung* lief zwar nicht so schnell ab wie in den großen innerböhmischen Gebieten, dennoch fanden auch hier Konfiskationen, Hinrichtungen und Vertreibungen aus dem Land im Namen des Glaubens statt.1 Auf der anderen Seite mussten einige protestantische Pfarrer zwar über die Grenze fliehen, bis Mitte der siebziger Jahre des 17. Jahrhunderts tauften sie aber weiterhin ohne Probleme die Nachkommen ihrer ursprünglichen Gemeinde- mitglieder.2 Die Situation änderte sich jedoch allmählich mit dem Wirken restriktiver Maßnahmen, die bis zum Einsatz des Militärs reichten, wie es sich beispielsweise in Karbitz (Chabařovice) zutrug:3

Die Bürger von Karbitz widerstanden lange der Rekatholisierung. In diese Sache schaltete sich jedoch die Staatsmacht ein. In der ersten Februarhälfte 1629 tauchte in Aussig/Ústí nad Labem eine kaiserliche gegenreformatorische Kommission auf. Deren geistliches Haupt war der Propst aus dem Kloster Doxan/Doksany, ihr Hauptargument war die Begleitung durch die Armee, die der Kommission den zugehörigen Respekt verschaffen sollte. Zum 15. Februar wurden alle Unter - tanen des Freiherren zu Strahlendorf – unter Androhung einer Strafe von 100 Schock Groschen – in die Stadt Aussig geladen. Dort wurde ihnen nicht die Frage gestellt, ob, sondern bis wann sie den katholischen Glauben annehmen würden. Wer dies nicht versprach, wanderte sofort ins Gefängnis. Nun also ver- sprachen die Karbitzer Bürger, ebenso wie die Bewohner des Besitzes Kulm/ Chlumec, dass sie zum katholischen Glauben übertreten.

1 Vgl. Howard Louthan: Obracení Čech na víru aneb rekatolizace po dobrém a po zlém. Prag 2011. 2 Vgl. Autorenkollektiv: Varnsdorf, město průmyslu a zahrad. Varnsdorf 2003, S. 73; Alois Palme: Warnsdorf mit seinen historischen Denkwürdigkeiten von dessen Gründung an bis zum Jahre 1850. Leipa 1852. 3 Autorenkollektiv: Dějiny města Chabařovic. Chabařovice 1998, S. 46ff.

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Geschichten aus dem ‚zweiten Leben‘ von Reformation und Gegenreformation im 19. Jahrhundert

Eine Rolle bei den Rekatholisierungsmaßnahmen spielte offenkundig auch ein Genera- tionenwechsel.4 Bei der Durchführung und Festigung der Rekatholisierung half zudem die Neugründung des Bistums in Leitmeritz (Litoměřice) im Jahr 1655. Kardinal Harrach und der Leitmeritzer Propst Schleinitz traten ihre Stellen zu der Zeit an, als die oben er- wähnten grenzüberschreitenden Aktivtäten der lutherischen Pfarrer, die auch in weiteren Regionen an der Grenze zu Sachsen und zur Lausitz auftraten, überhandnahmen. Die Verhandlungen über die Einrichtung des Bistums waren recht kompliziert, letztlich aber von Erfolg gekrönt. Zum ersten Bischof wurde wegen seiner Verdienste der bisherige Propst Maximilian Rudolf Schleinitz, gebürtig aus Warnsdorf (Varnsdorf), ernannt.5 Er war auch einer der ersten Bischöfe, die aus dem äußersten Norden Böhmens kamen. Seit den sechziger Jahren des 17.Jahrhunderts begann die sächsisch-böhmische Grenze zu einer Glaubensgrenze zu werden. Im 18. Jahrundert machte sich beispielsweise der Einfluss der Herrnhuter Brüdergemeine im Grenzgebiet bemerkbar.6 Das Toleranzpatent vom 13. Oktober 1781 ermöglichte unter begrenzten Bedingungen die legale Existenz dreier nicht-katholischer Glaubensbekenntnisse: Luthertum, Kalvinismus und Orthodoxie (und bezog sich auch auf Juden, die das Toleranzedikt vom 2. Januar 1782 betraf). In staatlicher Hinsicht stellte es deren Bekenner mit den Katholiken gleich. Alle weiteren Konfessionen wurden nicht als staatstragend angesehen und sollten nicht geduldet werden. Eine größere Bedeutung im Grenzgebiet erlangte das Edikt erst nach der Ankunft der ersten Unternehmer aus den deutschen Landen, also in der Zeit nach dem Wiener Kongress.7 Es handelte sich in erster Linie um sächsische Töpfer, später kamen auch Industrielle aus dem Textilgewerbe nach Böhmen. Stellvertretend für diese kann der bedeutende Gewerbetreibende und österreichische Politiker Carl Wolfrum aus Aussig (Ústì nad Labem) genannt werden, der während seines Jugendaufenthalts in Paris auch Heinrich Heine kennenlernte. Vor allem seit den fünfziger Jahren des 19. Jahr- hunderts entstanden evangelische Körperschaften in allen größeren Städten Nord- westböhmens – in Bodenbach (Podmokly), Komotau (Chomutov), Görkau (Jirkov) und Teplitz (Teplice).8 Diese Leute instrumentalisierten aber noch keineswegs die

4 Zur Rolle der Grenze vgl. auch Alexander Schunka: Im Schatten der Grenze. Die Länder der Böhmischen Krone als Aus- und Einwanderungsgebiete nach der Schlacht am Weißen Berg. In: Náboženský život a církevní proměny v zemích Koruny české ve 14.–17. století, Korunní země v dějinách českého státu IV. Hg. v. Lenka Bobková/Jana Konvičná. Prag 2009, S. 641–656. 5 Vgl. Josef Macek: Biskupství litoměřické. Kostelní Vydří 2005, S. 8–13. 6 Vgl. Kristina Kaiserová: Konfesní myšlení českých Němců v 19. a počátkem 20. století. Prag 2003, S. 36. 7 Vgl. Jan Němec: Keramická manufaktura Schiller & Gerbing v Podmoklech a pronikání saských podnikatelů do severních Čech do roku 1850. Bakalářská práce ÚHS UJEP. Ústí nad Labem 2006. 8 Vgl. Zdeněk R. Nešpor/Marie Crhová/Martin Gaži/Kristina Kaiserová/Marie Macková/Pavel Marek: Náboženství v 19. století. Nejcírkevnější století, nebo období zrodu českého ateismu? Prag 2010 (bes. Římskokatolická církev a Němci v českých zemích, S. 96–115; s Marií Mackovou: Němečtí evangelíci – srovnání severozápadočeského a východočeského „typu“, S. 169–186).

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Geschichten aus dem ‚zweiten Leben‘ von Reformation und Gegenreformation im 19. Jahrhundert

Geschichte so, wie es dann am Ende des 19. Jahrhunderts in Zusammenhang mit der Bewegung ‚Los von Rom‘ der Fall war. Seit Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrunderts formierte sich in Österreich-Ungarn die deutschnationale Bewegung, deren Hauptfürsprecher seit 1879 Georg Ritter von Schönerer (1842–1921) – Sohn eines Wiener Eisenbahningenieurs und -technikers und zudem Gutsbesitzer in Rosenau bei Zwettel – war.9 Schönerer vertrat eine völkisch- germanische Ideologie, die mit einem radikalen Antisemitismus Hand in Hand ging, der konsequent „rassisch“ begründet wurde. Schönerer verbreitete immer wieder völkisch-antisemitische Parolen wie „durch Reinheit zur Einheit – Ohne Juda, ohne Rom / wird gebaut Germaniens Dom“ oder „Die Religion ist einerlei / im Blute liegt die Schweinerei.“ Schönerer war heftiger Gegner des habsburgisch-österreichischen Patriotismus und kämpfte für die Auflösung der Monarchie und den Anschluss ihrer westlichen Teile an das Deutsche Reich. In Zusammenhang mit dem Kampf um die Sprachenfrage und konkret der Badeni- Krise* enstand die Idee ‚Los von Rom‘, die zu einer der programmatischen Losungen der deutschnationalen Bewegung wurde.10 Der protestantische Münchner Journalist und prominentes Mitglied des Alldeutschen Verbands, Julius Lehmann, rief 1897 zwei kleine, aber aktive lutherische Organisationen ins Leben – den ‚Evangelischen Bund zur Wahrung der Deutsch-Protestantischen Interessen‘ und den ‚Gustav-Adolf-Ver- ein‘, der missionarische Aktivitäten im Rahmen der Habsburger Monarchie aufnahm. Der Effekt der Kampagne war nicht der, den man erwartet hatte. Man überschätzte die Rolle religiöser Unterschiede und zudem verschlossen sich die Verfechter der all- deutschen Idee* den Weg in katholische Regionen.11 Einige Hauptvertreter hatten ebenso ihre Vorbehalte, zumal die Situation in dieser Hinsicht auch unter den all- deutschen Aktivisten kompliziert war. Nach dem Wahlerfolg zum Reichsrat 1901 zeigte sich, dass es mit Rudolf Berger, Anton Eisenkolb und Karl Hermann Wolf nur drei protestantische Abgeordnete geschafft hatten. Wolf wollte nicht gegen die katholische Kirche polemisieren, und Massenkonversionen waren sowieso nicht mög- lich. Diese drei Abgeordneten gaben eine Erklärung heraus, in der sie die Verbindung von Politik und Glauben ablehnten, denn Politik sei vergänglich, das Evangelium da- gegen ewig.12 Schönerer musste einen Kompromiss treffen und erklärte die Bewegung

9 Schon zu seiner Zeit wurden Schönerer Bücher gewidmet – das Bekannteste unter ihnen war aufgrund der Quellen basis von Eduard Pichl: Georg Schönerer und die Entwicklung des Alldeutschtumes in der Ostmark. 6 Bde. Wien/Oldenburg/Berlin 1938. Zur Schönerer-Rezeption kam es auch im Nationalsozialismus. Vgl. dazu Erwin Mayer-Löwenschwerdt: Schönerer, der Vorkämpfer. Eine politische Biographie. Wien/Leipzig 1939. 10 Vgl. Österreich Lexikon in zwei Bänden. Hg. v. Richard und Maria Bamberger/Ernst Bruckmüller/Karl Gutkas. Wien 1995, Bd. I, S. 178, Bd. II, S. 364. 11 Vgl. Jan Křen: Konfliktní společenství. Češi a Němci 1780–1918. Prag 1990, S. 271. 12 Vgl. Pichl, Schönerer (wie Anm. 9), Bd. 5, S. 88.

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zu einer politisch-nationalen Angelegenheit statt einer religiösen.13 Auf diese Weise konnte ein Konsens erreicht werden.

Tableau von J. Russ: Alldeutsche Vereinigung [Eger, um 1900]

13 Vgl. Lothar Höbelt: Kornblume und Kaiseradler. Die deutschfreiheitlichen Parteien Altösterreichs 1882–1918. Wien, München 1993, S. 195.

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Nicht einmal Schönerers Gedanken waren in dieser Hinsicht geradlinig. Ihn be- eindruckte in gewisser Weise Bismarcks Kulturkampf und nicht mehr so sehr die Vision einer evangelischen Kirche, denn die Sympathie der Protestanten für das Alte Testament verband er mit dem Judentum. Dies stand im Gegensatz zu seiner Begeisterung für den heidnischen Kult der Germanen und deren Kalender. Die mit der Bewegung sympathisierenden Zeitungen nutzten den Kalender für ihre Zeitrechnung. Sie benannten die Monate folgendermaßen: Hartung, Hornung, Lenzmond, Ostermond, Mai, Brachmond, Heuert, Ernting, Scheiding, Gilbhart, Nebelung, Julmond. Ein Beipsiel für die Neigung zum germanischen Heidentum bietet der folgende Text:14

Ja, gut deutsch allerwegs, fromm-heidnisch und bieder, / Doch das Gute wollen ohn‘ Unterlaß, / Entsagend dem ewigen Lohne, / Und mannhaft in Liebe und Haß, / Das ziemt dem Wotanssohne, / Und Sterben, vom Schlachttendonner um- tost, / Für das heilige Erbe der Ahnen. / Das ist Wotans Lehre, ist Wotans Trost, / Der Heldentod der Germanen.

An der Tatsache, dass die katholische Kirche eine kosmopolitische und verräterische Kirche sei, zweifelte keiner in den besagten Kreisen (man beschuldigte sie in Zu- sammenarbeit mit der Wiener Regierung an einer Allianz mit den Slawen beteiligt zu sein; die negative Rolle wurde hierbei selbstverständlich den Juden und den Jesuiten angehängt). Die Sympathie (nicht unerlässlich die Konversion) zur evan- gelischen Kirche ermöglichte es ihnen, Nähe zu Deutschland zu demonstrieren. Diese Situation nutzte auch ein Teil der Pastoren aus Deutschland zur Missio- nierung aus. Ein besonders aktiver Missionar aus Deutschland war Pastor Heinrich Bräunlich.15 Im Jahr 1898 besuchte er die österreichische Monarchie, besonders interressierten ihn dabei die Böhmischen Länder. Hier traf er sich mit den drei Alldeutschen – Wilhelm Jaksch, Franz Stein16 und dem für die Agitationsarbeit besonders entflamm- ten Dr. jur. Anton Eisenkolb, Rechtsanwalt in Karbitz und seit Januar 1901 Abgeord- neter im Reichsrat. Mit diesem freundete er sich an. Ihr erstes Treffen schilderte er wie folgt:17

14 Andrew G. Whiteside: Georg Ritter von Schönerer: Alldeutschland und sein Prophet. Graz/Wien/Köln 1981, S. 184. 15 Vgl. P. Heinrich Bräunlich: Die neueste katholische Bewegung zur Befreiung vom Papstum. München 1898; derselbe: Die österreichische Los von Rom Bewegung. München 1899; ders: Das Fortschreiten der Los von Rom- Bewegung in Österreich. Bd. 1: Böhmen. München 1900. 16 Vgl. Whiteside, Schönerer (wie Anm. 14), S. 182. 17 Bräunlich, Das Fortschreiten der Los von Rom-Bewegung (wie Anm. 15), S. 29.

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Es begann genau am 9. November 1898, als er vom etwas abgelegenen Bahnhof in das Städtchen kam, im Rücken die „Jesuitenburg“ Mariaschein, um diesen be- rühmten Mann zu treffen, über den man mit einer gewissen Ängstlichkeit sprach, dass er ein „Feuergeist“ sei. Er ging über den Platz und an der „ehemaligen evan- gelischen Kirche“ (vor 1620) vorbei bis er zu dem Haus und in die Kanzlei Eisen- kolbs kam. Er freute sich auf einen herzlichen Empfang, aber der untersetzte, etwa 40jährige Mann wirkte verschlossen, zeigte sich fast argwöhnisch. Er ließ Bräunlich schließlich eine ganze Weile warten, als er Parteien behandelte, und auch später, als er in Gegenwart Eisenkolbs Freunde zusammen sprachen, hörte er mehr zu und wenn er etwas sagte, dann handelte es sich vor allem um Bedenken, Beschwer- den, Vorbehalt. [...] Er legte auch Briefe vor, einige in wütender Art, andere aber zustimmend, freudig, optimistisch. Später lockerte er sich dann, seine Augen leuchteten auf und er begann von seiner unerschütterlichen Überzeugung zu spre- chen, dass das Werk trotz aller Schwierigkeiten zu einem siegreichen Ende geführt würde. Dann gingen sie zusammen durch die Stadt, die Kinder grüßten „Heil“ und Eisenkolb teilte ihm mit, dass er soeben einen Saal für den evangelischen Got- tesdienst bestellt hätte und von Bräunlich erwarte, dass er einen Prediger zusichere. Er sicherte es ihm zu und ab dieser Zeit wurden sie große Freunde.

Auch ein anderer deutscher evangelischer Geistlicher – Pfarrer Bleckmann – traf sich mit Eisenkolb.18 Er beschrieb ihn als einen kleineren Mann mit gutem Herzen und prachtvoller Sprache. Er sei frei und sehe mit kindlicher Liebe auf seine Familie. Bleck- mann sprach mit besonderer Freude über Eisenkolbs Konversion 1898:19

Eisenkolb ging schon seit den 80er Jahren nicht mehr zur Beichte, nicht aus Gleichgültigkeit, sondern aus dem Gefühl, dass er seine Seele nicht antasten lassen wolle. Er versuchte ohne Gott und ohne Kirche zu leben, was er nicht fertig brachte, Gott ließ ihn nicht fortgehen – es ging ihm wie prophezeit: „Du hast mich überredet und ich hab mich auch überreden lassen, du bist mir zu stark ge- wesen und hast gewonnen.“ Überraschend fiel ihm Luthers Katechismus in die Hände und er arbeitete ihn durch – er las und verglich die Schrift mit dem Inhalt der päpstlichen Schreiben und Bullen – „Die Lutherischen sitzen in der Schrift, wir Katholiken daneben“. Die katholischen Gebräuche erblassten, die Sonne des Heils war ihm aufgegangen, er trat vor den Altar der Mutter Gottes in Karbitz

18 Vgl. Pfr. Bleckmann: Evangelisten-Fahrten durch Nordböhmerland. Ein Beitrag zum Verständnis und Wachstum der Los von Rom Bewegung. München 1899, S. 15ff. 19 Zehn Jahre evangelischen Gemeindelebens in Karbitz (Böhmen) der ersten Los von Rom-Gemeinde. Hg. v. Prys- beterium d. evangelischen Gemeinde. Karbitz 1908, S. 26 und 29.

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und rief in seinem Herzen: Maria, ich brauche dich nicht mehr, Sebastian und Rochus und Florian auch nicht, ich habe nur einen Heiland und der Heiland ist mein.

Anton Eisenkolb wurde 1856 in Schlackenwerth (Ostrov nad Ohří) als Sohn einer Tuchmacherfamilie geboren. Er besuchte das Gymnasium in Eger (Cheb) und stu- dierte Jura an der Prager Universität. Nach Bestehen der Staatsprüfung arbeitete er als Gerichtsreferendar am Kreisgericht in Eger, später als Beamter in Kuschwarda (Kynžvart). Dort half Eisenkolb bei der Gründung einer Ortsgruppe des Schulvereins in Rokitnitz (Rokytnice). Hier bemühte er sich um eine ebensolche Anstellung, doch als ihm eine weitere Versetzung drohte, verließ er den Staatsdienst und begann ab 1892 in Karbitz als Rechtsanwalt zu arbeiten.20 Im Mai 1903 siedelte er nach Aussig über und eröffnete am Marktplatz eine Kanzlei. Hier lebte er bis zu seinem Tod am 15. April 1926. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges – 1913, als seine politische Karriere mehr oder weniger bereits zu Ende ging – heiratete er die dreißig Jahre jüngere Antonie Schwarzbach und zeugte mit ihr drei Kinder.21 Die eigentliche Bewegung wurde in Karbitz sehr theatralisch gestartet und hing mit der schon beschriebenen Konversion Eisenkolbs zusammen. Im Städtchen feierte der Scharfschützenverein das dreihundertjährige Jubiläum seiner Gründung. Auf dem Platz standen zwei Feldaltäre und die katholischen Pfarrer in vergoldeten Gewändern feierten die Messe, von der „die Leute nichts verstanden“. Da trat Eisenkolb auf die Tribüne und machte darauf aufmerksam, dass die Gründer des Vereins deutsche Protestanten waren, die zwar auf dem hiesigen Friedhof lägen, nichts desto weniger „lässt der alte Gott sie nicht zu Grunde gehen und verbindet den Protestantismus mit dem Deutschtum und was Gott verbunden hat, das soll der Mensch nicht trennen.“ Das war der eigentliche Impuls zur Gründung der evan- gelischen Kirche in Karbitz. Eisenkolb wies oft auf die Tatsache hin, dass zwar eine Gruppe von Protestanten in der Stadt lebte, hauptsächlich Beamte der sächsischen Grubengesellschaft, aber den- noch eine Religionsgemeinde fehlte. Mit der Vergrößerung der Gemeinde tauchte diese Forderung immer stärker auf, und so fand zu Weihnachten 1898 im Sitzungssaal der Kreisvertretung ein Gottesdienst statt, den der Aussiger Pfarrer Dr. Albert Gummi abhielt. Kurz darauf wurden die Grundlagen für eine selbstständige evangelische Ge- meinde gelegt. Administrativ fiel sie aber noch unter die Gemeinde Teplitz, aber es

20 Vgl. Karl-Reinhard Trauner: Die Los-von-Rom-Bewegung, Gesellschaftspolitische und kirchliche in der aus - gehender Habsburgermonarchie. Tillinger 2006. 21 Vgl. Archiv města Ústí nad Labem: fond Sbírka policejních přihlášek.

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wurde eine selbstständige Predigerstelle eingerichtet, in der der aus Sachsen stam- mende Vikar Weiß wirkte.22 Nicht immer setzte sich die evangelische Kirche im Gebiet ohne Widerstand durch, auch in Karbitz war das nicht ganz einfach. Der dortige katholische Dekan besuchte persönlich die Einwohner, die sich mit dem Gedanken der Konversion auseinander- setzten, und auch die, die schon den Glauben gewechselt hatten. Dabei half ihm sein Bruder, der Karbitzer Arzt, der verständlicherweise viele Leute persönlich kannte.23 Man muss aber anmerken, dass sich Eisenkolb selbst für die Entwicklung der Ge- meinde mit allen Kräften einzusetzen versuchte, teilweise mit eigenen Mitteln sicherte er auch das Grundstück für den Kirchenbau. Die Kirche wurde schließlich am 17. Juli 1901 geweiht. Die Feier beschrieb verständlicherweise nicht nur die örtliche Presse ausführlich,24 sondern auch andere interessierte Medien.25 Ein ganz eigenes Kapitel in der böhmischen Kirchengeschichte bildet das ,zweite Leben‘ der Gegenreformation des 17. Jahrhundert. Ein besonders markantes Beispiel der neuen Bewegung wurde die Gemeinde Klostergrab (Hrob), denn die Gegenreformation war in diesen Ort besonders stürmisch verlaufen. Im Jahr 1617 fand hier der letzte protes- tantische Gottesdienst statt, und schon im Jahr darauf wurde die lutheranische Kirche abgerissen.26 Auch die Tatsache, dass dieses Bergstädtchen einst zu dem Kloster Ossegg (Osek) gehörte, erfüllte einige Einwohner mit Rachegefühlen sowie der Forderung, dass man zu den ursprünglichen Werten zurückkehren müsse. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts breitete sich unter den überwiegend armen Einheimischen die Ansicht aus, dass es ihnen besser ginge, wenn der Ort damals lutherisch ge blieben wäre.27 Die Vertreter der Bewegung ‚Los von Rom‘ wollten in Klostergrab eine neue Kirche bauen und zwar nicht nur wegen des aktuellen Bedarfs, sondern auch als Geste der Erinnerung an die ‚goldene‘ Zeit der Reformation im 16. Jahrhundert. Klostergrab sollte ein Mekka der protestantischen Bewegung werden.28 Ein Bau auf dem ehemaligen evangelischen Friedhof wurde auf Druck des Ossegger Klosters nicht genehmigt. So mussten die Protestanten ein anderes Grundstück kau-

22 Vgl. František Cvrk: Církevní záležitosti, in: Autorenkollektiv, Dějiny města Chabařovic. Chabařovice 1997, S. 99. Srv. též AM ÚL: fond Archiv fary německé evangelické církve Chabařovice, Přílohy k farní kronice, inv. č. 26, evid. č. 10; Německý evangelický svaz Chabařovice, inv. č. 28, evid. č. 10 a farní kronika 1906–1924, inv. č. 1. 23 Zehn Jahre (wie Anm. 19), S. 8. 24 Vgl. Aussig-Karbitzer Volkszeitung,17. 7.1901: „Als wir die erhebende Versammlung nach11Uhr nachts verlassen muß - ten, da erklangen gerade die unvergänglichen, hehren Töne des Trutzliedes: ‚Ein feste Burg ist unser Gott‘ durch den Raum. Noch von ferne hörten wir das altehrwürdige Lied, das uns nebst der ‚Wacht am Rhein‘ am heiligsten ist.“ 25 Vgl. Rheinisch-Westfälisches Gustav-Adolf-Blatt aus Duisburg, Sonntagsbote des evangelischen Bundes Hannover sowie Gedenkbuch der Stadt Karbitz II, 1925. 26 Vgl. Umělecké památky Čech I. Prag 1977, S. 470. 27 Vgl. Bräunlich, Das Fortschreiten der Los von Rom-Bewegung (wie Anm. 15), S. 42f. 28 Vgl. Petr Jančárek: Města českého Krušnohoří v předbělohorské době. Ústí nad Labem 1971, S. 69.

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fen, dessen Kaufpreis weitaus höher lag.29 Dennoch konnte der Bau, den das Dresdner Architekturbüro Schilling & Graebner realisierte, im Jahr 1900 vollendet werden.30 Pfarrer Bräunlich jubelte über den Neubau, denn die Kirche überstrahlte mit ihrer Dominanz nicht nur den Ort selbst, sondern war gleichzeitig gut sichtbar bis Maria- schein (Bohosudov), Ossegg – zu dem seinerzeit Klostergrab gehörte – und Maria Ratschitz (Mariánské Radčice), bis in das ganze ‚Mariengebiet‘. Die Einweihungen neuer protestantischer Kirchen wurden mit großen Festen gefeiert. Zwischen den Jahren 1900 und 1910 waren es über einhundert neue Gotteshäuser, die hauptsächlich in Nordböhmen entstanden waren. Der Prediger Klein aus Turn (Trnovany) charakterisierte auf der Jahresversammlung des Evangelischen Bundes in Heidelberg die ganze Bewegung ‚Los von Rom‘ folgendermaßen:31 Wir haben eine zweite Reformation in dem Lande, dessen Boden von dem Blut der Märtyrer der ersten Reformation getränkt ist. Nun ruft das Volk wieder seinen alten Gott. Man verlangt loszukommen von Rom und hinzukommen zum Evan- gelium. [...] Die Kirche soll Christuskirche heißen, weil die Jesuiten den Evan - gelischen nachsagen: wir hätten keinen Christus […].

Die Missionstätigkeit der deutschen Pfarrer besonders in den Böhmischen Ländern war sehr intensiv. Allerdings empfanden sie es als enttäuschend, dass keine allgemeine Begeisterung für ihre Tätigkeit bestand. Nur bei den Alldeutschen trafen sie auf Be- geisterung. Ein Grund des Misserfolgs war nicht nur die Gegen agitation der katho- lischen Kirche, sondern auch die geringe Religiösität von Teilen der Deutschböhmen. Einigen Pfarrern ging es mehr um Politik, während andere die Konfessionsfragen in den Vordergrund rückten. So trat Bräunlich als ein leidenschaftlicher Nationalist und Preußenfreund auf, der auf den Nationalversammlungen Bismarck, seinen Kultur- kampf und das ganze Deutsche Reich verherrlichte. Bei Walter Reichelt hingegen drehte sich die Argumentation mehr um die Fragen der Kirchenpartei, wenngleich auch er die politischen Versammlungen der All deutschen besuchte. Große Erfolge erzielte die deutsch-evangelische Wochenzeitung Die Wartburg. Um 1904 wirkten in der Monarchie etwa zweihundert Pfarrer aus dem Deutschen Reich.32 Alle Aktivitäten der Bewegung wurden aufmerksam von österreichischen Behörden ver- folgt. In den Aktenvermerken der Statthalter finden sich vor allem Beschreibungen von Aktivitäten deutscher, protestantischer Prediger, die im Land im Geist der Bewegung

29 Vgl.D.Meyer: Vortrag.In:Mitteilungen vom Ausschuß für die Förderung der evangelischen Kirche in Österreich Nr.19, AM Ú: fond Archiv fary německé evangelické církve Chabařovice, Přílohy k farní kronice, inv. č. 26a, evid. č. 10, S. 7. 30 Vgl. Umělecké památky Čech I (wie Anm. 26), S. 470. 31 Deutsche Reformblätter, 21. 10. 1899, S. 2. 32 Vgl. AM ÚL: fond Okresní úřad, Presidiální spisy 1902, evid. č. 2, inv. č. 38.

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‚Los von Rom‘ wirkten. Deren Agitation ging sehr schnell in offene Reichspropaganda über. Überwacht wurden auch die Tätigkeiten einheimischer Aktivisten, besonders die von Anton Eisenkolb.33 Die Aktivitäten ließen auch in den folgenden Jahren nicht nach. Einer der vordersten Kämpfer der Bewegung von Reichsseite, Heinrich Bräunlich, rückte auch 1907 ins Zentrum des Geschehens, als ihn die Statthalterschaft wegen seiner Tätigkeit innerhalb der deutschen Arbeiterschaft überwachte.34 Schönerer dagegen agierte weiterhin in einem eigenen religionspolitischen Verein, dem ‚Deutsch-Evangelischen Bund für die Ostmark‘, der in den Böhmischen Ländern 27 Ortsorganisationen umfasste. Vieles ging nicht ohne Unterstützung der All - deutschen – manchmal war dies auch eine politisch-konfessionelle Notwendigkeit. Alldeutsche Gedanken waren die Maßgabe, die auch von den ‚Sponsoren‘ aus dem Reich erwartet wurden. So gab es ihrerseits schon Klagen, dass sich die Erwartungen – an ein vereinigtes Deutschland unter Führung der Hohenzollern, das eine protes- tantisch-germanische Ära nach sich ziehen würde – nicht so schnell erfüllten.35 Ein Beispiel war das Treffen der Lutheraner und Alldeutschen nahe Asch am 21. Dezember 1905, zur Zeit der Sonnenwende.36 Wichtig ist auch zu erwähnen, dass die österreichischen Protestanten keinesfalls mas- senhafte Anhänger der Bewegung Schönerers waren. Im Januar 1899 klagte der Evan- gelische Kirchenrat in Wien unter Teilnahme von Vertretern des Ministeriums für Kultur und Unterricht ganz offiziell die Bewegung ‚Los von Rom‘ an. Daraufhin mussten 80 Pfarrer eine Loyalitätserklärung für den Kaiser unterschreiben. Eine scharfe kritische Stellung ge gen das Wirken deutscher Pfarrer bezog auch das Organ des Evangelischen Kirchenrats, die Öster reichische Evangelische Kirchenzeitung, die früher selbst sehr gute Beziehungen zum ‚Gustav-Adolf-Verein‘ unterhielt. Diese Haltung unterstützten wohl auch höhere evangelische Kreise in Deutschland, denen die Verbindung mit den österreichischen Alldeutschen nicht gefiel. Allmählich wand- ten sich auch die beiden befreundeten lutherischen Vereine im Reich von Schönerer ab. Im Jahr 1904 konnte man schon von einer erheblichen gegenseitigen Disharmo- nie sprechen, und die Bewegung verlor schrittweise an Bedeutung.37 Selbst als die Bewegung den Zenit überschritten hatte, endete aber deren Agitation nicht.38

33 Vgl. SOkA Ústí nad Orlicí: fond OÚ Lanškroun, evid. č. 13, 14. 34 Vgl. ebd., přípis z místodržitelství ze dne 10.9.1907. 35 Mitteilungen vom Ausschuß für die Förderung (wie Anm. 29), inv. č. 26a, evid. č. 10. 36 Vgl. ebd., S. 215. 37 Vgl. Whiteside, Schönerer (wie Anm. 14), S. 218–221. 38 Vgl. AM ÚL: fond Archiv fary německé evangelické církve Chabařovice, Německý evangelický svaz Chabařovice 1908–1933, Aufruf an das deutsche Volk, inv. č. 28, evid. č. 10; Jahres-Bericht des Deutsch-Evangelischen Bun- des für die Ostmark erstattet in der 10. Ordentlichen Bundes-Hauptversammlung zu Warnsdorf am 20. und 21. September 1913. Wien 1913.

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II. Das Wunder von Philippsdorf und die Errichtung eines Pilger- und Missions - zentrums

Das 19. Jahrhundert wird auch als ‚Jahrhundert der Rekonfessionalisierung‘ bezeich- net. Eine bedeutende Rolle bei der Stärkung der katholischen Kirche spielte das Ordenswesen, mit Orden wie den Jesuiten oder den Redemptoristen. Als Papst Pius VII. im Jahr 1814 mit der Bulle Solicitudo omnium ecclesiarum den Jesuitenorden er neuerte, weckte er sehr unterschiedliche Reaktionen, die den Jesuitenorden immer begleiten sollten. In den nicht-katholischen, liberalen und sozialistischen Kreisen kursierten verschiedene Meinungen über die Rolle und den Einfluss des Ordens. Die Jesuiten waren beispielsweise vor allem mit Papst Georg XVI. sehr eng verbunden. Weiterhin hatten sie auch bedeutenden Einfluss auf das Erste Vatikanische Konzil. Die jesuitische Frage hatte innerhalb Böhmens auch noch eine nationale Konnotation. Die Protagonisten der Bewegung ‚Los von Rom‘ beschrieben in ihren Vorträgen und Texten die Jesuiten als abschreckendes Beispiel bei der Bekämpfung der Reformation. Zugleich betonten sie immer wieder, dass nur die Deutschen sich der Jesuiten und deren Ansichten erwehrten, während die Tschechen die Reformation längst verkauft hätten. Empört wurden die Niederschriften des Jesuiten Paul Stephanides aus seiner Wirkungszeit in Nordböhmen im Jahre 1636 zitiert, der zusammen mit Pater Koweindel Rumburg (Rumburk) rekatholisierte. In Görkau stießen beide auf Wider- stand von Frauen, die sie während des Gottesdienstes mit einem Messer bedroht hatten. Ruhe brachten erst die Jäger Zdeněks von Kolowrat. Gerade wegen dieser konfessionellen Problemstellung innerhalb der Gesellschaft kam es erst relativ spät zur Erneuerung des jesuitischen Lebens in Böhmen. Eine bedeu- tende Rolle in den deutschen Gebieten der Böhmischen Länder spielte das 1853 ein- gerichtete Internat mit Gymnasium und Knabenseminar in Mariaschein, wo viele bedeutsame Persönlichkeiten des deutschen Katholizismus studierten. Eine weitere einflussreiche Größe waren die Redemptoristen. Diese erreichten dank ihres steigenden Einflusses vor allem in Österreich einen ähnlich hohen Beliebtheits- grad wie die Jesuiten. Vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entfalteten sie sich in der österreichischen Provinz. Verantwortlich dafür war in erster Linie Pater Andreas Hamerle. Dieser begann 1885 ein Kloster im nordböhmischen Philippsdorf, am Ort des Marienwunders von 1866, zu erbauen.39 Die Philippsdorfer Wunderheilung, die Ende der 1860er Jahre eine große Diskussion hervorrief, trug sich wie folgt zu:40 In der Nacht vom 12. auf den 13. Januar 1866 er-

39 Vgl. Kaiserová: Konfesní život (wie Anm. 6), S. 114–119. 40 Vgl. Marie Rút Křížová/Benno Beneš: 13. 1. 1866. Philippsdorf. Filipov/Prag 1991.

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schien bei der todkranken Magdalena Kade die Gottesmutter Maria ganz in weiß mit einer goldenen Krone und sprach: „Mein Kind, von jetzt an heilt‘s“ – und seit dieser Zeit spürte Magdalena Kade keine Schmerzen mehr und war schnell wieder völlig gesund. Die Kunde vom Wunder verbreitete sich schnell, sodass das Haus vor der Presse geschützt werden musste. Bereits am 7. März tagte eine Untersuchungskom- mission unter Vorsitz des Leitmeritzer Bischofs, die innerhalb einer Woche einen 48 Seiten langen Text ausarbeitete und das Wunder anerkannte.41 In der weiteren Entwicklung war der Kaplan von Georgswalde (Jiříkov) Franz Storch eine zentrale Figur. Das Zimmer, in dem es zur Heilung kam, wurde zu einer Kapelle umgestaltet. Als dies nicht mehr ausreichte, fiel die Entscheidung, eine Kirche an Ort und Stelle zu errichten. Im Jahre 1870 begann man mit dem Bau der Kirche, der jedoch nicht ohne finanzielle und organisatorische Probleme ablief und 15 Jahre lang dauerte.

Gruß aus Philippsdorf, Postkarte

Zum Wunder gab es aber auch andere Meinungen. Schon das Rumburger Verlagshaus Pfeifer (hier bildete man den späteren Herausgeber altkatholischer und nationalisti- scher Literatur in Warnsdorf, Eduard Strache, aus), das eine komplette Zusammen- fassung der Stimmen aus der Presse und den Nachrichten zu diesem Thema heraus-

41 Vgl. Heinrich Pfeifer: Die wunderbare Heilung der M. M. Kade in Philippsdorf bei Georgswalde. Eine Sammlung der über diese Begebenheit erschienen Schriftstücke. Rumburg 1866.

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gab, entwickelte in der letzten Anmerkung zur Edition eine sichere Skepsis. Es gab auch medizinische Bedenken. Die Diskussion drehte sich darum, ob die Krankheit wirklich schlimm war, oder in welchem Maße die Krankheit die Fantasie anregen konnte. Öl ins Feuer goss einer der beiden Ärzte, die den Gesundheitszustand von Frau Kade kannten, der Protestant Ulbrich aus Georgswalde (der andere, Dr. Grülich aus Neugersdorf änderte seine Aussage möglicherweise nicht). Zuerst bekräftigte er die Möglichkeit eines Wunders, zuletzt aber relativierte er alles in der Oberlausitzer Dorfzeitung, denn er hatte Frau Kade längere Zeit nicht gesehen, und da die Krankheit nicht so schlimm war, hatte Ulbricht ihr eine Salbe verschrieben.42 Dann gab es hier noch einen Teil der Bevölkerung, der prinzipiell an Wundern zweifelte – sie sahen in Philippsdorf nur einen weiteren Beweis für die katholische ‚Ewiggestrigkeit‘, was die liberale Presse regelmäßig erwähnte.43 Bei der Mehrheit der katholischen Würdenträger, einschließlich des Leitmeritzer Bischofs Josef Grosse (seit 1910) und des Prager Weihbischofs Wenzel Frinda (seit 1901), fand der Wallfahrtsort Philippsdorf Unterstützung. Das Missionsprogramm der Redemptoristen war monumental, es strahlte bis in die benachbarte Oberlausitz und nach Schlesien aus. Wie so ein Wallfahrtsort aussah, lässt sich anhand des Reise - berichts Altkatholizismus und Romanismus in Österreich des Altkatholiken August Heinrich Braasch rekonstruieren:44

Ganz andere Eindrücke empfing ich dagegen, als ich von Warnsdorf aus einem Ausflug nach dem hart an der sächsischen Grenze gelegenen, neuerdings berühmt gewordenen Wallfahrtsort Philippsdorf machte. Da war ich denn ganz im römisch- katholischen Element. Eine in der That prächtige Kirche, die in einigen Theilen noch der Vollendung harrte (es fehlte noch die Orgel) entzückt den Beschauer. Sie ist natürlich der Jungfrau Maria geweiht, in reinem romanischen Stil gehalten und mit kostbaren Bildwerken in Marmor reich geschmückt; für ihren Bau waren bis zum vorigen Jahre schon weit mehr als 300.000 Gulden verausgabt worden. An ihrer Seite erhebt sich in entsprechender Schönheit ein geräumiges Redemp- toristenkloster, dessen Ordensgeistliche die Seelsorge an der „Gnadenstätte“ zu versehen haben. Alle Kosten zu diesen glänzenden und kostspieligen Bauten sind natürlich nicht aus dem kleinen Dörflein Philippsdorf oder dem unmittelbar daranstoßenden Georgswalde zusammengebracht, sondern aus den Scherflein und

42 Vgl. Pfeifer, Die wunderbare Heilung (wie Anm. 41), S. 26f. 43 Vgl. P. Sebastian Waldner: Die Nordböhmische Lourdes – Die Gnadensstätte Phlippsdorf, 1938. Rkp. – SOkA Děčín, Pozůstalost Sebastiana Waldnera 1884–1938, kr. č. 4, S. 26. 44 August Heinrich Braasch: Altkatholizismus und Romanismus in Österreich, Reiseerlebnisse, Frankfurt a. Main 1890, S. 14ff.

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großen Gaben der Wallfahrer gedeckt worden. Wie der Pfarrer Franz Storch in Georgswalde in Maria, das Heil der Kranken (Heft IX S. 104) schreibt, handelte es sich darum, dass das nördliche Deutschland hier in dem „Winkel Europas, wo die drei Königreiche Sachsen, Preußen und Böhmen sich die Hand reichen, ebenso eine neue prachtvolle Wallfahrtskirche finden sollte, wie das nordwestliche Deutschland eine solche Stätte in der Wallfahrtskirche besitze, welche der hl. Mut- ter Gottes von Kavelaer am Niederrhein erbaut sei.“ Diese Absicht ist erreicht. An dem Tage meines Besuches sah ich in Philippsdorf allerdings nur wenige Fremde und nur wenige Beter in der Marienkapelle und der Marienkirche. Aber zahlreiche Buden im Dorfe, in denen Kreuze, Rosenkränze, tausenderlei Bildchen, kleine Büchlein, wie Maria, das Heil der Kranken oder Beicht-Andacht für Kinder oder Neues Büchlein zu Ehren unserer lieben Frau oder Billete ins Paradies (für 2 Kreuzer) zu haben waren, zeigten, welchen Zulaufes an Sonn- und Festtagen (ich war am Wochentage dort) diese Gnadenstätte sich zu erfreuen hat. Und welcher Geist des Marienthums weht uns hier entgegen! Maria ist nach diesen Büchlein und Bildern die himmlische Fürsprecherin, Marias immerwährende Hülfe wird gepriesen, und zwar ist es immer und immer wieder nur dieselbe Hülfe, die der Afrikaner von seinem Fetisch oder seiner Menge von Fetischen erwartet, die Hülfe aus leiblicher Not. Also das Marienthum kann man zwar als eine Art abergläubischer Erlösungs- religion bezeichnen. Aber die Erlösung, um die es sich handelt, ist nicht die von der Sünde, sondern nur vom Übel, namentlich von allerlei Krankheit. In dem er- wähnten IX. Heft von Maria, dem Heil der Kranken von Pfarrer Storch, werden beispielsweise in dem Bericht aus dem Jahre 1886 (S. 86ff.) aufgezählt: die Heilung zweier Knaben vom Kopfgrind, „daß ihre kahlen Köpfe wieder dicht mit Haaren bedeckt sind“, die Heilung eines siebenjährigen Mädchens von einem Gehörlei- den, durch Leinwand, welche „an der Erscheinungsstelle der heiligen Jungfrau be- rührt war“ und von welcher der Kranken ein Stückchen in jedes Ohr gelegt wurde; ferner die Heilung eines kranken Fußes, dann von zwei nicht näher bezeichneten Krankheiten und eine Anzahl Krankenheilungen durch in Philippsdorf berührte Bildchen oder Leinwand; ferner Heilungen von Ausschlag, von einer bösen Beule, von einem bösen Bein, von „zwei schweren Krankheiten“, von epileptischen Krämpfen, von Schüttelkrampf und dergleichen mehr. Oft soll die vorangegangene ärztliche Bemühung lange Zeit fortgesetzt und vergeblich gewesen sein. Gelübde spielen ebenfalls ihre große Rolle. Von einer Hülfe aus geistiger Not ist in dem ganzen Bericht mit keinem Worte die Rede! Gedenktafeln in der Marienkapelle berichten ebenfalls, und zwar auch wie der Pfarrer Storch im Stile des blinden Glaubens, von solchen Wunderhülfen Mariens. Hier, wo die der Kriche selbst an- gebaute Kapelle jetzt steht, war ja auch nach der Legende die Stätte, an welcher

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die kranke Jungfrau Magdalena Kade im Jahre 1866 durch eine Marienerscheinung geheilt wurde, wodurch dann Philippsdorf zur „Gnadenstätte“ wurde. Diese Mag- dalena Kade lebt noch jetzt und wohnt nahe der Kirche in einem hölzernen Häus- chen, wie sie auch damals bei der Gnadenerscheinung in einer hölzernen Hütte wohnte. Ich machte einen Besuch, sie selbst zu sprechen. Indessen klopfte ich mit meinem lieben Begleiter vergeblich an ihre Thüre an. Wie ich hörte, soll ihr Aus- schlag von Zeit zu Zeit wiederkehren, und dann soll sie für eine Zeit unsichtbar sein. Jetzt soll sie gar nicht mehr zu sprechen sein und niemand soll sie zu sehen bekommen. In der ersten Zeit nach ihrer wunderbaren Heilung hat sie die Pilger nicht selten angeredet, bis man es doch wegen des kunfusen Inhalts ihrer Anspra- chen für besser befunden hat, ihr solche zu untersagen. Schade, dass ich die „Hei- lige“ nicht wenigstens gesehen! Von ihrem Geisteszustande hätte ich gern einen Eindruck erhalten mögen. Was aber ihre Heilung selbst anbelangt, so wird sie in demselben Stile wie alle nachfolgenden nur viel ausführlicher und durchaus legendenhaft ausgeputzt erzählt, eine so artige Fabel, daß ich sie hier kurz nach einem in Philippsdorf gekauften Büchlein wiedergeben möchte.

Diese Geschichten sind Beweis eines konfessionellen Geschehens an der sächsisch- böhmischen Grenze. Das gesamte konfessionelle Leben war natürlich weitaus viel- fältiger. Bei seiner Betrachtung kann aber aufgezeigt werden, dass das 19. Jahrhundert bei Weitem nicht nur vom Sieg des Liberalismus über den Glauben geprägt war. Sie zeigen ebenso, dass die nationale Frage begann, allgegenwärtig zu werden, auch in religiösen Bereichen.

Glossar:

Alldeutsche Bewegung: radikal-nationalistische Bewegung, die sich seit den achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts in der Habsburger Monarchie herausgebildet hatte. Diese Strömung wurde Mitte der neunziger Jahre in die Alldeutsche Partei um - gewandelt, deren Bedeutung bis zu ihrem beinahe triumphalen Wahlerfolg 1901 zunahm. Sie strebte offen die Zerschlagung Österreichs und die Angliederung sei- ner Teile an Deutschland an. Ihr Hauptvertreter war Georg R. von Schönerer. Schönerer war gleichfalls auch offen antisemitisch orientiert | Badeni-Krise: eine Welle von Protesten und Ausschreitungen im österreichen Teil der k. u. k. Mon - archie in der Reaktion auf eine am 5. April 1897 vom österreichischen Minister - präsidenten Kasimir Felix Graf Badeni (1846–1909) erlassenen Sprachenverordung,

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die die Einführung der zweisprachigen Amtsverwaltung in Böhmen und Mähren bewirken sollte und demnach von den zumeist deutschaprachigen Beamten die Beherschung der tschechischen Sprache verlangte. Diese Krise führte zur Absetzung Badenis | Rekatholisierung: erzwungene oder freiwillige erneute Bekehrung von Nichtkatholiken zum römisch-katholischen Glauben. In den Ländern der Böhmi- schen Krone fand sie seit der Schlacht am Weißen Berg statt und wurde vom Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation durchgesetzt. In einem aus - gedehnteren Kontext fällt die Rekatholisierung unter das Prinzip ‚cuius regio, eius religio‘, das sich in dieser Etappe der europäischen Geschichte begann heraus - zubilden und durch den Westfälischen Frieden definitiv bestätigt wurde | Schlacht am Weißen Berg: eine am 8. November 1620 bei Prag geschlagene Schlacht des Dreißigjährigen Krieges, in der die aufständischen protestantischen Stände Böh- mens der Kato lischen Liga unterlagen. In der Folge musste der protestantische König Friedrich V. von der Pfalz fliehen, und Kaiser Ferdinand II. konnte seinen Anspruch auf die Böhmische Krone geltet machen

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Grenzgänger. ‚Räuberhauptmann‘ Karraseck im böhmisch-sächsischen Grenzraum um 1800

Marco Iwanzeck

Grenzgänger. ‚Räuberhauptmann‘ Karraseck im böhmisch-sächsischen Grenzraum um 1800

I. ‚Edle‘ Räuber?

Am 14. September 1801 wurde von Juristen der Universität Wittenberg ein Urteils- spruch ausgestellt, der den Mitgliedern einer Räuberbande galt, der auch Johannes Karraseck angehörte:1

Der begangenen Verbrechen halber, und zwar die Zehen ersteren mit dem Rade, der letzte aber mit dem Schwerde vom Leben zum Tode zu richten und zu strafen, nicht weniger gedachter Karraseck, Kühnel, Köhler, Kessel, Klinger, Neumann, und Engelmann zur Feimstädte zu Schleifen, sowohl nach vollbrach- ter Execution eines ieden Körper, Andern zum Abscheu, auf ein besonderes Rad zu flechten.

Die überführten Räuber erwartete die Vollstreckung der Todesstrafe durch das Rad. Nur einer von ihnen sollte mit dem Schwert hingerichtet werden. Sowohl das Schleifen zur Richtstätte wie auch das Rädern* hatten „einen besonders schimpflichen Charakter“2 und verschärften die Strafe zusätzlich. Zuletzt aber wurde die angedrohte Hinrichtung doch von den Verteidigern der Gefangenen ver- hindert. Der sächsische Kurfürst begnadigte die zum Tode verurteilten – zu lebens- langer Festungshaft. Zwar lässt sich aus dem Urteil kein Anführer der Bande entnehmen, aber die Inhaf- tierten schrieben die Position des Räuberhauptmanns Johann Karraseck zu. An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert stand sein Name wie kein anderer für das Räuber - wesen an der sächsisch-böhmischen Grenze in der Oberlausitz. Gerade die Grenz - region bot für kriminelle Aktivitäten gute Voraussetzungen. Einerseits reichte die Macht der kursächsischen oder böhmischen Behörden nur bis zur Landesgrenze.

1 Sächs. HStA Dresden, 10025 Geheimes Konsilium, Loc. 6059, Acta, Die Aufsuch- Entdeck- und Bestrafung des Diebs- und Räuber- auch andern lüderlichen Gesindels in dem Marggrafthume Ober-Lausitz betrf. de Anno 1800–1803, Vol. VIII, fol. 362. 2 Richard van Dülmen: eater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der Frühen Neuzeit. München: Beck 2010, S. 107f.

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Es gab zwar eine gemeinsame grenzüberschreitende Strafverfolgung, sie wurde aber aufgrund fehlender Polizeistrukturen oft nicht wirksam. Andererseits begünstigten die damals nur schwer erreichbaren gebirgigen Gegenden die Entfaltung unerlaubter Tätigkeiten wie Schmuggel, Wilderei und Räuberwesen.3 In der Oberlausitz haftet Johann Karraseck noch heute der Ruf des ‚edlen‘ Räubers an. Trotz seiner kriminellen Taten wird er als „Volksheld und einheimischer Robin Hood verehrt.“4 Dass er den Reichen nahm, um es den Armen zu geben, gehört aber ins Reich der Legenden. Der Typus des ‚edlen‘ Räubers wird um das Jahr 1800 populär. Schillers Drama Die Räuber (1781) hatte zuvor alle Versatzstücke bereit - gestellt: die weiten böhmischen Wälder, in denen sich eine Räuberbande sam- melt, der edle Anführer, aber auch die Intrigen eines schurkischen, nur auf Geld bedachten Gegenspielers innerhalb der Bande. Der edle Karl Moor verzichtet schließlich auf seine Räuberkarriere und stellt sich den Behörden. Das Drama war ungemein erfolgreich und löste eine ganze Folge von Nachahmungsschriften, vor allem Räuberromane, aus. Besonders hohe Auflagen erreichte Christian August Vulpius (seit Goethes Ehe mit seiner Haushälterin Christiane Vulpius der Schwager des deutschen Dichterfürsten). Vulpius‘ Rinaldo Rinaldini. Der Räuber- hauptmann (1799) wird zum Bestseller der Zeit. Im Mythos vom ‚edlen‘ Räuber äußert sich das Verlangen der Armen und Benachteiligten nach einer Gerechtigkeit, die ihnen von der etablierten Staatsordnung nicht gewährt wird. Versatzstücke einer euro päischen Romantik kommen hinzu. So wird mit Walter Scotts Ivanhoe (1820) auch Robin Hood, das englische Gegenstück, importiert. Volkslieder widmen sich den populären Räubergestalten, deren Faszination noch weit ins 20. Jahrhundert hinein reicht.5 Im Geschichtsbild der DDR fügten sich diese Räuber als Kämpfer für die entrechtete untere Klasse passgenau ein. Aber auch die westliche Forschung würdigte den Räuber neu als Sozialrebell.6 In der Bundesrepublik verfilmte noch Helmut Käutner im Jahr 1958 die Geschichte vom Schinderhannes an Schauplätzen im Hunsrück.7 Johannes Bückler, genannt Schinderhannes, hatte um 1800 ebenfalls eine große Bande zusam-

3 Vgl. Adam Votruba: Banditentum in den Grenzgebieten zwischen Mähren, Schlesien, Ungarn und Galizien und seine kulturelle Tradierung. In: Transregionale Perspektiven. Kleinräumige Mobilität und Grenzwahrnehmung im 19. Jahrhundert. Hg. v. Katrin Lehnert/Lutz Vogel. Dresden: elem 2011, S. 133–148, hier S. 133. 4 Lars-Arne Dannenberg: Karl Stülpner und Johann Karasek. In: Sächsische Mythen. Menschen, Orte, Ereignisse. Hg. v. Matthias Donath/André ieme. Leipzig, Dresden: Sächsische Landeszentrale für politische Bildung 2011, S. 204–213. 5 So beispielsweise das Schinderhanneslied, vgl. Wolfgang Steinitz: Deutsche Volkslieder demokratischen Charak- ters aus sechs Jahrhunderten. Band 1. Berlin: Akademie-Verlag 1954, S. 108. 6 Vgl. Eric Hobsbawn: Die Banditen. Räuber als Sozialrebellen. München: Hanser 2007. 7Vgl.Der Schinderhannes.BRD1958.Der Film basiert auf dem eaterstück von Carl Zuckmayer aus dem Jahr 1927.

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mengebracht. Sein Ende musste freilich, wie das aller berühmter Räubergestalten, als warnendes Exempel dienen. Er wurde am 21. November 1803 hingerichtet. Der Ruhm der ‚großen Räuber‘ bleibt allerdings, der durch die verschiedenen Medien weiter überliefert wird. Dieses Räuberbild hat zwar wenig mit der historischen Realität gemeinsam, es bleibt jedoch bis heute populär. Dabei ist der Ruhm der einzelnen Akteure, welcher durch die Erzählungen gefördert wird, jeweils auf ein regionales Umfeld beschränkt. Für den Mythos ist die historische Wahrheit nicht entscheidend, sofern die Realität über- haupt rekonstruierbar ist.8 Auch die Inszenierung des Bautzener Sommertheaters im Jahr 2005 knüpfte an diese Legendenbildung an und betitelte Karraseck zwar als „Schrecken der Oberlausitz“,9 zeigte aber eher einen spitzbübischen und liebenswür- digen Räuber. Sogar das Karasekmuseum Seifhennersdorf orientiert sich stark an die- ser Fiktion und nutzt die Verfremdung der historischen Person für Werbezwecke. Die Figur des Räuberhauptmanns dient heute als Marketingstrategie für die Tourismus- branche, so bewirbt er den für Fahrradtouren eigens eingerichteten Karasek-Rundweg im Oberlausitzer Bergland.10 Ihre Popularität hat die Figur des Karraseck den Bewohnern der Oberlausitz zu ver- danken. Sein Ruf als ‚liebenswerter Räuber‘ wird nur dort gepflegt. Ein Erklärungs- muster ergibt sich daraus, dass die Region Oberlausitz und Böhmen zu Karrasecks Zeiten zu beiden Seiten der Grenze deutschsprachig war. Nur im Landesinneren Böhmens wurde tschechisch gesprochen und zwar von „untertänigen Bauern und einem Teil der niederen städtischen Schichten“.11 Mit Ende des Zweiten Weltkriegs und der Vertreibung der Deutschen aus Böhmen wurde die Staatsgrenze gleich- zeitig Sprachgrenze. So ist es nicht verwunderlich, dass die legendenhafte Über - höhung Karrasecks einerseits mit der deutschen Sprache einhergeht und anderseits vorrangig dort anzutreffen ist, nämlich in der Oberlausitz, wo der Wirkungskreis am Größten war. In der tschechischen Gesellschaft Böhmens wurden zwei andere Räuberhauptleute zu großen Volkshelden stilisiert. Als ‚edle‘ Räuber spielten dort Juray Jánošík und Ondráš Szebesta gleichzeitig die Rolle von identitätsstiftenden Kulturhelden und hin- terließen vor allem in Volksliedern ihre Spuren. Ihre Berühmtheit ging weit über die Staatsgrenze Böhmens hinaus, so dass den Jánošíkkult heute die Slowaken, Tschechen und Polen gemeinsam haben.12

8 Vgl. Hobsbawn, Die Banditen (wie Anm. 6), S. 22. 9 Vgl. Dannenberg, Karl Stülpner und Johann Karasek (wie Anm. 4), S. 212. 10 Der Karasek-Rundweg ist für Radwanderungen gedacht. 11 Jan Krěn: Die Konfliktgemeinschaft. Tschechen und Deutsche1780 –1918. München: Oldenbourg 1996, S. 42. 12 Vgl. Votruba, Banditentum in den Grenzgebieten (wie Anm. 3), S. 143f.

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II. Alltag und Kriminalität um 1800

In der Frühen Neuzeit, also dem Zeitraum vom 15. Jahrhundert bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, waren die sich eben erst herausbildenden Territorien noch keines- wegs so einschneidend wie im 20. Jahrhundert die nationalstaatlichen Grenzen. Eine Reihe von Faktoren verweist vielmehr auf eine Region, die sich grenzübergreifend vernetzte.13 Die gemeinsame Lebenswelt zeigte sich vor allem im Alltagsleben der Be- wohner. Durch die gemeinsame Sprache führte nicht nur der Handel zu vielfältigen Alltagskontakten, sondern auch das Erwerbsleben war vielfach grenzüberschreitend angelegt.14 Mit der zunehmenden Konzentration auf die Weberei in der Oberlausitz veränderten sich die wirtschaftlichen Strukturen auf beiden Seiten. Die Männer, die im grenznahen Raum ehemals als Wanderarbeiter in den böhmischen Glashütten ihr Auskommen fanden, gingen nunmehr als Weber der Heimarbeit nach.15 Die Leinen- weberei lag zum Teil in den Händen von böhmischen Einwanderern, die sich seit dem Dreißigjährigen Krieg in der Oberlausitz niedergelassen hatten und sich in der Nähe ihrer Heimat eine neue Existenz aufgebaut hatten. Als Konfessionsflüchtlinge entkamen sie den Rekatholisierungsmaßnahmen Kaiser Ferdinands II. in Böhmen.16 Und die Textilprodukte waren auch für die Räuber attraktiv, denn neben Geld waren es vor allem Stoffe und Garne, die bei den Einbrüchen geraubt wurden. So gestand das jüngste Mitglied der Karraseckschen Bande, der achtzehnjährige Ignaz Hegenbarth, „daß er vor 5 Wochen an einem Montage in Seifhennersdorf bey einen gewissen Schnei- der und Haus- oder Gartenbesitzer Nahmens Scholze 2 Schock weiß Gharn stehlen“ geholfen hatte.17 Garn war vor allem als Hehlerware* besonders beliebt. Die Oberlausitz produzierte nur etwa ein Siebtel des benötigten Bedarfs selbst und war somit auf Im- porte angewiesen.18 Daher ließ sich gestohlenes Garn besonders gut verkaufen.

13 Vgl. Wulf Wäntig: Alltag, Religion und Raumwahrnehmung – der böhmisch-sächsische Grenzraum in den Mi- grationen des 17. Jahrhunderts. In: Grenzraum und Transfer. Perspektiven der Geschichtswissenschaft in Sachsen und Tschechien. Hg. v. Miloš Řezník. Berlin: Duncker & Humblot 2007, S. 69–81, hier S. 73. Vgl. zum Konzept des transnationalen Raums Katrin Lehnert: Räume und ihre Grenzen. Eine transregionale Perspektive auf den mobilen Alltag des 19. Jahrhunderts. In: Transregionale Perspektiven (wie Anm. 3), S. 117–132, hier S. 119. 14 Vgl. Wäntig, Alltag, Religion und Raumwahrnehmung (wie Anm. 13), S. 73. 15 Vgl. Alexander Schunka: Die Oberlausitz zwischen Prager Frieden und Wiener Kongreß (1635–1815). In: Ge- schichte der Oberlausitz. Herrschaft, Gesellschaft und Kultur vom Mittelalter bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Joachim Bahlcke. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2001, S. 143–179, hier S. 147. 16 Vgl. ebd., S. 148. 17 StFilA Bautzen, 50420, Gerichtliche UntersuchungsActa wider Johann Gottlieb Kühnels, Carl August Wessel, Gottlieb Neumann, Anton Klinger, Johann Gottlob Keller, Johann Karrasek und Complicen, Nr. 408, fol. 67. 18 Vgl. Danny Weber: Leinwand für die Welt. Ein Beitrag zur Zittauer Handels- und Wirtschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts. In: Böhmen – Oberlausitz – Tschechien. Aspekte einer Nachbarschaft. Hg. v. Lars-Arne Dannenberg/Matthias Herrmann/Arnold Klaffenböck. Görlitz, Zittau: Oettel 2006, S. 143–154, hier S. 146.

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Die Kriminalität stellte somit einen Teil der Alltagserfahrungen der Menschen dar, und der entstandene Schaden war auch nicht gering. Umso mehr erstaunt es, dass die Oberlausitzer noch heute einen böhmischen Räuberhauptmann verklären. Wer also war der Mann, der sich in das kollektive Gedächtnis der Oberlausitzer ein - geprägt hat? Johann Karraseck wurde am 10. September 1764 in Smichov bei Prag geboren. Bei seinem Vater hatte er das Tischlerhandwerk erlernt, ging aber im Anschluss noch zu einem Metzger in die Lehre. Es folgten sechs Jahre Wander- schaft als Geselle durch Böhmen und Mähren.19 Hier begann sein unstetes Leben, das zunächst aber noch mit längeren Ortsaufenthalten verbunden war. Doch schon in dieser Lebensphase geriet Karraseck mit dem Gesetz in Konflikt, wurde im böhmischen Leitmeritz (Litoměřice) des Diebstahls beschuldigt und zu einer vier- jährigen Strafarbeit verurteilt.20 Das Dilemma für die wandernde Bevölkerung bestand in der erhöhten Gefahr, dass an ihnen ein Exempel statuiert, also ein ab- schreckendes Beispiel gegeben wurde, da allein ihre unstete Lebensweise den Arg- wohn der Obrigkeit erregte.21 Das vergleichsweise harte Strafmaß für Karraseck sanktionierte zugleich dessen unerwünschte Lebensführung. Für die so Verurteilten war die Folge nicht selten die gesellschaftliche Ächtung. Nach einer derartigen Haft- strafe war es auch für Karraseck nicht einfach, wieder in den Handwerksberuf zurückzukehren.22 Die Räuberbanden setzten sich meist aus diesen mobilen Randgruppen der Agrar gesellschaft* zusammen. Wo die Nachfrage an Arbeitskräften gering oder der Boden schwierig zu bewirtschaften war, da bot sich ein günstiges Umfeld zur Banden bildung.23 Manche Menschen versuchten, der Armut mit erhöhter Mobi lität* zu begegnen und im städtischen Milieu oder in der Fremde eine Ar- beit zu finden. Der Schritt zur Nichtsesshaftigkeit war für Wanderarbeiter dann oft nur klein, und man gehörte schnell zu den Vaganten*, Landstreichern oder Räubern.24 Armut betraf vor allem die Weber in der Oberlausitz, ihr Handwerk war konjunk- turanfällig*, die Arbeits- und Absatzmöglichkeiten waren instabil. Für die vielen

19 Vgl. Max Zesch: Der Prozess gegen den Räuberhauptmann Joh. Karraseck und seine Genossen (1801–1804). Ein Stück Lausitzer Kulturgeschichte. Großschönau i. S.: Hermann Engelhardt 1905, S. 16. 20 Vgl. ebd., S. 16. 21 Vgl. Wolfgang Seidenspinner: Bettler, Landstreicher und Räuber. Das 18. Jahrhundert und die Bandenkrimina- lität. In: Schurke oder Held? Historische Räuber und Räuberbanden. Hg. v. Harald Siebenmorgen. Sigmaringen: Jan orbecke Verlag 1995, S. 27–38, hier S. 31. 22 Vgl. Annette Kura/Volker Ruhland/Roland Unger: Sachsens Mordbrenner, Räuber, Pascher und Wildschützen im Erzgebirge und in der Oberlausitz. Berlin: Altis-Verlag 1993, S. 106. 23 Vgl. Hobsbawn, Die Banditen (wie Anm. 6), S. 47. 24 Vgl. Seidenspinner, Bettler, Landstreicher und Räuber (wie Anm. 21), S. 27–38, hier S. 28.

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Weber gab es in Krisenzeiten kaum andere Arbeitsmöglichkeiten.25 Auch auf der böhmischen Seite der Grenze musste das bescheidene Einkommen aus der haupt- sächlich betriebenen Land- und Forstwirtschaft durch Nebenerwerbstätigkeiten, wie die Weberei, ergänzt werden. Durch die rasche Entwicklung der Textilindustrie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als das Verlagswesen* der industriellen Produktion wich, verstärkten sich die Auswirkungen der konjunkturellen Schwan- kungen weiter.26

III. Wie wird man Räuber?

Doch diese Widrigkeiten führten nicht zwangsläufig dazu, sich einer Räuberbande anzuschließen. Was motivierte den Einzelnen aber dazu, dies zu tun, wo doch be- kannt war, dass Räuberei mit schwerer Haft, ja sogar mit dem Tod bestraft wurde? Vielmals spielten sozioökonomische* Gegebenheiten, wie private Not oder soziales Elend, eine wichtige Rolle und milderten die abschreckende Wirkung der Strafe ab. Darüber hinaus erweist sich die Welt der Räuberbanden durchaus als alternative Gesellschaftsform, die zwar nicht konträr zur Herrschaftsordnung stand, aber dennoch eine Kritik an der bestehenden Sozialstruktur verkörperte,27 denn in den Zusammenschlüssen fanden sich Mitglieder unterschiedlichster Herkunft und Hintergründe. So verhielt es sich auch mit den Personen, die sich um Karraseck scharten. Sie kamen zu einem Teil aus der näheren Umgebung der ca. 15 km von Zittau entfernten Ortschaft Leutersdorf. Zum anderen Teil kamen sie aus Böhmen. Manche hatten einen Handwerksberuf erlernt, andere waren vormals Soldaten gewesen. Es gehörten demnach Menschen, die zum Teil oder vollständig in die Gesellschaft integriert waren, diesen Vereinigungen an, so dass die Bande sowohl nicht-sesshafte wie auch sesshafte Sachsen und Böhmen vereinte. Dies verdeutlicht wiederum, dass die Grenze für die Menschen eine pragmatisch-lebensweltliche Dimension besaß, anders als es politisch von der Obrigkeit gedacht war. Die Ban- diten organisierten sich herkunfts- und grenzübergreifend.28

25 Vgl. Elke Schlenkrich: Armenversorgung im ländlichen Raum Sachsens im 18. und 19. Jahrhundert. In: Armut auf dem Lande. Mitteleuropa vom Spätmittelalter bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Hg. v. Gerhard Ammerer/ Elke Schlenkrich/Sabine Veits-Falk. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2010, S. 143–157, hier S. 146. 26 Vgl. Petr Lozoviuk: Grenzland als Zwischenwelt. Zur Ethnographie der sächsisch-böhmischen Grenze. In: Grenz- raum und Transfer (wie Anm. 13), S. 119–137, hier S. 127. 27 Vgl. Harald Lemke: Zum Kynismus der Kritik. Deutsches Banditentum im 18. Jahrhunderts (Hommage à Michel Foucault). In: Michel Foucault. In Konstellationen. Hg. v. Harald Lemke. Maastricht: Jan van Eyck Akademie 1995, S. 153–189, hier S. 153. 28 Vgl. ebd., S. 171.

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Gerade jene Menschen, die am Rande der Gesellschaft standen, bildeten eine wich- tige Rekrutierungsquelle*, und unter diesen Außenseitern spielten Deserteure* eine wichtige Rolle.29 Da sie ihre militärische Pflicht schwer verletzt und die Armee un- erlaubt verlassen hatten, waren sie der Verfolgung der Militärbehörden ausgesetzt. In den Lebensläufen von Kriminellen des 18. Jahrhunderts finden sich daher häufig militärische Dienstzeiten.30 Die dringlichste Sorge der Deserteure nach der Flucht war das materielle Überleben. Dies bedeutete in erster Hinsicht, über die Landes- grenze zu gelangen, um sich so dem Zugriff der Verfolger zu entziehen.31 Die Angst, dass Deserteure an das Fluchtland ausgeliefert würden, blieb allerdings zeitlebens. Es kam auch vor, dass die einheimische Bevölkerung den Deserteuren Unterschlupf gewährte, sei es aus Sympathie, als Widerstand gegen die Obrigkeit, oder weil der Deserteur ein Bekannter oder Verwandter war.32 Auch Karraseck diente vor seiner Verhaftung, wenngleich unfreiwillig, in der Armee. Er behauptete beim Verhör, dass er sich nur aufgrund einer Verwechslung dem österreichischen Militär anschlie- ßen musste. Sein Regiment war in Theresienstadt (Terezín) in der Nähe von Leit- meritz stationiert, von wo er aber desertierte und sich in Steinigwolmsdorf in Sach- sen niederließ. Hier lebte er ein Jahr bis zur Abschiebung nach Böhmen und verdiente seinen Lebensunterhalt als Hausierer, also als ein Händler, der seine Waren von Haus zu Haus anbot. Das Hausierwesen war eine Haupterwerbsquelle für Menschen ohne festen Wohnsitz. Als alltägliche Erscheinung stellte es für die Behörden jedoch eine Form zwischen Arbeit und Bettelei dar.33 Karraseck heiratete zu dieser Zeit eine Frau, die aus dem böhmischen Fuga stammte, aber bereits nach kurzer Ehezeit verstarb. Damit endete ein erster Versuch, in der Oberlausitz sesshaft zu werden, auch weil sich Karraseck aufgrund der Hausiertätigkeit nicht um das gemeinsame Kind kümmern konnte. In Magdalena Kreibig, der Tochter des Schankwirts aus Niederleutersdorf, fand er eine Frau, die sich des Kindes annahm und die er später heiratete. Der Klärung der Kin- dersorge kam deshalb entscheidende Bedeutung zu, weil Karraseck sich gegenüber einer sächsischen Landesvisitation, also der Kontrolle durch Stellvertreter des Lan- desherrn, nicht ausweisen konnte und von den sächsischen Behörden wieder nach

29 Vgl. Hobsbawn, Die Banditen (wie Anm. 6), S. 49f. 30 Vgl. Katrin Lange: Gesellschaft und Kriminalität. Räuberbanden im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Frankfurt a. Main/Berlin/Bern: Lang 1994, S. 62f. 31 Vgl. Michael Sikora: Disziplin und Desertion. Strukturprobleme militärischer Organisation im 18. Jahrhundert. Berlin: Duncker & Humblot 1996, S. 151. 32 Vgl. ebd., S. 156; vgl. auch ders.: Das 18. Jahrhundert. Die Zeit der Deserteure. In: Armeen und ihre Deserteure: vernachlässigte Kapitel einer Militärgeschichte der Neuzeit. Hg. v. Ulrich Bröckling/Michael Sikora. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998, S. 86–110. 33 Vgl. Lehnert, Räume und ihre Grenzen (wie Anm. 13), S. 121.

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Böhmen abgeschoben wurde.34 Jeder, der Herkunft, Tätigkeit oder Anwesenheitsrecht nicht ausweisen konnte, wurde als Verdächtiger behandelt.35 Das Hausieren ermöglichte zugleich, lohnende Objekte auszuspähen. So antwortete der geständige Ignaz Hegenbarth auf die Frage der Verhörbeamten:36

Wer zu diesem Einbruche den ersten Anschlag gemacht? Die Karraseckin [Magdalena Kreibig, Anm. d. V.] und des vorigen Rumburger Stockmeisters Schwester, die sich zu Köhlern halte, diese wären in Herwigsdorf hausiren ge- gangen und hätten die Gelegenheit ausgekundschaftet. Karraseck und Köhler hätten dies gesagt. Inhaftat wiße aber nicht, womit jene Weibspersonen hausiren gegangen.

Den beiden Frauen wurde vorgeworfen, dass sie ihre mobile Handelstätigkeit nutz- ten, um die Einbrüche der Räuber vorzubereiten. Nach seiner Abschiebung aus Sachsen wurde Karraseck dem österreichischen Militär zugeführt und wieder in sein Leitmeritzer Regiment eingegliedert. Er desertierte jedoch erneut und suchte abermals Schutz in der Oberlausitz. Allerdings konnte er sich auch hier nicht mehr sicher fühlen, da er den Behörden nun bereits bekannt war. Darum zog es ihn diesmal ins unmittelbare Grenzgebiet, um im Bedarfsfall schnell über die Grenze flüchten zu können. Damit begann ein ständiger Wechsel zwischen dem Versuch, sesshaft zu werden und dem fortlaufenden Wechsel der Wohnorte.37 Auch das jüngste Mitglied der Räuberbande, der achtzehnjährige Ignaz Hegenbarth, war ein gesuchter Deserteur. Ähnlich wie Karraseck flüchtete er über die sächsische Landesgrenze in die Oberlausitz.38 Hegenbarths Aussagen spielten bei den späteren Verhören der Bandenmitglieder eine wesentliche Rolle. Er war der Erste, der die Be- teiligung an mehreren Raubüberfällen zugab, während die anderen Beteiligten alles leugneten. Die verhörenden Richter nutzten Hegenbarths Unerfahrenheit in einer solchen Vernehmungssituation, um mit seinen Aussagen die anderen Bandenmitglie- der unter Druck setzen.

34 Vgl. Kura, Sachsens Mordbrenner (wie Anm. 22), S. 107. 35 Vgl. Lemke, Zum Kynismus der Kritik (wie Anm. 27), S. 163. 36 StFilA Bautzen, 50420 (wie Anm. 17), fol. 89f. 37 Vgl. Christina Gerstenmayer/Alexander Kästner: Abseits der rechten Wege. Lebenserzählungen des „Räuber- hauptmanns“ Johann Karraseck. In: Menschen unterwegs. Die via regia und ihre Akteure. Essayband zur 3. Säch- sischen Landesausstellung (via regia – 800 Jahre Bewegung und Begegnung). Hg. v. Winfried Müller/Swen Stein- berg. Dresden: Sandstein Verlag 2011, S. 177–185, hier, S. 180f. 38 Vgl. StFilA Bautzen, 50420 (wie Anm. 17), fol. 67.

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Grenzgänger. ‚Räuberhauptmann‘ Karraseck im böhmisch-sächsischen Grenzraum um 1800

IV. Die Oberlausitz zwischen Sachsen und Böhmen

Der Wirkungsbereich der Bande, die seit 1797 für mehre Raubüberfälle verantwortlich war, begrenzte sich zum großen Teil auf die südliche Oberlausitz und Nordböhmen. So gab es beispielsweise Überfälle in Spitzkunnersdorf, Herwigsdorf, Hainewalde auf sächsischer und in Warnsdorf (Varnsdorf) und Schönlinde (Krásná Lípa) auf böhmi- scher Seite. Wenngleich auch in weiterer Entfernung auf Raubzug gegangen wurde, so blieb das eher die Ausnahme. Eine Schenke im böhmischen Niederleutersdorf bil- dete den Treffpunkt der Bandenmitglieder. Der Vater von Magdalena Kreibig, die sich Karrasecks Kind annahm und ihn später heiratete, war der Wirt des Gasthauses. Niederleutersdorf war eine böhmische Enklave* in Sachsen. Das heißt, die Gemeinde Niederleutersdorf gehörte zur böhmischen Herrschaft Rumburg, war aber von sächsi- schem Gebiet umschlossen. Diese territoriale Besonderheit in der Oberlausitz bot der Räuberbande eine günstige Gelegenheit, nach einem Raub gegebenenfalls in das jeweils andere Gebiet zu flüchten. Johann Karraseck nutzte die Grenzlinie zwischen Böhmen und Sachsen, um sich der Strafverfolgung zu entziehen, die schnellen Landeswechsel er- schwerten dabei die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden. Die Räuber bewegten sich da - bei aber in erster Linie zwischen Dörfern und Städten in unmittelbarer Nachbarschaft.39

Leutersdorf-Spitzkunnersdorf. Ansicht von Hainewalde mit der Spitzkunnersdorfer Windmühle im Hintergrund

39 Zur kleinräumigen Mobilität und Grenzwahrnehmung der Menschen in der Oberlausitz vgl. Katrin Lehnert/Lutz Vogel: Kleinräumige Mobilität und Grenzwahrnehmung im 19. Jahrhundert. In: Transregionale Perspektiven (wie Anm. 3), S. 9–22.

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Grenzgänger. ‚Räuberhauptmann‘ Karraseck im böhmisch-sächsischen Grenzraum um 1800

Die Beseitigung der Enklaven vollzog sich im Jahr 1809, dem Todesjahr von Karraseck, als Sachsen als Mitglied des Rheinbundes* an der Seite Frankreichs in den Krieg gegen Österreich zog. Die napoleonischen Truppen siegten und Österreich musste dem Wiener Frieden von 1809 zustimmen, mit dem die sächsische Landesgrenze abge - rundet wurde. Die kleinen böhmischen Enklaven innerhalb der Oberlausitz wurden Sachsen zugeschlagen. Dies betraf Schirgiswalde und Niederleutersdorf.40 Sie verwal- teten sich bis zum Jahr 1845, als eine abschließende Regelung zwischen Österreich und Sachsen getroffen wurde, selbstständig. Die letzten gezielten Raubzüge im Jahr 1800 führten auf beide Seiten der Grenze quer durch die Oberlausitz und bis ins böhmische Territorium hinein. So überfiel die Bande im böhmischen Warnsdorf den Hausbesitzer Klaus, in den Akten auch Koch- hänsel genannt, der bei diesem Überfall ums Leben kam. In den Verhören wurde die Tat Karraseck zugeschrieben, der sie allerdings beharrlich leugnete.41 Letztlich lässt sich nicht klären, wer den Mann getötet hat, doch steht diese Brutalität in krassem Gegensatz zum idealisierten Karraseck-Bild vom ‚edlen‘ Räuber. Die lokalen Ereignisse auf beiden Seiten der Grenze wurden zudem von politi- schen wie wirtschaftlichen Ereignissen der Zeit verschieden beeinflusst. Dies führte in Sachsen wie in Böhmen zu unterschiedlichen Entwicklungen. Böhmen war als Kronland an die Habsburgermonarchie* angeschlossen, in der Kaiser Franz II. seit 1792 auch als böhmischer König herrschte. In Sachsen regierte seit dem Jahr 1763 Kurfürst Friedrich August III. Bis zu seiner Volljährigkeit im Jahr 1768 übernahm das Regierungsamt sein Onkel Prinz Xaver. Friedrich Augusts dringlichstes Ziel war der staatliche und wirtschaftliche Wiederaufbau des Landes nach dem Siebenjährigen Krieg* (1756–1763), in dem Sachsen viel gelitten und verloren hatte.42 Einen großen politischen Wandel auf Reichsebene brachten die Umwälzungen im Zuge der Napoleonischen Kriege in Europa. Vor allem spielte die Errichtung des Rheinbunds im Jahr 1806, was zu einer Umgestaltung der politischen Land- karte in Deutschland führte, eine wichtige Rolle.43 Infolge dieser Entwicklun- gen legte Kaiser Franz II. die Reichskrone nieder. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation hörte auf zu existieren. Durch die engere Anbindung an Frank- reich trübten sich die vormals guten Beziehungen Sachsens zu Österreich, nicht zu- letzt weil die Habsburger die traditionelle Lehenshoheit in der Oberlausitz ver -

40 Vgl. Schunka, Die Oberlausitz (wie Anm. 15), S. 169f. 41 Vgl. StFilA Bautzen (wie Anm. 17), 50420, fol. 63. 42 Vgl. Katrin Keller: Landesgeschichte Sachsen. Stuttgart: Ulmer 2002, S. 157f. 43 Vgl. Etienne François: Das napoleonische Hegemonialsystem auf dem Kontinent. In: Das Jahr 1806 im euro- päischen Kontext. Balance, Hegemonie und politische Kulturen. Hg. v. Andreas Klinger/Hans-Werner Hahn/ Georg Schmidt. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2008, S. 73–83, hier S. 75.

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Grenzgänger. ‚Räuberhauptmann‘ Karraseck im böhmisch-sächsischen Grenzraum um 1800

loren.44 Die Umwandlung Österreichs in ein selbstständiges Kaisertum löste es zuneh- mend vom Rest der deutschen Länder ab. Auch die Oberlausitz war von diesem reichs- politischen Akt betroffen und wurde so noch stärker an Sachsen gebunden. Eines der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale zwischen Sachsen und Böhmen be- stand darüber hinaus in der Konfession* und den von der Kirche geprägten kulturellen Normen. Der überwiegend evangelischen Bevölkerung in der Oberlausitz stand der katholische Glauben in Böhmen gegenüber, obgleich der Katholizismus in Böhmen nicht immer von innerer Überzeugung im Glauben getragen war. Die Gegenreforma- tion* des 17. und 18. Jahrhunderts hatte die politische, geistig-kulturelle wie auch kon- fessionelle Verfassung der Gesellschaft von Grund auf verändert. Es bildete sich dabei eine Form des katholischen Glaubens aus, der „eher äußerlichen und lauen Charakter hatte.“45 Die Oberlausitz besaß eine heterogene Konfessionslandschaft. Einer Mehrheit von Protestanten stand eine katholische Minderheit gegenüber, beide koexistierten re- lativ friedlich miteinander. Das religiöse Klima war von einem größeren konfessionellen Spielraum geprägt als im streng lutherischen Teil Sachsens.46 Ob Karraseck ein gläubiger Mensch war, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Zu- mindest ging er regelmäßig in den katholischen Gottesdienst im böhmischen Rum burg.47 Seine Hochzeit mit Magdalena Kreibig am 27. September 1795 fand in der katholischen Hofkirche zu Dresden statt. Die Gründe, sich nicht in der Oberlausitz trauen zu lassen, bestanden wesentlich in den damit verbundenen Kosten. Für die Trauung in der Hof- kirche mussten sie nichts bezahlen.48 Für die Aufnahme in die Bande scheint die Kon- fession kein Kriterium gewesen zu sein. Man behandelte konfessionelle Unterschiede in der Alltagssituation recht pragmatisch, da sich die Menschen häufig sozioökonomi- schen Zwängen ausgesetzt sahen, und die Konfession in den Hintergrund rückte.

V. Paschen und Wildern. Die Grenzregion als Problemgebiet für die staatliche Autorität

Die alltägliche Mobilität im Grenzgebiet war hoch, und die staatliche Grenze selbst, wie auch ihre Überschreitung, barg durchaus erhebliches Konfliktpotential.49 Auf der sächsischen wie auch auf der böhmischen Seite lag die Kontrolle der Grenze in der

44 Vgl. Winfried Müller: Die Oberlausitz in der Frühen Neuzeit (1526–1815). In: Oberlausitz. Kulturlandschaften Sachsens. Hg. v. Winfried Müller/Lars-Arne Dannenberg/Edmund Pech/Swen Steinberg. Bd. 4. Dresden/ Leipzig: Edition Leipzig 2011, S. 57–96; vgl. auch Keller, Landesgeschichte Sachsen (wie Anm. 42), S. 160. 45 Krěn, Die Konfliktgemeinschaft (wie Anm. 11), S. 38. 46 Vgl. Schunka, Die Oberlausitz (wie Anm. 15), S. 153f. 47 Vgl. Kura, Sachsens Mordbrenner (wie Anm. 22), S. 117. 48 Vgl. Gerstenmayer/Kästner, Abseits der rechten Wege (wie Anm. 37), S. 180. 49 Vgl. Lehnert, Räume und ihre Grenzen (wie Anm. 13), S. 122.

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Verantwortung des jeweiligen Finanzministeriums. Das Ziel bestand darin, die wirt- schaftlichen Interessen des jeweiligen Landes zu verteidigen und den Warenschmuggel und Schleichhandel zu unterbinden.50 Vor allem der Warenschmuggel blühte über die Landesgrenzen hinweg. Die Obrigkeit stand dem sogenannten Pascherwesen aber relativ hilflos gegenüber. Die lange, un- wegsame Zollgrenze war nur schwer kontrollierbar, da sie gerade in der Oberlausitz durch Wälder und Gebirge führte. Dies scheint auch einer der Hauptgründe zu sein, warum Karraseck und seine Komplizen länger anhaltenden Erfolg hatte. Darüber hinaus lebten viele Menschen in dieser Armutsregion am Rande der Kriminalität, indem sie beispielsweise wilderten, woraus ein diffuses Umfeld der Unterstützung er- wuchs. Auf Schleichwegen gelang es den Schmugglern zu jener Zeit, den Zollkon- trollen auszuweichen.51 Dieser „heimliche Schmuggel“52 war wohl die klassische Art des Schmuggels, bei dem die Zollstationen, meist in der Nacht, umgangen wurden. Aber nicht nur die Pascherei, sondern auch Einbruch und Diebstahl stellten die wirt- schaftliche, soziale und politische Ordnung in Frage. Der Landesherr verteidigte sein gesetztes Recht und seine Ressourcen gegen die Banden, die sich auch gewalttätig außerhalb seiner Autorität bewegten.53 Die mobile Lebensweise der Räuber zwang die obrigkeitlichen Behörden zum Handeln, auch um der Bevölkerung die Angst vor Überfällen zu nehmen. Die kursächsische Strafverfolgung richtete sich mit mehreren Mandaten und Verordnungen gegen das Räuberwesen.54

VI. Auf frischer Tat ertappt

Hatte es die Bande um Johann Karraseck lange Zeit vermieden, in der unmittelbaren Umgebung der Enklave Niederleutersdorf zu rauben, war die zu erwartende Beute im Haus des Rittergutsbesitzers und Amtsrichters Glathe in Leutersdorf zu ver - lockend. Der Einbruch in der Nacht vom 31. Juli auf den 1. August 1800 verlief für die Bande zunächst wie geplant und brachte reiche Beute, doch ein schnelles Rea - gieren der alarmierten Bevölkerung konnte die Flucht der Räuber nach Böhmen ver- hindern, indem bewaffnete Bauern sie gefangen nahmen.55

50 Vgl. ebd., S. 122. 51 Vgl. ebd. S., 121f. 52 Roland Girtler nennt neben dem heimlichen Schmuggel noch den offenen und den versteckten Schmuggel. Vgl. Roland Girtler: Schmuggler. Von Grenzen und ihren Überwindern. Linz: Veritas 1992, S. 176–183. 53 Vgl. Hobsbawn, Die Banditen (wie Anm. 6), S. 19. 54 Vgl. Gerstenmayer/Kästner, Abseits der rechten Wege (wie Anm. 37), S. 178. 55 Vgl. ebd., S. 184.

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Die Räuberbande um Johann Karrasek [Stich, ca. 1802]

Auf den ersten Blick schien es für die gesuchten Räuber relativ leicht gewesen zu sein, über die Grenze nach Böhmen zu fliehen. Tatsächlich gab es aber wohl keinen Räuber, der sich durch ständiges Überschreiten der Grenzen seiner Bestrafung erfolgreich entzogen hätte.56 Am 6. August 1800 wurde Karraseck in sächsischen Seifhennersdorf im Hause des Schneiders Lehnert festgenommen. Nach Bautzen überstellt, wurden ihm über 20 Tatbestände wie Diebstahl, Einbruch und Raub- überfall vorgeworfen.57 In Bautzen begann der Prozess gegen die gefangenen Räuber. Der Verhörprozess lieferte die Beschuldigten dem Untersuchungsbeamten in dem Maße aus, dass sich die Gefangenen nicht verteidigen konnten. Die Verteidigung konnte erst dann rea- gieren, als die Verhöre des Richters bereits abgeschlossen waren. Zudem fand die Befragung unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.58 Besonderes Interesse hatten die Vernehmungsbeamten daran, zu erfahren, an welchen Orten sich Karraseck vor dem Überfall auf den Gutsbesitzer Glathe aufgehalten hatte, um so ungeklärte Ein-

56 Vgl. Votruba, Banditentum in den Grenzgebieten (wie Anm. 3), S. 133. 57 Vgl. Gerstenmayer/Kästner, Abseits der rechten Wege (wie Anm. 37), S. 179. 58 Vgl. Lange, Gesellschaft und Kriminalität (wie Anm. 30), S. 75.

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brüche vielleicht rekonstruieren zu können. Im Verhör behauptete Karraseck, dass er vor dem Einbruch beim Leutersdorfer Rittergutsbesitzer sich neun Wochen in Böhmen aufgehalten habe. Unter an derem gab er an, dass er mit dem ebenfalls angeklagten Jakob Köhler im böhmischen Friedland (Frýdlant) gewesen sei.59 Nach- dem er sich dort der Gefahr ausgesetzt sah, als Deserteur erkannt zu werden, waren sie in Richtung Schlesien gewandert.60 Karraseck taktierte beim Verhör immer wieder, indem er Gegenstände wie Tat- werkzeuge oder Beutestücke, die ihm zugewiesen wurden, entweder nicht erkannte oder sie irgendwo in Böhmen erworben haben wollte. Dies erschwerte die Er - mittlungen der sächsischen Behörden, da eine Überprüfung der Aussagen eine Zu sammenarbeit mit den böhmischen Behörden voraussetzte. Die Argumentation von Karraseck zielte darauf ab, dass ihm aufgrund seines Aufenthaltes in Böhmen die Planung des Überfalls nicht zur Last gelegt werden konnte, und er allenfalls als Helfer gedient hatte. Als Kopf einer Räuberbande drohte ihm im Falle der Über- führung eine höhere Strafe.61 Für die sächsisch-böhmische Grenzregion spielte der weitere Fortgang des Prozesses keine Rolle mehr. Nachdem die Beweisaufnahme beendet war, erfolgte im Septem- ber 1801 der Richterspruch. Alle gefangenen Mitglieder der Bande wurden zum Tode verurteilt. Zur Abschreckung der Bevölkerung sollten die Delinquenten* auf das Rad geflochten werden. Die darauffolgende Berufung durch die Verteidiger der Verurteilten war insoweit erfolgreich, dass die Räuber ‚nur‘ noch durch den Strang zu Tode kommen sollten, und Hegenbarths Strafe in eine achtjährige Zuchthaus- strafe um gewandelt wurde. Als letztes juristisches Mittel wurde ein Gnadengesuch an den sächsischen Kurfürsten gerichtet. Friedrich August III. wandelte die Todes- strafe für alle gefangenen Mitglieder der Räuberbande in lebenslange Haft um. Die Gründe für den Gnadenakt sind nicht näher bekannt. Karraseck wurde am 4. September 1803 nach Dresden überführt, um als Baugefangener am dortigen Festungsbau zu arbeiten. Am 14. September 1809 starb Karraseck in Dresden an den Folgen der Haft. Seinen Körper brachte man in das anatomische Theater des Dresdner ‚Collegium medico chirurgium‘, um ihn für wissenschaftliche Zwecke zu nutzen.62 Der Mythos des ‚edlen‘ Räubers aber lebt wider besseres Wissen in der Oberlausitz fort.

59 Vgl. StFilA Bautzen, 50420 (wie Anm. 17), fol. 49. 60 Vgl. ebd., fol. 59. 61 Vgl. Gerstenmayer/Kästner, Abseits der rechten Wege (wie Anm. 37), S. 181. 62 Vgl. Gerstenmayer/Kästner, Abseits der rechten Wege (wie Anm. 37), S. 184. Zum Collegium medico chirurgium, vgl. Alexander Kästner/Claudia Pawlowitsch: Verbittert, verängstigt, verzweifelt. Die Dresdner Anatomie im Gefüge des frühneuzeitlichen Strafvollzugs. In: Dresdner Hefte, 2011, H. 107, S. 79–87.

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Grenzgänger. ‚Räuberhauptmann‘ Karraseck im böhmisch-sächsischen Grenzraum um 1800

Glossar

Rädern: Hinrichtungsform im Mittelalter und der Frühen Neuzeit. Dem Ver urteilten wurden mit dem Richtrad die Arme und Beine gebrochen und der Körper dann zur Ab- schreckung auf das Rad geflochten und öffentlich ausgestellt | Hehler,Hehlerei: Strafbarer Verkauf von Diebesgut | Agrargesellschaft: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts die vorherr- schende Gesellschaftsform im böhmisch-sächsischen Grenzraum, in der der überwiegende Teil der Bevölkerung in der Landwirtschaft arbeitete | Mobilität: Bedeutet soviel wie Beweglichkeit bzw. nicht an einen festen Standort gebunden. Verbunden mit der Unter- scheidung zwischen räumlicher oder beruflicher Mobilität ist die allgemeine Bereitschaft zum Ortswechsel | Vagant: auch Vagabund, umherziehender Mensch, der keinen festen Wohnsitz hat | Konjunktur: Gesamtwirtschaftliche Lage und ihre Schwankungen inner- halb des Wirtschaftskreislaufs | Verlagswesen: Produktion von Gütern in Heimarbeit. Der Verleger stellt Geld, Rohstoffe oder Geräte zur Verfügung und erhielt dafür die herge- stellten Produkte zum niedrigen Preis | Sozioökonomisch: Wirtschaftliche Aktivitäten und ihr Verhältnis zu gesellschaftlichen Prozessen | Rekrutierungsquelle: Im militärischen Be- reich das Anwerben von Soldaten oder im zivilen Rahmen die Zusammenführung einer Gruppe | Desertion: Eine militärische Straftat, wenn der Soldat sich unerlaubt von seiner Truppe entfernte. Der Deserteur galt als Verräter und wurde hart bestraft | Enklave: Ein Staatsgebiet, das innerhalb eines anderen Staates liegt und von diesem vollständig um- schlossen ist | Rheinbund: Ein Staatenbund deutscher Fürstentümer (unter anderen Sach- sen), der unter der Vormachtsstellung Napoleons 1806 gegründet wurde | Habsburger- monarchie: Herrschaftsgebiet der Dynastie Habsburg, die seit 1438 fast ununterbrochen als deutsche Könige und römisch-deutsche Kaiser fungierten. Im Jahr 1804 wurde ein österreichisches Kaisertum proklamiert. Zum Herrschaftsverband gehörten auch Ungarn, Mähren und Böhmen | Siebenjähriger Krieg: 1756–1763 Krieg der europäischen Groß- mächte Preußen und England einerseits und Frankreich, Russland und Österreich an- dererseits. Sachsen, seit 1756 von Preußen besetzt, war einer der Hauptschauplätze des Krieges | Gegenreformation: Mit der Gegenreformation reagierte die katholische Kirche seit Mitte des 16. Jahrhunderts auf die von Martin Luther ausgehende Reformation. Einerseits beschränkte sie sich auf die geistige theolo gische Auseinandersetzung, ander- seits gab es auch gewaltsame Konflikte | Delinquent: Gesetzesbrecher, Straftäter | Lehens- hoheit: Der Grundbesitz eines Fürsten, der an einen Untergebenen verliehen wurde. Der Lehnsherr, welcher der rechtliche Eigentümer von Grund und Boden oder be- stimmter Rechte war, verlieh diese dem Lehnsempfänger auf Lebenszeit. Dafür musste der Lehnsempfänger dem Lehnsherrn persönliche Dienste leisten. Der böhmische König war der Lehnsherr der Oberlausitz, die er dem sächsischen Kurfürsten verlieh

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Karl Mays phantastische Werdejahre

Walter Schmitz

Karl Mays phantastische Werdejahre: Der Schriftsteller als Kleinkrimineller in der Armuts- region an der sächsisch-böhmischen Grenze

I. Ruhm beim Nachbarn: Karl May, ein Kultautor für Jungen

Karl May ist vielleicht der berühmteste deutschsprachige Schriftsteller. Weltweit sind seine Bücher in über 56 Millionen Exemplaren verbreitet. Bis gegen Ende des letzten Jahrtausends waren seine Abenteuerromane geradezu Standardlektüre für Jungen. Sie wussten vielleicht nicht, wer Goethe war, aber Winnetou kannte jeder – oder doch fast jeder. Mit dem Aufkommen neuer Medien ändert sich der Nachruhm eines Schriftstellers. Der Ruhm Karl Mays hatte vom Siegeszug des Kinos noch profitiert; Karl-May-Filme waren in Westdeutschland so erfolgreich, dass in der DDR eine Al- ternative des ‚Indianer-Films‘ entwickelt wurde. Doch im Medium des Internets wer- den die Spuren des sächsischen Schriftstellers allmählich labyrinthisch.1 Wohl werden seine Bücher noch viel gelesen, wohl verzeichnet das Karl-May-Museum in seinem früheren Wohnhaus, der Villa Bärenfett in Radebeul, noch immer Zuspruch. Zum 165. Geburtstag zeigte sogar das Deutsche Historische Museum in Berlin eine große Ausstellung.2 Und doch, die edlen Indianer und ihre schurkischen Gegenspieler, die lustige Figur des Hadschi Halef Omar, der immer siegreiche deutsche Held – das alles rückt allmählich an den Rand der aktuellen Interessen. Doch im vorigen Jahrhundert gehörte der Weltruhm Karl Mays auch in die deutsch-tschechische Nachbarschaft. Der tschechische Poet Jan Skácel, am 2.7.1922 in der mährischen Slowakei geboren, am 7.11.1989 in Brünn verstorben, hat Karl May früh für sich entdeckt, und er hat dem sächsischen ‚Kollegen‘ einen respektvoll klugen Essay gewidmet.3 Dort spricht er für viele Vertreter einer ‚Moderne‘* in der Tschechoslowakei, derjenigen Kultur also, die den herrschenden Kommunisten stets verdächtig blieb. Skácel kann Zeugen

1 Vgl. aus der Vielzahl der Einträge nur die folgenden Seiten: www.karl-may-museum.de, www.karl-may-gesell- schaft.de, http://karl-may-haus.de, http://karl-may-wiki.de sowie www.karl-may-stiftung.de. 2 Vgl. Karl May. Imaginäre Reisen. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums, Berlin vom 31. August 2007 bis 6. Januar 2008. Hg. v. Sabine Beneke. Bönen: Kettler 2007. 3 Vgl. Jan Skácel: Wer war Karl May? In: Karel Hynek Shatterhand. Slawisches bei Karl May zwischen gut und böse. Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft (2011), Nr. 143, S. 10–16.

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Karl Mays phantastische Werdejahre

für seine Bewunderung Karl Mays benennen – Jaroslav Seifert* etwa –, doch ist er selbst ja einer der bedeutendsten Vertreter dieser missliebigen Moderne. Er war immer wieder Repressionen ausgesetzt; die Nationalsozialisten hatten ihn, da er sich der totalen Mobilmachung entziehen wollte, in ein Straf- und Arbeitslager in den Alpen versetzt. Er war nach dem Krieg literarisch tätig, unterlag Repressionen, trat nach dem August 1968 aus der KPČ aus; er war, wie Reiner Kunze es sagt, „ein Dichter von Weltrang, nicht von Weltruhm“.4 Seit dem April 1970 war er arbeitslos, hatte seit 1971, in der Zeit der sogenannten ‚Normalisierung‘, Publikationsverbot, ver - öffentlichte seine Gedichte im Untergrund, dem Samisdat*, oder aber im Ausland. Mit gelegentlichen Tätigkeiten beim Theater schuf er sich ein neues Wirkungsfeld. Ehrungen kamen nur spät und aus dem Ausland. „Karl May ist ein sehr deutscher Autor.“5 Das ist der Ausgangspunkt für Jan Skácels Karl-May-Essay. Aber auch für Skácel, den Tschechen, war dieser Erzähler deutschen Heldentums der große Schriftsteller in der Jugendzeit. Früh schon, im Jahr 1888, war die erste Veröffentlichung einer der Wildwesterzählungen Karl Mays in Prag erschie- nen, und zwar in der Zeitschrift Naší Mládeži. Herausgeber war Josef Vilímek, auch künftig einer der Verleger für die tschechischen Karl-May-Ausgaben.6 Mays Name sollte bald „in Böhmen geradezu zum Begriff für spannungsgeladene Abenteuer - romane“ werden.7 Als er im Jahr 1898 auf der Durchreise einmal im ‚Hotel de Saxe‘ in Prag abgestiegen war, bestürmten ihn jugendliche Verehrer, unter ihnen der damals dreizehnjährige Egon Kisch, der, wie er noch viele Jahre später gestand, „ihn mit zit- terndem Herzen“ aufgesucht hatte und von dem Verehrten ein Autogramm erhielt, „mit Dr. Carl May gezeichnet, es war ein Gegenstand des Neides aller meiner Mit- schüler“.8 – Außer den Deutschen habe, so konnte man erklären, „kein Volk [...] den Dichter so geliebt wie die Tschechen“.9 Manche behaupten, dies sei bis heute so ge- blieben.10 Die Verbundenheit zum sächsischen Autor erkläre sich vielleicht, weil die

4 Reiner Kunze: Wo Freiheit ist… Gespräche 1977–1993. Frankfurt a. Main: S. Fischer 1994, S. 51. 5 Holger Kuße: Karl May auf Tschechisch. In: Bohemicum Dresdende. Beiträge zur Didaktik, Sprachentwicklung und Übersetzung des Tschechischen. Hg. v. dems. München/Berlin: Otto Sanger 2010, S. 121–143, S. 137. 6 Manfred Hecker/Hans-Dieter Steinmetz: Karl May in Böhmen. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 7 (1977), S. 218–230. Freilich hatte er auch Grund, sich über illegale Aktivitäten Vilímeks zu beklagen; die gütliche Eini- gung mit dem Verlag wird dann am 19. Oktober 1898 in der Prager Bohemia unter dem Titel Dobodružné Cesty bekanntgegeben, vgl. ebd., S. 222. 7 Ebd., S. 219. 8 Egon Erwin Kisch, Ms.: Literar. Archiv PNP, Praha III g11; 31/5; zit. nach ebd., S.224, Anm.22. Vgl. auch die Epi- soden-Schilderung bei Friederike Hübner:Knoblauch,Kunst und Kindheit in Prag.Heilbronn: Salzer 1975,S.66–73. 9 Hansotto Hatzig: Schrifttum um Karl May. In: ‚Ich‘. Karl Mays Leben und Werk. Hg. v. Roland Schmid. Bamberg: Karl-May-Verlag 1963 (= Gesammelte Werke; 34), S. 380–402, hier S. 397. 10 Hecker/Steinmetz, May in Böhmen (wie Anm. 6), S. 219. Dazu vgl. Jaroslav Moravec: Die tschechischen Über- setzungen Karl Mays. In: Karl-May-Jahrbuch 4 (1921), S. 222f.

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Karl Mays phantastische Werdejahre

Tschechen – „geographisch gesehen – die gleiche Heimat mit ihm haben und die gleiche Mentalität: Erzgebirgler nördlich und südlich eines Grenzweges, der die Staa- ten, aber nicht die Herzen trennt.“11 Vielleicht aber verdankt sich der frühe Erfolg Mays bei den Tschechen aber auch nur der Energie seiner tschechischen Verleger, allen voran Josef Vilímek.12 Jedenfalls zählt „das tschechische Achtmillionen-Volk unter seinen gelesensten Autoren Karl May“.13 Aber: Wer war Karl May? Skácel skizziert in seinem gleichnamigen Essay die- ses Leben; und es ist ihm nicht entgangen, wie prägend die Zeit war, als Karl May noch nicht Old Shatterhand, noch nicht Kara Ben Nemsi und eben auch nicht der Karl May war. Noch waren seine Abenteuer- und Reiseromane, die ihn bald welt- berühmt machen sollten, nicht geschrieben, noch war er in den kümmerlichen Verhältnissen der sächsischen Armutsregion im Erzgebirge gefangen. Böhmen liegt nicht weit. Gerade dort, in Böhmen, wird der Ruf des Abenteuerschriftstellers Karl May früh ankommen. Das schützt ihn allerdings nicht vor den Vorwürfen seiner Gegner. Man wird ihm vorwerfen, er habe seine sächsischen Elendsjahre mit den kleinen Gaunereien, die er damals beging, verschwiegen – samt seiner Verhaftung im Böh- mischen –, er habe überhaupt seine Leser getäuscht, und er wird einen Verteidiger in Egon Erwin Kisch finden, dem ‚rasenden Reporter‘ aus Prag, der all die Gegenden tatsächlich bereist hatte oder noch bereisen würde, die Karl May erst spät in seinem Leben als behäbiger Tourist zu Gesicht bekam. Mit seinen „wilden Tagen als Ama- teurräuber und -scharlatan“ im sächsisch-böhmischen Grenzgebiet hatte das indes schon nichts mehr zu tun.14 Jedenfalls findet der „sächsische[] Meister fabulierer“,15 wie ihn ein anderer Schriftsteller, Erich Loest, noch sehr viel später einmal nennen wird, auch in der tschechischen Kultur seine Verbündeten und Fürsprecher. Noch 2007 ist die Karl-May-Verehrung groß genug, um parodiert zu werden. Das dritte Kapitel des Romans Mandaríni von Stanislav Komárek kreist um die Entdeckung eines bisher unbekannten – selbstverständlich von Komárek erfundenen – Karl-May-

11 Hatzig, Schrifttum (wie Anm. 9), S. 397. 12 Vgl. Kuße, Karl May (wie Anm. 5), S. 128f. 13 Jaroslav Moravec: Die tschechischen Übersetzungen Karl Mays. In: Karl-May-Jahrbuch 4 (1921), S. 262–266, hier S. 264. Holger Kuße macht auch auf die „ganzheitliche[] Rezeption Karl Mays in Böhmen, der Tschecho- slowakei und dem heutigen Tschechien“ aufmerksam. Es werde nicht nur der Autor, sondern „vor allem das Phänomen Karl May wahrgenommen“, also Texte, Bilder und auch die jüngeren Filme; Kuße, Karl May (wie Anm. 5), S. 133. 14 Kuße, Karl May (wie Anm. 5), S. 125; vgl. außerdem Amira Sarkiss: Karl May und die Frühreisenlegenden. In: In fernen Zonen. Karl Mays Weltreisen. Hg. v. Lothar Schmid/Bernhard Schmid. Bamberg/Radebeul: Karl-May-Verlag 1999 (= Gesammelte Werke; 82), S. 13–32. 15 Erich Loest: Der Zorn des Schafes. Aus meinem Tagewerk. München: dtv 1993, S. 353.

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Romans Im Schatten des Böhmerwalds und lässt den Leser an Abenteuern teilnehmen, „die denen im ‚Türkenreiche‘ kaum nachestehen“, und im selben Zug macht sich Ko- márek auch noch über die böhmische Nationaldichterin Božena Němcová lustig.16

II. Ein armer Volksschullehrer

Niemand hätte dem Jungen, der im Jahr 1842 als Sohn des Heinrich August May (1810– 1888) und der Christiane Wilhelmine Weise (1816–1885) in der Herrschaft Schönburg hinter Glauchau17 geboren wurde, vorhergesagt, dass er ein derart erfolgreicher deutscher Schriftsteller werden würde. Sein Vater Heinrich August May war ein armer Weberge- selle; erst 1856 wurde er Meister, doch die Armut blieb. Geheiratet hatte er Christiane Wilhelmine Weise – Karl Mays Mutter – im Jahr 1836. Das Ehepaar hatte in den Jahren von 1836 bis 1860 vierzehn Kinder, sechs Jungen und acht Mädchen; neun von ihnen starben schon in den ersten beiden Lebensjahren, von den Söhnen der Familie blieb al- lein Karl May am Leben.18 „Die ersten und ältesten Eindrücke meiner Kindheit“, so schreibt er in seiner Selbstbiographie, „sind diejenigen einer beklagenswerten Armut“;19

Es waren damals schlimme Zeiten, zumal für die armen Bewohner jener Gegend, in der meine Heimat liegt. Dem gegenwärtigen Wohlstande ist es fast unmöglich, sich vorzustellen, wie armselig man sich am Ausgange der vierziger Jahre dort durch das Leben hungerte. Arbeitslosigkeit, Mißwachs, Teuerung und Revolution, diese vier Worte erklären Alles. Es mangelte uns an fast Allem, was zu des Leibes Nahrung und Notdurft gehört.

Entsprechend beengt waren die Verhältnisse im Geburtshaus, das immerhin der Familie gehörte; es war „drei schmale Fenster breit und sehr aus Holz gebaut, dafür aber war es drei Stockwerke hoch und hatte ganz oben unter dem First einen Taubenschlag […]. Großmutter, die Mutter meines Vaters, zog in das Parterre, wo es nur eine Stube mit zwei Fenstern und die Haustür gab. [...] Im ersten Stock wohnten die Eltern mit uns.

16 Ich verdanke diesen Hinweis Holger Kuße; Kuße, Karl May (wie Anm. 5), S. 121, Anm. 1; vgl. auch Stanislav Komárek: Mandaríni. Brno: Host 2007. 17 Erst am 15. November 1878 geht die Herrschaft ohne Einschränkung an das Königreich Sachsen über; vgl. Chris- tian Heermann: Karl May – ein Sachse? In: Karl May auf sächsischen Pfaden. Hg. v. dems. Bamberg/Radebeul: Karl-May-Verlag 1999, S. 176–193, hier S. 176f. 18 Vgl. dazu Erwin Müller: Zeittafel. In: Karl-May-Handbuch. Hg. v. Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Rein- hard Tschapke. Stuttgart: Kröner 1987, S. 124–128, hier S. 124. 19 Karl May: Mein Leben und Streben. Selbstbiographie. Freiburg i. Breisgau: Fehsenfeld 1910, S. 82; das folgende Zitat ebd., S. 39.

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Da stand der Webstuhl mit dem Spulrad. Im zweiten Stock schliefen wir mit einer Kolonie von Mäusen und einigen größeren Nagetieren, die eigentlich im Tauben- schlage wohnten und des Nachts nur kamen, uns zu besuchen“; und der „Hof war grad so groß, daß wir fünf Kinder uns aufstellen konnten, ohne einander zu stoßen.“20 Im Rückblick des Jahres 1910 entwirft Karl May sich seinen Lebensweg als Schrift- steller; er veröffentlicht unter dem bezeichnenden Titel Mein Leben und Streben seine Selbstbiographie. Und er tut dies, um sich gegen die scharfen Angriffe von außen zu verteidigen, die ihn eben nicht als einen Menschen gelten lassen, der nach Höherem strebte, manches Erstrebte auch erreicht hatte und an seine Leser weitergab, sondern ihn vielmehr für einen Hochstapler und Verderber der Jugend ausgeben. Zugleich will er aber sich selbst Rechenschaft über seinen so widrig begonnenen Lebensweg geben und diesem jetzt, nachdem ihm Erfolg und Ruhm zuteil wurden, nun auch einen in- neren Sinn abgewinnen. Zufälle fügen sich in diese Lebenskonstruktion. Seit Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96), dem Muster jedes folgenden Bildungsromans, gehört die frühe Erweckung des poetischen Lebens durch das Theater zu einer ge- glückten Bildungsgeschichte; Goethes Autobiographie Dichtung und Wahrheit (1811) hatte dieses Modell mit den Berichten über frühes Puppentheaterspiel noch einmal bestätigt. Auch Karl May nun kann sich an das Erweckungserlebnis eines Puppen - theaters erinnern, an eine Aufführung, die im November 1855 tatsächlich stattfand:21

Da kam ein Tag, an dem sich mir eine Welt offenbarte, die mich seitdem nicht wieder losgelassen hat. Es gab Theater. Zwar nur ein ganz gewöhnliches, armseliges Puppentheater, aber doch Theater. Das war im Webermeisterhause. [...] Ich bekam die Erlaubnis, mit Großmutter hinzugehen. [...] Meine Augen brannten; ich glühte innerlich. Puppen, Puppen, Puppen! Aber sie lebten für mich. Sie sprachen; sie liebten und haßten; sie duldeten; sie faßten große, kühne Entschlüsse; sie opferten sich auf für König und für Vaterland. [...] Ich gab keine Ruhe, bis wir die Erlaubnis erhielten, nochmals zu gehen. Es wurde gespielt ,Doktor Faust oder Gott, Mensch und Teufel‘. Es wäre ein resultatloses Beginnen, den Eindruck, den dieses Stück auf mich machte, in Worte fassen zu wollen. Das war nicht der Göthesche Faust, sondern der Faust des uralten Volksstückes.

Offenkundig nutzt Karl May, sein Leben beschreibend, hier die Chance, sich an Goethe anzuschließen und sich zugleich von ihm abzugrenzen; doppelt bestätigt sich so sein Rang – gleichrangig im Anschluss an Goethe, eigenständig in der Abgrenzung.

20 Ebd., S. 13f. – Das Haus beherbergt heute unter der Bezeichnung ‚Karl-May-Haus‘ ein Museum. 21 Ebd., S. 55f.

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Ist Goethe der Bildungsschriftsteller, so ist Karl May der Volksschriftsteller. Und jener Faust, der durch Irrtum und Verbrechen schließlich doch erlöst wird und der deshalb die Vorbildfigur für Karl Mays Lebensweg sein kann und soll, wird hier zurück in die ‚uralte‘ Volksüberlieferung versetzt, wie es sich für den Volksschriftsteller Karl May gebührt. Sich ‚strebend zu bemühen‘ – wie es im Titel der ‚Selbstbiographie‘ anklingt – ist freilich doch eine im 19. Jahrhundert gängige Lebensformel aus Goethes Faust: „[W]er immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen“, verkünden dort die Engelschöre,22 als sie die Seele des schuldig gewordenen Faust doch vor dem Zugriff des Teufels retten. Das, so macht der Titel von Karl Mays Lebenssumme deutlich, stünde doch auch diesem Autor zu, der in seinem späten Werk ja auch ‚autofiktionale‘ Erlösungsgeschichten entworfen hat.23 Frühe Schuld muss sich der Selbstbiograph Karl May freilich auch eingestehen. Denn nicht nur die echte Volksüberlieferung prägt den frühen Bildungsweg des Knaben; sondern er verfällt eben jener Literatur, deren Produktion ihm später seine grimmigen Feinde vorhalten werden: dem ‚Schmutz und Schund‘, gegen den um 1900 große Kampagnen zum Schutz der Jugend gestartet wurden. Freilich – während Karl Mays junger Jahre im armen Erzgebirge war das eben alles, was dem ‚Volk‘ geboten wurde. Bezeichnend ist schon der Ort, wo man diese Schriften fand:24

Und doch gab es in dieser Schankwirtschaft ein noch viel schlimmeres Gift als Bier und Branntwein und ähnliche böse Sachen, nämlich eine Leihbibliothek, und zwar was für eine! Niemals habe ich eine so schmutzige, innerlich und äußerlich geradezu ruppige, äußerst gefährliche Büchersammlung, wie diese war, nochmals gesehen! Sie rentierte sich außerordentlich, [...], und ich muß der Wahrheit die Ehre geben und zu meiner Schande gestehen, daß auch ich, nachdem ich einmal gekostet hatte, dem Teufel, der in diesen Bänden steckte, gänzlich verfiel. Was für ein Teufel das war, mögen einige Titel zeigen: Rinaldo Rinaldini, der Räuberhaupt- mann, von Vulpius, Goethes Schwager. Sallo Sallini, der edle Räuberhauptmann. Himlo Himlini, der wohltätige Räuberhauptmann. Die Räuberhöhle auf dem Monte Viso. Bellini, der bewunderungswürdige Bandit.

22 Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. In: Ders.: Faust. Texte. Hg. v. Albrecht Schöne. Frankfurt a.Main:DKV1994(= Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche; 7,1), S.201–464, hier S. 459. 23 Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: Autofiktion oder: Autobiographie nach der Autobiographie. Goethe–Barthes–Özda - mar. In: Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bd. 1: Grenzen der Identität und der Fiktionalität. Hg.v.Ulrich Breuer/Beatrice Sandberg.München:Iudicium 2006,S.353–368 sowie dies.: Au- tofiktion – eorie und Praxis des autobiographischen Schreibens. In: Schreiben im Kontext von Schule, Universität, Beruf und Lebensalltag. Hg. v. Johannes Berning/Nicola Kessler/Helmut H. Koch. Berlin: Lit 2006, S. 80–101. 24 May, Leben und Streben (wie Anm. 19), S. 72f. – Man beachte den aus dem Faust-Titel bekannten Verführer; Hervorhebung W.S.

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Dass solche Lektüre die jugendliche Seele vergifte – so wie die Alkoholsucht die armen Leute –, war ein Glaubenssatz der ‚Volkserziehung‘. Die Wirklichkeit wird, so nahm man an, durch phantastische Traumgebilde verdrängt; und auch Karl May will damals beschlossen haben, nach Spanien aufzubrechen: Dort wollte er Hilfe suchen, um seine Familie aus dem unverdienten Elend zu retten. Die Reise unterblieb. Die Schule hatte der Junge ohne Beanstandungen durchlaufen, und so sollte er unter großen Opfern der Familie den Beruf des Volksschullehrers ergreifen können. Dieser Beruf bedeutete einen sozialen Aufstieg für den Weberssohn, nahm aber unter den Berufen für ‚Gebildete‘ den niedrigsten Rang ein; Volksschullehrer waren wenig an- gesehen und schlecht bezahlt. – Im Jahr 1856 wurde der junge May Zögling des Pro- seminars für die Volksschullehrerausbildung in Waldenburg. War er bis dahin – laut dem Zeugnis seines Pfarrers – ein „sittsamer, stiller Knabe“,25 so begann er im Seminar bald gegen die „Trockenheit und absolute [] Poesielosigkeit des hiesigen Unterrich- tes“26 zu opponieren. Die Erklärung seiner Motive stammt allerdings aus jener späte- ren Zeit, als Karl May in seiner Autobiographie* seinen Lebenslauf rechtfertigen wollte. Vielleicht litt der Knabe vor allem an seiner Armut und wurde deshalb rebel- lisch. Schließlich, im November 1859, also im Alter von 17 Jahren, brachte er sechs Kerzen beiseite, um sie in den Weihnachtsferien mit zu seiner Familie zu nehmen. Denn im Hause May konnte man sich einen solchen Luxus nicht leisten. Der Dieb- stahl wurde entdeckt, dem Kultusministerium angezeigt, und am 28.1.1860 wurde die gänzliche Entfernung Karl Mays aus dem Seminar verfügt – wegen „sittlicher Un- würdigkeit für seinen Beruf“.27 Trotz dieser Katastrophe durfte er seine Studien am Seminar in Plauen wieder auf- nehmen und führte sie dort ohne weitere Zwischenfälle zu Ende, sodass er am 7.10.1861 als Hilfslehrer der 4. Klasse in einer Armenschule in Glauchau seinen Dienst antreten konnte. Er hatte 64 Kinder zu unterrichten. Das karge Gehalt betrug 175 Taler im Jahr, dazu ein Mietzuschuss von 25 Talern. Der Versuch, eine Liebesaffäre mit der Frau seines Vermieters, des Materialwarenhändlers Meinhold, zu beginnen, brachte ihm eine neuerliche Anzeige und die fristlose Entlassung aus dem Lehrerberuf. Er fand zwar schon bald eine Tätigkeit in der Fabrikschule der Spinnerei Solbrig in Altchemnitz; doch war dies eine Stelle, die man nur in äußerster Not annahm: Die Kinder, die zum Unterricht geschickt wurden, stammten aus armen Arbeiterfamilien, waren übermüdet von der täglichen Fabrikarbeit, die sie selbst schon zu leisten hatten, und empfanden die Schule als weitere Qual. Für Karl May aber kam es am 24.12.1861

25 Claus Roxin: Mays Leben. In: Ueding, Karl-May-Handbuch (wie Anm. 18), S. 62–123, hier S. 73. 26 May, Leben und Streben (wie Anm. 19), S. 97. 27 Schreiben des Gesammt-Konsistoriums Glauchau an den Seminardirektor Schütze vom 24.1.1860, zit. nach: Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich: Diogenes 1976, S. 27.

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zu einer weiteren, diesmal lebensentscheidenden Katastrophe. Auf dem Weg nach Ernstthal zu seiner Familie wurde er festgenommen; sein Stubengenosse hatte ihn wegen des Diebstahls einer Uhr, einer Pfeife und einer Zigarettenspitze angezeigt. May leugnete alles, doch die Gegenstände fanden sich bei ihm. Allerdings hatte er sich die Uhr schon öfter ausgeliehen, da er keine eigene besaß; vielleicht also hatte er tatsächlich – wie er dann behaupten sollte – nur vergessen, sie zurückzugeben. Die prompte Anzeige lässt erkennen, wie ärmlich und zugleich wie feindselig das Milieu war, in dem der junge Lehrer lebte. Verurteilt wurde er zu sechs Wochen Gefängnis; eine öffentliche Anstellung als Lehrer war ihm in Zukunft verwehrt. Nachdem er die Strafe verbüßt hatte, „stand [er] zwar wieder auf“, so schreibt er in seiner Auto- biographie, doch nur äußerlich; „innerlich blieb ich in dumpfer Betäubung liegen; wochenlang, ja monatelang.“28 Und im Text Meine Beichte aus dem Jahr 1908 er- gänzt er: „Ich sann auf Rache. […] Diese Rache sollte darin bestehen, daß ich, der durch die Bestrafung unter die Verbrecher Geworfene, nun wirklich auch Verbrechen beging.“29

III. Ein Kleinkrimineller

Dass die ‚Böhmischen Wälder‘ ein geeigneter Ort für die Gründung einer Räuber- bande seien, wusste schon Karl Moor, der Held von Schillers Erfolgsstück Die Räuber. Er wird zum erfolgreichen und gefürchteten Bandenführer; doch als ‚edler Räuber‘* stellt sich Karl Moor schließlich freiwillig, da er sich eingestehen musste, dass seine Spießgesellen aus ganz anderen Motiven – aus Gier nach Raub und Mord – handel- ten. ‚Edle Räuber‘ waren Johann Karasek und Karl Stülpner, die nur knapp zwei Jahr- zehnte später im böhmisch-sächsischen Grenzgebiet ihre Banden zusammenbrachten, freilich ebensowenig. Aber mit der Zeit knüpften sich Legenden an ihr Wirken, an ihre Kühnheit, ihre List und ihr Mitleid mit den armen Leuten. So wurden sie doch – in diesen Erzählungen gleichsam austauschbar mit den vom jungen May bewun- derten Romanräubern wie Rinaldo Rinaldini – zu einer Art ‚Volkshelden‘, die den Armen mit dem halfen, was sie von den Reichen nahmen. Es war eben die Armut des Grenzgebietes, die auch das Entstehen von organisierter Kriminalität beförderte. Der Armut wurde auch im 19. Jahrhundert wenig Einhalt geboten. Die Staatsorga- nisation indessen verbesserte sich, und so verläuft rund vier Jahrzehnte später die kri-

28 May, Leben und Streben (wie Anm. 19), S. 109. 29 Karl May: Meine Beichte. In: Rudolf Lebius: Die Zeugen Karl May und Klara May. Ein Beitrag zur Kriminal- geschichte unserer Zeit. Berlin-Charlottenburg: Spreeverlag 1910, S. 4–7, hier S. 4.

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minelle Karriere des Karl May auch sehr viel weniger spektakulär. Eine Bande bringt er nicht mehr zusammen; niemand bewundert ihn, und keine ‚Legenden‘ verherr - lichen seine Taten; er ist eher ein Gauner als ein Räuber. Aber er will „zum Rächer seiner selbst“ werden.30 Und er erprobt jetzt zum ersten Mal die Fähigkeit, die ihn später so berühmt machen sollte: Er verwandelt sich in einen anderen – allerdings nicht in phantasievoll niedergeschriebenen Abenteuern, wie sie später seine Bücher füllen werden, sondern in der Realität. Claus Roxin, Präsident der Karl-May-Gesell- schaft von 1971 bis 1999 und ein renommierter Strafrechtsprofessor, kommt nicht umhin, einen „pseudologischen Einschlag“ im Charakter des geschätzten Schriftstel- lers zu diagnostizieren.31 – May verwandelt sich zunächst in den Augenarzt Dr. Heilig – ein sprechender Name, der viel von den geheimen Wünschen des Trägers verrät. Angeblich ist Dr. Heilig ein früherer Militär. In Penig kleidet er sich bei einem Schnei- dermeister neu ein, vergisst allerdings zu bezahlen, behandelt jedoch noch einen Hausgenossen des Schneiders. Ein halbes Jahr später, am 16. Dezember 1864, hat sich Dr. Heilig in einen Seminarlehrer Lohse, der durch Chemnitz streift, verwandelt. In Chemnitz mietet er sich im Gasthof ‚Zum goldenen Anker‘ ein, lässt sich ein paar teure Stücke Pelzwerk von Pelzwarenhändlern bringen und verschwindet abermals, ohne die Rechnung zu begleichen. In Leipzig ist er der „Noten- und Formenstecher Hermin“, also ein kaum zu verkennender Hermes, Gott der gewandten Diebe, freilich auch des Handels, wie es sich für die Handelsstadt Leipzig gehört.32 Er verschafft sich abermals Pelze, aber als er sich Geld beschaffen will und deshalb eine Botin mit einem kostbaren Bieberpelz ins Pfandhaus schickt, wird diese dort schon von der Polizei, die aufmerksam geworden ist, erwartet, und nach einigen Verwicklungen wird auch der kriminelle Auftraggeber entdeckt und im Leipziger Rosenthal von der Polizei überwältigt. Man bringt Karl May nach seiner Festnahme ins Polizeigefängnis von Leipzig. Ein neuerlicher Absturz im Lebenslauf: „Und er kam“, so schildert Karl May in der distanzierten Er-Form seiner Selbstbiographie, nicht in der Heimat an, „son- dern in Leipzig, wohin mich eine Theaterangelegenheit führte. Dort habe ich, der ich gar nichts derartiges brauchte, Rauchwaren [d.i. Pelze] gekauft und bin mit ihnen verschwunden, ohne zu bezahlen.“33 So seltsam die Begründung ist, von ihr aus fällt immerhin ein Licht auf die Theatralik, die der Hochstapler May mit seinen küm-

30 Klaus Walther: Karl May. Eine sächsische Biographie. Chemnitz: Chemnitzer Verlag 2012, S. 26. 31 Für eine verständnisvoll-juristische Bewertung von Karl Mays krimineller Karriere vgl. Claus Roxin: Karl May, das Strafrecht und die Literatur. In: Karl May. Hg. v. Helmut Schmiedt. Frankfurt a. Main: Suhrkamp 2005, S. 130–159; Zitat ebd., S. 146. 32 Christian Heermann: Der Ernstthaler. In: Ders. (Hg.), Karl May auf sächsischen Pfaden (wie Anm. 17), S. 7–25, hier S. 10. 33 May, Leben und Streben (wie Anm. 19), S. 119.

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merlichen Mitteln doch anstrebte. Vielleicht erschwindelte er sich deshalb Pelzklei- dung, weil sie ihm „als ein Inbegriff von Reichtum und Noblesse erschien.“34 Für sol- che Hintergründe interessierte sich freilich niemand. Karl May wird nun wegen schon mehr fachen Betrugs verurteilt, und zwar am 8. Juni 1865 zu vier Jahren und einem Monat Arbeitshaus. Am 14. Juni wird er in die Strafanstalt Osterstein in Zwickau als Nummer 171 einge- wiesen, für dreieinhalb Jahre. Die letzten Monate werden ihm „in Folge allerhöchster Gnade“ geschenkt.35 In seiner Autobiographie spart er die Gefängniszeit nicht aus, erwähnt seine Mithäftlinge in der Portefeuille-Anfertigung als „liebe, gute Menschen“, und den Namen des Saalaufsehers nennt er sogar mit „großer, aufrichtiger Dankbar- keit“.36 Osterstein ist eine der „humansten Strafanstalten Deutschlands“:37 Die Häft- linge erhalten umfassenden Unterricht, werden zu regelmäßiger Arbeit angeleitet und auch zu autodidaktischer Fortbildung. Karl May bringt es immerhin zum Verwalter der Gefangenenbibliothek, die rund 4.000 Bände umfasst, und er will dort, so behauptet er später, durch „fremdsprachige Grammatiken“38 seine phänomenalen Sprachkenntnisse begründet haben, die ihm bei seinen späteren Reisen und Reise - romanen so von Nutzen gewesen seien. Auch geschrieben habe er schon. Überliefert ist jedoch nur ein ‚Repertorium* C. May‘, das 137 Entwürfe und Skizzen beinhaltet, nichts davon freilich ausgeführt, und erst recht gibt es keines der Manuskripte, die er im Gefängnis verfasst haben will.39 Als er am 2. November 1868 endlich frei ist und nach Ernstthal zurückkehrt, fällt er sofort wieder in seine kriminellen Aktivitäten zurück – ob aus der „jähe[n] see- lische[n] […] Depression“, wie er im Rückblick behaupten wird,40 ist nicht zu über- prüfen. Nachdem er kurz im elterlichen Haus geblieben war, stellt er alsbald seine Fortschritte im Verbrecherhandwerk unter Beweis: Er gibt sich jetzt als eine Person aus, die er eigentlich fürchten müsste, den Polizeileutnant von Wolframsdorf. Im März 1869 fahndet er – mit dieser Identität – bei einem Händler und Strumpfwirker in Wiederau nach vorgeblichem Falschgeld und ‚beschlagnahmt‘ einen 10-Taler-

34 Walther, Karl May (wie Anm. 30), S. 27. – Noch weiter in der Deutung geht Christian Heerman: Der Ernstthaler (wie Anm. 32), S. 11: „Um Aktion war es ihm gegangen, um action, weniger um materiellen Gewinn; er wollte bewundert werden und das vorstellen, was in der Wunschwelt verblieben und nicht Realität geworden war.“ 35 Wollschläger, Karl May (wie Anm. 27), S. 38. 36 May, Leben und Streben (wie Anm. 19), S. 127. 37 Helmut Schmiedt: Karl May oder Die Macht der Phantasie. Eine Biographie, München: C.H. Beck 2011, S. 53; vgl. dazu auch Hainer Plaul: Besserung durch Individualisierung. Über Karl Mays Aufenthalt im Arbei- terhaus zu Zwickau von Juni 1865 bis November 1868. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 5 (1975), S. 127–199, bes. S. 176–183. 38 May, Leben und Streben (wie Anm. 19), S. 131. 39 Vgl. dazu Walther, Karl May (wie Anm. 30), S. 28. 40 May, Beichte (wie Anm. 29), S. 4.

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Schein sowie als angebliches Diebesgut eine Uhr. Nur zwei Wochen später versucht er andernorts denselben Betrug. Er wird aber entlarvt, verfolgt und gestellt; er widersetzt sich – wie das spätere Mittweidaer Urteil festhält – „der von seinen Verfolgern beabsichtigten Ergreifung dadurch mit Erfolg […], daß er ein bei sich geführtes Doppel-Terzerol [eine Pistole] aus der Tasche gebracht und damit auf seine Verfolger, wenn sie ihn nicht gehen lassen würden, zu schießen gedroht hat.“41 May entkommt mit knapper Not. Allmählich nimmt sein „Vagabundendasein“ jetzt „immer abenteuerlichere Züge an, ganz so, als wolle er die Räuberromantik imitieren, von der er einst gelesen hat.“42 Nun sucht er sich ein geheimnisumwit- tertes Versteck – „zwei alte[] Stollen, die bei Schürfarbeiten im 17. Jahrhundert ent- standen sind und im Volksmund Eisen- oder Räuberhöhlen heißen“.43 Dort ge- winnt er eine Geliebte, das Dienstmädchen Auguste Gräßler, und schließlich fehlt es ihm gelegentlich noch nicht einmal an der „Hilfe ehrbarer Bürger“, so wenig wie irgendeinem ‚edlen Räuber‘ vor ihm; und auch Bekannte oder Verwandte gewähren ihm Unterschlupf und unterstützen ihn.44 Doch seine Beute bleibt kümmerlich: angefangen bei fünf Billardkugeln, über ein gezäumtes Pferd bis hin zu einigen Talern. Schließlich, als er wieder einmal wie schon zuvor heimlich in der Kegel- bahn einer Hohensteiner Gastwirtschaft übernachtet, „wird er am 2. Juli nach einem Handgemenge mit dem Besitzer und dessen Schwiegersohn festgenommen“.45 Neben einer Pistole führt er zwei gefälschte Legitimationen mit sich, eine davon angeblich von dem amerikanischen Konsul Burton ausgestellt. Vielleicht ließ sich May bei diesem Namen von einem damals berühmten Roman, Die Europa- müden (1838) von Ernst Willkomm, inspirieren, „in dem ein reicher Amerikaner namens Burton eine Gruppe Europäer nach Amerika, ins gelobte Land, führen will“.46 Den Namen Burton wird sehr viel später noch in Karl Mays Abenteuer- romanen der alt gewordene Old Shatterhand in Winnetou IV annehmen, um noch einmal durch den Wilden Westen zu reisen. Jener Roman Winnetou IV ist der ein- zige, der seine Folie aus realen Erlebnissen des Autors beziehen könnte, da dieser selbst das erste und letzte Mal 1908 nach Amerika reiste. Viel früher aber hatte er schon in einem Brief an seine Eltern behauptet, zwei Amerikaner, die er kennen - gelernt habe, würden ihn mit in die Neue Welt nehmen, so wie er es sich als Schrift- steller ja wünschen müsse; der Name dieser großzügigen Helfer sei Burton: „Ich

41 Wollschläger, Karl May (wie Anm. 27), S. 37. 42 Hier sowie die nachfolgenden Informationen betreffend Schmiedt, Macht der Phantasie (wie Anm. 37), S. 56. 43 Ebd. 44 Ebd. 45 Ebd., S. 57. 46 Ebd.

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reise ab“, schreibt er an seine Eltern; „man wird meine Vergangenheit vergessen und verzeihen, und als ein neuer Mensch mit einer besseren Zukunft komme ich wieder.“47 Nur drei Wochen nach seiner Festnahme gelingt Karl May abermals die Flucht in alter Manier: „Ich zerbrach […] meine Fesseln und verschwand“,48 freilich ohne Zufluchtsort. Vor dem Untersuchungsrichter wird er später aussagen, dass er seit seiner Flucht „nicht in Sachsen gewesen“ sei.49 Offenbar führte ihn sein Fluchtweg zunächst nach Nordwesten durch das Herzogtum Sachsen-Altenburg, dann hält er sich in der Preußischen Provinz Sachsen nahe Halle auf, später im Großherzogtum Sachsen-Weimar, und im Dezember 1899 gelangt er über das östliche Bayern nach Nordböhmen. Schließlich wird er am 4. Januar 1870 „schlafend auf einem Dach - boden“ in dem Ort Algersdorf (Valkeřice) aufgegriffen.50 Einen Ausweis hatte er nicht bei sich. Das Bezirksgericht überstellt ihn an die Bezirkshauptstadt Tetschen (Děčín); dort tischt er „den Ermittlungsbehörden eine phantastische Geschichte“ auf: „Er heiße Albin Wadenbach, sei Sohn eines Pflanzers auf Orby, Martinique, und befinde sich mit seinem jüngeren Bruder auf einer Europareise, um verschiedene Verwandte zu besuchen; die Geschwister hätten sich kürzlich getrennt, und versehentlich habe der Bruder dabei alle seine Ausweispapiere mitgenommen.“51 Es dauert vier Wochen, bis dieses Lügengebäude zusammenbricht, dann identifizieren die tschechischen Behör- den den Aufgegriffenen als den berüchtigten, rückfälligen Verbrecher Karl May. Er wird über die Grenze zurück nach Sachsen, ins Gefängnis nach Mittweida überstellt, und das Bezirksgericht dort verurteilt ihn am 13. April 1870, nachdem er ein um fas - sendes Geständnis abgelegt hat, zu einer Zuchthausstrafe von vier Jahren. – Lässt man nun die Liste seiner Straftaten Revue passieren, so ergibt sich, wie Helmut Schmiedt in seiner Biographie schreibt, „der Eindruck eines groß angelegten Spiels, denn ab- gesehen davon, dass einige der Delikte geradezu skurril anmuten, ist der materielle Gewinn in der Gesamtbilanz kläglich und tritt hinter dem Inszenierungseffekt weit

47 Brief mitgeteilt bei Klaus Hoffmann: Karl May als ‚Räuberhauptmann‘, 1. Teil. In: Jahrbuch der Karl-May- Gesellschaft 3 (1972/73), S. 215–247, hier S. 221f. 48 May, Leben und Streben (wie Anm. 19), S. 168. 49 So Karl May gegenüber dem Königl. Bezirksgericht Mittweida am 15. März 1870. Die Registratur findet sich aufgearbeitet bei Hans-Dieter Steinmetz: Schatten der Vergangenheit. Die Mittweidaer Untersuchungsakten Karl Mays. In: Karl May auf sächsischen Pfaden (wie Anm. 17), S. 194–274, hier S. 260. Vgl. zum Fluchtweg Karl Mays zwischen 1869 und 1879 auch die Abbildung bei Gerhard Klussmeier/Hainer Plaul: Karl May und seine Zeit. Bilder, Dokumente, Texte. Bamberg/Radebeul: Karl-May-Verlag 2007, S. 112. 50 Schmiedt, Macht der Phantasie (wie Anm. 37), S. 57 sowie Klussmeier/Plaul, Karl May und seine Zeit (wie Anm. 49), S. 115. 51 Ebd., S. 58f. – Den Namen hatte er von einem Chemnitzer Bürgerschullehrer, Hermann Eduard Wadenbach (1814–1878), geborgt. Karl May war mit ihm wahrscheinlich während seiner Zeit als Fabrikschullehrer näher bekannt geworden; vgl. Klussmeier/ Plaul, Karl May und seine Zeit (wie Anm. 49), S. 116.

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zurück.“52 Etwas irritiert hatte Mays Pflichtverteidiger in Mittweida auf diesen Ein- druck bereits in seinem Berufungsschreiben abgezielt. May zeichne sich „durch die angeborene Kunst“ aus, „den Leuten etwas vorzumachen und daraus Gewinn zu ziehen. Die ganze Persönlichkeit des Angeklagten machte in der Hauptverhandlung den Eindruck eines komischen Menschen, der gewissermaßen aus Übermuth auf der Anklagebank zu sitzen schien.“53 Die Berufung bleibt – bei einer solchen Verteidigung – erfolglos, ebenso ein späteres Gnadengesuch. May muss seine gesamte Strafe als ‚Züchtling‘ Nummer 407 im Zuchthaus von Waldheim absitzen – vom 3. Mai 1870 bis zum 2. Mai 1874.54 Dieses Zuchthaus bedeutete „buchstäblich die Hölle.“55 Als Zuchthäusler musste Karl May erfahren, „daß die Bedingungen, die er vorfand, alles Bisherige an Entbehrung, Ernied- rigung, Beleidigung und Strenge weit übertrafen.“56 Unter ‚progressivem Strafvollzug‘, wie er in Waldheim herrschte, verstand man damals „Arbeit, Disziplinsystem und Erziehung“;57 „Abschreckung und Vergeltung blieben [...] die dominanten Faktoren“, während man dem „Besserungsgedanke[n]“ nur sehr geringe Bedeutung beimaß. Die Häftlinge mussten mindestens 13 Stunden am Tag arbeiten und unterlagen einer stren- gen Schweigepflicht. Nummer 407 wird zusätzlich bestraft; etwa „von Mitte 1870 bis längstens Mitte 1871“ befand er sich „in Isolierhaft“.58 Dennoch findet mit dem Zucht- haus Waldheim die ‚erbärmliche Laufbahn‘59 des Verbrechers Karl May ein Ende. Nach seiner Haftentlassung gelingt May, der bislang im Leben nur gescheitert war, „eine spektakuläre Wende“; jetzt erfindet er sich tatsächlich neu, wird ein ‚neuer Mensch‘:60

May hebt die Gleichsetzung von Leben und Roman, von Alltagsdasein und lite- rarischer Produktivität auf, er trennt die bürgerliche Existenz vom Reich der aus- ufernden Inszenierungen und verwandelt sich zum Schriftsteller im wörtlichen Sinne. Person und Geschriebenes treten auseinander; die Phantasie wird von nun an vorrangig zugunsten literarischer Erzeugnisse genutzt und steuert nicht mehr die Abläufe des empirischen Lebens.

52 Schmiedt, Macht der Phantasie (wie Anm. 37), S. 58. 53 Ebd., S. 59. 54 Vgl. Hainer Plaul: Resozialisierung durch ‚progressiven Strafvollzug‘. Über Karl Mays Aufenthalt im Zuchthaus zu Waldheim von Mai 1870 bis Mai 1874. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 6 (1976), S. 105–170, bes. S. 155ff. 55 Ebd., S. 123. 56 Ebd. 57 Ebd., S. 112, dann S. 114. 58 Ebd., S. 135. 59 Walther, Karl May (wie Anm. 30), S. 26. 60 Schmiedt, Macht der Phantasie (wie Anm. 37), S. 68.

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Der Zufall – oder das Glück – kommt ihm zu Hilfe. Während er sich noch, nach der Entlassung aus dem Zuchthaus, im Haus seiner Eltern aufhält, verfestigen sich Kon- takte zu Heinrich Gotthold Münchmeyer zu einer Anstellung als Redakteur. Denn Münchmeyer ist ein erfolgreicher Verleger von Texten, die schon den Zeitgenossen als Schund gelten, Hefte, mit reißerischen Titeln versehen, die in Lieferungen von Wan- derhändlern – Kolporteuren – an ihr Publikum, meistens unterhalb der Gebildeten- schicht, gebracht werden. Diese Kolportageromane boten Handlungsspannung, Bilder eines besseren Lebens für diejenigen, für die es in der Wirklichkeit wenig zu hoffen gab. Und für Karl May, den frischgebackenen Redakteur, eröffnet sich allmählich ein neuer, vielversprechender Lebensweg. Seit dem 8. März 1875 arbeitet er in Dresden.61

IV. Erfolg und Inszenierung

In Münchmeyers Deutschem Familienblatt lässt er mit dem zweiten Stück Aus der Mappe eines Vielgereisten. Old Firehand im Oktober 1875 zum ersten Mal einen Text erscheinen, in dem die künftige Karl-May-Mythologie anklingt. „Ein ganz absonderlicher Pegasus“, so schreibt der Schriftsteller, Übersetzer und Karl-May-Verehrer Hans Wollschläger in seiner Biographie, „tut die ersten Schritte: Swallow, mein wackerer Mustang, spitzte die kleinen Ohren.“62 May hatte sich ja bloß, wie er nach fast 40 Jahren in einem Brief er- klärt, „zu einigen Old Shatterhandstreichen gezwungen (sic!) ge sehen, aber nicht in der Prairie, sondern hier in der Heimath. Was dort erlaubt ist, ist hier verboten. Er caram- bolierte mit dem Gesetz [...]“.63 Endlich, nach dieser zuletzt heftigen ‚Carambolage‘, schuf Karl May „seiner so bizarren Person und allen ihren heroischen, revoltierend herrischen Attitüden eine eigene, imaginäre Umwelt, in der sie ungehemmt gedeihen“ sollten.64 Immerhin: Nicht weit entfernt von Hohenstein-Ernstthal liegt ein Ort, dessen Name schon die Richtung weist; es ist die kleine Ortschaft Wüstenbrand. „Sächsische Pfade führen in exotische Ferne.“65 In vielfältigen Rollen und Masken wird der Autor seiner schnell anwachsenden Leserschaft in Zukunft begegnen: Als Kara Ben Nemsi kennen ihn die Araber; so steht es in seinen Büchern. Er reist durchs wilde Kurdistan, durchs Land der Skipetaren. Wir finden ihn in den Schluchten des Balkan. Old

61 Hainer Plaul: Redakteur auf Zeit. Über Karl Mays Aufenthalt und Tätigkeit von Mai 1874 bis Dezember 1877. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 7 (1977), S. 114–217, bes. S. 147. 62 Wollschläger, Karl May (wie Anm. 27), S. 50. Zur Pseudologia Phantastica vgl. Helmut Schmiedt: Karl May. Leben, Werk und Wirkung. Frankfurt a. Main: Hain 1992, S. 40. 63 Klara May an Sascha Schneider, 31.5.1905. In: Karl May und Sascha Schneider. Dokumente einer Freundschaft. Hg. v. Hansotto Hatzig. Bamberg: Karl-May-Verlag 1967, S. 77ff., hier S. 78. 64 Wollschläger, Karl May (wie Anm. 27), S. 42. 65 Heermann, Ernstthaler (wie Anm. 32), S. 13.

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Shatterhand ist der berühmteste aller ‚Westmänner‘, so benannt nach seinem Faust- schlag, mit dem er jeden niederschmettert. Die Indianer der großen Prärien verehren ihn, aber auch am Rio de la Plata sorgt er für Recht und Ordnung. Old Shatterhand ist ein früher Superheld ‚in Serie‘, wie er uns späterhin bis heute in sehr viel moderneren Medienprodukten begegnet. Je größer der Umfang, den Karl Mays Werk annimmt, desto weiter führen sein Buch-Ich die Reisen. Auch im fernen China kennt man den tapferen Deutschen, und zuletzt erschließen die späten Romane noch allegorische Räume wie Ardistan, das Reich der Edelmenschen. Die „Identifizierung mit seinen Ich-Gestalten“ hat Karl May anfangs „nur sehr allmählich und mit Nachdruck erst 1894/95 vollzogen“.66 Dann aber wird er zum Meister literarischer Selbstinszenierung. In der Bibliothek seiner Villa Bärenfett in Radebeul stapeln sich die Bücher, in denen er sein detailgetreues Wissen über die Länder und Kulturen, die sein literarisches Ich durchreist, findet: die Kon- versationslexika, die Abenteuer- Romane und Reiseberichte und vieles andere mehr. So schafft er aus genauen De tails eine fan- tastische Welt, faszinierend vor allem für jugendliche Leser, die ihm gebannt auf sei- nen imaginären Reisen folgen – und dieser Vorliebe oft genug auch noch bis ins Alter treu bleiben. Der Name Karl May ist ein Markenzeichen. Nun durfte er die Kos- tüme, die er sich wählte, einem großem Pu- blikum präsentieren. Bilder von Karl May, die ihn als Old Shatterhand oder Kara Ben Nemsi zeigen, wurden von seinem Verlag publik gemacht. Als „Werbeleiter und Pu- blic-Relations-Mann“67 seiner selbst küm- merte er sich „um praktisch alles, was mit den Buchausgaben seiner Werke zusam- menhing“68 und wurde geradezu „zum Pio- Karl May mit seinen Alter Egos Old Shatter- nier moderner Publicity-Methoden.“69 hand und Kara Ben Nemsi [Collage]

66 Claus Roxin: Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand. Zum Bild Karl Mays in der Epoche seiner späten Reise- erzählungen. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 4 (1974), S. 15–73, hier S. 34. 67 Heinz Stolte: [Verehrte Karl-May-Freunde.] In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft (1971), Nr.8, S.1f., hier S.1. 68 Ekkehard Bartsch: ‚Indem ich die Preisliste beilege...‘. In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft (1971), Nr. 8, S. 11ff., hier S. 12. 69 Roxin, Dr. Karl May (wie Anm. 66), S. 37.

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Damit passt er ganz in seine Zeit, die Ära des ,zweiten‘ Deutschen Reiches, wie man anschließend an das ‚erste‘, mittelalterliche zählte. Die Wirtschaft boomte nach der Reichsgründung 1871, bis sie im ‚Gründerkrach‘ zusammenbrach; die später so selbst- verständlichen Markenartikel etablieren sich, die Konsumenten-Werbung für diese Artikel beginnt in großem Ausmaß. Karl May hat dies alles auf die Literatur übertra- gen können, und er genoss dieses Rollenspiel. Er wollte eben nicht nur der arme und armselige Weberssohn aus dem Erzgebirge sein, sondern er wollte der Held sein, der zunächst gelebt hatte, was dann in den Büchern beschrieben wird. Und auch dieses heldische Ideal ist ein Ideal seiner Zeit, die die große Persönlichkeit überall suchte.70 Vollends im 20. Jahrhundert aber wird das, was Karl May gleichsam erkundet hat, zum stabilen kulturellen Muster. Mit dem Kino entsteht zugleich der Filmstar, also der Schau spieler, bei dem Person und Rolle zur Einheit werden, der bewundert wird als ‚Vorbild‘ im wörtlichen Sinn, und die Schauspielerin eignet sich selbstverständlich genauso als Verkörperung für alles, was ein Publikum sich wünscht und erträumt. Karl May ist in seinen guten Jahren ein Star der Unterhaltungsliteratur. Allerdings ist seine Doppelrolle noch viel tiefer von seiner Zeit geprägt, also dem aus- gehenden 19. Jahrhundert. Denn diese Betriebsamkeit bleibt immer auch „die Suche des Außenseiters nach der besseren sozialen Rolle.“71 Er ist gierig nach Erfolg, gesellschaft- licher Anerkennung und sozialer Sicherheit. Dies alles wird ihm zuteil, aber niemals verlässlich; so wie sein Leben einer ‚Autofiktion‘ gleicht, so eignet auch seiner sozialen Existenz etwas Kulissenhaftes an; der Argwohn, er werde dem Dasein des Hochstaplers trotz allen ‚Strebens‘ nie entkommen, peinigt ihn sein Leben lang – und, wie sich in den Anklagen gegen ihn zeigt, zu Recht. – Aber die Figur des Hochstaplers ist zugleich eine Kennfigur des Wilhelminischen Kaiserreiches. Thomas Mann, der damals eine litera- rische Laufbahn beginnt, die bis zum Nobelpreis führen wird, hat immer wieder ver- sucht, die geistige Summe aus den Epochen seines Lebens zu ziehen. Als den Roman des Kaiserreiches hatte er seit 1909 die erst 1954 erschienenen Bekenntnisse des Felix Krull geplant, freilich niemals völlig abschließen können. Felix Krull jedenfalls ist ein Krimi- neller, kein schurkischer Bösewicht indes, sondern ein charmanter und souveräner Hoch- stapler. Er erfindet sich Rollen und Lebensläufe – und ähnelt darin, laut Thomas Manns Diagnose, dem Schriftsteller. Der aber ist ein Repräsentant des Zeitalters selbst. Im Wil- helminischen Kaiserreich wurde schon den Zeitgenossen immer deutlicher, dass sich ein Riss durch die Kultur zog, dass hinter einer Fassade von Wohlstand, Heldentum und Größe vielleicht viel Hochstapelei verborgen war. An Kaiser Wilhelm II. selbst mit seinen

70 Vgl. Hans Otto Hügel: Das inszenierte Abenteuer. Die Sammlung Heinz Neumann [= Marbacher Magazin, 21] 1982, S. 10–32. 71 Schmiedt, Leben, Werk und Wirkung (wie Anm. 62), S. 41.

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großen Gesten und mit seinen schauspielerischen Auftritten in der Öffentlichkeit wollten seine Kritiker dies ablesen. 72 Der Kaiser ist erst durch den Ersten Weltkrieg gestürzt wor- den. Karl May aber, der sich mühsam gegen die Attacken seiner zahlreichen Gegner be- hauptet, wird selbst zur Romanfigur – gleichsam ein Nachbar von Felix Krull. Nachdem er mit seinen Jugendromanen aus Orient und Wildem Westen so ungeheuren Erfolg hatte, werden dem ‚Großschriftsteller‘ Karl May allerdings seine traurigen Aben- teuer in der sächsisch-böhmischen Armutsregion noch einmal zum Verhängnis; seine Vergangenheit holt ihn ein. Öffentlich beginnen Vorhaltungen und Zweifel an seiner erfundenen Wunschbiographie, und die unschöne Wahrheit wird aufgedeckt. Die Erben Münchmeyers legten, um vom Ruhm des Autors zu profitieren, seine Kolportage - romane gegen seinen Willen neu auf – Schundliteratur, der seine Feinde einen verderb- lichen Einfluss auf die Jugend bescheinigten. Cornelius Gurlitt, Rektor der Technischen Hochschule in Dresden, deckte auf, dass der Doktortitel, den Karl May sich seinerzeit zu Beginn seiner Schriftstellerlaufbahn zulegte, ihm nie verliehen wurde; vor allem der Journalist Rudolf Lebius begann in seinem Dresdner Blatt Sachsenstimme seit Ende 1904 die Vorstrafen Mays publik zu machen. May wehrte sich juristisch und mit viel- fältigen Stellungnahmen, auch Artikeln und Leserbriefen, die er unter Pseudonym an Zeitungen und Zeitschriften schickte, und schließlich mit seiner Selbstbiographie Mein Leben und Streben. Am 19.12.1911 wurde Lebius, der zunächst freigesprochen war, in einer Berufungsverhandlung vor dem Landgericht Berlin wegen der Beleidigung, May einen geborenen Verbrecher zu nennen, zu einer Geldstrafe verurteilt. Zu denen, die öffentlich gegen den ‚Schundautor‘ Karl May Stellung bezogen, gehörte auch Ferdinand Avenarius, Herausgeber der einflussreichen Zeitschrift Der Kunstwart in Dresden. 1910 notiert der junge Georg Heym, ein höchst talentierter, expressio- nistischer Lyriker und Rebell gegen die Welt der Etablierten:73

Ein Mann namens Avenarius, von Beruf Wart der Kunst, nimmt es sich heraus, in seinem Käseblatt für literarische Geheimratstöchter den Dichter Karl May an- zugreifen und ihn als einen Schundliteraten seinem Leserkreis zu denunzieren. Karl May, dessen großartige Phantasie natürlich von diesem wöchentlichen Mist- Fabrikanten niemals begriffen werden kann. Sein Hauptargument für diese Infe- riorität Mays ist, daß Karl May einige Jahre – hu, hu, als Schmuggler und Räuber gelebt habe – eine Tatsache, die den [sic] Dichter von vornherein das Wohlwollen eines anständigen Menschen sichert.

72 Vgl. Gisela Brude-Firnau: Die literarische Deutung Kaiser Wilhelms II. zwischen 1889 und 1989. Heidelberg: Winter 1996. 73 Georg Heym: [o.T.] In: Old Shatterhand läßt grüßen. Literarische Reverenzen für Karl May. Hg. u. mit e. Nach- wort v. Christian Heermann. Berlin: Neues Leben 1992, S. 170f., hier S. 170.

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Und Heinrich Mann, damals schon ein etablierter Schriftsteller, vermutete, nachdem die Vorwürfe irgendwelcher Missetaten aus seiner Jugend gegen Karl May bekannt geworden waren, dass dieser doch wahrhaft ein Dichter sein müsse.74 Die Sympathie für die Außenseiter, die Unbürgerlichen, diejenigen, die ausbrechen, kam nun bei den Intellektuellen, die ihm bislang kaum Respekt zollten, Karl May zugute; er ist seitdem nicht nur ein populärer Autor, sondern ein Phänomen, das die Vertreter der ‚Hochkultur‘ beachten; sie wollen an seinem Werk das erkennen, was wahrhaft ‚volks- tümlich‘ sein und damit die Isolation der Schriftsteller der ‚Moderne‘ durchbrechen könnte. Jan Skácel bezeugt diese Faszination auch für die tschechische ‚Moderne‘.

V. Abenteuer an der heimischen Grenze

Während dieses öffentlichen Streites entschloss sich Karl May auch zu einer Neu - publikation früher Werke, die weniger verfänglich waren als die grellen Kolportage- romane. Er dokumentiert damit, wie er am Beginn seiner Laufbahn der ‚Heimat‘ treu geblieben sei;75 den Vorsatz, „zunächst noch weiter an meinen Humoresken und erz- gebirgischen Dorfgeschichten zu schreiben,“ hatte er gefasst, „um der deutschen Leser welt bekannt zu werden und ihr zu zeigen, daß ich mich absolut nur auf gottes- gläubigem Boden bewegte.“76 Die Dorfgeschichte ist schon seit 1840 eine populäre Gattung. „Mag also der Leser“, so wendet sich Karl May in einer späten Einleitung nochmals in die Zeit seiner Dorfgeschichten zurück,77

getrost die Gassen Ernstthal‘s betreten oder an der Hand unserer Erzählung den Fuß nach einer halbverschütteten Höhle oder einem einsamen und primitiven Waldhäuschen lenken; sind auch keine welterschütternden Begebenheiten zu be- richten, so wird ihn doch die wohlthuende Erfahrung anmuthen, daß der Hauch des Himmels die Blüthenflocken der Poesie auch in die entlegenen Winkel trage, an welchen die gewaltige Fluth der Geschichte nur fern vorüberrauscht.

74 Vgl. dazu auch Ekkehard Bartsch: Karl Mays Wiener Rede. Eine Dokumentation. In: Jahrbuch der Karl-May- Gesellschaft 1 (1970), S. 47–80, hier S. 79. 75 Zur Publikation der Erzgebirgischen Dorfgeschichten, Karl Mays Erstlingswerken, vgl. Klussmeier/Plaul, Karl May und seine Zeit (wie Anm. 49), S. 490. Sein Verleger Fischer hatte einen Zweigverlag mit dem unverfäng lichen Namen „Belletristischer Verlag“ gegründet, in dem der Sammelband dann erschien. Karl May hat den vier älteren, bereits früher veröffentlichten Texten zwei neugeschriebene hinzugefügt. Als Sonderausgabe erschien der Band dann auch bei F. E. Fesenfeld als autorisierte Ausgabe Band 1. 76 May, Leben und Streben (wie Anm. 19), S. 139. 77 Karl May: Die Rose von Ernstthal [Faksimile-Abdruck]. In: Karl May auf sächsischen Pfaden (wie Anm. 17), S. 26.

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Entlegen und exemplarisch zugleich ist die Welt der Heimat; auch hier gibt es Schick- sale, würdig der Poesie. Und letztlich will May sich ohnedies nie von der ‚Heimat‘ abgewandt haben, auch dann nicht, als er „zu einem Genre“ griff, das „größte Ein- drucksfähigkeit besitzt, nämlich zur Reiseerzählung. Diesen Erzählungen wirkliche Reisen zugrunde zu legen, war nicht unbedingt notwendig“; vielmehr wollte – und durfte er, um authentisch zu sein – „meine Sujets aus meinem eigenen Leben, aus dem Leben meiner Umgebung, meiner Heimat […] nehmen […]. Aber ich mußte diese Sujets hinaus in ferne Länder und zu fernen Völkern versetzen, um ihnen die- jenige Wirkung zu verleihen, die sie in der heimatlichen Kleidung nicht besitzen.“78 Mit dieser Wendung vollendet Karl May seine Selbstinszenierung eines heimat - verbundenen, sich die Welt erobernden Volksschriftstellers, die einst mit Puppenspiel und Leihbibliothek begonnen hatte. Im Jahr 1903 fasst er etliche frühe Erzählungen zusammen unter dem Titel Erzgebir- gische Dorfgeschichten und schreibt zwei weitere dazu, Sonnenscheinchen und Das Geld- männle. Nicht aufgenommen wird der erste von ihm veröffentlichte Text Die Rose von Ernstthal, eine typische Kolportagegeschichte, die von 1874 bis 1875 in der Zeit- schrift Deutsche Novellen-Flora erschien; sie führt bereits in die Region, aber zurück in Mitte des 18. Jahrhunderts.79 „Es war für Sachsen eine böse Zeit“.80 Doch es ist offenkundig, dass der Erzähler mit Sachsen nicht sympathisiert. Der zum Glück letzt- lich machtlose Schurke, der sogenannte Junker, ist ein preußischer Deserteur, der mit den Sachsen kollaboriert. Der Held, schon mit Old-Shatterhand-Qualitäten, ist ein preußischer Offizier, der schließlich auch die Rose von Ernstthal, die schöne und züchtige Auguste, heimführt, nachdem deren lange getrennte Familie wieder vereint ist; die fast schon wunderbare Heilung von Augustes Augenleiden – durch ihren heim- gekehrten Vater, der ihr so gleichsam neu das Leben schenkt, löst ein, was Karl May – alias Dr. Heilig – ehedem hochstaplerisch vorgegaukelte, aber nie hätte vollbringen können. Der sächsische König aber, so unsolide wie sein Land, ist gestürzt und die Preußen besetzen Dresden. In den damals folgenden Geschichten dann, die in der Gegenwart spielen, hatte Karl May die konventionellen Schilderungen des dörflichen Lebens mit seinen tragischen wie auch heiteren Zügen konsequent mit Kriminalhandlungen verflochten – und dabei seine eigenen Erfahrungen genutzt. An seine Beutestrategie als Hochstapler er- innert in der „mit autobiographischen Details“ befrachteten Erzählung vom Gift - heiner (1879) sogar ein Marderpelz als ein „Attribut[] bürgerlichen Wohlstands.“81 Im

78 May, Leben und Streben (wie Anm. 19), S. 139. 79 Vgl. dazu Heermann, Ernstthaler (wie Anm. 32), S. 7. 80 May, Die Rose von Ernstthal (wie Anm. 77), S. 37. 81 Ekkehard Bartsch: Der Giftheiner. In: Karl-May-Handbuch (wie Anm. 18), S. 477ff., hier S. 477.

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selben Jahr 1879 erscheint Der Gichtmüller; der Müller, der ein Doppelleben führt – scheinbar lahm und krank, tatsächlich ein berüchtigter Schmuggler –, wird von seinem Sohn entlarvt. Und auch im Sonnenthau (1880) wird Heiner, der Sohn des Bauern Op- permann, seinen Vater selbst als ‚Grenzmeister‘, den berüchtigten Schmugglerkönig, entlarven.82 Zum Schema des Erzählens, wie es sich allmählich herausbildet, gehört die Vater- Sohn-Konstellation, selten einmütig, meistens von Konflikt, ja Betrug und Hinter- list geprägt. Komplementär zur Entlarvung der bösen steht die Rechtfertigung der verkannten guten Menschen. Der Irrtum der Welt, die sich von Geld und Ansehen täuschen ließ, wird dabei korrigiert und die wahre Rangordnung hergestellt: „Aber das Kleinsein schadet nichts, denn vor dem Herrgott sind die Allerkleinsten oft die Allergrößten.“83 Oft wird – gemäß einem im 19. Jahrhundert typischen Erzähl- modell – die Verschuldung der Eltern-Generation erst nach Jahrzehnten aufge- klärt und gesühnt; unschuldige Kinder setzen diesen Prozess zum obligatorischen ‚guten Ende‘ in Gang; gelegentlich gewinnt ein alt gewordener und verkannter Mann doch noch seine Jugendgeliebte; junge Helden werden durch die Ehe mit der ersehnten jungen Frau belohnt, die stets edlen Gemüts, zumeist auch zart und schön ist. Jene Störung aber, die vor dem ‚guten Ende‘ überwunden ist, ist häufig an der ‚Grenze‘ lokalisiert. Die Grenze, die das Gebirge durchzieht, gilt dabei als Markierung von Unsicherheit, Unruhe und Verbrechen; sie scheidet gleichsam auch Gut und Böse; denn die guten Menschen respektieren und schützen die Grenze, die bösen überschreiten sie gegen jede weltliche und göttliche Ordnung. Dabei schöpft May jenes Potential des Abenteuerlichen aus, das in den Erzählungen von den berühmten Räubern aufbewahrt war – dem Karasek oder dem Stülpner Karl oder den Helden der Räuberromane; vor allem die Schmuggler oder ‚Pascher‘, wie sie auch heißen, werden vom getäuschten Volk mit einem „Heldennimbus“ um - geben, ihnen wird Vorschub geleistet, und man überliefert sie nicht der wohl - verdienten Strafe.84 Sie spielen unter dem Mayschen Personal immer wieder eine bedeutende Rolle; sie agieren im Geheimen, führen ihr Doppelleben von biederem Bürger und Verbrecher. Sie zeigen gleichsam die dunkle Seite des Rollenspiels des Autors Karl May. Der Schmuggler ist gleichsam der gefährliche Zwilling des Hochstaplers; denn anders als dieser ist der Schmuggler gewalttätig. Der Dukatenhof mit dem Untertitel Eine Erzählung aus dem Erzgebirge von Karl May eröffnete im Jahr 1877 die Serie von erz-

82 Vgl. dazu auch Ekkehard Bartsch: Im Sonnenthau. In: Karl-May-Handbuch (wie Anm. 18), S. 478f., hier S. 479. 83 Karl May: Das Geldmännle. In: Ders.: Erzgebirgische Dorfgeschichten. Dresden-Niedersedlitz: Belletristischer Verlag 1903, S. 439–648, hier S. 441. 84 Ders.: Vergeltung. In: May, Dorfgeschichten (wie Anm. 83), S. 279–437, hier S. 287.

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gebirgischen Dorfgeschichten und findet dann noch ihren Platz in der späteren Sam- melausgabe. Karl May hat sich zu diesem Text bekannt. So ist auch Heinrich Graf, der Erbe des größten Hofes, dem sogenannten Dukatenhof, gewalttätig – er schlägt seinen Jugendfreund – und ein Schmuggler. Auch hier wird die Verschuldung der Eltern-Generation erst nach Jahrzehnten gelöst. Erst als die junge Generation heran- gewachsen ist, kommt es zur Krise. Der Schmuggel hat noch zugenommen: „Es ist seit Menschengedenken hier an der Grenze noch nicht so zugegangen wie jetzt; die Schwärzer treiben ihr Geschäft ja ganz ins Große und so öffentlich, als hätte kein Mensch was dagegen zu sagen.“85 Heinrich ist mit den Jahren zum großen Verbrecher, zum „Pascherkönig“86 geworden. Doch die alte Schuld wird gesühnt. Die Nachkom- men der verfeindeten Linien, Wilhelm und Emma, lieben einander und heiraten. Die alte Schuld wird gestanden, gesühnt und verziehen, und auch zwei bisher uner- kannte Hochstapler, die sich den Besitz des Schmuggelkönigs aneignen wollten, fallen in die Hand des Gesetzes und werden ihrer gerechten Strafe zugeführt. Die Erzählung Vergeltung 87 folgt in der späteren Sammlung dem Dukatenhof und führt die Geschichte fort. Der Pascherkönig war längst vom Grenzmeister abgelöst worden, und auch dieser wurde entdeckt „und hat ein schmählich Ende genommen.“88 Dem aber folgt der noch viel schlimmere Waldschwarze, ursprünglich, in der Erstveröffent- lichung von 1879, noch als Titelfigur Der Waldkönig.89 Es ist die bedeutendste der Schmugglergeschichten von Karl May. Hier zeigen sich bereits „Situationsschilderun- gen und Spannungsszenen, die sich in vielen Einzelheiten kaum noch von den spä- teren Reiseerzählungen unterscheiden.“ 90 Karl May hat die Gestalt des Waldkönigs 1884 noch einmal aufgenommen, als er in seinem großen Roman Der verlorene Sohn gleich mehrere Personen einer Schmugglerbande sich diesen Namen teilen lässt. In der Buchausgabe der Erzgebirgischen Dorfgeschichten wurde deshalb der frühere ‚Wald- könig‘ in einen ‚Waldschwarzen‘ umgetauft und die Erzählung mit dem neuen Titel Vergeltung versehen.91 – Im Sammelband von 1903 bilden diese Erzählungen der Grenzverletzung das Zentrum. Zunächst aber eröffnet Sonnenscheinchen – neu ge- schrieben – den Band. Des Kindes Ruf führt anschließend bereits ins Karl May wohl

85 Ders.: Der Dukatenhof. In: May, Dorfgeschichten (wie Anm. 83), S. 167–277, hier S. 216. 86 Ebd., S. 230. 87 Zur Druckgeschichte vgl. Ekkehard Bartsch: Der Waldkönig. In: Karl-May-Handbuch (wie Anm. 18), S. 473f., hier S. 473. 88 May, Vergeltung (wie Anmm 84), S. 286. 89 1881 auch mit dem Titel Unter Paschern, vgl. Bartsch, Der Waldkönig (wie Anm. 87), S. 473. 90 Roland Schmid: Nachwort. In: Karl May: Der Waldschwarze und andere Erzählungen. Hg. v. Euchar A. Roland/ Lothar Schmid/Bernhard Schmid. Bamberg/Radebeul: Karl-May-Verlag 1971 (= Gesammelte Werke; 44), S. 461–472, hier S. 472. 91 Vgl. Bartsch, Waldkönig (wie Anm. 87), S. 474.

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vertraute Gefangenenmilieu, wendet alle Not ins Positive und endet mit der Frei - lassung eines unschuldig Verurteilten. Wieder ist es – so wie im Sonnenscheinchen – ein Kind, das die Rettung bringt. So entspricht es auch den Genremustern, wie sie sich im 19. Jahrhundert ausbilden. Es sind die Frauen, die Kinder und die – deutschen – Helden, die das Gute in die Welt bringen. Sie kämpfen gegen „das Vorurteil“, das den Unschuldigen verurteilt, ihn verunglimpft – wie etwa in Der Einsiedel als „Teufels - bauer“ –, und dank ihnen muss „der böse Leumund [...] weichen [...], ob im guten oder durch Gewalt.“92 Dass sich jeglicher ‚böse Leumund‘ als Verleumdung erweisen sollte, ist wohl der sehnlichste Wunsch des Erfolgsschriftstellers Karl May im Kampf um seinen Ruf in der Öffentlichkeit. Täuschung und Verbrechen einerseits, Redlichkeit und Liebe andererseits struk- turieren die autobiographischen Aspekte in den Erzählungen neu und richten sie auf ein Wunschbild der Erlösung, des guten Endes für die Guten, aus. Die neu - geschriebene Schluss erzählung Das Geldmännle übersetzt diese Struktur ins Univer- sale. Mays Vorwort leitet eine solche Umdeutung des Erzählten ein. Die Geschichten sind nun keine Dorfgeschichten mehr, sondern Erkundungen des ‚Gebirges‘, in das hinauf er den Leser führen will:93

Du kannst getrost im Geiste mit mir gehen. Der Weg ist mir seit langer Zeit be- kannt. Ich baute ihn vor nun fast dreissig Jahren, und Viele, Viele kamen, die meine Berge kennen lernen wollten, doch leider nur, um sich zu unterhalten! Dass es auch Höhen giebt, in denen man nach geistgem Erze schürft, das sahen sie bei offnen Augen nicht, und darum ist es unentdeckt geblieben.

Denn was er in Wahrheit biete – und immer geboten habe –, sei ‚Höhenkunst‘, allegorische Erzählmodelle eines Aufstiegs zum ‚Edelmenschen‘.94 Er selbst aber habe seine Leser nur durch die Weiten ferner Länder geführt, um ihnen end- lich die ‚Höhenkunst‘ der Heimat, also die wahren ‚Schätze des Gebirges‘, zu er schließen, sie zu „geistig frohe[m] Forschen“ 95 anzuleiten. Von diesen Erzäh lun- gen sei zu lernen, „zum Sinn hinabzusteigen, der uns des Erzes Adern, der Tiefe Reich thum zeigt“96. Allerdings – so fügt er an – sei er doch auch verkannt wor-

92 Karl May: Der Einsiedel. In: May, Dorfgeschichten (wie Anm. 83), S. 97–166, hier S. 130 u. S. 124. 93 Ders.: Vorwort. In: May, Dorfgeschichten (wie Anm. 83), o. S. 94 Vgl. dazu ders.: Empor ins Reich der Edelmenschen. In: ‚Ich‘ (wie Anm. 9), S. 261–280. Karl Mays Rede, die er am 22. März 1912 in Wien hielt, findet sich nebst einer ausführlichen Dokumentation auch abgedruckt bei Ekkehard Bartsch, Karl Mays Wiener Rede (wie Anm. 74). 95 May, Vorwort zu Dorfgeschichten (wie Anm. 93), o.S. 96 Ebd.

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den, kehre daher jetzt „ins Vaterland zurück, um jenen alten Weg aufs Neue zu be treten.“97 Der zentrale Ort der Geldmännle-Erzählung ist ‚das Bergle‘; eine humoristische Ein- leitung schildert es als Resultat einer misslungenen Weltschöpfung antiker Götter, die alle jene Erze zusammenmischen wollten, die sich dann ins Erzgebirge und seine Nachbarregionen verteilen: Auf dem Bergle aber wohnen jetzt die guten Menschen, jene, die wie selbstverständlich dem ‚höheren Leben‘ zugetan sind. Ihr Gegenspieler ist der Musterwirt, musterhaft allenfalls im Bösen, denn er ist incognito jener be- rüchtigte Geldfälscher, das ‚Geldmännle‘. Er verwandelt Gold – also gültigen Wert – in wertloses Papiergeld. Damit verkörpert er – in dem universalen Rahmen der Welt ums ‚Bergle‘ – das Prinzip betrügerischer Geldwirtschaft. Verbündeter derer auf dem Bergle ist der Dorflehrer Bernstein, der zudem auch Schriftsteller ist und von allen geachtet wird – Karl Mays eigentliches Wunschideal einer bürgerlichen Existenz.98 „Ich bin ein Kind des Hungers und der Not; darum schreibe ich für mein liebes, armes Volk, für den hungernden Arbeiter!“; das Buch, das Bernstein, der Lehrer, ge- schrieben hat, trägt den Titel: Die Arbeiterarmut und das unlautere Kapital.99 Es ent- spricht dem mora lischen Antikapitalismus des späten Karl May. Im Buch wird der tüchtige Lehrer im königlich-sächsischen Ministerium hochgeschätzt; aus dem wi- dersetzlichen Karl May ist offenbar ein loyaler Sachse geworden. – Der Musterwirt wird von dem Neubertbauer, den er betrügerisch um Hab und Gut gebracht hat, vor das Gericht seines Gewissens berufen; der Neubertbauer richtet sich selbst, doch ein Teil der Persönlichkeit seines Feindes verfällt ihm. Denn unter dem Druck seiner Ver- brechen gerät der Musterwirt in eine Bewusstseinsspaltung, begeht zuletzt, nach um- fassender Beichte und Wiedergutmachung seiner Verbrechen, ebenfalls Selbstmord. Der Persönlichkeitsteil ‚Musterwirt‘ ist das Muster aller niedrigen Affekte, die über- wunden werden müssen, indem er sich der Anklage des ‚Neubertbauern‘ in ihm selbst stellt: „Wer diesen Geist, den doppelten, begreift, der darf den Schatz und dann auch selbst sich heben!“, erklärt Karl May in seinem Vorwort.100 So zeichnet sich in der Schizophrenie des Musterwirts die „Geschichte einer privaten Erlösung“ und alle - gorisch der „allgemeine[] Kampf des Bösen mit dem Guten im Menschen ab“, der schließlich, wie es sich Karl May für sein eige nes Leben wünscht und wie er es als Vision für die Menschheitsentwicklung in seinem späten Werk gestaltet hat, in der Erhebung zum Guten mündet101 – und handle es sich auch nur um den Aufstieg auf

97 Ebd. 98 Reinhard Tschapke: Das Geldmännle. In: Karl-May-Handbuch (wie Anm. 18), S. 482–486, hier S. 485. 99 May, Geldmännle (wie Anm. 83), S. 534. 100 May, Vorwort zu Dorfgeschichten (wie Anm. 93), o.S. 101 Vgl. Tschapke, Das Geldmännle (wie Anm. 98), S. 487.

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ein ‚Bergle‘. – So wie die Landschaft allegorisch ist, so wollen auch die Grundlinien der Handlung entziffert werden. Es geht um Geld und Armut, letztlich aber um den wahren Reichtum, der eben nicht im Materiellen, sondern nur in den ideellen Gütern zu finden ist. Das war die Lebensbotschaft für den der Armut entkommenen Erfolgs- schriftsteller Karl May. Jenseits der Welt des Geldes, in der er selbst trotz seines Er- folges so vielfältigen Widrigkeiten ausgesetzt war, galt es den wahren „Schatz“ der Persönlichkeit zu heben und sich anzueignen. Dann war die Ansiedlung auf dem Bergle möglich, und dann war die ‚Höhenkunst‘, wie sie viele Zeitgenossen gerade auch in der Heimatkunstbewegung* anstrebten, erreicht. Seine eigene Lebensverfehlung im Grenzgebiet hatte Karl May schon früher, ehe seine persönliche ‚idealistische‘ Weltallegorie ganz entwickelt war, zurechtgeschrie- ben, in einer Reiseerzählung Weihnacht!, die – in Böhmen entstanden – zu Beginn in Böhmen spielt. – Nach Böhmen ist Karl May immer wieder einmal zurück- gekehrt, so noch kurz vor seinem Tode 1912 zu einer Kur in Jáchymov (Joachims- thal), jenseits des Fichtelberges. Im Jahr 1897 war der berühmte Schriftsteller auf der Durchreise, kehrte dann im Folgejahr zurück für einen Arbeitsaufenthalt in der Sommerfrische Birnai an der Elbe (Brnà) – unweit von Aussig (Ústí nad Labem); dort in der ‚Pension Herzig‘ schrieb er jene Reiseerzählung Weihnacht!: „Angeblich ließ er sich ein Zimmer leerräumen und als indianische Blockhütte einrichten, die Wände mit Waffen geschmückt. Umgeben mit zahllosen Landkarten und Plänen, schrieb er Tag und Nacht bei Petroleumbeleuchtung“,102 so will es zumindest die Autorenlegende. Mit der ‚böhmischen Weihnacht‘ jedenfalls ist das Leitmotiv der Nächstenliebe und ‚Erlösung‘ sogleich anfangs in die Erzählung eingeführt. Not und Gefährdung der Menschen aber sind letztlich Teil einer vom Geld beherrschten Welt. – Zwei Gymnasiasten – einer von ihnen strebsam, integer, als Dichter und Komponist begabt, namens Karl May – begeben sich auf eine Winterreise entlang der böhmi- schen Grenze. Sie sind keine kriminell sich verstellenden, sondern souveräne offene Grenzgänger, pendeln „stetig oder vielmehr unstetig zwischen Österreich und Sach- sen hin und her“103 – und dies aus gutem Grund. Die „Ursache hieß ‚Kurs‘, Geld- kurs nämlich.“104 Sie nutzen die Kursschwankungen zwischen der sächsischen und der österreichischen Währung, machen kleine Gewinne und füllen so ihre Reise- kasse auf. So reisen sie denn „als akademisch gebildete Kapitalisten“,105 und ihr Auf-

102 Hecker/Steinmetz, May in Böhmen (wie Anm. 6), S. 221. 103 Karl May: Weihnacht! In: Ders.: Reiseerzählungen. Freiburg i. Breisgau: Fehsenfeld 1897 (Gesammelte Reise - erzählung; 24), S. 21. 104 Ebd. 105 Ebd., S. 27.

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treten hinterlässt, wie sie glauben, überall Eindruck: „Diese Böhmen werden alles, was wir thun, für vornehm halten, wenn sie es auch nicht begreifen können.“106 Nur gelegentlich erfindet sich der eine – nicht die ‚Karl May‘-Figur – auch die Identität eines Schmuggler-Hauptmanns.107 Diese humoristische Passage mündet dann ins Ernste während des Aufenthaltes in einem Gasthaus in Falkenau (Sokolov) bei einem freundlichen Wirt, der auch einer notleidenden Familie, die auf dem Weg zum Aus- wanderungshafen Bremen ist, ohne Geld weihnachtliches Obdach gewährt, ja, mit ihnen das Weihnachtsfest feiert. Und auch die beiden Gymnasiasten be weisen ihr gutes Herz, helfen den geschwächten Reisenden, die der Unbill der Jahreszeit nicht mehr gewachsen wären, uneigennützig weiter. Nach diesem humo ristisch-idyllischen und zugleich ernsten böhmischen Weihnachtsabenteuer vergeht eine „Reihe von Jahren“; die Zeit hatte den Ich-Erzähler in ihre „strenge Schule genommen und aus dem uner- fahrenen Knaben einen Mann gemacht. Aber die Härte, mit welcher“ das Schicksal ihn „behandelte, war nur eine scheinbare, denn ich hatte mir ja meinen Weg selbst vorgezeichnet und neben all den Anstrengungen und Entbehrungen, welche mich tra- fen, auch Freuden und Genugthuungen gefunden, die mir bei einem anderen, ruhi- geren Lebensgange versagt geblieben wären.“108 Noch einmal verwandelt diese Erzäh- lung das böhmisch-sächsische Trauma des Karl May ins Wunschbild eines geglückten Lebens. Der Erzähler ist kein gedrückter Besucher einer niederen Bildungsanstalt, son- dern ein Gymnasiast. Seine musische Begabung wird anerkannt, sein Weihnachtsge- dicht, das den ersten Preis in einem Wettbewerb gewinnt, wird zum Leitmotiv der Er- zählung, die schließlich nach weiten Wegen durch den Wilden Westen glücklich endet mit dem Zitat der Weihnachtsbotschaft aus dem Evangelium, in Verse gesetzt. So hebt sich die individuelle Poesie auf in der Poesie der Weihnachtsbotschaft des wahren Christentums, das idealisierend genrehaft als eine Religion der Liebe und Versöhnung gezeichnet wird. Aber auch die Gesetze des Geldes, Not und Armut dürfen nicht durch Fälschung umgangen, sondern sollen durch die Güte freier Menschen und die Gaben eines gütigen Schicksals überwunden werden. Dem, der es verdient, bringt die Poesie Reichtum, ohne dass er verbissen darum kämpfen müsste. Das Preisgeld für jenes Weihnachtsgedicht des Gymnasiasten ‚Karl May‘ übertrifft alles, was sich mit müh - seliger und ent würdigender Arbeit verdienen ließe. Gleichwohl hält der vom Schicksal Beschenkte weiterhin den bürgerlichen Werten die Treue, verfällt nicht der Gier – wie die Schmuggler und Geldfälscher im Grenzgebiet. Er schenkt weiter, was ihm gegeben wurde, an die, die noch mehr Not leiden, und er verschwendet nicht, sondern bleibt

106 Ebd. 107 Vgl. ebd., S. 59. 108 Ebd., S. 117.

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sparsam; nur deshalb weiß er auch die trennende Grenze, die sich durch Karl Mays Herkunftslandschaft zieht, die ein Ort des Verbrechens und des unredlichen Geld - erwerbs sein könnte, klug für ein wohlverdientes Einkommen zu nutzen. Und wer so in der Jugend begann, wird zum Mann, der sich sein Schicksal wählen kann, der nicht Objekt staatlicher Mächte ist, dem selbst die Schmerzen und Leiden des Lebens durch freie Entscheidung zugehören. Die ‚Persönlichkeit‘ garantiert den festen Halt im Rol- lenspiel, das der Erzähler Karl May in all seinen Büchern so virtuos entfaltet. Alle Wechselfälle des Lebens setzen eine ungebrochene, starke Persönlichkeit voraus. Das ist das Wunschbild des gesamten 19. Jahrhunderts. „Höchstes Glück der Erden - kinder“, so las man es bei Goethe, „[s]ey nur die Persönlichkeit“.109 Im Lauf des Jahr- hunderts wird die aktive, lebensgestaltende Macht des Einzelnen und insbesondere des Mannes betont. „Männer machen die Geschichte“, schreibt der preußische His- toriker Heinrich von Treitschke.110 Dies alles sind aber Symptome einer Anfechtung. Die Geschichte scheint sich immer mehr nach Gesetzen und Strukturen zu ent - wickeln, die anonym sind, die der Einzelne nicht mehr erfassen und meistern kann. Man gewinnt Einblick in Prozesse, welche sich nicht lenken lassen, sondern sich voll- ziehen. Karl Marx, dessen Lehren in der frühen sozialis tis chen Bewegung immer ein- flussreicher werden und ausgemacht staats gefährdend sein sollen, entdeckt eherne Gesetze der Entwicklung, gegen die sich das Kollektiv der Arbeiterschaft erheben müsse, um sie zu brechen. Dies steht der Ideologie der Persönlichkeit entgegen. Karl May ergreift sie aus seiner Lebenserfahrung, in der sich manches von diesen über- greifenden Prozessen spiegelt. Was es bedeutet, der Armut – als deren Resultat – aus- geliefert zu sein, ohnmächtig zu sein, – das hatte er ja erfahren. Das ‚erlösende‘ Gegenbild der geschichts- und lebensmächtigen Persönlichkeit aber war dann eben nicht nur sein Wunschbild, sondern das vieler, die analogen, im Einzelfall aber weni- ger drastischen Erfahrungen unterworfen waren. Der Autor Karl May hat exemplarisch gelebt. Dass er aber einst gegen die herrschen- den Normen verstoßen hatte, war ihm trotz seiner Wandlung nicht verziehen. Und doch war damit in diesem Leben in extremer Weise wirklich geworden, was viele be- drohte und was viele sich wünschten: die Erfahrung der persönlichen Ohnmacht und die befreiende Fantasie, dass sich alles zum Besseren wenden könne, wenn menschliche Werte und Stärke der Persönlichkeit in eins fielen in einem Menschen, den man dann durchaus als Held bezeichnen durfte – auch wenn er aussah, wie einer von uns.

109 Johann Wolfgang von Goethe: West-östlicher Divan. Hg. v. Hendrik Birus. Frankfurt a. Main: DKV 1994 (= Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche; 3,1), S. 84. 110 Vgl. Heinrich von Treitschke: Die Aufgabe des Geschichtsschreibers. Vorbemerkung bei Übernahme der Redak - tion der Historischen Zeitschrift [1895]. In: Ders.: Schriften und Reden zur Zeitgeschichte. Meersburg: Hendel 1929, S. 787–790, hier S. 788.

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Karl May in seiner Bibliothek in der Villa Shatterhand, dem heutigen Karl-May-Museum in Radebeul [undatiert]

VI. Fremdinszenierung: Karl May als Erich Loests Romanfigur

Der Schriftsteller Erich Loest (1926–2013) hat dem erfolgreichen sächsischen Schrift- steller Karl May einen eigenen Roman gewidmet; im Jahr 1980 erscheint Swallow, mein wackerer Mustang. In Mittweida, wo der Delinquent Karl May vor Gericht ge- standen hatte, wurde Loest am 24. Februar 1926 geboren; er war viele Jahre in Leipzig schriftstellerisch tätig, wurde schließlich nach langer Bespitzelung durch die Staatssi- cherheit aus der DDR wegen seiner unbotmäßigen Bücher, die den grauen DDR- Alltag unbeschönigt darstellten und die Gründe in den Machtverhältnissen erkennen ließen, ausgewiesen. Loests Karl-May-Roman hat eine lange Vorgeschichte; das Thema hat den Autor be- schäftigt: Schon in der Erzählungssammlung Pistole mit sechszehn befindet sich eine Karl-May-Novelle, die als erstes Kapitel später in den Roman mit aufgenommen wird.111 – Loest erklärt: „[...] mich hat der Mensch Karl May schon immer unge-

111 Vgl. Erich Loest: Karl-May-Novelle. In: Ders.: Pistole mit sechzehn. Hamburg: Hoffmann und Campe 1979 [sowie: München: dtv 1991, S. 7–33]. – Vorher schon veröffentlich in: Ders.: Etappe Rom. 10 Geschichten. Berlin: Verlag Neues Leben 1975, S. 5–38. Zur Umarbeitung der Novelle vgl. Ralf Schönbach: Karl May – So war sein Leben?! Die Karl-May-Romanbiographien. In: Die Horen 40 (1995), H. 178, S. 81–103, hier S. 85f.

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wöhnlich fasziniert. Wir haben viele Gemeinsamkeiten. Ich bin Sachse wie er, nicht weit von seinem Heimatort und unter dem gleichen Sternzeichen geboren, er am 25., ich am 24. Februar; ich in Mittweida, wo er verurteilt wurde. Ich habe wie er sieben Jahre im Knast gesessen. Und wenn es so etwas gibt, könnte ich mir vorstellen, daß ich in meinem früheren Leben Karl May gewesen bin [...]“.112 Einiges also verbindet Loest mit diesem sächsischen Schriftsteller-Vorfahr – vor allem der tiefe Normen- konflikt in seinem Leben. Noch in der letzten Phase des Weltkrieges wurde Loest Soldat, war verführt vom nationalsozialistischen System. Nach der Gründung der DDR wählte er entschieden einen anderen Weg, engagierte sich für die DDR, in der Hoffnung, dies sei ‚das bessere Land‘. Er geriet allerdings mit den Verhältnissen im realen Sozialismus schnell in Konflikt. Ende 1957, nach der Niederschlagung des Ungarnaufstandes*, wird auch Erich Loest wegen „konterrevolutionärer Gruppen- bildung“ verhaftet und zu siebeneinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt.113 Nur die letzten sechs Monate wurden ihm anlässlich des 15. Jahrestages der DDR erlassen, allerdings stand er noch zwei Jahre unter Bewährung. Schriftsteller und Gefängnis – das ist ein Thema, dem das 20. Jahrhundert ganz neue Aspekte hinzufügen wird, als Schriftsteller in Diktaturen nicht nur verfolgt, sondern auch eingekerkert und ermordet wurden. Erich Loest lässt seinen Karl-May-Roman mit jener leicht überarbeiteten, bereits veröffentlichten Gefängnisszene in Waldheim beginnen; dies ist der prägende Ort für den künftigen Schriftsteller, und diese Szenerie bedeutet auch den Schaffensimpuls, zu dem Loest wieder zurückkehrt. Was vorher geschah, wird in einer ersten Rückblende zusammengefasst. Der Leser muss keine Vorkenntnisse mitbringen; er wird sorgfältig geführt. Loest nennt die wesentlichen Fakten aus Karl Mays Biografie, aber wer schon etwas von Karl May weiß, etwas von ihm oder über ihn gelesen hat, kann diesen Romananfang doch als Gedächtnisstütze nutzen. Diese Rückblenden zeigen, wie schon der junge Karl May gefangen war in bedrückenden Verhältnissen, wie er davon träumt, auszureißen – „nach Spanien, dem Land der edlen Räuber, der Helfer aus der Not“114 –, wie er sich stattdessen immer tiefer in die sächsische Not verstrickt:115

Alles, was Karl May geschrieben hat […], immer ist es Kerker-Literatur geblie- ben, mit ihren Ausbruchs- und Freiheitsphantasien ohne gleichen, die in trivialen oder pathetischen Bildern, in den abenteuerlichen Handlungen oder Lagerfeuer-

112 Erich Loest am 8.4.1986 in der Fernsehsendung Autoren-Scooter. Text nach: Inform. Beilage der Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft (1986), Nr. 68, S. VIII. 113 Vgl. dazu auch Erich Loest: Durch die Erde ein Riß. Ein Lebenslauf. München: dtv1990, S. 309–365. 114 Karl May, Mein Leben und Streben (wie Anm. 19), S. 79. 115 Gert Ueding: Karl Mays Ritt über den Salzsee. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.10.1980.

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dialogen, in Religionsgesprächen oder Landschaftsschilderungen wie gebannt ein einziges Thema verfolgen, das Leben als immerwährende Fesselung, der Mensch als Gefangener, der auf Befreiung sinnt und in seinem Inneren die unendlichen Weiten der Wüsten und Prärien entdeckt.

Er mag wie ein Mithäftling in Loests Roman, der über den Phantasten spottet, mit seinen Gedanken „in Böhmen oder sonst wo“116 sein, während er die Gefangenen - arbeit verrichtet und Zigaretten wickelt. Aber seine Träume werden ihm scheinbar einen Ausweg aus dem Kerker des Lebens öffnen. „Ich habe meine Träume nach außen gestülpt“,117 lässt Loest ihn sagen, und „Flunkern macht Spaß“.118 Und viel- leicht erweist sich das Schreiben als Therapie. Der Gefängnispfarrer Kochta meint jedenfalls: „May schreibt das Schlechte aus sich heraus.“119 – Aber der Gefangene ist zugleich der, der von Angst getrieben wird. Wie der Schriftsteller seine Angst über- winden kann, ob er sie überwinden kann, – das ist das eine Leitthema in Loests Karl-May-Roman. Verbunden ist Loest – zweitens – mit Karl May auch durch eine „später bereute ‚Kolportagephase‘“;120 die zweite Leitfrage ist die nach dem Ethos der Kunst für den Schriftsteller. Erich Loest hatte, um sich trotz der Repressionen als Schriftsteller in der DDR halten zu können, zwischen 1966 und 1975 zahlreiche Kriminal- und Abenteuerromane geschrieben, und er hatte eine „allzu lässige Haltung gegenüber Stil fragen.“121 Hier ist auch darauf zu verweisen, dass beide Autoren Abenteuer - romane für die Jugend bearbeitet haben – Karl May den Waldläufer von Gabriel Ferry, Erich Loest den Lederstrumpf von James Cooper. Doch die dritte und ent- scheidende Frage ist die nach der Wahrheit der Literatur, einer Wahrheit, für die man auch das Gefängnis auf sich nimmt – und die auch jede Nachlässigkeit des Schreibens verbietet. So enthält dieser Roman gleichsam einen „Essay über Literatur und Leben, Wahrheit und Wahrscheinlichkeit, Fiktion und Lüge.“122 An „Sym - pathie für den immer scheiternden Phantasten, der eigenen Vergangenheit zu ent- kommen“, fehlt es Loest nicht;123 er hat jene Ähnlichkeiten zwischen ihm selbst

116 Erich Loest: Swallow, mein wackerer Mustang. Karl-May-Roman. München: dtv 1992, S. 19. 117 Ebd., S. 334. 118 Ebd., S. 185. 119 Ebd., S. 23. 120 Dieter Sudhoff: Erich Loest in Paderborn. In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft (1985), Nr. 65, S. 25–37, bes. S. 27. 121 Ebd. 122 Ueding, Karl Mays Ritt über den Salzsee (wie Anm. 115). 123 Vgl. dazu Manfred Behn/Jan Strümpel: Erich Loest. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwarts- literatur 10/12, s.v.

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und dem „sächsischen Meisterfabulierer“124 auch einmal astrologisch erläutert, denn vom Sternzeichen der Fische sage man, „sie seien feinfühlig, einfallsreich, wenn auch nicht besonders standhaft […] leider auch vor mißlichen Einflüssen nicht ge- feit.“125 – Und Loest geht noch weiter auf die Ähnlichkeiten zwischen ihm und May ein:126

Karl May war Sachse und Fisch, mit Schläue und kleinen Lügen, die sich schließ- lich zur großen Lebenslüge verdichteten, alles, was er geschrieben habe, sei selbst erlebt, baute er sich ein Gedankenimperium, am Ende fiel es krachend in Scher- ben. Ich weiß, wovon ich schreibe, ich bin Sachse, und Fisch bin ich außerdem.

Über die ‚misslichen Einflüsse‘ auf seinen eigenen Lebenslauf versucht Erich Loest sich am Modell des sächsischen Erfolgsschriftstellers klar zu werden. Parallel zu dem Karl-May-Roman schrieb er, von 1972 an in ersten Versuchen, an seiner Autobiogra- phie Durch die Erde ein Riß; sie wird 1985 im Exil erscheinen. Denn Loest selbst hatte seine widersetzliche Haltung gegen die Diktatur nicht aufgegeben, hat für die Wahr- heit seines Lebens gekämpft. Das Urteil gegen ihn bleibt bestehen. Anträge auf voll- ständige Rehabilitierung werden immer wieder abgelehnt. Schließlich tritt Loest 1979 aus dem Schriftsteller-Verband der DDR aus, erlebt weitere Repressionen und reist im Herbst 1981 mit einem Dreijahresvisum in die Bundesrepublik Deutschland, ‚nach Westen‘, aus. Diese Visa wurden von den DDR-Behörden nicht zuletzt deshalb ausgestellt, um sich missliebiger Autoren zu entledigen. Man hoffte, sie würden nicht zurückkehren, und man könnte sie dann zumindest als Verräter an der DDR, die sie ja nicht aus dem Land getrieben habe, darstellen. Den Karl May, der seine Hochstapelei in die Literatur übersetzte und sich mit den Verhältnissen arrangierte, hat Erich Loest denn auch nicht nur als Verwandten, sondern auch als Gegenfigur erkannt. Loest hebt selbst „als [sein] eigene[s] beson- dere[s] Verdienst hervor“, dass er „in seinem Roman das May-Bild um die politische Dimension erweitert“127 habe, denn die Herkunftsregion Karl Mays sei eine beson- ders rote Gegend. May selbst aber habe sich von seiner Herkunft abgewendet und sie ein Leben lang verleugnet, um sich seinen sozialen Aufstieg abzusichern.128 Aber gerade unter politischer Perspektive hält Loest auch „Distanz zum Prediger May“.129

124 Vgl. Loest, Der Zorn des Schafes (wie Anm. 15), S. 353. 125 Ebd., S. 18. 126 Ebd., S. 19. 127 Sudhoff, Erich Loest in Paderborn (Anm. 120), S. 34. 128 Schönbach, Karl May (wie Anm. 111), S. 91f. 129 Vgl. Behn/Strümpel, Erich Loest (wie Anm. 123).

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Sein eigener Roman selbst ist ja schon ein Akt der Widersetzlichkeit.130 Denn in der DDR galt Karl May als „dekadent-imperialistischer Schriftsteller“.131 Er habe mit seiner Verherrlichung des deutschen Heldentums, mit dem nicht nur latenten Rassismus, der seinen Texten unterliege, dem Faschismus und dem Dritten Reich vorgearbeitet; Karl May wurde in der DDR totgeschwiegen“, berichtet Loest:132

Ich versuchte das Tabu zu brechen, über seine Zuchthaustage in Waldheim fa- bulierte ich – die Novelle erschien in einem Geschichtenband. Dann baute ich meine An-fänge zum Roman aus. Die Verlagsleitung hatte immer nur einen Ein- wand: Wenn wir Ihren Roman bringen, werden die Leser auch wieder Bücher von Karl May verlangen! Und das wollten Verlagsleiter und Cheflektor auf gar keinen Fall. Darüber mußten ein paar Jährchen ins Land gehen, und inzwischen drucken und drucken sie den ehemals Verfemten in Großauflagen auf mise - rablem Papier und sahnen Kaufkraft ab – was schert sie ihr Geschwätz von gestern.

Als nach einigen Schwierigkeiten sein Karl-May-Roman im Verlag Das Neue Berlin erschien, war der Erfolg beträchtlich. Die erste Auflage von 20.000 Exemplaren in der DDR soll nach dem Zeugnis von Erich Loest an einem Nachmittag vergriffen gewesen sein.133 Insgesamt kam es 1981/82 zu einer Revision im Urteil über Karl May; jetzt betonte man Karl Mays Pazifismus und räumte ihm einen Platz im ‚kulturellen Erbe‘ auch der DDR ein. Zudem aber ist dieser Roman Loests „über das Leben eines Landsmannes und Schrift- steller-Kollegen, zugleich eine psychologische Studie über einen Außenseiter im wilhelminischen Deutschland, immer exakt recherchiert“.134 Später wird Loest – mit Romanen wie Völkerschlachtdenkmal (1984) und Nikolaikirche (1995) – sein umfangreiches bis dahin erschienenes Werk in eine neue Perspektive rücken: Es sind Kapitel einer deutschen Chronik aus sächsischer Sicht – und sein Karl-May-Roman hatte ihr vorgearbeitet.

130 Zu Karl May in der DDR vgl. Ralf Schnell: Die Schwierigkeit zu erben. Karl Mays Abenteuer in der DDR – Materialien zu einer Rezeptionsgeschichte. In: Karl May, der sächsische Phantast. Studien zu Leben und Werk. Hg. von Harald Eggebrecht. Frankfurt a. Main: Fischer 1987, S. 264–297. 131 Schönbach, Karl May (wie Anm. 111), S. 85. 132 Loest, Der Zorn des Schafes (wie Anm. 15), S. 170. 133 Vgl. Schönbach, Karl May (wie Anm. 111), S. 86. 134 Ueding, Karl Mays Ritt über den Salzsee (wie Anm. 115).

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Karl Mays phantastische Werdejahre

Glossar:

Moderne: die hier bezeichnete tschechoslowakische Moderne war eine Generation tschechoslowakischer Dichter um Jan Skácel (1922–1989), Miroslav Holub (1923– 1998) und Milan Kundera (*1929), die den literarischen, ästhetischen und phi - losophischen Strömungen Frankreichs folgte und auch die deutschsprachige ,Moderne‘ in einem Dialog der Dichter zu Wort kommen ließ | Jaroslav Seifert: tschechischer Schriftsteller, Journalist und Übersetzer aus Prag (1901–1986) | Samisdat: Verbreitung nicht systemkonformer Literatur über inoffizielle Kanäle in der UdSSR und den osteuropäischen Ländern | Autobiographie: Beschreibung der eigenen Lebensgeschichte aus rückblickender Perspektive | edler Räuber: häufige Hauptfigur in Räuberromanen, die zwar außerhalb der Gesetze steht, aber die Rolle des Beschützers der Armen und Rechtlosen innehat | Repertorium: Verzeichnis der gesammelten Gegenstände, Manuskripte u.ä. in einem Archiv | Heimatkunst - bewegung: literarische Bewegung, die Ende des 19. Jahrhunderts in Opposition zum großstädtischen Literaturbetrieb und Wiens entstand und Heimat, Bauerntum und dörfliches Leben als Alternative zur modernen Zivilisation pro- pagierte | Ungarnaufstand: Demonstrationen für demokratische Reformen am 23. Oktober 1956 in Ungarns Hauptstadt Budapest weiteten sich zu einem natio- nalen Aufstand aus, der nach der Bildung einer reformkommunistischen Regierung und dem Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt vom 4. bis 15. November 1956 von sowjetischen Truppen niedergeschlagen wurde

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Ritter des Humors – ,Die Schlaraffia’

Martin Krsek

Ritter des Humors – ‚Die Schlaraffia’

Ein Geheimbund mit einem internationalen Netz von Untergruppierungen, deren Mitglieder sich besonderer Titel rühmen, rituelle Gewänder tragen und streng die vorgeschriebenen Zeremonien einhalten. Bei einer solchen Beschreibung könnte man meinen, dass es sich bei der ‚Schlaraffia‘ um eine großangelegte Verschwörung han- delt, wie man sie beispielsweise den Freimaurern immer wieder unterstellt. Aber die Mitglieder des abenteuerlichen und spaßigen Bundes, der vor über 150 Jahren in Böh- men entstand und heute in verschiedenen Winkeln der Welt gepflegt wird, vor allem aber in Deutschland, würden über einen derartigen Vergleich nur von Herzen lachen. Die Schlaraffen sind Ritter, deren Burg die Kneipe und deren Helm eine Narrenkappe ist, ihr Gott ist ein Uhu, und in ihrer Lebenseinstellung vertreten sie den Glauben an den Humor:1

Sie dichteten und sangen, hörten Vorträge und musikalische Scherze, trugen unter sich rhetorische Wettkämpfe aus und verliehen sich hervorragend aussehende Orden und Medaillen, die aber nur innerhalb der Schlaraffia auch eine Bedeutung hatten. Zu den Zusammenkünften trugen sie eine besondere Montur, die aus einer mit Orden geschmückten Narrenkappe und einer breiten, vor erkämpften Aus- zeichnungen strotzenden Schärpe bestand. Der Rittersaal ihrer Burg war mit brei- ten Schwertern und langen Lanzen geschmückt, die bei bestimmten Gelegenheiten gezückt wurden.

So erinnert sich der Schriftsteller Bedřich Rohan, Sohn des Schlaraffenritters ‚Egal der Appetitliche‘ – im zivilen Leben der praktizierende Arzt Oskar Rothbaum aus Aussig (Ústí nad Labem) – an ein Treffen der Schlaraffen in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Geschichte der ‚Schlaraffia‘ beginnt mit dem Jahr 1859. In der eigenen Historio- graphie der Schlaraffen gibt es zwei Varianten der Zeitrechnung. Einerseits lässt man die Zeitrechnung mit dem Jahr 1559 beginnen, anderseits beginnt der Kalender mit dem Jahr eins des Uhus, also „Anno Uhui 1“.2 Begonnen hatte alles in Prag im Verein ‚Arcadia‘, in dem Künstler und Kunstliebhaber verkehrten. Diese Gesellschaft spielte

1 Bedřich Rohan: Aussiger Schoulet. Geschichten und Erinnerungen eines alten Aussigers. Ústí nad Labem 2001, S.76f. 2 Kateřina Hlavičková: Schlaraffia Budovicia.Bakalářská práce na FF Jihočeská univerzita. České Budějovice 2003, S. 11.

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auf den römischen Künstlerbund ‚Ar - cadia‘ an, der schon seit 1609 bestand. Dieser bekannte sich zum Erbe des al- ten Griechenlands, indem sich die Mit - glieder alt griechische Namen gaben und den Kalender nach den Olympiaden be - rechneten. Franz Thomé (1807–1872), der Leiter des Ständetheaters in Prag, war Mitglied der Künstlervereinigung. Aller- dings lehnte es die Prager ‚Arcadia‘ ab, einen seiner ‚pro letarischen‘ Freunde auf- zunehmen. So gründete Thomé mit ih - nen in einem Prager Gasthaus – natür- lich bei einem Bier – einen Trotzverband. Er bekam den Namen eines märchen - haften Landes, das es nicht gibt, eines Utopias – ‚Schlaraffenland‘ – entnom- men aus der deutschen Literatur des Mit- telalters. Und weil genau über dem Tisch Schlaraffianerorden der Gründer ein riesiger ausgestopfter Uhu hing, müssen seit dieser Zeit alle Schlaraffen den großen Uhu als Gottheit an- beten. Davon abgeleitet auch statt ‚Anno Domini‘ (das Jahr des Herrn) – ‚Anno Uhui‘ (das Jahr des Uhu). Als Wahlspruch wählte die ‚Schlaraffia‘ ‚In arte voluptas‘ (In der Kunst liegt Genuss) und das Wappen gestalteten sie mit einem Trinkglas und einer Narrenkappe. Dies verriet viel über den Inhalt der Vereinsaktivitäten. In aller Kürze ging es um eine rein männliche ‚Tischgesellschaft‘, die sich regelmäßig im Wirtshaus traf. Auf diesen Tref- fen sollten Humor, Gesang, Vorträge über Kunst und selbstverständlich gutes Essen und alkoholische Getränke im Vordergrund stehen. Es gab bei aller humoristischer Freude auch ein paar Einschränkungen: Der Humor durfte nicht verletzend sein, und Themen aus Politik und Glaube waren gänzlich verboten. Die Mitglieder oder ‚Sassen‘* spielten sich das romantische Mittelalter vor, sprachen sich untereinander mit lächerlichen Adelstiteln an, die unsinnige Prädikate mit sich brachten, und trugen theatralisch aussehende Schwerter. Sie schlugen sich selbst zu Rittern der Kunst und des Humors. Ein wichtiger Beweggrund der Treffen bestand darin, dass die Mitglieder über sich selbst lachen konnten.3 Dies war ein Unter-

3 Vgl. Ludwig Keil: Urgeschichte Schlaraffias. Bayreuth 1956, S. 9–23.

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schied gegenüber den geschlossenen Gesellschaften dieser Zeit, die vor allem von den Freimaurern repräsentiert wurden, und deren Mitgliedschaft sich selbst äußerst ernst nahm. Die Schlaraffen verlachten diese Gruppierungen mit ihren Zeremonien ebenso wie die profane Welt, zu der sie außerhalb der Mauern ihrer Burg selbst gehörten. In Prag wurde es Mode, Mitglied der ‚Schlaraffia‘ zu werden. Die Künstler, die die faszinierende Atmosphäre auf den Treffen der Bekenner des großen Uhus erlebten, brachten die Idee des närrischen Bundes über die Grenzen nach Deutschland. Der erste deutsche Ableger der ‚Schlaraffia‘ entstand 1865 in Berlin (‚Das Reich Berolina‘), ein weiterer 1872 in Leipzig (‚Lipsia‘), ein Jahr später folgte Graz (‚Grazia‘). Den Weg zu einer weltweiten Bewegung öffnete sich der Prager Bund 1876, als das erste Treffen der ‚Allschlaraffia‘ in Leipzig stattfand. Die einzelnen Gruppierungen, intern als Reiche (‚Reych‘) bezeichnet, vereinheitlichten zu dieser Gelegenheit ihre Regularien und bildeten ein Netzwerk. Das Gründerreich, genannt ‚Praga‘, bekam den Ehrentitel ‚Allmutter‘ und fungierte als Mekka der Schlaraffen sowie als Verwaltungs- und Gerichtszentrale.4 Innerhalb der folgenden 16 Jahre entstanden in Europa und in den USA weitere 108 Reiche. Die Bewegung gab ein Mitgliedsregister mit Tausenden von Scherznamen ihrer Mitglieder heraus, die oftmals bedeutende Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kunst und Politik waren. Das Register, genannt ‚Stammrolle‘, hatte aber außer zur Belustigung noch eine andere Bedeutung – es enthielt Informationen über den Ort und die Zeit der regelmäßigen Treffen der jeweiligen Reiche und sogar die Adressen und Telefonnummern der Mitglieder.5 Das Reisen durch benachbarte Reiche, die so- genannten ‚Eintritte‘, gehörte zu den großen Passionen vieler Schlaraffen. Sie kamen so an wertvolle Kontakte, und nach jedem Eintritt erhielten sie auch einen Orden oder Anstecker auf die Brust bzw. den Helm. Die ‚Schlaraffia‘ vermittelte auf diese Weise grenzüberschreitenden kulturellen Austausch. Besonders intensiv agierten die Regionen mit den dichtesten Netzwerken, zu denen Sachsen und der Norden Böhmens mit einem Übergewicht an deutschsprachigen Einwohnern gehörten. In Sachsen entstanden bis 1931 acht Reiche, die in den Städten Leipzig – ‚Reych Lipsia‘ (1872), Dresden – ‚Reych Dresdensia‘ (1881), Chemnitz – ‚Reych Kemnitzia‘ (1886), Görlitz – ‚Reych Golizia‘ (1886), Zwickau – ‚Reych Cygnea‘ (1909), Plauen – ‚Reych Castrum Plaviense‘ (1909), Meißen – ‚Reych Castellum Misniense‘ (1914) und Zittau – ‚Reych Zittana‘ (1924) siedelten.6

4 Vgl. ebd., S. 24–35. 5 Vgl. Allscharaffische Stammrolle A. U. 72/73, Leipzig 1930. – A. U. ist die Abkürzung für Anno Uhui. 6 Ebd.

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Im Kreis Aussig gründeten die Schlaraffen bis 1938 neun Ableger, und zwar in Teplitz (Teplice) – ‚Reych Teplitia‘ (1880), Aussig – ‚Reych Ostia‘ (1886), Warnsdorf (Varnsdorf) – ‚Reych Mandovia‘ (1899), Komotau (Chomutov) – ‚Reych Komotovia‘ (1891), Saaz (Žatec) – ‚Reych Saazia‘ (1889 und 1931), Leitmeritz (Litoměřice) – ‚Reych Castellum Albiense‘ (1896), Brüx (Mostě) – ‚Reych Pontana‘ (1905), Bodenbach (Podmokly) – ‚Reych Porta Bohemiae‘ (1920)7 und in Eichwald/Erzgebirge (Dubí) – ‚Colonie Silva‘ (1938).8 Die beiden bedeutendsten Reiche Nordböhmens und Sachsens verband zudem eine direkte verwandtschaftliche Beziehung. Das Reich Lipsia nahm nämlich im Schla- raffenjargon bei der Gründung des Reiches Teplitia die Rolle der Mutter an. Sie wurde die Patronin des neuen Reiches. Diese Bindung bedeutete gegenseitige Verpflichtung und auch lebhafte Kommunikation. Beispielsweise kamen zu den prächtigen Feierlich- keiten im Jahr 1905 168 Sachsen aus 23 Reichen anlässlich des 25-jährigen Bestehens des Teplitzer Reiches. Die Mitglieder des Mutterreiches Lipsia wurden dabei am stürmischsten begrüßt.9 Insgesamt entstanden bis 1937 weltweit 301 Reiche, von denen mehr als die Hälfte in Deutschland, Österreich und der Tsche- choslowakei angesiedelt waren. In den Böhmischen Ländern traten über vierzig Reiche zusammen, und zwar in erster Linie in den deutschsprachigen Regionen oder in den großen Städten des Landes- innern, wo sich eine bedeutendere deut- sche Minderheit befand.10 Das Vereinsleben innerhalb des Bundes wurde mit der Zeit präzise festgelegt. Die grundlegenden Regeln waren in das Gesetzbuch der Schlaraffen eingeschrie- ben und zwar schlaraffisch spiegelver- kehrt. Alle Reiche entwarfen für sich sehr strikte Vorschriften wie Rituale und Ze - remonien, eine strenge Hierarchie, so weit, dass man sich wundert, wo der Raum für Ein Schlaraff aus Aussig

7 Vgl. Allschlaraffische Stammrolle A. U. 77/78, Prag 1937. 8 Colonie entstand nach der Herausgabe der letzten Vorkriegsstammrolle. Im Státní okresní archiv in Teplice befindet sich eine Ansichtskarte und Vereinschronik. 9 Vgl. Der Schlaraffia Zeytung A. U. 45/46 (1904/1905), S. 2671. 10 Vgl. Allschlaraffische Stammrolle A. U. 77/78, Prag 1937 (wie Anm. 7).

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den proklamierten Humor blieb. Aber es funktionierte wohl deshalb, weil durch die gesamte ‚Narretei‘ Dampf abgelassen werden konnte. Einmal in der Woche konnten die Mitglieder vergessen, dass sie sich als Ärzte, Unternehmer, Lehrer oder Offiziere ihren Lebensunterhalt verdienen mussten. Für kurze Zeit entflohen sie der Lebenswelt und spielten im geschlossenen Kreis der Eingeweihten Ritter, um die Maske des All- tags abzuwerfen.11 Und wie wurde man zum Schlaraffen? Man musste von einem Ritter vorgeschlagen und von den Mitgliedern akzeptiert werden. Ein durchschnittliches Reich zählte nur wenige Mitglieder und wurde als elitäre Gesellschaft verstanden, die sich aus den mittleren und höheren gesellschaftlichen Schichten rekrutierte. Jedes neu aufgenom- mene Mitglied bekam zuerst den Rang des Knappen und erlangte in der darauf - folgenden Stufe den des Junkers. Der Ritterschlag war nach etwa einem Jahr Mitglied- schaft zu erwarten, und zwar nur in dem Fall, dass man allen seinen Verpflichtungen ordentlich nachkam. Vor allem die Anwesenheit an den sogenannten ‚Sippungen‘, den Treffen der Schlaraffen, war verpflichtend.12 Der Anwärter musste auch das Schla- raffenlatein erlernen, eine besondere Sprache, die im Prinzip aus einem abenteuerlich archaisierten Deutsch bestand, das mit lateinischen Begriffen verschränkt war. Zu den wichtigsten Worten gehörte der Gruß ‚Lulu‘ und die Benennung des Gottes ‚Uhu‘. Besonders häufig nutzte man auch die Worte ‚Quell‘ und ‚Lethe‘, also Bier und Wein. Mit dem Wort ‚Burgschreck‘ wurde die Schwiegermutter gewürdigt, wäh- rend man unter ‚Burgwonne‘ die Freundin verstand. Die Schlaraffen dachten sich auch besondere Namen für die Kalendermonate aus.13 Der Ritterschlag war der wichtigste Augenblick im Leben eines Schlaraffen. Damit bekam er einen neuen Namen, der meistens in einer humorvollen Form den zivilen Beruf des Ritters oder dessen persönliche Vorlieben reflektierte. Und so bekam der Vater des zitierten Schriftstellers, der Ritter des Reiches Ostia ‚Egal der Appetitliche‘, den Titel für seine Feinschmeckerei.14 Der Fotograf aus Budweis (České Budějovice), Mitglied des Reiches ‚Budovicia‘, Theodor Bartel wiederum trug stolz den Schla - raffennamen ‚Licht van der Platten‘, was auf seinen Beruf verwies. Der Bijouterie*- Exporteur aus Gablenz (Jablonec nad Nisou) Heinrich Hoffmann und Ritter des dortigen Reiches ‚Preciosa Iserina‘ wählte sich den Namen ‚Brillant von der Kiste‘ aus. Der Titel ‚Carbo der Abwesende‘ fiel dem reichsten Unternehmer der Tschecho- slowakei der Zwischenkriegszeit, dem Aussiger Kohlebaron Ingnaz Petschek gerade deshalb zu, weil er wegen seiner Arbeitsverpflichtungen bei den Treffen der ‚Schla-

11 Vgl. Martin Krsek: Elitní klub bláznů, Koktejl, 2011, Nr. 12. 12 Vgl. Hlavičková: Schlaraffia Budovicia (wie Anm. 2), S. 8. 13 Ein kurzgefasstes Wörterbuch von Schlaraffiadeutsch ist auf Wikipedia zu finden. 14 Vgl. Rohan, Ústecký šoulet (wie Anm. 1), S. 67.

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raffia‘ fehlte. Unter dem Ritternamen ‚Presskopf d‘ Annoncion‘ verbarg sich der Leiter des Verlags Albert Müller, der Mitglied im Reich Lipsia war.15 Die Begrüßung eines neuen Ritters spielte eine besonders herausragende Rolle in den Zeremonien der Schlaraffen. Der Neuling musste einen Schwur ablegen, der unter anderem folgendes beinhaltete: „Ich schwöre im Namen des Uhu – Oho – Aha, der schlaraffischen Trinität, Hopfen und Malz zu ehren, dass ich immer glücklich und ungestüm in unserem fröhlichen Verein sein werde. Ich werde nicht eigenmächtig die Treffen schwänzen[…].“ Dieser Wortlaut des Gelöbnisses erregte 1935 sogar den Ärger von Papst Pius XI, der diesen als Gotteslästerung bezeichnete und die Katholiken auf- forderte, nicht in die ‚Schlaraffia‘ einzutreten. Später ließ er sich aber, sagt man, erklä- ren, dass es sich nur um einen harmlosen Scherz handelte.16 Mit dem Titel des Ritters endete aber die schlaraffische Karriere nicht, denn man konnte in der Hierarchie des Bundes weiter aufsteigen oder Ehrenfunktionen und Ehrentitel er langen.17 Durch das Zusammentreffen der ‚Schlaraffia‘ als einem freisinnigen und unpoliti- schen Bund mit den totalitären Ordnungen des 20. Jahrhunderts ergaben sich Kon- flikte, die nach dem Machtantritt Hitlers im Jahr 1933 zur Trennung aller deutschen Reiche von der Allschlaraffia und letztlich zur Auflösung der Vereine führte. 1938 wurde die ‚Schlaraffia‘ auch im besetzten böhmischen Grenzgebiet und in Öster- reich auf gelöst.18 Mit der Besetzung der ‚Resttschechei‘* im Jahr 1939 und der damit ein hergehenden Gleichschaltung wurden die Schlaraffenreiche im Landesinneren, einschließlich der Allmutter Praga, verboten. Es gelang aber rechtzeitig, das Ver- bandsarchiv der ‚Schlaraffia‘ in die Schweiz zu bringen. Die Stadt Bern vertrat Prag in seiner Rolle als Metropole der Schlaraffen. Dies sollte eigentlich nur ein vor- läufiger Zustand sein, wurde dann allerdings zur Dauerlösung. Nach dem Krieg konnten weder das Reich Praga noch die anderen tschechoslowakischen Reiche neu entstehen. Die Mehrheit der tschechischen Deutschen, die das Gros der Mitglieder stellten, musste das Land im Rahmen der Aussiedlung verlassen. Die deutsch- sprachigen Juden, die ebenfalls eine charakteristische Gruppe der Schlaraffen waren, überlebten entweder den Holocaust nicht oder kamen aus der Emigration nicht mehr in ihre Heimat zurück. Die tschechischsprachigen Schlaraffen konnten es sich in der allgemeinen antideutschen Atmosphäre der Nachkriegszeit nicht erlauben, diesen ‚deutschen Spaß‘ zu erneuern, der abgesehen vom nationalen Kontext mit seinen ‚bourgeoisen Manieren‘ auch in der kommunistischen Diktatur sicher keinen Bestand gehabt hätte.

15 Vgl. Allscharaffische Stammrolle A. U. 72/73 (1931/1932), Leipzig 1930 (wie Anm. 5). 16 Vgl. Antonín Tichý: Ve znamení sovy, Krkonoše – měsíčník o přírodě a lidech, 7/2000, S. 29. 17 Vgl. Allscharaffische Stammrolle A. U. 72/73 (1931/1932), Leipzig 1930 (wie Anm. 5). 18 Vgl. Rohan, Ústecký šoulet (wie Anm. 1), S. 68.

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Nicht einmal in Deutschland, wo es nach dem Krieg zur Erneuerung vieler der von den Nationalsozialisten aufgelösten Reiche kam, gelang es, vollständig an das ursprüngliche Prestige dieses einmaligen Bundes anzuknüpfen. Das Bewusstsein um den Ursprung und die Werte der ‚Schlaraffia‘ erfuhren vor allem in den Jahr- zehnten nach dem Krieg nationalistische Deformationen. In Böhmen wird der Bund als ‚entfremdete Zerstreuung‘ ausschließlich der deutschsprachigen Bevölke- rung dargestellt und in Deutschland als ein rein deutsches Element präsentiert. Der Gedanke der ‚Schlaraffia‘ sollte aber das Verbindende zwischen Deutschen und Tschechen als traditionelles Erbe versinnbildlichen. Außerhalb der tief verwurzelten Klischees beider Nationalitäten präsentiert sich der schlaraffische Gedanke als fruchtbare Verschmelzung des tschechischen Sinns für Humor mit dem deutschen Sinn für Ordnung. Die Zeit, in der der Verein entstand, wird als Zeit der nationalen Erweckung* be- zeichnet. Das zweisprachige Prag gehörte in dieser Hinsicht zu den exponiertesten Orten in Mitteleuropa. Die Nachkriegshistoriographie der ‚Schlaraffia‘ setzt die Ent- stehung des Bundes gegen die Stärkung des nationalen Bewusstseins der Tschechen und die immer breitere Präsenz des Tschechischen auf dem Feld der Kunst. Die ‚Schla- raffia‘ sollte, laut dieser Überlieferung, der Patron der deutschen Kultur und deut- schen Sprache in Prag gewesen sein. Sie habe deutsche Künstler vereinen sollen – Musiker, Sänger, Theaterschauspieler, Dichter und Komponisten und auch Freunde der Kunst.19 Die ‚Schlaraffia‘ war aber definitiv kein Ausdruck einer solchen Abwehr- reaktion der Prager Deutschen zur Verteidigung der eigenen Kunstposition. Sie war vielmehr eine kleine Insel, auf die die allgemeine Tendenz der nationalen Differen- zierung strikt nach einer tschechischen und deutschen Seite lange nicht über- schwappte. Allein die Aufzählung der 23 ‚deutschen‘ Gründerväter in der Historio- graphie des Bundes enthüllt, wieviel nationalen Ballast später die Schlaraffen selbst aufschichteten.20 In der deutschen Transkription verbergen sich hier die Namen be- deutender künstlerischer Persönlichkeiten, die in der tschechischen Geschichte häufig das Attribut führender tschechisch-nationaler Patrioten tragen. Zu ihnen gehörte bei- spielsweise Ritter ‚Chramo der Unschuldige‘, mit weltlichem Namen Josef Karel Chramosta (1829–1895). Er war ein tschechischer Schauspieler, der aber auch Enga- gements in einer ganzen Reihe deutscher Theater hatte. Im Jahre 1881 wurde er als Schauspieler ans Nationaltheater berufen.21 Der Beiname Ritter ‚Pastranus‘ wiederum gehört zu František Kolár dem Jüngeren (1829–1895). Berühmt wurde er als Karika-

19 Vgl. Keil, Urgeschichte Schlaraffias (wie Anm. 3), S. 9. 20 Vgl. ebd., S. 13. 21 Vgl. Národní divadlo a jeho předchůdci. Hg. v. Vladimír Procházk. Prag 1988, S. 183.

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turist des schlaraffischen Lebens, seine Zeichnungen stellen eine Bilderchronik der ältesten Etappen der ‚Schlaraffia‘ dar. Seinen Unterhalt verdiente er sich als tsche- chischer Theaterschauspieler, und er beteiligte sich wesentlich an der Begründung des Nationaltheaters, in dem er ab 1881 als ständiges Mitglied des Ensembles spielte. Unter anderem publizierte er seine Karikaturen in der prominenten in tschechischer Sprache geschriebenen Zeitung Humoristické listy (Humoristische Blätter).22 Diese Leute erachteten das Tschechische als ihre Muttersprache, beherrschten aber ebenso gut auch das Deutsche. Das Deutsche war im 19. Jahrhundert in den Kreisen tschechischer Gelehrter und Künstler ein natürliches Verständigungsmittel und ein wichtiges Binde- glied mit der reichen Kultur der umliegenden deutschsprachigen Länder. Diese Tsche- chen waren nicht bereit, dem immer stärkeren nationalen Druck zwischen Deutschen und Tschechen höhere Werte zu opfern, also Freundschaft, Kunst und Humor – Werte auf die gerade die ‚Schlaraffia‘ setzte. Das gleiche galt auch für die national deutschen Gründer des Bundes, stellvertretend für alle wäre hier der in Wien gebürtige Urheber der gesamten Idee Franz Thomé zu nennen, der neben dem Ständetheater auch für eine gewisse Zeit das Provisorische tschechische Theater leitete und die Bühne für die Verselbstständigung des tschechischen Theaterschaffens be reitete.23 Eine geradezu lehrbuchhafte Veranschaulichung der deutsch-tschechischen Dimen- sion des Projektes ‚Schlaraffia‘ bietet die Gründungsgeschichte des Reiches Lipsia 1872 in Leipzig. Wie bereits durchklang, vermittelte Lipsia gemeinsam mit dem Reich Berolina den Gedanken der Prager Witzigkeit in Deutschland und war bei der Ent- stehung der Allschlaraffia mit dabei. Den Gründerimpuls maß das Schlaraffenreich in Leipzig zwei Rittern bei – ‚Huppel di Hax‘ und ‚Kurella I.‘ – einem gebürtigen Tschechen und einem Deutschen. Der Name ‚Huppel di Hax‘ war die humorvolle Reflexion der profanen Profession des Tänzers Václav bzw. Věnceslav Reisinger (1828–1893). Er war der erste Ballettmeister in der Geschichte des tschechischen Nationaltheaters, und nach 1884 entfaltete er sein Wirken auf verschiedenen Bühnen in Deutschland. Er gehörte schon bei der Gründung des Reiches Praga zu den er- wähnten 23 Gründervätern. Mit dem Titel ‚Kurella I. genannt Der Einzige‘ rühmte sich der Leiter eines Schauspielerensembles Oswald Hancke (1840–1906), der von 1870 bis 1876 das Stadttheater in Leipzig leitete. In der Hierarchie der Schlaraffen er- reichte er die höchsten Positionen, später im Jahre 1883 gründete er noch das Reich

22 Vgl. ebd., S. 227f. František Kolár arrangierte anlässlich der Grundsteinlegung für das Nationaltheater 1868 einen festlichen Umzug durch Prag. Die Aktion fasste er als Krönungsprozession auf und trug in einem bedeu- tenden Maße dazu bei, dass diese Feier zu einer der monumentalsten Manifestationen für die Erfüllung der tsche- chischen staatsrechtlichen Forderungen wurde, die die Selbstständigkeit der staatlichen Existenz der tschechischen Nation garantieren würden. Vgl. Jan Císa: Přehled dějin českého divadla. Prag 2006, S. 116. 23 Vgl. ebd., S. 524.

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‚Carolsuhu‘ in Karlsruhe, das er viele Jahre lang leitete. Er machte sich vor allem aber damit verdient, dass sich Leipzig als wichtigstes Zentrum der Schlaraffenbewegung gleich nach Prag durchsetzte.24 Im Jahre 1876 fand in Leipzig das Erste Konzil der Allschlaraffia statt, wo sich alle bis dahin existierenden sieben Reiche in einer gemein- samen Organisation der Schlaraffen zusammenschlossen;25 die damalige Mitglieder- zahl betrug 189 Männer. Kurell I. saß diesem Treffen gemeinsam mit den Kollegen ‚Ritter Raps‘ (Edmund Eichler) aus dem Reich Praga und ‚Krakehl‘ aus dem Reich Berolina vor. Lipsia gebührte die besondere Position als ‚Sprachrohr‘ der gesamten Bewegung. Die verlegerische Tradition in Leipzig übertrug sich auch auf die Ge- schichte der ‚Schlaraffia‘. 1874 initiiere Oswald Hancke die Gründung der Vereins- zeitschrift Der Schlaraffia Zeytung. Später entstand ein ganzer Verlag, der sich auf schlaraffische Druckerzeugnisse spezialisiert hatte. Geleitet wurde er von dem Ritter ‚Zwilling‘, in zivil Carl Ziegenhirt, der sich als Buchverleger seinen Lebensunterhalt verdiente. Neben der Zeitschrift verlegte er auch ein Mitgliedsregister, die Allschlaraf - fische Stammrolle, weiter Verzeichnisse der Gesetze und Zeremonien, schlaraffische Pässe, Heimatblätter, Anmeldungen, Tests, Chroniken, schlaraffische Lieder usw.26 Diese Rolle war spätestens 1935, kurz nach der Loslösung der deutschen Reiche von der Allschlaraffia, erloschen und die Herausgabe gemeinsamer Druckerzeugnisse ging in die Tschechoslowakei, und zwar nach Prag.27 Der ursprüngliche Gedanke der ‚Schlaraffia‘ war tatsächlich frei von nationalem Pathos, was unter anderem die Beteiligung von Tschechen an ihrer Entstehung be- weist. Tatsache aber ist auch, dass sich der Bund im Laufe der Zeit mehr und mehr als Repräsentant des deutschen Kulturkreises profilierte. Die Schlaraffen selbst be- stärkten dies mit der Aufnahme national konnotierter Paragraphen in ihren Kodex. Beispielsweise erwartete man in einigen Reichen neben der Fürsorge für den Humor auch die Pflege der deutschen Sprache und Kultur.28 Erst 1914 wurde in der Zeit der nationalistischen Welle im Zuge des Ersten Weltkriegs das Deutsche definitiv als ein- zige interne Sprache der Schlaraffen festgelegt.29 Im Bereich der rassischen und reli- giösen Toleranz blieb aber die Mehrheit der Reiche offen, bis zum Einschreiten der

24 Vgl. Keil, Urgeschichte (wie Anm. 3), S. 29. 25 Neben den Reichen Praga, Berolina, Lipsia und Grazia führen die Quellen noch zwei weitere Reiche auf – Ham- monia (Hamburg) und Kanicza, die aber aus dem Register der Reiche verschwanden; die Entstehung der neuen Hammonia wird erst für das Jahr 1881 angegeben. Der Gründungsvertrag der Allschlaraffia umfasste auch schon das frisch entstandene Reich Wratislavia (Vratislav). 26 Vgl. Allscharaffische Stammrolle A. U. 72/73 (1931/1932), Leipzig 1930 (wie Anm. 5), S. XXIV. 27 Vgl. Allschlaraffische Stammrolle A. U. 77/78, Prag 1937 (wie Anm. 7). 28 Im offiziellen Gesetzbuch „Schlaraffen-Spiegel“ befindet sich dieser Regel nicht, aber z.B. im Reich Elberfeldensis in Wuppertal handelt es sich um Paragraph 1 unter den Grundpflichten der Mitglieder. Vgl. www.elberfeldensis.de, Zugriff am 20.11.2012. 29 Vgl. Hlavičková, Schlaraffia Budovicia (wie Anm. 5), S. 11.

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Nationalsozialisten. Dies bezeugt die enorme Anzahl deutschsprachiger Juden inner- halb der Reihen der ‚Schlaraffia‘, besonders in den Böhmischen Ländern. Gegenwärtig zählt die ‚Schlaraffia‘ über 420 Reiche,30 und das auch an so exotischen Orten wie Buenos Aires in Argentinien, Bangkok in Thailand oder dem japanischen Kobe.31 Nach dem Fall der DDR kam es auch in Sachsen zur teilweisen Erneuerung der Tradition. Es entstanden bzw. entstehen gerade die Reiche in Dresden (‚Reych Dresa Florentis‘), Plauen (‚Reych Castrum Plaviense‘), Leipzig (‚Reych Lipsia‘), Gör- litz (‚Reych Gorlizia‘) und in Meißen (‚Reych Castellum Misniense‘).32 Auch in Böh- men entsteht in der letzten Zeit der Gedanke der Renaissance des verrückten Bundes. Vorerst gibt es hier nur ein Reich, und zwar in Jihlava (‚Castellum Iglaviae‘).33 Einige Tschechen setzen sich für ein Ritterstatut in den Reichen des benachbarten Deutsch- land ein, vor allem in Sachsen. Die Bemühungen, die alten böhmischen Reiche zu erneuern, die sich vor allem in Prag, Vrchlabí, Ústí nad Labem und Teplice zeigen, prallen mit dem kompromisslosen Kodex der Schlaraffen zusammen. Offizielle tsche- chische Anträge auf Milderung der rigiden Vereinsvorschriften, wie das Verbot, Frauen in die Reihen der Ritter aufzunehmen, vor allem aber die Bedingung der ausschließ- lichen Nutzung des Deutschen als interner Sprache, finden gegenwärtig bei den Hütern der Traditionen und Ordnung noch kein Verständnis.

Glossar:

Bijouterie: Modeschmuck | Nationale Erweckung: Bis zum Dreißigjährigen Krieg galt in den Böhmischen Ländern das Tschechische als Hauptlandessprache. Nach Beendigung des Krieges änderte sich die nationale Situation aber mit dem Exodus eines großen Teils tschechischsprachiger Protestanten, oftmals Angehörige des Bürgertums und Adels, und dem Zuzug von Katholiken aus anderen Ländern, vor allem aus den deutschsprachigen. Zuerst kam es zur Gleichstellung des Tsche- chischen und Deutschen. Unter der Regierung Josephs II. Ende des 18. Jahrhun- derts wurde das Deutsche zur alleinigen Sprache in Verwaltung und im Unterricht

30 Ein großer Teil von ihnen sind aber bereits inaktive Reiche, zu denen beispielsweise auch alle Reiche auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik gehören. 31 Vgl. Hlavičková, Schlaraffia Budovicia (wie Anm. 5), S. 11. 32 Vgl. www.castellum-misniense.de, www.castrumplaviense.org, www.dresa-florentis.de, www.gorlitia-zur-landeskrone.de, Zugriff am 21.11.2012. 33 Vgl. www.castellum-iglaviae.de, Zugriff am 21.11.2012.

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Ritter des Humors – ,Die Schlaraffia‘

an Gymnasien und Universitäten. Das Tschechische überlebte praktisch nur im ländlichen Raum. Die gänzliche Mehrheit der tschechischen Gelehrten verfasste ihre Werke auf Deutsch. Bereits am Ende des 17. Jahrhunderts tauchen aber na- tionale Erwecker auf, die sich bemühen die Muttersprache der Tschechen wieder- zubeleben und erneut auf das Niveau einer Literatursprache zu bringen. Mitte des 19. Jahrhunderts formiert sich die nationale Erweckung in einer Massenbewegung. Das Tschechische wurde wieder zu einem Teil der Hochkultur – von Literatur, Theater und Wissenschaften | Resttschechei: nach der der Angliederung der sudetendeutschen Gebiete an das Deutsche Reich 1938 verbliebenes Staatsgebiet der Tschechoslowakei; 1939 gleichsam vom Deutschen Reich annektiert und zum „Protektorat Böhmen und Mähren“ erklärt | Sasse: Mitglied eines Ritterbundes

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Die Entdeckung der Landschaft: Dresdner Maler um 1800 in böhmischer Nachbarschaft

Walter Schmitz

Die Entdeckung der Landschaft: Dresdner Maler um 1800 in böhmischer Nachbarschaft

I. Satire im Rückblick: Ludwig Tieck

Im Jahr 1834 veröffentlicht Ludwig Tieck (1773–1853) seine Novelle Die Vogel- scheuche. Ludwig Tieck ist kein junger Dichter mehr. Er gehörte schon im vergan- genen Jahrhundert, in den 1790er Jahren, zu denjenigen aus einer jungen Gene - ration von Intellektuellen, die sich in Jena zu einer Gruppe zusammenfanden, die unerhört Neues in der Literatur wollte. Sie gaben sich selbst den Namen ‚Roman- tiker‘ und wurden auch von den Zeitgenossen so genannt. Ihr Grundsatz war, dass die Poesie alles durchdringe. Die Geschichte der Menschheit sei nichts anderes als die Verwirklichung der Poesie. Die Gegenwart hätte sich allerdings weit von dem poetischen Zustand entfernt. In vergangenen Zeiten sei dies anders gewesen. Sie sprachen vom ‚Mittelalter‘, wählten aber ihre Beispiele eher aus dem 15. und 16. Jahrhundert – so etwa das Nürnberg des großen Albrecht Dürer, der in Ludwig Tiecks Roman Franz Sternbalds Wanderungen (1798) auch auftritt. Sternbald ist ein Maler, der die verschiedenen europäischen Regionen der Kunst durchwandert, von den Niederlanden bis nach Rom. Dort bricht der Roman ab, ein Fragment, das ins Unendliche jenseits der Geschichte verweist, jenen Zeit-Raum, der nur im Bild zu vergegenwärtigen ist – eine Utopie der Kunst also. Mit diesem Maler-Roman und mit seinen anderen Werken wurde Tieck der berühmteste Dichter unter den Romantikern. Die späte Novelle Die Vogelscheuche greift noch einmal in den romantischen Motivfundus. Sie schildert ein ‚wunderbares‘* Ereignis: Eine Sternschnuppe fällt vom Himmel, trifft eine Vogelscheuche und erweckt sie damit zum Leben. Die Vo- gelscheuche macht sich auf in die nahegelegene Residenzstadt, nimmt dort, in- spiriert vom Himmelsfeuer, maßgeblich am Kunst- und Gesellschaftsleben teil und gewinnt großes Ansehen. Sie befreundet sich mit dem umtriebigen Magister, dessen Name ‚Ubique‘ lautet, das lateinische Wort für ‚überall‘. Dies war schon in Weimar der von Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) und (1759–1805) verliehene Spottname für Karl August Böttiger (1760–1835) gewesen; auch Tieck hatte bereits in der Komödie Der gestiefelte Kater (1797) den rührigen

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Gelehrten verspottet,1 der seit 1814 als Leiter der Dresdner Kadettenanstalt die Kul- turbeflissenen der Stadt mit seiner klassischen Bildung wie seinem unermüdlichen Organisationstalent beeindruckte.2 Die Vogelscheuche, der Gesell des Magisters Ubi- que, beansprucht den Adelstitel für sich, aber sie hat nur Stroh im Kopf – und sie nennt sich, wegen ihrer ledernen Hülle, Herr von Ledebrinna. Ledern, hektisch, leeres Stroh dreschend – so sieht das lebhafte Treiben um Kunst und Wissenschaft in der Residenz auch aus. Ubique gründet einen eigenen Verein, und man veranstaltet eine große Bilderausstellung anlässlich des Besuches eines durchreisenden Prinzen; der be- trachtet die schnell zusammengerafften, mit hochtrabenden Erläuterungen Ubiques versehenen Machwerke, lässt dann aber3

die Lorgnette, die an einer goldenen Schnur befestigt war, niederfallen und sagte […]: Haben Sie auch Paysagen? […] ich liebe in der Malerei die Paysagen, be - sonders in der Stadt; auf dem Lande, und in Lusthäusern müssen Schlachten sein und Historien, so erfordert es der Kontrast. / An Landschaften, erwiderte Ubique demütig, haben wir keinen großen Überfluß, das Genie der hiesigen Künstler hat sich mehr auf die Genres verlegt.

Der Hof ist blasiert, französisch orientiert; die Gelehrten sind Hohlköpfe oder gar belebte Vogelscheuchen; die Kunstszene ist provinziell. Die Dresdner erkannten sich in dieser Satire empört wieder. Tieck hatte boshafterweise gerade eine derjenigen Kunstleistungen, auf die die Kunststadt Dresden mit Recht stolz sein konnte, die Landschaftsmalerei, in seiner Satire zur banalen ‚Paysage‘ redu- ziert; von anderen Landschaftsgemälden wissen die Kunstbetriebsamen in der Vogel- scheuche nichts. Gerade in Dresden aber war eine andere, ‚moderne‘, ‚romantische‘ Landschaftsmalerei begründet worden – allerdings mit wenig Resonanz in der kultu- rellen Stadtöffentlichkeit. – Ludwig Tieck lebte seit 1817 in dieser auf ihren kulturellen Rang so stolzen Residenzstadt Dresden. Er war zunächst Dramaturg am Hoftheater, geriet aber in Konflikt mit dem Dresdner Pub likum, als er diesem im Jahr 1829 eine Aufführung von Goethes Faust zumutete. Für Tieck war das Theater eine Institution der Bildung, für maßgebliche Kreise in Dresden genügte es, wenn man im Theater

1 Vgl. Eckhard Richter: „Verehrtester Hofrath“. Tieck und Böttiger. In: Ludwig Tieck. Literaturprogramm und Lebensinszenierung im Kontext seiner Zeit. Hg. v. Walter Schmitz. Tübingen: Niemeyer 1997, S. 169–199. 2 Vgl. René Sternke: Böttiger und der archäologische Diskurs. Berlin: Akademie Verlag 2008, S. 448. Vgl. auch Friedrich Schiller: Brief an Goethe, vom 1. März 1799. In: Ders.: Briefe II. 1795–1805. Hg. v. Norbert Oellers. Frankfurt a. Main: DKV 2002 (= Werke und Briefe; 12), S. 446f. 3 Ludwig Tieck: Die Vogelscheuche. In: Schriften 1834–1836. Hg. v. Uwe Schweikert. Frankfurt a. Main: DKV 1988, S. 419–731, hier S. 520.

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gut unterhalten wurde. Man wollte lieber französische Komödien sehen, und Tiecks Konkurrent Theodor Hell, dessen ursprünglicher Name Winkler lautete und der diese Komödien am laufenden Band übersetzte und selbst in der Art schrieb, überflügelte den berühmten Dichter Tieck in der Gunst des Publikums, nutzte seine Macht als langjähriger Redakteur der Dresdner Abend-Zeitung und folgt Tieck schließlich im Jahr 1841 im Amt des Dramaturgen und als Vizedirektor des Hoftheaters nach. Der Hof gab Tieck wenig Rückhalt. Der Autor, der bereits seinen Zeitgenossen als „der König der Romantik“, der bedeutendste Dichter nach Goethe, galt,4 gab seinen Wohn- ort am Dresdner Altmarkt schließlich 1841 auf, um nach Berlin zu gehen. Am gesel- lig-kulturellen Leben der Residenzstadt, etwa an dem Zirkel um die Abend-Zeitung, wo man Tee trank und gegenseitig seine Verse lobte, hatte er sich nur in den ersten Jahren beteiligt. – Die Vogelscheuche ist eine Abrechnung mit diesem Leerlauf der Kunst in Dresden. Und es ist kein Zufall, dass Tieck gerade die Landschaftsmalerei als Beispiel wählt, denn die romantische Landschaftsmalerei hatte ihre wichtigsten Vertreter in Dresden. Es sind die Maler Philipp Otto Runge (1777–1810) und Caspar David Fried- rich (1774–1840), deren Sujet* eben die Landschaft war. Die Landschaftsmalerei gilt als die eigentlich romantische Malerei. Sie konkurriert mit dem klassizistischen Historienbild, mit dem hochangesehenen Portrait, auch mit religiösen Bildern: „Tritt denn hin auf den Gipfel des Gebirges,“ empfiehlt der Dresdner Arzt und Maler (1789–1869),5

schau hin über die langen Hügelreihen, betrachte das Fortziehen der Ströme und alle Herrlichkeit, welche Deinem Blick sich auftut, und welches Gefühl ergreift Dich? – es ist eine stille Andacht in Dir, Du selbst verlierst Dich im unbegrenzten Raume, Dein ganzes Wesen erfährt eine stille Läuterung und Reinigung, Dein Ich verschwindet, D u b i s t n i c h t s, G o t t i s t a l l e s.

Ihre Landschaftsmotive aber wählen diese Maler eben aus Dresden und der Umge- bung, und sie halten sich dabei nicht an die Landesgrenze: Ob Böhmen oder Sachsen, für sie ist dies ein Raum landschaftlicher Schönheit. Warum aber ist die Landschafts- malerei um 1800 umstritten? – Dazu muss man wissen, dass der Skandal eine gern genutzte Strategie darstellt, die Aufmerksamkeit der kulturellen Öffentlichkeit auf sich zu lenken; das ist insbesondere dann nützlich, wenn etwas Neues fokussiert oder

4 Als „König der Romantik“ bezeichnete ihn Friedrich Hebbel in seinem Nachruf auf den verstorbenen Autor. Vgl. dazu Friedrich Hebbel: Erinnerung an Ludwig Tieck. In: Ders.: Vermischte Schriften 4. 1852–1863. Hg. v. Richard Maria Werner. Berlin: Behr 1913 (= Sämtliche Werke; 12,1), S. 22ff., hier S. 22. 5 Carl Gustav Carus: II. Brief. In: Ders.: Neun Briefe über Landschaftsmalerei. Hildesheim/Zürich/New York: Olms-Weidmann 2009 (= Gesammelte Schriften; 4), S. 21–31, hier S. 29.

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gar etabliert werden soll.6 Das hatten auch die jungen ‚Romantiker‘ bereits erfahren – und sie hatten diesen kulturellen Mechanismus lustvoll genutzt. Und auch bei der späteren Konkurrenz der Bilder kam es um 1800 zu heftigem öffentlichen Streit über die Art, die Natur zu malen.

II. Die pittoreske* ‚Schweiz‘ in Sachsen und Böhmen

Die Dresdner Landschaftsmalerei um 1800 wird freilich nicht von den späterhin erst so Berühmten, wie Caspar David Friedrich und Philipp Otto Runge, geprägt. Sie waren zugewandert; aber in Dresden selbst gab es bereits vor ihnen ein reges Kunst- leben, eine hochangesehene Kunstakademie und tüchtige Maler – Meister und gar Professoren ihres Faches. – Johann Christian Klengel (1751–1824), der erste eigentlich sächsische Landschaftsmaler, führt die Traditionen des 18. Jahrhunderts fort. Vor- bild ist die holländische Landschaftsmalerei. Berühmte Beispiele finden sich in der Dresdner Gemäldegalerie, so Der Judenfriedhof von Jacob Isaacksz van Ruisdael.7 „Natur ist und bleibt in der Kunst der einzige Weg, welcher zum Wahren führt“, so fordert Klengel in dem Vorwort seiner Anleitung zum Landschaftszeichnen von 1802.8 „[M]it Vergnügen sah ich,“ so erinnert sich Carl Gustav Carus aus seinen Anfänger- jahren als Maler,9

in welchem Grade er die eigenen Lufttöne, die Farbenbrechungen auf diesen weit- hingestreckten Krautfeldern, und den zarten Duft hiesiger Fernen, ganz in der eigenthümlichen Weise gerade dieses Elbthals wiedergegeben hatte. Da war nun viel zu lernen.

6 Vgl. zum Verhältnis von Literatur und Skandal Rainer Moritz: Wer treibt die Sau durchs Dorf? Literaturskandale als Marketinginstrument. In: Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Hg. v. Stefan Neuhaus/Johann Holzner. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 54–62, hier S. 56f. 7 Laut dem Bestandskatalog (Gemäldegalerie Alte Meister. Illustriertes Gesamtverzeichnis. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2007) wurde das Bild vermutlich 1739 auf der Versteigerung in Amsterdam erworben. Diesen Hinweis verdanke ich den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Vgl. zu Carus: Carl Gustav Carus: Briefe und Aufsätze über Landschaftmalerei. Hg. v. Gertrud Heider. Leipzig/Weimar: Kiepen- heuer 1982, S. 53: neben den südlichen Landschaften Lorrains erinnert Albertus, der fiktive Briefschreiber, an die „rauschenden und stillen Gewässer, [die] ernsten Buchen und Eichen, welche Ruysdael mit so unend- licher Freiheit und Wahrheit hinstellt, daß uns die heimische geliebte Natur fast unmittelbar anzusprechen scheint.“ Außerdem Gertrud Fiege: Caspar David Friedrich mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rein- bek b. Hamburg: Rowohlt 1990, S. 35. 8 Johann Christian Klengel: Anleitung zum Landschaftszeichnen. Dresden: o.V. 1802. Zitiert nach Hans Joachim Neidhardt: Die Malerei der Romantik in Dresden. Leipzig: Seemann 1976, S. 21. 9 Carl Gustav Carus: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. Erster Theil. In: Gesammelte Werke. Bd. 5. Hg. v. Olaf Breidbach. Hildesheim/Zürich/New York: Olms-Weidmann 2009, S. 166.

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Der Schweizer Anton Graff (1736–1813) ist längst berühmt in Dresden. Seine Portraits sind begehrt, auch bei Hofe. Um 1801 wendet er sich der Darstellung von Landschaf- ten aus Dresdens Umgebung zu. Naturansichten aus der malerischen Umgebung hatte bereits Adrian Zingg (1734–1816) gemalt. Die bizarren Felsformationen an der sächsisch-böhmischen Grenze gemahnten die beiden Schweizer Akademielehrer an ihre Heimat, und es gab ja längst schon eine obligatorische Schweizreise für land- schaftsinteressierte Maler. Im Kreis um Zingg und Graff jedenfalls wurde der Name ‚Sächsische‘, dann auch ‚Böhmische Schweiz‘ geprägt. Auf den jährlichen Ausstellun- gen der Dresdner Kunstakademie waren regelmäßig Ansichten von der Sächsischen und Böhmischen Schweiz zu sehen.10 – Angesichts dieser Fülle von Talent und der nur auf ihren Maler wartenden Motive war der Maler Karl Ludwig Kaaz (1773–1810), Schwiegersohn von Anton Graff, überzeugt, „daß Dresden für den Landschaftsmaler der einzige Punkt im nördlichen Europa sei“.11 Und doch wird man im Dresdner Kreis, so hier Carl Gustav Carus 1840, „in der Geschichte der Landschaftsmalerei, und insbesondere in Deutschland, […] einen ziemlich trostlosen Zustand“ konsta- tieren, der nur etwa fünf bis sechs Jahrzehnte zurückliege. Es habe eine Art der Kunst- übung dominiert, die „geistlos ohne Naturtreue und bar aller zur Seele redenden Phantasie“12 gewesen sei. Carl Gustav Carus wird dann auf die Frage nach der „Dar- stellung der Idee der Schönheit in landschaftlicher Natur“ die bündige Antwort bereit haben,13

daß Schönheit nichts anderes sei als das, wodurch die Empfindung göttlichen Wesens in der Natur, das ist in der Welt sinnlicher Erscheinungen, erregt wird, und zwar auf gleiche Weise, wie Wahrheit das Erkennen göttlichen Wesens und Tugend das Leben göttlichen Wesens in derselben zu nennen ist; dahingegen die un mittelbare Hingebung der Natur an das absolut Höchste, welches ihr Urquell ist, als Religion (Verbrüderung, Einigung) bezeichnet wird. – Schön kann daher nichts sein als die gleichmäßige Durchdringung von Vernunft und Natur […].

Und man wird hier sogar eine allegorische Malweise, die sich eben auch an die Er- kenntnis des Menschen richtet, durchaus gerechtfertigt finden.

10 Vgl. dazu in etwa die Zusammenstellung bei Ludwig Richter in den Jahren 1801–1816: Ludwig Richter, der Maler. Hg. v. d. Staatlichen Kunstsammlung Dresden. München/Berlin: Kunstverlag 2003. 11 So hält es Böttiger als Ausspruch von Kaaz in dessen Nekrolog 1810 fest. Hier zitiert nach Neidhardt, Die Malerei der Romantik (wie Anm. 7), S. 24. 12 Carl Gustav Carus: Friedrich der Landschaftsmaler, mit Fragmenten aus nachgelassenen Papieren desselben. In: Kunst-Blatt 21 (1840), Nr. 86, S. 357–358, hier S. 357. 13 Carl Gustav Carus: II. Brief [2. Beilage]. Von Darstellung der Idee der Schönheit in landschaftlicher Natur. In: Ders., Neun Briefe über Landschaftsmalerei (wie Anm. 4), S. 54–64, hier S. 55 [Hervorhebung WS].

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III.Dresden – Stadt der Begegnung: Philipp Otto Runge und Caspar David Friedrich

Dresden war kein Ort für romantische Gruppenbildung. In Jena hatte die Bewegung ihren Ausgang genommen. Späterhin formten sich Kreise in Heidelberg, Tübingen oder Landshut, also in Universitätsstädten. Hier fanden sich die begeisterungsfähigen Stu- denten, hier war Kontroverse und Streit möglich, um das Neue durchzusetzen. Herr- scher hingegen wollten für gewöhnlich diese unruhige Institution der Universität nicht in ihrer Residenz angesiedelt wissen. Es musste sich ein anderer Ort finden: Jena statt Weimar oder eben Leipzig statt Dresden. Und doch bot die noch immer glanzvolle sächsische Residenz Anfang des 19. Jahrhunderts, als der Hof nicht mehr in dem Maße alles Leben – das politische, wirtschaftliche, kulturelle wie das gesellige – dominierte wie im Augusteischen Zeitalter*, viel Anziehendes für die Liebhaber von Kunst und Bildung. Dresden hatte gleichsam eine „Achsenlage“ inne, „im Schnittpunkt einer Nord-Süd-Achse Berlin–Dresden–Prag–Wien–Rom und einer west-östlich verlaufen- den ‚Wasserscheide‘, welche die geschichtlich entstandenen Kulturräume katholischer Sinneskunst und protestantischer Spiritualität voneinander trennt“.14 So wurde Dresden zum „Begegnungsraum“.15 Die Residenz der Wettiner war eine große Stadt, eine schöne Stadt. Es gab eine gebildete Geselligkeit; das Haus des Legationsrats Christian Gottfried Körner (1756–1831) etwa versammelte Gäste und Einheimische, die sich für die eben einsetzende deutsche Kulturblüte begeistern mochten. Körner war mit Schiller befreun- det, der sogar zeitweilig bei ihm wohnte. Aber auch Schillers Gegner, die Jenenser Romantiker, die Brüder Schlegel, Caroline – damals noch die Frau August Wilhelm Schlegels – und auch Dorothea Veit, jüdischer Herkunft, mit Friedrich Schlegel ver- bunden, Tochter des Moses Mendelsohn, waren hier willkommen. Im Jahr 1798 hatten diese wieder den engen Jenenser Verhältnissen den Rücken ge- kehrt, hatten sich als Gäste des Körnerschen Hauses an den Dresdner Kunstschätzen erfreuen wollen. Und damals, nach einem Besuch der Königlichen Gemäldegalerie, provozierten sie neuerlich das gebildete Deutschland mit der kategorischen Proklama- tion, Raffael, der die Sixtinische Madonna geschaffen hatte, sei der größte Künstler, ein heiliger Künstler, „Sankt Raphael“.16 Vorher war Raffael ein hochgeschätzter Künstler. Der sächsische Kurfürst und König von Polen Friedrich August III. (1696– 1763) hatte

14 Hans Joachim Neidhardt: Caspar David Friedrich und die Malerei der Dresdner Romantik. Aufsätze und Vor- träge. Leipzig: Seemann 2005, S. 7. 15 Vgl. dazu auch ebd. – Klaus Günzel betonte, die Romantik in Dresden sei als ein „ganzes Geflecht von Verbin- dungen und Anregungen, Erlebnissen und Begegnungen, Gestalten und Werken“ zu betrachten; vgl. Klaus Gün- zel: Romantik in Dresden. Gestalten und Begegnungen. Frankfurt a. Main, Leipzig: Insel 1997, S. 32. 16 Die Gemählde. Gespräch. In: Athenaeum. Hg. v. August Wilhelm und Friedrich Schlegel. Berlin: Fröhlich 1799, S. 39–151, hier S. 65f. – Vgl. Andreas Henning/Sandra Schmidt: Die Sixtinische Madonna. Raffaels Kultbild wird 500. Ein Booklet. München, London, New York: Prestel 2012.

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viel Geld und Mühe aufgewandt, um in den Besitz dieses Gemäldes, der Sixtinischen Madonna, zu kommen. Doch hinter Meisterwerken, wie denen des Correggio, musste es in der Gemäldesammlung nach dem Urteil der Zeitgenossen doch zurückstehen. Dies revidierten die Romantiker bei ihren Besuchen in der Gemäldegalerie, und was sie dabei erörterten, veröffentlichten sie als Gespräch über die Gemälde in ihrer ohne- hin schon skandalösen Zeitschrift Athenäum. Vor Raffaels Sixtinischer Madonna, so las man es dort, verstumme die Sprache. Und doch mündet das Gespräch in eine „Ver- wandlung von Gemählden in Gedichte“.17 Gegenstand der Malerei aber, so hatte man es zuvor erörtert, sei gewiss die christliche Religion; doch auch die Landschaftsmalerei, die vielleicht sogar „höchste […] Gattung“, vermöge „die Natur bloß wie eine Schrift“ zu brauchen, schaffe gleichsam im Bild ein Gedicht.18 Dass die Natur eine Botschaft enthalte, wenn man sie nur zu lesen verstünde, war ein vertrautes Konzept im ‚Ro- mantiker‘-Kreis; Die Lehrlinge zu Sais von Novalis, Keimzelle eines künftigen ‚Natur- romans‘, führen Mensch und Natur derart zusammen, und zwar gleich zu Beginn:19

Mannichfache Wege gehen die Menschen. Wer sie verfolgt und vergleicht, wird wunderliche Figuren entstehen sehn; Figuren, die zu jener großen Chiffernschrift zu gehören scheinen, die man überall, auf Flügeln, Eierschalen, in Wolken, im Schnee, in Krystallen und in Steinbildungen, auf gefrierenden Wassern, im Innern und Äußern der Gebirge, der Pflanzen, der Tiere, der Menschen, in den Lichtern des Himmels, auf berührten und gestrichenen Scheiben von Pech und Glas, in den Feilspänen um den Magnet her, und sonderbaren Konjunkturen des Zufalls, erblickt. In ihnen ahndet man den Schlüssel dieser Wunderschrift, die Sprachlehre derselben, allein die Ahndung will sich selbst in keine festen Formen fügen, und scheint kein höherer Schlüssel werden zu wollen.

Ob diese ‚Schrift‘ zu entschlüsseln ist, mag offen bleiben; aber im Bild der Land- schaft wird sie, sofern es sich bei einem solchen Gemälde um ein wahres Kunstwerk handelt, sichtbar. In den 1797 anonym erschienenen Herzensergießungen eines kunst- liebenden Klosterbruders, bei denen die Autorschaft Wilhelm Heinrich Wackenroders sowie seines Freundes Ludwig Tieck kein Geheimnis war, werden die „z w e y w u n d e r b a r e [n] S p r a c h e n“ – die Sprache Gottes in der Natur und Kunst als die Sprache auserwählter, gleichsam ‚göttlicher‘ Menschen erkannt und

17 Ebd., S. 137. 18 Ebd., S. 65f. 19 Vgl. dazu Novalis: Die Lehrlinge zu Sais. In: Erzählungen der deutschen Romantik. Hg. v. Albert Meier/Walter Schmitz/Sibylle von Steinsdorff/Ernst Weber. 2. Aufl. München: dtv 1998, S. 24–51, hier S. 24; vgl. dazu mein Kommentar: Walter Schmitz: Friedrich von Hardenberg (Novalis). In: Ebd., S. 348–362, hier S. 352f.

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benannt.20 Wenn um 1800 immer wieder hervorgehoben wird, dass die Kunst jetzt einen neuen Weg gehen müsse, so wollten die von dem ‚romantischen‘ Impuls inspi- rierten jungen Maler den Anspruch der Landschaft annehmen: Die Kunst wende sich, nachdem die historische Figurenmalerei nun hinter ihr liege, der Landschaft zu. Das hatte Philipp Otto Runge in seinen ersten Dresdner Monaten bereits erkannt. Wer nicht die obligate Künstlerreise nach Rom absolvieren wollte, dem mochte in Dres- den der Süden begegnen. So kommt auch der junge Maler Philipp Otto Runge aus dem Norden nach ‚Elbflorenz‘. Er hatte an der Kopenhagener Akademie studiert, sie- delte 1801, nach eineinhalb Jahren Studium enttäuscht, nach Dresden über. Im selben Jahr beteiligte sich Runge an der Weimarer Preisaufgabe, wie sie Goethe – mittlerweile als Weimarischer Staatsminister auch kulturell höchst einflussreich, als Dichter hoch- berühmt – zur Hebung des Niveaus der Kunst in Deutschland eingeführt hatte; um dem „klosterbrudisirende[n], sternbaldisirende[n] Unwesen“ entgegen zu steuern, das mit dem romantischen Programm auch in die Malerei einzudringen drohte,21 wurden die Themen der Preisaufgaben aus dem Homerischen* Motivkreis gewählt; ‚Achill und Skamandros‘ aus dem 21. Gesang der Ilias war diesmal vorgegeben. Runges Beitrag war nicht erfolgreich.22 Doch hatte er sich jetzt in Dresden schon mit Schriften vertraut ge- macht, die die Naturauffassung der romantischen Gruppe ausführten,23 den Arbeiten des Naturphilosophen Heinrich Steffens (1773–1845), den Vorlesungen von Gotthilf Heinrich Schubert (1780–1860) über die ‚Nachtseite der Naturwissenschaften‘. Außer- dem hatte er Ludwig Tieck kennen gelernt. Der widmete sich damals für einige Zeit in Dresden der Herausgabe der Schriften seines früh verstorbenen Freundes Friedrich von Hardenberg (1772–1801). Friedrich von Hardenberg hatte sich als Dichter ‚Novalis‘, derjenige, der die Keime der Zukunft ‚sät‘, genannt;24 er war Bergwerks assessor im na- hegelegenen Freiberg gewesen, zeitgenössische Naturwissenschaft war ihm wohl ver- traut, doch Natur bedeutete ihm mehr als ein Objekt der Wissenschaft. Die geistigen Prinzipien in der Natur hatte er in viel fältigen Aphorismen versucht aufzudecken. Nach

20 Vgl. Wilhelm Heinrich Wackenroder: Von zwey wunderbaren Sprachen, und deren geheimnißvoller Kraft. In: Ders.: Werke. Hg. v. Silvio Vietta. Heidelberg: Winter 1991 (= Sämtliche Werke und Briefe; 1), S. 97–100, hier S. 97. 21 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 18. Hg. v. Gerhard Neu- mann/Hans-Georg Dewitz. Frankfurt a. Main: DKV 1989, S. 920; zu den Preisaufgaben vgl. Ernst Osterkamp: Bildende Künste. In: Goethe Handbuch. Personen, Sachen, Begriffe A-K. Band 4/1. Hg. v. Dietrich Dahnke/ Regine Otto. Stuttgart, Weimar: Metzler 1998, S. 116–130. 22 Vgl. Regine Gerhardt: Die Weimarer Preisaufgaben – Runges Bruch mit der Tradition. In: Kosmos Runge. Der Morgen der Romantik. Hg. v. Markus Bertsch/Uwe Fleckner/Jenns Howoldt/Andreas Stolenburg. München: Hirmer Verlag 2011, S.111–118, hier S. 116. 23 Vgl. Pauline Kintz: Das befreite Bild. Die bildende Tätigkeit Runges im Lichte der frühromantischen poetischen Theorie von Novalis und Friedrich Schlegel. In: Kosmos Runge. Das Hamburger Symposium. Hg. v. Markus Bertsch/Hubert Gaßner/Jenns Howoldt. München: Hirmer Verlag 2013, S. 61–71, hier S. 62f. 24 Vgl.zur Etymologie dieses „alten Gechlechtsnahmens“Schmitz,Friedrich von Hardenberg (Novalis)(wie Anm.18),S. 360.

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seinem Tod war bei jüngeren sächsischen Adligen um Georg Anton und Karl Gottlob Andreas von Hardenberg, die Brüder des Novalis, ein förmlicher Novalis-Kult entstan- den,25 in dem freilich die intellektuelle Esoterik von dessen Schriften abgeblendet blieb. Man hielt sich lieber an die romantischen Motive: die Nachtszenen, die wunderbare Exotik des Orients, das Märchenhafte, das sich auch dem oberflächlichen Leser darbot. Tiecks Ausgabe ist dagegen einer der ersten Ver suche, die ,echte‘ Romantik gegen ihre Nachahmer zu schützen. Den jungen Maler Runge machte er mit den Schriften des Novalis vertraut, aber darüber hinaus auch mit dem Görlitzer Naturphilosophen Jacob Böhme (1575–1624). Jacob Böhme hatte die Signatur des Göttlichen in der Schöpfung entdeckt, die eben keine tote Natur, sondern eine große Zeichenschrift Gottes war, die der Mensch nur zu entschlüsseln habe. Runge hatte überdies Tiecks Roman Franz Stern- balds Wanderungen gleich nach dem Erscheinen 1798 gelesen und hier ein anderes Künstlerideal gefunden als Goethes klassisch-gebildetes. Die Wanderungen Sternbalds erschließen diesem, dem jungen Maler aus Albrecht Dürers Schule, den wunderbaren Zusammenhang der Welt – bis zur Ankunft unter Michelangelos Fresken in der Sixti- nischen Kapelle zu Rom, die Gottes Werk von der Schöpfung bis zur Apokalypse in diesem Raum der Andacht vergegenwärtigen. Als dann die Rezension der Weimarer Preisaufgaben Anfang 1802 erschien, hatte Runge mit der klassischen Tradition nichts mehr im Sinn: Das alles sei nur „Schnickschnack“.26 „Der Achill und Skamander“, so schreibt er in einem Text zur Kunstausstellung in Weimar,27

sammt den Sachen, wie das nach und nach zur Vollendung gebracht werden soll, ist doch am Ende ein vergeblicher Wunsch; wir sind keine Griechen mehr, können das Ganze schon nicht mehr so fühlen, wenn wir ihre vollendeten Kunstwerke sehen, viel weniger selbst solche hervorbringen, und warum uns bemühen, etwas mittelmäßiges zu liefern?

Weil die Kunst geschichtlich ist, muss jede Zeit eine neue Kunst schaffen:28

Wir sehen in den Kunstwerken aller Zeiten es am deutlichsten, wie das Menschen- geschlecht sich verändert hat, wie niemals dieselbe Zeit wieder gekommen ist, die einmal da war; wie können wir denn auf den unseligen Einfall kommen, die alte Kunst wieder zurückrufen zu wollen?

25 Vgl. dazu Leif L. Albertsen: Novalismus. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 17 (1967), S. 272–285. 26 Philipp Otto Runge: Hinterlassene Schriften. Bd. 1. Hg. v. Daniel Runge. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1965, S. 14. 27 Ebd., S. 6. 28 Ebd.

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Die Zeit der „historischen Composition“ sei vorbei: „Michelangelo war der höchste Punct“,29 aber schon Rafael habe sich weiterentwickelt, „die Madonna in Dresden ist offenbar nur eine Empfindung, die er durch die so wohl bekannten Gestalten aus - gedrückt hat“.30 Der „höchste Punct der historischen Kunst“ könne schwerlich wieder entstehen; dies „müsste denn auf einem ganz neuen Wege geschehen“, und „d a s i s t i n d e r L a n d s c h a f t“.31 „Die Struktur des Denkens über Natur und Bild ändern“, heißt bei Philipp Otto Runge jetzt zunächst, „Landschaft zu denken und das meint nichts anderes, als die bisherige Struktur des Denkens über Kunst in Gattungen und ihren Regelsystemen aufzuheben.“32 Was der Künstler freilich festhalten müsse, trans - zendiere das bloß Verständige, sei vielmehr – so wie es Raffael in der Sixtinischen Madonna bereits getan habe – die ‚Empfindung‘;33 jetzt aber die Empfindung an - gesichts einer Natur, die aufs Göttliche verweise:34

Und welcher Künstler […], den die Natur, die wir nur noch in uns selbst, in unserer Liebe, und an dem Himmel, rein sehen, erweckt, wird nicht nach dem rechten Gegen- stande greifen, um diese Empfindung an den Tag zu legen? wie könnte ihm da der Ge- genstand mangeln? Solch ein Gefühl muß also dem Gegenstande noch vorausgehen.

Wenn sie die ‚zwei wunderbaren Sprachen‘ von Natur und Kunst zu verbinden wisse, dann bewahre eine solche neue Malerei ihre religiöse Dimension in einer zunehmend glaubenslosen Zeit. Denn – so Runge – „wir stehen am Rande aller Religionen“,35 eine Auffassung, die um 1800 von vielen Gebildeten geteilt wurde. Schon 1799 hatte Friedrich Schleiermacher, der ebenfalls zur romantischen Gruppe in Jena zählte, seine Schrift Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern veröffentlicht. In ihr bestimmte

29 Ebd. 30 Ebd. Hervorhebung W.S. – Vgl. hier und im Folgenden, insbesondere auch zu Runges Auffassung von ‚Emp - findung‘ und ‚Gefühl‘, Frank Büttner: „Die Quelle der neuen Kunst“. Zum zweihundertsten Todestag von Philipp Otto Runge. In: Kosmos Runge. Das Hamburger Symposium (wie Anm. 22), S. 17–21, hier S. 18. 31 Runge, Hinterlassene Schriften (wie Anm. 25), S. 14f. 32 Thomas Lange: ‚Landschaft‘ als erste Erprobung der Abstraktion. Über das Verhältnis von Bildtheorie und Geschichtstheorie im Werk Philipp Otto Runges. In: Landschaft am ‚Scheidepunkt‘. Evolutionen einer Gattung in Kunsttheorie, Kunstschaffen und Literatur um 1800. Hg. v. Markus Bertsch/Reinhard Wegner. Göttingen: Wallstein 2010, S. 263–293, hier S. 290. – Zu den Zusammenhängen vgl. insbesondere zur Krise der Ikonographie gegen Ende des 18. Jahrhunderts: Johannes Grave: Landschaft als Bildkritik. Zur Restitution von Bildlichkeit bei den Nazarenern und Caspar David Friedrich. In: Ebd., S. 295–329, hier S. 297ff. 33 Vgl. Rainer Piepmeier/Odmar Neumann: Empfindung. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2: D–F. Hg. v. Joachim Ritter. Darmstadt: WBG 1972, Sp. 456–474, bes. Sp. 462f. 34 Runge, Hinterlassene Schriften (wie Anm. 25), Bd. 1, S. 6f. 35 Ebd., S. 7. – Vgl. Saskia Pütz: Philipp Otto Runge zwischen Aufklärungstheologie und Erweckungsbewegung. In: Kosmos Runge. Das Hamburger Symposium (wie Anm. 22), S. 229–237.

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er Religion eben als die Empfindung und als „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“. 36 So hatte denn auch Runge gefragt: „Entsteht nicht ein Kunstwerk nur in dem Moment, wenn ich deutlich einen Zusammenhang mit dem Universum vernehme?“37 Wenn dieser Zusammenhang in der Kunst dargestellt werde, dann wird die Landschaft gleichsam zum Spiegel der Transzendenz, so wie es früher die Religion war: Ein umfassendes Naturbild als „Ausdruck von kosmologischer Erfahrung“.38 Dass die Natur die Sprache Gottes sei, dass alles, was wir in der Natur erblicken, nur eine Signatur des Göttlichen bedeute, eben das hatte Ludwig Tieck bei Jacob Böhme gelesen. Böhme (1575–1624), Schuhmacher in Görlitz, hatte im Zeitalter der konfessionellen Kriege eine spekulative Naturphilosophie entwickelt. Sie ließ den Streit der Konfessionen, der katholischen gegen die evangelische, hinter sich und suchte Gottes Sprache in der Natur selbst zu entschlüsseln. Sie ist Weisheit von Gott, Theosophie. Dass die Natur eine stumm gewordene Chiffrensprache sei, hatte Novalis, der wiederum Tieck die Begegnung mit Böhmes Schriften verdankte, ja immer wieder betont. Und die Natur „in tätiger Wirksamkeit“ hatte auch Tiecks Figur, der Maler Franz Sternbald, als die „Hieroglyphe“ erlebt, „die das Höchste, die Gott bezeich- net“.39 Von den rätselvollen Zeichen der Natur, wie sie Jacob Böhme und Novalis ge- deutet hatten, lässt sich Runge in spirieren, so zu sehen am Zyklus der Tageszeiten.40 Bei Jacob Böhme lesen wir: „Die Weisheit oder ewige Jungfrau Gottes eröffnet alle die großen Wunder im H. Element: denn alsda sind die Essentien, in welchen aufgehen die Ge- wächse des Paradieses.“41 In Runges Gemälde des Kleinen Morgen (1808), das den Tages- zeitenzyklus eröffnet, sehen wir ebenfalls die „ewige Jungfrau der Weisheit Gottes“42 im Zentrum des Bildes, durch die sich das Göttliche „in der paradiesischen Welt, in der ‚blühenden Erde‘“43 offenbart. Auf grüner Wiese zu ihren Füßen wachsen gelbe Lilien –

36 Vgl. dazu Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern. In: Ders.: Werke. Vierter Band. Hg. v. Otto Braun/Johannes Bauer. Aalen: Scientia 1981, S. 207–399, hier S. 242. Vgl. darüber hinaus Klaus Lankheit: Caspar David Friedrich und der Neuprotestantismus. In: Deut- sche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 24 (1950), S.129–143. Wahrscheinlich hat auch Caspar David Friedrich Schleiermachers Schrift gekannt, vgl. Werner Hofmann: Caspar David Friedrich. Naturwirklichkeit und Kunstwahrheit. München: Beck 2000, S. 50ff. 37 Runge: Hinterlassene Schriften (wie Anm. 25), S. 6. 38 Werner Busch: Kommentar zu Philipp Otto Runge. Text zur Kunstausstellung in Weimar und Brief an Ludwig- Tieck (1802). In: Landschaftsmalerei. Hg. v. dems. Berlin: Reimer 1997, S. 242–244, hier S. 243. 39 Ludwig Tieck: Franz Sternbalds Wanderungen. Hg. v. Alfred Anger. Stuttgart: Reclam 2007, S. 250. 40 Vgl. dazu auch Neidhardt, Die Malerei der Romantik (wie Anm. 7), S. 53. – vgl. auch Roger Fornoff: Weltver- wandlung. Zu Philipp Otto Runges Idee des Gesamtkunstwerks. In: Kosmos Runge. Das Hamburger Symposium. Hg. v. Markus Bertsch/Hubert Gaßner/Jenns Howoldt. München: Hirmer Verlag 2013, S. 37–43, hier S.39f. 41 Jacob Böhme: De tribus principiis, oder Beschreibung der Drey Principien Göttlichen Wesens. Hg. v. August Faust. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann Holzboog 1942 (= Sämtliche Schriften; 2), S. 26. 42 Karl Möseneder: Philipp Otto Runge und Jakob Böhme. Über Runges ‚Quellen und Dichter‘ und den ‚Kleinen Morgen‘. Marburg a. d. Lahn: Herder-Institut 1981, S. 66. 43 Ebd., S. 65.

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„irdische Spiegelungen gött lichen Lich- tes“44 – und entlang ihrer anmutigen Gestalt sehen wir drei weiße Lilien gen Himmel entspringen, die jene Dreifaltig- keit symbolisieren, aus der En gel und Men- schen, ja das Leben selbst, hervor gehen.45 „Nahe zu alle zentralen Motive“ von Runges Gemälde können „auf Böhmes Gedanken - bilder zur Entstehung dieser Welt und der Engelssphäre zurück geführt werden.“46 Caspar David Friedrich ist Runge mehr- mals begegnet. Ein Stück weit laufen die Lebenswege der beiden Maler parallel – beide im Norden Deutschlands, Runge in Hamburg, Friedrich in Greifswald ge boren, beide zu akademischer Ausbildung zu- nächst in Kopenhagen, beide sich dann Philipp Otto Runge: Der kleine Morgen [1808] nach Süden,nach Dresdenwendend. Wenn- gleich noch immer nicht geklärt ist, wie das Verhältnis beider zueinander aussah, so ist doch bestätigt, dass Runges Ideen auf den jüngeren Maler wirkten.47 Vor allem hat diesen offenbar Runges Modell einer zyklischen Wiederkehr der Natur-Zeit in Gottes Schöp- fung, die sich in dem allegorischen Tageszeiten-Zyklus abbildet, herausgefordert, dagegen eine lineare Zeiterfahrung zu setzen, die der Vergangenheit ihr Recht gibt und auf eine – christlich-transzendente – Zukunft der Erlösung zielt. So entwickelte Friedrich, begin nend mit einem Jahreszeitenzyklus, der unmittelbar auf Runges Entwurf reagiert,48 eine andere Form der modernen Landschaftsdarstellung. Der – wiederum jüngere – Zeitgenosse Carl Gustav Carus hat seinen zeitweiligen Freund Caspar David Friedrich geschildert:49

44 Ebd. 45 Vgl. ebd., S. 66. 46 Ebd., S. 67. Vgl. zu Der kleine Morgen Markus Bertsch: Der Kleine Morgen 1806–1808. In: Kosmos Runge. Der Morgen der Romantik (wie Anm. 21), S. 158–177. 47 Neidhardt, Die Malerei der Romantik in Dresden (wie Anm 7), S. 61. 48 Vgl. Reinhardt Wegner: Zeiterfahrung und historisches Bewusstsein bei Philipp Otto Runge und Caspar David Friedrich. In: Kosmos Runge. Das Hamburger Symposium (wie Anm. 22), S. 323–327. – Vgl. Fiege, Caspar David Friedrich (wie Anm. 7), S. 79-86; außerdem Helmut Börsch-Supan: Caspar David Friedrich. Gefühl als Gesetz. München: Deutscher Kunstverlag 2008 S. 155–175. 49 Caspar David Friedrich, der Landschaftsmaler zu seinem Gedächtnis von Carl Gustav Carus erschien zuerst in Schorns Kunstblatt; aufgenommen hat Carus den Text in seine Lebenserinnerungen. Vgl. dazu Ders., Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten, Erster Teil (wie Anm. 8), S. 206f. – Nach einem schweren depressiven Anfall und einem Selbstmordversuch hatte Caspar David Friedrich Dresden fluchtartig verlassen und zog sich in seine Heimat zurück. Erst Ende Juli 1802 ist er wieder in Dresden. Seitdem entwickelt er konsequent die ihm eigentümliche Bildsprache.

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Seine ersten Studien hatte er auf der Akademie zu Kopenhagen gemacht und im Jahre 1795 kam er nach Dresden, wo er 1817 zum Mitgliede der Akademie und später zum Professor der Landschaftsmalerei erwählt wurde. In Dresden hatte er sich stets sehr abgesondert gehalten, an keinen der damaligen Professoren sich angeschlossen und so allmählich einen eigenen tiefpoetischen, doch oft auch etwas finstern und schroffen Stil der Landschaft ausgebildet. Wie in der Kunst, so war er auch im Leben; von strenger Rechtlichkeit, Geradheit und Abgeschlossenheit – deutsch durch und durch –, nie hatte er auch nur versucht, eine der fremden modernen Sprachen zu erlernen, aller Ostentation* ebenso fremd wie jeder luxu- riösen Geselligkeit. Man sah ihn fast nie unter Menschen.

Nach Dresden war Friedrich gezogen, weil ihn dort die „trefflichsten Kunstschätze“ erwarteten, „umgeben von einer schönen Natur“.50 Beeindruckt war er freilich auch von den dortigen Malern wie Klengel und Zingg. Zudem las er die Schriften der Romantiker und ihres Umkreises.51 Mit der Kunstakademie hingegen hatte er keinen Kontakt. „Friedrich war ein sehr aparter Mensch“, so schreibt Wilhelm von Kügelgen (1802–1867) in seinen Lebenserinnerungen eines alten Mannes, einem der Hausbücher des gebildeten deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert.52 Er wirke düster, doch wohne in ihm vielmehr53

ein sehr zarter kindlicher Sinn, den Kinder und kindliche Naturen leicht erkann- ten, mit denen er daher auch gerne und zutraulich verkehrte. Im allgemeinen war er menschenscheu, zog sich auf sich selbst zurück und hatte sich der Einsamkeit ergeben, die je länger, je mehr seine Vertraute ward und deren Reiz er in seinen Bildern zu verherrlichen suchte.

Viel bedeutete dem Zugezogenen die Verbindung zu dem Dresdner Maler Gerhard von Kügelgen (1772–1820). Dessen Haus war ein Ort geselligen Zusammenseins, und der Hausherr vermochte vieles auszugleichen, was seine Gäste im Prinzipiellen

50 Act. Acad. 8, I. Blatt 94. Quelle zitiert bei Ernst Sigismund: Caspar David Friedrich. Eine Umrißzeichnug. Dresden: Jess 1943, S. 15. 51 Vgl. dazu Tiecks Bemerkung in seinem Essay Novalis‘ Lebensumstände: „So erinnere ich mich z. B. eines Streites über die Landschaftsmalerei, in welchem ich seine [Novalis] Ansicht nicht fassen konnte, die aber nachher aus eigenem reichen poetischen Gemüth der vortreffliche Landschaftsmaler Friedrichs in Dresden großentheils wirk- lich gemacht hat.“ (Ludwig Tieck: Vorrede zur ersten Auflage. In: Novalis: Schriften. Erster Theil. Hg. v. Ludwig Tieck u. Friedrich Schlegel. Berlin: Reimer 1837, S. III-XXXIII, hier S. XXX.) 52 Wilhelm von Kügelgen: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Bd. 1. Hg. v. Else Kügelgen/Bernt Kügelgen. Leipzig: Koehler & Amelang 1971, S. 145. 53 Ebd.

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trennte. Vor allem Friedrichs Neigung zur Zurückgezogenheit, zur Misanthro- pie, fand hier für lange Zeit noch ein Ge- gengewicht. Bezeichnend freilich für den Maler ist das einsame Arbeiten in seinem Atelier. So hat ihn Georg Friedrich Kers- ting (1785–1847) in einem berühmten Gemälde vorgestellt. „Ein Bild muß nicht erfunden, sondern empfunden sein“, so schrieb Friedrich selbst in seinen Äußerungen bei Betrachtung einer Sammlung von Gemählden von größ- tentheils noch lebenden und unlängst verstorbenen Künstlern.54 Das entspricht der Auffassung Runges. Aber Runges Zeichen werden in der Komposition zu Allegorien. Sie bilden eine Konstellation, Georg Friedrich Kersting: Caspar David Fried- rich in seinem Atelier [1811] die auf den großen Zusammenhang des Universums verweist. Caspar David Friedrich verweist mit den Titeln seiner Bilder da- gegen häufig auf – zumindest dem Dresdner Publikum bekannte – Landschaften der Region; er schließt damit scheinbar an die Dresdener Tradition der ‚realistischen‘ Land- schaftsmalerei an. Friedrich erlaubt sich „im Detail auch nicht die geringste Abweichung vom Naturvorbild […] während allerdings die Landschaft durchaus aus verschiedenen studierten Naturpartikeln zusammengesetzt sein kann, deren Zusammenhang die vor- gängige abstrakte Bildordnung stiftet.“55 Die Zeichen sind lesbar, Allegorien, wie sie Runges Gemälde so eigenwillig weiterentwickeln, vermeidet Friedrich; denn diese sind Zeichen der Zeitlosigkeit. – Im Jahr 1808 entsteht das großformatige Gemälde Böhmische Landschaft mit dem Milleschauer. Zu dieser morgendlichen Landschaft gehört ein Ge- genstück im gleichen Format, das dieselbe Gegend Nordböhmens, aber in Abendstim-

54 Caspar David Friedrich: Äußerungen bei Betrachtung einer Sammlung von Gemälden von größtenteils noch lebenden und unlängst verstorbenen Künstlern. In: Caspar David Friedrich in Briefen und Bekenntnissen. Hg. v. Sigrid Hinz. Berlin: Henschelverlag 1968, S. 84–134, hier S. 93 [Hervorhebung W.S.]. 55 Vgl. Werner Busch: Unmittelbares Naturstudium und mathematische Abstraktion bei Caspar David Friedrich. In: Expedition Kunst. Die Entdeckung der Natur von C. D. Friedrich bis Humboldt. Hg v. Jenns E. Howohlt/ Uwe M. Schneede. Hamburg, München: Dölling und Galitz 2002, S. 17–26, hier S. 19, vgl. dort auch die genauere Interpretation des Bildes Tetschener Altar, S. 19ff. – Friedrich selbst hat darauf bestanden, seine Gemälde – wie jedes „echte Kunstwerk“ – entstünden unmittelbar, „oft dem Künstler unbewußt aus innerem Drange des Her- zens“ (Friedrich, Äußerungen [wie Anm. 54], S. 92); er folgt damit freilich einem Topos, den Tieck vor allem in seinem Sternbald-Roman einflußreich formuliert hatte. Zur entsprechenden Legende, es gebe keine Vorstudien zu den großen Gemälden vgl. Fiege, Caspar David Friedrich (wie Anm. 7), S. 72f.

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Caspar David Friedrich: Böhmische Landschaft mit dem Milleschauer [ca. 1810]

mung, vorstellt. Für Friedrich ist die Bedeutung Teil der Landschaft selbst. Er schildert nicht eine Ansicht, sondern eine bedeutungsvolle Sinnlandschaft. Dies gilt auch für diese beiden böhmischen Landschaftsgemälde. Die beiden Bilder wurden Anfang August 1808 von dem Grafen Franz Anton von Thun und Hohenstein erworben, der sich am 5. Sep- tember desselben Jahres mit Theresia Gräfin von Brühl vermählte. Wenn bei Runge die Tageszeiten für den Zyklus des gesamten Lebens einstehen, so verweisen Friedrichs Bilder auf den Lebensweg, gleichsam linear durch die Zeit, und zwar – wie die Erwerbung des Bildpaares annehmen lässt – auf den gemeinsamen Lebensweg des Brautpaares.56 Im Vordergrund führt denn auch in das Morgenbild der böhmischen Landschaft ein Weg hinein, Chiffre eben für den Lebens weg, der durch Höhen und Tiefen hindurchführen wird. Die sinnbildliche Landschaft ist gegenüber den politischen Territorien gleichsam autonom. Sie kennt keine Grenzen, sie zeigt keine Differenzen. Sie schafft einen Sinn- raum, der Mensch und Natur umfasst.57

56 Vgl. Gerd Spitzer: Die Lindenau-Stiftung 1843 als Beginn einer ‚nationalen Sammlung moderner Werke‘. In: Dresden. Hg. v. den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Köln: Walther König 2010, S. 57–102, hier S. 68. – Außerdem Fiege, Caspar David Friedrich (wie Anm. 7), S. 70ff. sowie Börsch-Supan, Gefühl (wie Anm. 48), S. 183. 57 Friedrichs Vorliebe für die geometrische Präzision geordneter vertikaler Strukturen darf man als Streben deuten, „die Chaos bewirkenden fallenden Kräfte des Ungestalteten zu überwinden“, so auch in dem Gewoge der Hügel - landschaft im Gebirge, wie das Bild Morgen im Riesengebirge sie zeigt; Neidhardt, Caspar David Friedrich (wie Anm. 13), S. 20.

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Dass es Caspar David Friedrich nicht um realistische Naturbilder gehen könne, haben die Zeitgenossen sehr wohl begriffen, und sie empörten sich immer wieder über diese Aufladung der Natur mit Sinn; das sei Effekthascherei durch ‚Mystik‘. Der Graf Franz Anton von Thun und Hohenstein (1786–1873) freilich war ein Förderer des Künstlers. Das erste aufsehenerregende Gemälde Friedrichs wurde wohl auf eine Anregung von Theresia Gräfin von Brühl (1784–1844), spätere Gräfin Thun, geschaffen; sie soll im März 1807 auf der Dresdner Akademieausstellung ein Sepiablatt* Friedrichs mit einem ‚Kreuz im Gebirge‘ gesehen haben, und danach sei der Auftrag zur Ausführung eines großen Ölgemäldes an den Maler ergangen.58 Im Jahr 1808 kauft der Graf von Thun Das Kreuz im Gebirge für sein Schloss Tetschen (Děčín) – daher der Ne- bentitel Tetschener Altar. Das Bild wurde aber niemals in der Kapelle aufgestellt, sondern in den Privatgemächern – und zwar im Schlafzimmer der Gräfin – auf- bewahrt, neben einem großen Repro- duktionsstich von Rafaels Sixtinischer Madonna.59 Dass die Landschaft hier zur Szenerie des Christentums wird,60 ist denn auch offenkundig, und der zugehö- rige Prunkrahmen des Bildes mit seiner stilisierten Darstellung des allsehenden Auges Gottes betont dies noch. Erstmals dem Publikum präsentiert wird diese neue Ikone einer Kunstreligion dann Caspar David Friedrich: Das Kreuz im Gebirge auch zu Weihnachten 1808 „für kurze (Tetschener Altar) [1807/08]

58 Vgl. Gerd Spitzer: Das Kreuz im Gebirge (Tetschener Altar). In: Caspar David Friedrich in der Dresdner Galerie. Hg. v. dems. Dresden: Sandstein 2010, S. 34; vgl. Hofmann, Friedrich. Naturwirklichkeit und Kunstwahrheit (wie Anm. 35), S. 41. – Abbildung der Sepiazeichnung von 1806 bei Johannes Grave: Caspar David Friedrich. Glaubensbild und Bildkritik. Zürich: Diaphanes 2011, S. 46. Zu der aufgrund von neueren Dokumenten mittlerweile sehr viel komplexer zu rekonstruierenden Entstehungsgeschichte vgl. Werner Busch: Caspar David Friedrichs „Tetschener Altar“. In: Natur, Kunst, Freiheit. Deutsche Klassik und Romantik aus gegenwärtiger Sicht. Hg. v. Marek J. Simek. Amsterdam: Rodopi 1998, S. 263–280. – Gute einführende Übersicht bei Fiege, Caspar David Friedrich (wie Anm. 7), S.30–36. 59 Vgl. Karl-Ludwig Hoch: Der sogenannte Tetschener Altar. Caspar David Friedrich. In: Pantheon 39 (1981), S. 322–326, hier S. 324, 2. Abbildung; zu dieser Konstellation vgl. Hofmann, Friedrich. Naturwirklichkeit und Kunstwahrheit (wie Anm. 35), S. 47f. 60 Vgl. hier und im folgenden Gerhard Eimer: Zur Dialektik des Glaubens bei Caspar David Friedrich. Frankfurt a. Main: Kunstgeschichtliches Institut der Goethe-Universität Frankfurt am Main 1982.

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Zeit in Friedrichs Wohnung […] und erregte dabei großes Aufsehen, der Künstler selbst war in jenen Tagen verreist.“61 Der Maler selbst hat eine Beschreibung seines Werkes gegeben; sie erschien im April 1809 im Journal des Luxus und der Moden in Weimar. Redigiert wurde sie von dem ihm befreundeten Christian August Semler (1767–1825), Sekretär der Dresdner Bibliothek:62

Der Tetschener Altar (C.D. Friedrich / C. A. Semler)

Beschreibung des Bildes Auf dem Gipfel des Felsens steht hoch aufgerichtet das Kreuz, umgeben von immer grünen Tannen, und immergrüner Epheu umwindet des Kreuzes Stamm. Strahlend sinkt die Sonne, und im Purpur des Abendrotes leuchtet der Heiland am Kreuz.

Beschreibung des Rahmens Der Rahmen ist nach Herrn Friedrichs Angabe von Bildhauer Kühn gefertigt wor- den. Zur Seite bildet der Rahmen zwei gotische Säulen. Palmzweige steigen daraus empor und wölben sich über dem Bilde. In den Palmzweigen sind fünf Engels- köpfe, die alle anbetend niederschauen auf das Kreuz. Über dem mittelsten steht im reinsten Silberglanze der Abendstern. Unten ist in länglicher Füllung das all - sehende Auge Gottes, vom heiligen Dreizack eingeschlossen [und] mit Strahlen umgeben. Kornähren und Weinranken neigen sich zu beiden Seiten gegen das all- sehende Auge und deuten auf Leib und Blut dessen, der an das Kreuz geheftet ist.

Deutung des Bildes Jesus Christus, an das Holz geheftet, ist hier der sinkenden Sonne zugekehrt, als das Bild des ewigen allbelebenden Vaters. Es starb mit Jesu Lehre eine alte Welt, die Zeit, wo Gott der Vater unmittelbar wandelte auf Erden. Diese Sonne sank, und die Erde vermochte nicht mehr zu fassen das scheidende Licht. Da leuchtet vom reinsten edelsten Metall der Heiland am Kreuz im Golde des Abendrots und widerstrahlt so im gemilderten Glanz auf Erden. Auf einem Felsen steht auf - gerichtet das Kreuz, unerschütterlich fest wie unser Glaube an Jesum Christum. Immergrün, durch alle Zeiten während, stehen die Tannen um das Kreuz, wie die Hoffnung der Menschen auf ihn, den Gekreuzigten.

61 Spitzer, Die Lindenau-Stiftung 1843 (wie Anm. 54), S. 66. 62 Abgedruckt in Caspar David Friedrich in Briefen und Bekenntnissen (wie Anm. 52), S. 137.

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Doch der Maler vermag nur in konventionelle Worte zu fassen, was tatsächlich völlig neu ist, und die Sehgewohnheiten der Zeitgenossen tief verstört. Der Tetschener Altar ist alles andere als konventionell. In keiner Weise entsprach dieses Gemälde „den etab- lierten Formen der zeitgenössischen Landschaftsmalerei und dem Erwartungshorizont der Betrachter“.63 – Eine Deutung, die hier nicht im Einzelnen abzuleiten ist, hat Johannes Grave wie folgt zusammengefasst:64 Caspar David Friedrichs irritierende Darstellung des Kreuzes im Tetschener Altar scheint wesentlichen Grundzügen von Luthers Kreuzestheologie auffällig vergleich- bar. Gott wird hier weder in der Natur erfahrbar noch lässt er sich fraglos in einer symbolischen Darstellung erfassen, vielmehr erscheint er in der Weise eines mehr- fachen Entzugs: als vom Betrachter abgewandtes, bloßes metallenes Bildwerk, das in eine Landschaftsdarstellung eingefügt ist, die sich ihrerseits den gewohnten Konventionen der Bildbetrachtung verweigert.

Wie Friedrich später einmal andeutet, ist dem Zeichen des Kreuzes nicht selbst zweifelsfrei die Macht eigen, sich als ‚Trost‘ zu erkennen zu geben. Es kommt vielmehr wesentlich auf den Betrachter und auf die Form der Betrachtung an. Dieser Gedanke entspricht nicht nur dem paulinischen Wort von der ‚Torheit‘ des Kreuzes, sondern eben auch Luthers Über- legungen zur gleichsam verborgenen Offenbarung Gottes im Kreuz. Allerdings hatte Caspar David Friedrich aus seiner eigenen evangelischen Glaubens- überzeugung heraus doch eine Alternativezu einer lutherischen, auf das ‚Wort‘ der Bibel bauenden Kreuzestheologie zu entwickeln. Denn auf das Buch der Bibel konnte Friedrich sich im Bilde schwerlich berufen. In der frühen Zeichnung Alte Frau mit Sanduhr und Buch hatte er denn auch eine Buchkritik festgehalten, die unmittelbar aus der Auseinandersetzung mit einem Wort Christi stammte: Selig sind „die nichts sehen und doch glauben“.65 „Wenn Bilder“, so folgert nochmals Johannes Grave,66 im religiösen Kontext überhaupt einen Platz finden konnten, so mussten sie ihren eigenen, problematischen Status auffällig werden lassen und zu einer Reflexion ihrer Bildlichkeit anregen, statt die Darstellungsform zugunsten einer alleinigen Fixierung auf das Dargestellte auszublenden.

63 Grave, Caspar David Friedrich (wie Anm. 56), S. 35. 64 Ebd., S. 49f; dort auch das folgend Zitat. – Vgl. ebd. zur Entwicklung des Themas vom ‚Wort vom Kreuz‘ zum ‚Kreuz als Bild‘ in Friedrichs Schaffen. – Zur weiteren Auslegung vgl. Hofmann, Friedrich. Naturwirklichkeit und Kunstwahrheit (wie Anm. 35), S. 41–52 sowie Busch, Friedrichs „Tetschener Altar“ (wie Anm. 56). 65 Joh. 20,29. 66 Grave, Caspar David Friedrich (wie Anm. 56), S. 33.

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Ermutigt haben mochte den Maler ein ‚geschriebenes Bild‘. Denn Caspar David Friedrich zeigt sich hier auch als ein eifriger Leser jenes Malerromans von Ludwig Tieck, der seinen Protagonisten, Franz Sternbald, auf dessen Italienreise auf einen alten, als Eremit in den Bergen lebenden Künstler treffen lässt. Der macht den jungen Maler auf ein abseitshängendes Landschaftsbild mit einem Kreuz im Gebirge auf- merksam. Es zeigt einen Pilger, der auf einem nächtlichen dunklen Hohlweg kom- mend, ein von Ferne her glänzendes Kruzifix wahrnimmt, „um das sich die Wolken teilten; ein Strahlenregen vom Mond ergoß sich und spielte um das heilige Zeichen.“67 Der alte, fromm gewordene Maler erklärt dem jungen, er habe hier „das zeitliche Leben und die überirdische, himmlische Hoffnung malen wollen“.68 Das Kreuz sieht er als Fingerzeig Gottes. Es ruft den Pilger zu sich in die Höhe. Die Macht des Kreuzes aber schildert er wie folgt: „Vom Kreuze her dringt mit lieblicher Gewalt der Strahl in die Welt hinein, der uns belebt, der unsre Kräfte aufrecht hält.“69 Und gleichwohl bleibt dem Maler sein eigenes Bild ein Rätsel, so wie dem Betrachter Sternbald, der schon auf dem Weg durchs Gebirge die Natur als Offenbarung Gottes erfahren hatte, und der angesichts ihrer Schönheit ausruft: „[S]ichtbar wandelt hier auf Höhen und Tiefen die Religion“.70 Indessen muss er doch einsehen, „daß die Erfahrung Gottes in der Natur zwar wahr ist, die Kunst ihr jedoch nur in allegorischer Form Ausdruck geben kann, sie fügt die wahrgenommenen Gegenstände zusammen, in der Absicht, ihnen so Sinn zu geben“.71 Dies sei, so die Auffassung Tiecks, die Friedrich vertraut war, „eine Form der Suche nach dem Höchsten, [die] nur auf diesem, dem allego - rischen Wege möglich“ sei.72 – Dem vergoldeten Rahmen des Tetschener Altars, der

67 Tieck, Franz Sternbalds Wanderungen (wie Anm. 38), S. 257. 68 Ebd. 69 Ebd. 70 Ebd., S. 250. 71 Busch, Friedrichs „Tetschener Altar“ (wie Anm. 56), S. 272; vgl. auch Tieck, Franz Sternbalds Wanderungen (wie Anm. 38), S. 257f. 72 Busch, Friedrichs „Tetschener Altar“ (wie Anm. 56), S. 272. – Carus hat diese Anregung programmatisch ausge- führt: Erst durch die Kunst könne die göttliche Naturschönheit „wahrhaft aufgeschlossen“ werden: „Nimm z. B. die Landschaft, welche T i e c k in Sternbalds Wanderungen beschreibt, wo im engen Thale man einen Pilger zur Höhe hinwandeln sieht, wo im Mondlicht das Kreuz einer Kirche schimmert. Wir sehen hier eine christlich-sitt- liche Idee ausgesprochen, welcher an sich wir unsere volle Zustimmung nicht versagen können; aber sollen wir d a s B i l d wahrhaft lobenswerth finden, so reicht diese Gesinnung nicht hin, es reicht nicht die reinliche, ge- schickte Darstellung und Anordnung hin, sondern es müßte das Ganze so unschuldig, so rein-natürlich aufgefaßt sein, daß wir auch ganz abgesehen von dieser Idee uns an der treu ausgesprochenen Scene d i e s e s Naturlebens erfreuen könnten, ja daß ein Mensch dem gerade ähnliche christliche Ideen völlig fremd wären, die Kühle des Thales, das Heimliche und Klare der Mondbeleuchtung, die Wahrheit des sich allmählich zur Höhe hinaufzie- henden Weges freudig empfinden müßte. Denn es wird nun einmal hier gefordert, daß der Mensch sich in den- selben Fall wie bei der Naturbeschauung versetzt finde, welche, je nachdem der Mensch ist, bald so, bald so, und in jedem Sinne immer schön erscheinen kann; sodaß ihm auf keine Weise irgend die individuelle Naturansicht eines anderen aufgedrungen, sondern seine individuelle Freiheit der Ansicht ganz unbeschränkt gelassen wird.“

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in Formen der damaligen „Naturgothik“ verbunden mit christlichen Emblemen ge- halten ist, kommt denn auch „die Funktion eines Fensters“73 zu. Denn „die Natur“ sei „keine Inkarnation, sondern Gleichnis, das Erlösungsgeschehen längst abgeschlos- sen, die Geschichte von der wuchernden Natur vereinnahmt. Der Mythos der Offen - barung lebt woanders, irgendwo hinter dem Dinglichen.“74 Zudem aber überblendet Friedrich die Heilszeit unter der Chiffre des Kreuzes, das auf die Ankunft und Zukunft der Erlösung verweist, und die Geschichtszeit, die so dringend der Erlösung bedarf. Runges Kleiner Morgen, der ebenfalls 1808 entstand, hatte versucht, „eine Tageszeit als Weltzeit zu begreifen und umgekehrt die religiöse Offenbarung auf das ins kosmische ausgedehnte Naturgeschehen zu beziehen“.75 Doch Friedrichs ‚Altar‘ rückt durch die ursprünglich geplante Zueignung an den Schwedenkönig und Gegner Napoleons Gustav IV. in den Horizont der Geschichte. Diese Widmung gemahnt in dieser Zeit, als französische Besatzungstruppen nicht nur in Friedrichs preußischer Heimat, sondern auch in Dresden liegen, an eine evan- gelische Allianz, die sich schon im Dreißigjährigen Krieg bewährt hatte, und sie ver- bindet Das Kreuz im Gebirge auch mit der frühen Nationalbewegung, die für Caspar David Friedrich stets auch die evangelische Religion mit umfassen musste.76 So sind Caspar David Friedrichs Landschaftsbilder aus dem sächsisch-böhmischen Raum selbst dann, wenn sie politische Anspielungen völlig vermeiden, doch auch als Bilder einer aufgehobenen Grenze zu entziffern. Gezeigt wird eine Natur, die sich an die menschlichen Gewaltordnungen nicht hält. Eine Politik, die Grenzen zieht, hat in diesen weiten Landschaftsräumen keinen Bestand. Die Zeitgenossen suchten denn auch nach natürlichen Grenzen, eben um sich gegen die Anmaßung des Usurpators* Napoleon zu wappnen – so etwa Friedrichs Greifswalder Landsmann Ernst Moritz Arndt.77 Für die Dresdner Landschaftsmalerei bleibt dies nur der Horizont, unter dem sie völlig andere Bilder entwirft. Es sind die

(Carl Gustav Carus: V. Brief. In: Ders., Neun Briefe über Landschaftsmalerei [wie Anm. 4], S. 87f.); zu der hier von Carus – durchaus kritisch – geforderten ‚klassischen‘ Objektivierung und Naturtreue vgl. Jutta Müller-Tamm: Kunst als Gipfel der Wissenschaft. Ästhetische und wissenschaftliche Weltaneignung bei Carl Gustav Carus. Berlin, New York: de Gruyter 1995, S.160f. 73 Gerhard Eimer: Caspar David Friedrich: Auge und Landschaft. Zeugnisse in Bild und Wort. Frankfurt a. Main: Insel 1974, S. 57. 74 Ebd. 75 Hofmann, Friedrich. Naturwirklichkeit und Kunstwahrheit (wie Anm. 35), S. 86. 76 Vgl. dazu Busch, Friedrichs „Tetschener Altar“ (wie Anm. 56), S. 270f. 77 Vgl. etwa dessen Schrift auch als ein Beispiel für die interessengeleitete Konstruktion von ‚Natur‘: Ernst Moritz Arndt: Der Rhein, Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Gränze. Leipzig: Wilhelm Rein 1813; zur ‚natürlichen Grenze‘ vgl. Hans-Dietrich Schultz: Deutschlands „natürliche“ Grenzen. „Mittellage“ und „Mittel- europa“ in der Diskussion der Geographen seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaften 15 (1989), H. 2, S. 248–281.

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Bilder einer einheitlichen Natur, welche die ‚Empfindung‘ für das Göttliche bewahrt und im Betrachter weckt.So ist derTetschener Altar ein Manifestbild78,das jetzt die erste fruchtbare Schaffensphase des Landschafters Caspar David Friedrich einleitet. Im Januar 1809 erschien in der viel gelesenen Zeitung für die elegante Welt ein Artikel von Friedrich Wilhelm Basilius von Ramdohr (1757–1822). Ramdohr, ein gelernter Jurist, war Kammerherr in Sachsen. Er war in den publizistischen ‚ästhetischen Prü- gelyen‘79 um die ‚Romantik‘ bereits ein erprobter Kämpe; er hatte schon in den 1790er Jahren etliche ästhetische Abhandlungen publiziert und bereits in seiner Schrift Venus Urania. Über die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung (1798/99) gegen das Athenäum polemisiert und vor einem romantischen Mystizismus gewarnt:80

In Caspar David Friedrichs ‚Tetschener Altar‘ sah er zu Recht nun auch die Malerei der literarischen Frühromantik folgen und wollte dem Unwesen durch eine deut- liche kennerschaftliche Analyse des sofort als Programmbild verstandenen Werkes ein für allemal ein Ende machen.

Wohl muss Ramdohr einräumen, „das Bild des Herrn Friedrich“ weiche „von der gewöhnlichen Bahn ab, es eröffnet eine neue“;81 aber diese neue Bahn sei ein Irrweg. Dass „Friedrich, um die allegorische Dimension seiner Landschaft hervorzukehren, bewußt gegen zahlreiche Regeln klassischer Kunst verstößt,“82 erkennt Ramdohr sehr genau. Derart arbeite Friedrich indessen auf eine „pathologische Rührung“83 hin, die geradezu das Gegenteil von jener ästhetischen Rührung sei, die das Schöne zu wecken

78 Unter diesem Titel wird bei Werner Hofmann dieses Gemälde wie auch der Der Mönch am Meer und Abtei im Eichwald gruppiert; ders., Friedrich. Naturwirklichkeit und Kunstwahrheit (wie Anm. 35), S. 41. 79 Vgl. die Quellensammlung gleichen Titels: Die Ästhetische Prügeley. Streitschriften der antiromantischen Bewegung. Hg. v. Rainer Schmitz. Göttingen: Wallstein Verlag 1992, S. 456–478. 80 Werner Busch: Kommentar zu Friedrich Wilhelm Basilius von Ramdohr: Über ein zum Altarblatte bestimmtes Landschaftsgemälde von Herrn Friedrich in Dresden, und über Landschaftsmalerei, Allegorie und Mystizismus überhaupt (1809). In: Landschaftsmalerei (wie Anm. 37), S. 257–259, hier S. 258. 81 Friedrich Wilhelm Basilius von Ramdohr: Über ein zum Altarblatte bestimmtes Landschaftsgemälde von Herrn Friedrich in Dresden, und über Landschaftsmalerei, Allegorie und Mystizismus überhaupt (1809). In: Land- schaftsmalerei (wie Anm. 37), S. 254–256, hier S. 254. 82 Busch, Kommentar zu Ramdohr (wie Anm. 78), S. 258. Zu Ramdohrs mit dem Anspruch zentralperspektivischer und damit wirklichkeitsillusionierender Malerei formulierter Kritik vgl. Hofmann, Friedrich, Naturwirklichkeit und Kunstwahrheit (wie Anm. 35), S. 44. – Werner Busch hat in seiner Deutung von Friedrichs Gemälde die ausgewogene geometrische, den goldenen Schnitt souverän nutzende Komposition herausgearbeitet, die gleichsam die Sinnebenen bildhaft zueinander in Beziehung setzt – vom Ordnungssystem der Religion, das aus der Natur- szenerie, mit allegorisch zu deutendem Fels der Glaubensfestigkeit und Tanne der Hoffnung, zur mystisch schnei- denden Kreuzlinie in die Höhe verweise; so werde mit Hilfe des goldenen Schnitts die Religion zum Transzendenz - verweis, der im Rahmen gipfelt; vgl. Busch, Caspar David Friedrich (wie Anm. 56), S. 277ff. 83 Ramdohr, Über ein zum Altarblatte bestimmtes Landschaftsgemälde (wie Anm. 79), S. 256.

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vermöge. So sollte auch Goethe noch im Jahr 1829 dekretieren, das Klassische sei das Gesunde, das Romantische das Kranke.84 Unter dem Vorwand religiöser Andacht ver- berge sich – bei Friedrich wie bei seinen Gesinnungsgenossen – der schiere Hochmut:85

Ist es ein glücklicher Gedanke, die Landschaft zur Allegorisierung einer bestimmten religiösen Idee oder auch nur zur Erweckung der Andacht zu gebrauchen? Endlich: Ist es der Würde der Kunst des wahrhaft frommen Menschen angemessen, durch solche Mittel, wie sie Herr Friedrich angewandt hat, zur Devotion einzu laden?

Ramdohrs Artikel dient nur dazu, die notwendige Verneinung dieser rhetorischen Frage darzulegen. Es sei „eine wahre Anmaßung, wenn die Landschaftsmalerei sich in die Kirchen schleichen und auf Altäre kriechen will“.86 Aus diesem Angriff ent - wickelt sich ein heftiger Streit.87 Friedrich selbst war „wie vernichtet“;88 Freunde Fried- richs verteidigten ihn; Gerhard von Kügelgen antwortet in der Zeitung für die elegante Welt;89 Ferdinand Hartmann antwortet in der ersten Nummer von Kleists Zeitschrift Phöbus ausführlich und rechtfertigt Friedrich.90 Hartmann war Professor an der Dresdner Akademie, zählte aber ebenso zu denen, die den jungen Dichter Heinrich von Kleist, der seit 1807 in Dresden zu einem längeren Aufenthalt weilte, förderten, sich also der neuen ‚romantischen‘ Richtung nicht verschlossen. – Den Erfolg des

84 So Goethe gegenüber Eckermann am 2. April 1829. In: Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. 1823–1832. Hg. v. Christoph Michel. Frankfurt a. Main: DKV 1999 (= Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche; 12), S. 323–325, hier S. 324. 85 Ramdohr, Über ein Altarblatte bestimmtes Landschaftsgemälde (wie Anm. 78), S. 254. 86 Ebd., S. 256. 87 Vgl. Timothy Mitchell: What mad Pride: Tradition and Innovation in the “Ramdohrstreit”. In: Art History 10 (1987), S. 315–327. 88 So Gerhard v. Kügelgen, zit. n. Börsch-Supan, Gefühl (wie Anm. 48), S. 76 (mit weiteren Hinweisen). 89 Gerhard von Kügelgen: Bemerkungen eines Künstlers über die Kritik des Kammerherrn von Ramdohr, ein von Herr Friedrich ausgestelltes Bild betreffend. In: Zeitung für die elegante Welt, 10.3.1809. 90 Vgl. Ferdinand Hartmann: Über Kunstausstellungen und Kunstkritik. Bei Gelegenheit dessen, was Herr Kam- merherr von Ramdohr über ein zum Altarblatte bestimmtes Landschaftsgemälde von Herrn Friedrich, und über Landschaftsmalerei, Allegorie und Mysticismus in No. 12. 13. 14. und 15. der Zeitung für die elegante Welt hat einrücken lassen. In: Phöbus. Ein Journal für die Kunst 1 (1808), S. 57–71 [der Artikel selbst ist mit dem Datum vom 21. Februar 1809 unterschrieben, was darauf schließen lässt, dass die Zeitschrift später erschien, als die Jah- reszahl auf dem Titelblatt angibt]. – Auch Rühle von Lilienstern, ein gebildeter Offizier und Freund Heinrich von Kleists, verteidigt das Recht des Genies „überall neue Bahn zu brechen“; Rühle von Lilienstern: Nähere Beleuchtung der von Ramdohrschen Antastung eines Friedrichschen Gemäldes. Genie und Genius. Mittelmäßigkeit, die schlech- teste aller Einseitigkeiten. In der Kunst gesetzliche Freiheit. In: Caspar David Friedrich in Briefen und Bekenntnissen (wie Anm. 52), S. 187–195, hier S. 193; Carus bestätigt diesem Gemälde „eigenthümliche[] Schönheit und Tiefe des Gedankens“; Carus, Friedrich der Landschaftsmaler (wie Anm. 11), S. 358. Zum Dresdner Kreis um Kleist, der offenbar auch über die Grenze hinweg Verbindungen zu Napoleons Gegnern in Böhmen pflegte vgl. Walter Schmitz: „… eine neue Ordnung der Dinge“. Heinrich von Kleists Dresdner Aufenthalt. In: Kleist als Dramatiker. Kleist und Dresden. Hg. v. Lothar Jordan. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 81–104, hier S. 81.

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Bildes und auch den wenn auch nur langsam anwachsenden Ruhm Friedrichs konnte Ramdohr also freilich nicht verhindern. In den von Kleist redigierten Abendblättern wird dann 1810 in Berlin die Faszination, die von dem dort ausgestellten Gemälde von Friedrichs Der Mönch am Meer ausgeht, mit einer Doppelrezension von Clemens Brentano und vom Herausgeber selbst gewürdigt werden.91 Und die Beziehungen des Malers werden schließlich sogar bis in die nächste Umgebung des Königs von Preußen Friedrich Wilhelm III. reichen, der schon als Kronprinz einige seiner Werke angekauft hatte. Im Jahr 1812 berichtet der Bildhauer Johann Gottfried Schadow (1764–1850) in seinem Tagebuch von einer Äußerung des Königs vor dem Gemälde Das Kreuz im Gebirge. „Das ist ein schön Bild; als ich nach Töplitz reisete“ – also zum üblichen Aufenthalt in der nordböhmischen Bäderlandschaft – 92

war Ich früh auf und gedachte die schöne Gegend zu sehen; aus dem Thau ragten die Hügelspitzen hervor, und machte gerade diese Wirkung einer Meeres-Ober- fläche, und meine eigentliche Absicht war vereitelt; wer es nicht gesehen hat in der Natur, denkt, es ist nicht wahr.

IV. Nachfolge, Wandel, Kodifizierung: Carl Gustav Carus

Friedrich Otto Runge und Caspar David Friedrich hatten die Konzeption von den ‚zwei wunderbaren Sprachen‘, der Natur und der Kunst, gleichsam ins Bild gesetzt. Angeleitet waren sie dazu von den Texten der romantischen Gruppe von Wacken- roder, Tieck und Novalis. Freilich, die dritte Sprache, die hier mitwirkt, ist eben die dieser romantischen Texte selbst. Neben Natur und Kunst treten die aktuell ,modernen‘ Bücher; die Maler (er-)finden Bildmotive und Formeln, die dem ent- sprechen, was in den Büchern konzipiert ist. Sie übersetzen die Zeichen der roman- tischen Literatursprache in die Zeichensprache ihrer Bilder. Das schien den anders- denkenden Zeitgenossen so selbstverständlich, dass sie sich sogleich mit heftigem Affekt dagegen wandten. Skandale begleiten diese Prozesse. Die Turbulenzen der Skandale dürfen jedoch nicht verdecken, dass hier eine einheitliche Zeichenlehre – Semiotik – der Welt für die ‚Moderne‘ geschaffen wurde. Das wechselseitige Für - einandereinstehen der Künste mündet in die ebenfalls romantische Konzeption

91 Vgl. CB [Clemens Brentano]: Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft. In: Berliner Abendblätter, 13.10.1810, S. 47f. 92 Johann Gottfried Schadow: Kunst-Werke und Kunst-Ansichten. Berlin: Verlag der Deckerschen geheimen Ober- Hofbuchdruckerei 1849, S. 123.

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des Gesamtkunstwerks. Und eben Dresden ist der Ort gewesen, an dem dies wie in einem Laboratorium erprobt wurde – um so intensiver, als nach den Napoleoni- schen Kriegen, Ende der 1810er Jahre, auch noch die Musik mit der ersten berühm- ten romantischen Oper, dem Freischütz des Dresdner Kapellmeisters Carl Maria von Weber, miteinbezogen war. Dresden ist eine Stadt der Romantik, aber nicht des ersten Entwurfs in der Literatur, sondern der Aneignung und ‚Übersetzung‘, aus der eine umfassende Kulturbewegung entstand. Carl Gustav Carus zog 1814, als dieser Prozess schon längst über die ersten Stadien hinaus war, von Leipzig nach Dresden.93 Um 1817 kam er in engere Verbindung zu Caspar David Friedrich, und noch 1840 schreibt er in einem Nachruf auf den früheren Freund, „daß das Auftauchen einer solchen neuen urgeistigen Richtung, wie sie in Friedrich erschien, auf jedes empfängliche Gemüth durchaus anregend, ja erschütternd einwirken mußte“.94 Namentlich Friedrich sei es gewesen, der95

in der Landschaftsmalerei […] mit einem durchaus tiefsinnigen und energischen Geiste, und auf absolut originale Weise, in den Wust des Alltäglichen, Prosaischen, Abgestandenen hineingriff, und, indem er ihn mit einer herben Melancholie niederschlug, aus dessen Mitte eine eigenthümlich neue, leuchtende poetische Richtung hervorhob.

Carus, den jungen Arzt, der zugleich sein eigenes Talent als Zeichner und Maler ent- deckt hatte und es ausbilden wollte, musste dies faszinieren. Die frühen Werke des Carus zeugen von Friedrichs Anregungen. Doch es mag seine wissenschaftliche Aus- bildung gewesen sein, die ihn mehr zu unmittelbarer Naturbeobachtung anhielt, als es die Bilder des Älteren zu verlangen schienen. In seinem Malerischen Tagebuch, in dem Carus zwischen 1822 und 1824 Bilderlebnisse während seiner Spaziergänge meist zur Abendzeit beschreibt, findet sich an einem Februar 1823 die Notiz:96

Die Sonne war unter; vor dem mattgelblichen Abendhimmel stand ein breites,bis zum Horizont monotones graues Schneegewölk, darüber am bläulichen Himmel wurden lockere Cumuli* noch von dem verlöschenden Tageslichte erleuchtet. Dunkel breitete sich in bräunlichen, grünlichen und endlich violetten Farbentönen die Ferne hinaus.

93 Vgl. zur Übersicht vgl. Olaf Breidbach: Einleitung. In: Carl Gustav Carus. Gesammelte Schriften. Hg. v. Dems. Hildesheim, Zürich, NewYork: Olms-Weidmann 2009, S. VII. Vgl. zur Beziehung von Carus und Friedrich Börsch-Supan, Gesetz (wie Anm. 48) S. 65–74f. 94 Carus, Friedrich der Landschaftsmaler (wie Anm. 11), S. 375f. 95 Ebd., S. 357. 96 Carus, Neun Briefe über Landschaftsmalerei (wie Anm. 4), S. 106f.

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Und das um 1822 entstandene GemäldeBlick auf Dresden bei Sonnenuntergang bezeugt denn auch, wie Hans Joachim Neidhardt schreibt, „Carus’ Fähigkeit trotz skeptischer Vorbehalte seine notierten Beobachtungen auch in die Bildsprache umzusetzen.“97 Allerdings verharrt dieses Bild dann doch, wieder laut Neidhardt, „in der Vorstellungs- welt der transzendierenden, symbolisierenden Frühromantik“.98 Zwischen Carus und Friedrich kam es im Lauf der 1820er Jahre zu einer Entfremdung. Am 17. September 1829 schrieb Carus an seinen Briefpartner Johann Gottlob Regis mit Bedauern, über Friedrich hänge „seit ein paar Jahren eine dicke trübe Wolke geistig unklarer Zustände“.99 Um 1825 mehren sich die depressiven Zustände Friedrichs. Die Ablehnung seines Gesuches, als Leiter der Landschaftsklasse an der Dresdner Akademie Johann Christian Klengel nachzufolgen, traf ihn tief. Er fürchtete eine finanzielle Notlage; seine Familie war inzwischen fünfköpfig. Carus hat sich später ausführlicher über diesen Konflikt geäußert:100

In seiner eigentümlichen, immer dunklen und oft harten Gemütsart hatten, offenbar als Vorläufer eines Hirnleidens, dem er auch später unterlag, gewisse fixe Ideen sich entwickelt, welche anfingen, seine häusliche Existenz vollständig zu untergraben. Mißtrauisch, wie er war, quälte er sich und die Seinigen mit Vorstellungen von der Untreue seiner Frau, die ganz aus der Luft gegriffen waren, dessen ungeachtet aber hinreichten, ihn ganz zu absorbieren. Anfälle von roher Härte gegen die Seinigen blieben nicht aus. Ich machte ihm die ernstesten Vorstellungen darüber, suchte auch als Arzt einzuwirken, aber alles vergebens und so wurde denn natürlich dadurch auch mein Verhältnis zu ihm gestört, ich kam fast nicht mehr zu ihm, bis späterhin, nach- dem er von Schlage gelähmt wurde, um ihm noch nach Kräften nützlich zu sein, ver- lor aber doch immer einen bedeutenden und mir in jeder Beziehung werten Umgang.

Doch auch in der Kunst gingen die beiden mehr und mehr getrennte Wege. Friedrich hat sich höchst abschätzig über die Gemälde von Carus geäußert, allerdings schließ- lich statt des bloßen Gegensatzes zwischen seiner eigenen und der Malweise des an-

97 Hans Joachim Neidhardt: Zur Ambivalenz des Atmosphärischen bei Carl Gustav Carus. In: Carl Gustav Carus. Wahrnehmung und Konstruktion. Hg. v. Staatlicher Kunstsammlung Dresden/Kuperfstich-Kabinett. Berlin, München: Deutscher Kunstverlag 2009, S. 169–177, hier S. 172. 98 Ebd. 99 Carl Gustav Carus: Brief 138, 17.9.1829. In: C. G. Carus an Regis. Eine Brieffolge von 1814–1853. Maschinen- schriftliche Abschrift von Marianne Prause. Brief 1–369 (nach den Originalen in der Sächsischen Landesbiblio- thek – Staats- und Universitätsbibliothek, SLUB), Brief 3–62 (nach den Originalen in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, SBB). Leipzig: o. V.1956, S. 265. 100 Carl Gustav Carus: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. Zweiter Theil. In: Gesammelte Werke. Bd. 6. Hg. v. Olaf Breidbach. Hildesheim, Zürich, New York: Olms-Weidmann 2009, S. 303.

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deren doch noch ein Verhältnis wechselseitiger Ergänzung zugestanden: „Dieser Maler weiß was er macht, und jener fühlt was er macht; könnte man doch aus beiden einen machen!“101 – Carus, der ‚wissen wollte, was er mache‘, arbeitet seit den 1815ern an einer ästhetischen Theorie der Landschaftsmalerei, die dann auch seine späteren Bilder prägen wird.102 Jetzt, dies sein Ausgangspunkt, habe die früher so gering geachtete Landschaftsmalerei die bisher so hoch geschätzten Historienbilder eingeholt. Sie wird zur „Historienmalerey der Natur“.103 So liest man es in der ersten Auflage seiner Briefe über die Landschaftsmalerei, die im Jahr 1830 erscheint.104 Diese ‚Briefe‘ ziehen gleich- sam eine Bilanz der Dresdner Romantischen Schule der Landschaftsmalerei und voll- ziehen den Übergang zu einer neuen Art des Sehens, die Carus auch in einigen seiner Gemälde verwirklichen wird. In der Neuauflage 1835 wird er dann zwischen „subjek- tive[r] Tendenz“ und „objektive[r] Tendenz“ der „einzelnen Künste[] und der land- schaftlichen insbesondere“105 differenzieren. Dann steht den „Klagelaute[n] einer unbefriedigten Existenz“106 die „unbedingte Lust an der Erscheinung der Welt“107 gegenüber; dann wird allem, was „mehr Symbol, mehr Hieroglyphe als Natur - abbild“108 sei – so zu finden bei Caspar David Friedrich – kontrastiv die treue Wiedergabe der „Phänomene des Erdlebens“ gegenübergestellt.109 Jetzt geht es für Carus um das „reine, unschuldige Wiedergeben der Natur“.110 In dem veröffentlichten Buch, das aus neun Briefen komponiert ist, lässt sich eine Entwicklung deutlich ablesen. Die ersten drei Briefe schließen sich in der Auffassung und in der Wortwahl den frühromantischen Entwürfen an. „[H]ier gilt die Kunst als Vermittlerin religiöser Wahrheit über die Anschauung. Sie ermöglicht nach Carus das

101 Carus, Friedrich der Landschaftsmaler (wie Anm. 11), S. 358. 102 Das betrifft insbesondere Carus‘ Arbeit an den Briefen über die Landschaftsmalerei. Vgl. dazu auch Diana Behler: Carl Gustav Carus: ‚Briefe über die Landschaftsmalerei und die frühromantische Theorie‘. In: Athenäum. Jahr- buch für Romantik 3 (1993), S. 107–139. 103 Carl Gustav Carus: Bruchstück aus einer Reihe von Briefen über Landschaftsmalereyn. In: Kunst-Blatt 7 (1826), Nr. 52, S. 205ff., 211f., 214ff., hier S. 205. 104 Vgl. zur ersten Übersicht Gertrud Heider: Nachwort. In: Briefe und Aufsätze über Landschaftsmalerei. Hg. v. Gertrud Heider. Leipzig, Weimar: Kiepenheuer 1982, S.183–199; der Text dieser knapp erläuterten Edition folgt der Ausgabe von 1835. Dorothea Kuhn: Nachwort zu: Carl Gustav Carus: Neun Briefe über Landschafts- malerei, geschrieben in den Jahren 1815 bis 1824. Zuvor ein Brief von Goethe als Einleitung. Mit einem Nachwort hg. von Dorothea Kuhn. Faksimile-Druck nach der 2., vermehrten Ausgabe von 1835. Heidelberg: Schneider 1972, S. 2–55; auch vgl. Müller-Tamm, Kunst als Gipfel (wie Anm. 70), S. 154–169. 105 Vgl. dazu den sich in der erweiterten Auflage befindenden Zehnten Brief nebst fünf Beilagen. In: Carl Gustav Carus: Briefe und Aufsätze über Landschaftsmalerei. Hg. v. Gertrud Heider. Leipzig/Weimar: Kiepenheuer 1982, S. 113–142, hier S. 127f. – Vgl. Busch, Friedrichs „Tetschener Altar“ (wie Anm. 56), S. 272. 106 Ebd. 107 Ebd., S. 129. 108 Ebd. 109 Ebd. 110 Ebd., S. 230 [Hervorhebung im Original].

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mystische Erleben der Entgrenzung bzw. der Verschmelzung von Natur und Ich.“111 Die Landschaft und die menschliche Natur entsprechen einander: Carus handelt Von dem Entsprechen zwischen Gemütsstimmungen und Naturzuständen.112 „Welches sind nun“, so fragt er,113

die besondern in den mannigfaltigen Verwandlungen der landschaftlichen Natur ausgesprochenen Stimmungen? – Wenn wir erwägen, daß alle diese Verwandlun- gen nichts Anderes sind als Formen des Naturlebens, so können auch die verschie- denen in denselben ausgesprochenen Stimmungen nichts Anderes als Lebens - zustände, Stadien des Naturlebens, bezeichnen. […] Nun aber auch im Gemüthe selbst, welche Reihe von Stimmungen wird hier vorkommen können? – Offenbar auch nur, wie im ewigen Naturleben, Erheben und Versinken einzelner Lebens- formen, so im ewigen Leben der Seele, E r s t e h e n und V e r g e h e n einzelner Äußerungen des Gemüthslebens. […] Wie nun aber die angeschlagene Saite eine zweite, ihr gleichnamige, wenn auch höhere oder tiefere, mit in Schwingungen versetzt, so müssen auch in Natur und Gemüth die verwandten Regungen sich hervorrufen, und auch hierin erscheint wieder die Individualität des Menschen als untrennbarer Theil eines höhern Ganzen.

Ab dem vierten Brief aber ändert sich Carus’ Auffassung. Er fordert jetzt einen ob- jektiven Stil der Landschaftskunst, bekennt sich nun ausdrücklich zu Goethes Natur- und Kunstbegriff. Goethe habe ihm „die Idee einer […] auf höhere Erkenntnis gegründeten Kunstschönheit“ vorgestellt.114 Kunst sei eine Form der Erkenntnis, die über die Wissenschaft hinausreiche. In diesem Sinne gefasst, erscheint dann die115

Kunst als Gipfel der Wissenschaft, sie wird, indem sie die Geheimnisse der Wis- senschaft klar erschaut und anmuthig umhüllt, im wahren Sinne mystisch oder, wie Goethe sie auch genannt hat: orphisch. […] Wie redend und mächtig spricht nicht die Geschichte der Gebirge zu uns, wie erhaben stellt sie nicht den Menschen unmittelbar als Göttliches in Beziehung zu Gott, indem sie jede vergängliche

111 Werner Busch: Kommentar zu Carl Gustav Carus: Briefe über Landschaftsmalerei (1815–1835). In: Ders. (Hg.) Landschaftsmalerei (wie Anm. 37), S. 263–266, hier S. 263. 112 Vgl. dazu unter dem gleichnamigen Carl Gustav Carus: III. Brief. [Beilage.] In: Ders., Neun Briefe über Land- schaftsmalerei (wie Anm. 4), S. 43–49. 113 Ebd., S. 45ff. 114 Carl Gustav Carus: VI. Brief. In: Ders., Neun Briefe über Landschaftsmalerei (wie Anm. 4), S. 103–111, hier S. 106. 115 Ebd., S. 106–110.

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Eitelkeit seines irdischen Daseins gleichsam mit einemmale vernichtet, und wie deutlich spricht sich diese Geschichte in gewissen Lagerungen und Bergformen aus, daß selbst dem Nichtwissenden dadurch die Ahnung einer solchen Geschichte aufgehen muß, und steht es nun dem Künstler nicht frei, solche Punkte hervor- zuheben und im höhern Sinne historische Landschaften zu geben?

Damit also ist die Landschaftsmalerei in ihrer eigenen Weise ebenfalls Historien malerei. Sie schildert die Physiognomik* der Landschaft, also ihre unverwechselbare Eigenart, etwa „den eigentlichen Typus und die wahre Eigenthümlichkeit eines Gebirges durch eine eigentlich künstlerische Darstellung, mit Einem Worte: durch eine wahrhaft g e o g n o s t i s c h e* L a n d s c h a f t“.116 Sie sei eine „Erdleben bildkunst“.117 Dass sich das Erdleben, welches sich in unermesslich langen Zeiträumen vollzieht, ebenso wenig durch menschliche Eingriffe prägen und umlenken ließ, wie bei Friedrich die Natur als Landschaftszeichen des Göttlichen, dies zumindest bleibt in der Dresdner Tradition der Landschaftsmalerei im Übergang von Friedrich und Carus letztlich unverändert. Die Genremalerei mag sich der von Menschen ge- setzten Grenze, den Szenen des Lebens dort, zuwenden, in der Landschaftsmalerei bleibt die Naturgeschichte der Verfügungsgewalt des Menschen entzogen. Während seines Besuchs bei Goethe 1821 hatte Carus mit ihm auch über „das Be- deutungsvolle in der Form der Felsen und Gebirge für Bestimmung der Art des Gesteins, ja für die gesammte Bildung der Erdoberfläche“ gesprochen.118 Goethe schätzte die ‚neptunische‘ Theorie der Erdentstehung aus den Urmeeren, wie sie der Freiberger Geologe Abraham Gottlob Werner (1749–1817) entwickelt hatte, höher als die konträre ‚vulkanische‘, die ja aus der elementaren Zerstörungskraft des Feuers neue Bildungen entstehen ließ; das hatten die Zeitgenossen auch meta- phorisch auf das Elementar ereignis der Französischen Revolution angewendet. Schon Novalis, der Freiberger Bergassessor und romantische Intellektuelle, hatte den Begriff ‚geognostische Landschaften‘119 geprägt. Werner hatte die Geognosie, also die Erkenntnis der Erde, als eine empirische Wissenschaft begründet. – Carus‘ Neigung zur ‚Geognosie‘, der Erkenntnis der Erdformationen, als eine empirische

116 Carl Gustav Carus: IX. Brief. Erste Beilage. Andeutungen zu einer Physiognomik der Gebirge. In: Ders., Neun Briefe über die Landschaftsmalerei (wie Anm. 4), S. 169–185, hier S. 176. 117 Carl Gustav Carus: VII. Brief. In: Ders., Neun Briefe über Landschaftsmalerei (wie Anm. 4), 112-121, hier S. 118; vgl. auch Carl Gustav Carus, In: Heider, Briefe und Aufsätze (wie Anm. 101), S. 68; Vgl. dazu Müller-Tamm, Kunst als Gipfel der Wissenschaft (wie Anm. 70), S. 168f. 118 Carus, Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten, Zweiter Theil (wie Anm. 97), S. 11. Vgl. Kuhn, Nachwort (wie Anm. 101). 119 Vgl. dazu Novalis: Studien zur Bildenden Kunst. In: Ders.: Das philosophische Werk 1. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer 1981, S. 648–754, bes. S. 648.

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Wissenschaft120 begründet. – Carus’ Neigung zur ‚Geognosie‘ steht unter dem wei- tem Horizont der ‚romantischen‘ Naturspekulation: seine Methode orientiert sich am damaligen Stand der Wissenschaft, doch klingt die ‚zweite Sprache‘ des Gött- lichen, wie sie in Kunst und Poesie fortwirkt, bei Carus weiterhin mit. Im Sommer 1820 unternahm Carus eine mehrwöchige Reise durch das Riesengebirge – genau auf der Route, auf der zehn Jahre vorher Caspar David Friedrich und Georg Friedrich Kersting gewandert waren, und er hielt auffallende Felsformationen als Zeugen der Erdgeschichte immer wieder in seinem Skizzenbuch fest. Er berichtet von dieser Wanderung im Jahr 1820:121

[U]nsere ganze Gebirgswanderung war von dem prachtvollsten Wetter begünstigt. Auch diese in vier Tagen vollendete Tour über den Kamm des Riesengebirges, mit allen seinen Glanzpunkten, die unter den Namen des Zackenfalles, der Elbquellen und Elbwiesen, des kleinen und großen Rades, der Sturmhaube, der Dreisteine und der Schneekoppe bekannt sind, hat mir einen sehr tiefen und unvergeßlichen Eindruck zurückgelassen. Hatte ich bei Rügen zum ersten mal die größern Wellen der See kennengelernt, so war mir dies Gebirge wie eine große beruhigte Welle an der Erdfeste des Planeten. Überall erkennt man zwar noch das harte starre Gerüst des granitenen Skeleton dieser Höhenzüge, aber nur einzelne Klippen, und diese meistens als Trümmerhaufen, ragen aus dem schon durch vieltausendjährige Ver- witterung gerundeten, dem organischen Leben wieder zugänglich gewordenen erdigen Ueberzuge als von weitem kaum merkbare Störungen der großen Wellen - linien des Ganzen heraus! Und welche Zartheit ist in diesen Linien, wie weich - geschwungen, wie schwer treu nachzuzeichnen sind sie!

In seinen Briefen über die Landschaftsmalereien nimmt er die Dreisteine als Bei- spiel für jene „letzten Trümmer der, jetzt fast überall verwitterten und aufgelösten Ur klippen des Kammes“; sie erscheinen ihm hier wie die „Ruinen von Türmen und Mauern“122 – im Tschechischen wie im Polnischen ‚Pilger‘ genannt, eine in 1.204 Meter Höhe aufragende dreigeteilte Gruppe von Granitfelsen.

120 Breidbach ordnet dies Carus‘ wissenschaftlichen Anliegen zu: „Insoweit wird für ihn dann auch der Landschafts- maler zu einem Morphologen, er offeriert in seinen Bildern die Gestalten der Natur, wie der Anatom in seinen Präparationen die Gestalten der Tiere vorstellt. Ziel der Landschaftsmalerei ist demnach eine Typologie der Natur, in der sich so auch im künstlerischen Abbild das Ganze einer Natur in ihren Ansichten darstellen lässt“; vgl. Breidbach, Einleitung (wie Anm. 90), S. IX. – Vgl. auch Müller-Tamm, Kunst als Gipfel (wie Anm. 70), S. 158, 174–179, bes. S. 176f. 121 Carus, Lebenserinnerungen, Erster Theil (wie Anm. 8), S. 306. 122 Carl Gustav Carus: IX. Brief [1. Beilage]. Andeutungen zu einer Physiognomik der Gebirge. In: Ders., Neun Briefe über Landschaftsmalerei (wie Anm. 4), S. 179.

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Carl Gustav Carus: Die Dreisteine im Riesengebirge [1826]

Faszinieren mussten ihn freilich ebenso die Sächsisch-Böhmische Schweiz und das Elbsandsteingebirge. Denn die besondere Physiognomie „an den Sandsteingebirgen“ konnte von ihm nicht unbemerkt bleiben:123

[I]n der deutlich schichtweise ruhenden Lagerung der Felsen,in den Spuren ihrer, durch neuere Gewässer, bei eigener größerer Weichheit und alter, auf Erhebungsvorgängen beruhender Zerkluftung, leichter erfolgenden Zerstörung; in den somit entstandenen schroffen, im Einzelnen aber immer stumpf und rundlich ausgebrochenen und ausge - wachsenen Felswänden, den engen, ein gerissenen Schluchten […], in den viereckigen, stehengebliebenen Massen […], in den durchbrochenen Felsöffnungen […] und in so manch andern Eigenthümlichkeit. Endlich aber scheint unter den mir bekannten Gebirgsformationen wohl kaum eine so sehr als Basaltbildung durch ihre Physiogno- mie sich auszuzeichnen. Hohe, schroff und spitz zulaufende, einzeln stehende Berg- kuppen kündigen sie schon von weitem an; dem Näherkommenden aber fällt die dunkle Farbe des Gesteins, die scharfkantige, rauhe Fläche der Wände, und, bei dem säulenförmigen Basalt, besonders das Hervorragen der, meistens etwas schief geneigten Säulenmassen,welche,Orgeln vergleichbar,sich aneinanderreihen,alsbald in die Augen.

123 Ebd., S. 182f.

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Auch den Milleschauer hat Carus besucht; mindestens acht Mal ist er ins Böhmische gereist,124 und besonders die Fernsicht auf der Nollendorfer Höhe hatte es ihm an - getan; wenn er diesen Blick vom „Gipfel des Gebirges“ schildert, erschließt sich seine Sprache auch die religiöse Dimension, die eben – im Vergleich zu Runge und Friedrich – keineswegs preisgegeben ist: „und welches Gefühl ergreift Dich? – es ist eine stille Andacht in Dir, Du selbst verlierst Dich im unbegrenzten Raume, […]. D u b i s t n i c h t s , G o t t i s t a l l e s.“125

Carl Gustav Carus: Blick vom Milleschauer [1827]

V. Landschaft als Genre: Ludwig Richter

Im Jahr 1834 durchwandert der damals 31jährige Ludwig Richter die nordböhmische Landschaft. Von 1823 bis 1826 hatte er in Italien gelebt. Doch jetzt ist auch er fasziniert von dem Blick auf der Nollendorfer Höhe; in der Landschaft entdeckt er, auch wenn

124 Vgl. Frank Richter: Carl Gustav Carus. Der Malerfreund Caspar David Friedrichs und seine Landschaften. Husum: Verlag der Kunst 2009, S. 92. 125 Carus, II. Brief (wie Anm. 4), ausführlicher zitiert oben [Hervorhebung W.S.].

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er auf das Pathos religiösen Gefühls verzichtet, noch immer Zeichen für den mensch- lichen Lebensweg. Und dieses Böhmenerlebnis bedeutet für ihn jedenfalls „einen entscheidenden Wende- punkt“; es „heilt ihn von seiner Italiensehnsucht. Er hatte in Böhmen ‚seine‘ Landschaft gefunden“.126 Von der Nollendorfer Höhe geriet auch die Burgruine Schreckenstein in den Blick. Die malerischen Qualitäten dieser Landschaftsansicht haben Richter sogleich überzeugt. Er hält sie in seinem Skizzenbuch fest.127 Doch mag dieser Blick zudem auch ein Gemälde inspiriert haben, das Richter offenbar 1837 in eigenem Auftrag schuf, Die Überfahrt am Schreckenstein: „Dieses ungewöhnlich großformatige Gemälde ist nicht nur das eigentliche Hauptwerk des malerischen Schaffens von Richter, sondern zugleich auch ein Schlüsselbild für das Verständnis seiner Absichten als Maler und zudem ein Programm- bild für die Spätromantik.“128 Und es ist „wohl das volkstümlichste Gemälde des 19. Jahr-

Adrian Ludwig Richter: Überfahrt über die Elbe am Schreckenstein bei Aussig [1837]

126 Richter, Carus (wie Anm. 123), S. 93. 127 Vgl. die Abbildung bei Gerd Spitzer: Ludwig Richter. ‚Die Überfahrt am Schreckenstein‘. Ein Lebensschiff im Strom der Zeit. Leipzig: E. A. Seemann 1998, S. 8. 128 Gerd Spitzer: Eduard Cichorius – Freund Ludwig Richters und verdienstvoller Stifter. In: Galerie Neue Meister Dresden (wie Anm. 54), S. 121–138, hier S. 124.

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hunderts geworden“.129 Es wurde sogleich im Entstehungsjahr ausgestellt und von Johann Gottlieb von Quandt für seine Privatsammlung erworben, gelangte dann schließlich in die königliche Gemäldegalerie zu Dresden. Die Idee zu dem Gemälde ist wiederum bereits in einer Zeichnung, die Richter in das Skizzenbuch seiner böhmischen Reise 1834 eingetragen hatte, festgehalten. Die ‚malerisch‘ schöne Landschaft geht in diesem Entwurf in eine Sinnlandschaft über. Und damit ist auch der entscheidende Unterschied markiert, der bis zu dem künftigen Gemälde festge- halten werden wird, und der dieses Gemälde zugleich in vielfältige Bezüge – traditionelle wie aktuelle – im Werk anderer, jedoch auch im Schaffen Richters stellt.130 In seinen Lebenserinnerungen hat Richter jedenfalls sein Gemälde auf ein Erlebnis zu- rückführen wollen; überprüfen lässt sich der Wahrheitsgehalt dieser kleinen Szenen aller- dings nicht:131

Als ich nach Sonnenuntergang noch am Ufer der Elbe stand, dem Treiben der Schiffsleute zusehend, fiel mir besonders der alte Fährmann auf, welcher die Über- fahrt zu besorgen hatte. Das Boot, mit Menschen und Tieren beladen, durch- schnitt den ruhigen Strom, in welchem sich der goldene Abendhimmel spiegelte. So kam unter andern auch einmal der mit Leuten bunt angefühlte Kahn herüber, in welchem ein alter Harfner saß, welcher statt des Überfahrtskreuzers während der Fahrt etwas auf der Harfe zum Besten gab. Aus diesen und anderen Eindrücken entstand nachher das Bild ‚Die Überfahrt am Schreckenstein‘, der erste Versuch, in welchem ich die Figuren zur Hauptsache machte.

Jedenfalls aber entwickelte Richter „die erste Bildidee dann zu einer symbolisch über- höhten Darstellung […]“; vielleicht darf man schon den überlieferten Namen der Burg- ruine hier mit einbeziehen – unter einem Zeichen, das an den drohenden Schrecken, der über dem Leben steht, gemahnt, vollzieht sich die Lebensreise des Menschen:132

Der alte Fährmann hält im Ruderschlag inne, selbst das Lied des greisen Harfners, der die alten Mythen, Sagen und Märchen in der Gegenwart lebendig erhält, ist für einen Augenblick verstummt. Erreicht ist jener Moment des vollkommenen

129 Karl Josef Friedrich: Die Gemälde Ludwig Richters. Berlin: Dt.Verein für Kunstwissenschaft 1937, S.22. – Vgl. hier im weiteren: Gerd Spitzer: Ludwig Richter. ‚Die Überfahrt am Schreckenstein‘. Ein Lebensschiff im Strom der Zeit. Leipzig: E. A. Seemann 1998. – Vgl. auch Hein-Thomas Schulze Altcappenberg: „passieren deit jeden wat.“ Zur Iko- nologie der Bildgruppe „Überfahrt am Schreckenstein bei Aussig“ von Ludwig Richter. In: Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte 21 (1982), S. 137–155 sowie Hans-Joachim Neidhardt: Ludwig Richter. Leipzig: Seemann 1991. 130 Ausführlich dokumentiert bei Spitzer, ‚Die Überfahrt am Schreckenstein‘ (wie Anm. 127), S. 6f. 131 Ludwig Richter: Lebenserinnerungen eines deutschen Malers. Hg. v. Max Lehrs. Berlin: Propyläen 1922, S. 308. 132 Spitzer, Eduard Cichorius – Freund Ludwig Richters (wie Anm. 124), S. 124.

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Einsseins mit sich selbst, in dem der Augenblick sich ins Unendliche weitet. Am Ufer gleiten die Ruine der alten Burg Schreckenstein auf der felsigen Höhe und die sichtlicht bewohnten Häuser des Dorfes unterhalb davon wie Vergangenheit und Gegenwart an den Menschen im Kahne vorbei. Dieses Fährboot auf der Elbe kann zugleich als ein Lebensschiff im Strom der Zeit verstanden werden.

Das Bild, so schildert es der Zeitgenosse Friedrich Pecht, selbst Maler und zugleich Kunstschriftsteller, „ergriff […] durch die gesunde Romantik seine Auffassung mächtig jeden, der sich hineinvertiefte.“ In den gerade aktuellen Debatten wird hier gegen den Vorwurf einer ‚kranken‘ das Bild einer ‚gesunden‘ Romantik gestellt. Auch dies kenn- zeichnet die Dresdner Kultur der ersten Jahrhunderthälfte.133 Friedrich Pecht sieht hier ein Bild erfüllten Lebensglücks: „Man dachte unwillkürlich an den Strom des Lebens, dessen Übergang auch uns durch Kunst und Liebe allein beglückt gemacht hat“.134 Die Landschaft aber liegt im Abendlicht und die Überfahrt richtet sich offenbar nicht von einem Flussufer auf das andere, sondern weist aus jener Vergangenheit der Burg- ruine, an der das Boot vorbeigeglitten ist, und der Gegenwart des Dorfes am Ufer in eine Heimat, die sich nicht darstellen lässt. „Man könnte diese Abendlandschaft mit dem Boot im Strom […] auch als ‚Heimweh-Bild‘ bezeichnen, eine Heimkehr letztlich ins ersehnte ewige Vaterland.“135 So hat man von einer „Lebenswelt-Land - schaft“136 sprechen können. Frühere Gestaltungen des Motivs sind in Richters Version gleichsam aufgehoben; es zieht eine Bilanz und markiert auch das Ende einer Entwicklung, die mit Klassizismus und Romantik um 1800 begonnen hatte.137 Noch einmal erscheint der Bildtypus

133 Zu den Debatten um die richtige Deutung der Romanik in den 1830er Jahren vgl. Philosophie und Literatur im Vormärz: Der Streit um die Romantik (1820-1854). Hg. v. Walter Jaeschke. Hamburg: Meiner 1995; vgl. Müller- Tamm, Kunst als Gipfel (wie Anm. 70), S.164, 186 u.ö. zu Carus‘ Versuch zur Überwindung jener subjektiven ‚romantischen‘ ‚Kunst des Schmerzes‘, der er sich gleichwohl verpflichtet weiß. 134 Friedrich Pecht: Aus meiner Zeit. Lebenserinnerungen. München: Verlagsanstalt für Kunst und Wissenschaft 1894, S. 159. 135 Gerd Spitzer: Bergsee im Riesengebirge. 1839. In: Ludwig Richter, der Maler. Hg. v. Gerd Spitzer/Ulrich Bischoff. Berlin/München: Deutscher Kunstverlag 2003, S. 205–210, hier S. 205. 136 Spitzer, Eduard Cichorius – Freund Ludwig Richters (wie Anm. 124), S. 124. 137 Man hat im Einzelnen gezeigt, wie Richters Gemälde auf eine Bildallegorie Der Kahn des Lebens des Stuttgarter klas- sizistischen Malers Eberhard Wächter (1762–1852) nach 1815 mehrfach allegoriert hat. Vgl. Paul Köster: Wächters „Lebensschiff“ und Richters „Überfahrt am Schreckenstein“. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 29, 1966, S. 241–249 sowie Spitzer, Ludwig Richter (wie Anm. 127), S. 13ff. – Doch zudem hatte auch die Sängerfahrt, eine 1818 erschienene, schnell bekannt gewordene Anthologie romantischer Dichtung als Titelkupfer einen Kahn mit einer Reisegesellschaft gezeigt. Im Zentrum steht der Sänger, doch der Gesang richtet sich, wie es der religiösen Wende, die von vielen als genuin romantisch begriffen wurde, entsprach, an Gott. Richters Gemälde zeigt nicht nur eine Natur, die immanent auf Transzendentes eben hin zu Gott verweist, sondern es zeigt Menschen in einer Welt, die von Religion und Fröm- migkeit geprägt ist. – Vgl. auch Nikolaus Zaske: Ludwig Richters „Überfahrt am Schreckenstein“. In: Wissenschaft- liche Zeitschrift Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Gesellschaftswissenschaftliche Reihe 34 (1985), S. 42–46.

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der „redende[n] Landschaft“ hier, die „ihr Publikum bilden, veredeln, erheben“ wollte und damit einen Betrachterkreis voraussetzte, „der dazu bereit und fähig war“138, neu gefasst und variiert zugleich – so wie er um 1800 bei den Dresdnern Runge und Fried- rich seinen Ausgang genommen hatte. Eine Schule des Sehens hat gewiss mit dem Schaffen der Dresdner Landschaftsmaler Runge und Friedrich um 1800 begonnen; die Umdeutung der Landschaft in einen Sinnraum ist auch mit dem Schaffen Ludwig Richters keineswegs beendet, wohl aber läuft der produktive Impuls der ‚romanti- schen‘ Landschaftsmalerei in Dresden damit aus. Von den einzelnen Zeichen und Symbolen, so wie sie damals geprägt und mit Sinn versehen wurden, sind uns manche noch heute vertraut. Doch das 20. Jahrhundert insgesamt hat diese Zeichenwelt, welche Irdisches mit Transzendentem verbindet, nicht gelten lassen wollen. Der Ein- bruch der Geschichte, die in den je besonderen Natur- und Landschaftsentwürfen bei Runge, Friedrich und noch bei Carus und Richter in der Zeitlosigkeit oder dem Überzeitlichen aufgehoben schien, machte sich mit großer Brutalität erneut geltend. Jetzt konfrontiert mit Krieg und entfesselter Gewalt rückt der Schein der Utopie, einer mit Mensch und Gott versöhnten Natur, wie sie in den Landschaftsbildern je verschieden gestaltet ist, wieder weit in die Ferne. Die Bilder werden zu schönen Erinnerungszeichen an eine ‚Welt von gestern‘ (Stefan Zweig).

Glossar:

Augusteisches Zeitalter: sich von 1697 bis 1763 erstreckende barocke Kulturepoche in Sachsen und Polen während der Herrschaft der sächsischen Kurfürsten Friedrich August I. und dessen Sohn Friedrich August II. als polnische Könige August II. und August III | Cumulus/Kumulus: spezifische Wolkenform mit flacher Unterseite und ‚blumenkohlförmiger‘ Oberseite; umgangssprachlich auch Haufen- oder Quellwolke genannt. Die Kumuluswolke wird in der bildenden Kunst häufig als Idealbild einer Wolke aufgefasst | Geognostik/Geognosie: bis in das beginnende 19. Jahrhundert hinein der gängige Begriff für die Lehre vom Aufbau der festen Erdkruste. Heute ist diese Fachrichtung in der ‚Geologie‘ aufgegangen | Homer: gilt als antiker Autor der Ilias und der Odyssee und dadurch als erster Dichter Europas. Die Forschung geht zwar davon aus, dass Homer möglicherweise in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts vor Christus lebte, seine tatsächliche Existenz kann jedoch nicht belegt werden. Für die deutsche ‚Klassik‘ um 1800 verdrängte die Orientierung an Homer diejenige an dem

138 Ebd., S. 42.

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lateinischen ‚Klassiker‘ Vergil | ostentativ: absichtlich, auffällig, demonstrativ, Aufmerk- samkeit haschend | Physiognomik: Lehre von der Charakteranalyse allein anhand der unveränderlichen physiologischen Äußerlichkeiten des Körpers. Nicht zu verwechseln mit der ‚Mimik‘, der Ausdruckslehre | pittoresk: malerisch | Sepia: Farbcharakteristik in der bildenden Kunst; die gesamte, i. d. R. farblose (schwarz-weiße) Bildfläche ist dabei in einem gelblich-bräunlichen Farbton gehalten | Sujet: Motiv, Thema oder Ge- genstand einer künstlerischen Gestaltung (z.B. eines Gemäldes) | Usurpation: illegitime Anmaßung von Besitz oder Macht und eventuell damit verbundener Titel | ‚wunder- bar‘: das Wunderbare ist ein Schlüsselbegriff der romantischen Poetik. Vor allem Tieck hat herausgearbeitet, dass das Vertrauen auf die Logik des Verstandes im aufgeklärten Jahrhundert durch die Poesie, die das Unmögliche möglich macht, erschüttert werden muss. Seine frühen Novellen schildern den Einbruch des Wunderbaren, des Unerklär- lichen in die konventionell geordnete Alltagswelt. Noch in seinen späten Erzählungen bewahrt das Wunderbare die Dimension einer höheren souveränen Vernunft in der beschränkten Alltagswelt

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5. Konsum und Industrie Buch_Usti_dt_kor_Layout 1 26.11.13 10:25 Seite 236 Buch_Usti_dt_kor_Layout 1 26.11.13 10:25 Seite 237

‚Ein Böhmisch Marcipan‘. Böhmische Küche in Dresden im Laufe der Zeit.

Marco Iwanzeck

‚Ein Böhmisch Marcipan‘. Böhmische Küche in Dresden im Laufe der Zeit.

Nationalitäten- und Länderrestaurants sind heute in Dresden keine Seltenheit mehr. Es gibt ein großes gastronomisches Angebot aus fast allen Kontinenten der Welt. Die Auswahl reicht von asiatischen, afrikanischen, australischen bis hin zu nord- und süd- amerikanischen Restaurants und Lokalen, die den Gästen die jeweiligen landestypi- schen Küchen präsentieren. Besonders zahlreich sind die Küchen der europäischen Länder in der sächsischen Landeshauptstadt vertreten. Es finden sich beispielsweise mehrere französische, italienische, spanische und russische gastronomische Betriebe im Stadtgebiet. Auch die Küche des Nachbarlandes Tschechien ist in der Kulinarik der Stadt fest verankert. Auf der Königstraße in Dresden kann man in der Prager Bierstube, die mit ‚Wenzel‘ den Namen vieler böhmischer Könige trägt, einige der berühmten böhmischen Biere genießen, wie das Budweiser Budvar, Pilsner Urquell oder Staropramen. Und auch das Sächsisch-Böhmische Bierhaus ‚Altmarktkeller‘ bietet diese bekannten Biere an. Die lange böhmische Brautradition findet sich somit für die Einheimischen oder Tou- risten auch in Dresden wieder. Die Restaurantleitung des Altmarktkellers versucht darüber hinaus, eine kulinarische Verbindung von Sachsen und Böhmen in ihrem Lokal zu stiften. Es werden neben Gerichten aus Sachsen bekannte böhmische Speisen – wie etwa Lendenbraten mit Knödeln (svíčková na smetaně) – serviert. Neben der Biervielfalt sind es vor allem die böhmischen Speisen, die für das authentische Kolorit sorgen. Es handelt sich bei den angebotenen Gerichten größtenteils um deftige Speisen, die auch in den heutigen Kochbüchern immer wieder als ‚typisch böhmisch‘ gelten und aus welchen eine jahrhundertealte Kochtradition abgeleitet wird.1 Neben den vielen Süß- und Mehlspeisen bestimmen gerade diese deftigen Gerichte das ‚Image‘ der böhmischen Küche. Der kulinarische Klassiker ‚Schweinebraten, Kraut und Knödel‘ taucht in deutschen Reiseführern häufig als die Topspezialität oder als Nationalgericht auf.2 Aus deutscher Sicht ist die heutige tschechische Küche besonders für die ‚fetthaltigen‘ und ‚schweren‘ Gerichte bekannt.

1 Vgl. Klaus Teuber: Alte böhmische Küche. Potsdam: Tandem Verlag 2010, Einleitung, S. 4. 2 Vgl. Elisabeth Fendl/Jana Nosková: Die böhmische Küche. In: Esskultur und kulturelle Identität. Ethnologische Nahrungsforschung im östlichen Europa. Hg. v. Heinke M. Kalinke/Klaus Roth/Tobias Weger. München: Oldenbourg 2010, S. 105–136, hier S. 127–129.

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‚Ein Böhmisch Marcipan‘. Böhmische Küche in Dresden im Laufe der Zeit.

In Dresden kann man die landestypische Küche aus Böhmen auch als eine Marke- tingstrategie der Restaurants verstehen, die bei manchen Menschen Erinnerungen an die Zeit der DDR wecken soll, als die osteuropäischen Nationalitätenrestaurants wie Exoten anmuteten und deren Besuch als etwas besonderes galt. Denn in der DDR war so eine breite Palette an ausländischer Gastronomie wie heute wirtschaftlich nicht ausführbar und politisch gar nicht gewollt. Aufgrund der Integration in das sozia - listische Staatensystem wurden Imitationen, die sich auf den Westen bezogen, arg- wöhnisch betrachtet. Es gab somit kaum Raum für Restaurants aus dem südlichen oder westlichen Europa, für Pizza oder ‚haute cuisine‘. Nach dem Zweiten Weltkrieg dauerte es in Dresden bis in die 1950er Jahre, dass sich eine umfangreichere Gastronomie wieder entwickeln konnte. Pünktlich zur 750-Jahr- Feier im Jahr 1956 eröffneten dann viele neugebaute Gaststätten und Restaurants. Als erster Neubau wurde das ‚Café Prag‘ am Dresdner Altmarkt fertig gestellt. Das ‚Café Prag‘ war aber kein tschechisches Spezialitätenrestaurant und verfügte keineswegs über ein landestypisches Speisenangebot. Es handelte sich bei dem Lokal um ein Tanzkabarett mit angeschlossener Gastronomie, und im Erdgeschoss befand sich die sogenannte Mokkastube.3 Vor der Eröffnung des ‚Café Prags‘ in Dresden hatte es kein Kaffeehaus mit diesem Namen gegeben. Die Namensgebung verstand sich als Würdigung des sozialistischen Bruderlandes.

Das Café Prag von der Westseite am Dresdner Altmarkt [Januar 1960]

3 Vgl. Manfred Wille: Dresdner Gastlichkeit – von den Anfängen bis zur Gegenwart. Kleine Kulturgeschichte des Gastgewerbes in Dresden. Dresden: A.&R. Adam Verlag 2008, S. 197f.

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‚Ein Böhmisch Marcipan‘. Böhmische Küche in Dresden im Laufe der Zeit.

Mit dem Bau der Berliner Mauer im Jahr 1961 schottete sich die DDR nicht nur politisch, sondern auch zunehmend kulinarisch ab. Allein die südost- und osteuro- päischen Länderküchen übernahmen jetzt die Aufgabe, den Menschen die unerreich- bare Ferne etwas näher zu bringen. Die Gäste schrieben deshalb den Nationalitäten- restaurants einen hohen Stellenwert zu, und dies drückte sich in den Besucherzahlen aus. In Dresden zählten zu diesen Länderlokalen beispielsweise die ‚Prager Bierstube‘, das Hotel-Restaurant ‚Ostrava‘, das ungarische Lokal ‚Szeged‘ sowie die Großgaststätte ‚International‘ in welcher das ‚Wroclaw‘ untergebracht war.4 Die Nationalitätengaststätten wurden von der Handelsorganisation (HO), die dem Ministerium für Handel und Versorgung unterstellt war, eingerichtet.5 Die HO war im Jahr 1948 mit dem Ziel gegründet worden, die Verstaatlichung des Großhandels zu organisieren und die Warenströme zentral zu lenken.6 Für den Ernährungssektor war das besonders bedeutend, gab es doch in Folge eines ungenügenden Angebots an modernen und modischen Konsumwaren eine stetige Steigerung des Nahrungs- mittelsverbrauchs.7 Das gestiegene Haushaltseinkommen, das zu einem Kaufkraft- überhang führte,8 wurde demzufolge auch in Besuche von Gaststätten oder Restau- rants gesteckt. Der gastronomische Sektor der DDR hatte immer wieder Probleme, die Menge an Gästen zu versorgen. Von den Besucherströmen profitierten die osteuropäischen Spezialrestaurants, die auch deshalb gut besucht waren, da sie ein Flair der Ferne vermittelten. Dort ließen sich diejenigen Urlaubserinnerungen, die sich DDR-Bürger erwarten konnten, neu beleben.9 Um das Gefühl zu bestärken, wurden die Gasträume in folkloristischer, lan- destypischer Gestaltung eingerichtet und die Mitarbeiter kamen häufig auch aus dem entsprechenden Land. Im Dresdner Restaurant ‚Ostrava‘, das 1973 eröffnet wurde, kochte und bediente tschechisches Personal.10 Auch hier wurden die typischen böh- mischen Landesspeisen serviert. Eine Speisekarte, die das Angebot wiedergibt, ist aber leider nicht mehr auffindbar.

4 Vgl. Dietmar Sehn: Bitte warten, Sie werden platziert! Dresdner Lokale in der DDR-Zeit. Gudensberg-Gleichen: Wartberg Verlag 2009, S. 72ff. 5 Vgl. Maren Möhring: Fremdes Essen. Die Geschichte der ausländischen Gastronomie in der Bundesrepublik Deutschland. München: Oldenbourg 2012, S. 103f. 6 Vgl. Ina Merkel: Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1999, S. 164ff. 7 Vgl. ebd., S. 315. 8 Vgl. Christoph Boyer: Grundlinien der Sozial- und Konsumpolitik der DDR in den siebziger und achtziger Jahren in theoretischer Perspektive. In: Der Schein der Stabilität. DDR-Betriebsalltag in der Ära Honecker. Hg. v. Renate Hürtgen/omas Reichel. Berlin: Metropol 2001, S. 69–84, hier S. 75. 9 Vgl. Jutta Voigt: Der Geschmack des Ostens. Vom Essen, Trinken und Leben in der DDR. Berlin: Gustav Kiepenheuer Verlag 2005, S. 136f. 10 Vgl. Sehn, Bitte warten (wie Anm. 4), S. 72.

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Bis heute wird selbst in Tschechien daran festgehalten, dass trotz aller Vielfalt an süßen Knödeln und Mehlspeisen die böhmische Küche eine herzhafte, deftige und reichhaltige sei. In dieses Konsumschema gedrängt, steht sie einer Speisenherstellung, wie sie bei der französischen Küche beworben wird, die sich als mager, verfeinert und exquisit darstellt, distinktiv* gegenüber.11 Es geht aber lediglich um die Gegenüber- stellung zweier Konsummuster. Es lässt sich keineswegs ausschließen, dass die Küche in Tschechien exquisit sein kann, wenn man etwa den Einfluss anderer regionaler Küchen wie der österreichischen oder ungarischen bedenkt. Die Nationalküchen, die typischerweise einem Land oder auch einer Region zuge- schrieben werden, traten erst im 19. Jahrhundert in Erscheinung. Die so deklarierten nationalen oder regionalen ‚Urküchen‘ wurden oft als landestypisch konstruiert,12 um durch bestimmte Speisen, Zubereitungsformen und Zutaten eine nationale Iden- tität zu erzeugen. Dadurch entsteht über die Vermittlung von Essen und Trinken ein Zugehörigkeits- und Heimatbewusstsein, das das jeweilige regionale Mahlzeiten - system* prägt.13 Das Essen als kultureller Vorgang zählt somit zu den wichtigen Ele- menten der regionalen Identitätsbildung.14 Ist allerdings die regionale oder nationale Nahrungstradition bereits fest verankert, kommt es häufig zur Prägung von kuli - narischen Stereotypen*, wie das Beispiel von Schweinebraten und Knödel aufzeigt. Neben den Regionalküchen gibt es noch die internationale, beziehungsweise die ‚hei- matlose‘ Küche, die eben keinen regionalen Bezug aufweist15 und immer im Wandel begriffen ist. Durch die Existenz dieser wandlungsfähigen zwischenstaatlichen Küche werden die typischen Landesküchen beeinflusst und verändert, was zur Folge hat, dass die ihnen zugeschriebenen Eigenschaften immer wieder modifiziert werden. Obwohl die Existenz von nationalen Küchen häufig in Frage gestellt wurde, tradieren sich immerhin diese „kollektiven Fiktionen“16 von Generation zu Generation.

11 Vgl. Eva Barlösius: Soziologie des Essens. Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernäh- rungsforschung. Weinheim/München: Juventa-Verlag 1999, S. 109–112. 12 Vgl. Kirsten Schlegel-Matthies: Regionale Speisen in deutschen Kochbüchern des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Kulturthema Essen. Hg. v. Hans Jürgen Teuteberg/Gerhard Neumann/Alois Wierlacher. Band 2. Berlin: Akade- mie-Verlag 1997, S. 212–227, hier S. 212; Roman Sandgruber: Knödel, Nudel, Topfenstrudel. Österreichische Ernährungsgewohnheiten und regionale Unterschiede in Mitteleuropa. In: Nord-Süd-Unterschiede in der städ- tischen und ländlichen Kultur Mitteleuropas. Hg. v. Günter Wiegelmann. Münster: F. Coppenrath Verlag 1985, S. 265–297, hier S. 265f. 13 Vgl. Roman Sandgruber: Österreichische Nationalspeisen: Mythos und Realität. In: Kulturthema Essen (wie Anm. 12), S. 179–203, hier S. 180. 14 Vgl. Ferdinand Fellmann: Kulturelle und personale Identität. In: Ebd., S. 27–36, hier S. 34. 15 Vgl. Ulrich Tolksdorf: Das Eigene und das Fremde. Küchen und Kulturen in Kontakt. In: Ebd., S. 187–192, hier S. 189. 16 Jakob Tanner: Italienische „Makkaroni-Esser“ in der Schweiz. Migration von Arbeitskräften und kulinarische Tradition. In: Ebd., S. 473–497, hier S. 489.

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Die tschechische Nationalküche ist jüngeren Datums, und die Entstehung dieses Konzeptes im 19. Jahrhundert ist unmittelbar mit dem Namen Magdalena Dobromila Rettigová verbunden.17 Ihr Kochbuch Die Hausköchin18 wurde zum Grundstein der nationalen Küche stilisiert und ist nach der Bibel das auflagenstärkste Buch in Tsche- chien.19 Bis heute gab es 36 tschechische und 10 deutsche Auflagen des Kochbuchs.20 Nach ihrem Verständnis handelte es sich bei ihrer Rezeptsammlung um „schlichte Hausmannskost, wie [sie] meine Großmutter und meine Mutter gekocht haben“.21 Rettigová präsentierte eine traditionell einfache Küche aus deftigen Gerichten, wie sie in Böhmen anscheinend üblich war. Ihre Erfahrungen gab sie an Schülerinnen weiter, die in ihrer Kochschule alles nötige für die Hauswirtschaft erlernten.22 Mit solchen privaten Kochschulen war eine Institution geschaffen, die die tschechische Küche tradierte und letztendlich zur Nationalküche machte. Selbst die einfachen Speisen, die in Böhmen auf den Tisch kamen, standen durchaus im Austausch mit anderen Küchen. Die ländlichen, oft deftigen Rezepte, die man beispielsweise bei Hochzeitsfeiern oder Schlachtfesten servierte, wurden in die Landes - hauptstadt Prag gebracht, um sie dort, unter Anleihen bei der französischen Koch- kunst einem Verfeinerungsprozess zu unterziehen.23 Neben der Küche Frankreichs trug auch die österreichische Kochkunst, die wiederum Anleihen aus Ungarn und Norditalien sowie auch wieder aus Böhmen aufnahm, zum kulinarischen Transfer bei. So wurde das Schnitzel von Wien ausgehend in das Mahlzeitensystem Nord - böhmens aufgenommen.24 Essen und Trinken spielen zwar somit eine „gewichtige Rolle in der Markierung von kultureller Zugehörigkeit“,25 allerdings ist diese oft von der historischen Grundlage getrennt.

17 Vgl. Fendl/Nosková, Die böhmische Küche (wie Anm. 2), S. 105. 18 Magdalena Dobromila Rettig: Die Hausköchin, oder eine leichtfaßliche und bewährte Anweisung auf die vor- theilhafteste und schmackhafteste Art die Fleisch- und Fastenspeisen zu kochen, zu backen und einzumachen; Tafeln nach der neuesten Art zu decken; nebst vielen andern nützlichen in der Haushaltung oft unentbehrlichen Sachen, durch vieljährige Erfahrung erprobt. Königgrätz/Prag: Pospissil 1838. 19 Vgl. Fendl/Nosková, Die böhmische Küche (wie Anm. 2), S. 107ff. 20 Lydia Petráňová: Language, patriotism and cuisine: the formation of the Czech national culture in central Europe. In: e diffusion of food culture in Europe from the late eighteenth century to the present day. Hg. v. Derek J. Oddy. Prag: Academia 2005, S. 167–179, hier S. 175. 21 Vgl. Rettig, Die Hausköchin (wie Anm. 18), S. IX. 22 Vgl. Petráňová, Language, patriotism and cuisine (wie Anm. 20), S. 170. 23 Vgl. Georg R. Schroubek: Die Böhmische Köchin. Ihre kulturelle Mittlerrolle in literarischen Zeugnissen der Jahrhundertwende. In: Studien zur böhmischen Volkskunde. Hg. v. dems./Petr Lozoviuk. Münster/New York/ München: Waxmann 2008, S. 201–217, hier S. 205f. 24 Günther Wiegelmann: Alltags- und Festspeisen in Mitteleuropa. Innovationen, Strukturen und Regionen vom späten Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert. Münster/New York/München: Waxmann 2006, S. 211. 25 Bernhard Tschofen: Kulinaristik und Regionalkultur. In: Kulinaristik. Forschung – Lehre – Praxis. Hg. v. Alois Wierlacher/Regina Bendix. Berlin: LIT-Verlag 2008, S. 63–78, hier S. 64.

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Daraus ergibt sich die Frage nach einem historischen Blick auf die böhmische Küche. Wie wurden vom Beginn des 17. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts aus sächsischer Sicht die Speisen aus dem Nachbarland wahrgenommen? Sachsen war mit Böhmen über Jahrhunderte durch eine weitgehend unveränderte Grenze verbunden. Es bestanden ähnliche geographische wie klimatische Bedingungen und demzufolge Gemeinsamkeiten in der Landwirtschaft; allerdings gab es im Unterschied dazu eine differierende politisch-wirtschaftliche Vergangenheit sowie die konfessionelle Grenze zwischen beiden Territorien. Dennoch wurden Rezepte aus Böhmen durch sächsische Kochbuchautoren veröffentlicht. Ein Blick von außen auf die böhmische Küche gibt womöglich Aufschluss über die Typisierungen von Regional- bzw. Nationalküchen. Nicht erst in der DDR begann die Übernahme böhmischer Speisen und Rezepte. Schon in der Frühen Neuzeit schauten die sächsischen Köche ins Nachbarland. So hat auch das älteste für Sachsen nachweisbare Kochbuch, das in Leipzig gedruckte New, kunst- reich vnd nützliches Kochbuch 26 von Johann Deckhardt aus dem Jahr 1611, böhmische Rezepte wiedergegeben. Dass dieses Buch überhaupt erschien, verdankt man Elisabeth Bergeno, der Ehefrau des Leipziger Bürgers und Buchdruckers Christian Bergeno. Sie setzte die Arbeit ihres Mannes fort, der bereits an dem Druck gearbeitet hatte, aber noch vor der Herausgabe verstarb. Infolgedessen suchte und fand sie Förderer, sodass diese die Drucklegung des Buches schließlich finanzierten. Deshalb ist freilich eine ge- naue Datierung der Rezeptsammlung von Deckhardt nicht möglich. Die Rezeptsamm- lung ist wohl einige Jahre älter als die Veröffentlichung des Buches. Deckhardt war, als er seine Rezeptsammlung notierte, in der Dresdner Hofküche des sächsischen Kur - fürsten als Küchenschreiber beschäftigt.27 Anhand einer Küchenordnung, die Kurfürst Johann Georg I. von Sachsen im Jahr 1611, unmittelbar nach seinem Regierungsantritt erlassen hatte, wird ersichtlich, dass der Küchenschreiber eine wichtige Person für den Betrieb in der Hofküche darstellte.28 Ihm oblag die Aufsicht über die in der Hofküche zu verarbeitenden Lebensmittel und die Niederschrift des Küchenzettels, auf dem die Speisen des Tages notiert waren.29 Da er schreiben konnte, wurde ihm vielleicht die Niederschrift der Rezepte anvertraut. Darunter befinden sich auch zwei böhmische Rezepte. Einerseits gab er eine Anweisung, wie man Kapaunen oder Hühner auf böh-

26 Johann Deckhardt: New/ Kunstreich vnd Nützliches Kochbuch. Darinn allerley nützliche vnd seltzame Speisen vnd Trachten/ nicht allein von Wildpret, Vogeln, Fischen vnd Fleisch/ sondern auch gebackener/ alß Würtzepa- nen/ Dortten/ Pastetten/ Kuchen vnd dergleichen/ für allerley Stands personen/ Auch in allerley Haußhaltungen/ vnd nach gelegenheit der zeit/ Gasterey vnd Pancketen/ oder sonsten/ wie dergleichen vffn nohtfall für krancke Leute schnell vnd balde/ mit geringen vnd leichten Unkosten zuverfertigen. Leipzig: Grosse 1611. 27 Vgl. ebd., Vorrede, o. S. 28 Sächsisches Hauptstaatsarchiv, 10036 Finanzarchiv, Loc. 32441, Rep. XXVIII, Nr. 8, KuchenOrdenung Bey angetretener Regierung Churfurst Johans Georgenn zu Sachßen Vffgerichtet Anno 1611, unfoliert. 29 Vgl. ebd.

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mische Art30 kochen konnte: Das gekochte Geflügelfleisch wurde in einer dunklen Tunke serviert, die Deckhardt wahrscheinlich mit Böhmen assoziierte. Für die Sauce stellte er ein Mus aus der Leber, den Füßen und dem Hals vom Geflügel sowie Brot und Petersilienwurzel her. Das Mus verdünnte er mit der Geflügelbrühe und würzte die fertige Tunke noch mit Ingwer, Safran und Muskatblüten.31 Andererseits bildete sein Rezept für ‚ein Böhmisch Marcipan‘32 den Anfangspunkt der Rezeption von böhmischen Süßspeisen, die in den sächsischen Kochbüchern immer wieder auftauchen. Für sein böhmisches Marzipan rieb er Mandeln und stellte aus der Hälfte der Masse einen Teig mit gestoßenem Zucker und Rosenwasser her. Das Rosenwasser war eine gewöhnliche Zutat für Süßspeisen, wurde aber vor allem für die Marzipanherstellung verwendet. Das ätherische Wasser, das als Nebenprodukt bei der Gewinnung von Rosenöl anfiel,33 rundete den Geschmack des Marzipans mit einer leichten Parfümnote ab. Aufgrund der aufwendigen Herstellung und der teuren Zutaten konnte sich der Großteil der sächsischen Bevölkerung ein solches Marzipan nicht leisten. Vor allem Zucker war zu Beginn des 17. Jahrhunderts ein sehr teures Produkt und blieb vor allem höfischen und adligen Kreisen vorbehalten, wenngleich auch sehr reiche Stadtbürger Zucker konsumierten.34 Nachdem der Anbau von Rohr- zucker auf die Inseln Mittelamerikas verlagert worden war, und in Europa die Nach- frage nach dem Luxusgut stieg, entwickelte sich der Zucker zum begehrten kolonialen Exportgut. Der Rohzucker kam in den Nordsee- und Atlantikhäfen an und wurde dort in den Zuckersiedereien* noch verfeinert. Der lange Transport vom über - seeischen Anbaugebiet auf die Tische der Zeitgenossen verteuerte den Zucker im enormen Maße.35 Die Deckhardtsche Süßspeise war somit ausschließlich für herr- schaftliche Tafeln, wie die der sächsischen Kurfürsten, bestimmt. Aus dem Rest der Mandeln stellte Deckhardt eine Mandelmilch her, in der Semmel- schnitten eingeweicht wurden. Der Mandelteig wurde flach ausgerollt, die weiche Semmel - masse darauf gegeben und mit Rosinen bestreut. Abschließend wurde die Masse wieder mit einer Schicht des Mandelteigs bedeckt. In einer geschlossenen Pfanne mit Schmalz wurde das Marzipan gebacken. Bei diesem Arbeitsschritt zeigte sich das Können des Kochs, da er nicht sehen konnte, wann das Marzipan fertig war. Man „schütte Kohlen drauff

30 Vgl. Deckhardt, New/ Kunstreich vnd Nützliches Kochbuch (wie Anm. 26), S. 9f. 31 Vgl. ebd., S. 10. 32 Ebd., S. 260f. 33 Vgl. Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 17. Leipzig: Bibliograph. Inst. 1909, S. 154. 34 Vgl. Günther Wiegelmann: Zucker und Süßwaren im Zivilisationsprozeß der Neuzeit. In: Unsere tägliche Kost. Studien zur Geschichte des Alltags. Hg. v. Hans Jürgen Teuteberg/Günther Wiegelmann. Münster: F. Coppenrath Verlag 1986, S. 135–152, hier S. 140f. 35 Vgl. Sidney W. Mintz: Die süße Macht. Kulturgeschichte des Zuckers. Frankfurt a. Main/New York: Campus 1987, S. 59f.

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Johann David Schleuen d. Ä.: Die Arbeit in der Küche [1774; Kupferstich nach Daniel Nikolaus Chodowiecki]

und darunter/ rüttele die Pfanne offte vmb/ daß es nicht anbrenne.“36 Der Küchen - meister musste also den genauen Zeitpunkt erfahrungsgemäß abpassen. Das Marzipan wurde als Süßspeise neben Käse, Obst und Gebackenen zum Dessert gereicht.37 Mit dem Kochbuch von Deckhardt begann nachweislich die Übernahme böhmischer Rezepte ins Sächsische, aber sie endete auch vorerst mit ihm. Denn erst im 19. Jahr- hundert lassen sich in Kochbüchern aus Dresden wieder Bezüge zu Speisen aus Böhmen finden. Ein Koch, der den großen Teil seines Lebens am Dresdner Hof arbeitete, war besonders mit Böhmen verbunden. Franz Walcha stammte aus dem mittelböhmischen Kladno, wo er am 21. November 1771 geboren wurde. Von dort aus begann er seine Karriere, die ihn zum höchsten Amt in der Dresdner Hofküche als Hof küchenmeister führte. Ob er die Kochkunst in Böhmen erlernt hat, lässt sich nicht sagen. Zumindest verfeinerte er sein Können in den Hauptstädten Europas. Ab 1806 kochte er drei Jahre lang in Paris und im Zeitraum von 1813 bis 1816 arbeitete er in London, St. Petersburg

36 Vgl. Deckhardt, New/ Kunstreich vnd Nützliches Kochbuch (wie Anm. 26), S. 260f. 37 Sächs. HStA Dresden, 10036 Finanzarchiv, Loc. 32441, Rep. XXVIII, Nr. 8, KuchenOrdenung, unfoliert.

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und Wien.38 Diese internationalen Erfahrungen flossen in sein 1819 erschienenes Koch- buch Der praktische Koch ein. Zum Zeitpunkt der Ver öffentlichung war Walcha als Mundkoch* bei Prinz Anton von Sachsen, dem späteren König, angestellt und kochte in dessen Hofküche in Dresden. Sein Kochbuch steht für exquisite Zubereitungsweisen, die einen Einblick geben, auf welchem Niveau die Dresdner Hofküche arbeitete. Elf der insgesamt 598 Rezepte, die sein Buch enthält, weisen einen Bezug zu Böhmen auf. Neun davon sind den Mehl- bzw. Süßspeisen39 zuzuschreiben. Die zwei anderen Kochanweisungen beinhalten ein Fischgericht (Filet von Bärschen auf böhmische Art)40 und Sauerkraut auf böhmische Art,41 das mit Fasan serviert werden sollte. Die Kombination von Fasan mit Sauerkraut scheint eine zeitgenössische böhmische Speise zu sein, denn auch bei Rettigova kommt sie vor.42 Allerdings bevorzugte sie ein Süß- sauerkraut zum Fasan. Die als traditionell angesehenen Knödel hatte Walcha in einer verfeinerten Form, nämlich als Quarkknödel, in sein Kochbuch aufgenommen. Für den Knödelteig ver- rührte er Quark mit einem Viertel Pfund Butter sowie drei Eiern und drei Eidottern zu Schaum.43 Zum Teig kamen geriebene Semmel, Salz und eine Prise Muskat. Die Masse wurde 10 Minuten in Salzwasser gekocht und mit geklärter Butter serviert. Rettigova stellte ihre Quarkknödel auf dieselbe Art und Weise her, nur dass sie auf die Muskatwürze verzichtete.44 Die internationale Ausrichtung der Dresdner Kochbücher wich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend einer verstärkten Nationalisierung der Küchen. Auch in Sachsen wurde dies wahrgenommen. Gab es vorher Rezepte die ‚nach böhmischer Art‘ gekennzeichnet waren, so taucht z.B. bei Georg Conrad Bickelmann der Termi- nus ‚böhmische Küche‘ auf.45 Bickelmann war Besitzer eines Restaurants am Dresdner

38 Vgl. Franz Walcha: Der praktische Koch oder vollständige und faßliche Anleitung, alle Arten von Speisen nach französischem, deutschem und englischem Geschmacke zu bereiten, mit einer Auswahl von vorzüglichen Fastenspeisen, nebst einer Sammlung von Küchenzetteln und einer Anweisung zur Anordnung der Tafel mit 5 Kupfertafeln. Dresden: Selbstverlag 1819, S. III. 39 Kleine böhmische Talken, vgl. Walcha, Der praktische Koch (wie Anm. 38), S. 278; Omelettes auf böhmische Art, vgl. ebd., S.309; Baba auf böhmische Art, vgl. ebd., S.315; Böhmische Talken auf andere Art, vgl. ebd., S. 315f; Böhmischer Strudel, vgl. ebd., S. 316f; Böhmischer Strudel von Kaffee-Essenz, vgl. ebd., S. 317; Böhmische Waffeln, vgl. ebd., S. 320f. Böhmische Knödel von Quark, vgl. ebd., S. 324f; Böhmischer Reis, vgl. ebd., S. 331. 40 Vgl. ebd., S. 204. 41 Vgl. ebd., S. 128f. 42 Vgl. Rettig, Die Hausköchin (wie Anm. 18), S. 41. 43 Walcha, Der praktische Koch (wie Anm. 38), S. 324f. 44 Vgl. Rettig, Die Hausköchin (wie Anm. 18), S. 277f. 45 Georg Conrad Bickelmann: Allgemeines deutsches Kochbuch für jede Haushaltung, oder Lehrbuch der Koch- und Backkunst, enthaltend eine praktische Anleitung zur Bereitung von mehr als 1300 auserlesenen Speisen, allen Arten Zuckerbäckereien,eingemachten und eingesottenen Früchten,Sülzen,Gelées,Säften,Salaten,Compots, Gefrornem und verschiedenen Getränken, nebst einem nach den Jahreszeiten eingerichteten Küchenzettel. Dresden: Arnold1861, S. IV.

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Altmarkt. Im Vorwort zur dritten Auflage seines 1861 erschienenen Kochbuches hatte er „das Werk mit vielen Speisen aus der Wiener und Böhmischen Küche vermehrt“.46 Da er die sogenannten Provinzialbezeichnungen ins Deutsche übersetzte, lässt sich nicht rekonstruieren, welche Rezepte ursprünglich böhmischer Herkunft waren. Bickelmann hat lediglich fünf Zubereitungsweisen für Mehlspeisen notiert, die auf einen derartigen Ursprung verweisen. Einmal handelt es sich dabei um einfache Dalken und dieselben noch mal in verfeinerter Form.47 Weiterhin finden sich drei Rezepte für Kolatschen, die mit dem Attribut der Städte Karlsbad, Prag und Königgrätz versehen sind.48 Die Aufnahme der böhmischen Küche in die sächsischen Kochbücher war bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges auf wenige Rezepte beschränkt. Die Süßspeisen haben dabei den größten Anteil. In der DDR fand wieder eine große Aufnahme von böh- mischen Rezepten in die Kochbücher statt. Mit der Einrichtung von Nationalitäten- restaurants stieg auch die Nachfrage nach Rezepten aus diesen Ländern. Um Abhilfe zu schaffen, wurden tschechische Back- und Kochbücher ins Deutsche übersetzt. So kamen das Backbuch Múčniky 49 von Mária Hajková und die Tschechische Küche 50 von Joza Břízová und Maryna Klimentová aus dem Jahr 1982 in deutscher Über - setzung in den Buchhandel der DDR. Bei den Rezepten handelt es sich hauptsächlich um die bekannten Klassiker der böhmischen Küche, die auch heute noch mit der tschechischen Küche verbunden werden. Das böhmische Marzipan aber ist in Sachsen verschwunden.

Glossar:

distinktiv: abgrenzend | Mahlzeitensystem: Es bildet sich zum einen aus den einzelnen Speisen und Getränken bzw. Speisefolgen und zum anderen aus dem, was, wann und wo gegessen wird | Stereotyp: Beschreibung von Personen oder Gruppen, auf die ein feststehendes Muster angelegt wird | Zuckersiederei: Fabrik zur Weiterverarbeitung des Rohzuckers. Um die weiße Farbe zu erhalten, muss der Zucker in einer solchen Fabrik gereinigt werden | Mundkoch: Bezeichnet einen herrschaftlichen Koch, der ausschließlich für den Herrscher kocht

46 Ebd., S. IV. 47 Vgl. ebd., S. 234f. 48 Vgl. ebd., S. 278f. 49 Vgl. Mária Hajková: Múčniky. Backbuch. Leipzig: Verlag für die Frau 1977. 50 Vgl. Joza Břízová/Maryna Klimentová: Tschechische Küche. Leipzig: Verlag für die Frau 1982.

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Die Sächsisch-Böhmische Dampfschifffahrt auf der Oberelbe

Marco Iwanzeck

Die Sächsisch-Böhmische Dampfschifffahrt auf der Oberelbe

I. ‚Während der Baumblüte – Bedarfsweise Sonderfahrten‘

Mit diesem Slogan warb die Sächsisch-Böhmische Dampfschifffahrt während der 1930er Jahre für Fahrten ins benachbarte Böhmen. Seit dem Jahr 2009 wird diese Tradition durch die Sächsische Dampfschifffahrt in Dresden wiederbelebt. Zweimal im Jahr lädt sie wieder zu einer solchen Sonderfahrt ins Böhmische Mittelgebirge ein. Die Fahrgäste erwartet dabei eine längere Linienfahrt von Bad Schandau bis nach Ústí nad Labem (Aussig). Vorbei am Schloss in Děčín (Tetschen) und der Burgruine Střekov (Schreckenstein) erleben die Passagiere der größten und ältesten Raddampfer - flotte der Welt1 eine der schönsten Flussregionen Europas. Am 13. Juni 1845 wurde erstmals die Strecke von Dresden nach Aussig mit dem Dampfschiff befahren und ein wöchentlicher Fahrplan aufgestellt. Nun konnten Passagiere dreimal pro Woche nach Aussig und wieder zurück gelangen.2 Haltepunkte gab es unterwegs in Pirna, Rathen, Königstein, Schandau, Herrnskretschen (Hřensko), Niedergrund (Dolní Žleb) und Tetschen (Děčín), bevor man in Aussig ankam. Die Nachfrage an grenzübergreifenden Fahrten steigerte sich während des 19. Jahrhunderts rasant. Dagegen gibt es heute schnellere Möglichkeiten nach Tschechien zu gelangen. Mit der Fertigstellung der Autobahn von Dresden nach Prag verkürzt sich die Fahrzeit mit dem Auto auf etwa zwei Stunden. Mit der Eisenbahn gelangt man ebenso von Dresden über Ústí in etwas mehr als zwei Stunden in die tschechische Hauptstadt. Eine Schifffahrt nach Ústí nad Labem hingegen dauert mehr als sechs Stunden. Ein Linienverkehr lohnt sich aus wirtschaftlichen Gründen nicht. So wurde auch die Linie von Königstein nach Děčín im Jahr 2007 aufgrund geringer Rentabilität aufgegeben. Das Angebot der Sächsischen Dampfschifffahrt kann sich somit nur auf Sonderfahr- ten beschränken. Als das Eisenbahnnetz noch nicht ausgebaut war, also in den 1840er Jahren, war das Dampfschiff die schnellste Verbindung von Dresden nach Böhmen, und der Wasserweg bot neben der Geschwindigkeit weitere Vorteile für die Zeit -

1 Vgl. Frank Müller/Wolfgang Quinger: Die Dresdner Raddampferflotte. Bielefeld: Delius Klasing 2007, S. 7f. 2 Vgl. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, 11801, Fa. Sächsisch-Böhmische Dampfschifffahrt AG Dresden, Nr. 10, fol. 70f.

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Die Sächsisch-Böhmische Dampfschifffahrt auf der Oberelbe

genossen: Einerseits das Naturerlebnis der Sächsischen und Böhmischen Schweiz und anderseits eine gute und bequeme Verbindung zum Kurort Teplitz (Teplice), indem man erst in Aussig auf Pferdekutschen zurückgreifen musste. Auch ohne die Hilfe von Dampfkraft wurde die Elbe über Jahrhunderte wirtschaftlich für die Binnenschifffahrt genutzt. Nach dem Rhein war sie die bedeutendste natür- liche deutsche Wasserstraße und als Handelsweg schon vor Einführung der indus- triellen Nutzung hoch frequentiert.3 Der Warenhandel auf den Flüssen stellte bis zur Einführung von Antriebstechniken die billigste Alternative zum Landweg über grö- ßere Entfernungen dar. Über den Wasserweg bezog die Stadt Dresden ihre Kolonial- waren*, wie Zucker und Kaffee, aus Hamburg, während Getreide- und Nahrungs- mittellieferungen aus Böhmen in der Stadt eintrafen. Wichtiges Ausfuhrprodukt aus Sachsen über die Elbe war der Sandstein.4 Die Lastkähne, die die Elbe seit Jahr - hunderten befuhren, konnten größere Mengen an Handelsgütern transportieren. Sogar stromaufwärts wurden die Schiffe gerudert, gesegelt oder vom Ufer aus von sogenannten Bomätschern gezogen.5 Das Wort, das so viel wie Gehilfe oder Unter- stützer bedeutet, übernahm man wahrscheinlich von böhmischen Schiffsziehern. Mit der maschinenbetriebenen Schifffahrt fielen diese Mittel nach und nach weg. Sachsen trat im Vergleich mit anderen deutschen Staaten schon relativ zeitig in die Phase der Frühindustrialisierung ein. Begünstigt wurde dies durch eine hohe Gewerbe - dichte, ein gutes Bildungswesen, das bedeutende Handelszentrum Leipzig und eine hohe Wachstumsrate der Bevölkerung. Bis in die 1850er Jahre baute Sachsen seine Position als eine der führenden deutschen Wirtschaftregionen weiter aus. Es ist zwar strittig, inwieweit die Wachstumsprozesse vor 1830 als Industrialisierung zu bezeichnen sind,6 aber ein wichtiges Merkmal dieser Phase war die verstärkte Einführung neuer Techniken und Produktionsformen, die mit einem Wachstum der Produktion und der Zahl der Erwerbstätigen im industriellen Sektor einhergingen.7 Die Binnenschifffahrt wurde nachhaltig durch die industrielle Nutzung der Dampf- kraft beeinflusst, wenngleich diese Technik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

3 Vgl. Hans Rode: Das Elbgebiet. In: Flüsse und Kanäle. Die Geschichte der deutschen Wasserstraßen. Hg. v. Martin Eckoldt. Hamburg: DSV-Verlag 1998, S. 173–200. 4 Vgl. René Misterek: Leben am Strom. Bodenständige Berufe und Alltag im 19. Jahrhundert im Pirnaer Raum. In: Dresdner Hefte 29 (2011), H. 105, S. 42–51, hier S. 42. 5 Vgl. Ralf Haase: Wirtschaft und Verkehr in Sachsen im 19. Jahrhundert. Industrialisierung und der Einfluss Friedrich Lists. Dresden: Sächsische Landeszentrale für politische Bildung 2009, S. 112. 6 Vgl. Hans-Werner Hahn: Industrialisierung, Wirtschaftspolitik und die deutsche Frage. Sächsische Wirtschafts- politik unter König Johann 1854–1873. In: Zwischen Tradition und Modernität. König Johann von Sachsen 1801–1873. Hg. v. Winfried Müller/Martina Schattkowsky. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2004, S. 143–161, hier S. 156. 7 Vgl. Hans-Werner Hahn: Die industrielle Revolution in Deutschland. München: Oldenbourg 2005, S. 13.

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noch in den Kinderschuhen steckte. Aber der sich beschleunigende Industrialisie- rungsprozess ermöglichte eine ständige Weiterentwicklung von dampfbetriebenen Antriebstechniken, die gerade für die Sächsische Dampfschifffahrt von enormer Be- deutung waren. Im Hauptstaatsarchiv in Dresden hat sich eine Akte erhalten, die diese Entwicklungsphase wiedergibt. Es handelt sich dabei um eine Festrede zum 50-jährigen Bestehen der Sächsisch-Böhmischen Dampfschifffahrtsgesellschaft aus dem Jahr 1886, die die Geschichte der Gesellschaft reflektiert.8 Anhand dieser Festrede lassen sich die wirtschaftlichen, politischen und technischen Umstände der Zeit dar- stellen, die die Entwicklung der Dampfschifffahrt begleiteten.

II. Politische Rahmenbedingungen

Über die Organisation des Schifffahrtsbetriebes bis zum 18. Jahrhundert liegen bisher keine Studien vor. Erst im Jahr 1815 wurden auf dem Wiener Kongress Vereinbarungen getroffen, die für die Flussschifffahrt einen einschneidenden Charakter besaßen. Mit Artikel 109 der Wiener Kongressakte* trat der Beschluss der allgemeinen freien Schifffahrt in Kraft. Wie dies im konkreten Fall umgesetzt werden sollte, regelten die Anrainerstaaten* gemeinschaftlich. Zehn Vertreter der Elbanliegerstaaten9 kamen deshalb im Jahr 1819 in Dresden zusammen, um über die weiterführenden Regelun- gen zu beraten. Die von ihnen beschlossene Elbschifffahrtsakte aus dem Jahr 1821 setzte die Bestimmungen des Wiener Kongresses aber nur zum Teil um. Die freie Schifffahrt auf der Elbe gestattete zwar prinzipiell allen Interessenten, auch aus Nichtuferstaaten, die Nutzung des Flusses, aber die staatlichen Behörden hielten sich Einspruchsmöglichkeiten offen.10 Durchgesetzt wurden diese mittels Schifferpatenten, die die jeweilige Landesregierung nach eingehender Prüfung erteilte. Da eine bindende Anerkennung ausländischer Patente nicht bestand, konnten fremde Schifferpatente abgelehnt werden.11 Dennoch wurde mit der Elbschifffahrtsakte der Warentransport auf der Elbe erheblich erleichtert. Für Sachsen ergab sich der Vorteil, dass der Export sächsischer Güter auf die Überseemärkte reaktiviert werden konnte, ohne an jeder Landesgrenze einen Zoll

8 Vgl. Sächs. HStA Dresden, 11801, Fa. Sächsisch-Böhmische Dampfschifffahrt AG Dresden, Nr. 10, ab Fol. 39. 9 Bei den Anrainerstaaten handelt es sich um Österreich (für das Königreich Böhmen), Sachsen, Preußen, Hannover, Dänemark (für Holstein und Lauenburg), Mecklenburg-Schwerin, Anhalt-Köthen, Anhalt-Bernburg, Anhalt-Dessau und Hamburg als Freie Stadt. 10 Vgl. Miriam Rasched: Die Elbe im Völker- und Gemeinschaftsrecht. Schiffahrt und Gewässerschutz. Münster: LIT-Verlag 2003, S. 12. 11 Vgl. ebd.

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zu entrichten.12 Deutschland war in viele Kleinstaaten zersplittert, und jeder dieser Staaten verlangte Zoll. Die Regelung schaffte schlussendlich die hinderlichen 35 Zoll- schranken, die zwischen dem böhmischen Melnik und dem norddeutschen Hamburg überwunden werden mussten,13 zwischen den einzelnen Anrainerstaaten ab, ersetzte allerdings nicht das gesamte unübersichtliche Zollsystem in Deutschland. Um eine einheitliche Zoll- und Handelszone zu schaffen, wurde schließlich der Deutsche Zoll- verein unter der Vorherrschaft Preußens ins Leben gerufen. Sachsen trat im Jahr 1833 der neuen Zollvereinigung bei, die dann am 1. Januar 1834 in Kraft trat. Der Zollverein war ein Zusammenschluss deutscher Bundesstaaten14 und beseitigte zahlreiche Be- einträchtigungen im Wirtschaftsleben zwischen den einzelnen Ländern.15 So löste der Beitritt Sachsens neue Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes aus und lenkte die Industrialisierung in neue Bahnen.16 Österreich lehnte den von Preußen initiierten Zollverein ab. Dieses Ergebnis betraf auch die Zollgrenze zwischen Sachsen und Böhmen, denn diese blieb nach wie vor bestehen. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wollte Preußen seine hegemoniale Stellung im Zollverein und die sich daraus ergebende Abhängigkeit der Mittel- und Kleinstaaten nutzen, um die politische Vormachtstellung in Deutschland anzustreben. Aus diesem Grund unterstützte Sachsen die österreichische Staatsführung in ihrem Bestreben, eine einheitliche Zollpolitik für den Deutschen Bund zu erreichen. Die sächsische Politik scheiterte schließlich am Widerstand der preußischen Regierung auf der Dresdner Konferenz von 1851.17

III. Die Industrielle Entwicklung in Sachsen im 19. Jahrhundert

Sachsen war zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein bedeutendes Zentrum der Baumwoll- verarbeitung in Deutschland. Die Baumwollspinnerei war zu diesem Zeitpunkt die tech- nisch am weitesten fortgeschrittene Fabrikindustrie.18 Das Textilgewerbe geriet jedoch

12 Vgl. Rainer Karlsch/Michael Schäfer: Wirtschaftsgeschichte Sachsens im Industriezeitalter. Leipzig: Edition Leip- zig 2006, S. 57. 13 Vgl. Heiko Werner: Der Beginn der Dampfschifffahrt auf der Oberelbe. Die Gründung der Sächsisch-Böhmi- schen Dampfschifffahrtsgesellschaft. In: Dresdner Hefte 29 (2011), H. 105, S. 4–13, hier S. 6. 14 Gründungsmitglieder waren Preußen, die Königreiche Bayern, Sachsen und Württemberg, das Großherzogtum Hessen-Darmstadt, das Kurfürstentum Hessen-Kassel sowie die thüringischen Staaten. 15 Vgl. Hahn, Die industrielle Revolution (wie Anm. 7), S. 23. 16 Vgl. Hubert Kiesewetter: Die Industrialisierung Sachsens. Ein regional-vergleichendes Erklärungsmodell. Stutt- gart: Franz Steiner Verlag 2007, S. 138. 17 Vgl. Hahn, Industrialisierung (wie Anm. 6), S. 156. 18 Vgl. Karlsch/Schäfer, Wirtschaftsgeschichte Sachsens (wie Anm. 12), S. 45.

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mit dem Ende der Kontinentalsperre 1814 in die Krise, denn billige englische Waren konnten wieder auf den Kontinent gehandelt werden. Das heimische Textilgewerbe konnte sich aufgrund der technologisch überlegenen Konkurrenz am Markt nicht mehr behaupten, so dass viele kleinere Spinnereibetriebe in Konkurs gingen. Ab den 1830er Jahren stieg die sächsische Wirtschaftsleistung stark an. Zu diesem Zeit- punkt lässt sich der Erfolg der Gewerbewirtschaft in Sachsen schon an den industriellen Konjunkturzyklen* ablesen,19 wonach der Durchbruch der Industrialisierung auf die Zeit zwischen 1830 und 1850 zu datieren ist. Als wichtiger Aspekt für ein starkes Wirt- schaftswachstum erwiesen sich die technologischen Neuerungen im Bereich der Antriebstechnik, also Dampfmaschinen. Vor allem durch das naturwissenschaftliche Denken und Forschen konnte in zunehmendem Maße menschliche und tierische Kraft durch Maschinen ersetzt werden.20 Damit erreichte man erstmals die örtliche Unab- hängigkeit von Wind- und Wasserkraft zur Energiegewinnung. Im Zuge dieser Ent- wicklung wurden auch die Verkehrsmöglichkeiten durch den Einsatz von technischen Maschinen verbessert und verbilligt. Neben dem beginnenden Eisenbahnbau sorgte vor allem die Einführung von Dampfschiffen für einen enormen Leistungssprung hin- sichtlich der schnelleren und billigeren Beförderung von Personen und Waren.21 Die Schlüsselstellung im Industrialisierungsprozess wird im verkehrstechnischen Be- reich immer der Eisenbahn zugewiesen, denn er zog vielschichtige und komplexe Ver- änderungen in der Wirtschaftslandschaft nach sich. Der Eisenbahnbau führte zu einer erhöhten Nachfrage nach Kohle, Stahl, Maschinen und Fahrzeugteilen, der vor allem ab den 1850er Jahren zahlreiche Fabrikgründungen folgten.22 Symbolhaft für die In- dustrialisierung in Sachsen stand die Stadt Chemnitz, die sich als wichtiges Zentrum des Maschinenbaus und der Textilindustrie etablierte und – analog zu der englischen Industriemetropole – das sächsische Manchester genannt wurde. Den Zeitgenossen fielen aber auch die Probleme, die die industrielle Produktion mit sich brachte, auf, wie der Autor eines Reiseführers berichtet:23

Von der Klaffenbacher Höhe aus mag der Wanderer nach der volkreichen Fabrik- stadt Chemnitz, das sächsische Manchester, zurückschauen. Ist es in den frühen Morgenstunden, so erblickt er über der Häuserschaar eine lang gezogene rauch-

19 Vgl. ebd., S. 45. 20 Vgl. Hahn, Die industrielle Revolution (wie Anm. 7), S. 1. 21 Vgl. Haase, Wirtschaft und Verkehr in Sachsen (wie Anm. 5), S. 112. 22 Vgl. Karlsch/Schäfer, Wirtschaftsgeschichte Sachsens (wie Anm. 12), S. 42f. 23 Johann Traugott Lindner: Wanderungen durch die interessantesten Gegenden des Sächsischen Osterzgebirges. Ein Beitrag zur speciellern Kenntniß desselben, seines Volkslebens, der Gewerbsarten, Sitten und Gebräuche. Annaberg: Rudolph und Dieterici 1848, zweiter Teil, S. 1f.

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graue Wolke, welche durch dicke Säulen schwarzen Dampfes durchbrochen wird, der sich gespensterartig in der Luft langsam vernichtet. Dieser Qualm entsteigt riesenhaften Rauchfängen der verschiedenen Fabriken.

Die Umweltverschmutzung fand in den gesellschaftlichen Debatten des 19. Jahrhun- derts keinen Platz, wenngleich die Umweltbelastungen den Zeitgenossen nicht ver- borgen blieben. In zunehmendem Maße unterstützte der Staat den Ausbau der Verkehrswege. Allerdings ging der staatlichen Genehmigung ein längerer politischer Diskussionsprozess voraus. An ihn angeschlossen war immer die Frage, welchen Nutzen der Staat aus solchen Pro- jekten ziehen würde.24 Der Staat hatte zwar die Möglichkeit, direkt in den Industriali- sierungsprozess einzugreifen, indem er beispielsweise die Infrastruktur ausbaute.25 Dem gegenüber standen für die politischen Entscheidungsträger die hohen Kosten, die für den Ausbau der Schifffahrtswege notwendig waren. Die ersten Ideen, die Elbe in Sach- sen mit Dampf zu befahren, stammten aus dem Jahr 1814. Die Ausführung scheiterte aber an den Kosten des Projekts. Der sächsische König Friedrich August I. erteilte zwar die Genehmigung, stellte aber keine finanziellen Mittel für das Vorhaben bereit.26 Die Probleme eines solchen Plans waren vielschichtig. Man brauchte nicht nur ein Schiff, das den Erfordernissen entsprach, sondern auch das nötige Personal zum Fahrbetrieb. Zudem war die Elbe ein unsicherer Fluss. Untiefen, Stromschnellen und Klippen ließen die Dampfschifffahrt zu einem unkalkulierbaren Risiko werden.27

IV. Die Gründung der Dampfschifffahrtsgesellschaft

Der Erste, der die Elbe in Sachsen mit einem Dampfschiff befuhr, war Heinrich Wilhelm Calberla. Er besaß in Dresden direkt an der Elbe eine Zuckersiederei, also eine Fabrik zur Raffination* von Zucker. Als Unternehmer hatte er die Absicht, so- wohl den Rohzucker nach Dresden als auch den fertigen Zucker billig und schnell zu transportieren.28 Dem Schiff von Calberla wurde in Hamburg eine Dampf -

24 Zu den Debatten im sächsischen Landtag über die Errichtung einer Eisenbahnstrecke vgl. Josef Matzerath: „Der Staat als Gewerbsunternehmer gegen die Privaten“. Landtagsdebatten über Sachsens frühe Eisenbahnen. In: As- pekte sächsischer Landtagsgeschichte. Formierungen und Brüche des Zweikammerparlaments 1833 bis 1868. Hg. v. Sächsischer Landtag. Dresden: Sächsischer Landtag 2007, S. 31–35. 25 Vgl. Kiesewetter, Die Industrialisierung Sachsens (wie Anm. 16), S. 28. 26 Vgl. Werner, Der Beginn der Dampfschifffahrt (wie Anm. 13), S. 4. 27 Vgl. Otto Trautmann: Heinrich Wilhelm Calberla und sein Dampfschiff in Dresden 1835. In: Dresdner Geschichtsblätter 25 (1916), H. 3, S. 164–174, hier S. 170. 28 Ebd.

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maschine eingebaut und es kam am 20. Februar 1835 in Dresden an. Damit sich die Schaulustigen ein Bild von der Nützlichkeit machen konnten, schleppte der Damp- fer einen Kahn mit 50 Tonnen Rohzucker.29 Damit demonstrierte Calberla, dass es möglich war, die Elbe mit Dampf zu befahren, und welches wirtschaftliche Potential in der Technik steckte, um den Industrialisierungsprozess durch die Verbindung von Technik und Konsum zu symbolisieren. Für den Zucker gilt dies sogar im doppelten Sinn: Einerseits für das Entstehen großer Fabriken zur massenhaften Produktion und andererseits für die Industrialisierung von Essen und Nahrung all- gemein.30 Die ökonomischen Aussichten weckten in der Folgezeit reges Interesse von Dresdner Geschäftsleuten. Durch den Erfolg von Calberla begeistert, berieten die Kaufleute Benjamin Schwenke und Friedrich Lange, wie der generelle Handelsverkehr auf der Elbe zwischen Ham- burg und Dresden wirtschaftlich genutzt werden könnte. Vor diesem Hintergrund gründeten sie am 18. März 1836 die Elbdampfschiffahrtsgesellschaft, der 14 weitere Mitglieder angehörten.31 Zur Finanzierung des Projekts wurden 1500 Aktien zu 100 Talern ausgegeben. Ein wichtiges Mitglied dieser Gesellschaft war Johann Andreas Schubert, der die Errichtung der Dampfschifffahrt auf der Elbe forderte. Der „schöp- ferische Geist der sächsischen industriellen Revolution“32 war seit 1832 Professor der Technischen Bildungsanstalt in Dresden. Schubert konstruierte mit der ‚Saxonia‘ die erste deutsche Dampflok, die im Jahr 1839 die Strecke Leipzig-Dresden einweihte.33 Bereits sechs Jahre zuvor, nämlich am 7. Juni 1833, hatte Schubert seine Pläne für einen Dampfschifffahrtsbetrieb auf der Elbe bei der sächsischen Regierung einge- reicht. Sie wurden aber abgelehnt, sodass er im Jahr 1836 erneut an die Öffentlichkeit trat. In seiner Schrift Andeutungen über Dampfschiffahrt auf der Oberelbe ent - wickelte Schubert die wissenschaftliche Möglichkeit eines billigen Verkehrs auf der Elbe mittels Dampfmaschinen. Damit die Schiffe bei Niedrigwasser fahren könnten, schlug Schubert vor, moderne Hochdruckdampfmaschinen einzusetzen. Diese wiesen im Gegensatz zu den Tiefdruckdampfmaschinen mehrere Vorteile auf:34

29 Vgl. Werner, Der Beginn der Dampfschifffahrt (wie Anm. 13), S. 6. 30 Vgl. Roman Sandgruber: Bittersüße Genüsse. Kulturgeschichte der Genussmittel. Wien, Köln, Graz: Böhlau 1986, S. 187. 31 Vgl. Müller/Quinger: Die Dresdner Raddampferflotte (wie Anm. 1), S. 10. 32 Schuberts Leistungen wurden von Herbert Pönicke glorifiziert und mit dem Titel seines Buches gelobt. Vgl. Herbert Pönicke: Johann Andreas Schubert. Der schöpferische Geist der sächsischen industriellen Revolution. Meisenheim am Glan: Hain 1956. 33 Vgl. Dorit Petschel: Die Professoren der TU-Dresden. 1828–2003. In: 175 Jahre TU Dresden. Hg. v. Reiner Pommerin. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2003, S. 874f. 34 Johann Andreas Schubert: Andeutungen über Dampffschifffahrt auf der Ober-Elbe. Dresden: Meinhold 1836, S. IIIf.

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Zu der Eigenschaft der weit größern Leichtigkeit und Einfachheit gesellt sich noch die, daß sie, wenn in denselben der Dampf durch Expansion wirkt, oder der Zu- fluß der Dämpfe vor dem erfolgten völligen Hube abgesperrt wird, aus demselben Quantum Brennstoff unter Umständen eine noch größere Summe von Kraft ent- binden als die Tiefdruckdampfmaschinen.

Die Hochdruckdampfmaschinen waren leichter und konnten mehr Schubkraft er- zeugen. Durch die Leichtigkeit hatten die Schiffe weniger Tiefgang. Damit war es möglich, auch flache Gewässer wie die Elbe zu befahren. Am 8. Juli 1836 erteilte die sächsische Regierung die Genehmigung zur Umsetzung des Projekts auf der Elbe. Mit dem Bau des ersten Dampfschiffes wurde Andreas Schubert beauftragt, der noch im September desselben Jahres begann, zwei eiserne Schiffskörper zu fertigen. Er hatte sich aufgrund seiner Forschungen gegen eine bil- ligere Holzkonstruktion ent schieden. Beim Einbau seiner favorisierten leichten Hochdruckdampfmaschine setzte sich Schubert jedoch nicht durch, da die säch - sischen Behörden aufgrund von Sicherheitsbedenken skeptisch blieben und die Verwendung dieser Maschinen verwei- gerten. Er versuchte vergeblich die Vor- teile der Hochdruckdampfmaschine deutlich zu machen, sodass schlussend- lich Niederdruckdampfmaschinen ge- kauft und eingebaut wurden.35 Die gelie- ferten Maschinen waren, wie von Schu - bert prophezeit, zu schwer für einen rei- bungslosen Einsatz auf der Elbe, da sie zu viel Tiefgang erreichten. Dennoch fand am 30. Juli 1837 die erste Übungs- fahrt mit dem Dampfer ‚Königin Maria‘ von Dresden nach Meißen statt. Auch elbaufwärts in Pirna wurde das Dampf- schiff erwartet. Das Pirnaische Wochen- blatt druckte eigens für das bevorste- hende Ereignis ein Gedicht mit dem Titel Bewillkommnung des Dampfschiffes Kö- nigin Marie in der sächsischen Schweiz.36 Johann Andreas Schubert [undatiert]

35 Vgl. Werner, Der Beginn der Dampfschifffahrt (wie Anm. 13), S. 8. 36 Vgl. Pirnaisches Wochenblatt, 26. August 1837, Nr. 34, S. 268.

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Die Sächsisch-Böhmische Dampfschifffahrt auf der Oberelbe

Dampfschiff „Königin Maria“ auf der Elbe gegen Schloss und Maschinenbau-Anstalt Übigau, erste Probefahrt des Schiffes am 6. Juni 1837 (Lithographie)

Noch im selben Monat befuhr die Gesellschaft mit der ‚Prinz Albert‘ und der ‚Dresden‘ die Elbe mit drei Schiffen.37 Der Verkehr war aber nur bei günstigen Wasserständen möglich, denn bei Niedrigwasser gab es Schwierigkeiten mit dem Manövrieren der Schiffe. Dieser Zustand wirkte sich immer stärker auf die Refinanzierung des Unternehmens aus. Die ökonomischen Vor- raussetzungen zwangen die Direktoren der Gesellschaft, umzudenken und den Umbau der Dampfboote in Auftrag zu geben. Man folgte zwar immer noch nicht der Schubert- schen Konzeption, aber man veranlasste den Einbau einer leichteren englischen Nieder- druckdampfmaschine, die bessere Werte als die Vorgänger erreichte.38 Der Umbau der beiden Schiffe ‚Königin Maria‘ und ‚Prinz Albert‘ ermöglichte es, dass man die schwie- rigen Passagen auf der Elbe besser bewältigte. Damit wurde auch die Hin- und Rückreise von Dresden nach Tetschen an einem Tag möglich. Dies war zu Beginn der 1840er Jahre die schnellste Verbindung zwischen Dresden und den böhmischen Anlegeplätzen.39

37 Vgl. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, 11801, Fa. Sächsisch-Böhmische Dampfschifffahrt AG Dresden, Nr. 10, fol. 53. 38 Vgl. Herbert Ehrlich: Höhen und Tiefen in der Geschichte der Sächsisch-Böhmischen-Dampfschiffahrtsgesell- schaft. Dresden: Selbstverlag 1995, S. 4. 39 Vgl. Pönicke, Johann Andreas Schubert (wie Anm. 32), S. 50.

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Die Sächsisch-Böhmische Dampfschifffahrt auf der Oberelbe

V. Konkurrenzsituation

Neben den technischen Schwierigkeiten, mit denen sich die Dampfschifffahrtsge- sellschaft auseinandersetzen musste, traten Konkurrenten im Wettbewerb um Pas- sagiere auf. Der Unternehmer John Andrews plante, von Böhmen aus die Elbe bis nach Dresden zu befahren. Dafür holte er im Jahr 1832 den englischen Schiffbauer Joseph John Ruston nach Wien, um ihm die Leitung der dortigen Werft zu über- tragen.40 Im Jahr 1839 gewährten die österreichischen Behörden Andrews ein Privileg zur Dampfschifffahrt auf der Elbe. 1840 wurde dafür das Dampfschiff ‚Bohemia‘ entworfen und ein Jahr später gebaut. Die ‚Bohemia‘ war das erste Dampfschiff, das in Böhmen gebaut wurde. Mit diesem Schiff trat Andrews in Konkurrenz zur sächsischen Gesellschaft. Allerdings waren die von Ruston gebauten Schiffe tech- nisch ausgefeilter, da ihr Tiefgang geringer war als der sächsischer Schiffe.41 Die böhmische Gesellschaft befuhr mit ihren Dampfbooten die Moldau von Prag bis Melnik und dann die Elbe bis Dresden. Die Dampfer, die ausschließlich für den Personenverkehr konzipiert waren, benötigten für die Strecke von Prag nach Dres- den 12 Stunden und gegen den Strom 19 Stunden.42 Nach dem Tod von John An- drews erhielt Joseph Ruston in Österreich das alleinige Privileg für den Dampf- schiffverkehr auf der böhmischen Elbe und der Moldau.43 Er blieb somit auf der Oberelbe der einzige ernstzunehmende Konkurrent der Dampfschifffahrtsgesell- schaft. Die Sächsische Dampfschifffahrtsgesellschaft musste nicht nur im innergewerb - lichen Wettbewerb bestehen, sondern erhielt mit der Eisenbahn einen weiteren Konkurrenten. Am 8. April 1839 wurde der durchgängige Eisenbahnbetrieb zwi- schen Dresden und Leipzig eröffnet. Damit bot sich für die Menschen eine weitere günstige und schnelle Alternative für den Personen- und Warentransport. Der Güterverkehr auf der Schiene spielte jedoch in den Anfangsjahren nur eine geringe Rolle, da hauptsächlich die beiden großen Städte Dresden und Leipzig miteinander verbunden waren, während das sächsische Industriezentrum Chemnitz bei der Streckenführung unberücksichtigt blieb. Schon die Gründungsmitglieder der Dampfschifffahrtsgesellschaft beurteilten die Konkurrenzsituation zur Eisenbahn. Sie nannten drei entscheidende Punkte, dass44

40 Vgl. Andreas Resch: „Ruston, Joseph John I“. In: Neue Deutsche Biographie 22 (2005), S. 302f. 41 Vgl. Ehrlich, Höhen und Tiefen (wie Anm. 38), S. 5. 42 Vgl. Karl Brousek: Die Großindustrie Böhmens 1848–1918. München: Oldenbourg 1987, S. 22. 43 Vgl. Werner, Der Beginn der Dampfschifffahrt (wie Anm. 13), S. 10. 44 Vgl. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, 11801, Fa. Sächsisch-Böhmische Dampfschifffahrt AG Dresden, Nr. 10, fol. 42.

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Die Sächsisch-Böhmische Dampfschifffahrt auf der Oberelbe

die Dampf-Schifffahrt, dasjenige Band sein wird, welches 1., Die Lücken der durch Hindernisse der örtlichen Lage, des Bodens u.s.w. mit Eisenbahnen nicht zu belegenden Landstrecken ergänzt, 2., die Lewante* mit den Nordseehäfen auf einem unsaglich schnelleren, geschloss- nerem, wohlfeilerem und ununterbrochenem Zuge verbindet, somit 3., eine Quelle merkantiler Betriebsamkeit aufschließt, die segensreich auf alle Gewerbstände übergeht, demnach Vortheile verspricht, welche durch Eisenbahnen allein, wohl gehofft, aber nie erreicht werden dürften.

Die Gesellschaftsmitglieder gingen davon aus, dass zwar die Eisenbahn die großen Zentren miteinander verband, aber nicht alle topographisch unzugänglichen Gebiete an das Netz angeschlossen werden. Ebenso verbanden sie mit der Dampfschifffahrt die Aussicht, schneller und billiger an die Kolonialwaren, die über die Nordseehäfen gehandelt wurden, ins Binnenland zu transportieren. Dies erwies als Trugschluss, da das Potential der Eisenbahn unterschätzt wurde. Mit dem Bau der Eisenbahnlinie Dresden – Prag durch das Elbtal entstand nun zu Beginn der 1850er Jahre den Schifffahrtsunternehmen ein Konkurrent. Im Jahr 1851 wurde die Strecke von Dresden nach Tetschen erstmals befahren. Die Eisenbahn kon- kurrierte auf derselben Strecke mit der Schifffahrt um Personenverkehr und um Wa- renhandel. Ruston verkaufte im Frühjahr 1851 seine drei Schiffe an die Sächsische Dampfschifffahrt, da er glaubte, den Konkurrenzkampf gegenüber der Eisenbahn zu verlieren.45 Es bewahrheitete sich jedoch nicht, dass durch den Bau der Strecke Dres- den – Prag, die Dampfschifffahrt verdrängt wurde. Durch den Ausstieg Rustons und der Vereinigung der Schiffe in einem Unternehmen nahm die Gesellschaft bis in die 1860er Jahre einen wirtschaftlichen Aufschwung. In dieser Zeit verdoppelte sich der Bestand der Schiffe von sechs auf zwölf, und ebenso wuchs die Zahl der beförderten Person von 280.000 auf 780.000 sprunghaft an.46 Damit reihte sich auch die Dampfschifffahrt auf der Elbe in den allgemeinen Wachstumsprozess ein, der zu Beginn der 1850er Jahre zu verzeichnen war. Die säch- sische Wirtschaft entfaltete sich und konnte bis zum Ende des Jahrzehnts konti- nuierlich ausgebaut werden.47 Zum 50jährigen Jubiläum der Sächsischen Dampf- schifffahrtsgesellschaft im Jahr 1888 fasste man den Zustand der Gesellschaft wie folgt ein:48

45 Vgl. Ehrlich, Höhen und Tiefen (wie Anm. 38), S. 5f. 46 Ebd., S. 6. 47 Vgl. Karlsch/Schäfer, Wirtschaftsgeschichte Sachsens (wie Anm. 12), S. 70. 48 Vgl. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, 11801, Fa. Sächsisch-Böhmische Dampfschifffahrt AG Dresden, Nr. 10, fol. 39.

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Die Sächsisch-Böhmische Dampfschifffahrt auf der Oberelbe

[Wir sind] gegenwärtig ausgerüstet mit 22 flach gehenden Dampfbooten, welche gestatten, die Fahrten selbst bei sehr niedrigen Wasserstande fortzusetzen, so daß unsere Schifffahrt hinsichtlich der Rentabilität, sich unstreitig den besten ähnlichen Unternehmungen Deutschlands anreicht.

Eduard Müller: Eisenbahn und Dampfschiff zu Königstein [gouachierte Lithographie, 1860]

VI. Dampfschifffahrt in Vergangenheit und Zukunft

Zur Revolutionierung des Verkehrswesens trug auch die Dampfschifffahrt bei. Dies geschah zwar im Schatten des Eisenbahnbaus, sorgte aber auch für einen wissen- schaftlich-technischen Diskurs. Schon bevor die Strecke von Leipzig nach Dresden fertig gestellt war, befuhren mit Dampf betriebene Schiffe die Elbe im Linien - verkehr. Durch diese Innovation verringerten sich die Reisezeiten und -kosten. Zwar verlor die Dampfschifffahrt im Verlauf des 19. Jahrhunderts allgemein an Bedeu- tung. Die Dresdner Flotte konnte sich trotz einiger Krisen in ihrer 170jährigen Geschichte bis in die Gegenwart behaupten. Mit der Schleusenfahrt im Jahr 2012 nach Ústí wird vielleicht die Tradition des grenzübergreifenden Dampfschiffverkehrs neu belebt.

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Die Sächsisch-Böhmische Dampfschifffahrt auf der Oberelbe

Glossar:

Kolonialwaren: überseeische Produkte, vor allem aus dem Bereich der Lebens- und Genussmittel | Wiener Kongressakte: Die Wiener Kongressakte legte die Beschlüsse des Kongresses, der vom 18. September 1814 bis 9. Juni 1815 in Wien tagte, vertrag- lich bindend für alle unterzeichnenden Mächte, schriftlich fest | Anrainerstaaten: Sie grenzen alle an ein geographisches Objekt, wie Land, Gewässer, Gebirge oder an einen anderen Staat an | Konjunkturzyklus: wellenförmige Schwankungen in einem bestimmten Zeitraum, der den wirtschaftlichen Auf- bzw. Abschwung eines Landes umfasst | Raffination: technisches Verfahren zur Reinigung, Veredelung von Rohstoffen. Zucker erhält erst durch die Raffination seine typische weiße Färbung | Levante: umfasst die Länder des östlichen Mittelmeerraums (d.i. heute Syrien, Libanon, Israel/Palästina, Jordanien), mit denen die europäischen Staaten zahl - reiche Handelsbeziehungen unterhielten

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Die Debatte um den Eisenbahnbau in Sachsen

Josef Matzerath

Die Debatte um den Eisenbahnbau in Sachsen

Im Jahr 1833 richtete sich Friedrich List in einer Denkschrift an die obersten sächsi- schen Behörden, um die Vorteile einer Eisenbahnstrecke von Leipzig nach Dresden zu erörtern. Gerade Leipzig, meinte er, sei „als Herzkammer des deutschen Binnen- Verkehrs, des Buchhandels und der deutschen Fabrikindustrie“1 ein prädestinierter Standort für ein solches Projekt. Mit der Idee, für den Deutschen Bund ein umfang- reiches Eisenbahnnetz zu entwickeln, fand List vor allem in Leipzig Gehör. Denn die ansässigen Kaufleute wollten auch für die Zukunft sicher sein, dass Leipzig ein Han- dels- und Verkehrsknotenpunkt bleibe. Das preußische Magdeburg, das an der Elbe lag, trat immer deutlicher in Konkurrenz mit der sächsischen Messestadt.2 In der Frühphase der deutschen Industrialisierung gehörte die Eisenbahn zu den Füh- rungssektoren der Wirtschaft. Wer ihren Bau planen, finanzieren und betreiben sollte, war zeitgenössisch umstritten. Die gesellschaftliche Debatte darüber lässt sich wegen der Pressezensur, die in den 1830er Jahren im Königreich Sachsen bestand, am leichtesten anhand der Landtagsdebatten rekonstruieren. Denn bei aller Zensur* bestand im Par- lament Redefreiheit. Der erste konstitutionelle Landtag Sachsens, der aufgrund der ge- schriebenen Verfassung des Jahres 1831 zusammentrat, wurde am 17. Januar 1833 eröffnet. Beide Kammern dieses Parlaments führten Debatten darüber, wie Sachsen sich zum Eisen bahnenbau in Deutschland positionieren sollte. Denn die Ferneisenbahn von Leipzig nach Dresden war bereits in Planung. Daher bat im November 1833 eine von 309 Per- sonen unterzeichnete Petition* aus der Stadt Leipzig das Parlament, es möge einen „Pri- vat=Actienverein“ befürworten, der eine Eisenbahn zwischen Leipzig und Dresden bauen wolle.3 Die Leipziger Kaufleute befürchteten, Preußen, der nördliche Nachbar, könnte Sachsen mit einer Nord-Süd-Route, die über Halle geführt werden sollte, umgehen. Dies hätte wohl desaströse Folgen für den Handelsstandort Leipzig hervorgerufen.4

1 Friedrich List: Ueber ein sächsisches Eisenbahn-System als Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahn-Systems und insbesondere über die Anlegung einer Eisenbahn von Leipzig nach Dresden. Leipzig: Liebeskind 1833, S. 18. 2 Vgl. Rainer Karlsch/Michael Schäfer: Wirtschaftsgeschichte Sachsens im Industriezeitalter. Leipzig: Ed. Leipzig 2006, S. 39. 3 Vgl. Josef Matzerath: „Der Staat als Gewerbsunternehmer gegen die Privaten.“ Landtagsdebatten über Sachsens frühe Eisenbahnen. In: Aspekte sächsischer Landtagsgeschichte. Formierungen und Brüche des Zweikammer- parlamentes (1833-1868). Hg. v. Josef Matzerath. Dresden: Sächsischer Landtasg 2007, S. 31–35, hier S. 31. 4 Vgl. Thomas Hänseroth: Die Verstaatlichung der Sächsisch-Bayerischen Eisenbahn. Politische und ökonomische Implikationen eines technischen Großprojektes. In: Beiträge zur Geschichte von Bergbau, Geologie und Denkmalschutz. Festschrift zum 70. Geburtstag von Otfried Wagenbreth. Hg. v. Helmuth Albrecht. Freiberg: TU Bergakademie 1997, S. 63–68, hier S. 64.

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Zwar wünschten die Leipziger Petenten,* das Bahnprojekt möge „in die Hände der Privaten gelegt werden“, aber dennoch erbaten die Unterzeichner für zwei Bereiche staatliche Unterstützung. Erstens müssten gesetzliche Maßnahmen ergriffen werden, um die Streckenführung über Privateigentum zu regeln. Gegebenenfalls mussten Ent- eignungen gegen Entschädigungszahlungen möglich werden.5 Zweitens schlug man dem Parlament vor, zu debattieren, wie die Kosten des Bauvorhabens zusammen - zubringen seien, das für damalige Verhältnisse ungeheuer große Investitionen ver- langte.6 Die Kammern des sächsischen Landtages haben diese Petition mehrmals er - örtert. Als am 22. Oktober 1834 die Zweite Kammer beriet, zeigte sich, dass die Redner in diesem Haus erstaunlich gut mit der innovativen Technik ihrer Zeit vertraut waren. Der Freiberger Stadtrichter und Finanzkommissar Karl Friedrich Sachße beispiels- weise erläuterte seine Ansichten zur Eisenbahn mit technischen Zahlen: „Auf einem nicht ebenen, rohen, der Natur überlassenen Wege zieht ein Pferd 6 Centner, auf einer ebenen Chaussee 30 bis 35 Centner, auf einer Eisenbahn hingegen 80 Centner.“7 Sachße hatte also eine präzise Vorstellung vom Nutzen der über Land verlegten Schie- nenwege. Diese Technik, so erklärte er, sei ja keine neue Erfindung, sie sei „schon längst beim Bergbau […] in Anwendung“. Wenn man nun „Eisenbahnen beim Stra- ßenbau“ anlege, gehe das „nur noch einen Schritt weiter“.8 Sachße nahm hier vorweg, dass die sächsische Staatsverwaltung die für den Chauseebau bestehenden Gesetze für den Eisenbahnbau ausweitete.9 Nachdem Sachße seine Ausführungen beendet hatte, trat der Zwickauer Stadtrat Carl Ernst Richter ans Rednerpult und argumentierte gegen den Nutzen eines umfangreichen Eisenbahnbaus. Er sagte: „Es scheint dieß auf die Aussicht basirt zu sein, als sei der Verkehr so mit Riesenschritten vorangeeilt, daß unsere Wagen, Pferde, Schubkarren, kurz alle Transportmittel nicht mehr ausreichten, um unsere Waaren an einen andern Ort zu bringen.“10 Richter sah keine Notwendigkeit für einen schnelleren Warentransport zwischen Dresden und Leipzig und so fragte er die Parlamentarier der Zweiten Kammer: „Wo häufen sich hier die Producte und Waaren in so ungeheuerer Masse, daß sie nicht schnell genug nach Leipzig gebracht werden

5 Allgemein hierzu vgl. Dieter Ziegler: Eisenbahnen und Staat im Zeitalter der Industrialisierung. Die Eisenbahn- politik der Deutschen Staaten im Vergleich. Stuttgart: Franz Steiner 1996, S. 24f. 6 Nachrichten vom Landtage, Hundert und zwei und sechzigste öffentliche Sitzung der zweiten Kammer, am 28. November 1833. In: Außerordentliche Beilage zur Leipziger Zeitung, S. 2109. 7 Nachrichten vom Landtage, Dreihundert und drei und vierzigste öffentliche Sitzung der zweiten Kammer, am 22. Oktober 1834. In: Außerordentliche Beilage zur Leipziger Zeitung, S. 5981. 8 Ebd., S. 5981. 9 Markus Klenner: Eisenbahn und Politik. Vom Verhältnis der europäischen Staaten zu ihren Eisenbahnen. Wien: Universitätsverlag 2002, S. 41. 10 Nachrichten vom Landtage, Dreihundert und drei und vierzigste öffentliche Sitzung der zweiten Kammer, am 22. Oktober 1834. In: Außerordentliche Beilage zur Leipziger Zeitung, S. 5985.

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Die Debatte um den Eisenbahnbau in Sachsen

Erste Kammer sächsischer Ständeversammlung (Dresden); [Lithographie, 1847]

Zweite Kammer sächsischer Ständeversammlung (Dresden); [Lithographie, 1847]

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Die Debatte um den Eisenbahnbau in Sachsen

können?“11 Richter war überzeugt, dass eine derartige Warenmenge, die den Bau der Eisenbahnstrecke rechtfertigen würde, gar nicht produziert werden könnten. Der Per- sonentransport, der nach der Fertigstellung der Bahnverbindung Leipzig–Dresden zunächst die höheren Einnahmen erzielen sollte,12 war überhaupt nicht Gegenstand von Richters Ausführungen. Zu dem Zeitpunkt, als in Sachsen der Landtag über die Eisenbahn von Leipzig nach Dresden beriet, verkehrten bereits in mehreren europäischen Staaten Eisenbahnen. Die weltweit Erste transportierte seit dem Jahre 1825 Güter zwischen den englischen Städten Stockton und Darlington.13 Der Personentransport begann in Großbritan- nien erst fünf Jahre danach, als eine Eisenbahn nicht nur Fracht, sondern auch Fahr- gäste zwischen Manchester, dem damals wichtigsten Zentrum der Baumwollindustrie, und der Hafenstadt Liverpool beförderte.14 Selbst innerhalb des Deutschen Bundes gab es im Jahre 1834 schon Eisenbahnlinien. Seit dem 1. August 1832 nämlich fuhr zwischen Budweis und Urfahr nahe Linz an der Donau eine Pferdeeisenbahn.15 Innerhalb des preußischen Zollvereins, dem Sachsen zum 1. Januar 1834 beitreten sollte, existierten aber noch keine Zugverbindungen. Die erste dampfbetriebene Eisenbahn auf dem europäischen Kontinent nahm am 5. Mai 1835 zwischen Brüssel und Mechelen den Betrieb auf. Vom 7. Dezember des- selben Jahres an verband ein etwa 6 km langer Schienenweg die deutschen Städte Nürnberg und Fürth. Da die Kohle für die Dampflok dieser Eisenbahn aus Zwickau herbeigeschafft werden musste, wurden die Züge auch hier zum Teil noch von Pferden gezogen. Diese europäischen Entwicklungen lösten in Sachsen eine Diskussion über den Nutzen einer Streckenführung auf Schienen aus. In ihrer ersten Aussprache zum Thema Eisenbahn, am 28. November 1833, zog die Erste Kammer des Parlaments die Vorteile einer Eisenbahn nicht in Zweifel. Prinz Johann, der spätere sächsische König, sprach sich dafür aus, den Unterzeichnern der Petition „zu erkennen zu geben, daß man die Wichtigkeit der Unternehmung anerkenne“. Aber das Haus müsse eine Regierungsvorlage zum Thema abwarten, um darüber beraten zu können.16

11 Ebd. 12 Eine Aufstellung über die Einnahmen aus dem Personen- und Frachtverkehr für die Jahre 1839 bis 1857 findet sich in: Die Leipzig-Dresdner Eisenbahn in den ersten fünfundzwanzig Jahren ihres Bestehens. Hg. v. Directorium der Leipzig-Dresdner Eisenbahn-Compagnie. Leipzig: Giesecke & Devrient 1864, S. 159. Erst im Jahre 1852 überstiegen die Einnahmen aus dem Gütertransport die des Personenverkehrs. Diesen Hinweis verdanke ich Jens Maßlich. 13 Vgl. Karlsch/Schäfer, Wirtschaftsgeschichte Sachsens (wie Anm. 2), S. 39. 14 Vgl. Ralf Haase: Wirtschaft und Verkehr in Sachsen im 19. Jahrhundert. Industrialisierung und der Einfluss Fried- rich Lists. Dresden: Sächsische Landeszentrale für politische Bildung 2009, S. 100. 15 Vgl. Ulrich Schefold: 150 Jahre Eisenbahn in Österreich. München: Südwest Verlag 1986, S. 10–14. 16 Nachrichten vom Landtage, Hundert und zwei und sechzigste öffentliche Sitzung der zweiten Kammer, am 28. November 1833. In: Außerordentliche Beilage zur Leipziger Zeitung, S. 2109.

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Die Debatte um den Eisenbahnbau in Sachsen

Während die Erste Kammer, in der die Mehrheit der Mitglieder adlige Ritterguts - besitzer waren, die vorgeschlagenen Eisenbahnpläne befürwortete, opponierte in der Zweiten Kammer ein Bürgerlicher dagegen. Heinrich Schütze, der Besitzer des Rittergutes Schweta bei Döbeln, war sich nicht sicher, „ob überhaupt Eisenbahnen in Deutschland mit Vortheil zu benutzen“ seien.17 Eisenbahnen seien nicht immer ein wirtschaftlicher Erfolg, das wisse man aus Österreich und auch aus England. Schütze bezweifelte auch, ob die Strecke zwischen Leipzig und Dresden profitabel sein werde. Eine Verbindung von „Strehla über Chemnitz, Zwickau nach Baiern“18 könne sich vielleicht als lukrativer erweisen. Mehr Weitblick bewies der Abgeordnete des bäuerlichen Wahlbezirkes der Ämter und Frankenberg, Dr. Franz Ludwig Runde. Er erwartete, dass eine Eisenbahnverbindung zwischen Leipzig und Dresden eine Fortsetzung finden werde „auf den Routen nach Frankfurt“ und dass sich „Ver- bindungen zwischen Berlin und München über Magdeburg und Leipzig“ anknüpfen würden.19 Ein „großartiges und wichtiges Unternehmen“ erblickte auch der oberlausitzische Rittergutsbesitzer Dr. Karl Wilhelm Traugott v. Mayer in der Eisenbahn. Sachsens Initiative für einen Schienenweg könne nicht nur den Binnenhandel des Landes be- flügeln, noch wichtiger werde das „Unternehmen für den Welthandel oder wenigstens für den Handel der verschiedenen deutschen Staaten werden“.20 Wenn Sachsen näm- lich frühzeitig eine Eisenbahn zwischen Leipzig und Dresden besitze, werde es dem großen Nachbarn Preußen kaum möglich sein, den eigenen Handelsstraßen eine Richtung zu geben, die an Sachsen vorbeiführe. Der Plauener Stadtrichter Heinrich Adolph Haußner, der außer seiner Heimatstadt noch Elsterberg, Pausa und Mühltruff in der Zweiten Kammer repräsentierte, befürwortete ebenfalls das Bahnprojekt. Denn es werde nicht nur auf das „commercielle Fortschreiten der Nation einwirken“, son- dern der Bau des Schienenweges werde auch „einer großen Menge Menschen Brod [sic] und Beschäftigung“21 geben. Insgesamt erwiesen sich die Abgeordneten des säch- sischen Landtags schon in ihrer ersten kurzen Aussprache als gut informiert über die Konsequenzen der erst wenige Jahre zuvor in England eingeführten Technik, die über Schienenwege und mittels Pferd oder Lokomotive Städte miteinander verband. Die Risiken der Modernisierung freilich klangen an, sobald die Redner den künftigen Nutzen der Eisenbahn thematisierten; und sie haben dies getan. Nach den ersten Stel- lungnahmen der beiden Kammern Ende 1833 befasste sich das Parlament fast ein Jahr

17 Ebd., S. 2241. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 2242. 20 Ebd. 21 Ebd.

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Die Debatte um den Eisenbahnbau in Sachsen

lang nicht mit dem Eisenbahnbau. Erst nachdem Anfang Oktober 1834 König und Regierung einen Gesetzentwurf zur Beratung vorlegten, der die Abtretung von Grundeigentum für den Eisenbahnbau regelte, entspann sich die Debatte erneut. Diesmal ging es aber weniger um den Nutzen und Nachteil einer Eisenbahn über- haupt, als um die Frage, wer ein solches Großprojekt mit dem besten Ergebnis für die Gesamtheit steuern werde. Der Freiberger Stadtrichter und Finanzkommissar Sachße betonte in dieser Debatte deshalb die Herkunft der Eisenbahnen aus dem Bergbau, um zu erklären, dass der Staat in seinen Bergbaubeamten die idealen Tech- niker für den Eisenbahnbau habe. Das Finanzvolumen der Strecke von Leipzig nach Dresden, das sich auf eine Million Taler belief, schreckte Sachße wenig. Denn er erklärte, seit dem Jahre 1781 habe das Königreich Sachsen für knapp vier Millionen Taler Chausseen gebaut. Mittlerweile seien 194 Meilen mit Steinpflaster befestigt wor- den, obwohl der Staat dabei keinen Gewinn mache. Die Chausseegelder deckten nämlich bei weitem nicht die Unterhaltskosten dieser modernen Straßen.22 Wenn nun in Zukunft Dampfwagen auf Schienen zwischen Leipzig und Dresden hin und her fahren sollten, gehöre das doch auch zum Straßenbau. Den Bau von Verkehrswegen hielt Sachße aber für eine staatliche Aufgabe. Es stehe zwar prinzipiell fest, meinte er, dass „der Staat als Gewerbsunternehmer gegen die Privaten im Nacht- heil stehe“. Dieser Grundsatz betreffe aber nur Fabriken und Unternehmungen, bei denen eine Konkurrenz möglich sei, nicht dort, wo nur eine Straße oder Eisenbahn- linie sinnvoll wäre. Wenn daher der Eisenbahnbau Aktiengesellschaften überlassen werde, müsse man dem Staat auch „das Postwesen und den ganzen Straßenbau über- haupt abnehmen.“23 Sachßes Argument zielte in letzter Konsequenz darauf, dass nur der Staat zum Nutzen der Gesamtgesellschaft eine Infrastruktur aufbauen könne. Wenn nämlich eine Aktiengesellschaft „einen großen Gewinn bei dem Unternehmen“ des Eisenbahnbaus mache, verwende „sie ihre Capitalien nur wieder dahin […], wo noch mehr Gewinn zu erwarten“ sei:24

Jede andere Straßenrichtung würde von der Actiengesellschaft unbeachtet gelassen werden, und sie würde ihre Unternehmungen nur dahin ausdehnen, wo sie auf Vortheil rechnen könnte; es würde also mancher Theil des Landes Zurücksetzung erleiden, während, wenn der Staat dieses Unternehmen ausführte, auch diese Lan- desteile Eisenbahnen erhielten.

22 Nachrichten vom Landtage, Dreihundert und drei und vierzigste öffentliche Sitzung der zweiten Kammer, am 22. Oktober 1834. In: Außerordentliche Beilage zur Leipziger Zeitung, S. 5982. 23 Ebd. 24 Ebd., S. 5983.

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Die Debatte um den Eisenbahnbau in Sachsen

Sachße konnte sich mit seinen Ansichten im Jahre 1834 auf dem Landtag nicht durch- setzen. Nicht nur die Regierung, sondern auch die Mehrheit der Parlamentarier schreckte vor dem Risiko, in eine Eisenbahn zu investieren, zurück. Der Abgeordnete der Stadt Dresden, Christian Gottlieb Eisenstuck, der als Deputa- tionsreferent* die Erwägungen des zuständigen Parlamentsausschusses vortrug, sprach sich dagegen aus, auf Staatskosten eine Eisenbahn anzulegen. Es sei besser, die Aktionäre trügen das finanzielle Risiko des Projekts. Sie hätten der Staatsregierung einen Plan für das Unternehmen zur Genehmigung vorzulegen. Eisenstuck war zuversichtlich, dass die Regierung „das Mercantilistische ins Auge fassen und darauf sehen werde, in wie weit die Eisenbahn dem Zwecke entsprechen“ werde.25 Die Spekulation der Aktieninhaber auf Profite erschien Eisenstuck deshalb „als etwas Nützliches“. Denn die Erfahrung in England habe schließlich gezeigt, „daß man sich bei mehr als einer Eisenbahn verrechnet“ habe.26 Die Stellungnahme von Eisenstuck berücksichtigte zwei Aspekte: Er wollte das finan - zielle Risiko vom Staat fern halten. Noch wichtiger aber war ihm etwas anderes: Er ging davon aus, dass die Regierung das für die gesamte Gesellschaft Nützliche schon im Auge behalten werde. Diese Erwartung hatten er und auch andere Redner der Landtagsdebatten aber nicht an die Aktionäre. Ihnen unterstellten sie daher implizit, sich nur vom Profit leiten zu lassen. Wer mit Aktiengesellschaften einverstanden war, protegierte* grundsätzlich eine Loslösung der Wirtschaft von religiösen Vorgaben, wie es für frühneuzeitliche Gesellschaften kaum moralisch akzeptabel gewesen wäre. Ein guter Christ hatte sich nach den Moralkonzepten der Vormoderne immer auch für das Gesamtwohl einzusetzen. Er konnte seine ökonomischen Interessen nicht von den ethischen Anforderungen seines Glaubens ablösen. Mit der Aktiengesellschaft entstand dagegen eine Unternehmensform, an die solche ethischen Anforderungen nur von außen, durch den Staat, gestellt werden. Denn sie soll ja ausschließlich Ge- winn bringen und muss nicht als Person darauf bedacht sein, ihr Seelenheil nach dem Tode zu erlangen. Eine Aktiengesellschaft richtet sich allein nach der Profitmöglich- keit. Ob der einzelne Aktionär sein Seelenheil erlangt, ist davon als individuelles Problem abgetrennt. Es treten daher religiöse Ethik und Geldanlage auseinander. Als im frühen 19. Jahrhundert Aktiengesellschaften entstanden, wurde daher die Logik des ökonomischen Feldes prinzipiell von der Moral befreit, es sei denn der Staat gab diese als Rahmen vor. Der Staat spielte auch eine federführende Rolle, als eine Eisenbahnverbindung von Dresden bis zur böhmischen Grenze angelegt wurde. Die Erweiterung der Strecke

25 Ebd., S. 5987. 26 Ebd.

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Die Debatte um den Eisenbahnbau in Sachsen

Eduard Müller: Eisenbahn bei Schandau [Lithographie, 1860]

Leipzig – Dresden bis zum Grenzübergang war schon in den ersten Landtagsdebatten zum Thema erörtert worden. Die Abgeordneten hatten in Erwägung gezogen, dass „die Anlegung einer von Leipzig nach Dresden führenden und sich nach Befinden bis zur Grenze zu verlängernden Eisenbahn“27 in die gesetzliche Vorlage mit ein - bezogen werden sollte. Dies wurde allerdings im Einvernehmen mit der ‚Leipzig- Dresdner Eisenbahn-Compagnie‘ vorerst abgelehnt. Die Pläne für eine solche Strecke trieb einige Jahre später jedoch die österreichische Regierung voran. Seit 1841 plädierte sie dafür, von Prag aus bis zur sächsischen Grenze eine Bahnstrecke zu bauen.28 Denn nach deklariertem österreichischen Staatsinteresse lag die Verbindung Wien – Prag – Sachsen an vierter Stelle der Relevanz. Vorrangig waren nur die Strecken Wien – Triest, Venedig – Mailand – Comer See und Wien – Linz – Bayern.29 Auch Sachsen lag an einer solchen Verbindung. Daher verpflichtete sich die Regierung in Dresden, auf ihrem Staatsgebiet eine Bahntrasse* bis zum An- schlusspunkt an die böhmische Bahn zu bauen. Dazu bestanden grundsätzlich zwei

27 Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen vom Jahre 1835, S. 371. 28 Aufgrund von Schwierigkeiten bei der Kapitalversorgung der privaten Bahngesellschaften musste 1841 der öster- reichische Staat als Unternehmer einspringen und verstaatlichte den Eisenbahnbau; vgl. Klenner, Eisenbahn und Politik (wie Anm. 9), S. 159. 29 Vgl. Burkhard Köster: Militär und Eisenbahn in der Habsburgmonarchie. München: Oldenbourg 1999, S. 304.

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Die Debatte um den Eisenbahnbau in Sachsen

Möglichkeiten: Es konnte entweder eine Trasse innerhalb des Elbtales oder eine durch die Oberlausitz verlegt werden. Die Bahnführung durch die Oberlausitz hätte die Industrieregion um Reichenberg (Liberec) mit Prag und Dresden verbunden.30 Böhmische Kaufleute und Unternehmer betonten in einer Petition an den öster - reichischen Kaiser Ferdinand I. sehr ausführlich den wirtschaftlichen Zweck einer Eisenbahnlinie.31 Die Staatsregierung in Österreich intensivierte ihrerseits das Eisen- bahnprojekt, indem sie ein privates Komitee in Prag beauftragt, sich mit dem Bau einer Verbindung von Wien über Prag nach Dresden zu befassen. Dieses Komitee favorisierte eine Streckenführung entlang der Elbe, was wiederum die Unternehmer der nordböhmischen Region, vornehmlich des Bunzlauer und Leitmeritzer Kreises auf den Plan rief. In ihrem Schreiben an den österreichischen Kaiser baten sie, „die Trace der, von Wien über Prag nach Dresden zu errichtenden Staatsbahn durch den nördlichen Theil des Bunzlauer Kreises, gegen die sächsische Lausitz zu, Allergnädigst bestimmen zu lassen.“32 Die Unternehmer forderten also die Strecke über Reichen- berg (Liberec) und die Oberlausitz zu führen. Denn ihrer Ansicht nach bedeutete der Eisenbahnanschluss für ihre Gewerberegion „das fernere Bestehen und Gedeihen der Industrie“. Abseits der Bahn zu liegen, sei „ihr gänzlicher Ruin [und] der Verlust von Millionen auf Handels- und Gewerbsunternehmungen angelegten Betriebs-Capita- lien.“33 Der Bau einer Eisenbahn durch das Elbtal werde die industrie- und gewerbe- reiche Region Nordböhmen wirtschaftlich ruinieren. Nordböhmen industrialisierte sich am Beginn der Moderne vor allem durch das Textilgewerbe. Gerade die Stadt Reichenberg (Liberec) und deren Umgebung ent - wickelten sich innerhalb der österreichischen Monarchie zu einem Zentrum dieser Produktion.34 An einer der ersten Eisenbahnstrecken zu liegen, hätte sich gerade für die Textilindustrie als Standortvorteil erwiesen, weil sie unter zunehmenden Konkur- renzdruck arbeitete. Eine Bahn konnte fertige Waren schnell zu den überregionalen Märkten transportieren und im Gegenzug die Rohstoffe von den Häfen rasch und günstig in die Fabriken liefern. Weiterhin bestand die Möglichkeit, besser auf kon- junkturbedingte Nachfrageschübe zu reagieren.35

30 Vgl. Hans-Friedrich Gisevius: Zur Vorgeschichte des Preußisch-Sächsischen Eisenbahnkrieges. Verkehrspolitische Differenzen zwischen Preußen und Sachsen im Deutschen Bund. Berlin: Duncker & Humblot 1971, S. 241. 31 Eine Abschrift der Petition befindet sich im Hauptstaatsarchiv Dresden. Vgl. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, 10036 Finanzarchiv,Loc.37544,Rep.LVII.,Nr.388,Acta, die Anlage einer Eisenbahn von Sachsen nach Böhmen betr. 32 Vgl. ebd., fol. 9. 33 Vgl. ebd., fol. 8. 34 Vgl. Holger Starke: Aspekte wirtschaftlicher Verbindungen zwischen Sachsen und Böhmen (1850-1910). In: Dresdner Hefte 14 (1996), H. 48 [= Böhmen und Sachsen – Momente einer Nachbarschaft], S. 40–49, hier S. 41. 35 Vgl. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, 10036 Finanzarchiv, Loc. 37544, Rep. LVII., Nr. 388, Acta die Anlage einer Eisenbahn von Sachsen nach Böhmen betr., fol. 8.

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Die Debatte um den Eisenbahnbau in Sachsen

Welche Streckenführung gebaut werden sollte, blieb aber vorerst offen, da die öster- reichische Regierung sich entschied, die Strecke als Staatsunternehmung auszuführen und ein weiteres Gutachten über die Geländebeschaffenheit einzuholen.36 Dadurch erübrigten sich für die sächsische Regierung die Verhandlungen mit dem Prager Eisenbahnkomitee, das ursprünglich den Bau der Strecke an der Elbe entlang aus- führen sollte. Weiterhin prüfte Dresden, ob es nicht nützlich wäre, beide Strecken- führungen, also im Elbtal und durch die Oberlausitz zu bauen. Eine Oberlausitzer Eisenbahn von Dresden über Bautzen nach Löbau und von dort in der Richtung nach Zittau zur böhmischen Grenze hätte für Sachsen den Vorteil gebracht, die Industrieregion Schlesien an das Bahnnetz anbinden zu können, während dadurch zugleich eine preußische Parallelbahn von Görlitz nach Böhmen unrentabel geworden wäre.37 Aufgrund solcher Erwägungen neigte die sächsische Regierung selbst mehr dazu, den Anschluss an die Böhmische Bahn durch die Oberlausitz zu leiten. Im Zuge des Planungsverfahrens sandten Sachsen und Österreich Techniker aus, die die Streckenführung projektierten,um eine günstige Stelle für einen Grenzübergang zu finden. Auf sächsischer Seite beanstandeten allerdings die Techniker den Verlauf der Bahnlinie über die Oberlausitz, weil die Topographie ungünstig war.38 Daher blieb die Frage nach dem Grenzübertritt abermals offen, als im Staatsvertrag vom 9. August 1842 die Rahmen - bedingungen für eine Sächsisch-Böhmische Eisenbahn festgelegt wurden.39 Erst im Sep- tember 1842 lag der Bericht der Untersuchungskommission vor. Aufgrund technischer Schwierigkeiten beim Überqueren der gebirgigen Landschaft entschied man sich, die Strecke durch das Elbtal zu führen, da dies technisch weniger anspruchsvoll war.40 Dennoch zog sich der Beginn der Arbeiten durch baulichen Schwierigkeiten in die Länge. Kurz vor Abschluss der Arbeiten kam es zu dem Kuriosum, dass die Wechsel- station für die Züge in Bodenbach, einem Stadtteil von Tetschen (Děčín), eingerichtet wurde. Eigentlich war der Wechsel der Züge und des Personals an der sächsisch- böhmischen Grenze vorgesehen. Weil Österreich finanzielle Schwierigkeiten hatte, den Bau von Böschungen und Brücken von Bodenbach bis zur sächsischen Grenze zu finanzieren, übernahm dies die sächsische Staatsregierung. Deshalb stand es später sächsischen Beamten zu, in Bodenbach Züge abzufertigen und den Zoll zu erheben.41

36 Vgl. ebd., fol. 18. 37 Vgl. Gisevius, Zur Vorgeschichte des Preußisch-Sächsischen (wie Anm. 31), S 241. 38 Vgl. Sächs. HStA Dresden, 10036 Finanzarchiv, Loc. 37544, Rep. LVII., Nr. 388, Acta die Anlage einer Eisenbahn von Sachsen nach Böhmen betr., fol. 23–25. 39 Vgl. ebd., fol. 19. 40 Vgl. Gisevius, Vorgeschichte des Preußisch-Sächsischen Eisenbahnkrieges (wie Anm. 31), S. 243. 41 Vgl. Sächs. HStA Dresden, 10036 Finanzarchiv, Loc. 37143, Rep. LVII, Acta, die mit der k.k. österreichischen Regierung gepflogenen Verhandlungen und die Übernahme der Strecke Grenze–Bodenbach betreffend, un - paginiert.

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Die Debatte um den Eisenbahnbau in Sachsen

Bahnhof Bodenbach [Holzstich, 1861]

Wie in Österreich wurde auch in Sachsen die Eisenbahnlinie Dresden–Prag als Staats- unternehmen ausgeführt.42 Allerdings überstieg der reale Kapitalbedarf die ver - anschlagten Kosten, sodass der sächsische Landtag im Jahr 1850 einen Mehrbedarf von 1,84 Millionen Talern bewilligen sollte.43 Daher diskutierte die Zweite Kammer am 6. September 1850 über die Bereitstellung dieses Geldes. Vizepräsident Friedrich Theodor von Criegern hoffte, dass „ein höchst solides Bauwerk hergestellt“ und „der Mehraufwand bei der Anlage insofern gute Zinsen tragen wird, als dadurch die spä- teren Ausgaben für die Unterhaltung“ gemindert werden.44 Er sah das auszugebende Geld als eine sich rentierende Wertanlage an. Der Abgeordnete Johann Georg Erd- mann Elbel stand der Kapitalerhöhung dagegen zwiespältig gegenüber. Er meinte, dass durch die „Eisenbahnbauten“ der Staat „tief in die Schulden gerathen“ sei. Aller - dings führte Elbel weiter aus, sei eine Bewilligung ratsam, „wenn wir mit ande- ren Staaten concurriren wollen.“45 Die Zweite Kammer stimmte schlussendlich der Budgeterhöhung einstimmig zu, damit die Eröffnung der Eisenbahnlinie fristgerecht erfolgen konnte.46

42 Zu den Verstaatlichung der sächsischen Eisenbahn vgl. Hänseroth, Die Verstaatlichung der Sächsisch-Bayerischen Eisenbahn (wie Anm. 4), S. 63. 43 Mittheilungen über die Verhandlungen des Landtages, II. Kammer, Nr. 12, 1850, S. 222. 44 Ebd., S. 224. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 226.

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Die Debatte um den Eisenbahnbau in Sachsen

Im Jahre 1851 konnte die durchgängige Strecke von Dresden nach Prag der Öffent- lichkeit übergeben werden. Den Endpunkt der Strecke von Bodenbach nach Dresden bildete der 1848 fertig gestellte Bahnhof auf der Altstädter Seite der sächsischen Residenzstadt. Bis zu seinem Abriss im Jahr 1892 hieß er Böhmischer Bahnhof. Die 49 Kilometer der Schienenstrecke von Dresden nach Prag, die auf sächsischem Gebiet lagen, waren die erste vom sächsischen Staat projektierte Bahn.47 Allerdings war das Königreich Sachsen im Jahre 1847 auch bereits einer Aktiengesellschaft zu Hilfe geeilt, die eine Bahn von Leipzig ins bayerische Hof baute und sich ebenfalls gravierend ver- kalkuliert hatte.48 Mitte der 1850er Jahre war dann bereits ein überwiegender Teil des sächsischen Eisenbahnnetzes staatlich, bis auf die private Linie von Leipzig nach Dres- den.49 In Sachsen hatte damit der Staat einen der Leitsektoren der Industrialisierung in eigener Regie übernommen.

Glossar:

Deputationsreferent: Eine Abordnung oder die Entsendung einiger Mitglieder aus einem Gremium, einer größeren Versammlung, Körperschaft oder Genossenschaft zur Erledigung besonderer Angelegenheiten in deren Auftrag. Der Deputations - referent wird auch als Mitglied eines Kollegiums bezeichnet, das mit der Besorgung gewisser Angelegenheiten und mit dem Vortrag darüber im Kollegium betraut ist | Petent: Aus dem Lateinischen, Bittsteller, Bewerber | Petition: Ein Schreiben, z. B. eine Bittschrift, ein Gesuch oder eine Beschwerde, an eine Behörde | prote- gieren: Den eigenen Einfluss verwenden, um jemandes berufliche oder gesellschaft- liche Position zu verbessern | Trasse: Achse eines geplanten oder bestehenden Verkehrsweges | Zensur: Einrichtung, wonach alle Drucksachen vor der Veröffent- lichung einem Zensor (Prüfer) vorgelegt werden müssen und ohne dessen Geneh- migung nicht erscheinen dürfen

47 Vgl. Klenner, Eisenbahn und Politik (wie Anm. 9), S. 43. 48 Vgl. Matzerath, „Der Staat als Gewerbsunternehmer (wie Anm. 3), S. 33-35. 49 Vgl. Ziegler, Eisenbahnen und Staat (wie Anm. 5), S. 31.

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Die Anfänge des Konsums in Sachsen

Josef Matzerath

Anfänge des Konsums in Sachsen

Großbritannien war nicht nur die erste Industrienation der Welt, sondern dort ent- wickelte sich bereits im 18. Jahrhundert ein breiter Konsum, der große Teile der Gesellschaft erfasste. Es lässt sich zu Recht davon reden, es habe in England bereits vor mehr als 200 Jahren eine Konsumgesellschaft* gegeben.1 Die Menge der Konsum - güter stieg weit über den notwendigen Bedarf. Es besaßen die Menschen hier mehr Gegenstände, als das jemals zuvor in Europa oder auch sonst in der Welt der Fall ge- wesen war.2 Modeströmungen erfassten weite Teile der Bevölkerung. Sie betrafen die Kleidung, die Ernährungsgewohnheiten, die Wohnungseinrichtung, die Häuser, die Blumen und sogar die Tiere.3 All diese Waren und Güter, Pflanzen und Lebewesen wurden produziert bzw. gezüchtet, weil es einen Markt für diese Dinge gab, weil die Verbraucher danach fragten. Es kam hinzu, dass die Verkäufer nach Kräften den ohnehin vorhandenen Trend zum Konsum unterstützten. Die Produzenten, Kauf- leute und Kleinhändler entwickelten Marketing-Strategien und erfanden Werbe - kampagnen, wie sie die Welt bis dahin noch nicht gesehen hatte.4 Die Absatzstrategien reichten vom Gehweg entlang der Geschäfte über Schaufenster5 bis zum Werbeschild und von den Trade cards* über die Zeitungsanzeigen bis zum Markenartikel. Es gab schon exklusive und teuere Verkaufsevents, zu denen die upper class* mit persönlicher Einladung erschien. Damit startete man Modetrends, die über einen trickle-down-effect6 zur letztlich besonders lukrativen Massenware für einen

1 Vgl. Ariane Stihler: Die Entstehung des modernen Konsums. Darstellung und Erklärungsansätze. Berlin: Duncker & Humblot 1998, S. 19–24 und 36–39; Rainer Beck: Luxus oder Decencies? Zur Konsumgeschichte der Früh- neuzeit als Beginn der Moderne. In: „Luxus und Konsum“ – eine historische Annäherung. Hg. v. Reinhold Reith/Torsten Meyer. Münster/New York/München/Berlin: Waxmann 2003, S. 29–46, hier S. 33. 2 Grundlegend die Pionierstudie zur „Konsumrevolution“ in Großbritannien vgl. Neil McKendrick: Introduction. In: The Birth of a Consumer Society. The Commercialization of Eighteenth-century England. Hg. v. dems./John Brewer/John H. Plumb. London: Indiana University Press 1982, S. 1–6. 3 Vgl. Stihler, Die Entstehung des modernen Konsums (wie Anm. 1), S. 20. Siehe auch John Brewer: Was können wir aus der Geschichte der frühen Neuzeit für die moderne Konsumgeschichte lernen? In: Europäische Konsum- geschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert). Hg. v. Hannes Siegrist/Hartmut Kaeble/Jürgen Kocka. Frankfurt a. Main/New York: Campus 1997, S. 51–74, hier S. 62. 4 Vgl. Brewer, Was können wir aus der Geschichte (wie Anm. 3), S. 65f. 5 Vgl. Michael Prinz: Aufbruch in den Überfluss. Die englische „Konsumrevolution“ des 18. Jahrhunderts im Lichte der neueren Forschung. In: Der lange Weg in den Überfluss. Anfänge und Entwicklung der Konsumgesellschaft seit der Vormoderne. Hg.v. dems. Paderborn/München/Wien: Ferdinand Schöningh 2003, S. 191–217, hier S. 196. 6 Luxusprodukte bzw. hochwertige Konsumgüter verbreiten sich von den oberen auf die unteren Sozialformationen. Verbunden ist damit ein Anstieg des Wohlstandes. Vgl. Christian Kleinschmidt: Konsumgesellschaft. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2008, S. 20.

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Markt mittlerer Einkommen führten. Englands Pionierstatus als erste industrialisierte Nation der Welt basierte daher nicht allein auf technischen Entwicklungen. Indus- trialisierung entstand nicht allein deshalb, weil neue Maschinen erfunden wurden. Vielmehr machte es erst die ungeheuere Nachfrage möglich, so viele Waren abzu - setzen, dass sich eine industrialisierte Produktion überhaupt lohnte. Ohne einen ent- sprechend großen Absatzmarkt kann keine Fabrik rentabel sein. Erst der Konsumschub schuf die Voraussetzungen, um technische Innovationen an- zustreben und gewinnbringend anzuwenden. Provokant formuliert bedeutet dies: Die herkömmliche Wirtschaftsgeschichte hat sich zu wenige Gedanken darüber gemacht, wo und wie denn der Absatz von Waren möglich war.7 Natürlich sollte man nicht die technischen Erfindungen allein als Folge des Konsumenteninteresses verstehen. Nachfrage, Marketing, Werbung und technische Innovation lassen sich vielmehr als Bedingungszusammenhang begreifen. Eins griff ins andere, und aus der Kombination entstand ein großer Umbruch. Konsumgesellschaft und Industrialisierung erscheinen somit als zwei Seiten derselben Medaille.8 England war die erste industrialisierte Nation oder die erste Konsumgesellschaft. Im zweiten Schub industrialisierten sich Belgien, Frankreich, Deutschland und die USA. Diese zweite Welle begann um 1800 und reichte bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Deutschland war zu diesem Zeitpunkt politisch noch ein sehr vielfältiges Gebilde. Aber auch ökonomisch weiß man, dass sich ein Land nie auf einen Schlag und in allen seinen Teilen industrialisiert hat.9 Das gilt auch für das Deutschland des 19. Jahr - hunderts. Hier gab es drei bzw. vier Industrialisierungskerne, nämlich Berlin, das Ruhrgebiet, Schlesien und Sachsen. Nach den heutigen Grenzen Deutschlands fällt Schlesien selbstverständlich weg. Auf die Frage, wie der Industrialisierungskern Sachsen oder die sächsische Konsum- gesellschaft entstanden ist, findet sich in den Handbüchern zur sächsischen Geschichte leider keine Antwort.10 Das ist zunächst nicht verwunderlich, weil die

7 Vgl. dazu Hannes Siegrist: Konsum, Kultur und Gesellschaft im modernen Europa. In: Europäische Konsumge- schichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert). Hg. v. dems./Hartmut Kaeble/Jürgen Kocka. Frankfurt a. Main/New York: Campus 1997, S. 13–48, hier S. 17. 8 Vgl. Beck, Luxus oder Decencies? (wie Anm. 1), S. 29. 9 Mit Bezug auf Sachsen vgl. hierzu Hubert Kiesewetter: Industrialisierung und Landwirtschaft. Sachsens Stellung im regionalen Industrialisierungsprozeß Deutschlands im 19. Jahrhundert. Köln, Wien: Böhlau 1988, S. 5–11; Hans Pohl: Die Phase der Frühindustrialisierung in Sachsen und im Rheinland. Ein regionaler Vergleich. In: Uwe John/Josef Matzerath: Landesgeschichte als Herausforderung und Programm. Festschrift für Karlheinz Blaschke zum 70. Geburtstag. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1997, S. 487–508. 10 Vgl. Rudolf Kötzschke/Hellmut Kretzschmar: Sächsische Geschichte. Werden und Wandlungen eines Deutschen Stammes und seiner Heimat im Rahmen der Deutschen Geschichte. Frankfurt a. Main: Verlag Wolfgang Weidlich 1965; Geschichte Sachsens. Hg. v. Karl Czok. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1989; Reiner Groß: Geschichte Sachsens.Leipzig:Edition Leipzig 2001; Katrin Keller: Landesgeschichte Sachsen. Stuttgart:Ulmer 2002.

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Konsumgeschichtsforschung ja auch in Großbritannien erst zu Beginn der 1980er Jahre in Gang gekommen ist.11 Zu diesem Zeitpunkt wurde Forschung zur säch - sischen Geschichte noch weithin unter marxistischen* Vorzeichen betrieben. Die Mechanismen einer Konsumgesellschaft, in der sich die Menschen über den Besitz von Waren definieren, wollte die DDR aber gerade überwinden. Die SED de- klarierte als Ziel keine Konsum- sondern eine Kulturgesellschaft, in der der neue sozialistische Mensch von der Konkurrenz um Prestigekonsum befreit sein sollte.12 Damit war eine der zentralen Triebfedern der Konsumgesellschaften ins Zwielicht geraten. Wieso hätte also die marxistische Geschichtsforschung diesem Phänomen nachspüren sollen? Nach Karl Marx war ohnehin klar, dass die Entwicklung der Produktionsmittel ausschlaggebend war für den Zustand einer Gesellschaft. Für Marx lag der eigentliche Entwicklungsstrang der Geschichte im ökonomischen Be- reich. Dazu hätte auch der Konsum zählen können. Allerdings war Marx überzeugt, dass der Fortschritt im ökonomischen Bereich vor allem von der technischen Entwicklung abhing. Die DDR-Geschichtswissenschaft hat gut marxistisch die Entwicklung der Produktion für die Industrialisierung Sachsens verantwortlich gemacht. Sie sah einen Entwicklungsschritt von der „Manufakturepoche“ zum „Fabrikzeitalter“.13 Beides sind spezifisch marxistische Begriffe, bei denen es um die Verfahrensweise und Technik der Produktion geht. Die Geschichtswissenschaft der alten Bundesrepublik hat gegen diese Darstellungen immer schon polemisiert. Denn schon der Entwicklungsschritt von der Manufaktur zur Fabrik lässt sich mit dem Befund historischer Analysen nicht in Einklang brin- gen.14 Von der Manufaktur zur Fabrik, das ist viel zu schematisch. Denn diese Inter- pretation übersieht z.B. die große Bedeutung des Verlagswesens*.15 Zudem ignoriert sie auch Mischformen von Verlag und Fabrik. Und sie übersieht, dass die Manufak- turen eigentlich allesamt am Markt scheiterten, sobald sie nicht mehr vom Staat mit Privilegien ausgestattet wurden.

11 Vgl. Prinz, Aufbruch in den Überfluss (wie Anm. 5), S. 191 sowie Beck, Luxus oder Decencies? (wie Anm. 1), S. 29. – Historische Forschungen zur Konsumgeschichte in Deutschland begannen erst in den 1990er Jahren; vgl. Kleinschmidt, Konsumgesellschaft (wie Anm. 6), S. 7. 12 Vgl. Ina Merkel: Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1999, S. 12; Judd Stiziel: Von „Grundbedürfnissen“ zu „höheren Bedürfnissen“? Konsumpolitik als Sozialpolitik in der DDR. In: Sozialstaatlichkeit in der DDR. Sozialpolitische Entwicklungen im Spannungsfeld von Diktatur und Gesellschaft 1945/49–1989. Hg. v. Dierk Hoffmann/Michael Schwartz. München: Oldenbourg 2005, S. 135–150, hier S. 135f. 13 Vgl. Reiner Groß: Kurstaat und Königreich an der Schwelle zum Kapitalismus (1789–1830). In: Geschichte Sach- sens. Hg. v. Karl Czok. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1989, S. 297–305. 14 Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte – 1 : Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815. München: Beck 1987, S. 110. 15 Vgl. ebd., S. 94–97.

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Noch einmal einen Schritt weiter als die Kritik der herkömmlichen, westdeutschen Wirtschaftsgeschichtsschreibung geht die Konsumgeschichte. Doch ihre Frage, was denn der Absatz von Gütern zur Entwicklung der sächsischen Industrialisierung bei- getragen hat, war in der marxistischen Landesgeschichtsforschung gänzlich unbeant- wortet geblieben und wurde auch kaum einmal verfolgt. Nun sind seit 1989/90 inzwischen mehr als zwei Jahrzehnte ins Land gegangen. Es könnten daher einige Ergebnisse auf dem Feld der sächsischen Konsumgeschichte vorliegen. Leider ist das noch kaum der Fall. Als Beleg dafür kann die Wirtschaftsgeschichte Sachsens im Industriezeitalter16 gelten. Dieses Buch ist im Jahre 2006 erschienen und von Rainer Karlsch und Michael Schäfer verfasst worden. Beide sind ausgewiesene und anerkannte Wirtschaftshistoriker. Ihre Sächsische Wirtschaftsgeschichte hat den Charakter eines Handbuchs und fasst somit den gegenwärtigen Kenntnisstand zusammen. Für den Beginn der sächsischen Indus- trialisierung bietet dieses Buch die am weitesten entwickelte Interpretation.17 Karlsch und Schäfer nehmen die aktuelle Debatte der Geschichtswissenschaft zur Kenntnis und positionieren sich dazu. Der erste Teil ihrer sächsischen Wirtschafts geschichte be- fasst sich mit der Zeit von 1800 bis 1914. Er ist daher einschlägig dafür, ob es inzwischen eine Antwort auf die Frage nach der Entstehung einer Konsum gesellschaft in Sachsen gibt. Informationen zur Konsumgeschichte finden sich in diesem Abschnitt jedoch nicht. Die Autoren haben den Industrialisierungsprozess von 1800 bis 1914 in fünf Kapiteln dargestellt. Das Kapitel Voraussetzungen und Anfänge der industriellen Revo- lution in Sachsen hat einen Unterabschnitt mit der Überschrift Der Funken der industriellen Revolution.18 Auf die Frage, wohin denn die Produkte der aufkommenden Industrie verkauft werden konnten, wartet der Leser freilich vergebens. Zu klären bleibt, ab wann es Anfänge einer Konsumgesellschaft in Sachsen, in Deutschland gab, oder ob die sächsische Industrie nur Zulieferer für einen großen Markt in England war. Dagegen ist bei Karlsch und Schäfer nur von technischen Innovationen die Rede. Es fällt kein Wort über Marketing, Werbung und Absatz- märkte. Dasselbe gilt für die Kapitel Der lange Weg zur Fabrik. Die industrielle Revo- lution in Sachsen und Rahmenbedingungen und Faktoren der Industrialisierung.19 Auch hier ist lediglich vom technischen Forschritt – also von neuen Maschinen – die Rede,

16 Vgl. Rainer Karlsch/Michael Schäfer: Wirtschaftsgeschichte Sachsens im Industriezeitalter. Leipzig: Ed. Leipzig 2006, S. 39. 17 Die Geschichte Sachsens von Reiner Groß, die 2001 veröffentlich wurde, beinhaltet dagegen eine unreflektierte mar- xistische Position. Industrialisierung ist für Groß lediglich eine Frage des technischen Fortschritts. Er argumentiert immer noch mit dem Übergang von der Manufaktur zur Fabrik und fällt also hinter den Reflexionsgrad der west- deutschen Geschichtswissenschaft der 1970er Jahre zurück. Vgl. Groß, Geschichte Sachsens (wie Anm. 10), S. 171f. 18 Karlsch/Schäfer, Wirtschaftsgeschichte Sachsens (wie Anm. 16), S. 25–28. 19 Vgl. ebd., S. 29–70.

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und unter Rahmenbedingungen verstehen Karlsch und Schäfer den Kapitalmarkt, den Staat und die Landwirtschaft. Der Befund wird erst für die Kaiserzeit (1871–1918) besser. Mit einem Schwerpunkt auf den beiden Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg finden sich in der Wirtschafts- geschichte Sachsens im Industriezeitalter Abschnitte über Messe, Großhandel und Indus- trialisierung, Einzelhandel im Wandel, sowie Warenhäuser und Konsumvereine und schließlich Die Anfänge der modernen Produktwerbung.20 Insgesamt aber führt die Konsumgeschichte auch im Rahmen dieser neuesten sächsische Wirtschaftsgeschichte nicht mehr als ein Nischendasein. Sie kommt vor, aber erst als die Entwicklung von den Anfängen der Industrialisierung über die Industrialisierung zur Hochindustria- lisierung fortgeschritten ist. Ob der Konsum in Sachsen eine bedeutende Rolle für die Entwicklung der sächsischen Industrie gespielt hat, bleibt offen. Ein solches For- schungsdefizit kann selbstverständlich nicht auf die Schnelle kompensiert werden. Aber es soll dennoch der Versuch unternommen werden, aufzuzeigen, in welche Rich- tung eine Antwort zu suchen sein könnte. Hierzu ist es notwendig, Quellenbestände vorzustellen, die bislang von der sächsischen Wirtschaftsgeschichte nicht beachtet wurden. Die folgende Argumentation geht in die Einzelheiten und kann nur im De- tail aufzeigen, was in der Breite noch erforscht werden müsste. Wenn man sich am Beispiel Englands orientiert, könnte sich ein erstes Indiz für eine gewandelte Einstellung zum Konsum in der Mode der Vermögenden finden.21 Die Frage lautet dann, ob es in Sachsen um 1800 schon Menschen gab, die die moderne Scheu hatten, etwas geschmacklich Veraltetes zu tragen. Nahmen die höheren Sozial - formationen schon teil an der Mode, wie man sie in Paris und London trug? Hatte dieses Streben nach Abwechslung und Differenz damit zu tun, wie man sich selber in der gesellschaftlichen Hierarchie verortete? Erste Antworten lassen sich über die zeitgenössische Portraitmalerei ermitteln. So zeigt ein Bild, das Thomas Gainsborough im Jahre 1740 malte, Mr. und Mrs. William Hallett bei ihrem Morgenspaziergang. Aus dem sächsischen Kontext bietet sich zum Vergleich ein Portrait des Günther Graf von Bünau an. Er war der Sohn eines reichen sächsischen Rittergutsbesitzers. Sein Vater Heinrich Graf von Bünau besaß mehrere Rittergüter, u.a. das Rittergut Dahlen etwa zehn Kilometer südlich von Oschatz. Günther Graf von Bünau wurde am 17. Juni 1768 geboren. Das Gemälde, das ihn zeigt, ist nicht näher beschrieben, und auch der Künstler ist nicht bekannt. Dennoch darf man wohl annehmen, dass von Bünau auf diesem Portrait als Teenager dargestellt

20 Vgl. ebd., S. 113–123. 21 Vgl. René König: Menschheit auf dem Laufsteg. Die Mode im Zivilisationsprozeß. Neu herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Hans Peter Thurn. Opladen: Leske + Budrich 1999, S. 20 und S. 40.

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ist. Das Bild dürfte daher aus den 1780er Jahren stammen. Als Kleidung des Grafen von Bünau und von William Hallett zeigen beide Gemälde Hemd, Weste und Hals- tuch sowie darüber einen Tuchrock mit Kragen. Beide Herren tragen die englische Herrenmode des 18. Jahrhunderts. Als Heinrich Graf von Bünau, der Vater, in den 1760er Jahren von Louis de Silverstre porträtiert wurde, ließ er sich noch im roten Samtrock mit Goldstickerei malen. Dieses sogenannte Justaucorps war ein knielanger Rock ohne Kragenaufschlag. Die Kleidung seines Sohnes bestand 20 Jahre später nicht mehr aus Samt, Seide und aus so prunkvollem Schmuck, wie teueren Gold - stickereien.

omas Gainsborough: Mr and Mrs William Günther Graf v. Bünau [Jugendportrait, Hallett ('e Morning Walk') [1785] ca. 1780]

Englische Herrenmode des ausgehenden 18. Jahrhunderts verzichtete auf derart Ostentatives, sie achtete hingegen auf den perfekten Schnitt und tadellosen Sitz des Herrenanzuges. Die wahre Eleganz lag nun in der Schlichtheit.22 Vergleichsweise prächtig waren nur noch die Knöpfe. Je nach der Farbe des Wollrocks konnten auch die Westen gelegentlich sehr farbenfroh und aufwendig ausfallen. Das sieht man an

22 Wiebke Koch-Mertens: Der Mensch und seine Kleider, Teil 1: Die Kulturgeschichte der Mode bis 1900. Düssel- dorf/Zürich: Artemis und Winkler Verlag 2000, S. 391 und S. 374. Ähnlich auch Erika Thiel: Geschichte des Kostüms. Die Europäische Mode von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin: Henschel Verlag 1997, S. 303f.

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den hier präsentierten Beispielen aber nicht. Sie sollen nur den Nachweis erbringen, dass sich die englische Herrenmode bereits im späten 18. Jahrhundert auch in Sachsen ausbreitete. Günther Graf von Bünau machte übrigens später Karriere. Er wurde der letzte Landtagsmarschall* der kursächsischen Landstände*. Nach heutigen Termini war er so etwas wie der letzte Präsident der frühneuzeitlichen Landtage in Sachsen. Er nahm auch am 4. September 1831 die erste sächsische Verfassungsurkunde aus der Hand des Königs entgegen. Graf Günther von Bünau führte ein großes Haus in Dresden und speiste nach einer exquisiten Küche. Sein Koch, Johann Friedrich Baumann, hat im Jahre 1830 ein zwei- bändiges Kochbuch publiziert: Der Dresdner Koch oder die vereinigte teutsche, fran - zösische und englische Koch- Brat- und Backkunst.23 Das ist ein Buch für professionelle Köche, in dem eine hoch entwickelte Kochkunst dokumentiert ist. In Dresden speis- ten der Fürstenhof und ein Teil der hier lebenden vermögenden sächsischen Adeligen durchaus auf der Höhe des zeitgenössischen Niveaus der europäischen Kochkunst. Auch der sächsische Landtagsmarschall, der Graf von Bünau, nahm an den kulinari- schen Moden seiner Zeit teil. Zum Diktat der Kleidermode findet sich, zudem an einer Stelle, an der man es viel- leicht nicht sogleich vermuten würde, eine interessante Information. Auf dem Landtag des Jahres 1787 bat die landständische Ritterschaft* den Kurfürsten um eine „eigene allgemeine Landes=Uniform“24 für den Adel. Es sollte kein Unterschied gemacht wer- den, ob jemand „aus alten oder neuen Familien abstammet, ingleichen mit Güthern angeseßen ist, oder nicht“.25 Jeder Adelige sollte eine solche Standeskleidung tragen dürfen. Die Adeligen beantragten, wie sie selber sagten, ein „ehrenvolles Unterschei- dungs=Zeichen“.26 Zunächst wollten sie also ihre Standeswürde sichtbar machen. Bislang hatten ihnen die frühneuzeitlichen Kleiderordnungen wertvolle Stoffe, goldene Stickereien oder teuere Schnallen vorbehalten. Mitglieder anderer Sozial - formationen durften so etwas nicht tragen. Offenbar war aber die gesellschaftliche Entwicklung über diese Vorrechte hinweg gegangen. Die Mode fordert nun eine an- dere Herrenkleidung. Die männlichen Adeligen Sachsens trugen im ausgehenden 18. Jahrhundert englische Männermode. Das war ihnen selbstverständlich unbenommen. Es fragt sich nur, warum die Adeligen eine Uniform wünschten, wenn sie sich nach der Mode der Zeit kleiden konnten.

23 Johann Friedrich Baumann: Der Dresdner Koch oder die vereinigte teutsche, französische und englische Koch-, Brat- und Backkunst, Neudruck der Ausgabe von 1844. Leipzig: Edition Leipzig 2005. 24 Sächs. HStA Dresden, Loc 2479/02: Acta, Die von einigen Ständischen Corporibus gesuchte Erlaubniß zu Tra- gung einer eingenen Uniform betr. 1785ff, fol. 7–10, hier fol. 8. 25 Ebd. 26 Ebd., fol. 8–9.

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Der Antrag der Ritterschaft erläuterte dem Kurfürsten das Anliegen so: Die „immer häufigeren und schneller aufeinander folgenden Abwechselungen der Moden in der Kleidung“ stürzten „fast alle Personen von einigem Stande“ in Unkosten.27 Dies falle „vorzüglich einem großen Theil des Chursächsischen Adels“ zur Last.28 Besonders sei in Mitleidenschaft gezogen, wer „sich die meiste Zeit über in aufhabenden Dienst- verrichtungen von der Residenz abwesend, oder für gewöhnlich auf seinen Güthern befindet, und nur zuweilen am Hofe erscheint“.29 Auf dem Land war das Diktat der Mode offenbar nicht so zwingend wie in Dresden. Damit der Aufwand, nach Dresden zu kommen, nicht gar so beschwerlich werde, sei „eine besondere, eigends für den Adel bestimmte Art der Kleidung“ wünschenswert.30 Denn, so stellte die Ritterschaft dem Landesherrn vor, der „in Dienstgeschäften zum öfteren abwesende, so wie der Land=Adel“ könne mit dieser Uniform, wenn „ihn Ehrfurcht oder Pflicht an Euer Churfürstliche Durchlaucht Hoflager rufen, daselbst mit Distinction, und mit einem den Wohlstand nicht verletzenden Ersparniße erscheinen“.31 Der Antrag legitimierte den Wunsch nach einer Uniform daher weniger aus dem allgemeinen gesellschaft - lichen Nutzen für den Adel, sondern bemühte sich, Gründe vorzutragen, die auch im Interesse des Landesherrn gelegen sein mussten. Die Uniform helfe „den Luxus einzudämmen und die inländischen Manufacturen zu begünstigen“.32 Da die Uniform weniger begüterten Adeligen leichter erschwing- lich sei, würden diese nicht mehr in Verlegenheit geraten, in unpassend unmodischer Kleidung am Dresdner Hof zu erscheinen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass am Dresdner Hof und sicher auch in den vornehmen Kreisen der Residenzstadt eine häufig wechselnde Mode ihren Einzug gehalten hatte. Das Bild des jungen Grafen von Bünau dokumentiert daher geradezu, dass die Ver- mögenden im Lande damit begonnen hatten, sich dem luxuriösen Konsum nach eng- lischem Vorbild anzunähern. Man darf daher vermuten, dass auch in Sachsen der durch Mode motivierte Konsum zunächst durch einen Nachfrageboom der Vermögenden in Gang gesetzt wurde. Für die Zeit um 1800, für die die Wirtschaftsgeschichte von Karlsch und Schäfer die ersten Impulse einer Industrialisierung registriert,33 findet sich somit ein erstes Indiz, dass erste Mechanismen der Konsumgesellschaft auftauchten. Dresden erscheint als einer der Orte, an dem das Diktat der Mode schon Einzug gehalten hatte. Auf dem Land war das nach

27 Ebd., fol. 7. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Vgl. Karlsch/Schäfer, Wirtschaftsgeschichte Sachsens (wie Anm. 16), S. 28.

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der Aussage der Ritterschaft noch anders. Vielleicht liegt darin sogar ein Hinweis, dass die Ausbreitung des Konsums noch nicht so weit fortgeschritten war wie in England. Man könnte daran denken, dass der Landedelmann noch nicht in einer modischen Kon- kurrenz zu anderen ländlichen Honoratioren stand. Der Verkehr der ländlichen Ritter- gutsbesitzer untereinander verlangte offenbar nicht, dass man sich stets nach der neuesten Mode kleidete. An einem solchen Wettstreit, den sozialen Rang über die neueste Klei- dung zu definieren, mochten eher schon die Bürger von Landstädten teilnehmen. In Meißen bspw. trafen sich die vornehme Gesellschaft der Stadt und die Ritterguts- besitzer der Umgebung während des Sommers im Buschbad. Diese Kaltwasser-Heil- anstalt hatte ein Badehaus und ein Wohngebäude für die Badegäste. Die vermögenden Einwohner Meißens nutzten das Bad aber auch, um dort in guter Gesellschaft zu verweilen. Darüber hinaus hatte Meißen eine ‚Societät‘, einen Verein, in dem die Honoratioren der Stadt und des Umlandes verkehrten. Für eine der sächsischen Pro- vinzstädte lässt sich daher bereits eine Gruppe von Menschen nachweisen, die ihren Status auch über Konsum definierte.34 In Dresden mag das noch ausgeprägter der Fall gewesen sein. Jedenfalls muss man wohl den Antrag der Ritterschaft vom Jahre 1787 so lesen. Denn dem Kurfürsten und seinen Räten konnte man wohl kaum etwas über die Residenzstadt vorflunkern, ohne sich selbst unglaubwürdig zu machen. Dennoch ließe sich einwenden, Dresden selbst sei doch um 1800 keine Metropole gewesen, in der die neueste Mode kreiert wurde. Die Stadt hatte gerade mal 50.000 Einwohner. Das zeitgenössische London besaß als Millionenstadt ganz andere Poten- tiale, um als Modezentrum zu fungieren. In ganz Deutschland gab es keine Metro- pole, die mit London oder Paris hätte konkurrieren können.35 Dennoch entstand im politisch zersplitterten Deutschland eine Gruppe von Personen, die an den zeit - genössischen Konsumtrends teilnahm. Ihre Kleidung folgte den aktuellen Änderun- gen des Modegeschmacks. Vom Hausrat bis zu wissenschaftlichen Instrumenten und vom Zierrat bis zum Dekor waren sie auf dem Stand von London und Paris. Selbst- verständlich konnten die Mitglieder dieser Konsumentenschicht bei den damaligen Verkehrsmitteln nicht immer wieder selbst zu den Zentren der Mode reisen.

34 Zum Meißner Buschbad vgl. Wolfgang Schanze: Ehemalige Mineralquellen im Kreis Meißen. In: Sächsische Hei- matblätter 23 (1977), H. 5, S. 236. Vgl. auch Sächs. HStA Dresden, Grundherrschaft Radibor, Familiennachlass v. Welck, Curt Robert v. Welck, Tagebuch vom 22. Oktober 1815. Die Sozietät war der Geselligkeitsverein, in dem sich Meißner Honoratioren trafen. Vgl. bspw. Sächs. HStA Dresden, Grundherrschaft Radibor, Familien- nachlass v. Welck, Curt Robert v. Welck, Tagebuch vom 1. Januar 1813. Zu Adel und Vereinswesen vgl. Silke Mar- burg: Adel und Verein in Dresden. In: Der Schritt in die Moderne. Sächsischer Adel zwischen 1763 und 1918. Hg. v. dies./Josef Matzerath. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2001, S. 45–61. 35 Vgl. Daniel Purdy: Modejournale und die Entstehung des bürgerlichen Konsums im 18. Jahrhundert. In: Der lange Weg in den Überfluss. Anfänge und Entwicklung der Konsumgesellschaft seit der Vormoderne. Hg. v. Michael Prinz. Paderborn/München/Wien: Ferdinand Schöningh 2003, S. 219–230, hier S. 219.

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Die Überlieferungslage zum Prestigekonsum des Adels ist in Sachsen allerdings nicht besonders üppig. Betrachtet man die Porträts sächsischer Adeliger, stellt man schnell fest, dass die Damen und Herren durchaus dem Zeitgeschmack huldigten. Das belegt auch ein Porträt von Johann Georg Friedrich Freiherrn von Friesen. Er war Mitglied der sächsischen Ritterschaft seit dem Landtag 1781. Von Friesen machte sowohl Karriere als Landtagsmitglied als auch am Dresdner Hof. In der Ständeversammlung* wurde er sogar Erbmarschallsamtsverweser*. In dieser Funktion war er der Vorgänger des Grafen von Bünau als – wie wir heute sagen würden – Landtagspräsident. Außer - dem stieg von Friesen am Dresdner Hof bis zum Oberkammerherrn* auf. Er ge- hörte damit zu den Spitzen der Hofverwaltung.36 Dieser Mann aus Dresdens feiner Gesellschaft ließ sich in einem Anzug nach englischer Mode porträtieren. Von der Weste über den Tuchrock bis hin zum Stock, den man in England statt des Degens trug, passt alles. Von Friesen hat sogar lässig eine Hand unter den Rock gesteckt. Der Mann wusste offenbar, wie der Gentleman Eleganz und vornehmen Gleichmut demonstrierte. Der erste Konsumschub in Deutschland wurde vielmehr von den Printmedien ge- tragen. Einerseits druckte und las man gerne Reiseberichte, Briefe oder Romane, in denen der luxuriöse Lebensstil in den europäischen Metropolen beschrieben wurde.37 Andererseits – und das war wohl noch zentraler – entstanden Modejournale, in denen Farbdrucke und Reportagen das Neueste aus London und Paris in ganz Deutschland publik machten.38 Von 1786 bis 1827 erschien in Weimar das Journal des Luxus und der Moden. Es machte die frühen deutschen Verbraucher rasch zu versierten Kennern der unterschiedlichen Modetrends. Wenn auch Dresden nicht die Stadt war, in der die Mode entwickelt wurde, lässt sich dennoch vermuten, dass die Kleidung der modebewussten Herren und Damen in Sachsen häufig hier gefertigt wurde. An dieser Stelle klafft erneut eine Lücke in der Forschung. Wir wissen nicht, in welchem Umfang Dresden ein Einkaufszentrum für die Vermögenden des Landes war. Bislang lassen sich für die Zeit um 1800 nur wenige Zeugnisse aufweisen, in denen Adlige sich darüber äußern, welchen Stellenwert der Kleiderkonsum für sie hatte. In Meißen hat eine Mutter, Wilhelmine Freifrau von Welck, eine geb. Gräfin von Seyde- witz, für ihr Kind während der ersten siebeneinhalb Lebensjahre ein Tagebuch ge-

36 Vgl. Johann Georg Friedrich Freiherr von Friesen. In: Neuer Nekrolog der Deutschen, 2, 1824, S. 162–167; Ernst Freiherr v. Friesen: Geschichte der reichsfreiherrlichen Familie von Friesen. Bd. I. Dresden: Heinrich 1899, S. 294–300; Josef Matzerath: Aspekte sächsischer Landtagsgeschichte. Die Mitglieder der kursächsischen Land- stände 1763–1831. Dresden: Sächsischer Landtag 2009, S. 33ff. 37 Vgl. Purdy, Modejournale (wie Anm. 35), S. 219. 38 Vgl. Journal des Luxus und der Moden. Hg. v. Carl Bertuch. Weimar: Verl. d. Landes-Industrie-Comptoirs 1786–1827.

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führt.39 Die Aufzeichnungen der Freifrau von Welck gestatten u.a. auch einen Blick in die Kleiderkiste ihres Sohnes. Robert von Welck, der Sohn, wurde am 31. Januar 1798 in Meißen geboren. In den Tagebüchern, die die Mutter in den Jahren 1798 bis 1804 für ihren Sohn geführt hat, berichtet sie aus dem ersten Lebensjahr, sie habe dem vier Monate alten Kind mit Handschuhen das „Nutschen“ abgewöhnt. Die übrige Baby- Kleidung erschien der Mutter nicht erwähnenswert. Offensichtlich war das aus ihrer Perspektive nichts Besonderes, und daher schrieb sie auch nicht darüber. Zu seinem ers- ten Geburtstag erhielt Robert von Welck von der Frau des Kammerherrn von Berlepsch (einer seiner Patentanten) ein „ein Jahr Kleidchen von Calico“.40 Kaliko ist ein feines dichtes Baumwollgewebe, das bunt gefärbt und exotisch gemustert sein konnte. Für den 7. März 1799 berichtet das Tagebuch: „[Ich] bekam meine ersten Schuh, von dem Meister Roßdorf verfertiget, sie waren von blauen Tuch, u[nd] kostet 8 rth. Ich tapste recht, u[nd] besah sie mir immer“.41 Das war also offenbar noch ungewohnt für den knapp Einjährigen. Am 24. Dezember 1800 erhielt Robert von Welck neben vielen anderen Weihnachtsgeschenken auch seine ersten Stiefel. Im Vergleich zu Schu- hen sind Stiefel immer das wertvollere Schuhwerk. Sie erfordern mehr Material und Aufwand bei der Herstellung, gelten aber auch als Würdezeichen. Die Stiefel erhielten allerdings noch eine eher praktische Bedeutung: Am 27. Dezember 1800 vermerkt das Tagebuch, Robert von Welck sei nachmittags mit den Stiefeln im Garten herum- gesprungen. Am 4. Februar 1801 heißt es: Robert sei mit seinen „Eltern Vormittage spazieren gegangen, meinen Stiefeln zu Ehren ließ ich mich izt sehr ungerne tragen wade [d. h. watete] aber immer wo der Koth am dicksten ist.“42 Am 27. Juli 1800 stellt das Tagebuch den zweieinhalbjährigen in Festkleidung vor, denn der Vater hatte an diesem Tag Geburtstag. Das Fest fand im Garten statt, und Robert von Welck wurde auf einem Altar zwischen Büsche drapiert. Seine Mutter hatte ihm „ein Hemd- chen von Batist, [angezogen, das] mit Spitzen garnirt, u[nd] Gurlanten geziert“ war. Außerdem trug Robert von Welck Sandalen. Als der Vater dann dort „mit Musique hingebracht ward, empfieng ich ihn durch das Rufen, ‚Es lebt mein guter Vater‘, über- reichte ihm dann von der Emilie [d.i. die Schwester] u[nd] mir eine schöne Mund Tasse. Ich bekam zum ersten mahl ein bischen biscuit Torte. Später ward gedanzt – ich war sehr lustig u[nd] danzt immer mit.“43

39 Sächs. HStA Dresden, Grundherrschaft Radibor, Familiennachlass von Welck, Curt Robert von Welck, unfoliert, 31.1.1789–25.4.1803, 26.4.1803–13.6.1805 und 14.7.1805–4.8.1806. 40 Ebd., Tagebucheintrag vom 31. Januar 1799. 41 Ebd., Tagebucheintrag vom 7. März 1799. 42 Sächs. HStA Dresden, Grundherrschaft Radibor, Familiennachlass von Welck, Curt Robert von Welck, Bündel 1, unfoliert, Tagebucheintrag vom 4. Februar 1801. 43 Ebd., Tagebucheintrag vom 27. Juli 1800.

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Für die Kleidung kann man aus dieser Szene festhalten, dass Robert von Welck noch die Kleidung eines Kleinkindes trug, nämlich ein Hemdchen. Batist ist ein feines Baumwollgewebe, das aus sehr dünnen Fäden, d.h. mit viel Aufwand, her - gestellt ist und sich wegen seiner Leichtigkeit gut für den Sommer eignet. Für das folgende Jahr erfahren wir im Tagebuch über den dreijährigen Robert von Welck, dass er am 8. Mai 1801 ein Staubmäntelchen aus grauer Leinewand bekam, „welches mir wie es fertig war große Freude machte“.44 Diese Passage macht klar, es wurde ein Stoff gekauft und dann für das Kind maßgeschneidert. Kleidung von der Stange, d.h. industriell hergestellte Konfektionsware, kommt noch nicht in den Blick. Wie bei den ersten Schuhen, die von Welck bekam, war auch sein Staubmantel hand- werklich hergestellt. Im selben Jahr fand eine wichtige Premiere in der Garderobe des kleinen Jungen statt. Als am 15. Juni 1801 die Großeltern zu Besuch nach Meißen kamen, präsentierte sich ihnen Robert von Welck „zum ersten mahl in Hosen“.45 Die Alternative dazu war die sogenannte ‚Kappe‘, ein Kittelchen für Kinder. Dieses Kleidungsstück, das im Mittelalter einmal ein Mantel mit Kapuze gewesen war, hatte sich in der Kleidung für Kleinkinder erhalten, während es in der Mode der Erwachsenen um 1800 keine Kappe mehr gab. Eine Hose zu tragen, bedeutete daher einen Entwicklungsschritt. Für Robert von Welck wurde diese Umstellung aber vor allem im Jahre 1802 relevant. Denn der Vierjährige schämte sich, als er am 1. Mai 1802 einen gleichaltrigen Besucher namens Karl Weigel hatte, „welcher schon Hosen anhatte“, von Welck selbst dagegen war „in der Kappe“.46 Als die Familie von Welck gegen Ende Mai 1802 nach Leipzig zum Einkaufen und nach Aschersleben zur Erholung reiste, trug Robert immer Hosen, „weil sie mich in der Kappe auslachten“.47 Es findet sich somit ein Bewusstsein für Kleidung, das sich nicht auf den Zustand der Abnutzung zurückführen lässt. Im eigentlichen Sinne lässt es sich jedoch auch nicht der Mode zurechnen. Denn zumindest ist hier das Interesse an neuer Kleidung nicht getrieben vom Wunsch nach Neuheit und Abwechslung. Vielmehr geht es darum, einen Entwicklungsschritt weiter zu sein, für den der Mode der Zeit ent - sprechend bei Jungen die Hose das Symbol war. Jedenfalls macht die Passage auch klar, dass in der großen Stadt und im Kurort andere Standards galten als in Meißen. Ähnlich hatte ja schon die Ritterschaft bei der Uniform argumentiert. Endgültig ent- schieden war die Hosenfrage mit von Welcks Geburtstag am 31. Januar 1803: Der

44 Ebd., Tagebucheintrag vom 8. Mai 1801. 45 Ebd., Tagebucheintrag vom 15. Juni 1801. 46 Sächs. HStA Dresden, Grundherrschaft Radibor, Familiennachlass von Welck, Curt Robert von Welck, unfoliert, Tagebucheintrag vom 1. Mai 1802. 47 Ebd., Tagebucheintrag vom 21. Mai 1802.

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Fünfjährige erhielt vom Vater „ein rechtes warmes Kleid, Hosen u[nd] Weste, welches ich seit 8 Tagen schon wußte, aber meiner Mutter nicht hatte sagen sollen, u[nd] das Geheimniß sehr gut gehalten“.48 Der Sohn bekam nicht nur das männliche Gewand vom Vater zum Geburtstag, sondern er wurde auch noch in eine Geheimhaltung „unter Männern“ gezogen. Eine geschlechtsspezifische Ausrichtung dieses Initia - tionsritus* ist nicht zu verkennen. Zu Weihnachten 1803 erhielt von Welck dann „Stiefeln, Schuhe, seidne Strümpfe“,49 denn die Stiefel gehörten, wie schon erläutert wurde, eher zum praktischen Outfit eines herumtobenden Kindes. Die Schuhe pass- ten mehr zu zivilisierteren Gelegenheiten und die Seidenstrümpfe waren unverkenn- bares Zeichen von Luxus. Auch zu seinem sechsten Geburtstag wurde Robert von Welck neu eingekleidet. Er bekam diesmal einen aschgrauen Anzug aus ostafrikanischer Baumwolle sowie wie- derum Stiefel. Für das Jahre 1804 wird die Garderobe des Kindes umfangreicher sicht- bar: Es gab im April Beinkleider, die beim Herunterrutschen zerrissen wurden. Im Mai erhielt von Welck neue baumwollene Hosen, die er bald darauf mittels Beeren mit Flecken dekorierte. Im Oktober schenkte der Vater „2 p. Handschuh“.50 Im November gab es den ersten Anzug aus Wolle: „mein erstes Tuch Kleidgen, mit Spit- zen Ermeln von blauen Tuch, mit schwarzen Samt Band“.51 Das Tagebuch berichtet zwar nicht, wie die Kleidung des Kindes geschnitten war, aber mit dem Wollrock war man vom Material her beim Standard der englischen Männermode angekommen. Da Robert von Welck auf die Kappe so empfindlich reagierte, darf man wohl auch annehmen, dass sein Rock und seine Hosen den Standards der zeitgenössischen Schnitte entsprachen. Andernfalls hätte das Tagebuch wohl berichtet, dass von Welck wegen seiner Kleidung unzufrieden gewesen wäre. Im Dezember des Jahres 1804 ist auch von einem Schlafrock die Rede, den der Sechsjährige trug. Zu Weihnachten 1804 schenkten ihm die Eltern „1 p. Handschuh, 2 p. Schuhe, 2 p. seidne Strümpfe, 4 Batist Halstücher“.52 Das fällt schon in den Bereich der Accessoires, um dem modischen Kleidungsstil auf hohem Niveau zu entsprechen. Lässt man die Materialkunde noch einmal passieren, die das Tagebuch präsentierte, stellt sich heraus, dass Wilhelmine Freifrau von Welck, die Mutter Roberts, über eine genaue Kenntnis der Gewebearten verfügte. Für heutige Kunden wäre ein solches Wissen eher ungewöhnlich. Heute kauft man eher Markenartikel, wenn Qualität gefragt ist. Hinter den Herstellernamen verschwinden die Kenntnisse über Textilien

48 Ebd., Tagebucheintrag vom 31. Januar 1803. 49 Ebd., Tagebucheintrag vom 24. Dezember 1803. 50 Ebd., Tagebucheintrag vom 12. Oktober 1804. 51 Ebd., Tagebucheintrag vom 23. November 1804. 52 Ebd., Tagebucheintrag vom 24. Dezember 1804.

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und ihren Wert. Man kauft die Funktion des Gewebes meist implizit. Um 1800 wurde der Markt für Kleidung noch nicht durch Markenprodukte bestimmt. Die stofflichen Qualitäten konnte Wilhelmine von Welck offenbar sehr gut selbst bestimmen. Den modischen Zuschnitt von Kleidung hätte sie oder ihr Schneider aus dem Journal des Luxus und der Moden53 entnehmen können. Leider ist aber nicht überliefert, ob Frau von Welck dieses Magazin las. Dieses Blatt gilt als wichtigste deutsche Modezeitschrift der Zeit um 1800 und war entsprechend weit verbreitet. Es gab das Journal daher zeitgenössisch in Dresden. Und wenn man die Porträts des jugendlichen Grafen von Bünau und des Oberkammerherrn von Friesen sieht, ist unabweisbar, dass die eng - lische Mode auch in Dresden ihren Einfluss hatte. Die gehobenen Sozialformationen Sachsens nahmen daher bereits am Konsumstil englischer Prägung teil, als in Sachsen die Industrialisierung ihre ersten Impulse bekam. Es bleibt aber noch offen, wie sich denn die Einkaufssituation verändert hat, als in Sachsen erste Anzeichen einer Konsumgesellschaft sichtbar wurden. Auch hier hilft das Tagebuch des Robert von Welck weiter. Die Meißner Freiherren von Welck ge- hörten in Sachsen zu den vermögendsten Familien. Karl Wolfgang Maximilian, der Vater Robert von Welcks, hinterließ ein Barvermögen von 228.000 Talern.54 Zudem besaß er das Rittergut Oberrabenstein bei Chemnitz. Dieser Besitz wurde von seinen Erben auf 60.000 Taler veranschlagt.55 In Meißen hatten von Welcks noch das Gut Friedenshain, das unmittelbar in der Nähe der Stadt lag und im Jahre 1812 auf 10.000 Taler geschätzt wurde.56 Man darf daher einen hohen Konsumstandard bei der Familie von Welck erwarten. Die Tagebücher, die die Mutter für Robert von Welck schrieb, dokumentieren auch Kaufsituationen. Eine erste Eintragung, die Einkäufe betrifft, mit denen Robert von Welck zu tun hat, datiert aus dessen zweitem Lebensjahr: „11. März 1799 Gieng ich Vormittage mit meiner Sch[wester, Emilie von Welck] auf den Marckt einkaufen, ich brachte meiner Mutter eine Nadelbüchse mit. Abends saß ich bey den Essen zum ersten mahl auf meinen Stühlgen, u[nd] mein Vater fütterte mich.“57 Es ist ersichtlich, dass das Kind hier zu einer Art Ausflug mitgenommen wurde. Der Einkauf der Nadel - büchse scheint kein geplanter Erwerb gewesen zu sein, da er als Mitbringsel bezeichnet

53 Zum Magazin vgl. Gerhard Wagner: Von der Galanten zur Eleganten Welt. Das Weimarer Journal des Luxus und der Moden (1786–1827) im Einflussbereich der englischen industriellen und der Französischen Revolution. Hamburg: von Bockel 1994. 54 Zu Karl Wolfgang Maximilian von Welck vgl. [Alfred Frhr. von Welck]: Lebensbilder. Bonn: o.V. 1992, S. 88, 92, 95–100, 116, 160, 162 und 165. 55 Vgl. ebd., S. 160. 56 Vgl. ebd., S. 165. 57 Sächs. HStA Dresden, Grundherrschaft Radibor, Familiennachlass von Welck, Curt Robert von Welck, unfoliert, Tagebucheintrag vom 11. März 1799.

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wird, und andere Einkäufe nicht angegeben werden. Auch an anderen Tagen teilt das Tagebuch gelegentlich mit, dass Robert von Welck mit jemandem auf den Markt ging. Es fehlt aber die Einkaufsliste. Erwähnt wird ansonsten lediglich, was Robert für sich gekauft hat, oder was andere ihm kauften. Als die Familie in Dresden war, führt das Tagebuch beispielsweise an: „NachMittage gieng ich mit der Mariane [d. i. das Kindermädchen] zu ihren Eltern, u[nd] dann auf den StrizelMarkt, wo mir alles gefiehl u[nd] ich alles zu haben wünschte – ich kaufte mir eine Wach - parade.“58 Eine weiter Szene spielt am 28. Februar 1803 in Meißen: „Es war Markt heute, aber sehr schlechtes Wetter, ich gieng mit der Mariane um 10 Uhr ein bischen spazieren, ich kaufte mir ein Schiff.“59 Am 12. Juni 1805 ging von Welck in Beglei- tung seines Hauslehrers auf den Meißner Markt und kaufte sich „eine Schlange, u[nd] eine Flinte“.60 An anderen Stellen werden explizit Personen genannt, die Robert von Welck etwas kaufen. Am 31. März 1800 erwarb der Vater auf dem Dresdner Markt für seinen Sohn einen schwarzen Helm mit Federbusch. Schon zwei Tage später, am 2. April 1800, heißt es im Tagebuch: „Gieng ich Vormittage mit der Emmi [Emilie von Welck, die Schwester] auf den Markt u[nd] kaufte 8 Soldaten“.61 Das Geld dazu hatte Robert von Welck von der Mutter erhalten. Am 20. Mai 1802 nahm ein Herrn von Watzdorff, dessen Frau eine Patin des Robert von Welck war, den Vierjährigen mit zum Einkau- fen und kaufte ihm „Flinte, Saebel, ... u[nd] dergl[eichen,] womit ich völlig gerüstet spazieren gieng“.62 Es handelt sich bei sämtlichen Einkäufen um Spielsachen. Man darf annehmen, dass nur wenige Kinder um 1800 so häufig neue Spielsachen erhielten wie Robert von Welck. Er kaufte häufig in Begleitung des Personals (Kindermädchen, Hauslehrer) oder seiner älteren Schwester auf dem Markt ein. Das deutet darauf hin, dass die Ausgaben kein Volumen hatten, das die Familienkasse der von Welcks besonders belastete. Ebenfalls ist für die Konsumgeschichte Sachsens von Belang, dass alle Spielzeuge auf Märkten gekauft wurden, die seit dem Mittelalter als Zentren der Versorgung galten63. Es gab also wohl noch keine Läden, die Kinderspielzeuge ver- kauften.64

58 Ebd., Tagebucheintrag vom 21. Dezember 1802. 59 Ebd., Tagebucheintrag vom 28. Februar 1803. 60 Ebd., Tagebucheintrag vom 12. Juni 1805. 61 Sächs. HStA Dresden, Grundherrschaft Radibor, Familiennachlass von Welck, Curt Robert von Welck, Bündel 1, unfoliert, Tagebucheintrag vom 2. April 1800. 62 Ebd., Tagebucheintrag vom 20. Mai 1802. 63 Vgl. Kleinschmidt, Konsumgesellschaft (wie Anm. 6), S. 35. 64 Die Entstehung von Ladengeschäften bzw. des Kleinhandel in Deutschland beginnt erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. Vgl. dazu Uwe Spiekermann: Basis der Konsumgesellschaft: Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850–1914. München: Beck 1999.

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Man ging mit dem stürmischen Kind auch gelegentlich auf den Markt, um es ab - zulenken. Am 23. März 1801 bspw. waren ein Bruder der Mutter und deren eigene Mutter zu Besuch in Meißen. Robert von Welck begeisterte sich für den Säbel seines Onkels. Er schnallte die Waffe um und folgte dem Mann auf Schritt und Tritt. Als dann aber das Mittagessen aufgetragen wurde, durfte Robert, wie das Tagebuch mit- teilt, mit dem Kindermädchen ‚eine Visite‘ machen. Die ‚Bonne‘ ging mit dem Zög- ling auf den Markt und kaufte ihm Spielzeugsoldaten. Dieser Einkauf dient offenbar dazu, den Erwachsenen während des Essens eine gepflegte Atmosphäre zu verschaffen. Die Zinnsoldaten waren der Preis für das ungestörte Mahl. Man sieht wiederum, dass eine solche Ausgabe das Budget der Welcks nicht sonderlich tangiert haben kann. Größere Einkäufe der Familie von Welck scheinen dagegen in einem anderen Rahmen stattgefunden zu haben. Robert von Welcks Eltern reisten nämlich häufig nach Dresden, um dort einzukaufen. Das ist ein verblüffendes Ergebnis. Denn Dresden hat im Gegensatz zur Leipziger Messe als Einkaufszentrum in der sächsischen Wirtschaftsgeschichtsforschung bislang keine Beachtung gefunden. In den durchgesehenen sieben Jahrgängen des Tagebuchs von Welck (1789–1804) war die Familie nur einmal in Leipzig, nämlich vom 20. bis 22. Mai 1802. Im gleichen Zeitraum (1789 –1804) fuhren die Welcks aber fünfmal nach Dresden und kauften dort ein. Leider ist in der Regel nicht genannt, was erworben wurde. Nur für den Dresdenaufenthalt vom 27. April bis 4. Mai 1802 ist überliefert, dass die Mutter am 1. Mai nachmittags auf dem Rückweg von einem Kaffeebesuch „Steinguth, u[nd] Zinn“65 einkaufte. Das war ein Hochzeitsgeschenk für den Kutscher der Familie. Auch Robert von Welcks Großmutter, die Gräfin Seydwitz aus Großen- hain, kam nach Dresden zum Einkaufen. Als Robert mit seinen Eltern vom 4. bis 17. Februar 1800 „auf einige Tage“66, wie das Tagebuch sagt, in Dresden weilte, trafen dort am 11. Februar 1800 auch die Großmutter und eine weitere Dame ein, „um einzukaufen“.67 Für Dresden lässt sich daher vermuten, dass es für die vornehme Gesellschaft Sachsens ein zentraler Einkaufsort war. Es dürfte aber kaum jemand den Weg von Meißen oder Großenhain in die Residenz- stadt zurückgelegt haben, um Dinge zu erwerben, die auf dem Markt der Provinz- städte auch zu haben waren. In Dresden kaufte man exquisite Waren. Das Spektrum der Handwerker und Händler war breiter als in den Landstädten. Deshalb wurde der Luxuskonsum in der sächsischen Residenz wohl nicht allein vom Hof getragen, wie

65 Sächs. HStA Dresden, Grundherrschaft Radibor, Familiennachlass von Welck, Curt Robert von Welck, unfoliert, Tagebucheintrag vom 1. Mai 1802. 66 Ebd., Tagebucheintrag vom 4. bis 17. Februar 1800. 67 Ebd., Tagebucheintrag vom 11. Februar 1800.

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Publikationen zur Dresdner Stadtgeschichte annehmen.68 Als Kunden muss man auch an die vermögenden Käufer denken, die vom Lande anreisten, um sich in der Resi- denzstadt Dinge zuzulegen, die für das Gros der Landbewohner unerreichbar waren. Man konnte daher seinen sozialen Status schon dadurch sichtbar machen, dass man Gegenstände in Dresden erwarb, die in Meißen nicht zu bekommen waren. Damit lassen sich einige der Triebfedern, die in England die Entwicklung der Konsum - gesellschaft in Gang setzten, in Sachsen zumindest teilweise auch finden. Die Mode der Vornehmen wechselte rasch, Luxuskonsum und die Distinktion durch Kleidung drangen von der Residenz aus in die Provinz vor. Es wäre nun eigentlich spannend, herauszufinden, welche Formen von Marketing und Werbung in Sachsen um 1800 schon vorhanden waren. Eine Teilantwort ermög- licht immerhin die Studie von Susanne Schötz über Handelsfrauen in Leipzig, die mit Verweis auf die englische Konsumforschung konstatiert, dass im 18. Jahrhundert auch bei den niedrigen Sozialformationen der Bedarf an Modewaren anwuchs.69 Das habe in Leipzig zum Aufschwung des Kleinhandels in der „Putz- und Modebranche“70 bei- getragen. Accessoires seien nämlich auch von den weniger Wohlhabenden nachgefragt worden. Denn mit „Borten, Schleifen, Knöpfen, Bändern und Halstüchern“ konnte man auch, „ohne viel Geld“ auszugeben, seinem „Äußeren einen modischen Anstrich verleihen“.71 Der Kleinhandel mit diesen sogenannten ‚Putz- und Mode waren‘ war in Leipzig aber nur während der Messen gestattet. Ein Handelsherr oder Kaufmann durfte en gros jederzeit mit Modeaccessoires han- deln. Aber die Frauen, die den Kleinhandel betrieben, unterlagen einer geradezu neidischen Aufsicht der verschiedensten städtischen Handwerker. Die Leipziger Innungen sahen allenthalben ihr eigenes Geschäft geschädigt. Denn außerhalb der Messezeiten durften die Frauen, die auf den Messen den Detailverkauf* betrieben, ausschließlich auf Bestellung produzieren. Zudem war ihnen nur gestattet, Selbst- produziertes zu verkaufen.72 Schötz führt ein eindrucksvolles Beispiel an, das aufzeigt, wie hinderlich diese Marktbedingungen für die Entwicklung von Mode waren. Im Jahre 1791 hatte eine Erdmuthe Dorothee Erbe im Leipziger Zeitungsblatt Nr. 248 inseriert, sie habe „ganz vorzüglich schöne französische Damenmoden aus Paris“ er-

68 Vgl. Sieglinde Nickel-Richter: Aufstieg zur Residenzstadt von europäischem Rang (1648 bis 1763). In: Dresden. Die Geschichte der Stadt von den Anfängen bis zur Gegenwart. Dresden: Junius 2002, S. 81; dies.: Handel, Handwerk, Manufaktur und Fabrik. In: Geschichte der Stadt Dresden. 2. Bd.: Vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zur Reichsgründung. Hg. v. Reiner Groß. Stuttgart: Theiss Verlag 2006, S. 359. 69 Vgl. Susanne Schötz: Handelsfrauen in Leipzig. Zur Geschichte von Arbeit und Geschlecht in der Neuzeit. Köln: Böhlau 2004, S. 338. 70 Ebd. 71 Ebd. 72 Vgl. ebd., S. 338f.

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halten.73 Die Detailhändlerin Erbe kündigte an, diese Ware während des Christ - marktes in Auerbachs Hof anzubieten. Frau Erbe wurde daraufhin „wegen öffentlichen Feilhaltens und Verkaufs verschiedenen Frauenzimmerputzes und Galanterie Waaren“74 vernommen und bestraft. Bei der Befragung hatte Frau Erbe zwar zu Protokoll ge - geben, sie verkaufe gar keine Hüte aus Paris. Vielmehr habe sie sich Modelle aus Paris besorgt. Die Kundinnen könnten diese Vorlagen (einen Hut, eine Halbhaube und einen Aufsatz) ansehen und sich dann von ihr „dergleichen nachmachen“75 lassen. Aber das half nichts, denn die Leipziger Kramer, die als Innung der legitimierten Ein- zelhändler gegen Frau Erbe vorgingen, setzten sich mit ihrer Argumentation durch. Demnach durfte eine „Putzmacherin … [außerhalb von Messen] blos Damesputz [d. h. Damenaccessoires] fertigen“.76 Sie konnte dazu in ihrem Haus Bestellungen annehmen und die fertigen Gegenstände auch an ihre Kunden ausliefern. Sie durfte aber kein „offenes Gewölbe“77 halten, also keinen freizugänglichen Handel treiben. Es war ihr untersagt, einen Marktstand mit Galanteriewaren öffentlich zugänglich aufzuschlagen. Dieses Privileg zum Detailhandel lag eben bei den Krämern. Der Fall belegt, dass es noch keine freie Konkurrenz auf dem Markt gab. Die Innungen konnten den freien Warenverkehr noch erheblich beschränken, wenn sie ihre Vorrechte in Gefahr sahen. Das ist die frühneuzeitliche Ausgangssituation, aus der sich ein modernes Handelsnetz entwickelte. Der europäische Handel funk- tionierte bis in das 19. Jahrhundert hinein in der Stadt über Märkte (häufig Wochen- märkte) und auch bereits über Läden. Auf dem Lande, wo in den Dörfern grund- sätzlich weder Läden noch Märkte gestattet waren, übernahmen typischerweise Hausierer das Verteilen von Waren.78 In Sachsen war diese Regel im ausgehenden 18. Jahrhundert allerdings weithin durchbrochen, weil sich der Dorfhandel schon weit ausgebreitet hatte.79 Erst während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzten sich in ganz Deutschland auch auf dem Land die Läden als typische Vertriebsformen

73 Ebd., S. 340. 74 Ebd. 75 Ebd. 76 Ebd. 77 Ebd. 78 Zur Entwicklung von Märkten und Handel vgl. Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft (wie Anm. 64), S. 33–45; Heinz-Gerhard Haupt: Konsum und Handel. Europa im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2003, S. 41–43. 79 Belege dazu bieten die Gravamina der kursächsischen Landstände, die aber bislang als Quelle in der Forschung kaum beachtet wurden. Vgl. hingegen: Andreas Denk/Josef Matzerath: Die drei Dresdner Parlamente. Die säch- sischen Landtage und ihre Bauten: Indikatoren für die Entwicklung von der ständischen zur pluralisierten Gesellschaft. Wolfratshausen: Edition Minerva 2000, S. 30f.; Josef Matzerath: Bitten und Beschwerden in eigener Sache. Die Donativschriften der landständischen Ritterschaft. In: Ders. Aspekte sächsischer Landtagsgeschichte. Die Spätzeit der sächsischen Ständeversammlung (1763–1831). Dresden: Sächsischer Landtag 2006, S. 35–38.

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durch. In den Städten begann seit 1870 das goldene Zeitalter der Einzelhandels läden.80 Die rasch wechselnde Mode hatte zumindest in Dresden Einzug gehalten, und die Distinktion durch Kleidung sowie Luxuskonsum drang von der Residenz aus in die Provinz vor. Welche Formen von Marketing und Werbung in Sachsen um 1800 schon vorhanden waren, lässt sich noch nicht sagen. Man darf aber davon ausgehen, dass es an der Spitze der Gesellschaft eine Gruppe von Menschen gab, die bereits umfangreich konsumierte. Der sächsische Handel unterlag aber noch weithin dem Zunftrecht und beschränkte den Warenverkehr zu seinen Gunsten. Eine weithin freie Konkurrenz wie in England gab es in Sachsen noch nicht.

Glossar:

Konsumgesellschaft: eine Gesellschaft, in der sich soziale Gruppen über den Konsum von Waren konstituieren | Trade card: seit dem 17. Jahrhundert beliebtes gedrucktes Werbemedium in der Größe von Visiten- und Postkarten | upper class: im eng - lischen Sprachgebrauch ein Sammelbegriff für höhere Gesellschaftsschichten | Marxismus: Gesellschafts- und Wirtschaftstheorie nach Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895), die von einer schnelleren Entwicklung der „Produktivkräfte“ gegenüber den „Produktivverhältnissen“ ausgeht und deshalb annimmt, dass der fortschreitende ökonomische Wandel die gesellschaftlichen Ver- hältnisse (Recht, Politik, Kultur und Religion) bestimmt. Der Marxismus konsta- tiert für den Kapitalismus die Ausbeutung der ärmeren Bevölkerungsmehrheit als Folge einer Konzentration des Kapitals bei den Inhabern der Produktionsmittel | Verlagswesen: Organisationsform der (frühneuzeitlichen) Wirtschaft, bei der ein Verleger Rohstoffe an einen Heimwerker liefert und diesem die von ihm gefertigten Produkte wieder abnimmt, um sie zu vermarkten | Landtagsmarschall: eine Art Prä- sident in frühneuzeitlichen Parlamenten, siehe auch ‚Erbmarschall‘ | Landstände: setzten sich i. d. R. aus dem Adel, den Vertretern der Städte und der größeren geist- lichen Institutionen (z. B. Kollegiatstifte) eines vormodernen Territo riums zusam- men. Sie vertraten auf den frühneuzeitlichen Ständeversammlungen die Interessen des Landes gegenüber dem Landeherrn | Ritterschaft: Die Gesamtheit der Mitglie- der der kursächsischen Ständeversammlungen/Landtage setze sich aus drei sog. „Corpora“ zusammen, von denen eine die Ritterschaft bildete, die sich

80 Vgl. Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft (wie Anm. 64), S. 33–45.

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selbst wiederum aus Vertretern des rittergutsbesitzenden niederen Adels zusam- mensetzte. Die anderen Corpara bildeten die Städte sowie die Prälaten, Grafen und Herren | Ständeversammlung: bis zur Einführung der ersten sächsischen Ver- fassung 1831 die herrschende Form der Landtage in Sachsen | Erbmarschallamts- verweser: Der Erbmarschall stand der Gesamtheit der auf den Landtagen vertre - tenen Landstände vor und trug die Anliegen derselben vor dem Landesherrn vor. Er gehörte in Kursachsen traditionell dem Adelsgeschlecht von Löser an. Konnte die Familie zwischenzeitlich kein männliches Mitglied stellen, wurde vorüber - gehend ein Amtsverweser (Verwalter) aus dem kursächsischen Adel rekrutiert. Im Königreich Sachsen gab es Erbmarschälle bis Landtag 1817/18. Nachdem auf dieser Ständeversammlung die landständische Vertretung des durch den Wiener Kongress verkleinerten Königreichs Sachsen neu gegliedert worden war, stand seit dem Landtag 1820/21 ein Landtagsmarschall an der Spitze des Parlaments | Ober- kammerherr: Die Kammerherrenwürde war ein Amt und Titel an europäischen Fürsten- und Königshöfen, aber häufig nur ein Ehrentitel ohne konkretes Auf - gabenfeld, abgesehen von der Gesellschafterrolle für den Herrscher. Seltener waren mit dem Amt Sekretärs-, Gesandten- oder Servicedienste bei Hof verbunden, die aber stets der Würde eines Adligen entsprechen mussten. Der Oberkammerherr stand als Ranghöchster der Gesamtheit der Kammerherrn, Kammerjunker und Kammerpagen eines Hofes vor | Initiationsritus: erstmaliges Beiwohnen oder feierliche bzw. symbolische Aufnahme in eine Institution oder soziale Gruppe | Detailverkauf: Form des Einzelhandels, die sich auf die Vermarktung eines be- stimmten Produkts spezialisiert

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Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Sachsen und Nordböhmen in den Jahren 1750–1914

Jan Němec

Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Sachsen und Nordböhmen in den Jahren 1750–1914

Die nordböhmische Grenzregion, in der seit dem 13. Jahrhundert auch viele Deutsche lebten, wurde schnell zur Heimat der Textilherstellung, vor allem der Tuch- und Leinen - macherei. Die Herstellung von Tüchern und Leinensstoffen hing dabei stark mit der Entwicklung des Textilwesens im sächsischen Grenzgebiet und im Markgraftum Oberlausitz zusammen, das bis zum Jahr 1635 Teil der Böhmischen Krone war. Durch die Auswanderungswelle nach Erlass der sogenannten Verneuerten Landesord- nung von 1627, durch den langandauernden Dreißigjährigen Krieg und durch Krank- heitsepidemien kam es in Böhmen zu einem erheblichen Bevölkerungsrückgang, der einen wirtschaftlichen Zusammenbruch zur Folge hatte. Dies führte mit der Zeit auch zu einer technologischen Rückständigkeit gegenüber dem Nachbarland. Erst seit Beginn des 18. Jahrhunderts konnte nach und nach eine funktionierende Wirtschaft wieder aufgebaut werden. Im beträchtlichen Maße halfen dabei auch ausländische Fachleute, die unter dem Versprechen materieller Privilegien, die der Landesherr oder der ansässige Adel gewährte, aus ihrer Heimat abgeworben wurden. In Nordböhmen bezog sich dies vor allem auf sächsische Fachleute, die ihre Fertigkeiten an die örtlichen Untertanen vermittelten sollten. Diese sächsischen Fachleute wiederum hatten ihr Know-how von gutbezahlten holländischen, französischen und englischen Experten übernommen oder auch durch eine weit verbreitete ‚Industriespionage‘ erlangt. Gerade die Herstellung von kompliziert gemusterten Leinenstoffen, wie Damast*, konnte nach englischem Vorbild in der Rumburger und Bürgersteiner Herrschaft abgesichert werden.

I. Unter dem Schutz der Obrigkeit

Bereits im Jahr 1699 sprach die böhmische Statthalterschaft der Regierung eine Emp- fehlung aus, dem Beispiel einiger umliegender Länder zu folgen und fremde Fachleute ins Land zu holen. Um diese anzulocken, sollten sie Privilegien, Unterkünfte und alles Nötige erhalten, wenn sie in die österreichischen Länder kämen und sich nie- derließen wollten.1 Mit dem Hoferlass vom 15. August 1750 mussten die ‚Ausländer‘

1 Vgl. Arnošt Klíma: Manufakturní období v Čechách. Prag: Vyd. Nakl. Československé Akad. Věd 1955, S. 123.

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(gemeint sind ausländische Fachleute) auf österreichischem Gebiet nicht einmal eine Entlassungsurkunde oder einen Pass (‚Kundschaft‘) nachweisen, wenn sich die Be- hörden in den jeweiligen Heimatländern weigerten, ihnen diese auszustellen.2 Mit der Damastweberei begannen beispielsweise die Gebrüder Friedrich und Chris- toph Lange im Jahr 1666 in Großschönau, die die Herstellungstechnik in Holland erlernt hatten. Dorthin hatte sie der Zittauer Stadtrat geschickt, um Erfahrung zu sammeln. Der örtliche Tischler Christoph Krause baute ihnen auf Grundlage von Zeichnungen einen speziellen Webstuhl. Die Modelldrucke der Stoffe stellte der aus dem nahe gelegenen Hennersdorf (gemeint ist offensichtlich Seifhennersdorf) gebür- tige Christoph Löffler her. Löffler soll sich dann in Großschönau des Mordes aus Eifersucht schuldig gemacht haben und flüchtete vor der Strafverfolgung ins benach- barte Warnsdorf (Varnsdorf). Dort trat er zum Katholizismus über und setzte seine Aktivitäten im Modelldruck fort.3 Der gut informierte Warnsdorfer Chronist Alois Palme bestätigt tatsächlich, dass Christoph Löffler in Warnsdorf zum ersten Muster- zeichner für Damaststoffe wurde, die Christoph Reinisch als erster dort herstellte.4 Ein Christoph Löffler heiratete am 28. September 1684 in Warnsdorf Anna Maria Wurm, die Tochter eines örtlichen Häuslers*.5 Obgleich man die Herkunft von Neu- vermählten damals noch nicht registrierte, und sich somit der Bräutigam nicht zu einhundert Prozent identifizieren lässt, handelt es sich wahrscheinlich um den be- nannten Musterzeichner. Das Dorf Großschönau wurde bis 1750 zu einem bedeutenden Zentrum der Damast - herstellung. Weil der Zittauer Stadtrat die lokalen Produzenten mit hohen Steuern belastete, wanderten viele Weber innerhalb von drei Wellen ins preußische Schle- sien aus, wo ihnen König Friedrich II., genannt der Große, weitaus bessere Arbeits- bedingungen zusicherte. Auch Adelige in Böhmen bemühten sich um die sächsi- schen Weber. Ihnen wurde eine staatliche Prämie in einer Höhe von 25 bis 50 Talern zu gesichert, wenn sie einen Damast-Webstuhl im Böhmischen aufstellten. Dem Besitzer der Herrschaft Bürgstein, Graf Joseph Johann Maximilian Kinsky, gelang es 1755 auf diese Weise den Damastproduzenten Johann David Krause aus Groß- schönau anzuheuern. Krause baute im Herrschaftsgebiet Bürgstein mehrere Web-

2 Vgl. Wenzel Gustav Kopetz: Allgemeine österreichische Gewerbs-Gesetzkunde, oder systematische Darstellung der gesetzlichen Verfassung der Manufacturs- und Handelsgewerbe […] des österreichischen Kaiserstaates. I. Band. Wien: Volke 1830, S. 302. 3 Vgl. Friedrich August Czischkowsky: Zeit- und Ortsgeschichte von Großschönau. Großschönau: o. V. 1887, S. 447. 4 Vgl. Alois Palme: Warnsdorf mit seinen historischen Denkwürdigkeiten von dessen Gründung an bis zum Jahre 1850. Böhmisch Leipa: o. V. 1852, S. 15. 5 Vgl. Státní oblastní archiv v Litoměřicích (dále SOA Litoměřice), Sbírka matrik, Matrika narozených, oddaných a zemřelých Varnsdorf, sign. L 169/2, S. 293b.

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stühle auf und unterrichtete die örtlichen Weber in der Herstellung von Damast und Barchent. Kinsky konnte so im neu gegründeten Dorf Haida (Nový Bor) im Jahr 1756 eine Manufaktur eröffnen und an zwölf Webstühlen die begehrten Texti- lien herstellen.6 Neben Krause arbeiteten 1757 in der Herrschaft weitere zwanzig säch sische Weber (als ‚Leinwand-Fabricanten‘ bezeichnet) und weitere Spezialisten, z.B. die Weber Gottfried Christoph und Johann Gottfried Schöbel aus Eibau, der Färber Christoph Ehrenfried Maucke, Johann Georg Müller aus Eckersdorf (heute Freital).7 Neben Sachsen wirkten hier auch weitere Fachleute aus den deutschen Ländern mit (Vogtland, Thüringen, Bayern). Aus England kam John Nurse, der als Mitinhaber des Handelshauses ‚Francklin & Nurse‘ in Rumburg fungierte. Ihr evan- gelischer Glaube, wegen dessen vor einhundert Jahren ganze Züge von Menschen das Land verlassen hatten, wurde auf Grund der wirtschaftlichen Erfordernisse vom Staat toleriert. Somit konnte Johann David Krause als Protestant im Dorf Pihl (Pihel) leben und hier Damast in eigener Regie herstellen, möglicherweise auch mit Hilfe weiterer säch- sischer und böhmischer Weber. Man spricht sogar von der ‚Damastweberkolonie‘.8 Krause starb am 30. Juni 1772 in Pihl, beerdigt wurde er aber in seinem Geburtsort.9 Seine Webstühle kaufte daraufhin der Warnsdorfer Unternehmer Joseph Stolle, der Weber aus Großschönau an ihnen arbeiten ließ.10

II. Die ersten böhmischen Manufakturen

Nicht nur Herrschaftsbesitzer warben sächsische Weber und Fachleute an, sondern auch große Textilunternehmer, wie zum Beispiel Johann Joseph Leitenberger, der sich vom Webergesellen zu einem der reichsten Männer in Österreich emporgearbeitet hatte.11 Um seinen Webern genügend Baumwollgarn zuzusichern, errichtete er ab dem Jahr 1770 Spinnereien in Prag, Komotau (Chomutov), Klösterle (Klášterec nad Ohří) und Münchengrätz (Mnichovo Hradiště). In den Städten gab es eine ausrei- chende Anzahl von Leuten, die keine Frondienste leisten mussten und somit in der

6 Vgl. Klíma, Manufakturí období v Čechách (wie Anm. 1), S. 415. 7 Vgl. SOA Litoměřice, Sbírka matrik, Matrika narozených, oddaných a zemřelých Sloup, sign. L 143/6. 8 Vgl. Frank Nürnberger: Die Geschichte der Oberlausitzer Textilindustrie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Spitzkunnersdorf: Oberlausitzer Verlag 2007, S. 118. 9 Vgl. SOA Litoměřice, Sbírka matrik, Matrika narozených, oddaných a zemřelých Sloup, sign. L 143/6, S. 285. 10 Palme nennt fälschlich das Jahr 1770, vgl. Palme, Warnsdorf mit seinen historischen Denkwürdigkeiten (wie Anm. 4), S. 16. 11 Vgl. Hermann Hallwich: Firma Franz Leitenberger 1793–1893. Eine Denkschrift. Prag: Verl. des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen 1893.

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Manufaktur arbeiten konnten. Mit dem Hofdekret von Kaiserin Maria Theresia vom 12. Mai 1769 wurde es Protestanten ausdrücklich erlaubt, im Königreich Böhmen „Arbeit bei Zunftmeistern und in Betrieben“ anzunehmen. So konnte Leitenberger viele Weber mit ihrer gesamten Familie aus Sachsen gewinnen, um das Arbeitsniveau in seiner neuerrichteten Prager Spinnerei anzuheben.12 Andersgläubige konnten, wie schon gesagt, ab dem Jahr 1769 in Österreich arbeiten, aber es war ihnen nicht erlaubt, sich auf böhmischem Gebiet niederzulassen, d.h. sie durften keinen Besitz erwerben oder in Zünfte eintreten.13 Dies ermöglichte erst das Toleranzpatent von Kaiser Joseph II., welches am 13. Oktober 1781 erlassen wurde. Im Jahre 1784 konnte so eine evangelische Gemeinde in Haber (Habřina) bei Auscha (Úštěk) entstehen, welche bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts die evangelische Seelsorge für ganz Nordböhmen leistete.14 In den von den Haberner Vikaren geführten Kirchenbüchern lassen sich sowohl Informationen zu den einzelnen ausländischen Unternehmern finden, die größtenteils evangelischen Glaubens waren, wie auch über ihre gegenseitigen Beziehungen innerhalb des er- fassten Gebiets.15 Für eine Kindstaufe standen als Paten in aller Regel Verwandte, Mitinhaber des Geschäfts, Angestellte oder andere Mitglieder der Habener Unter- nehmerfamilien zur Verfügung. Nach Erlass des Toleranzpatents fanden vor allem in den deutschsprachigen Gebie- ten sächsische und andere ausländische Gesellen und Arbeiter in den neugegrün- deten Manufakturen eine Arbeit. Einige von ihnen wurden in den Druckereien für Baumwolltextilen (‚Kattundruckerey‘), die seit 1787 in Böhmisch Leipa (Česká Lípa) und Umgebung, entstanden waren, beschäftigt. „Der Zulauf verschiedenster Leute aus allen Gegenden Deutschlands“ brachte nach dem örtlichen Dekan Anton Krombholz freizügigere Sitten in die Stadt. Seine Eintragung in die Ortschronik stammt zwar aus einer späteren Zeit, stellt aber am ehesten die Verhältnisse zu Be- ginn des 19. Jahrhunderts dar, als hier bereits eine starke ausländische Gemeinde lebte.16 Die Matrikel führen beispielsweise den Arbeiter in einer Kattunweberei – Christoph Bundesmann aus Burghardsdorf (1798), Johann Gottfried Schmidt aus Liebau (1799), Friedrich Zschoke – Graveur von Druckformen aus Unterberg bei Freiberg (1802) und viele weitere an.17 Der Schornsteinfegermeister Franz Brinnich

12 Klíma, Manufakturí období v Čechách (wie Anm.1), S. 409. 13 Vgl. Kopetz, Allgemeine österreichische Gewerbs-Gesetzkunde (wie Anm. 2), S. 314. 14 Vgl. Josef Jarschel: Geschichte der Stadt Auscha. Auscha: Verlag der Stadt Auscha 1922, S. 257ff. 15 Vgl. SOA Litoměřice, Sbírka matrik, Evangelický sbor v Habřině, sign. N4. 16 Státní okresní archiv Česká Lípa, Děkanský úřad Česká Lípa, Liber memorabilium decanatus Lippensis ab anno 1797, ev. č. 70, S. 28. 17 Vgl. SOA Litoměřice, Sbírka matrik, Matrika narozených, oddaných a zemřelých Česká Lípa, sign. L 19/1.

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berichtet, dass in der Zeit der Napoleonischen Kriege das einheimische Personal in den Fabriken, welches eingezogen wurde, durch ausländisches ersetzt wurde.18 Im Jahre 1844 war aber bereits die Mehrheit der Arbeiterschaft in Böhmisch Leipa lokalen Ursprungs.19

III. Zwischen Gesellen und Meistern

Es gab auch andere Fremde, die glaubten, in Österreich ihre unternehmerischen Ziele besser voranbringen zu können. Als sehr gutes Beispiel kann der Lebenslauf des 1767 in Markersdorf bei Görlitz geborenen Schlossers Gottfried Preußger gelten. Er hatte höchstwahrscheinlich in Sachsen gelernt und ging im Jahr 1791 als Geselle nach Prag, wo er ein halbes Jahr bei einem unbekannten Meister verbrachte. 1792 ging er noch einmal in die Lehre und zwar bei dem Schlosser Franz Menschel, einem Ältesten der Siebenzunft* in St. Georgenthal (Jiřetín pod Jedlovou).20 Warum er nochmal im Alter von 25 Jahren eine Lehre begann, ist nicht ganz klar. Entweder genügte die in der Heimat erlange Qualifikation nicht, um sich in Österreich niederzulassen, oder er wollte sich in einer neuen Technik weiterbilden. Die zweite Variante scheint wahr- scheinlicher, denn der technisch begabte Preußger begann Anfang des 19. Jahrhun- derts, Maschinen zum Verspinnen von Baumwolle anzufertigen. Zudem eröffnete er ein Geschäft im Textilgewerbe, da er in seiner Heimat ein Textilhandwerker war. Auf diese Weise kam er in Kontakt mit den modernen Textilmaschinen, die nach Ark - wright und Crompton in Englang gebaut wurden, und die er daraufhin im technisch weniger entwickelten Österreich nachbauen wollte.21 In St. Georgental heiratete er Katarina, die Tochter des Webers Friedrich Ohme, und am 13. Mai 1795 wurde er durch Handschlag mit dem Vogt Franz Richter in Böhmisch Kamnitz (Česká Kamenice) zum Untertanen der gleichnamigen Herrschaft, die dem Grafen Kinsky gehörte.22 Daraufhin konnte er sich in der Stadt Schönlinde (Krásná Lípa) niederlassen, Meister werden und hier sein Handwerk ausüben. Er trat am 2. August 1795 in die Siebenzunft in Schönlinde ein und quartierte sich mit seiner

18 Vgl. Karel Novotný: Severočeští tiskaři kartounu v první polovině 19. století. Prag: Vydavatelství Karolinum 1993, S. 96. 19 Vgl. ebd., S. 97. 20 Státní okresní archiv Děčín (dále SOkA Děčín), Sedmerácký cech Jiřetín pod Jedlovou, Výuční list Gottfrieda Preußgera, inv. č. 3, kart. 1. 21 Angst vor ausländischer Konkurrenz veranlasste 1775 das englische Parlament zu einem Ausfuhrverbot für Textilmaschinen. Textilunternehmer vom europäischen Kontinent warben in England deshalb für große Geld- summen Mechaniker, die darauf Spinn- und andere Maschinen für deren Betriebe bauten; 22 vgl. SOkA Děčín, Sedmerácký cech Krásná Lípa, Výuční a mistrovské listy kovářů a zámečníků, inv. č. 6, kart. 1.

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Frau im Haus des Schmieds Münzel ein, wo in den Jahren 1796 und 1798 die Söhne Gottfried und Augustin geboren wurden.23 Die anderen Söhne Anton und Johann kamen bereits im neuen Haus Nummer 31 am Rand der Stadt zur Welt, das in den Jahren 1801/1802 gebaut wurde.24 Ein Jahr nach dem Tod der Ehefrau Katarina 1813 heiratete Preußger Theresia, die Tochter des lokalen Schöffen Gottfried Schindler, mit der er weitere sechs Nachkommen zeugte. In den Jahren 1819–1824 war er Vorsitzender der Schönlinder Siebenzunft, und in dieser Zeit bildete er seinen erstgeborenen Sohn aus, der allerdings aus unbekanntem Grund nicht im väterlichen Handwerk arbeitete. In die Fußstapfen des Vaters trat dagegen der jüngere Sohn Johann, der nach Preußgers Tod am 16. Mai 1833 das Haus und die Werkstatt übernahm. Die Preußgers blieben dem Handwerk bis zum Beginn des Zwei- ten Weltkrieges treu, dann übernahm der Ingenieur Rudolf Lehnert den Betrieb.25 Der Begründer der familiären Schlossertradition, Gottfried Preußger, war nicht nur ein geschickter Schlosser und Schmied. 1812 errichtete er in Schönlinde eine Baum- wollspinnerei, die mit einer selbst konstruierten Spinnmaschine ausgestattet war. Zudem baute er weitere ‚mechanische Werke‘, über die die damals in Brünn (Brno) erschienene Zeitschrift Hesperus mehrmals berichtete.26 „Gottfried Preußger ist zwar ein geborner Sachse, er hat sich aber durch seinen langjährigen Aufenthalt hier ganz nationalisiert und ansässig gemacht“, und er fand Anerkennung bei den Experten des Prager Polytechnikums.27 In den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts stellte sein Unternehmen Brückenwagen her, die im Ausland einen guten Absatz fanden.28 Eine von ihm überlieferte Arbeit war auch das Geländer der langen Zugangstreppe zur Schönlinder Kirche der Hl. Maria Magdalena, die mit Kanonenkugeln geschmückt war, die 1813 in einem verlassenen französischen Militärlager bei Schönlinde gefunden worden waren.29 Ähnlich wie Preußger lernten seit dem Ende des 18. Jahrhunderts viele Handwerker aus Sachsen, aber auch aus entfernteren Gegenden, bei den örtlichen Zunftmeistern im Schluckenauer Zipfel. Davon zeugen Eintragungen in die Quartalbücher, Auszüge aus den Matrikeln, Wohlverhaltungszeugnisse, manchmal auch Lehrbriefe.

23 Vgl. SOkA Děčín, Sedmerácký cech Krásná Lípa, Kvartální kniha 1739–1826, inv. č. 1, ev. č. 1. 24 Vgl. Johann Vatter: Stadt Schönlinde, Auszüge aus den Grundbüchern u. Fassionsbüchern in Rumburg und Prag, S. 34. 25 Die Maschinenschlosserei der Familie Preußger befasste sich vor allem mit der Installation von Zentralheizungen und sanitären Einrichtungen, wie auch mit Transmissionsmechanismen für örtliche und umliegende Fabriken. 26 Vgl. Robert Lahmer: Gedenkbuch der Stadt Schönlinde. Böhmisch Leipa: Künstner 1900, S. 132. 27 Franz Alois Mussik: Der Markt Schönlinde und dessen eingepfarrte Ortschaften. Prag: Haase 1820, S. 103. 28 Vgl. K. J. Kreuzberg: Skizzirte Uebersicht des gegenwärtigen Standes und der Leistungen von Böhmens Gewerbs- und Fabriksindustrie in ihren vorzüglichsten Zweigen. Prag: Kronberger und Weber 1836, S. 45. 29 Vgl. Lahmer, Gedenkbuch der Stadt Schönlinde (wie Anm. 26), S. 102.

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IV. Auf Schmugglerpfaden

Während der Napoleonischen Kriege standen Sachsen und Österreich zwar auf ver- schiedenen Seiten. Beide Länder profitierten aber merklich vom Boykott englischer Waren durch die Kontinentalsperre Napoleons (1806–1814). Das Aussperren der eng- lischen Waren ermöglichte eine rasante Entwicklung des heimischen Gewerbes auf beiden Seiten der Grenze. Das Ende der Kontinentalsperre brachte große Schwierig- keiten für die sächsischen und österreichischen Unternehmer, denn sie konnten mit den weitaus billigeren Erzeugnissen aus England nicht konkurrieren. In den Jahren 1816 bis 1825 beispielsweise sanken die Preise für Baumwollerzeugnisse beträchtlich, was zum massenhaften Bankrott unter den Herstellern und Händlern auf beiden Sei- ten der Grenze führte. In Pirna mussten die örtlichen Manufakturen zum Bedrucken von Baumwollstoffen ihre Arbeit mangels Rentabilität einstellen.30 Zwar lockte der große österreichische Markt schon seit dem 18. Jahrhundert zuneh- mend sächsische Unternehmer an, aber Österreich schützte seinen Binnenmarkt durch hohe Einfuhrzölle. Weil die Zollbarriere allerdings mehr auf Vorschriften rekurrierte als auf einer wirklichen Bewachung der Grenze, florierte im sächsisch- böhmischen Raum der Schmuggel auf nie dagewesene Weise. Die sächsischen Be- hörden tolerierten anfänglich die Schmuggelei.31 So gab der sächsische Zollbeamte Scheffler im März 1790 vor einer Kommission, die klären sollte, ob Waren (vor allem Zucker und Kaffee) tatsächlich über die Grenze gelangten und zollfrei in der Umgebung von Pirna gehandelt wurde, an, dass ein Teil über den Grenzübergang Hellendorf/ Peterswald (Petrovice) auf Fuhrwerken geschmuggelt werde. Weiterhin nutzten die Schmuggler Pfade, die zwischen den Felsen bei den Dörfern Cunners- dorf, Rosenthal, Markersbach, Bienhof, Oelsengrund, Breitenau, Fürstenau und Fürstenwalde entlangführten. Die Schmuggler, sowohl Männer als auch Frauen, kamen hauptsächlich aus Böhmen, und obwohl ihnen peinliche Strafen drohten, machten sie sich fast täglich durch die tiefen Wälder und Felsschluchten der Säch- sisch-Böhmischen Schweiz nach Pirna auf, von wo sie ungefähr 3.000 bis 4.000 Zentner (154 bis 205 Tonnen) unterschiedlichster Waren nach Böhmen brachten. In Pirna erhielten die Schmuggler Passierzettel, die der besagte Zollbeamte zerrissen am Rand der Grenzpfade gefunden hatte.32 Ähnlich schmuggelte man auch im Raum Bad Schandau/Sebnitz; ein Eldorado der Schmuggler war Leutersdorf in der Oberlausitz, das bis 1849 eine böhmische Enklave in Sachsen war. Hier schmuggel-

30 Vgl. Hugo Jensch: Zur Industriegeschichte . Versuch eines Überblicks. In: Pirnaer Hefte 2/1999, S. 66ff. 31 Der Schmuggel wurde damals als ‚Grenzhandel‘ bezeichnet. 32 Vgl. Jörg Ludwig: Kolonialwaren, Schleichhandel nach Böhmen und Kattundruck in Pirna 1775–1825. In: Pirnaer Hefte 5/2003, S. 93.

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ten auch Räuberbanden, von denen die bekannteste der sagenhafte Johannes Kar- raseck führte. Man schmuggelte aber nicht nur Zucker und Kaffee. Die Schmuggler brachten eingelegten Meeresfisch (Heringe), in Pirna hergestellte Stoffe, Porzellan und Steingut sowie Baumwollgarn für die maschinelle Verarbeitung über die Grenze. Grund für den grenzübergreifenden Schmuggel war die hohe Arbeitslosig- keit der einheimischen Spinner, genannt Barfüßler, in der Rumburger Gegend. Im Jahr 1820 entdeckten österreichische Beamte große Lager mit geschmuggelter Waren, was dazu führte, dass die Bewachung der österreichischen Staatsgrenze ver- schärft wurde.33 In der Oberlausitz vermeldete man noch im selben Jahr die Einstellung jeglichen Handels mit den Böhmen, weil der Schleichhandel von Garn durch den Zittauer Fabrikanten Ludovici aufgedeckt wurde.34 Dies traf selbstverständlich die sächsischen Leinenhersteller äußerst hart. Die Weber aus Sebnitz klagten daraufhin im Jahr 1826 über die Menge von Zollaufsehern, die die böhmische Grenze damals streng bewach- ten, sowie über die Zollanordnung vom 23. März 1822, da diese ihnen hohe Zoll - gebühren für den Einkauf von ausländischem (d. h. böhmischem) Garn auferlegte, das für die Herstellung von starkem Leinen nötig war.35 Im Jahr 1829 stationierte man Grenzjäger, deren Aufgabe es war, den illegalen Grenzübertritt durch Personen zu verhindern und den Schleichhandel zu bekämpfen. Sie konnten zudem auch für Polizei- und Militäraufgaben eingesetzt werden.36 Diese Maßnahme senkte den Umfang geschmuggelter Waren auf ein Minimum. Nicht nur der Leinenweberei bereitete die Schließung der Grenzen Sorgen, sondern auch dem Hersteller von modischem Keramikgeschirr und Pfeifenköpfen Eugen Leyhn aus Pirna, der seine Waren in den nordböhmischen Bäderzentren und bei Ignaz Rösslers Manufaktur zur Herstellung von Eisenwaren in Nixdorf (Mikulášovice) ver- kaufte. Johann Eugen Philipp Leyhn wurde 1773 in Neuwied (bei Koblenz) geboren und hatte in Manufakturen in Ansbach, Prag und Wermsdorf (Schloss Hubertusburg) in der Herstellung von Porzellan und Steingut gearbeitet, In Wermsdorf machte er sich im Jahr 1812 selbstständig und begann, Pfeifenköpfe aus Keramik herzustellen. 1815 kaufte er ein Grundstücke in der Pirnaer Vorstadt, auf dem die Ruine der abgebrann- ten ‚Neumühle‘ am Flüsschen Gottleuba stand, und baute hier eine Manufaktur zur

33 Vgl. Palme, Warnsdorf mit seinen historischen Denkwürdigkeiten (wie Anm. 4), S. 78f. 34 Vgl. ebd., S. 105. 35 Vgl. Martin Dietrich: Wirtschaftsgeschichte der Sächsischen Schweiz. 2. Teil: Mensch und Technik. Dresden: Volkmann 1936, S. 10ff. 36 Vgl. Slavomír Brodesser u.a.: Celnictví v Československu: Minulost a přítomnost. Prag: Naše Vojsko 1982, S. 90.

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Herstellung von Steingutgeschirr, Pfeifenköpfen und später auch technischer Kera- mik. Der Betrieb wurde im Jahr 1817 aufgenommen, und Leyhns Manufaktur in Pirna produzierte bis zu seinem Tod im Oktober 1847.37 Mit seinen Wedgwood*-Imitaten hatte Leyhn vor allem in Teplitz-Schönau (Teplice) großen Erfolg, denn es war nach den jüngsten Kriegen problematisch, elegante und qualitativ hochwertige Souvenirs zu bekommen.38 Den zweiten großen Absatzmarkt für seine Erzeugnisse fand Leyhn in Nixdorf. Der Betrieb von Ignaz Rössler nahm ihm jährlich tausende Tonnen tönerner Pfeifenköpfe ab, die hier mit Deckeln und Pfeifenrohren versehen wurden und weiter nach Galizien, Ungarn, Moldawien, in die Mährische Walachei (Rumänien) und sogar bis in weitentfernte Provinzen des Osmanischen Reiches verkauft wurden, von wo aus ein Teil der Ausfuhr nach Öster- reich zurückkehrte – als originale türkische Erzeugnisse.39

V. Von Pirna nach Hohenstein (Unčín), Bodenbach (Podmokly) und Aussig (Ústí nad Labem)

Als einer der ersten Unternehmer nutzt der am 24. August 1793 in Hubertusburg bei Wermsdorf geborene Karl Friedrich Huffzky die Schließung der Grenzen.40 Nach der Ausbildung in der Hubertusburger königlich-sächsischen Fabrik für Steingut arbeitete er in den Jahren 1815 bis 1820 als Dreher und Modelleur in einer Keramikmanufaktur in Döhlen bei Dresden. Hier heiratete er Juliane Friederike Venus, die Tochter von Christian Benjamin Venus, einem Angestellten in den königlichen Silberbergwerken in Freiberg. Bereits hier dachte Huffzky über die Gründung eines eigenen Betriebes in Böhmen nach. Denn er hatte bei seiner Wanderschaft durch das Teplitzer Tal in einer Kohlegrube bei Preschen (Břešťan), einer verlassenen Gemeinde zwischen Dux (Duchcov) und Bilin (Bílina), ein großes Tonvorkommen entdeckt, das sich hervor- ragend zur Herstellung von Keramik eignete.41 Diese Entdeckung ist nicht genau da-

37 Vgl. Jan Němec: Keramická manufaktura Schiller & Gerbing v Podmoklech a pronikání saských podnikatelů do severních Čech do roku 1850. Ústí nad Labem 2006, Bachelorarbeit an der Jan-Evangelista-Purkyně Univer- sität Ústí nad Labem, Institut für geisteswissenschaftliche Studien. 38 Der Erzieher des Prinzes Alexander Karl von Anhalt-Bernburg, der Kämmerer Karl von Voß, beschwerte sich im Jahre 1822 bei seinem Besuch in Teplitz über die höchst elende und peinliche Qualität der hier verkauften Gra- vüren, Bücher und Kunstgegenstände; vgl. Eine Reise nach Dresden 1822. Aufzeichnungen des Kammerherrn Carl v. Voß. Hg. v. Rüdiger von Voß. Pfullingen: Neske 1986, S. 218. 39 Vgl. Herrmann Hallwich: Nordböhmen auf der Weltausstellung in Wien 1873. V. Heft: Gruppe IX (Stein-, on- und Glas- Industrie). Reichenberg: Jannasch 1873, S. 18ff. 40 Vgl. Státní okresní archiv Teplice, Farní úřad Bohosudov, Soupis duší farnosti (Seelenbeschreibungsbuch), inv. č. 32, ev. č. 30. 41 Vgl. Hallwich, Nordböhmen auf der Weltausstellung (wie Anm. 39), S. 18ff.

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tiert. Es lässt sich aber annehmen, dass Huffzkys Erkundungsreise 1818 stattgefunden hatte. Bereits damals suchte sich Huffzky das passende Objekt aus – das herrschaft- liche Gasthaus im Dorf Hohenstein (Unčín), heute Teil der Stadt Graupen (Krupka) in der Herschaft Sobochleben (Soběchleby).42 Dieses sollte ein gewisser Ignaz Ulbricht mieten, den im Laufe der Jahre 1819 bis 1822 Huffzkys Schwager Friedrich August Venus ablöste. Dieser betrieb das Gasthausgewerbe noch 1833. Vorerst ging Karl Huffzky im Jahr 1820 von Döhlen nach Pirna und stieg als Werks- meister in Leyhns Betrieb ein. Zwei Jahre später zog Huffzky mit seiner Familie, sei- nem Bruder Johann und seinem Schwager Friedrich August Venus, die ebenso bei Leyhn arbeiteten, nach Hohenstein um.43 Noch vor Ende des Jahres 1822 nahm Huffzky mit fünf Hilfskräften (ebenso ehemalige Angestellte E. P. Leyhns) die Pro- duktion von weißem und farbigem Steingut auf. Unter diesen fünf Arbeitern war auch der in Pirna geborene Johann August Tiebach. Der Ton zur Herstellung von Keramik, den Huffzky als ‚Theralyth‘* (Theralyth- oder Wedgwood-Geschirr) be- zeichnete, wurde in der Umgebung von Hohenstein und Preschen abgebaut. Eine zeitgenössische Quelle spricht von einem Keramikofen und einer Produktionsstätte.44 Im Jahr 1823 brachte die Hohensteiner Manufaktur, angeblich als erste in den öster- reichischen Ländern, schwarzes Geschirr nach Vorlagen Wedgwoods auf den Markt.45 Karl Huffzky kam schnell zum Ruf eines ordentlichen und respektierten Bürgers. „In politischer, moralischer und staatsbürgerlicher Beziehung muß demselben Fabrikan- ten Karl Huffzky Wahrheit gemäs bezeugt werden“, schrieb der hohe Beamte der Herrschaft Sobochleben (Soběchleby) Johann Laufberger am 27. Januar 1831,46

dass derselbe nur für sein Geschäft lebt, einen unbescholtenen Lebenswandel führt, – seit seinen 9jährigen ununterbrochenen Aufenthalt auf dem hiesigen Guthe (Sobochleben) sich weder eines polizeylichen Vergehens, noch einer schweren Poli- zey-Uebertretung schuldig machte, die Pflichten eines wahren katholischen Chris- ten,47 Familienvaters und eines schätzbaren friedlichen angehenden Staatsbürgers stets auf das beste erfüllte,48 besondere Achtung gegen die allerhöchsten Gesetze, dann obrigkeitliche und polizeyliche Anordnungen genau und jederzeit bewies,

42 Inhaber der Herrschaft war in dieser Zeit die Kirchenstiftung Mutter Gottes in Mariaschein (Bohosudově). 43 Vgl. SOA Litoměřice, fond: Krajský úřad Litoměřice, inv.č. 3376 (Commerzionale 3), kart. 3840. 44 Vgl. Julius Gierschick: Zur Geschichte der onwaaren-Industrie in Böhmen. In: Mittheilungen des Nord - böhmischen Excursions-Clubs 24 (1901), S. 171. 45 Vgl. SOA Litoměřice, fond: Krajský úřad Litoměřice, inv.č. 3376 (Commerzionale 3), kart. 3840. 46 Ebd. 47 Karl Huffzky war katholisch, seine Frau jedoch evangelisch. 48 Ein Ausländer konnte erst nach zehnjährigem ununterbrochenem Aufenthalt auf dem Territorium der Monarchie, in dessen Verlauf er sich nichts hatte zuschulden kommen lassen, österreichischer Staatsbürger werden.

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und so sich einmal gegen die Sicherheit des gemeinschaftlichen Staatsbundes oder öffentlichen Rechtstandes, noch gegen öffentliche Anstalten und der gemeinschaft- lichen Sicherheit verfänglich machte, vielmehr die Liebe seiner Obrigkeit und Nachbarn im vollen Maaße sich jederzeit erwarb, und bei allem dem auch bei jeder Gelegenheit für die leidende Menschheit und Armen seinen Wohlthätig- keitssinn erweißt.

Karl Huffzky feierte mit seinen Produkten auch auf den Industrieausstellungen in Prag 1828 und 1829 große Erfolge. Auf der Ausstellung 1829 erhielt die Hohensteiner Fabrik die silberne Medaille.49 Die zitierte Einschätzung Laufbergers zu Huffzkys Gewerbe führt weiter an, dass:

er [Huffzky] alle Arten dieser Geschirre, besonders Vasen in verschiedenen Formen und Größen, schwarz und bronziert, Blumentöpfe, Schreibzeuge, Thee- und Kaf- feegeschirr, etc. erzeugt, welche durch ihre gefällige Form und eleganten Ge- schmack, dann Reichheit der Verzierung, richtige Zeichnungen so auszeichnen und beliebt sind, dass dessen Erzeugnisse seit mehreren Jahren nach den entfernten Gegenden des Aus- und Innlandes häufigen Absatz finden, – auch stets bemüht ist, mit dem Zeitgeist der Kunst und seinen Erzeugnissen fortzuschreiten, indem er stets die besten technischen Werke sich anschafft, fortwährend Versuche in seiner Werkstatt macht, und erst kürzlich den Beweis seiner gelungenen Erfindungen lieferte, da er eine eigene Art Dachziegeln erfunden, die mit einem Worte allen Forderungen entsprechen, ja durch seinen ausgedehnten Absatz seine Geschirr- Erzeugung in dieser hier ganz fabrikarmen Gegend, wo der Landmann außer einem kärglichen Feldbau gar keinen Verdienst hat, Jahr aus Jahr ein nebst seinen Gesellen wenigstens 15 Personen beschäftigt, deren Anzahl durch seine gelungene Ziegelfabrikation sich im kurzem bedeutend vermehren kann, jetzt wartet er auf Ertheilung eines Privilegiums zur Erzeugung der von ihm erfundenen Dachziegeln, dessen Erlangung für ihn zum Vortheil, aber für den Staat von großer Wichtigkeit wäre.

Huffzky erhielt das Privileg, im nahen Teplitz-Schönau mit der Unterstützung der Herrschaftsbesitzer Clary und Aldringen eine Manufaktur zur Herstellung von Dach- ziegeln zu gründen. Seinen Hohensteiner Betrieb verkaufte er an seinen Schwager

49 Vgl. Bericht der Beurtheilungs-Commission über die im Jahre 1829 unter der Leitung des böhmischen k. k. Landesguberniums statt gefundene öffentliche Ausstellung der Industrie-Erzeugnisse Böhmens. Prag: Haase 1831, S. 38 u. S. 64.

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Vinzenz Huffzky. Er war sich dessen bewusst, wie einschneidend seine Erfindung war, und bot sie weiteren nordböhmischen Herrschaftsbesitzern an. Am 27. Januar 1837 schloss Huffzky einen Vertrag mit dem Besitzer der Herrschaft Tetschen (Děčín), Graf Franz Anton Thun-Hohenstein, ab, auf dessen Grundlage er die herrschaftliche Zie- gelei in Bodenbach gründete, die eine Produktionsstätte für gepresste Ziegel, Was- serleitungen, Dachziegel und Formen zur Herstellung von Zuckerhüten war. Thun verpflichtete sich, die Gebäude zu errichten, Maschinen und Material zu beschaffen, während Huffzky an der Leitung der Firma beteiligt war und seine Erfindung zur Verfügung stellte. Der Vertrag sollte 1851 nach 15 Jahren auslaufen, allerdings stieg Huffzky bereits 1845 aus dem gemeinsamen Unternehmen mit Thun aus.50 1850 wird er als Besitzer einer Ziegelproduktion in Neustift bei Ofen (bei Buda) genannt.51 Die letzte Erwähnung von Karl Huffzky bringt Hermann Hallwich 1873 (damals war Huffzky 80 Jahre alt).52 Sein weiteres Schicksal ist leider unbekannt. Huffzkys Beispiel folgten auch weitere Kollegen und Landsleute – Wilhelm Leberecht Schiller und Friedrich Vinzenz Meinulph Gerbing, die das Keramikhandwerk in Leyhns Betrieb in Wernsdorf bei Pirna erlernt hatten. Diese ließen sich mit Unter- stützung des erwähnten Grafen Franz Anton Thun-Hohenstein 1828 in Bodenbach nieder. Dort fingen sie an, Pfeifenköpfe für den ehemaligen Abnehmer von Leyhns Pirnaer Betrieb herzustellen – Rösslers Fabrik für Eisenwaren in Nixdorf. Die Manu- faktur der Firma ‚Schiller & Gerbing‘ bestand ursprünglich aus einem Produktions- und Wohnhaus, wo sich der Keramikofen und die Mühle für die Rohstoffe mit Misch- und Schlämmwerk für den Ton am Eulaubach (Jílovský potok) befanden. Die Produktionsgebäude waren gemeinsamer Firmenbesitz, außerdem eigneten sich beide Unternehmer auch einige private Wohnhäuser in Bodenbach und Tetschen an, wo im Jahr 1841 eine Zweigstelle eingerichtet wurde, wo allerdings keine Keramik herge- stellt wurde. Sie wurde offensichtlich nur aus dem Grund errichtet, damit in Tetschen kein Konkurrenzbetrieb, wie der von Adolf Bähr aus Pirna, eröffnete. Die Bodenbacher Manufaktur von Wilhelm Schiller und Friedrich Gerbing produ- zierte neben Pfeifenköpfen auch Zigarettenspitzen, Teeservices, Dessertteller, Blu- menvasen, Blumentöpfe und Schreibsets. Nach Gerbings Tod im Jahr 1848 führte Schiller den Betrieb mit dessen Witwe Karolina weiter. Zwei Jahre später verließ er aber den gemeinsamen Betrieb und gründete im nahen Obergrund (Horní Žleb, heute ebenso Teil der Stadt Děčín) einen eigenen Betrieb unter dem Namen ‚Wilhelm Schiller & Sohn‘, der eine stattliche Prosperität erlangte. Gerbings Erben übernahmen

50 Vgl. Jan Němec: Karl Huffzky a jeho podnikání s děčínskými un-Hohensteiny, Děčínské vlastivědné zprávy, XIII, 2004, Nr. 4, S. 3–24. 51 Neustift bei Ofen (Budín) war ein unabhängiges Dorf an der Grenze von Ofen, heute ein Teil von Budapest. 52 Vgl. Hallwich, Nordböhmen auf der Weltausstellung (wie Anm. 39), S. 18.

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den Bodenbacher Produktionskomplex, in dem sie bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts Keramik produzierten. Neben dem Glaubensunterschied der ausländischen Unternehmer, die einfach als ‚Sachsen‘ bezeichnet wurden, zeichneten sie sich vor allem durch ihr dialektfreies Deutsch und die Zylinderhüte aus.53 Sie pflegten einen Modetourismus, oft reisten sie zu ihren Verwandten und Freunden nach Pirna und Dresden, mit denen sie protestantische Gottesdienste, Theatervorstellungen und Konzerte besuchten. Eine grundlegende Bildung sicherten sie ihren Kindern mit Hilfe von Hauslehrern zu, die aus Sachsen geholt wurden. Schillers und Gerbings Kinder wurden vom Lehrer Ehre - gott Leberecht Preißler aus Dresden unterrichtet. Dieser widmete den Unternehmern eine handschriftliche Sammlung von Zitaten, die sich vor allem auf die Erziehung und das Unterrichtswesen, das Bibelstudium und Fragen des Todes und ewigen Lebens bezogen.54 Auch das anschließende Studium von Schillers Sohn Eduard Gustav erfolgte in Sachsen. Der zukünftige Besitzer der Keramikmanufaktur studierte in den Jahren 1844–1846 das Modellieren von Keramik an der Dresdner Technischen Bildungsanstalt, Vorgängerin der heutigen Technischen Universität.55 Unter den Arbeitern der Firma ‚Schiller & Gerbing‘ waren viele, die in anderen Keramikmanufakturen in Sachsen oder Böhmen gelernt und gearbeitet hatten. Wir stoßen hier auf ehemalige Angestellte der königlich sächsischen Fabrik für Steingut in Hubertusburg, von Leyhns Manufaktur in Pirna, des Hohensteiner Betriebs von Karl und Vinzenz Huffzky, der Manufaktur für Steingut in Parchen (Prácheň-Šelty) und Klum (Chlum), der Porzellanfabrik in Klösterle an der Eger (Klášterec nad Ohří), Chodau (Chodov), Pirkenhammer (Březová) usw. Für einige von ihnen war die Arbeit in Bodenbach nur eine Episode in ihrer lebenslangen Wanderschaft um Unterhalt. Einige blieben eine kürzere Zeit in der Gegend, während andere sich dauerhaft nie- derließen. Zum Aufenthalt genügte ihnen entweder ein Pass, das Wanderbuch der Gesellen oder ein Heimatschein, den sie sich von Zeit zu Zeit in ihrer Heimat - gemeinde bestätigen lassen mussten.56 Nach einem zehnjährigen Aufenthalt auf öster- reichischem Boden konnten sie die österreichische Staatsbürgerschaft bekommen, was außer Unternehmern vor allem diejenigen taten, die sich hier verheiratet und Liegenschaften erworben hatten.

53 Vgl. Rudolf Dörre: Das Schifferdorf Weiher. In: Nordböhmisches Tagblatt, 27.5.1934, 2. Beilage, S. 146. 54 Vgl. SOkA Děčín, Městské muzeum Podmokly, Schiller & Gerbing, továrna na keramiku 1833–1853, Sammlung theologisch- philosophisch- und pädagogischer von mehrern gelehrt anerkannten deutschen Schriftstellern aus- gegangenen Ideen,, inv. č. 21, kart. 2. 55 Vgl. Liste von Studierenden der Technischen Bildungsanstalt (TBA), Polytechnischen Schule (PS), Polytechnikum Dresden (PT) für den Zeitraum (1828–)1836–1887. In: http://tu-dresden.de/die_tu_dresden/zentrale_einrich- tungen/ua/navpoints/archiv/alumni/alumni_az/S, Zugriff am 20.8.2012. 56 Vgl. Němec, Keramická manufaktura Schiller & Gerbing (wie Anm. 37), S. 82.

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Einer der Gesellen, den ‚Schiller & Gerbing‘ von seinem ehemaligen Meister aus Pirna nach Bodenbach holten, war der im Jahr 1802 im Dorf Posta (heute Teil der Stadt Pirna) geborene Modelleur Adolf Bähr. Sein lebenslanges Ziel der Selbstständigkeit erfüllte er sich,indem er im Jahr 1841 von ‚Schiller & Gerbing‘ fortging und einen Kon- kurrenzbetrieb am anderen Elbufer in Tetschen gründete. Er hatte bereits ein Gebäude ausgesucht, das er mieten wollte. Vom Tetschener Stadtrat bekam er zwar die Erlaubnis zur Gründung eines Betriebes, aber sein Vorhaben scheiterte an seinen ehemaligen Arbeitgebern, die die Konkurrenz fürchteten. Friedrich Gerbing kaufte das Gebäude, in dem Bähr die Produktion anfahren wollte, und der enttäuschte Unternehmer musste sein Unternehmen aufgeben.57 Im Juni 1841 versuchte er im nahen Aussig sein Glück. „Der immer regere Aufschwung des Handels in der königlichen Stadt Aussig berechtigt mich zur Hoffnung,“ beginnt Bähr seinen Antrag beim Aussiger Magistrat,58

daß auch meine erzeugten Waaren einen lebhaften Absatz dort finden dürften. Zu dem Entschluße, mich in der königlichen Stadt Aussig zur Erzeugung von Sidro- lithwaaren jeder Art niederzulassen, werde ich um so mehr bestimmt, als daselbst noch kein derlei Gewerbsmann besteht.

Hier gelang es ihm eine Immobilie zu mieten, die es ihm ermöglichte, mit der Produk- tion zu beginnen. Bährs Betrieb war der erste Industriebetrieb in Aussig über haupt.59 Die Anfänge des Unternehmens waren nicht besonders ruhmreich, aber dank des kauf- männischen Talents des Aussiger Bürgers Johann Maresch, der in Bährs Betrieb als Buch- halter angestellt war, begann die Manufaktur zu wachsen. Nach dem Tod des Unter- nehmensgründers heiratete der tüchtige Rechnungsführer dessen Tochter Marie und führte den Betrieb bis 1860 mit der Witwe Wilhelmine Bähr unter dem Namen ‚Bähr & Maresch‘ weiter. Nachdem Wilhelmine Bähr aus dem Unternehmen ausgeschieden war, übernahm Maresch die Firma allein. Den Firmennamen änderte er nicht und zwar60

aus Pietät zum Gründer Adolf Bähr, wegen des guten Namens, den die Firma in der weiten Öffentlichkeit erlangt hatte, wegen vieler geschäftlicher Schwierig - keiten, die die Umbenennung mit sich bringen würde, und deshalb, weil sich in den Lagern der Firma tausende Erzeugnisse mit dem Firmennamen befinden, was beim Verzollen und dem weiteren Transport der Ware Probleme hervorrufen würde.

57 Vgl. SOkA Děčín, Archiv města Děčína, Comerziale 1835–1847, inv.č. 1165, kart. 72. 58 Archiv města Ústí nad Labem, Archiv města Ústí n.L., sig. III B/9, kart. 220. 59 Vgl. Václav Cílek/Jan Němec: Skryté poklady ústecké terakoty. Ústí nad Labem: Město Ústí nad Labem 2004. 60 SOA Litoměřice, Krajský soud Litoměřice, Spisy k podnikovému rejstříku, sig. VI B/71.

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Am 30. September 1863 wurde die Firma ‚Bähr & Maresch‘ aus dem Firmenregister gelöscht. Sie erhielt den neuen Namen ‚Johann Maresch, Thon- und Steingutwaren- fabrik in Aussig‘ und stellte bis 1948 Keramik her.

VI. Textilunternehmer aus Meerane

Die Stadt Meerane bei Chemnitz war für ihre meisterhaften Textilerzeugnisse be- rühmt. In den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts herrschte hier eine enorme Konkurrenz, die den kleinen Herstellern eine bedeutende Vergrößerung der Pro- duktion unmöglich machte. Zwei lokale Geschäftsleute – Friedrich August Hertzsch und Friedrich Wilhelm Seele – gingen 1835 deshalb nach Böhmen, um in den Krei- sen Leitmeritz (Litoměřice) oder Bunzlau (Boleslav) eine gemeinsame Weberei und Färberei für Wolle zu gründen.61 Zufällig trafen sie in Prag den hohen Beamten der Tetschener Herrschaft Adam Seidel, der nach Abhnehmern für Wolle von Merino- schafen suchte, deren Zucht wiederum der Tetschener Herrschaftsbesitzer Graf Franz Anton Thun-Hohenstein 1828 eingeführt hatte. Seidel verständigte den Grafen über das Vorhaben der beiden Sachsen, die im Gegenzug ein Begehren um die Vermietung des unbenutzten Schlosses in Bünauburg (Bynov, heute Teil der Stadt Děčín) zur Erichtung einer Weberei und Aufbereitungsanlage von Woll- und Halb- wollstoffen an den Grafen richteten. „Die jedes Menschen Brust erfüllende Sehn- sucht,“ schreibt Friedrich Wilhelm Seele im Namen beider Unternehmer an den Grafen Thun, „sich da einen Wohnsitz des Wirkens zu bereiten, wo man die Früchte seines Fleißes und seiner Machen zuversichtlicher zu ärndten hofft,“ fährt Seele fort,62

hat auch mich bestimmt mein jetzt in Meerane in Sachsen betriebenes Merino Fa- brikgeschäft auf zu geben, und dasselbe in Böhmens schöne Auen zu verpflanzen. Da nun der Ruf von Eurer Hochgräflichen Gnaden für Industrie und Menschen- liebe auch über die Grenzen Ihres beglückten Landes hieüber hallt, würde ich mich glücklich fühlen, wenn Hochdieselben die unterthänigste Bitte zu berücksichtigen geruheten gnädige Resolution zu ertheilen, mich in Bünauburg, welcher Ort sich hinsichtlich der dortigen Weberey zur Ausbreitung eines Fabrikbetriebes wohl am ehesten dazu eigenen dürfte, als Herrn Hochgräfliche Gnaden gehorsamster Unterthan niederlassen zu dürfen.

61 Vgl. Kol. autorů: Kabelovna Podmokly aneb Industrializace Děčínska. Česká Lípa: Studio REMA ‘93 2000, S. 32–35. 62 Státní oblastní archiv v Litoměřicích, pobočka Děčín (dále SOA Děčín), fond: Velkostatek Děčín (dále VS Děčín), sig. B 10/45.

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Thun kam dem Begehren gern entgegen, und am 14. August 1835 vermietete er Hertzsch und Seele das genannte Schloss für zehn Jahre. Fachkundige Angestellte für die Auf- nahme der Produktion holten sich die Unternehmer aus Meerane und zwar sowohl An- gehörige der eigenen Familie (den Bruder von Friedrich August Hertzsch, Julius Herr- mann), als auch andere ‚Meister‘. Werksleiter wurde Karl Ludwig Quaas, weitere Angestellte waren zum Beispiel Franz Ludwig Hopfer und Wilhelm Steinbach. Leinen kauften die beiden Geschäftsleute von Webern, die aus der Umgebung der Städte Rum- burg und Schluckenau (Šluknov) in die Tetschener Herrschaft kamen. Nach fünfjähriger gemeinsamer Unternehmensführung verließ Friedrich August Hertzsch den gemein - samen Betrieb und eröffnete in einem gemieteten Haus in Bodenbach ein eigenes Un- ternehmen, ähnlich der Bünauburger Manufaktur. Seele eröffnete daraufhin 1857 eine erfolgreiche mechanische Spinnerei, ebenfalls in Bodenbach. Ein Jahr später gründeten weitere Meeraner Textilunternehmer, August Oskar Bankwitz und Heinrich Julius Mül- ler, eine mechanische Aufbereitungsanlage für Woll- und Gemischttextilien und betrie- ben sie mit gemischtem Erfolg bis 1897. Noch vorher (1845) errichtete der erwähnte Julius Herrmann Hertzsch in Tetschen eine Leinenfärberei und Druckerei, indes ver- schwinden aber schon 1850 jegliche weitere Aufzeichnungen über diesen Betrieb. Die Erfolge von Hertzsch und Seele hatten in Meerane eine große Resonanz. „Ich nahm gegen Ende 1842 meinen alten Schulatlas her,“ schreibt der Aussiger Unter - nehmer Karl Georg Wolfrum, der in Meerane eine Baumwollfärberei betrieb, später in seinen Erinnerungen,63

und studierte böhmische Geographie. Seele war in Bünauburg, es mußten daher in der Gegend Weber sein, Teplitz war in dessen Nähe und von Teplitz kamen die Einkäufer Rindskopf und Bauer zu F. J. Gräfe und Söhne regelmäßig zur Leipziger Messe und kauften Meeranische Waare. Also in diese Gegend,

schreibt der Meeraner Geschäftsmann weiter,

und da sah ich die Stadt Außig auf meiner Karte an der Elbe gelegen, und an der Einmündung eines Flusses in dieselbe. Das schien mir ein geeigneter Platz und meinen Partnern (Friedrich Ludwig Günther) war alles recht

Wolfrum beschreibt weiterhin die erste Reise nach Böhmen, die Suche nach einem geeigneten Objekt, den Transport des Färbekessels von Sachsen nach Böhmen über

63 Carl Otto Wolfrum/Ludwig Wolfrum: Erinnerungen an Carl Wolfrum. Eigene Aufzeichnungen, Briefe, Reden und Zeitungsartikel. 2 Bände. Leipzig: Frankenstein & Wagner 1893, S. 119.

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die Elbe usw. Die Färberei der Firma ‚Günther & Wolfrum‘ wurde rasch zu einem geachteten Betrieb, zum 31. Dezember 1847 stieg Günther aber aus dem gemeinsamen Unternehmen aus und gründete mit dem erwähnten Bünauburger Werksleiter Karl Ludwig Quaas eine Färberei, die schnell zu einer Weberei umgebaut wurde.64 Die Firma ‚Günther & Quaas‘ verschwand in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Ebenso aus Meerane kam Friedrich Hermann Kroitzsch. Dieser betrieb um das Jahr 1845 eine Weberei für Wolle in Karbitz (Chabařovice) und Teplitz-Schönau, 1849 ver- legte er die Produktion aber nach Aussig.

VII. Kunstblumenherstellung

Böhmen gab Sachsen in Bezug auf das Wirtschaftswesen weitaus mehr als Sachsen Böhmen. Zu erwähnen lohnt nur die Herstellung von Musikinstrumenten (Geigen), die von Exulanten, die nach der Schlacht am Weißen Berg das Land verlassen hatten, aus Graslitz (Kraslice) in die Städte Markneukirchen und Klingenthal gebracht wurde, sowie die Fertigung von Kunstblumen, die in Sebnitz heimisch wurde. Die Wiege der Kunstblumenherstellung war das dichtbevölkerte Nixdorf, das durch seine Messerschmieden berühmt wurde. Der Tradition gemäß sollen sich einige lokale Familien dieses Handwerk Ende des 18. Jahrhunderts von umherziehenden Schau- spielerinnen abgeschaut haben, eine andere Übrlieferung schreibt das Verdienst um die Entwicklung dieser Branche Clara Pilz zu, die, so sagt man, die Kunstblumen- herstellung im Rahmen ihrer Erziehung in einem Prager Frauenkloster erlernt hatte. Bereits eine Bewertungskommission, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Grund- lagen für den Theresianischen Kataster zusammenschrieb, stieß in Nixdorf auf die Kunstblumenherstellung.65 Ob die Urheberin Schauspielerin, Nonne oder jemand anderes war, lässt sich heute nicht mehr sicher sagen, sicher aber ist, dass bereits am Ende des 18. Jahrhunderts eine gewisse Jeanne Elisabeth Mouton in Dresden wirkte, offensichtlich eine Fran- zösin, die hier im großen Stil künstliche Blumen aus Papier und noblen Stoffen her- stellte und mit Erfolg verkaufte. Die gefragten Imitationen echter Blumen brachte ihre Manufaktur in die nordböhmischen Bäderstädte und nach Prag.66 Wenn eine

64 Vgl. Franz Josef Umlauft: Geschichte der deutschen Stadt Aussig. Altheim bei Landshut: ISAR-Post Druck- und Verlagsges. 1994, S. 294ff. 65 Vgl. Tereziánský katastr Český, Svazek 2, Rustikál (kraje K – Ž). Hg. v. Aleš Chalupa/Marie Lišková/Josef Nuh- líček/František Rajtoral. Prag: Archivní správa ministerstva vnitra ČR 1966, S. 109. 66 Vgl. Joseph Ruprecht: Von der Lilien der Königin von Saba zum nordböhmischen Kunstblumenflor. In: Schaf- fende Heimat, Bestand und Erbe, Folge 5. Karlstadt a. Main: o.V. 1960, S. 18.

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Nachfrage nach dieser Ware bestand, war es nur eine Frage der Zeit, bis auch jemand anderes mit ihrer Herstellung begann. Die erste Bekundung über die Fertigung künstlicher Blumen in Nixdorf kommt aus den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Zu ihren ersten Produzenten können die örtlichen Familien Kündiger, Zabel, Pilz, Endler, Liebisch und Hesse gezählt werden. Die Produzenten verkauften sie anfangs im Rahmen verschiedener lokaler Kirchen- feiern als Altarschmuck, ihre Produktion war aber früh auch im benachbarten Sachsen gefragt. Interesse an ihnen gab es vor allem unter den Sorben, die die Kunstblumen in ihre traditionellen Hochzeitskränze flochten. Sie wurden aber auch von sächsischen Bürgern gekauft, die mit ihnen ihre Wohnungen schmückten. Um das Jahr 1830 wur- den die Kunstblumen bereits in der gesamten Hainspacher Herrschaft (Lipová) ge- fertigt. Die Zahl ihrer Produzenten lag bei annähernd 2.000.67 Als Sachsen am 1. Januar 1834 in den Deutschen Zollverein eintrat und die Einfuhr von Waren aus dem Ausland mit hohen Zollgebühren belastete, bereitete das den lokalen Kunstblumenproduzenten große Schwierigkeiten. Ihre verzollten Erzeugnisse waren auf einmal unverkäuflich, und so begannen sie im großen Stil zu schmuggeln, dieses Mal zur Abwechslung aber in die andere Richtung. Ein Ausweg aus dieser miss- lichen Lage war die Miete von Produktionskapazitäten in den nahen sächsischen Gemeinden. Die meisten Hersteller fassten so Fuß in der Grenzstadt Sebnitz.68 Die Verlegung der Produktion nach Sachsen hatte für die in dem Bereich tätigen Unternehmer eine Reihe von Vorteilen – neben dem zollfreien Verkauf mussten die Ausländer keine Steuern bezahlen, auch fielen sie nicht unter die Wehrpflicht usw. Einige ließen sich in Sachsen nieder und gründeten größere Blumenmanufakturen (z.B. Jakob Hesse, die genannte Clara Pilz mit ihrem Mann Johann, Anton und Ema- nuel Endler), andere machten ihre Arbeitsplätze frei für Ortsansässige und widmeten sich der Herstellung anderer Dinge. In Sebnitz wurden 1863 an die 800 Blumen - produzenten gezählt, vierzig Jahre später bereits 10.000. Die Kunstblumenherstellung in der Region Schluckenau kümmerte dagegen vor sich hin. Den ersten größeren Blumenbetrieb gründete erst 1851 die Unternehmerin Anna Sieber in Obereinsiedel (Horní Poustevna), es folgten die Manufakturen Anton Webers in Schluckenau (1859) und Wendelin Fischers in Obereinsiedel (1860). Erst die Entstehung des ‚Spar- und Vorschussvereins‘ in Niedereinsiedel (Dolní Poustevna) 1874, der den örtlichen Produzenten Kredite gewährte, machte eine größere Ent - faltung des Kunstblumenhandwerks möglich.

67 Vgl. Jan Němec: Obrázky z průmyslových dějin Šluknovska. Rumburk: Město Rumburk 2012, S. 146. 68 Vgl. Manfred Schober: Sebnitz. Aus der Geschichte einer sächsischen Stadt an der Grenze zwischen Elbsandstein und Oberlausitzer Bergland. Dresden: Berg- und Naturverl. Rölke 2003, S. 48.

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Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Sachsen und Nordböhmen in den Jahren 1750–1914

Die meisten Betriebe zur Herstellung von künstlichen Blumen und Obst entstanden in den Jahren 1890–1914,und dies vor allem in Niedereinsiedel,Obereinsiedel, Lobendau (Lobendava) und Wölmsdorf (Vilémov). Die Kreishauptmannschaft in Schluckenau zählte 1895 bereits 92.69 Allein in Niedereinsiedel arbeiteten 1923 18 größere und 33 klei- nere Kunstblumenbetriebe, die 2.000 Arbeiter (bzw. Arbeiterinnen) beschäftigten. Größere Kunstblumenbetriebe eröffneten aus Zollgründen Zweigstellen in Sebnitz (z.B. die Firma Josef Pietschmanns), dasselbe betrieben aber auch die Unternehmer aus Seb- nitz in Nieder- und Obereinsiedel (z.B. Gustav Kluge, F. R. Vollmann, Alwin Hache).

Niedereinsiedler „Blümelmacher“

Der Erste Weltkrieg war für die örtlichen Blumenhersteller selbstverständlich ein Übel, schlimmere Auswirkungen hatte die Wirtschaftskrise in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, in der viele lokale Betriebe verschwanden. Nach einem kurzen Auf- schwung in den Jahren 1937–1939 kam der Zweite Weltkrieg und mit ihm ein weiterer Niedergang der Produktion. Die Nationalsozialisten hatten im September 1943 die weitere Produktion von Kunstblumen und ähnlichen Erzeugnissen sogar verboten, und das sowohl in Sachsen als auch in den angeschlossenen Gebieten. Den Unternehmern wurde ersatzweise die Produktion von Tarnnetzen und Waffenteilen zugewiesen.70

69 Vgl. Ruprecht, Von der Lilien der Königin von Saba (wie Anm. 66), S. 23. 70 Vgl. Helene Jahn-Langen: Das Böhmische Niederland: Bevölkerungs- und Sozialstruktur einer Industriedorfland- schaft. Bad Godesberg: Bundesanst. für Landeskunde und Raumforschung 1961, S. 53.

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Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Sachsen und Nordböhmen in den Jahren 1750–1914

Nach der Verstaatlichung kam es zur Verbindung größerer Kunstblumenbetriebe zum ‚VEB Centroflor‘. In der Gegenwart stellt nur noch ein Betrieb in Groß Schönau (Velký Šenov) künstliche Blumen, Obst und ähnliche Produkte her.

VIII. Einzug sächsischer Unternehmer nach Nordböhmen 1845–1915

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts siedelten sich immer mehr sächsische Unternehmer in den nordböhmischen Grenzgebieten an. Ihr Ziel war, weiterhin vom großen öster- reichischen Markt ohne Zollschranken zu profitieren, nun aber zu weitaus vorteil- hafteren Bedingungen. Die Abschaffung der Feudalherrschaft und Frondienste (1848) stellte ihnen eine Menge billiger und deutschsprachiger Arbeiter zur Verfügung, die Nähe zu den Braunkohletagebauen genügend Brennstoff für die Dampfmaschinen in den Fabriken, ein neues Gewerbegesetz (1858) liberaliserte vollends die Welt der Unternehmer. Die ‚industrielle Kolonialisierung‘ Nordböhmens beförderten weiterhin in hohem Maße die sogenannte ‚Erste Elbkonvention‘* (1821), die Errichtung der Eisenbahnstrecken Dresden – Prag (1851), Aussig – Teplitz (1858), Bodenbach – Rum- burg (1869), Bodenbach – Dux (1871), die niedrigen Preise für Bauplätze und die er- neute Einführung österreichischer Einfuhrzölle nach Austritt Österreich-Ungarns aus dem Deutschen Bund und dem verlorenen Krieg mit Preußen.71 Die meisten Betriebe errichteten die Unternehmer aus dem Ausland im Elbtal (vor allem in Aussig, Bodenbach und Tetschen), sowie in Teplitz-Schönau. Nach der ersten Phase ihrer Niederlassung in diesen Gebieten (1850–1870) ist die Gründung völlig neuer Firmen ohne finanzielle Teilhabe aus dem Ausland charakteristisch, auch wenn es hier Ausnahmen gibt – die Dresdner Schokoladenfabrik ‚Jordan & Timaeus‘ (gegründet 1823) eröffnete zum Beispiel 1853 eine Zweigniederlassung in Boden- bach, wo zehn Jahre später auch eine Zweigstelle der Fabrik für Tinte und Tu- sche von August Leonhardi in Loschwitz bei Dresden entstand. Von den bekann- testen Betrieben, die in dieser Zeit ent- standen, sind noch die Chemiefabrik von Julius Kurzhalss aus Geising (gegr. 1852 in Reklame für die Tinte der Firma Leonhardi

71 Vgl. Holger Starke: Aspekte wirtschaftlicher Verbindungen zwischen Sachsen und Böhmen (um 1850 bis 1910). Dresdner Hefte 48/1996, S. 41.

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Tetschen), die Druckerei von Friedrich Wilhelm Stopp aus Pirna (gegr. 1854 in Tet- schen), die Brennerei und Destille der Gebrüder Louis und Hermann Eckelmann (gegr. 1847 in Schönpriesen [Krásné Březno] bei Aussig) und Johann Ludwig Bramsch (gegr. 1859 in Teplitz-Schönau), die alle drei aus Dresden kamen, oder die mechanische Spinnerei und Weberei der aus Eilenburg bei Leipzig stammenden Gebrüder Adolf und Robert Mitscherlich (gegr. 1858 in Teplitz-Schönau) zu nennen. Die zweite Phase der industriellen Ko lonisierung Nordböhmens startete mit den Zollkriegen zwischen Österreich-Ungarn und Deutschland zur Zeit der Wirtschafts- krise (1873–1879) und danach, als beide Staaten versuchten, ihren Produzenten vor- teilhafte Ausfuhrbedingungen durch eine Schutzzollpolitik zuzusichern.72 Der neue öster reichische autonome Zolltarif von 1878 gewährte den Produzenten in der Textil- industrie größeren Schutz; zu einer allgemeinen Erhöhung der Zoll gebühren kam es aber mit der Akzeptanz des Prinzips, Zollgebühren in Gold, bzw. in einem am Goldpreis orientierten Äquivalent zu bezahlen, was die inflationäre österreichische Währung stärken sollte. Damit kam es zu einer allgemeinen Erhöhung des Zolls um 15 bis 20 Prozent, was Deutschland mit der Erhebung von Zollgebühren auf Getreide beant- wortete. Der Zollkrieg zwischen Österreich-Ungarn und Deutschland setzte sich 1882 mit der Annahme eines neuen Zolltarifs in Österreich fort, der den Schutzzoll als Ge- genmaßnahme zu den hohen deutschen Zollgebühren weiter steigerte. Die Reaktion auf den sich verstärkenden Protektionismus des Bismarckschen Deutschlands war auch eine weitere Erhöhung der Zolltarife im Jahre 1887 und dies vor allem wiederum bei Agrarprodukten, in geringerem Maße aber auch beim Zoll auf industrielle Er- zeugnisse.73 Den sächsischen Produzenten, die vor 1878 erfolgreich den österreichisch-ungarischen Markt erobert hatten, blieb nichts anderes übrig, als Zweigniederlassungen in Öster- reich-Ungarn zu errichten und damit die österreichischen Schutzzollmaßnahmen zu umgehen. Dies trug sich aber auch in entgegengesetzter Richtung zu – einige öster - reichische Firmen eröffneten Niederlassungen in Sachsen. In Dresden entstand 1878 die Hauptzweigstelle der Bleistiftfabrik ‚L. und C. Hardtmuth‘ aus Budweis (České Budějovice), 1904 eröffnete hier auch die Prager Fabrik für patentierte Knöpfe ‚Koh- i-noor‘ von Jindřich Waldes eine Endmontage, die Weberei der Firma ‚Ignaz Richter‘s Söhne‘ aus Niedergrund (Dolní Podluží) bei Warnsdorf betrieb Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts einen Zweigbetrieb in Seifhennersdorf, der Besitzer einer Strumpfstrickerei Gustav Jäger aus Schönbüchel (Krásný Buk, heute Schönlinde) pro-

72 Vgl. Herbert Matis: Österreichs Wirtschaft 1848–1913. Konjunkturelle Dynamik und gesellschaftlicher Wandel im Zeitalter Franz Josephs I. Berlin: Duncker & Humblot 1972, S. 374f. 73 Vgl. Albín Bráf: Ochranné clo a obchodní smlouvy v Rakousku. In: Albín Bráf, Život a dílo, Výbor statí z hospo- dářské a sociální politiky. Hg. v. Josef Gruber/Cyril Horáček. Prag: Vesmír 1923, S. 119.

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duzierte ab 1892 Kinder- und Sportkleidung in Ebersbach, das Eisenwalzwerk der Firma ‚Hille & Müller‘ aus Groß Schönau gründete 1895 eine Filiale in Porschdorf (heute Bad Schandau) usw. Weitaus zahlreicher waren aber Filialen sächsischer Firmen in Böhmen. Die bedeu- tendsten werden für eine bessere Übersicht in der folgenden Tabelle genannt:

Jahr Firma Charakter Hauptsitz Zweigstelle 1884 Dresdner Näh maschinen- Garnherstellung Dresden Herrnskretschen Zwirnfabrik (Hřensko) 1885 Jung & Lindig Eisengießerei und -wal- Freiberg Klostergrab zerei (Hrob) 1888 Bergmann & Co. Chemische Fabrik Dresden Tetschen 1892 Carl August Roscher Maschinenfabrik Neugersdorf Georgswalde (Jiříkov) 1893 Hartwig & Vogel Schokoladenfabrik Dresden Bodenbach 1894 Gustav Thiele Maschinenfabrik Neugersdorf Rumburg 1895 Feodor Burgmann Chemische Fabrik Dresden Bodenbach 1896 Otto Rüger Schokoladenfabrik Dresden Bodenbach 1896 Curt Oskar Haebler Baumwollspinnerei Großschönau Warnsdorf 1897 Fahrrad & Maschinen Fabrik, Maschinenfabrik Dresden Bodenbach vorm. H. W. Schladitz 1898 Schimmel & Co. Chemische Fabrik Leipzig Bodenbach 1900 August Förster Musikinstrumentenher- Löbau Georgswalde stellung 1902 Seelig & Hille (Teekanne) Teeverpackung Dresden Bodenbach 1903 Konkordia Spinnerei Stöhr Baumwollspinnerei Leipzig Neschwitz & Co. (Nebočady, Tetschen) 1903 C. A. Lingner (Odol) Chemische Fabrik Dresden Bodenbach 1908 Eisenwerk G. Meurer Maschinenfabrik Dresden Tetschen 1908 Richard Raupach Maschinenfabrik Görlitz Warnsdorf 1909 Fritz Schulz jun. (Globus) Chemische Fabrik Leipzig Aussig 1909 Clemens Müller-Werke Maschinenfabrik Dresden Bünauburg GmbH (Bynov, Tetschen) 1911 Gebrüder Böttcher Baumaterialherstellung Zittau Warnsdorf 1913 Sächsische Cartonnagen- Metallverarbeitung Dresden Bodenbach Maschinen-Gesellschaft 1915 Höntsch & spol. Herstellung von Dresden Tetschen Gärtnereibedarf

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Die meisten Zweigbetriebe entstanden in Nordböhmen im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts und in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Die am häufigsten von sächsischen Unternehmern bewohnten Orte waren die Stadt Tetschen und das be- nachbarte Dorf Bodenbach: „Deutsche Fabrikanten, deren Erzeugnisse hohen Ein- gangszoll kosten, haben hier Fabriken eingelegt, führen die Rohprodukte entweder zollfrei oder mit nur geringem Zoll belastet ein, und sind dadurch im Stande, mit österreichischen Firmen erfolgreich zu concurieren.“74 Für die sächsischen Geschäfts- leute war die Nähe zur Staatsgrenze von großer Bedeutung – ein weiterer Transport von Rohstoffen und Rohlingen verteuerte die Produktion. Zur Expansion äußerte sich der Leiter des Bodenbacher Zweigbetriebs der Schokoladenfabrik ‚Otto Rüger A.G.‘ Neumann 1930 mit den prägnanten Worten:75 Als mit Ende der Jahrhundertwende die Industrien in Deutschland sich immer in- tensiver zu erweitern suchten, entschloß sich auch die Firma Otto Rüger, Schoko - ladenfabrik in Lockwitzgrund, ihr Absatzfeld zu vergrößern. Als nächstliegende Gebietserweiterung kam das große Österreich-Ungarn in Frage und so faßte das Stammhaus in Deutschland im Jahre 1896 den Entschluß, eine Zweigfabrik in dem für den Verkehr günstig gelegenen und deutschsprachigen Bodenbach a.E. zu er- bauen. Mit dem 1. Oktober 1896 wurde dieses Werk […] in Betrieb gesetzt und sofort der Vertrieb von Schokolade, Kakao, Pralines, Bäckerei und Kanditen begonnen. Und ein Angestellter der Siemensschen Glasfabrik in Dresden rekapitulierte die Attraktivität des nordböhmischen Wirtschaftsraums in einem Satz:76 Kohlen sind am Platze und die Bäder in der unmittelbarsten Nähe […] Grund und Boden fast umsonst […] Eisenbahnanschluß günstig […] Arbeiter gibt es, wegen der mannigfaltigen Industrie, die zum Teil stillgelegt, im Überfluß. Der Großteil der Unternehmer kam aus der sächsischen Metropole nach Nordböh- men, wo es zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert 179 große Betriebe mit mehr als hundert Angestellten gab. Anhand unserer Tabelle wird auch deutlich, welche Waren nur schwer nach Österreich einzuführen waren und wo sich die Produktion in Zweig- betrieben lohnte – Süßwaren, Chemikalien, verschiedene Maschinen und Garn für Nähmaschinen.

74 Meinhold´s Führer durch Dresden, zu seinen Kunstschätzen, Umgebungen und in die Sächsisch-Böhmische Schweiz. Dresden: Meinhold 1881, S. 206–208. 75 SOkA Děčín, Městské muzeum Podmokly, Poznámky k dějinám podmokelského průmyslu (dopis ředitele pod- mokelské továrny na čokoládu Otto Rüger Neumanna podmokelskému kronikáři Emilu Mauderovi z 7. května 1930, inv. č. 109, kart. 6. 76 Starke, Aspekte wirtschaftlicher Verbindungen zwischen Sachsen und Böhmen (wie Anm. 71), S. 45.

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IX. Schlussbetrachtungen

Die sächsischen Geschäftsleute, die ihre Betriebe im nordböhmischen Grenzgebiet errichteten, mussten technisch und kaufmännisch begabt sein; oft war eine Erfindung, die Kenntnis neuer Möglichkeiten, Fertigkeiten, Kapital, Kontakte, Glück und vor allem eine gut erkannte Gelegenheit für ihr Gewerbe die Voraussetzung für ihren Er- folg.77 Eine große Rolle spielte selbstverständlich auch die deutsche Sprache, die auf beiden Seiten der Grenze gesprochen wurde, was den Sachsen die Niederlassung und Integration erleichterte.78 Die aus Sachsen ins Ausland verlagerten unternehmerischen Tätigkeiten waren für die Geschäftsleute so jedenfalls kein Schritt ins Unbekannte. Es gibt Beweise dafür, dass sie sich diesen Schritt gut überlegt und vor der Gründung eines eigenen Betriebes zuerst ihre Chancen auf dem Markt geprüft hatten, eventuell schlossen sie Zuliefe- rerverträge ab. Darauf schauten sie sich nach der Erlaubnis durch die zuständigen Obrigkeiten oder den Magistrat um, nach Produktionsstätten, Rohstofflieferanten, Arbeitern usw., und erst als es ihnen schien, dass ihre Absicht auch eine Zukunft hat, verließen sie ihre Heimat. Das lateinische Sprichwort „exempla trahunt“ („Beispiele reißen mit“) gilt auch für die Ansiedlung sächsischer Geschäftsleute in Nordböhmen. Nachdem der erste Wagemutige seine Stadt oder seinen Ort in Sachsen verlassen hatte, sich in Nordböhmen angesiedelt hatte und ein Auskommen fand, folgten wei- tere seinem Beispiel. Die ausländischen Unternehmer ergänzten die nicht besonders starke Mittel- und Oberschicht in der untersuchten Region. Ihren evangelischen Glauben gaben sie aber bis auf wenige Ausnahmen nicht auf und erfüllten gleichsam ihre kulturellen und übrigen Bedürfnisse weiterhin in der alten Heimat. Die reich gewordenen ausländi- schen Industriellen beriefen auch Lehrer aus Berlin und Dresden zu ihren Familien, die die Sprösslinge auf ein Studium in Deutschland vorbereiteten. Die katholischen Nachbarn achteten die ‚Fabrikanten, die Zylinder trugen und hochdeutsch sprachen‘ größtenteils, sie hielten sie aber auch noch in der dritten Generation für ‚sächsische Fabrikanten‘. Im Lauf der Zeit entstanden in den Städten mit einer größeren Zahl von Protestanten – wie zum Beispiel in Bodenbach (heute Teil der Stadt Děčína) – evangelische Gemeinden und Schulen. Weil die ‚deutschen industriellen Kolonisato- ren‘ von der immer sorgsamer überwachten österreichischen Zollgrenze profitierten, waren sie selbstverständlich gegen die Liberalisierung des europäischen Marktes und

77 Vgl. Jürgen Kocka: Unternehmer in der deutschen Industrialisierung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1975, S. 56. 78 Vgl. Klaus J. Bade: Evropa v pohybu, Evropské migrace dvou staletí. Prag: Nakladat. Lidove Noviny 2004, S. 9.

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verhielten sich gegenüber den großdeutschen ‚Manieren‘ der böhmischen Deutschen reserviert. In dieser Hinsicht präsentierten sie sich als loyale und fleißige Bürger Öster- reichs, die mit ihrer stillen Arbeit ihren Beitrag für einen allgemeinen Aufschwung leisteten.

Glossar:

Damast: Handelsname für einfarbige Textilien mit einer Musterung in verschiede- nen Formen und Größen. Die Musterflächen sind an den Rändern grob abgestuft und kontrastieren hell oder dunkel mit dem glatten Untergrund | Häusler: Be- zeichnung für Kleinstbauern mit eigenem Haus, aber wenig Grundbesitz | Elb- konvention: zwischen Österreich und den deutschen Elbanrainerstaaten (einschließ- lich Dänemarks) am 23. Juni 1821 in Dresden geschlossen. Sie setzte verspätetet die Entscheidung des Wiener Kongresses von 1815 über die freie Schifffahrt auf der Elbe um. Die erste Elbkonvention (auch Elbschifffahrtsakte genannt) löste viele Zollgrenzen auf, sodass von ursprünglich 35 Zollämtern auf der Strecke zwischen Melnik (Mělník) und Hamburg 1821 noch vierzehn übrigblieben, davon zwei in Böhmen | Siebenzunft: Zunft der sieben Handwerke: Schmied, Wagner, Tischler, Böttcher, Schlosser, Drechsler und Glasmacher | Theralith/Siderolith: Technologen ordnen Siderolith und Theralith (es handelt sich um unterschiedliche Bezeichnun- gen für dieselbe Ware) den Töpferwaren zu, also zu Waren aus Keramik mit einem farbigen porösen Scherben, wenn auch wesentlich feiner und härter gebrannt als normale Töpferwaren. Charakteristisch ist die lackierte, gegebenenfalls polierte Oberfläche. Auf die Ware wurde nach dem Brennen mit einem Pinsel ein Bern- steinlack aufgebracht, gelöst in Terpentin- und Leinöl. Den lackierten Scherben brannte man in Muffeln (Kapseln) im niedrigen Feuer aus | Wedgwoodware: kera- mische Produkte, die dem Stil des englischen Keramikherstellers und Unterneh- mers Josiah Wedgwood (1730–1795) folgen. Wegdwood wird die Industrialisierung der Keramikherstellung zugeschrieben

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August Bebel und die Anfänge der Arbeiterbewegung in Nordböhmen

Václav Houfek

August Bebel* und die Anfänge der Arbeiterbe- wegung in Nordböhmen

Sachsen und Böhmen verbindet im 19. Jahrhundert die intensiv voranschreitende In- dustrialisierung. Deutlich wird dies zum Beispiel bei den modernen Transportmitteln, den sich um 1840 entwickelnden Anfängen der Dampfschifffahrt und der Ende der 1850er Jahre fertiggestellten Schienenverbindung zwischen Sachsen und Böhmen, der Eisenbahnstrecke Dresden–Prag. Während sich in Sachsen die politischen, ökono- mischen und sozialen Verhältnisse bereits in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts liberalisierten, kam die Zeit der Veränderungen in Böhmen als Teil des Kaisertums Österreich mit einigen Jahren Verspätung. Beide Länder reihten sich aber äußerst schnell unter den industriell am höchsten entwickelten Regionen Mitteleuropas ein. Verbunden damit waren Veränderungen in der Sozialstruktur, die zur Entstehung der Industriearbeiterschaft und infolge dessen zu ersten Bemühungen ihrer Organisation führten. Die Situation in Böhmen wurde noch durch schwierige nationale Verhält- nisse verkompliziert, da das Verhältnis tschechischsprachiger zu deutschsprachiger Bevölkerung ca. 2 zu 1 betrug, wobei sich die deutschsprachige Bevölkerung Böhmens vor allem in den Grenzgebieten und in einigen großen Industriezentren im Landes- inneren konzentrierte. Trotz der angeführten Unterschiede und weiterer divergieren- der Entwicklungsrichtungen in Sachsen und Böhmen dominierte am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in beiden Ländern die sozialdemokratische Bewegung vergleichsweise deutlich. In Sachsen kam es im Juni 1848 mit einem Regionalverband von Arbeiterverbänden zu einem ersten bedeutenderen Versuch, eine politische Arbeiterbewegung zu etab- lieren.1 Nicht weniger als ein Fünftel der Arbeitervereine in Deutschland befand sich zu dieser Zeit in Sachsen; Zentrum der sich entwickelnden Arbeiterbewegung war Leipzig. Hier hatte auch der ‚Allgemeine Deutsche Arbeiterverein‘ (ADAV) seinen Sitz, den 1863 Ferdinand Lassalle, Otto Dammer, Julius Vahlteich und Friedrich Wilhelm Fritzsche gründeten.2 Dieser Verein war der Vorgänger der ‚Sozialdemokra- tischen Partei Deutschlands‘ (SPD). Früh tritt auch August Bebel in den Verein ein.

1 Vgl. Helga Grebing: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Von der Revolution 1848 bis ins 21. Jahr - hundert. Berlin: Vorwärts Buch 2007, S. 15–28. 2 Vgl. Heinrich Potthoff/Susanne Miller: Kleine Geschichte SPD 1848–2002. Bonn: Dietz 2002, S. 31–45.

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August Bebel und die Anfänge der Arbeiterbewegung in Nordböhmen

Er lernt Wilhelm Liebknecht kennen und gründet 1866 mit ihm die radikal-demo- kratische ‚Sächsische Volkspartei‘. Im Jahre 1867 wird er in das Parlament des Nord- deutschen Bundes gewählt. Sein Freund Wilhelm Liebknecht knüpfte 1868 persön - liche Kontakte zu Wiener Sozialisten, unter denen auch eine große Zahl Tschechen war. Er überzeugte sie, an der konstituierenden Versammlung der deutschen Sozial- demokratie 1869 in Eisenach teilzunehmen. Der Sitz des Kontrollausschusses der Partei wurde daraufhin durch die Versammlung nach Wien verlegt. Zu dieser Zeit entwickelte sich die Arbeiterbewegung vor allem in den bedeutendsten Wirtschafts- zentren der Monarchie. Gerade Wien erlebte in den Jahren von 1867 bis 1869 eine prägende Phase, die von Anfang an zum Bestandteil der Geschichte der internatio- nalen Arbeiterbewegung erklärt wurde. Man bemühte sich, sie zum gemeinsamen Kampf aller österreichischen Arbeiter ohne Rücksicht auf die Nationalität zu machen; daher fanden sich im Ausschuss des Wiener Arbeiterbildungsvereins auch ein tsche- chischer und ein slowenischer Vertreter.3 Zu diesen Bemühungen gehört auch das Manifest für das arbeitende Volk in Österreich des Wiener Arbeiterbildungsvereines vom 10. Mai 1868, das unter anderem auch in tschechischer Sprache verbreitet wurde. Dieses Manifest wandte sich resolut gegen die Spaltung der Arbeiterschaft nach Nationalitäten.4 Daneben fallen die ersten bekannten Anfänge der organisierten Arbeiterbewegung in Aussig (Ústí nad Labem) in die fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Auf Bemühungen der Bergleute, einen Unterstützungsverein zu gründen, machte schon 1851 ein Zirkular des Aussiger Bezirkshauptmanns warnend aufmerksam. Auch die nachfolgenden Ver- suche der Bergleute waren nicht besonders erfolgreich, und so wurde der 1852 ge- gründete ‚Weber-Unterstützungs- und Sterbekassen-Verein‘ zum ersten bekannten Arbeiterverein in Aussig.5 Im Jahre 1858 gründete sich darauf ein ähnlicher Unter- stützungsverein der Schiffer. Die legale Entwicklung der Arbeiterbewegung ermög- lichten Verfassungsänderungen, zu denen es in Österreich-Ungarn nach 1867 kam. Gerade Nordböhmen wurde zu einem Ort, an dem sich Deutsche und Tschechen gemeinsam in den ersten Arbeiterorganisationen engagierten.6 Die älteste Nach- richt über die Gründung einer Konsumgenossenschaft in Aussig stammt aus dem Jahr 1869. In dieser Zeit kommt es auch zu einer deutlichen Beschleunigung der Ver-

3 Vgl. Jiří Kořalka: Češi v habsburské říši a v Evropě [Tschechen im Habsburger Reich und in Europa]. Prag: Argo 1996, S. 279f. 4 Zitiert nach ebd., S. 280. 5 Vgl. Jaroslav Purš: Dělnické hnutí v českých zemích 1848–1867 [Die Arbeiterbewegung in den Böhmischen Ländern 1848–1867]. Prag: o. V. 1961, S. 23–32. 6 Vgl. Emil Strauss: Die Entstehung der deutschböhmischen Arbeiterbewegung. Prag: Verlag des Parteivorstandes der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Republik 1925, S. 118.

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August Bebel und die Anfänge der Arbeiterbewegung in Nordböhmen

änderungen in der sozialen Entwicklung der Stadt und ihrer Umgebung.7 Von 10.933 Bewohnern der Stadt Aussig im Jahr 1869 lässt sich die Zahl der Arbeiter auf 3.125 Personen schätzen; die dominanten Gewerbe waren die Chemie- und Lebensmittel- industrie, der Verkehr (Eisenbahn und Schiffsverkehr) und die Glasbläserei.8 Im Ver- gleich zur ersten Hälfte der 1850er Jahre hat sich die Zahl der Arbeiter nicht weniger als verdreifacht. In den Böhmischen Ländern wurden zu gleicher Zeit die Ereignisse in der Gegend von Reichenberg (Liberec) zu einem wichtigen Meilenstein der Entwicklungen. Dabei handelte es sich um den Streik deutscher und tschechischer Arbeiter im Kreis Tannwald (Tanvald), in der Textilfabrik ‚Liebig‘ in Swarow (Svárov). Gleichzeitig wurden verschiedentlich Solidaritätsbekundungen mit den Verfolgten oder mit den Familien der Opfer der Kämpfe zwischen Arbeiterschaft und Polizei am 4. April 1870 laut. Zu einer symbolischen Demonstration wurde auch die Beisetzung des letzten seinen Verletzungen erlegenen Opfers der Ereignisse in Swarow; wie zeit - genössische Quellen betonen, trugen deutsche Arbeiter den Sarg des Tschechen František Duňka unter der Teilnahme von 16.000 Menschen von Tannwald nach Drschke (Držkov).9 Eine ähnliche Demonstration wurde die Beerdigung von Josef Krosche, eines bekannten Repräsentanten der deutschen Arbeiterbewegung im Raum Reichenberg, der am 10. Mai 1870 in einem Prager Gefängnis starb. Die Bestattung am 12. Mai 1870 wurde erneut zu einer gemeinsamen Demonstration der deutschen und tschechischen sozial demokratischen Bewegung. Die finanziel- len Kosten dieses Begräbnisses deckten nach Angaben der Polizeidirektion die tschechischen liberalen Politiker Julius Grégr und J. S. Skrejšovský.10 Aus gleicher Quelle stammen die Angaben über 1.000 bis 1.200 Teilnehmer; den Volksblättern zufolge, hätten an der Bestattung insgesamt sogar mehr als 10.000 Menschen teil- genommen.11 Der Aufbau unmittelbarer Kontakte deutscher und tschechischer Sozialdemokraten rief eine Welle von Aktivitäten in der Region Reichenberg hervor, wo eine Reihe ge- meinsamer deutsch-tschechischer Arbeitertreffen stattfand. Das größte, unter Teilnahme tausender Menschen, fand am 26. Juni 1870 in Reichenberg statt, einen Tag später in Swarow. Aus dem ursprünglichen Programm wurde ein Vortrag zum Leben und Wirken

7 Näher dazu Kristina Kaiserová/Vladimír Kaiser: Dějiny města Ústí nad Labem [Geschichte der Stadt Aussig]. Ústí nad Labem: Mesto Ústí nad Labem 1995, S. 69–161. 8 Vgl. Miloš Novák: Mládí mezinárodního chemického monopolu [Die Jugend eines internationalen Chemie - monopols]. Ústí nad Labem: Dům Kultury Pracujících 1967, S. 137. 9 Vgl. Jiří Kořalka: Vznik socialistického dělnického hnutí na Liberecku [Die Entstehung der sozialistischen Arbeiterbewegung im Raum Reichenberg]. Liberec: Krajské nakladatelství 1956, S. 185ff. 10 Vgl. ebd., S. 189. 11 Vgl. ebd., S. 190.

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August Bebel und die Anfänge der Arbeiterbewegung in Nordböhmen

Jan Žižkas von Trocnov durch die Behörden verboten.12 Aus den Beschlüssen des Tref- fens geht die interessante Forderung hervor, die tschechische Zeitschrift Dělník (dt. ‚Arbeiter‘) solle auch in deutscher Sprache erscheinen, und auch die Errichtung von tschechischen Schulen in Reichenberg solle unterstützt werden. Besonders bedeutsam aber war die Planung eines deutsch-tschechischen Arbeitertreffens im August 1870. Auf seine Weise gehörte das deutsch-tschechische Treffen bei Reichenberg zu einer Reihe zahlreicher weiterer Treffen, zu denen es in den Böhmischen Ländern nach 1867 kam. Es handelte sich um die Zeit der Wallfahrten in die heiligen Berge, die die Repräsentanten der patriotischen Strömung kontinuierlich aus der Sphäre des Glau- bens übernahmen. Diese sprachen ihre Sprachgemeinschaften mit den gleichen Mitteln wie seinerzeit die Kirche an, einschließlich einer religiösen Sprache.13 Die Bewegung der Arbeitertreffen entwickelte sich in dieser Zeit auch in der Region Reichenberg, obgleich die deutsch-tschechischen Treffen bereits eine ältere Idee waren. Im Juni 1868 fand eine solche Zusammenkunft in Schloßbösig (Bezděz) statt, viele weitere in den Jahren 1869 und 1870, zum Beispiel bei Polna (Polná) auf der Böhmisch-Mährischen Höhe, bei Starkenbach (Jilemnice) im Riesengebirgsvorland oder bei Tschistay (Čistá) nahe Rakonitz (Rakovník). Während diese Treffen vor allem von tschechischer Seite organisiert wurden und die deutsche Teilnahme keineswegs bedeutend war, bestand ein Drittel der Teilnehmer des Treffens bei Weißwasser (Bělá pod Bezdězem) am 26. Mai 1870 aus Deutschen.14 Das deutsch-tschechische Arbeitertreffen auf dem Jeschken (Ještěd) bei Reichenberg fand am Sonntag, den 7. August 1870 statt. Die eigentlichen Vorbereitungen wurden aber durch eine Reihe von Faktoren verkompliziert. Anfang Juli gipfelte die Verfol- gung von Vertretern der Wiener sozialdemokratischen Vereine in der Anschuldigung des Hochverrats und der Vorbereitung einer gewaltsamen Machtübernahme. Infolge dessen löste sich eine ganze Reihe sozialdemokratischer Vereine auf, oder es kam, wie es in Reichenberg der Fall war, zur definitiven Verwerfung der Satzung des vorbereiteten Allgemeinen Arbeitervereins in Reichenberg. Auch löste der preu- ßisch-französische Krieg, der am 19. Juli 1870 ausbrach, eine Welle des deutschen Nationalismus aus. Die Reichenberger Zeitung veröffentlichte zum Beispiel einen Aufruf mit dem Titel Deutscher Volksverein, in dem die Notwendigkeit hervor - gehoben wurde, in Zeiten der gemeinsamen Gefahr für Österreich und Deutschland

12 Was einer der ältesten Beweise für die Verbindung der entstehenden sozialdemokratischen Bewegung zum Hus- sitentum ist. 13 Vgl. Jiří Rak: Národy místo Boha [Nationen statt Gott] In: Národ místo Boha v 19. a v první polovině 20. století [Nation statt Gott im19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts]. Ústí nad Labem: Univerzita J.E. Purkyně, Ústav slovansko-germánských studií 2006, S. 10. 14 Vgl. Kořalka, Vznik socialistického dělnického hnutí na Liberecku (wie Anm. 9), S. 194.

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August Bebel und die Anfänge der Arbeiterbewegung in Nordböhmen

das Jahr 1866 zu vergessen.15 Aufgrund der Kriegssituation konnten die gelade- nen deutschen Parteiführer Wilhelm Liebknecht und August Bebel, die es im Reichstag des Norddeutschen Bundes ablehnten, für die Kriegskredite zu stim- men, nicht teilnehmen. Vertreten wurden sie von August Otto Walser aus Dresden, hinzu kamen noch Rudolf Kutil als Vertreter des Arbeiterbil- dungsvereins in Wien und aus Prag Jan Bavorský und Antonín Pellant.16 Nach zeitgenössischen Schätzungen trafen sich auf dem Jeschken an die 30.000 Teilneh- August Bebel [undatiert] mer; die Nationalitäten waren in etwa gleich vertreten. Die Beziehung zwischen deutscher und tschechischer Bevölkerung in Böhmen war der erste Programmpunkt, zu dem sich sechs Redner äußerten. Hervorgehoben wurde die Forderung nach einem allgemeinen Wahlrecht. Allgemeine Einigkeit herrschte bei den Stellungnahmen zur Gleichberechtigung nationaler Ansprüche.17 Als bedeutender Meilenstein und als Symbol der Sozialdemokratie galt dies auch in den folgenden Jahren in den Äußerungen sowohl deutscher als auch tschechischer Sozialdemokraten.18 Die Gleichberechtigung wurde Gegenstand von Manipulation19 und Polemik.20 Einfluss auf die Organisation der böhmischen Arbeiterschaft hatte weiterhin das nahe Sachsen. In Böhmen entstehen um das Jahr 1870 die ersten Arbeitervereine in Asch (Aš), Reichenberg, Aussig und Prag. In dieser Zeit kommt es dank Erfahrungen im und Informationen aus dem Ausland bereits zur gehaltvollen Auseinandersetzung mit der ande ren nationalen Kultur.21 Weiter werden bürgerliche Vorbilder einflussreich;

15 Vgl. Reichenberger Zeitung, 26.7.1870. 16 Zum stenographischen Protokoll der deutschen Äußerungen vgl. Kořalka, Vznik socialistického dělnického hnutí na Liberecku (wie Anm. 9), S. 323–332. 17 Vgl. ebd., S. 202ff. 18 Vgl. Josef Hannich: Erinnerungen. Ein Beitrag zu der Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung. Warns- dorf: Nordböhmische Volksstimme 1910, S. 21f.; Zdeněk Šolle: Průkopníci socialismu u nás [Pioniere des Sozia- lismus bei uns]. Prag: Státni Nakl. politické literatury 1954, S. 50, 81. 19 Vgl. Cyril Horáček: Počátky českého hnutí dělnického [Die Anfänge der böhmischen Arbeiterbewegung]. Prag: Česká akademie věd a umění 1933, S. 62. 20 Beispielsweise beschuldigten tschechische nationale Sozialisten Deutsche der angeblichen Nichterfüllung abgegebener Versprechen; vgl. J. Vojtěch: Před 50 lety a dnes [Vor 50 Jahren und heute]. In: Naše hory 2 (1920), Nr. 37, 17.9.1920.

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die erstarkende nationale Bewegung spricht entschieden wenigstens einen Teil der Arbeitereliten an. An der Arbeiterbewegung in der Region Aussig (Ústí nad Labem) beteiligten sich von Beginn an Deutsche und Tschechen. Zum bedeutendsten Arbeiterverein in Aussig wurde der ‚Arbeiterfortbildungsverein Aussig‘, der am 11. Februar 1872 seine Tätigkeit aufnahm; der vorbereitende Ausschuss begann seine Arbeit aber bereits im voran - gegangenen Jahr. In der Anfangszeit des Vereins bemühte sich die Leitung des Aussiger ‚Vereins für Chemische und Metallurgische Produktion‘ die Aktivitäten des Vereins zu beeinflussen, wie es auch bei anderen Vereinen in Böhmen üblich war. Im Jahre 1873 aber kam Josef Schiller* nach Aussig. Dieser wurde zu einer führenden Persön- lichkeit der Arbeiterbewegung in der Region Aussig. Er war Arbeiter in der Aussiger Chemiefabrik und schaltete sich schnell in die Tätigkeit des oben erwähnten Arbei- terbildungsvereins ein. Auch kam es 1873 in Aussig zum ersten bekannten Arbeiter- streik, und zwar in der Aussiger Glasfabrik. Es handelte sich um eine Gruppe Glas- bläser, die als qualifizierte Spezialisten aus den westlichen Regionen Deutschlands während der Errichtung der Glasfabrik nach Aussig gekommen waren und erfolglos versuchten, mit dem Streik ihre Lohnansprüche durchzusetzen. Tatsache ist, dass diese Gruppe von den örtlich zumeist geringer qualifizierten Beschäftigten nicht unterstützt wurde, letztere aber dank dieses Versuchs überhaupt erst feststellten, dass diese Form, ihre Ansprüche durchzusetzen, möglich war.22 Dass zur Jahreswende 1873/1874 in Aussig ein relativ unabhängiges Zentrum der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie entstand, war das Verdienst von Josef Schiller und Bernhard Köhler. Josef Schiller reiste 1874 als Delegierter der Arbeiter- vereine aus Aussig, Türmitz (Trmice), Bilin (Bílina) und Oberleutensdorf (Litvínov) zum Gründungsparteitag der österreichischen Sozialdemokratie nach Neudörfl. Auf diesem Parteitag in Neudörfl am 5. und 6. April 1874 wurde in das Programm der österreichischen sozialdemokratischen Partei eine Passage über die Nationalitätenfrage und zur Selbstbestimmung der Nationen eingefügt,23 das damit auf unterschiedliche Probleme aufgrund der Nationalität reagierte.24 In enger Zusammenarbeit mit der neuen Führung der gesamtösterreichischen Sozialdemokratie, die von 1877 bis 1880 in Reichenberg ansässig war, versuchten sich die Prager Sozialisten an der Gründung

21 Vgl. hierzu Jana Machačová: Prostředí drobného řemeslnictva v českých zemích v druhé polovině 19. století (analýza pamětí Václava Medka) [Die Welt des Kleinhandwerks in den Böhmischen Ländern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Analyse der Memoiren von Václav Medka)]. In: K novověkým sociálním dějinám českých zemí II. [Zur neuzeitlichen Sozialgeschichte der Böhmischen Länder II.]. Prag: Karolinum1998, S. 110f. 22 Vgl. Novák, Mládí mezinárodního chemického monopolu (wie Anm. 8), S. 146f. 23 Vgl. Kořalka, Češi v habsburské říši a v Evropě (wie Anm. 3), S. 282f. 24 Beispiele in der Edition Dokumenty k počátkům dělnického hnutí v Čechách 1864–1874 [Dokumente zu den Anfängen der Arbeiterbewegung in Böhmen 1864–1874]. Prag: St. Nakl. polit. lit. 1961, S. 71, 88f.

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einer tschechischen Arbeiterpartei als autonomer Organisation, und dies gelang auf dem Parteitag in Břevnov im April 1878. Vorerst aber kam am 13. Juni 1874 dank des Verlags ‚J. R. Vilíma‘ in Prag die erste Nummer der deutschen sozialdemokratischen Zeitschrift Arbeiterfreund heraus. Zu den ersten Redakteuren wurden Gustav Kulhá- nek und später Ladislav Zápotocký. Die Zeitschrift erreichte allerdings nicht einmal die Zahl von 2.000 Abnehmern, so dass sie während der gesamten Zeit ihrer Existenz mit finanziellen Problemen zu kämpfen hatte.25 Josef Schiller trat in der Öffentlichkeit auf, referierte oft in Teplitz (Teplice), Bilin, Dux (Duchcov) oder in Komotau (Chomutov). Im gleichen Jahr 1874 war er aber gezwungen, die Region Aussig zu verlassen, weil er für seine Kritik an den Arbeits - bedingungen im ‚Verein für Chemische und Metallurgische Produktion‘ aus seiner Arbeit entlassen wurde. Als es ihm auch nach weiteren Bemühungen nicht gelang, Arbeit zum Beispiel im Aussiger Bergbau zu finden, kehrte er nach Reicherberg zu- rück. Im Jahre 1874 beteiligte er sich aber noch an der erfolgreichsten Aktion des Arbeiterbildungsvereins, durch die es zur Gründung der ‚Krankenunterstützungs- und Invalidenkasse‘ kam. Später wurde diese in ‚Allgemeine Arbeiter- Kranken- und Unterstützungskasse‘ umbenannt. Diese nahm ihre Aktivitäten am 1. Januar 1875 auf. Rasch wurde sie zur bedeutendsten Institution ihrer Art in der Region Aussig mit einer Mitgliederbasis im Bereich der Zehntausend. Unter den bereits erwähnten Ver- tretern der deutschen Arbeiterbewegung J. Schiller und B. Köhler reihte sich früh auch ein Tscheche ein – der Aussiger Schuster Václav Vaic. Neben dem Aussiger Arbeiterverein entstanden in der Region Aussig in jener Zeit noch einige weitere, wie etwa der ‚Karbitzer Weberunterstützungsverein‘ 1870. Noch früher als in Aussig entstand der Arbeiterbildungsverein in Türmitz, der am 9. Mai 1871 ge- gründet wurde. In Peterswald (Petrovice) und Priesten (Přestanov) entstanden Arbeiter - bildungsvereine im Jahre 1874. Der Karbitzer Verein hatte einen für seine Zeit schon eini- germaßen archaischen Charakter, der sich unter anderem in dem Prinzip ausdrückte: „das Frauengeschlecht wird aus der Aufnahme ausgeschloßen“.26 Gerade die Emanzi- pation der Frauen wurde nämlich zu einem der Grundanliegen der Sozialdemokratie. Für diese Frage hatten das Werk und Wirken August Bebels große Bedeutung.27 Das alles spielte sich ab in einer Zeit der erhöhten Aktivität der Arbeiterschaft, die sich allmählich bemühte, auf Basis der Vereine ihre Institutionen aufzubauen. Im weiteren Umfeld der Stadt Aussig nahmen bereits 1869 Arbeiterbildungsvereine in

25 Vgl. Strauss, Die Entstehung der deutschböhmischen Arbeiterbewegung (wie Anm. 6), S. 134. 26 Václav Houfek: Dělnické hnutí v Chabařovicích do roku 1918 [Die Arbeiterbewegung in Karbitz bis 1918]. In: Kristina Kaiserová/Vladimír Kaiser: Dějiny města Chabařovic [Geschichte der Stadt Karbitz]. Chabařovice: Město Chabařovice 1998, S. 101. 27 Vgl. August Bebel: Die Frau und der Sozialismus. Zürich: Volksbuchhandlung 1879.

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Görkau (Jirkov) bei Komotau, in Teplitz und in Oberleutensdorf ihre Aktivität auf, in denen sich ähnlich wie in Aussig, Türmitz und Karbitz (Chabařovice) Deutsche und Tschechen beteiligten.28 Die Entstehung dieser sprachlich bipolaren Umgebung war verbunden mit dem Zuzug von Arbeitskräften vor allem aus dem Landesinneren und zwar in erster Linie wegen des Bergbaus.29 Ein klassisches Beispiel war der ‚Gewerkschafts-Bergarbeiterverein‘ in Dux, welcher sich am 11. April 1875 gründete. Auf seiner Gründungsversammlung wurden die Ver- handlungen auf Deutsch und Tschechisch geführt; die Redner forderten die An - wesenden zur Beendigung aller nationalen Zerwürfnisse auf.30 Dies war aber in dieser Zeit innerhalb der Arbeiterbewegung verhältnismäßig normal. So wurden beispiels- weise auch in Brünn (Brno) Deutsch und Tschechisch auf den Arbeitertreffen neben- einander gebraucht. Die Brünner Zeitschrift Noppeisen aus den Jahren 1872 und 1873 gehörte in ihrer Zeit zu den erfolgreichsten zweisprachigen Druckorganen der Arbei- terbewegung in Europa.31 Der bereits genannte Václav Vaic war die bedeutendste Persönlichkeit der Arbeiter- bewegung in der Region Aussig an der Wende der siebziger und achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts.32 Im Jahre 1878 gründete er neben dem bereits existierenden Arbei- terbildungsvereins einen rein tschechischen Arbeiterverein ‚Svornost‘. Die Zahl seiner Mitglieder bewegte sich zwischen 30 und 64, während der Arbeiterbildungsverein bis zu 700 Mitglieder hatte. Mit der Gründung eines weiteren eng kooperierenden Arbeitervereins in Aussig 1879, dem ‚Fortschritt‘, sank die Mitgliederzahl dann bedeutend. Im gleichen Jahr nahm Václav Vaic als ordentlicher Delegierter auf dem Gründungsparteitag der tschechoslawischen Sozialdemokratie in Břevnov teil. Die Bildung eigenständiger tschechischer Vereine und sozialdemokratischer Sektionen kann man zu dieser Zeit nicht als Folge eines wie auch immer gearteten nationa- len Zwiespalts interpretieren. Es handelte sich um eine praktische Angelegenheit. Dies belegt gerade auch Václav Vaic mit seinen Aktivitäten in Aussig, als er 1880 gleichzeitig Vorsitzender sowohl des tschechischen Vereins ‚Svornost‘ und des deut- schen Arbeiterbildungs vereins wurde. Selbstverständlich zeigten sich auch nationale Zwistigkeiten, auf die indirekt einige Aufrufe zu nationaler Toleranz hinweisen. Im Jahre 1878 beispielsweise lehnten Mit-

28 Vgl. Strauss, Die Entstehung der deutschböhmischen Arbeiterbewegung (wie Anm. 6), S. 93. 29 Vgl. Jan Havránek: Češi v severočeských a západočeských městech v letech 1880–1930 [Tschechen in nord- und westböhmischen Städten 1880-1930]. In: Ústecký sborník historický 1979, S. 227–253. 30 Vgl. Houfek, Dělnické hnutí v Chabařovicích do roku 1918 (wie Anm. 26), S. 101. 31 Vgl. Bedřich Šindelář: Přehled dějin dělnického hnutí na Moravě do hainfeldského sjezdu [Überblick über die Ge- schichte der Arbeiterbewegung in Mähren bis zum Hainfelder Parteitag].In: Časopis Matice Moravské 73 (1954),S.25f. 32 Vgl. Strauss, Die Entstehung der deutschböhmischen Arbeiterbewegung (wie Anm. 6), S. 176.

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glieder der sozialdemokratischen Organisation von Ferdinand Schwarz es ab, die Teil- nahme eines tschechischen Delegierten aus Teplitz auf dem Parteitag in Břevnov zu unterstützen, wogegen sich Schwarz persönlich mit den Worten „der Reichenberger Ausschuß greift ein, dass so etwas Unsolides nicht weiter passiert“, erhob.33 Eher eine Ausnahme war der Vorschlag zur Satzungsänderung des Biliner Vereins von 1880, wo ein Paragraph eingeführt wurde, nach dem Deutsch zur einzigen Verhandlungssprache wurde.34 Im Jahre 1881 fand in Aussig ein Bauerntreffen unter Teilnahme von etwa 4.000 Personen statt. Während der dortigen Verhandlungen wurde es abgelehnt, ein zustimmendes tschechisches Telegramm eines tschechischen Bauernvereins zu ver - lesen. Diese Verhandlungen waren einer harten Kritik unterworfen als nationaler Tau- mel, lächerliche und unbedeutende Deutschtümelei.35 Insgesamt ermöglichte das alles etwa Karl Kautsky und Friedrich Engels doch, die Zusammenarbeit deutscher und tschechischer Sozialdemokraten als positiv zu bewerten.36 An der Wende der siebziger und achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts wurde die Region Aussig zu einem bedeutenden Zentrum illegaler Aktivitäten der sozial - demokratischen Bewegung. Über die Aussiger Häfen wurde sozialdemokratische Literatur geschmuggelt, höchstwahrscheinlich flossen auf diesem Weg auch illegale Parteigelder. Im September 1878 beschlagnahmte die sächsische Polizei drei Koffer sozialistischer Literatur, die aus Böhmen über Aussig eingeschmuggelt worden waren. Allein im Herbst 1879 konfiszierte die Polizei in der Aussiger Buchhandlung F. Hüblers beinahe siebzig Exemplare deutscher und tschechischer Arbeiterkalender, die für den Aussiger Arbeiterverein bestimmt waren. Der Protokollführer des Aus- siger Vereins A. Feix wurde der Organisation dieser Aktion verdächtigt, ebenso wie der Überführung größerer Geldbeträge für den Bedarf der sozialdemokratischen Arbeiterorganisationen. Neben den legalen Vereinen arbeiteten in Aussig und der nächstgelegenen Umgebung nicht weniger als drei illegale Sektionen der österrei- chischen Sozialdemokratie. In demselben Jahr wurde auf einer geheimen Konferenz in Türmitz die erste Bezirksorganisation der Sozialdemokratie in den Böhmischen Ländern überhaupt eingerichtet. Sie verband sowohl deutsche als auch tschechische Arbeiter und deren Organisationen. Der bedeutende deutsche sozialdemokratische Politiker August Bebel organisierte über Nordböhmen einen der Kanäle, über den verbotene sozialistische Literatur heim-

33 Vgl. Jiří Kořalka: Severočeští socialisté v čele dělnického hnutí českých a rakouských zemí. Liberec: Severočeské nakladatelství 1963, S. 243f. 34 Vgl. Dan Gawrecki/Jana Machačová: Dělnické hnutí v severozápadních Čechách do r. 1918. Opava: Slezský Ústav ČSAV 1978, S. 138f. 35 Vgl. Kořalka, Severočeští socialisté v čele dělnického hnutí českých a rakouských zemí (wie Anm. 33), S. 445. 36 Vgl. Friedrich Engels Briefwechsel mit Karl Kautsky. Hg. v. Benedikt Kautsky. Wien: Danubia 1955, S. 53.

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lich nach Deutschland eingeführt wurde.37 Zur Zeit der Sozialistengesetze in Deutsch- land wurde über eine Trasse von der Schweiz über Budapest, Prag und Nordböhmen hauptsächlich die Zeitschrift Der Sozialdemokrat geschmuggelt. Im Jahre 1880 hielt die österreichische Polizei in Budapest eine Sendung von 200 Exemplaren von August Bebels Die Frau und der Sozialismus auf.38 In diesem Jahr gab es keinen einzigen Monat, in dem keine Meldungen über die Verbreitung von sozialistischer Literatur in der Region Aussig zu finden wäre. Es handelte sich um die Reichenberger Sozial - politische Rundschau und einige weitere Titel, die auch die Prager Buchhandlung J. R.Vilímeks, die mit dem ‚Deutschen sozialdemokratischen Comité‘ in Leipzig in Verbindung stand, verbreitete. Auch ermittelte im gleichen Jahr das österreichische Innenministerium eine Trasse zum Versand der Züricher Zeitschrift Der Sozialdemo- krat, die aus Zürich über Budapest und Prag nach Aussig führte, wo die Exemplare auf Schiffe verladen und weiter über die Elbe nach Sachsen transportiert wurden. Und es handelte sich nicht gerade um kleine Sendungen, sondern um beispielsweise 3.000 Exemplare des Gothaer Programms, 1.000 Protokolle des Gothaer Parteitags oder 300 Exemplare von Karl Marx’ Das Kapital.39 August Bebel gehörte vor dem Ersten Weltkrieg zu den populärsten sozialdemokra- tischen Politikern in Europa. Vor 1914 stand sein Bild als eine moderne, visionäre politische Ikone gemeinsam mit dem Portrait von Karl Marx in den Haushalten der Sozialdemokraten. Seine parlamentarische Arbeit war einer ganzen Reihe von Sozial - demokraten Vorbild. Seit 1871 war er Abgeordneter des deutschen Reichtags und von 1881 bis 1891 auch Mitglied des Sächsischen Landtags. Als Mitbegründer der II. Internationale* gehörte August Bebel zu den Verteidigern der Solidarität der Arbeiter aller Nationen. Er war in engem Kontakt mit der österrei- chischen sozialdemokratischen Bewegung. Diese verfolgte seine politische Karriere über die Drucke von Bebels Ansprachen im Parlament. Bebel besuchte die Reichen- berger Sozialdemokraten von 1879 bis 1883 zudem regelmäßig. Offiziell reiste er als Kaufmann an, widmete den wesentlichen Teil seiner Besuche aber der Zusammen - arbeit der Sozialdemokratie in Böhmen und Sachsen. Im Jahre 1879 beispielsweise verhandelte er mit Ferdinand Schwarz über eine Zusammenarbeit mit der gesamt- österreichischen Sozialdemokratie. In den Jahren 1881 bis 1885 war August Bebel im Kreis Teplitz nicht nur mit den deutschen Sozialdemokraten in häufigem Kontakt, sondern auch mit den Vertretern der tschechoslawischen Sektion der öster reichischen

37 Vgl. hierzu Mike Schmeitzner/Michael Rudloff: Geschichte der Sozialdemokratie im Sächsischen Landtag – Dar- stellung und Dokumentation 1877–1997. Dresden: SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag 1997, S. 12–41. 38 Vgl. Bebel, Die Frau und der Sozialismus (wie Anm. 27). 39 Vgl. Novák, Mládí mezinárodního chemického monopolu (wie Anm. 8), S. 152.

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Sozialdemokratie.40 Unter ihnen war der Wortführer der tschechischen Bergleute in Nordböhmen František Choura, der sich mit Bebel beispielsweise 1881 traf. Der Arbeiterbildungsverein in Aussig feierte 1881 sein zehnjähriges Bestehen.41 Die öffentlichen Äußerungen während des feierlichen Treffens am 16. Oktober 1881 wurden aber zum Grund für die Auflösung des Vereins durch die Behör- den. Hauptredner war Václav Vaic, der mit seiner Rede 250 Anwesende dazu hin- riss, die allgemeine Verbrüderung des Pro- letariats ohne Rücksicht auf die Nationa - lität zu skandieren.Im Frühjahr 1882 brach in Nord westböhmen ein umfangreicher Streik der Bergleute aus. Niedergeschlagen wurde er durch den massiven Einsatz von Polizei und Armee, die praktisch die po- litischen und bürgerlichen Rechte der Die Feier des 1. Mai [Ansichtskarte, um 1900] Streikenden außer Kraft setzten. Infolge der verschärften politischen Verfolgung wurde in den sogenannten gegensozialistischen Prozessen beinahe die gesamte Führung der sozialdemokratischen Bewegung ver urteilt.42 Von den Aussiger Parteiführern wurde Václav Vaic zur Höchststrafe von zwei Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Die drakonische Haltung der Behörden gegenüber der Arbei- terbewegung führte zum Ausbau illegaler Strukturen der Sozialdemokratie und zur schrittweisen Radikalisierung einiger Gruppen der Arbeiterbewegung. Zur Zeit der Sozialistengesetze von 1878 bis 1890 radikalisierten sich allmählich die Ansichten inner- halb der sozial demokratischen Bewegung. Diese Zeichen der Zeit wurden auch in Böh- men nach der Intervention der Staatsmacht zu Beginn der achtziger Jahre des 19. Jahr- hunderts spürbar.

40 Vgl. Jana Englová: August Bebel a severní Čechy [August Bebel und Nordböhmen]. In: Semper idem. Jiřímu Tůmovi k pětasedmdesátinám [Semper idem. Jiří Tůma zum 75. Geburtstag]. Hg. v. Zdeněk Radvanovský. Ústí nad Labem: Katedra historie Pedagogické fakulty Univerzity Jana Evangelisty Purkyně 2003, S. 109–116. 41 Zur Situation im Verein vgl. František Cvrk: Ústecký socialista Vincenc Walter a jeho dopisy Antonu Behrovi [Der Aussiger Sozialist Vincenc Walter und seine Briefe an Anton Behr]. In: Ústecký sborník historický 1983,S. 313–364. 42 Vgl. Pavel Koukal: Dělnická jednota v Chabařovicích [Arbeitereinheit in Karbitz]. In: Ústecký sborník historický 2000, S. 174–181.

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August Bebel und die Anfänge der Arbeiterbewegung in Nordböhmen

Nach der Periode der intensivierten Verfolgung in den achtziger Jahren setzte ab 1890 die Zeit der legalen politischen Massenbewegung ein, deren symbolischer Beginn für Österreich-Ungarn der Hainfelder Parteitag von 188943 mit dem Anschluß der österrei- chischen Sozialdemokratie zur II. Internationale wurde. Auf dem Parteitag verschwanden die nationalen Probleme aus der Diskussion. Die einzige Ausnahme bildete der Reichen- berger Delegierte Josef Hannich, der darauf aufmerksam machte, dass der internationale Standpunkt nicht hinreichend ausgedrückt werde.44 Die Verse aus Josef Hannichs Ge- dicht Aufmunterung, das er zum 1. Mai 1892 verfasste, charakterisieren dies prägnant:

Das Fest der Arbeit haben wir zu halten. Des Elends Sphäre gilt es einzuengen, Und bei so ernstem, mühevollem Walten, Bleibt keine Zeit zu Nationalgesängen. Nur für das Eine muss ein Jeder leben: Das Recht für alle ist das höchste Streben; Denn wenn die Wohlfahrt überall auf Erden, Dann können alle ihrer theilhaft werden.

Die veränderte politische Situation an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert führte zur Entstehung einer Arbeiterversicherung, zur Herausbildung veritabler Parteiorga- nisationen auf Landes- und gesamtstaatlicher Ebene in Österreich-Ungarn und zu einer engen Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie im benachbarten Deutsch- land. Der Auftritt einer neuen bürokratischen Arbeiterelite führte natürlich auch zu einem Generationenkonflikt. Zum Studium dieses Problems lassen sich Analysen von Biographien heranziehen, wie etwa die von Václav Houfek45 oder František Halas.46 Im Jahre 1897 gelangen auch die ersten Repräsentanten der Sozialdemokratie in das Reichsparlament. August Bebel aber blieb für die gesamte multinationale sozial - demokratische Bewegung in Mitteleuropa bis zu seinem Tod 1913 ein bedeutendes Vorbild und eine anerkannte politische Führungsperson.

43 Prinzipienerklärung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Oesterreichs, vgl. Strauss, Die Entstehung der deutschböhmischen Arbeiterbewegung (wie Anm. 6), S. 232ff. 44 Vgl. Herbert Steiner: Die Arbeiterbewegung Österreich 1867–1889. Wien: Europa-Verlag 1964, S. 282f. 45 Vgl. Wenzel Holek: Lebensgang eines deutschtschechischen Handarbeiters. In: Nádeníci se střídavým zaměstná- ním/1850–1914 [Tagelöhner mit wechselnder Anstellung/1850–1914]. Hg. v. Jana Machačová/Jiří Matějček. Opava: Slezský Ústav ČSAV 1994, S. 236–335. 46 Vgl. Jana Machačová: Prostředí továrního dělnictva ke konci 19. století. Analýza vzpomínek Františka Halase staršího z let 1885–1913 [Die Sphäre der Industriearbeiterschaft zum Ende des 19. Jahrunderts. Analyse der Er- innerungen von František Halas dem Älteren aus den Jahren 1885–1913]. In: Studie k sociálním dějinám 19. století 6 [Studien zur Sozialgeschichte des 19. Jahrunderts 6]. Opava u.a.: Slezský Ústav ČSAV 1996, S. 63–100.

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August Bebel und die Anfänge der Arbeiterbewegung in Nordböhmen

Glossar:

Die Zweite Internationale: auch ‚Sozialistische Internationale‘, wurde 1889 in Paris gegründet, zu Beginn des Ersten Weltkriegs aber wieder aufgelöst, da ihre Parteien sich jeweils mit ihrer kriegsführenden Regierung arrangiert hatten. Es handelte sich um einen Zusammenschluss sozialistischer Parteien und Organisationen. Die Erste Internationale wurde 1864 in London gegründet, aber nach dem Scheitern der Pariser Kommune 1871 wieder aufgelöst. Sie galt als erster Zusammenschluss von Arbeitergesellschaften. Die Grundidee einer solchen Vereinigung entstammt der Forderung „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“, die im Jahre 1848 von Karl Marx und Friedrich Engels im Kommunistischen Manifest verankert worden war | August Bebel: (1840–1913); deutscher Politiker und einer der Begründer der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in Deutschland, aus dem liberal- demokratischen Vereinswesen von Arbeitern und Handwerkern kommend, aber schließlich dem Marxismus zugewandt | Josef Schiller: (1846–1897); böhmischer und österreichischer Politiker und einer der Begründer der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in Böhmen und im damaligen Österreich

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Die Marke Odol, oder: zwei Nationen – eine Zahncreme

Martin Krsek

Die Marke Odol, oder: zwei Nationen – eine Zahncreme

Noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts hatte die Zahncreme ‚Odol‘ mit einem zwanzig prozentigen Marktanteil die Position der beliebtesten Marke unter den Zahncremes in der Tschechischen Republik inne.1 Das Erzeugnis der Firma Setuza in Ústí nad Labem, die bereits zur Zeit des Kommunismus namhaft war, verschwand mit Einführung der Marktwirtschaft überraschenderweise nicht unter der einsetzen- den westlichen Konkurrenz, repräsentiert durch die berühmten Marken ‚aus dem Westen‘ wie ‚Signal‘, ‚Sensodyne‘ etc., in der Bedeutungslosigkeit. Die tschechischen Konsumenten gaben weiterhin dem heimischen, der öffentlichen Einschätzung nach weniger exklusivem Produkt den Vorzug.2 Sie hielten Odol (und viele halten es immer noch) für eine traditionelle tschechische Marke. Zu einem gewissen Maße ist diese Annahme gerechtfertigt, wenngleich diese berühmte Marke im benachbarten Sachsen entstand und zum Familiensilber der dortigen industriellen Tradition gehört. Zum Namen dieser legendären Zahncreme mit Minzgeschmack bot sich der Reklame - slogan geradezu von selbst an – ‚Odolu neodoláš‘ (Odol widerstehst du nicht). Mittels Fernsehwerbung prägte sich dieser Slogan vor allem in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts tief in das Gedächtnis der Tschechen ein. Dies war ein vorzüglicher Schachzug der Marketingabteilung, die wahrscheinlich das in der Marke schlum- mernde Potenzial erkannte und ausnutzte. Odol wirkt, als wäre es vom tschechischen Wort ‚odolnost‘ (Beständigkeit) abgeleitet, was geradezu perfekt mit der Wirkung einer Zahncreme korrespondiert – soll sie doch den Zähnen eine möglichst lange Beständigkeit ermöglichen. Allerdings ist der Ursprung der Marke deutsch und die deutschen Äquivalente für ‚odolnost‘, – also Widerstandsfähigkeit, Beständigkeit, Resistenz – sind weit von der im Tschechischen ähnlichen und auf den ersten Blick

1 Vgl. Martin Krsek: Nejslavnější značky Ústeckého kraje. Ústí nad Labem: PrintActive 2009, S. 40. 2 Vgl. Karel Jahoda: Vliv sdělovacích prostředků na utváření současného obrazu světa (aspekty reklamy a jejího vlivu na dospívající mládež). Diplomarbeit. Brno: PF Masarykova univerzita 2006, S. 51; das Unterkapitel 4.4.3.2. „Zahnpaste als Prestigeobjekt?“ veröffentlichte die Ergebnisse der Fragebögen, in denen die Befragten aus zwei Zahnpasten – Odol (gängige tschechische Zahnpasta) und Colgate (ausländische Zahnpasta) – eine wählen soll- ten, die sie auf einen Schulausflug mitnehmen würden. Die zweite Zahncreme sollten sie zu Hause benutzen. Man meinte im Voraus, dass die Befragten, die Colgate wählen, vom Fernsehen und von der Werbung stärker beeinflusst werden. Die meisten Befragten werden die Zahnpasta Colgate aufgrund des Werbungsbildes wählen. Die Forschung bestätigte dies mit dem Ergebnis: Colgate (63%) über Odol (37%).

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Die Marke Odol, oder: zwei Nationen – eine Zahncreme

Reklame für das Mundwasser Odol [aus der Zeitschrift „Jugend“, 1908] natürlichen Sprachkonstruktion entfernt. In Wirklichkeit schöpfte der Begründer der Marke Odol nicht einmal aus dem Deutschen, sondern vielmehr aus dem Lateini- schen und Griechischen. Es handelt sich um eine Zusammen setzung aus dem grie- chischen Begriff für Zähne ‚odous‘ und dem lateinischen Wort für Öl ‚oleum‘.3 Somit ist die Einbürgerung der Marke Odol im tschechischen Raum ein Zusammenspiel eines linguistischen Zufalls und der politischen Geschehnisse im 19. und 20. Jahr- hundert, die die sächsisch-böhmische Geschichte prägten. Die Geschichte der Marke Odol beginnt 1892 in Dresden und ist verbunden mit dem Namen eines der bedeutendsten Großindustriellen nicht nur im sächsischen, sondern auch im gesamtdeutschen Maßstab. Karl August Lingner (1861–1916) gelang es durch die Entdeckung von krankheits verursachenden Bakterien, seine Hygieneartikel auf dem Markt zu platzieren. Als Schutz empfahl Lingner der Öffentlichkeit sein Mund- wasser, das sich zur Einhaltung der Mundhygiene besonders eignete. Ein ihm dafür von seinem Freund, dem Chemiker Richard Seifert (1861–1919), überlassenes Rezept kombinierte ein ‚geheimes‘ Anti septikum mit verschiedenen ätherischen Ölen und destilliertem Wasser und verdünnte das Ganze mit Alkohol. Die Werbekampagne für das neue Produkt verband Lingner mit der Hygieneerziehung. Dies war für die da- malige Zeit ein innovativer Marketing-Schachzug, denn er konnte nicht nur einen

3 Vgl. Ulf-Norbert Funke: Karl August Lingner, Leben und Werk eines sächsischen Grossindustriellen. München: Grin-Verlag 2007, S. 16.

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Die Marke Odol, oder: zwei Nationen – eine Zahncreme

unternehmerischen Erfolg verzeichnen, sondern Lingner forcierte damit auch einen grundlegenden Wandel in den Hygienegewohnheiten breiter Bevölkerungsschichten in Deutschland und anderen Ländern.4 Der Verkauf von Odol brachte enorme Einnahmen und Lingner wurde binnen sehr kurzer Zeit zum Multimillionär. Aufgrund seiner wirtschaftlichen Erfolge entschied er sich, über die sächsischen Grenzen hinaus zu expandieren. Die erste Wahl für einen neuen Standort war das benachbarte Österreich-Ungarn, denn die k. u. k. Monarchie, die einen wesentlichen Teil Mittel- und Südosteuropas umfasste, war ein immenser Markt ohne innere Zollschranken. Deutsche Unternehmer wie Lingner hofften, ihre Produkte in großem Stil absetzen zu können, weil sie glaubten eine wesentlich gerin- gere Konkurrenz vorzufinden, als sie es aus dem Deutschen Kaiserreich gewohnt waren. Weiterhin erleichterte den sächsischen Unternehmern die Verbreitung der deutschen Sprache in der Monarchie, besonders in den Grenzgebieten Böhmens, den Erfolg auf dem österreichischen Markt. Und so fügte sich die Marke Odol in den tschechischen Raum ein. Seit 1894 produ- zierte die Zweigniederlassung ‚Mundwasserfabrik ODOL K. A. Lingner, Bodenbach a. E.‘ in Bodenbach (Podmokly) bei Tetschen (Děčín) das Mundwasser Odol, also gerade ein paar Kilometer von der sächsischen Grenze entfernt. Die Firma prospe- rierte, und 1898 wurde der Bau einer neuen Fabrik vorbereitet. Gerade damals erlebte Odol aber auch eine ernsthafte Krise, die zwar nicht das Ende der Firma bedeutete, aber den Verkauf ihrer Erzeugnisse auf dem österreichisch-ungarischen Markt ein- schränkte. Die königlich-kaiserlichen Behörden zweifelten nämlich die Rechtmä- ßigkeit des freien Verkaufs des Mundwassers an, weil der Verdacht bestand, dass man als Antiseptikum* Salizylsäure verwende, die aber auf dem Gebiet der Monarchie ausschließlich in Apotheken verkauft werden durfte. Den Streit konnte Karl August Lingner erst nach zwei Jahren beilegen. In diesen zwei Jahren durfte Lingner seine Mund hygieneartikel Odol nicht auf dem österreichischen Markt verkaufen.5 Ein weiterer Rückschlag kam 1918 nach der dem Zerfall Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reiches auf die Firma zu. Eine ganze Reihe von Staaten, die nun durch Zollbarrieren geteilt waren, verkleinerten den Markt enorm, sodass der Bodenbacher Zweigbetrieb seine ursprüngliche Bedeutung verlor und künftig in erster Linie nur noch für die Tschechoslowakei produzierte. Das erlebte August Lingner aber nicht mehr. Nach seinem Tod im Jahr 1916 wurde auch eine Neuerung in das Sortiment aufgenommen – die Zahncreme Odol. Weitere Produkte kamen hinzu, beispielsweise

4 Vgl. ebd., S. 5. 5 Vgl. Petr Joza: „Jak dokázáno jest podle nynějšího stavu vědy...“. Industrializace Děčínska na příkladu výroby ústní vody Odol v Podmoklech. In: Amicae Decini Cum Honore. Hg. v. Otto Chmelík/Marcela Zemanová- Oubrechtová/Václav Zeman. Děčín: Státní oblastní archiv v Litoměřicích 2012 [noch nicht erschienen].

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das Rasierwasser ‚Pitralon‘, das auf dem tschechoslowakischen Markt später eine ähn- liche Berühmtheit wie Odol erlangte. Nach der Besetzung des tschechoslowakischen Grenzgebietes durch das national- sozialistische Deutschland verlor die Bodenbacher Fabrik ihren Status als Auslands- niederlassung, weil sie sich nun innerhalb des Reiches befand. Der Zweite Weltkrieg brachte den Zusammenbruch des industriellen Imperiums, das Lingner aufgebaut hatte. Die Angriffe auf Dresden im Februar 1945 zerstörten vollständig die Hauptfa- brik, und die Kriegshandlungen verschonten auch nicht die anderen mittel - europäischen Niederlassungen (Bratislava, Budapest, Lodsch, Belgrad). Die einzige Ausnahme war die Fabrik in Bodenbach.6 Diese wurde nach den Dekreten des Prä- sidenten Beneš* als sogenanntes feindliches Vermögen konfisziert. Damit gingen nicht nur das Gebäude und die Produktionseinrichtungen an den tschechoslowakischen Staat über, sondern – auf tschechoslowakischem Gebiet – auch die Rechte an der Marke Odol und auf alle Namen der Erzeugnisse einschließlich von Pitralon. Im Juni 1945 entdeckte ein Nationalverwalter in der Bodenbacher Fabrik eine Schachtel mit den Rezepturen aller Erzeugnisse der Lingner-Werke A.G., die hier während des Krieges aus Angst vor Angriffen auf Dresden versteckt wurden. Der Betrieb hatte also die besten Vorrausetzungen, den Markt mit den Erzeugnissen von Odol in ganz Mitteleuropa zu übernehmen.7 Der neue Besitzer aber – der Staat – hörte schon 1948 auf, in der ‚Fabrik für das Mundwasser Odol, K. A. Lingner unter nationaler Verwaltung‘ das Mundwasser und die Zahnpasta Odol zu pro- duzieren. Die Marke Odol übernahm, ebenso wie weitere Marken von Drogerie- artikeln aus dem Produktionsprogramm der Lingnerschen Fabrik, der volkseigene Betrieb ‚Nordböhmische fettverarbeitende Werke‘ (‚Severočeské tukové závody‘, kurz: ‚Setuza‘) in Ústí nad Labem, früher die ‚Schichtwerke‘*, die vor dem Krieg der größte Drogerie- und Nahrungsmittelbetrieb in Europa waren. Dort begann zu Beginn der fünfziger Jahre die erneute Produktion ausgesuchter Odol-Marken. Auf ähnliche Art und Weise erwarb die Firma Setuza auch Marken weiterer kon- fiszierter Betriebe – ob nun deutsche oder tschechische – für ihr Portfolio.8 Während in Ústí das zweite Leben wenigstens einiger der Lingnerischen Erzeugnisse begann, kehrte die Fertigung nicht mehr nach Dresden zurück. Die Tradition ver - abschiedete sich beinahe vollständig aus Sachsen. Die Firma Lingner-Werke wanderte in die Bundesrepublik ab und fand in Düsseldorf eine neue Wirkungsstätte, wo sie die Produktion der Zahncreme und des Mundwassers Odol wieder einleitete. Durch

6 Ebd. 7 Ebd. 8 Vgl. Krsek, Nejslavnější značky Ústeckého kraje (wie Anm. 1), S. 41.

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unterschiedliche Fusionen gelangte Odol schließlich in den Besitz der britischen Gruppe ‚Smith Kline Beecham‘(heute ‚Glaxo Smith Kline‘), eines der größten pharma - zeutischen Betriebe der Welt.9 In der Tschechoslowakei brachte Setuza währenddessen auch die Marke Odol auf den aktuellen Stand, aber nicht mehr für Mundwasser, sondern ersatzweise für Zahn- creme unterschiedlicher Geschmacksrichtungen. Nach Öffnung des tschechischen Marktes im Jahre 1989 musste es fast zwangsweise zu einem juristischen Konflikt zwi- schen den beiden Produzenten ein und derselben Marke kommen. Die Besitzer der eigentlichen geschützten Marke Odol erhoben vor einem internationalen Gericht Klage gegen Setuza in Ústí nad Labem. Nach einigen Jahren endete der Rechtsstreit mit einem Urteil, das der Firma Setuza verbot, Produkte der Marke Odol außerhalb der tschechischen Grenzen zu verkaufen, im Gegenzug durfte der deutsche Hersteller seine Produkte nicht auf den tschechischen und slowakischen Markt bringen. Das Gericht erkannte das Argument des tschechischen Herstellers an, dass die Marke Odol wörtlich erst im August 1945 in der Tschechoslowakei registriert wurde, während die ursprünglichen Marken erloschen. Tatsächlich aber benutzte Setuza bis 2004 eine graphisch stilisierte Form des Logos, die zufällig der ursprünglichen Lingnerschen Handelsmarke ähnelte. Odol gehörte zu den Flaggschiffen der Setuza. Die Firma leitete zur Steigerung der Verkaufszahlen eine Werbekampagne im Fernsehen ein, mit dem strahlenden Lächeln der Olympiasiegerin und tschechischen Skiläuferin Kateřina Neumannová. 2002 wurde Odol unter den Zahncremes zum ‚Produkt des Jahres‘ gekürt und über- trumpfte somit die ausländische Marke ‚Aquafresh‘. Setuza produziert unter der Marke Odol Zahncremes in sechs Geschmacksrichtungen, z.B. ‚Odol Perlička‘ für Kinder, ‚Odolherbal‘ mit Kräutern, das mit Vitaminen angereicherte ‚Odol vitamins‘ u. a. Im Jahre 2005 allerdings, genau fünfzig Jahre nachdem der Zweite Weltkrieg die Marke Odol in eine deutsche und eine tschechoslowakische entzweit hatte, kam es überraschenderweise zu ihrer Wiedervereinigung. Setuza entschied sich nämlich, die legendäre Marke an den britischen Pharmazeuten ‚Glaxo Smith Kline‘ (GSK) zu verkaufen. Der Verkaufspreis wird von den Beteiligten geheim gehalten, Sach- verständige gehen von einem ein- bis zweistelligen Millionenbetrag aus. Setuza erklärte den Verkauf damit, dass die Kosten für das Halten der Position von Odol als Nummer Eins auf dem tschechischen Markt für sie untragbar hoch gewesen wären. Gleichzeitig verkaufte Setuza GSK weitere Marken ihrer Zahncremes wie

9 Vgl. www.gsk.cz, Zugriff am 25.4.2013. 10 Vgl. www.idnes.cz, MFDNES, ula; Setuza prodává slavné značky: ymolin, Fluoru a Odol, Zugriff am 12.10.2005.

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‚Thy molin‘, ‚Fluora‘, ‚Stoma‘, ‚Perlička‘ und ‚Paradentol‘, die zu den traditionellen tschechischen Marken gehörten. Setuza produzierte auf Lizenzbasis noch einige Zeit Zahncremes für GSK, bald wurde aber auch die Produktion verlagert.10 Der neue Besitzer der Marke Odol führte die vollkommen neue Reihe ‚Odol 3dent‘ auf dem Markt ein.11 Im tschechischen Raum hält sich aber ein Lingnersches Produkt bis heute auf der Position eines heimischen Erzeugnisses. Und zwar das Rasierwasser Pitralon, das seit 1920 zum Portfolio der tschechoslowakischen Zweigniederlassung der Dresdner Fabrik Odol gehörte. Unter rein tschechischer Regie wird es seit 1951 ohne Unterbrechungen produziert. Zur Zeit des Sozialismus wurde es zu einer Legende der Herrenkosmetik.12 Es gelangte sogar in eine volkstümliche Redensart, auf eine unabweisliche Meinungs- äußerung zu reagieren: „Sich aufdrängen wie Pitralon“. Pitralon inspirierte Musiktexte und die Literatur.13 Heute wird es auch nicht mehr von Setuza produziert. Der Betrieb hatte nach 2007 aufgehört zu existieren. Die Produktion übernahm die Gesellschaft ‚Spolpharma‘,14 ein indirekter Nachfolger der Setuza in der Herstellung von Drogerie - artikeln.15 Pitralon wurde die gesamte Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg auch in der Deut- schen Demokratischen Republik produziert, und zwar direkt in Dresden im Be- trieb ‚Leowerke‘. Im Unterschied zu den tschechischen Kollegen aber überlebte der Betrieb die Einführung der Marktwirtschaft nicht, und Pitralon verschwand nach 1990 aus den Regalen. Überraschenderweise produzierte daneben auch die ame rikanische Firma ‚Sara Lee‘ das Rasierwasser Pitralon, bzw. ihre Niederlassung in der Bundesrepublik Deutschland. Diese verkaufte 1993 die Marke. Heute gehört sie GSK, also dem heutigen Eigentümer der Marke Odol. GSK stellt Pitralon bis heute für die Märkte in Deutschland, Österreich und der Schweiz her.16 Im Gegensatz zu Odol, dass nach seiner Teilung in der Nachkriegszeit in eine deutsche und eine tschechische Marke seine Wiedervereinigung, diesmal unter britischem Ka pital, erlebte, erinnert die Parallelexistenz von Pitralon auf beiden Seiten der Grenze immer noch an den Nachhall der gemeinsamen Geschichte des 20. Jahr- hunderts.

11 Vgl. Korporátní brožura GSK 2009 – GlaxoSmithKline; www.gsk.cz, Zugriff am 25.4.2013. 12 Vgl. Krsek, Nejslavnější značky Ústeckého kraje (wie Anm. 1), S. 41. 13 Zu den neuesten Reflexionen über die Marke vgl. Pavel Cingl: Pitralon. Prag: Pijavice 2012. Skupina Novodur: Album Punková brigáda, skladba Pitralon. O.O.: o.V. 1985. 14 Eine Aufzählung der Erzeugnisse unter der Kategorie Herrenkosmetik findet sich in: www.spolpharma.cz, Zugriff am 13.3.2013. 15 Spolpharma ist eine hundertprozentige Tochtergesellschaft der Firma Spolchemie aus Ústí, die 2007 Setuza kaufte. 16 Vgl. www.wikipedia.de, Kennwort Pitralon.

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Glossar:

Antiseptikum: in der medizinischen Anwendung eingesetzter chemischer Stoff zur Behandlung bzw. Vorbeugung von Infektionen und Entzündungen | Beneš, Edvard: 1884–1948, tschechischer bzw. tschechoslowakischer Politiker, 1945–1948 Staatspräsident der Tschechoslowakei | Schichtwerke/Setuza: Der Metzger Georg Schicht gründete 1848 in Ringelsdorf (Rynoltice) bei Reichenberg (Liberec) eine Seifensiederei und begann mit der Produktion von Seife zum Waschen von Texti- lien mit dem Symbol des Hirsches. 1882 eröffnete dann sein Sohn Johann Schicht eine Fabrik in Aussig (Ústí nad Labem), die im Folgenden zum Fundament für den Aufbau des größten Produktionskomplexes von Kosmetika und Lebensmitteln in Europa wurde. Die Firma Schicht wurde vor allem durch die Herstellung der Seife mit dem Hirsch, von Waschmitteln unterschiedlicher Marken, des Pflanzen- öls ‚Ceres‘ und weiterer Produkte berühmt. Ihre Erzeugnisse verkaufte sie in ganz Österreich-Ungarn. Sie zeichnete sich durch eine progressive Einstellung zum Mar- keting aus. Sie gehörte etwa zu den ersten Firmen in Europa, die systematisch das Medium Film zur Werbung nutzten. 1929 wurde der Enkel des Gründers Georg Schicht Präsident des noch heute existierenden britischen internationalen Konzerns Unilever. Die Schichtwerke in Ústí wurden zu dessen Zentrale für Mittel- und Osteuropa. Nach dem Zweiten Weltkrieg fiel die Fabrik dem Staat zu und än- derte 1951 ihren Namen in Nordböhmische fettverarbeitende Betriebe/Severočeské tukové závody – Setuza. Diese hielten weiter ihre dominante Stellung auf dem tschechoslowakischen Markt und produzierten eine ganze Reihe traditioneller Pro- dukte. Nach der Samtenen Revolution von 1989 hatte der Betrieb nicht das Glück eines verantwortungsvollen Besitzers. Er wurde zum Objekt von Spekulationen, die zur Pleite des vormals beharrlichen Giganten führten. Die Überreste kaufte daraufhin der andere Chemiebetrieb in Ústí, Spolchemie. Währenddessen wurde schrittweise die Produktion von Seife, Waschmittel und Zahncreme eingestellt. Eine ganze Reihe traditioneller Marken fand ihr Ende. Lediglich die Herstellung von Pflanzenfetten und Ölen überdauerte und wurde 2011 durch den Schweize - rischen internationalen Konzern Glencore aufgekauft.

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Der bittere Weg zum Ende des deutsch-tschechischen Zusammenlebens

Martin Veselý

Der bittere Weg zum Ende des deutsch-tschechischen Zusammenlebens

Die Zeit von 1918 bis 1945 zeichnete sich im Gegensatz zur relativen Ruhe der vorigen Jahrzehnte im österreichisch-ungarischen Staatenbund durch eine erhebliche Dyna- mik und eine grundsätzliche historische Wende aus. Diese wurde in vielen Fällen be- stimmend für die künftige Entwicklung. Die deutsch-tschechischen Beziehungen und damit die über Jahrhunderte aufgebaute demografische und soziale Struktur des Grenz- gebiets wurden innerhalb dieses Zeitraumes zerstört. Die folgenden Kapitel behandeln daher die Jahre der Spaltung und der wachsenden Spannung vor Unterzeichnung des Münchner Abkommens* 1938, als über die sächsisch-böhmische Grenze die national- sozialistische Ideologie und zuletzt auch bewaffnete Einheiten in die Böhmischen Län- der strömten. Wir beginnen mit der Errichtung der tschechischen Verteidigungslinie und enden mit den Jahren, als die Sudetendeutschen ‚Heim ins Reich‘ zurückkehrten.

I. Die Errichtung der Grenzbefestigung

Die immer angespannteren Beziehungen zwischen dem nationalsozialistischen Deutsch- land und der Tschechoslowakei führten 1934 zur Aufnahme vorbereitender Arbeiten zum Bau einer Grenzbefestigung.1 Das Ministerium für Nationale Verteidigung grün- dete deshalb im März 1935 den Rat für Befestigung (RB) als leitendes Organ und die Direktion für Verteidigungsarbeiten (DVA, tschech. Abk.: ŘOP) als ausführendes Organ, das für den eigentlichen Bau verantwortlich war. An der Spitze des DVA stand der Divisionsgeneral Karel Husárek, der die Arbeiten nicht nur in bautechnischer Hin- sicht leitete, sondern auch Vorschläge für Trassen einer dauer haften Befestigung machte. Der eigentliche Plan für die befestigte Verteidigungslinie entstammte der tschecho - slowakischen Militärdoktrin, die an Frankreich orientiert und auch vertraglich gebunden war. Vorbild für die tschechoslowakische Befestigung war die Maginot-Linie, ein aus

1 1934 einen Nichtangriffspakt, was zur Folge hatte, dass Frankreichs Verteidigungskonzept für Mitteleuropa gestört wurde. Frankreich konnte Polen nicht weiter als einen starken Stützpunkt ansehen und verständlicherweise nahm auch die Tschechoslowakei diesen Schritt als sehr besorgniserregend wahr. Deshalb fanden im Juni 1934 in Paris Verhandlungen des tschechoslowakischen mit dem französischen Generalstab statt, der sich dafür aus- sprach, dass die Tschechoslowakei ein starkes Grenzbefestigungssystem errichtete.

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Bunkern bestehendes Verteidigungssystem, das die französische Grenze vor allem nach Deutschland und Italien absicherte. Bei den Planungen wirkten deshalb auch franzö- sische Fachberater mit. Nach den ursprünglichen Vorschlägen sollte die gesamte Grenze durch eine schwer befestigte Zone aus Infanteriewerken und Festungen geschützt wer- den; dies stellte sich aber aus zeitlichen und finanziellen Gründen rasch als unrealisierbar heraus. An der Grenze zu Oberschlesien baute man schwere Befestigungen und ab 1936 auch noch leichtere Befestigungslinien an weniger bedrohten Grenzabschnitten. Die Grenze zu Sachsen sollte nach den ursprünglichen Plänen von 1936 durch eine schwere Befestigung geschützt werden,2 aufgrund des Aufwands bei der Realisierung dieses Vorhabens entschied man sich aber für den Bau einer leichten Befestigungslinie. Den Hauptanteil an der Ausführung des Baus hatte das Landeskommando (zemské vojenská velitelství), das die Ausdehnung der Befestigungsabschnitte bestimmte und unter Zustimmung des DVA die Firmen für den Bau auswählte. Ebenso kümmerte es sich um die Finanzierung und übernahm die technische und bauliche Aufsicht. Die Aufträge vergab man auf Grundlage von Ausschreibungen, die ohne Ausnahme an böhmische Baufirmen gingen. Gegen einen deutschen Angriff von sächsischem Gebiet aus wurden in den Jahren 1936 bis 1938 mehrere grundlegende Befestigungslinien erbaut. Deren Errichtung ging vom Sommer 1936 bis Herbst 1938 vonstatten. Allerdings konnten sie nur zum Teil fertig gestellt werden. Als erstes wurde mit dem Bau des Abschnittes von etwa 200 Kilometern Länge entlang der Flüsse Eger und Biela von Kaaden (Kadaň) über Komotau (Cho- mutov), Brüx (Most) bis nach Aussig (Ústí nad Labem) begonnen. Diese Linie bildeten 196 Kleinbefestigungsanlagen vom Typ 36, die vor allem als Stützpunkte einer dahinter - liegenden Verteidigungslinie dienen sollten, falls feindliche Einheiten das Erzgebirge überwanden. Ihre Wehrhaftigkeit war aber nicht allzu hoch, und auch die Dichte ihrer Anordnung war nicht dazu bestimmt, ein grundsätzliches Hindernis für den Vormarsch des Feindes zu bilden. Baulich und technisch ausgereifter waren die Kleinbefestigungs- anlagen vom Typ 37, die in ihrer Konstruktion aus der Form von Artillerieschanzen für eine schwere Befestigung hervorgingen. Vorgeschlagen wurden sie 1937 vom DVA, nach dem sie im Volksmund „řopíky“ genannt wurden. Diese Objekte, gebaut in fünf Kon- struktionsvarianten, wurden zum wichtigsten Element der Verteidigungslinie.3

2 Diese sollte über den Erzgebirgskamm und das Elbsandsteingebirge Richtung Herrnskretschen (Hřensko) weiter über den Kamm des Lausitzer Gebirges führen. Durch die leichte Befestigung wurde diese Linie aber verschoben – vom Kamm des Lausitzer Gebirges nach Herrnskretschen und von dort aus weiter flussaufwärts entlang der Elbe nach Bilin (Bílina), Brüx (Most) und Komotau (Chomutov). Vgl. Zdeněk Bauer/Jakub Likovský: Děčín, Děčínsko a příprava obrany předmnichovské československé republiky. Prag: Společnost přátel starožitností v Praze v nakl. Unicornis 2009, S. 80. 3 Näher zur Typisierung der Kleinbestigungsanlagen vgl. Lubomír Aron: Československé opevnění 1935–1938. Náchod: Okresní muzeum 1990.

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Festungsobjekt Muster 37 bei Großpriesen (Velké Březno) [undatiert]

An der Grenze entstanden so beispielsweise im Bereich des I. und II. Armeekorps* einige Zonen dieser Blockhäuser, oftmals in schlecht zugänglichem gebirgigem Ter- rain. Dies war der Fall bei der Verteidigungslinie im Isergebirge, mit deren Bau man aber, da sie bei weitem keine Priorität genoss, erst im Juli 1938 begonnen hatte. Von den 125 geplanten Anlagen gelang es bis Ende September 1938 nur 33 zu betonieren.4 Beinahe ein Jahr zuvor hatten die Arbeiten an den Bunkern im Lausitzer Gebirge be- gonnen, aber auch hier gelang es nicht alle geplanten Anlagen zu realisieren. An diese Linie schlossen sich dann eine Zone von Kleinbefestigungsanlagen in der Sächsisch- Böhmischen Schweiz* aus Richtung Herrnskretschen und eine Linie leichter Befes- tigung auf der rechten Elbseite von Tetschen (Děčín) nach Aussig an. Ähnlich wie im Isergebirge hatte dieser Abschnitt keine Priorität, weil man davon ausging, dass der Elbübergang in Hinsicht auf das Terrain und die Breite des Flusses mit Einheiten in Feldstellung verteidigt werden könnte. Schließlich ging man erst im August 1938 zum Bau über. Trotz des schnellen Fortgangs der Arbeiten überraschte die deutsche Mobil machung die Vollendung der unterschiedlichen Phasen.5 Weil die leichte Befestigung vom Typ 36, die von Aussig nach Bilin (Bílina) führte, nur unterstützend war, wurde im September 1938 in diesem Abschnitt der Bau von

4 Vgl. Jan Fukala: Popis úseku J1 Jizerské hory. In: http://www.ropiky.net, Zugriff am 15.6.2012. 5 Dazu vgl. Zdeněk Bauer: Československé opevnění z let 1937–1938 v prostoru Střekov-Děčín-Hřensko. Dvůr Králové nad Labem: FORTprint 1998; vgl. auch Martin Veselý: Vojenské dějiny Ústecka. Ústí nad Labem: Vyd. město Ústí nad Labem 2003, S. 124f.

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Bunkern des Typs 37 vergeben. Angesichts des drohenden Einmarsches gelang es nur noch, die Fundamente von zehn Bunkern zu gießen. Wesentlich besser war es um die 82 Objekte vom Typ 37 in den Bauabschnitten Bilin, Brüx, Komotau und Kaaden bestellt, deren Errichtung im Juni 1937 begann.

II. Schutz und Verteidigung des tschechoslowakischen Staates und das Jahr 1938

Nach der Ernennung von Adolf Hitler zum Reichskanzler im Januar des Jahres 1933 drang die nationalsozialistische Propaganda immer häufiger über die deutsche Grenze in die Tschechoslowakei ein. Unter den böhmischen Deutschen fand sich eine immer größer werdende Zahl an Zuhörern und Unterstützern. Gründe dafür gab es viele, aber in erster Linie fühlte sich die deutsche Minderheit, die immerhin mehr als 3,1 Millionen Einwohner umfasste, ins zweite Glied zurückgedrängt. Die Weltwirt- schaftskrise*, die sich auf die traditionell leichte und mittlere Industrie im Grenzgebiet besonders hart ausgewirkt hatte, ließ die Zahl der Unterstützer weiter steigen. Ver- bunden damit, legte die politische Repräsentation der böhmischen (Sudeten-)Deut- schen an Gewicht und Popularität zu. An deren Spitze stand vor allem die Sudeten- deutsche Partei (SdP) von Konrad Henlein. Diese erlangte in den Parlamentswahlen von 1935 den höchsten Prozentsatz an Stimmen (15,2%), und die Partei entwickelte sich zum Hauptsprecher der sudetendeutschen Unabhängigkeitsbewegung.6 Dies be- inhaltete sogar Versuche, militärischem Widerstand gegen den tschechoslowakischen Staat zu leisten. Eine Rolle spielte dabei auch der im Jahr 1925 entstandene Sudeten- deutsche Heimatbund. Dessen Mitglieder weigerten sich, der allgemeinen Wehr- pflicht in der Tschechoslowakei nachzukommen und versuchten sogar, eine sudeten- deutsche Armee – ähnlich den bewaffneten Einheiten der Provinz Deutschböhmen in den Jahren 1918 und 1919 – aufzubauen. Bei diesen Bemühungen sollte ihnen die sogenannte ‚Sudetendeutsche Kommission‘ helfen, die in Deutschland unter dem Patronat der NSDAP entstanden war. Die Kommission arbeitete einen Plan und einige konkrete Weisungen zur Bildung der geheimen Sudetendeutschen Freiwilligenarmee aus. Alle waffenfähigen und ideologisch bewussten sudetendeutschen Männer sollten sich melden. Die Pläne waren groß angelegt – man rechnete mit ihrer Schaffung be-

6 Selbst Konrad Henlein, der sich vom Studium Othmar Spanns inspirieren ließ, setzte sich zumindest bis Mitte der 1930er Jahre vor allem für eine autonome Stellung der Sudetendeutschen im Rahmen der ČSR ein. Mit diesen Ansichten geriet er in einen grundsätzlichen Konflikt mit Hans Krebs. Ab Herbst 1937 gab er diesen Standpunkt auf, als er sich auf Druck der Reichsführung der NSDAP und nach Aktionen des SD definitiv dem Willen Adolf Hitlers beugte. Im Grunde wurde er zu einem Instrument, um eine Abspaltung des tschecho - slowakischen Grenzgebietes zu erreichen.

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reits bis Mitte 1936. Man nahm an, dass die Armee bis zu 39.000 Männer in neun Brigaden und 107 Sturmbannabteilungen* umfassen werde. Die Führung der Briga- den sollte sich in ausgesuchten größeren Städten befinden, während jeder Brigade- führung eine Zentralstelle in Deutschland beigestellt wurde; für Aussig beispielsweise sollte dies Dresden sein. In diesem Fall übertrafen die Pläne die Realität, und die Sudetendeutsche Freiwilligenarmee existierte zum großem Teil nur auf dem Papier. Allerdings hatte deren Vorbereitung schon eine Bedeutung, denn so führte man eine Wehrertüchtigung der sudetendeutschen Freiwilligen in Zivil- und Verteidigungs- kursen in Deutschland durch. Die erworbenen Erfahrungen ließen sich beim Aufbau der Sudetendeutschen Freikorps im Jahre 1938 nutzen. Weitaus häufiger waren andere Formen des Widerstands und damit verbundene Aktivitäten. Zu diesen gehörten illegale Grenzübertritte, nachrichtendienstliche Aktivitäten, der Schmuggel von nationalsozialistischem Propagandamaterial und von Waffen,7 staatsfeindliche Propaganda, die Beleidigung von Vertretern des Staates usw. Die Tschechoslowakische Republik reagierte auf diese Situation auf mehreren Wegen. Einer von ihnen war die Stärkung der Legislative in Form des im Mai 1936 verab- schiedeten Gesetzes zum Schutz des Staates.8 Einerseits ermöglichte es zwar ein wirk- sameres Vorgehen gegen Aktivitäten, die gegen die Republik gerichtet waren, aber auf der anderen Seite wurden dadurch einige demokratische Elemente ausgehöhlt. Beispielsweise war im Grenzgebiet der Aufenthalt im Wald nur auf Grundlage einer besonderen Erlaubnis möglich. Per Gesetz wurde die Bewachung der Grenzen ge- stärkt, denn die im Jahr 1937 neueingerichtete Körperschaft der Staatsverteidigungs- wacht (SVW) stärkte die Rechte der Soldaten und Gendarmen*. In den Gebieten entlang der sächsisch-böhmischen Grenze waren vier Bataillone der SVW (III.–VI.) stationiert, die im September 1938 4.938 Männer umfassten. Dies war notwendig ge- worden, weil sich die Situation ab Frühjahr 1938 bedenklich verschärfte. Dazu trugen mehrere Faktoren bei, wie der Anschluss Österreichs an Deutschland im März 1938, der den Ruf nach einer Vereinigung aller Deutschen – einschließlich der Sudeten- deutschen – verstärkte. Das Karlsbader Programm*, das der von Hitler instruierte

7 Eine besondere Rolle beim Waffenschmuggel spielten die deutschen Eisenbahner. Denn einige grenzüberschrei- tende Trassen auf tschechoslowakischem Boden gehörten auf Grundlage internationaler Verträge der Reichsbahn, die auch Betriebsgebäude bzw. Teile von Bahnhofsgebäuden im Besitz hatte. Dies war auch auf der Trasse von Schöna nach Tetschen-Bodenbach (Děčín-Podmokly) der Fall, wo die Reichseisenbahner den Lokschuppen und die Hälfte des Bahnhofsgebäudes verwalteten. 8 Paragraph 1 grenzte klar dessen Zielrichtung ab: „Als Schutz des Staates werden alle Maßnahmen verstanden, ob militärische oder andere (dazu zählt vor allem die zielgerichtete Nutzung wirtschaftlicher und anderer Kräfte der Bevölkerung), die zum Ziel haben jedweder Bedrohung der staatlichen Souveränität, Eigenstaatlichkeit, Integrität, verfassungsmäßigen Einheit, demokratisch-republikanischen Verfasstheit und Sicherheit der Tschechoslowaki- schen Republik oder Angriffen auf dieselbe entgegenzutreten.“

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Konrad Henlein Ende April ausrief, provozierte schlussendlich die Sudetenkrise. Die Prager Regierung lehnte das Programm aus Angst vor Gewalttätigkeiten ab, unter dem Druck der westlichen Mächte gab sie aber schließlich nach. In den Städten im Grenzgebiet zeigte die SdP damit ihre Machtposition. Die demokratischen Parteien schlossen sich zusammen und traten auf Demonstrationen gemeinsam auf, dennoch blieben sie gegenüber der ständig wachsenden Mitgliederbasis der SdP und ihrer Sympathisanten in der klaren Minderheit.9 Das Selbstbewusstsein der Henlein- Partei verstärkte sich zusätzlich durch die Entscheidung des tschechoslowakischen Innenministeriums, den sogenannten Freiwilligen Schutzdienst (FS), offiziell ein Ordnungskommando der SdP, zu erlauben. Und das, obwohl er eindeutig die national- sozialistische SA zum Vorbild hatte, was bereits beim Anblick der Uniformen offen- sichtlich war. Zum Prüfstein für die Position des tschechoslowakischen Staates im Grenzgebiet wur- den die Kommunalwahlen im Frühjahr 1938, die an drei Terminen im Mai und im Juni stattfanden. Die Regierung gab einen Tag vor den ersten Wahlen die Teilmobil- machung bekannt und rief zwei Reservistenjahrgänge an die Waffen. Das Ministerium für Nationale Verteidigung erklärte zwar, dass es sich um eine Übung handle, weil die Mobilisierung nur der Präsident ausrufen konnte. Dennoch schlossen ab den Morgenstunden des 21. Mai 1938 Militäreinheiten die Staatsgrenze. Sie bauten Ab- sperrungen und verminten Zugangsstraßen zu wichtigen Brücken. Einheiten zur Rückendeckung bezogen ihre Stellungen, und auch die Staatsverteidigungswacht wurde in Bereitschaft gesetzt. Diese Maßnahmen unterbanden zwar für längere Zeit offene Provokationen, aber ansonsten konnte die SdP zufrieden sein; in den Wahlen erlangte sie 1.279.045 Stimmen. Der Sommer 1938 war im Grenzgebiet verhältnismäßig ruhig, vermutlich auch wegen der Runciman-Mission von Lord Walter Runciman, der als britischer Diplomat in der Sudetenkrise vermittelte. Deshalb verhandelte er ab dem 3. August sowohl mit Henlein, als auch mit der Prager Regierung. Diese legte schließlich der National - versammlung den sogenannten Vierten Plan zur Lösung der gegenwärtigen Situation der sudetendeutschen Bevölkerung vor, mit dem sie im wesentlichen auf Henleins Forderungen aus dem Karlsbader Programm einging. Dies hatte im Fortgang der Er- eignisse keine grundlegende Bedeutung mehr, denn eine friedliche Lösung war nicht im Interesse des nationalsozialistischen Deutschland. Es ging vielmehr um einen Kon- flikt, der die Unmöglichkeit des Zusammenlebens der deutschen und tschechischen

9 In Aussig zum Beispiel trafen sich am Vormittag des 1. Mai 1938 an die 20.000 demokratisch gesinnte Bürger, die SdP lockte am Nachmittag aber 70.000 an. Demonstrationen von Antifaschisten fanden gleichwohl auch in anderen Städten des nordwestlichen Grenzgebietes statt.

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Ethnien aufzeigen sollte. Zum Initiatalpunkt in der angespannten Situation wurde eine Rundfunkrede Adolf Hitlers in den Abendstunden des 12. September 1938, in der er auf dem Parteitag in Nürnberg den Sudetendeutschen den Schutz des Reiches zusicherte. Hitlers Rede brachte Tausende Menschen auf die Straßen, es kam zu an- titschechischen Demonstrationen, Provokationen und Zusammenstößen; in Weipert (Vejprty) im Kreis Komotau beispielsweise machten Henlein-Anhänger aus einer Turnhalle ein ‚Gefangenenlager‘, griffen tschechische Behörden, aber auch deutsche Antifaschisten an – auf der Straße blieb ein erschlagener deutscher Sozialdemokrat zurück. Bei einer Schießerei am Weiperter Bahnhof wurde ein Gendarm schwer ver- letzt. Die tschechoslowakische Regierung reagierte mit dem Verbot öffentlicher Ver- sammlungen und des Tragens nationalsozialistischer Symbole sowie mit einer Vor- zensur der Zeitungen. In den darauffolgenden Tagen kam es im Grenzgebiet zu zahlreichen Versuchen der Machtübernahme.10 Von der Regierung in Prag wurde das Standrecht ausgerufen und die SdP verboten. Konrad Henlein und weitere Partei- mitglieder flohen über die Grenze. Eine wesentliche Rolle in den folgenden Ereignissen spielte das Sudetendeutsche Frei- korps, das die Idee der Sudetendeutschen Freiwilligenarmee erneuerte. Den Aufbau segnete Adolf Hitler am 17. September 1938 mit einer Unterschrift ab, und an der Spitze der Führung in Bayreuth stand Konrad Henlein. Organisatorisch gliederte sich das Freikorps in Gruppen, in Bataillone, Kompanien und Züge, wobei die Gruppe II Sachsen mit Führung in Dresden das Gebiet von Friedland (Frýdlant) bis Asch (Aš) bildete. Es handelte sich um die stärkste Gruppe mit 11.264 Männern, deren Führer das ehemalige tschechoslowakische Parlamentsmitglied Franz May wurde. Nach einer schnellen Schulung legten die Angehörigen des Freikorps einen feierlichen Schwur auf Adolf Hitler ab. Dass die Entstehung des Freikorps keine Ad-hoc-Aktion war, wird durch die erste Aktion bezeugt, die bereits am 14. September stattfand, also vor seiner faktischen Konstituierung. Über die Grenze drang das Freikorps der Sudetendeutschen Freiwilligenarmee ein. Es überfiel auf tschechoslowakischem Territorium Gendarmerien, Stationen der SVW, Behörden, Postämter oder Bahnhöfe und terrorisierte Antifaschisten. Ziel war es, Chaos und Aufstände hervorzurufen, die als Vorwand für einen Einmarsch der Wehr-

10 Zu einer Revolte kam es in der Nacht vom 14. auf den 15. September 1938 in Wernsdorf (Verneřice) im Bezirk Tetschen. Örtliche Mitglieder der SdP und weitere Sympathisanten verhafteten alle Tschechen, unterbrachen die Kommunikationswege und versperrten die Straßen. Die von drei Männern verteidigte Gendarmerie fiel, nachdem sie die Heinlein-Anhänger in Brand gesteckt hatten. Auch der Bahnhof wurde besetzt. Ordnung schaffte am folgenden Tag ein Truppenkontingent. Den Anstiftern der Aktion gelang aber die Flucht über die Grenze. Auf ähnliche Weise versuchten die Nationalsozialisten beispielsweise in Friedland die Macht zu übernehmen, wo sie das Gebäude des Bezirksgerichts besetzt hatten; hier aber griffen noch am selben Tag die Soldaten des 44. Infanterieregiments aus Reichenberg (Liberec) ein.

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macht* hätten dienen können. Zu den größten Aktionen kam es im Schluckenauer Zipfel*, wo die Einheiten des Freikorps direkte Unterstützung durch die lokale Be- völkerung, die mit ihnen sympatisierte, bekamen. Am 21. September 1938 griff das Freikorps zuerst das Gebäude des Zollamtes in Ebersdorf (Habartice) an, das aber die Zollbeamten und Angehörigen der SVW mit der herbeigerufenen Verstärkung halten konnten. Am folgenden Tag weitete sich die Aktion aus – in Friedland besetzten Ord- ner und Freikorps die Kommandantur der SVW und weitere wichtige Gebäude, in Hermsdorf (Heřmanice) kam es zu einem neuen Angriff, im Raum Warnsdorf (Varns- dorf) unternahmen Angehörige des Freikorps den gesamten Tag über Granaten - angriffe auf Posten der SWV. Am 23. September glitt den tschechoslowakischen Be- hörden die Situation aus den Händen, denn im gesamten Schluckenauer Zipfel griff das Freikorps unter aktiver Unterstützung durch lokale Nationalsozialisten militäri- sche Stellungen, Verwaltungs- und andere Behörden an. Es kam weiterhin zur Ver- haftung von Antifaschisten, die ins Schluckenauer Gerichtsgebäude als improvisiertes Gefängnis gebracht wurden. Von dort aus stellte man die Gefangenen weiter nach Bautzen und später nach Magdeburg über.11 Die Mannschaft der SVW wich in der unübersichtlichen Situation in die Zone der leichten Grenzbefestigung zurück und verteidigte sich gegen Angriffe und Überfälle, wie zum Beispiel bei Zeidler (Brtníky) oder in Daubitz (Doubice). Auch die Angehörigen der Finanzwacht waren ständigen Angriffen ausgesetzt – in Niedergrund (Dolní Podluží) wurden zwei von ihnen er- mordet. Bekannt ist auch ein Vorfall aus Wünschendorf (Srbská) vom 23. September, als zwei Sudetendeutsche bei einer Grenzkontrolle das Feuer eröffneten und drei Beamte töteten. Zu Überfällen und Toten kam es auch in anderen Gebieten entlang der sächsisch-böhmischen Grenze wie in Tisa (Tisá), Weipert, Eidlitz (Údlice), in Gebirgsneudorf (Nová Ves v Horách) und Brandau (Brandov). Die tschechoslowakische Regierung reagierte mit dem Aufruf zur Generalmobil - machung in den Abendstunden des 23. September 1938 auf die Situation im Grenzge- biet.12 Erfolgreich war dies nur zum Teil. Im allgemeinen Bewusstsein besteht in der Historiographie die vor 1989 kultivierte Vorstellung, dass mindestens die Hälfte der böhmischen Deutschen den Wehrdienst verweigerten. Neuere Forschungen weisen dies

11 Die Gefangenen wurden von der Gestapo verhört, die sich vor allem für Daten deutscher Antifaschisten interes- sierte. Nach Magdeburg wurden letztlich etwa 650 aus dem Grenzgebiet verschleppte Personen überstellt. Ihre Rückgabe an die tschechoslowakischen Behörden erfolgte erst am 28. Oktober 1938 in Lobositz (Lovosice). Ins- gesamt wurden 1.449 Bürger der Tschechoslowakei ohne Rücksicht auf deren Nationalität fortgebracht. 12 Die Generalmobilmachung betraf 1.253.000 Männer des Jahrgangs 1918 aus der ersten Reserve und Spezialisten aus der zweiten Reserve; die Stärke der Armee wuchs damit auf 1.453.000 Männer an, von denen 315.000 deut- scher und 90.000 ungarischer Nationalität waren; vgl. Martin Zückert: Zwischen Nationsidee und staatlicher Realität. Die tschechoslowakische Armee und ihre Nationalitätenpolitik 1918–1938. München: Oldenbourg 2006, S. 287.

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zurück. 126.000 Reservisten erschienen nicht bei ihren Abteilungen. Von denen waren etwa 100.000 deutscher Nationalität, also etwa ein Drittel.13 Die Mobilmachung beru- higte zwar teilweise die Situation im Grenzgebiet, bedeutete aber nicht das Ende grenz- überschreitender Vorstöße des Freikorps. Bei einem Angriff auf eine Patrouille der SVW wurde am 25. September bei Grünthal (Zelený Důl) im Bezirk Brüx einer ihrer An - gehörigen erschossen und ein anderer verletzt. Weitere Tote und Verletzte kamen am 29. September bei Überfällen in dieser Region hinzu. An diesem Tag starb ein Zoll - beamter in der Wache in Böhmisch Hammer (České Hamry), ein weiterer wurde einen Tag später in Moldau (Moldava) im Bezirk Teplitz (Teplice) erschossen; die Angreifer zogen sich erst nach dem Einsatz gepanzerter Wehrtechnik zurück. Einen Tag vor der Unterzeichnung des Münchner Abkommens wurde in Tisa im Bezirk Aussig ein wei- terer Angehöriger der SVW bei einem Angriff des Freikorps schwer verletzt.14 Die Ver- öffentlichung des Münchner Diktats rief bei der tschechischen Bevölkerung, aber auch bei deutschen Antifaschisten eine außerordentliche Unruhe hervor; viele packten nur die wichtigsten Sachen zusammen und versuchten ins Landesinnere zu entkommen und trotzten damit der Verordnung der tschechoslowakischen Regierung über das Ver- bot des Umzuges vom 1. Oktober 1938.15 Es kam so zu der paradoxen Situation, dass Tschechen in Bezirke flohen, die nicht zum abgetretenen Sudetenland gehörten, dort aber von den tschechoslowakischen Behörden zur Rückkehr gezwungen wurden.16 Die Besetzung der abgetretenen grenznahen Gebiete erfolgte auf Grundlage des Münchner Abkommens in der Zeit vom 1. bis 10. Oktober; das Gebiet an der säch- sisch-böhmischen Grenze zerfiel in zwei Zonen, in die die Wehrmacht in den Tagen vom 2. bis 9. Oktober 1938 einmarschierte; ihr wurde von der Mehrheit der lokalen

13 Vgl. ebd., S. 288. Der Autor verweist zudem auf weitere Gründe, die zur Ablehnung der Verteidigungspflicht geführt haben konnten, als die Sympathie zur SdP. Die Zahl der Rekruten von anderer Nationalität als der tsche- choslowakischen, die bei ihren Abteilungen antraten, unterschied sich auch lokal. Das II. Bataillon des 42. In- fanterieregiments in Leitmeritz (Litoměřice), das die Verantwortung für die Verteidigung der leichten Befesti- gungslinie zwischen Aussig und Tetschen hatte, wurde beispielsweise zu 25% aus Soldaten deutscher und zu 30% aus Soldaten ungarischer Nationalität zusammengestellt. 14 Genauer zu den gefallenen Verteidigern des tschechoslowakischen Grenzgebietes: codyprint.cz/padli, Zugriff am 8.7.2012. 15 „Das Landesamt in Prag macht die Bevölkerung des Grenzgebietes darauf aufmerksam, ihren Wohnsitz nicht zu verlassen, da unter keinen Umständen zuzulassen ist, dass sie ins Landesinnere übersiedelt. Alle Flüchtlinge werden zurück in ihre Heimat geschickt.“ Faksimile einer Anordnung vom Präsidium des Landesamtes in Prag für staatliche Verwaltungsbehörden, beispielsweise in der Edition von Dokumenten vgl. Intolerance – Intoleranz. Češi, Němci a židé na Ústecku 1938–1948. Hg. v. Vladímír Kaiser. Ústí nad Labem: Albis Internat. 1998, S. 10f. 16 Die genaue Zahl der Flüchtlinge, unter denen Tschechen, Juden und deutsche Antifaschisten waren, lässt sich nur annähernd abschätzen. Zu ihnen gehörten etwa 25.000 Personen, die noch vor Unterzeichnung des Münch- ner Abkommens aus dem Grenzgebiet flüchteten; zu diesen kamen bis Dezember laut einer Statistik des Prager Innenministeriums weitere 125.425 Personen hinzu. Bis zum Sommer 1939 kletterte die Zahl der Flüchtlinge auf etwa 200.000; vgl. Volker Zimmermann: Sudetští Němci v nacistickém státě. Politika a nálada obyvatelstva v říšské župě Sudety 1938–1945. Prag: Argo 2001, S. 58.

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Bevölkerung ein sehr herzlicher Empfang bereitet. Außerordentlich schwere Zeiten brachen jedoch für die deutschen Antifaschisten an. Die Zahl antifaschistisch gesinn- ter böhmischer Deutscher im Grenzgebiet, die sich nicht mit der Politik der SdP identifizierten, lässt sich nur sehr grob schätzen. Es ist bekannt, dass die Deutsche Sozialdemokratische Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Republik (DSAP) im Herbst 1938 etwa 80.000 Mitglieder hatte,17 zur Kommunistischen Partei bekann- ten sich im Grenzgebiet 13.000 Personen und einige hundert zur Deutschen demo- kratischen Freiheitspartei (DDFP).

Einmarsch der Wehrmacht in die Stadt Ústí nad Labem (Aussig) [1938]

Seit 1934 gab es auch die paramilitärische Organisation ‚Republikanische Wehr‘ (RW), manchmal auf Grund der Abkürzung als ‚Rote Wehr‘ bezeichnet, in der etwa 7.000 Personen organisiert waren.18 Sie machte sich zur Aufgabe, bei Treffen der demokra- tischen Kräfte für Sicherheit zu sorgen, beschützte aber auch bedrohte Einzelpersonen. Weiterhin gab es auch eine ganze Reihe antifaschistisch gesinnter Bürger deutscher Nationalität, die sich politisch nicht engagierten bzw. organisierten. Schon während

17 Einige Städte hatten noch bis 1938 offene Kritiker von Henleins Partei in ihrer Verwaltung, was etwa in Aussig der Fall war, wo der Sozialdemokrat Leopold Pölzl Bürgermeister war, oder in Reichenberg (Liberec), wo diese Funktion Carl Kostka (DDFP) ausübte. 18 Vgl. Václav Houfek, Němečtí antifašisté na Ústecku. In: ...i oni byli proti. Ústí nad Labem 2007, S. 322.

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der Besetzung des Grenzgebietes wussten das deren Nachbarn zu ‚regeln‘ und oft musste die Wehrmacht zu ihrer Verteidigung eingreifen. Auch die demobilisierten Soldaten deutscher Nationalität waren bei ihrer Rückkehr den Schikanen und der Rache des Freikorps ausgesetzt. Und schon bald setzte die institutionalisierte Verfol- gung ein. Allein bis zum 20. Oktober 1938 wurden annähernd 7.000 Sozialdemokra- ten und etwa 1.400 Kommunisten verhaftet und inhaftiert; obgleich ein Teil von ihnen später freigelassen wurde, blieben sie unter dauernder Aufsicht der Sicherheits- organe.19 Es ist offensichtlich, dass die Bedingungen für eventuellen Protest oder di- rekten Widerstand der deutschen Antifaschisten auf dem Gebiet des neueingerichte- ten Sudetengaus von Beginn an außerordentlich ungünstig waren. Obgleich es ihn in begrenzter Weise gab, war sein Einfluss im Gesamtkontext marginal. Ihre Zeit kam nach dem unmittelbaren Ende des Krieges, als sie sich oft gemeinsam mit Tschechen an der Machtübernahme in den Gemeinden und Städten und der Erneuerung der Staatsgewalt beteiligten. Wegen des damaligen gesellschaftlichen Klimas und der Politik des befreiten Staates dauerte dies nicht lange an.

III. ‚Heim ins Reich‘

Die ehemalige sächsisch-böhmische Grenze wurde ab Oktober 1938 zu einer inner- staatlichen Grenze zwischen zwei Gauen* – dem Reichsgau Sudetenland20 und dem Reichsgau Sachsen. Im Unterschied zum Reichsgau Sachsen, dessen Grenzen histo- rischen Wurzeln entstammten, war der Reichsgau Sudetenland ein künstliches Ge- bilde, das sich in Hinsicht auf Verwaltung, Struktur und Wirtschaft – also Industrie, Landwirtschaft und Verkehrsplanung betreffend – problematisch darstellte. Der Gau teilte sich in drei Regierungsbezirke mit dem jeweiligen Sitz in Eger (Cheb), bzw. Karlsbad (Karlovy Vary), Aussig und Troppau (Opava) auf,21 Hauptstadt wurde Reichenberg (Liberec). Die nächstkleineren Verwaltungseinheiten waren dann drei Stadtkreise und 53 Landkreise.22 An die Spitze des gesamten Sudetengaus stellte sich der ehemalige Chef der SdP Konrad Henlein, der sowohl die höchste Parteimacht als Gauleiter der NSDAP, als auch die politisch-rechtliche Position des Reichsstatthalters*

19 Vgl. Zdeněk Radvanovský: Postavení německých odpůrců nacismu v „Sudetech“ a „Protektorátu“. In: ...i oni byli proti, Ústí nad Labem 2007, S. 111. 20 Offiziell wurde der Reichsgau Sudetenland durch das Gesetz über die Aufgliederung der sudetendeutschen Gebiete mit Gültigkeit ab 1. Mai 1939 ausgerufen Vgl. http://www.verfassungen.de/de/de33-45/sudetenland- verwaltung39.htm, Zugriff am 9.9.2012. 21 Es ging um die Regierungsbezirke Eger (bzw. später Karlsbad), Aussig und Troppau. 22 Die Anzahl der Landkreise änderte sich zwischen 1939 und 1945, im Fall der Stadtkreise ging es um die Städte Eger, Karlsbad, Aussig, Reichenberg und Troppau.

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in seinen Händen hielt. Im Rahmen des nationalsozialistischen Deutschlands war die Kumulation dieser beiden Funktionen jedenfalls nicht gängig, und Konrad Henlein hatte dank ihrer eine verhältnismäßig starke Position. Dadurch fiel es ihm leichter, seine Opponenten auf Abstand zu halten.23 Zu diesen gehörte beispielsweise der höhere SS-Führer und General der Polizei Udo von Woyrsch aus Dresden, in dessen Kompe- tenz jegliche Angelegenheiten der SS auf dem Territorium des Aussiger Regierungs - bezirks fielen und der noch bis Februar 1944 gegen Henlein intrigierte.24 Ein ziemlich angespanntes Verhältnis hatte Henlein auch zum Staatssekretär beim Reichsprotektor in Böhmen und Mähren und ehemaligen Funktionär der SdP, Karl Hermann Frank. Die inneren Machtkämpfe und Zerwürfnisse griffen auf das Funktionieren und Leben des Sudetengaus nur am Rande über, und Konrad Henlein bemühte sich über den gesamten Zeitraum als Gauleiter einen Mustergau zu bilden. Die anfängliche Euphorie der Sudetendeutschen über den Anschluss an das Reich legte sich, als der Alltag Einzug hielt, der die nüchternere Realität des Lebens im Reich mit sich brachte. Diese Realität betraf mehrere Angelegenheiten. Eine Über raschung waren bereits die ersten Oktoberwochen, als die lokale Bevölkerung tatsächlich mit der An- kunft der Wehrmachtssoldaten und später auch der Reichsdeutschen konfrontiert war, die den vorteilhaften Kurs der Reichsmark gegenüber der tschechoslowakischen Krone ausnutzten und Waren aus den sudetendeutschen Geschäften aufkauften. Häufig emp- fanden es die Sudetendeutschen als Ungebührlichkeit, dass ihnen bei der Besetzung von höchsten und leitenden Positionen Reichsdeutsche vorgezogen wurden. Einige negative Reaktionen rief auch die Tätigkeit des Stillhaltekommissars hervor, dessen Aufgabe die Eingliederung und Vereinheitlichung der Strukturen im Sudetengau an die des Reiches war. Dies betraf in einem hohen Maße auch eine ganze Menge tradi- tioneller Vereine im Sudetenland, die in die Reichsorganisationen eingegliedert werden sollten. Unwillen löste auch die Auflösung der SdP und ihrer Organisationen aus, allerdings war das Interesse an einem Eintritt in die NSDAP oder SA unter den Sude- tendeutschen enorm groß. Gleichwohl rief die sogenannte Reichskristallnacht, in deren Verlauf jüdische Synagogen in den Städten des Sudetenlands, einschließlich Reichen- berg brannten, unter den Sudetendeutschen zumindest Bedenken hervor.

23 Bei den unter ihnen am höchsten Gestellten handelte es sich beispielsweise um den Chef des Reichssicherheits- hauptamtes (RSHA) Reinhard Heydrich, der gegen Henlein schon in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre intri- gierte. Volker Zimmermann schreibt wörtlich: „Erinnerungen von Zeitzeugen legen nahe, dass ihn die Nachricht über das Attentat [auf Heydrich] sehr erfreute, er soll sich sogar gegen seine Gewohnheit betrunken haben.“ Vgl. Zimmermann, Sudetští Němci v nacistickém státě (wie Anm. 16), S. 223. 24 In dieser Hinsicht machte sich wiederum die geografische Gestalt des Gaus als schwierig zu verwaltendes Ganzes bemerkbar, als er in Hinsicht auf die höheren Partei-, politischen und militärischen Behörden in der Regel unter drei verschiedene Machtzentren fiel. Einzelne Teile des Gaus fielen beispielsweise unter drei höhere SS-Führer in Nürnberg, Dresden und Breslau, bei der Einteilung der Wehrkreise und in vielen weiteren Fällen war dies ähnlich.

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Der Anschluss ans Deutsche Reich bedeutete die notwendige Belebung der Wirtschaft und den Zufluss von Kapital. Ein großes Reichskonsortium, Firmen und Banken ‚teil- ten‘ bereits vorher das Terrain auf, und auch die benachbarten Regionen versprachen sich eine merkliche Steigerung des gegenseitigen Handels. Zu den größten Konzernen, die sich hier in einem wesentlichen Maße durchsetzten, gehörten vor allem die IG Far- ben und die Hermann-Göring-Werke. Diese kontrollierten die Kohleförderung, weil sie den Tagebau in den nordwestlichen und westlichen Teilen des Gaus unter dem Dach der Firma Sudetenländische Bergbau AG (SUBAG) übernahmen. Weiterhin beteiligten sie sich mit Kapitaleinsatz im Herbst des Jahres 1939 wesentlich an der Gründung und dem Bau der riesigen Sudetenländischen Treibstoffwerke (STW), um künstlichen Brenn- stoff in Maltheuern (Záluží) bei Brüx zu erzeugen. Auf der anderen Seite waren die Aufteilung der Industrie und die quantitative Vertretung der Beschäftigten in den ein- zelnen Industriezweigen im Sudetengau problematisch. 36 % der Werktätigen waren in der Textil- und Bekleidungsindustrie beschäftigt, die in den 1930er Jahren eine schwere Krise durchlief. Viele Betriebe waren fertigungstechnisch veraltet.25 Auch die kleinen und mittleren Industriezweige wie die Glas-, Schmuck- und Holzproduktion waren bedeutend vertreten, was im Kontrast zur Situation im Reich stand, wo die In- dustrie in erster Linie auf die Rüstungsproduktion ausgerichtet war. Für die Zukunft war daher mit einer Umstrukturierung und Modernisierung der Industrie im Sudetengau zu rechnen.26 Auch deshalb unterscheiden sich die Bewertungen, inwiefern der An schluss des Grenzgebiets von Vorteil für das Reich war. Fakt ist, dass reichsdeutsche Betriebe 87% der Kohleförderung, 72% der chemischen Produktion, 44% der Elektrizitäts - erzeugung und 14% der Stahlindustrie im Sudetengau kontrollierten.Als positiven Effekt nahmen die Sudetendeutschen die faktische Beseitigung der Arbeitslosigkeit wahr. Dies ging soweit, dass sich um das Jahr 1940 die Situation gar ins andere Extrem umkehrte, und die Region unter einem chronischen Arbeitskräftemangel litt, den nicht einmal die wachsende Zahl sogenannter Pendler,27 unter Zwang angesiedelte Kriegsgefangene und ab 1941 auch sogenannte Ostarbeiter kompensieren konnten. Dies hing mit dem allmählichen Wandel der sudetendeutschen Wirtschaft zusammen, die sich in zwei Phasen vollzog. Zuerst ging es um den schrittweisen Aufbau der Rüstungsindustrie, der aber verhältnismäßig langsam verlief – unter den bedeutendsten sind zumindest der Munitionsproduzent Metallwerke Holleischen oder die Flugzeugwerke Eger zu nennen.

25 Einen größeren Anteil an Arbeitern in der Textil- und Bekleidungsindustrie hatte im reichsweiten Vergleich nur Sachsen. 26 Diese Umstrukturierung war aber eng an der Rüstungspolitik des Reiches orientiert und richtete sich in erster Linie auf den Bergbau und den Maschinenbau; die Erwartungen vieler sudetendeutscher Gewerbetreibender an eine Belebung der eigenen Industriezweige erfüllten sich oftmals nicht. 27 Bezeichnung für Arbeiter und Angestellte, die zur Arbeit aus dem Protektorat Böhmen und Mähren kamen.

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Die zweite Phase hing bereits mit durch den Krieg hervorgerufenen Prozessen zu- sammen, konkret mit der Bombardierungsoffensive der alliierten Luftwaffen gegen das nationalsozialistische Deutschland. Diese begann zwar bereits Mitte 1940, aber ihre Folgen blieben verhältnismäßig lang marginal. Erstmals 1942 begann sich die Situation mit einer geänderten Taktik des britischen Bomber Command28 und der immer größeren Beteiligung amerikanischer Kräfte in Europa bedeutend zu verän- dern. Nach der Konferenz von Casablanca* zu Beginn des Jahres 1943, wo klare Prio- ritäten bei der Führung des Luftkrieges gesetzt wurden, wurden die Bomberoffensiven für das Dritte Reich zu einem wahrhaftigen Albtraum. Die konzentrierten Nachtan- griffe hunderter britischer Bomber auf deutsche Städte und die amerikanischen Ta- gesangriffe auf Produktionsstätten29 stellten die Vertreter des Reiches vor einige be- sondere Probleme. Es mussten zehntausende Einwohner, die ihr Dach über dem Kopf verloren hatten, in Sicherheit gebracht und einquartiert werden, weitere Hundert- tausende mussten geschützt werden. Ebenso war zu entscheiden, wie die Rüstungs- industrie am Laufen gehalten werden konnte, wenn die Betriebe in den traditionellen Industrieregionen in Ruinen lagen. Es boten sich zwei grundsätzliche Möglichkeiten an: Einerseits die Produktion unter die Erde zu verlagern, was aber äußerst kostspielig war, oder sie andererseits in sichere Reichsgebiete zu verlagern. In dieser Hinsicht stellte sich der Sudetengau als äußerst geeignetes Gebiet heraus, denn es lag weit genug im Landesinneren. Zudem gab es eine Fülle von Betrieben und Firmen, die man übernehmen und deren Produktion man gegebenenfalls umstrukturieren konnte. Im Gegensatz zum Protektorat Böhmen und Mähren oder dem ehemaligen Polen dominierte hier die deutsche Bevölkerung. Dieser logistisch und organisatorisch äußerst langwierige Prozess fand unter Aufsicht des sogenannten Verlagerungsausschusses mit Konrad Henlein an der Spitze im Ver- lauf des Jahres 1943 statt. Auf den Sudetengau steuerten hunderte von Firmen zu, von kleineren bis hin zu den ganz großen ‚Spielern‘, wie die Junkerswerke, die Weser Flug- zeugwerke, die Blaupunktwerke, die Firmen Rheinmetall Borsig, AEG, Siemens und Halske und weitere. Sie brachten die Produktion von Waffenteilen für Panzer, Flug-

28 Bis zum Frühjahr 1942 war die Taktik des britischen Bomber Commands bei Nachtangriffen auf konkrete Ziele gerichtet – Rüstungs-, Chemie- und andere Betriebe. Wegen der nicht besonders hohen Schlagkraft, Probleme mit der Navigation und Zielerfassung, deutschen Flugabwehr und nächtlichen Jägern der Luftwaffe waren die Ergebnisse dieser Taktik aber im Verhältnis zu den eigenen Verlusten nicht besonders gut. Der Wandel kam mit einem neuen Mann im Kommando des Bomber Command, Sir Arthur Harris, der Flächenbombardements deut- scher Städte durchsetzte. 29 Im Verlauf des Jahres 1943 führte das Bomber Command der Royal Air Force (RAF) drei große Luftoffensiven durch – die sogenannte Schlacht um die Ruhr, Operation Gomorra, was der Deckname für die schweren Angriffe auf die Hansestadt Hamburg war, und die Schlacht um Berlin – Angriffe auf die Reichshauptstadt von November 1943 bis März 1944. Harris glaubte, dass sich damit der Krieg entscheiden ließe.

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zeuge, Flugabwehrkanonen, U-Boote, Schiffe, Waffen, Munition usw. in Gang. Im Ergebnis waren im Jahr 1944 mittlerweile 70 % der Betriebe im Sudetengau auf die Rüstungsproduktion ausgerichtet. Dies geschah oft zum Nachteil der traditionellen lokalen Industrie, was den Unwillen der sudetendeutschen Besitzer und Gewerbe- treibenden aber auch gewöhnlicher Leute hervorrief. Die Zahl der Angestellten in der Textilindustrie sank beispielsweise bis zum Frühjahr 1944 gegenüber 1939 beinahe um die Hälfte, d.h. um 80.000 Personen. Diese ‚große Transformation‘ brachte auch weitere Probleme mit sich, denn der Arbeitskräftemangel verschärfte sich, gleichzeitig wurde die Möglichkeit zur Unter- bringung der Neuankömmlinge schwieriger, und die Forderungen nach Energie- und Gaslieferungen stiegen, wie die Zahl der Kriegsgefangenen und sogenannter Ost - arbeiter. Gleichzeitig eröffnete man an vielen Orten Nebenlager von Konzentrations- lagern, in erster Linie die KZ Flossenbürg und Groß-Rosen. Neben den produzie- renden Betrieben bot der Sudetengau aber auch zehntausenden Reichsdeutschen, die aus den von Angriffen heimgesuchten Teilen des Reiches hierher evakuiert worden waren, einen Zufluchtsort. Zehntausende Kinder wurden im Rahmen der reichs - weiten Aktion ‚Kinderlandverschickung‘* beherbergt. Die eintreffenden Reichs - deutschen, die das Grauen der Bombardierungen erlebt hatten und oft jegliches Eigentum verloren hatten, waren psychisch angeschlagen. Deren Glaube an den End- sieg war oft bereits nicht mehr so stark wie der ihrer sudetendeutschen Volksgenossen, denen gleichzeitig das verhältnismäßig häufige überhebliche Verhalten der Reichs- deutschen missfiel. Sehr oft mussten sie mit ihnen in gemeinsamen Wohnungen leben, oder sie wurden ihnen als Untermieter aufgezwungen. Die Zugezogenen kamen oft aus Großstädten, und der Sudetengau erschien ihnen als Kleinstadt mit anderen Gewohnheiten, niedrigen Rationen, andersdenkenden Menschen – und häufig nah- men sie auch die Anwesenheit der Tschechen negativ wahr. Trotz der vielen Schwie- rigkeiten konnte die sudetendeutsche Führung diesen Strom bewältigen. Im Osten kam es währenddessen zur Verlegung der Front durch die Offensive der Roten Armee*. Damit verbunden war die Flucht von Millionen Deutschen aus Ostpreußen, aber auch von Bewohnern des Baltikums. Die Flüchtlingswelle griff erst- mals im Spätsommer auf den Sudetengau über und bildete die Vorhut von hundert - tausenden Menschen, die auf der Flucht waren. Mit Eisenbahntransporten, Bussen, Gespannen und zu Fuß waren sie unterwegs und fanden nur sehr schwer Unterkunft und grundlegende Versorgung. Dieser Exodus, der selbstverständlich auch das be- nachbarte Protektorat oder Sachsen betraf, war ein Vorzeichen für den bevorstehenden Fall des ‚Dritten Reiches‘. Zusätzlich brach die Zeit an, in der die Bevölkerung des Sudetengaus nicht mehr in völliger Sicherheit vor Luftangriffen war. Seit Januar 1944 tauchten vor allem amerikanische Bomber regelmäßig über der Region Brüx auf, wo

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sie die STW angriffen. Aber auch am Himmel der Regierungsbezirke Karlsbad und Troppau waren sie zu sehen. Die materiellen Schäden wuchsen an, es gab Tote und Verletzte, obschon sich die Intensität der Angriffe bis auf Ausnahmen nicht mit der im ‚Altreich‘ vergleichen ließ. Das Grauen massiver Angriffe lernte am Ende des Krie- ges auch Sachsen kennen; vor allem die Angriffe auf Dresden vom Februar 1945 wur- den zu einem Mahnruf der alliierten Bombardierungsoffensive. Der Sudetengau er- lebte daraufhin eine neue Flüchtlingswelle, diesmal aus den Gebieten Sachsens. Im Frühling des Jahres 1945 bereitete man sich auf die Offensive alliierter Streitkräfte vor, denn die Kampfhandlungen waren schon in die südlichen Sudeten vorgerückt. Es kam zu amerikanischen Tieffliegerangriffen, zu Bombenangriffen auf Verkehrsziele, die vor allem Komotau und Aussig trafen, und in den letzten Tagen zum Rückzug der Wehrmachtstruppen und der SS sowie damit verbunden intensive Aktivitäten der sowjetischen Luftstreitkräfte, die in einigen Fällen bis zum 10. Mai 1945 an - dauerten. Es ist aber anzumerken, dass die Behörden im Sudetengau funktionierten und die Produktion bis zum letzten Kriegstag aufrecht erhalten wurde – trotz aller Probleme. Der teuer bezahlte Traum der Sudetendeutschen, die den Reichsanschluss sieben Jahre zuvor enthusiastisch begrüßt hatten, brach zusammen, und sie erwarteten mit großer Angst die folgenden Tage, die einige von ihnen nicht überleben sollten, für andere wurden sie zu lebenslangen Unglückstagen. Sie zeichneten die ohnehin schon gestörte Beziehung zwischen Deutschen und Tschechen bereits für weitere Jahrzehnte vor.

Glossar:

ARLZ: destruktiver Rückzugsplan für die deutsche Militär- und Zivilverwaltung. Er setzte sich aus vier Phasen zusammen: (1) die sogenannte Auflockerung, wäh- rend der entbehrliches Material, Maschinen, Teile der Rüstungsproduktion, aus- gesuchte Leute usw. ins Hinterland gebracht wurden; (2) die Räumung, in der Menschen und Einrichtungen, die für die Kämpfe nicht unbedingt nötig waren, abgezogen wurden; (3) die Lähmung, in der nutzbare Einrichtungen abtranspor- tiert und der Betrieb der übrigen unterbunden wurde; und (4) die Zerstörung, in der die übrigen Maschinen, Vorräte, Objekte, Brücken und Verkehrswege liquidiert werden sollten | Armee-/Freikorps: militärischer Großverband eines Heeres oder paramilitärische Einheit, i. d. R. bestehend aus mehreren Brigaden oder Divisio- nen sowie verschiedenen Waffengattungen | Casablanca-Konferenz: Geheimtreffen des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt mit dem britischen Premierminister

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Der bittere Weg zum Ende des deutsch-tschechischen Zusammenlebens

Winston Churchill vom 16. bis 26. Januar 1943 im marokkanischen Casablanca, zur Beratung über die weitere Vorgehensweise im Krieg gegen Reichsdeutschland und seine Verbündeten | Gau: Untergliederungseinheit der Bezirksstruktur der NSDAP | Gendarmerie: militärisch organisierte Polizeieinheit | Karlsbader Pro- gramm: 1938 im Zusammenhang mit der Studentenkrise aufgestellte Forderun- gen der Sudetendeutschen Partei an die Tschechische Republik | Kinderland - verschickung: ursprünglich ein Programm des Dritten Reiches zur Erholungs - verschickung von Kindern, während des Zweiten Weltkrieges eine Maßnahme zur Verschickung von Kindern und Müttern mit Kleinkindern in weniger kriegs - betroffene Gebiete des Reiches | Krebs, Hans: 1888–1947, böhmischer Deutscher, Politiker und in den Jahren 1925–1933 Abgeordneter der Nationalversammlung der Tschechoslowa kischen Republik für die Deutsche Nationalsozialistische Arbeiter- partei (DNSAP). Gemeinsam mit Karl Hermann Frank und Konrad Henlein war er einer der markantesten Vertreter der sogenannten deutschen negativistischen Parteien. Zu Beginn der 1930er Jahre wurde er im Prozess gegen die Organisation ‚Volkssport‘ verurteilt, 1933 nach Verbot der DNSAP inhaftiert. Es gelang ihm zu entkommen und nach seiner Flucht antitschechoslowakische Aktivitäten von Deutschland aus zu entfalten. 1938 wurde er Regierungspräsident in Aussig (Ústí nad Labem), nach dem Krieg verurteilt und 1947 in Prag hingerichtet | Münchner Abkommen: am 30. September 1938 in München zwischen Vertretern Großbritan- niens, Frankreichs, Italiens und des Deutschen Reiches, jedoch unter Ausschluss der Tschechoslowakischen Republik unterzeichnetes Abkommen zur friedlichen Lösung der Sudetenkrise; es wurde die staatliche Angliederung des Sudetenlandes an das Deutsche Reich beschlossen | Othmar Spann: 1878–1950, österreichischer Nationalökonom, Philosoph und Soziologe; gilt als ein Wegbereiter des Faschismus in Österreich | Reichsstatthalter: auf der Ebene der reichsunmittelbaren Teilstaaten des ‚Dritten Reiches‘ mit der politischen Leitung beauftragte Vertreter der natio- nalsozialistischen Zentralregierung; etwa mit den Funktionen eines Landespräsi- denten vergleichbar und deshalb oft mit diesem in Personalunion ausgeübtes Amt | Rote Armee: Kurzbezeichnung für die Streitkräfte der Sowjetunion | Sächsisch- Böhmische Schweiz: das Elbsandsteingebirge beiderseits der deutsch-tschechischen Grenze | Schluckenauer Zipfel: auch Böhmisches Niederland; im Norden der Tsche- chische Republik gelegenes und auf drei Seiten von Deutschland umgebenes Gebiet zwischen Elbsandsteingebirge und Lausitzer Gebirge | Staatsverteidigungswacht (SVW): tschechoslowakische Militärorganisation, die auf Grundlage des Regie- rungserlasses Nr. 270/1936 Sb. vom 23. Oktober 1936 entstanden war. Die SVW

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Sächsisch-Böhmische Dampfschifffahrt auf der Oberelbe

sollte drei grundlegende Aufgaben erfüllen: den Schutz der Grenze und der Unantastbarkeit des Staatsterritoriums, Mitwirkung beim Erhalt der öffentlichen Ordnung, Ruhe und Sicherheit und Zusammenarbeit bei der Ausübung der Funk- tionen der Zollverwaltung. Die Staatsverteidigungswacht bildeten Angehörige der Finanzwache, Gendarmerie, Staatspolizei und Verstärkungen aus der Armee; mit der Zeit beteiligten sich weitere Organisationen am Betrieb der SVW | Sturmbann: organisatorische Gliederung der Kampfverbände der NSDAP (SA, SS, NSKK) | Wehrmacht: Bezeichnung der Streitkräfte des ‚Dritten Reiches‘ | Weltwirtschaftskrise: ab 1928 einsetzender und teilweise bis zum Zweiten Weltkrieg andauernder welt- weiter massiver Rückgang der Wirtschaftsleistung der Länder, geprägt durch hohe Arbeits losigkeitsraten, soziales Elend und Deflation

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Grenze der Freundschaft? Der tschechische Blick auf die gemeinsame Grenze in den Jahren 1945 bis 1989

Petr Karlíček

Grenze der Freundschaft? Der tschechische Blick auf die gemeinsame Grenze in den Jahren 1945 bis 19891

„Die Grenze zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Tschechoslowakei im Norden Böhmens lässt sich als Grenze der Freundschaft be- zeichnen.“2

Einer der nördlichen Nachbarn der Tschechoslowakei in der Nachkriegszeit war neben Polen die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands (SBZ). Auf deren Gebiet entstand am 7. Oktober 1949 die Deutsche Demokratische Republik (DDR). Bereits bestehende Kontakte zwischen Sachsen und Böhmen, gestört durch die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs, litten auch unter den Entwicklungen der Nachkriegszeit.3 Auf der böhmischen Seite änderte sich vollständig die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung. Die deutschen Bewohner der Böhmischen Länder, die über Jahrhunderte eine natürliche Bindung an die Nachbarn in Sachsen hatten, wur- den bis auf wenige Ausnahmen ausgesiedelt. Die neu angekommene slawische Be völkerung nahm die gemeinsame sächsisch-böhmische Grenze mit gemisch- ten Gefühlen wahr. Eine wichtige Rolle spielten dabei auch das Gefühl der Be - drohung und die historische Erfahrung, dass von den deutschen Nachbarn nicht nur Gutes zu erwarten war. Die Grenze rief bei den Menschen auf tschechischer Seite ein Gefühl von Gefahr hervor, die aus einer anderen Welt zu stammen schien. Hinter dieser Grenze waren die Schuldigen am Krieg und gleichzeitig ein be - deutender Teil der ausgesiedelten Deutschen, in deren Häusern und Wohnungen bereits die neuen Bewohner des tschechischen Grenzgebiets lebten. Diese Stand- punkte vertrat auch die überwältigende Mehrheit der Medien. Die angeblichen

1 Unter Verwendung von Archivquellen, Literatur, Periodika oder Erinnerungen der Zeitgenossen könnte man eine ähnliche Studie auch aus sächsischer Perspektive schreiben. [Anm. des Verfassers]. 2 Hranice přátelství. Dvacetileté družební styky s krajem Karl-Marx-Stadt. In: Průboj z 2. října 1984, S. 1. 3 Nach Gründung der DDR gestalteten sich die Beziehungen zwischen den beiden ‚sowjetischen Satelliten‘ sehr formal. Erst später formierten sich zwischen der Tschechoslowakei und der DDR politische Beziehungen. Vgl. Miloš Řezník: Sasko. Stručná historie států. Prag: Nakladat. Libri 2005, S. 182f. Es sollte darauf aufmerksam gemacht werden, dass es im Juli 1952 zu einer Veränderung des Verwaltungssystems der DDR kam. Anstatt der fünf Länder (unter denen auch Sachsen war) gab es nun 14 Bezirke.Vgl. Hermann Weber: Dějiny NDR. Prag: Nakladat. Lidové Noviny 2003, S. 381.

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Grenze der Freundschaft? Der tschechische Blick auf die gemeinsame Grenze in den Jahren 1945 bis 1989

deutschen Saboteure, die kamen, um den Aufbau des neuen Grenzgebietes zu be- hindern, findet man häufig in der damaligen zeitgenössischen Literatur und im Film wieder.4 Trotz der Unterschiede, die die streng bewachte Grenze noch zusätzlich verstärkte, kann man im gegebenen Zeitraum viele Berührungspunkte zwischen dem deutschen und tschechischen Raum finden. Beide Länder wurden Teil des sogenannten ‚Ost- blocks‘ und versuchten sich am Aufbau des Sozialismus. Beispielsweise wurde auf beiden Seiten des Erzgebirges ab dem Ende der vierziger Jahre im großen Stil Uran zur Lieferung in die Sowjetunion abgebaut.5 Zum gemeinsamen Problem wurde in den 1970er und 1980er Jahren der unzureichende Schutz der Umwelt. Die Verwüstung des Erzgebirges, die schlechte Luftqualität, die Verschmutzung der Flüsse und die sich insgesamt verschlechternden Lebensbedingungen in den Städten führten zur Empörung der Bevölkerung auf beiden Seiten der Grenze. Die durch die Behörden unternommenen halbherzigen Lösungen zur Verbesserung der Situation führten Ende der 1980er Jahre zu zahlreichen Petitionen und riefen Demonstrationen der Bewohner von DDR und ČSSR hervor.6 Im sächsisch-böhmischen Kontext war auch die Pflege von Partnerschaftsbeziehun- gen zwischen der DDR und der Tschechoslowakei wichtig. Zur wechselseitigen Zusammenarbeit kam es beispielsweise auf Ebenen von Parteiorganisationen, Landkreisen, gesellschaftlichen Organisationen, Städten und Armee- bzw. Polizei- einheiten.7

4 Vgl. z.B. die zeitgenössischen Filme Na dobré stopě (1948), Ves v pohraničí (1948), Nástup (1952) oder Uloupená hranice (1947) in denen die Begebenheiten des Jahres 1938 auf suggestive Weise geschildert werden. 5 Zur Wende der 40er und 50er Jahre des 20. Jahrhunderts waren die Uranwerke im Erzgebirge an der sächsisch-tschechischen Grenze der größte Lieferant für Stalins Atomprogramm. Auf deutscher Seite grün- deten die Sowjets im Jahre 1947 die Gesellschaft Wismuth AG, wo am Anfang ziemlich harte Arbeits- bedingungen herrschten. In dieser Hinsicht waren die Anfänge der Urangewinnung sowohl auf deutscher als auch auf tschechischer Seite sehr ähnlich. Die Arbeitsbedingungen auf der deutschen Seite verbes - serten sind allmählich. Auf der tschechischen Seite wurden zu den Zwangsarbeiten Kriegsgefangene und spä- ter, in den 1950er Jahren, auch politische Häftlinge eingesetzt. Vgl. Stanislav Děd (Hg.), Zářící minulost. Chomutov 2005. 6 Vgl. Tomáš Vilímek: K příčinám pádu režimu v ČSSR a NDR v roce 1989. Srovnání. In: Československo a dva německé státy. Hg. v. Christoph Buchheim/Edita Ivaničková/Kristina Kaiserová/Volker Zimmermann. Ústí nad Labem: Nakl. Kaiserová – Albis Internat. 2011, S. 163–172. 7 Vgl. Karl-Heinz Gräfe/Günter Kirsch/Manfred Jahn: Proces útváření bratrského svazku mezi NDR a Československem (1945–1961). In: Sborník pedagogické fakulty v Ústí nad Labem – řada historická. Prag: SPN 1985, S. 38–39. Zu den Beziehungen zwischen DDR und Tschechoslowakei vgl. Volker Zimmermann: Eine sozialistische Freundschaft im Wandel. Die Beziehungen zwischen der SBZ/ DDR und der Tschchoslowakei (1945–1969). Essen: Klartext 2010. Dazu vgl. Wolfgang Schwarz: Brüder- lich entzweit. Die Beziehungen zwischen der DDR und der ČSSR 1961–1968. München: Oldenbourg 2004.

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Grenze der Freundschaft? Der tschechische Blick auf die gemeinsame Grenze in den Jahren 1945 bis 1989

I. Die unruhige Grenze (1945–1948)

Die sächsisch-böhmische Grenze am Ende des Krieges und in den ersten Friedens tagen

Der Vormarsch der Westalliierten und der Roten Armee zwang die nationalsozia- listischen Behörden die verbliebenen Gefangenen der Konzentrationslager in bis dahin noch unbesetztes Gebiet zu evakuieren. Über die sächsisch-böhmische Grenze wälzten sich kurz vor Ende des Krieges unzählige ‚Todesmärsche‘.8 Die Westalliier- ten begannen, die sächsisch-böhmische Grenze Ende April 1945 zu besetzen. Die Rote Armee, unterstützt durch polnische Einheiten, führte hier im Mai 1945 einige der letzten Gefechte des Zweiten Weltkriegs auf dem europäischen Kontinent.9 Im Mai und im Juni 1945 begannen Tschechen und Slowaken in die ehemaligen Sude- ten zurückzukehren. An der sonst verhältnismäßig ruhigen sächsisch-böhmischen Grenze herrschte in diesen Tagen ungewöhnlicher Verkehr. Aus dem tschechischen Grenzgebiet gingen tausende ausgebombte Reichsdeutsche und jene, die am Ende des Krieges vor der sich nähernden Front flohen, nach Sachsen. Diese gehörten zu den ersten, die aus dem tschechischen Gebiet ausgesiedelt wurden und in Sachsen zu Beginn unter ziemlich menschenunwürdigen Bedingungen lebten. Im Juli 1945 begannen sich die Einheiten der Roten Armee aus dem Landesinneren Böhmens näher an die deut- sche Grenze zurückzuziehen, und auch ihr Kontingent wurde verringert. Aus Sach- sen wiederum kehrten Gefangene aus den Konzentrationslagern nach Böhmen zurück, Zwangs verpflichtete und alliierte Kriegsgefangene. Transporte mit Bürgern Jugoslawiens, Ungarns, Italiens oder Frankreichs führten aus Böhmen weiter in deren Heimat.10 Die Bewohner des sächsisch-böhmischen Grenzgebiets entdeckten nun die ersten Massengräber von durch die Nationalsozialisten ermordeten Ge- fangenen.11

8 Vgl. Radek Slabotínský: Pod českou správou v nové republice. Karlovy Vary v prvním poválečném roce. Karlovy Vary: Krajské muzeum Karlovy Vary 2005, S. 17; Dagmar Holá: Pochody smrti přes Karlovarsko. In: Karlovarský lázeňský časopis 1975, S. 3. 9 Vgl. Karel Waska (Hg.): Americká armáda 1945. Osvobození západních Čech ve fotografiích a dokumentech. Plzeň: Západočeské Nakl 1990; vgl. auch Vladimír Nálevka: Druhá světová válka. Prag: Triton 2003. 10 Vgl. Zdeněk Radvanovský: Odsun Němců ze severozápadních Čech a jejich přijetí v Sasku v letech 1945–1946. In: Martin Veselý/Kristina Kaiserová/Zdeněk Radvanovský (Hg.): Dál v Sasku stejně jak v Čechách. Ústí nad Labem: Albis International 2004, S. 229–234. 11 Vgl. auch SOkA Děčín, Okresní soud Varnsdorf. Trestní věci (1945). Hromadný hrob na Špičáku č. 57/45, kt 42.

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Grenze der Freundschaft? Der tschechische Blick auf die gemeinsame Grenze in den Jahren 1945 bis 1989

Die Aussiedlung der tschechischen Deutschen

Im Mai 1945 war eine der Prioritäten der tschechoslowakischen Regierung die Aus- siedlung der tschechischen Deutschen aus dem Grenzgebiet. Eine überwältigende Mehrheit der politischen Eliten sah die Aussiedlung als die einzig mögliche Lösung des komplizierten deutsch-tschechischen Zusammenlebens an, das zuvor mit der Loslösung des Grenzgebiets im Herbst 1938, der Zerschlagung des Rests der Tschechoslowakei und der Besetzung von Böhmen und Mähren im Frühjahr 1939 seinen tragischen Höhepunkt gefunden hatte. Der Kriegsterror und die Pläne der Nationalsozialisten zur „Eindeutschung des böhmischen Raumes“ waren ein weiteres schlagkräftiges Argu - ment für die definitive Trennung von den tschechischen Deutschen.12 Die Westalliierten verhielten sich mit ihrer Meinung gegenüber einer sofortigen Aussiedlung zurückhaltend. Die ersten nichtorganisierten Nachkriegstransporte (sogenannte ‚wilde Vertreibung‘) führten deshalb in von den Sowjets besetzte Orte. Die Reali sierung der Aussiedlung aller Deutschen aus Böhmen, Mähren, Mährisch- Schlesien und der Slowakei bestrafte nicht nur die offenen Unterstützer des Natio- nalsozialismus, sondern auch hunderttausende Menschen, die mit dem national - sozialistischen System nichts zu tun hatten und deren ‚Verschulden‘ lediglich ihre deutsche Nationalität war. Dem Einzelnen wies man weder Schuld oder Unschuld nach; die Mehrheit der überzeugten Faschisten flüchtete ohnehin aus Angst lange vor dem Eintreffen der Front. Die ersten Transporte von Deutschen führten vor allem in die sowjetische Besatzungs- zone Österreichs sowie nach Sachsen. Die tschechoslowakischen Behörden (Armee, Sicherheitsdienste, verschiedene halbmilitärische Verbände, lokale Verwaltungen) ver- hielten sich im Anfangsstadium der ‚wilden Vertreibung‘ gegenüber den Auszusiedeln- den äußerst brutal, und die gesamte Aussiedlungsaktion lief nicht ohne beträchtliche Opfer an Menschenleben ab. Sowjetische Organe lehnten in einigen Fällen gar die Übernahme von Fußkolonnen oder Eisenbahntransporten Vertriebener an der säch- sisch-böhmischen Grenze mit Verweis auf deren erbärmlichen Zustand ab.13 Die Pots- damer Konferenz der Großmächte im Sommer 1945 erkannte die Forderung nach Aus- siedlung der Deutschen an, die außerhalb der deutschen Grenzen lebten. Dies betraf in erster Linie Polen, die ČSR und Ungarn. Die Großmächte machten allerdings klar, dass die bisherige Aussiedlung beendet werden und man mit der Vorbereitung eines

12 Zu den deutsch-tschechischen Beziehungen in jener Zeit vgl. Adrian von Arburg/Tomáš Staněk (Hg.): Vysídlení Němců a proměny českého pohraničí 1945–1951. Češi a Němci do roku 1945. Úvod k edici. Středokluky: Susa 2010. Vgl. ebenso Matěj Spurný: Flucht und Vertreibung. Das Ende des Zweiten Weltkrieges in Niederschlesien, Sachsen und Nordböhmen. Dresden: Sächsische Landeszentrale für Politische Bildung 2008. 13 Vgl. ebd., S. 96f.

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Grenze der Freundschaft? Der tschechische Blick auf die gemeinsame Grenze in den Jahren 1945 bis 1989

organisierten und humanen Transfers beginnen müsse. Im geringeren Umfang setzte sich die Aussiedlung über die sächsisch-böhmische Grenze aber auch im Sommer und Herbst 1945 fort. Hinter der Grenze erwarteten die Ausgesiedelten weitere Leiden. In Sachsen wurden in den Sommermonaten weder Unterkunft noch Verpflegung vor - bereitet, und die Mehrzahl der grenznahen Orte war hoffnungslos überfüllt. Den Sow- jets bereitete dieser Zustand nicht geringe Schwierigkeiten.14 Im Sommer 1945 erklärte der Vorsitzende der sowjetischen Militäradministration, Marschall Žukov, tschecho - slowakischen Vertretern zu einer eventuellen weiteren Aussiedlung folgendes: „Aus dem von Polen besetzten Gebiet strömt eine große Menge von Menschen nach Sachsen. Diese Leute leben in Wäldern, Wiesen und sogar in Kanälen. Wir fürchten den Aus- bruch ansteckender Krankheiten und eine Bedrohung der Besatzungstruppen.“15 Die Besatzungsbehörden begannen, die Ausgesiedelten aus Schlesien und Böhmen langsam in Richtung Norden zu verteilen – nach Brandenburg und Mecklenburg. Die organisierte ‚Aussiedlung der Deutschen‘ begann im Januar 1946, und ihre Haupt- phase endete offiziell am 28. Oktober desselben Jahres. Zwar folgten weitere partielle Transporte, diese waren zahlenmäßig aber bereits kleiner. Gemäß offizieller Angaben des Verteidigungsministeriums, die dem Alliierten Kontrollrat in Berlin vorgelegt wurden, wurden zum 1. Oktober 1947 in die westalliierten Besatzungszonen 1.223.562 und in die sowjetische Besatzungszone 711.782 Personen ausgesiedelt.16 Die Ver - treibung beendete das jahrhundertelange Zusammenleben von Deutschen und Tsche- chen in Böhmen, Mähren, Mährisch-Schlesien und der Slowakei. Die SBZ musste sich nun mit der Integration der Vertriebenen auseinandersetzen. Hauptsächlich handelte es sich um Arbeiter, Landwirte, Lehrer, Gewerbetreibende oder Beamte. Aus Böhmen, Mähren und der Slowakei brachten sie verschiedene Fertigkeiten und Kenntnisse mit, die sie im besten Fall auch in ihrer neuen Heimat ausüben konnten. Im schlechteren Fall waren sie gezwungen, sich irgendwie ihren Lebens unterhalt zu sichern. Deutsche Professoren deutscher Hochschulen in den Böhmischen Ländern, die in die SBZ ausgesiedelt wurden, etwa wurden ungleich be- handelt. Gute Arbeitsbedingungen, ohne Rücksicht auf ihr eventuelles Engagement in der NSDAP, sollten die Fachleute der Natur- und Ingenieurwissenschaften bekom- men; die Situation der Geisteswissenschaftler war im Gegenzug aber komplizierter, da sie ihr Wirken ganz den politischen Anforderungen des neuen Staates unterordnen mussten.17

14 Vgl. ebd., S. 127. 15 Vgl. Stanislav Biman/Roman Cílek: Poslední mrtví, první živí. Ústí nad Labem: Severočeské nakl. 1989, S. 209. 16 Vgl. ebd., S. 211; vgl. auch Spurný, Flucht und Vertreibung (wie Anm. 12), S. 154–186. 17 Vgl. Michael Parak: Kultúrny transfer útekom a vyhnánim? Utečeneckí a vyhnaný profesori z Prahy, Brna a Děčína-Libverdy v SOZ/NDR. In: Československo a dva Německé (wie Anm. 6), S. 349–378.

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Die Beziehungen zwischen den Vertriebenen und dem Staat waren in der SBZ (und später der DDR) und in den westlichen Besatzungszonen (der späteren BRD) von Grund auf verschieden. In der SBZ galt ein Verbot für unabhängige Vertriebenenor- ganisationen und deren kulturelle Aktivitäten, was neben den Ostpreußen, Schlesiern und ehemaligen Bewohnern Danzigs auch die Sudetendeutschen betraf. Man erwar- tete, dass sie sich so schneller in die ostdeutsche Gesellschaft integrieren würden. In Zusammenhang mit den Wahlen 1946 wurden zwar auch unter führenden Politi- kern der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) Stimmen über die Revision der Ostgrenze Deutschlands (vor allem der Oder-Neiße-Linie) laut, von möglichen Gebietsansprüchen war aber keine Rede. Der ostdeutsche Staat stellte die Grenze mit der Tschechoslowakei nie in Frage. Im Juni 1950 wurde zwischen der DDR und ČSR die Prager Deklaration geschlossen, in der schließlich beide Staaten die Unabänderlichkeit der gemeinsamen Grenze bestätigten. Damit hing auch die Anerkennung des Faktums der ‚unabänderlichen, gerechten und endgültigen‘ Aus- siedlung der Sudetendeutschen als Strafe für die Verbrechen des deutschen Faschismus zusammen. Seit Beginn der 1950er Jahre sah die DDR das Problem der Ausgesiedelten dann offiziell als gelöst an. Damit hörten diese Menschen in der DDR auf, offiziell zu existieren. Im Unterschied zur BRD hatten sie hier keinerlei institutionelle Basis, und ihr Einfluss auf die Politik blieb gering. Ihre Frustration über diesen Zustand konnten sie so nur im privaten Rahmen äußern.18

Erneuerung des Grenzbetriebs19

Die Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit hinderte ihre Bürger nicht an der Reise über die Grenze. Auch die Zahl der abgelehnten Anträge auf einen Reisepass war in dieser Zeit minimal. An der sächsisch-böhmischen Grenze galt während der Ersten Republik ein sehr liberaler, sogenannter kleiner Grenzverkehr, der es Personen, die in einer in der Regel 15 bis 20 Kilometer breiten Zone lebten, ermöglichte, die Grenze

18 Vgl. Pertti Ahonen: Vliv vyhnanců a jejich organizací na politiku východního a západního Německa vůči Československu. In: Československo a dva Německé státy (wie Anm. 6), S. 45–52. 19 Bei den meisten Fällen des Schmuggels, der legalen oder illegalen Grenzüberschreitungen wurden die Archiv- unterlagen des Bezirkes Děčín nach dem Jahre 1960 verwendet. Diese werden im Bezirksarchiv Děčín (SOkA Děčín) aufbewahrt und wurden bis jetzt noch nicht veröffentlicht. Den Bezirk Děčín kann man als Mustergebiet betrachten, denn im Zeitraum 1945–1989 gab es hier im Gegensatz zu anderen Gebieten mehrere Möglichkeiten zur Grenzüberschreitung: auf den Straßen, mit der Eisenbahn und auf dem Fluss. Dank der geomorphologischen Vielfalt der hiesigen Landschaft waren auch illegale Grenzüberschreitungen möglich. Wichtig war auch die geo- grafische Nähe der böhmischen und sächsischen Städte – z.B. Varnsdorf und Seifhennersdorf, Jiříkov und Ebers- bach. Das spiegelte sich beim Ausbau der Freundschaftsbeziehungen wider. [Anm. des Verfassers].

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mit einer besonderen Kennkarte zu passieren. Ihre Inhaber konnten die Grenze nach Deutschland an einem beliebigen Ort überschreiten, während an anderen Teilen der Grenze auch reguläre Grenzübergänge zu nutzen waren. Diese Reisefreiheit wurde erst mit der Kriegsdrohung des nationalsozialistischen Deutschlands im Herbst 1938 eingeschränkt.20 Mit der Unterzeichnung des Münchner Abkommens hörte die Grenze zwischen Sachsen und Böhmen für sieben Jahre auf, eine Grenze zwischen zwei Staaten zu sein und wurde zu einer fiktiven Grenze zwischen zwei Verwaltungs- regionen des nationalsozialistischen Deutschlands. Walter Bouchner erlebte den Krieg in Varnsdorf, welches Teil der abgespaltenen Sudeten war. An die verschwundene Grenze zwischen Sachsen und Böhmen erinnert er sich folgendermaßen:21

Wir haben uns als Jungs mit den Sachsen geprügelt. Hier gab es während des Kriegs nämlich keine Grenze. Das hier war Deutschland. Die Sudeten. Wir hatten irgendwie so eine Abneigung gegenüber den Sachsen, sie gegen uns. Das war so eine Abneigung unter Jungs, also haben wir uns geprügelt. Das war vollkommen normal. Sie kamen zum Schlagen zu uns, wir zu ihnen.

Die Tschechoslowakei knüpfte nach dem Krieg formell an die Vorschriften aus der Ersten Republik an, die den Grenzübertritt an der Staatsgrenze regelten. Diese war jedoch nicht mehr gänzlich offen, und Pässe wurden nur für notwendige Reisen aus- gegeben. Das eingeschränkte Recht auf einen Reisepass wurde mit dem andauernden Zustand der Wehrbereitschaft des Staates begründet. Dieser dauerte in den Böhmi- schen Ländern bis zum 31. Dezember 1945 an. Gleich im Januar 1946 entschied die Regierung, dass das Recht auf Reisen auch weiterhin eingeschränkt bleiben werde. Die Verweigerung des Reisepasses wurde in der Regel mit Staatsinteressen begründet – Devisenmangel, Nachkriegsverhältnisse und wirtschaftlicher Zusammenbruch. Es war nicht mehr im Interesse des Staates, dass die Bürger überallhin reisen konnten, denn damit entschwanden dem Staat Vermögenswerte und Arbeitskräfte. Dieser Zu- stand hielt im Wesentlichen bis zum Ende des kommunistischen Regimes an.22 Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ein System zum Schutz der Staatsgrenzen aus Passkontrollstationen (SNB, später Abteilungen der Passkontrolle), Abteilungen

20 Vgl. Jan Rychlík: Cestování do ciziny v habsburské monarchii a v Československu. Pasová, vízová a vystěhovalecká politika 1848–1989. Prag: Ústav pro Soudobé Dějiny AV ČR 2007, S. 16f. 21 Gespräch mit Walter Bouchner (geb. 1932), geführt am 8.8.2012 in Varnsdorf. Transkription [Archiv des Ver- fassers]. 22 Der Historiker Jan Rychlík bemerkte ganz richtig, dass die Art und Weise, wie man in der Nachkriegszeit reiste, als die Gesetzte der Ersten Republik galten, beweist, dass es zur gesetzwidrigen Überschreitung der Staatsgrenzen gleich nach dem Krieg kam und nicht erst nach Februar 1948. Vgl. Rychlík, Cestování do ciziny (wie Anm. 20), S. 26f.

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der Finanzwache (FS) und Einheiten des 1. Bereitschaftsregiments der Nationalen Sicherheit (ein Teil ihrer Angehörigen waren ursprünglich Mitglieder der Revolu - tionsgarden) gebildet.23 Auf der sächsischen Seite sicherten bis Ende 1946, als nach sowjetischem Vorbild die Abteilungen der ostdeutschen Grenzpolizei gebildet wurden, Angehörige der Roten Armee die Grenze.24 Neben der Verzollung von Waren war es eine der ersten Aufgaben der Zollbeamten nach dem Krieg, nicht anerkannte Zahlungsmittel anderer Währungen, die die Rei- senden mitzunehmen versuchten, an der Grenze aufzuhalten. Es handelte sich dabei in der Regel um Reichsmark. Den häufigsten Fang auf dem Zollamt in Podmokly (heute zu Děčín gehörend) stellten Anfang 1946 gerade Reichsmarkscheine, weiter polnische Zloty, belgische Franken und sowjetische Rubel bzw. mit Gold legierte Rubel Tscherwonetz dar. Das abgefangene Geld fiel dem Staat zu und wanderte von der Grenze direkt in den Tresor der tschechoslowakischen Nationalbank.25 Die Zoll- beamten halfen so, das vom Krieg zerrüttete Finanzwesen zu schützen.26 Das erfolgreiche Überschreiten der sächsisch-böhmischen Grenze hing nicht nur von offiziell gültigen Regeln ab, sondern auch von der Willkür der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland. Behinderungen im sächsischen Eisenbahn- verkehr bezeichnete die tschechische Seite euphemistisch als ‚außergewöhnliche Verkehrsverhältnisse‘. So konnte es beispielsweise vorkommen, dass der Zug zwi- schen Bad Schandau und Podmokly nicht abgefertigt wurde, und die sowjetische Grenzwache die Passagiere zu Fuß auf die tschechische Seite schickte.27 Die Finanz- wache aus Dolní Grunt (heute: Dolní Žleb) hielt im Frühjahr 1946 eine Deutsche aus Schöna an, die nach Böhmen zur Arbeit kam. Nicht einmal sie konnte wie gewöhnlich mit dem Zug über die Grenze fahren: „Von irgendeiner Zeit an woll- ten mich die Posten in Schöna nicht mehr durchlassen […], deshalb habe ich es über den benachbarten Weg versucht.“28 Diese durch die Situation erzwunge- nen illegalen Grenzübertritte belegten die tschechoslowakischen Behörden mit einer minimalen Strafe als ‚Zollordnungswidrigkeit‘, größtenteils sahen sie sogar von einer Bestrafung ab. Die Staatsgrenze in Dolní Grunt überschritt im Mai 1946 illegalerweise auch ein alter Hausierer. Es handelte sich um einen invaliden Mann, der auf Märkten oder der Kirmes unterschiedliche kleine Waren verkaufte. Die

23 Vgl. Alena Jílkovi/Tomáš Jílkovi: Železná opona. Československá státní hranice od Jáchymova po Bratislavu 1948–1989. Prag: Baset 2006, S. 17. 24 Vgl. ebd., S. 124. 25 Vgl. SOkA Děčín, Celnice Děčín (1945–1953), kt 1. 26 Vgl. Biman/Cilek, Poslední mrtví (wie Anm. 15), S. 148f. 27 Vgl. SOkA Děčín, Celnice Děčín 1945–1953, kt 1. 28 Ebd.

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Finanzkontrolleure erwischten ihn und nahmen ihm beispielsweise Spielkarten, Bilder mit den Portraits der Präsidenten Beneš und Masaryk, sowie Kämme und Zahnbürsten ab. In seinem Fall drückten die Zoll beamten beide Augen zu und gaben ihm die Waren später vollständig zurück.29 Einen vierzehnjährigen Repa - trianten, der im Januar 1948 aus Deutschland zu seinen Eltern nach Děčín zurück- kehrte, nahmen sie dagegen eine Briefmarkensammlung ab. Nach dem Gesetz muss- ten sie hier gnadenlos sein: „wertlose Briefmarken unter zollamtlicher Aufsicht vernichtet“.30 In den Jahren 1946 und 1947 wurden die Hoheitszeichen der Republik erneuert und gleichzeitig Schlagbäume bzw. Drahtverhaue an den Schleichwegen nach Sachsen aufgebaut. In den Meldungen, die die Grenzübergänge betrafen, sind interessante Informationen zu finden, die einen Eindruck von den Zeitverhältnissen vermitteln. Beispielsweise liest man in einem Protokoll aus dem Abschnitt der SNB-Station Sněžník vom April 1947:31

Der Übergang in Ostrov ist mit einem Autowrack blockiert und mit einer Schranke ohne Stacheldraht versehen. Auf dem Sněžník ist der Straßenübergang durch einen tiefen Graben und einige Balken ohne Verstärkung mit Stacheldraht erschwert. Die Waldwege sind durch gefällte Bäume versperrt.

Interessant ist, dass der Staat direkt nach dem Krieg die Fertigstellung der ersten Grenzverhaue noch an private Unternehmer vergab. In den 1950er Jahren war dies bereits undenkbar. Auch nach dem Krieg war es erlaubt, Waren auf Schleichwegen aus Sachsen nach Böhmen zu überführen. Das Innenministerium erlaubte noch im April 1948 diese Art von Notverkehr, wenn auch gesetzt den Fall, dass es um „Waren [ging], die für unsere volkseigene Wirtschaft notwendig [sind], hauptsächlich Nadeln für Textil - maschinen, chirurgische Instrumente, Kugellager, Thermometer, optische Gläser usw.“ Beauftragte Personen sollten die Waren so übernehmen, wie es bis dahin üblich war, wenn auch unter Begleitung einer Amtsperson von der nächstgelegenen Zoll- station: „Das Organ begleitet die beauftragte Person zur Staatsgrenze zum Ort des Treffens und wird bei der Warenübergabe unauffällig zugegen sein […].“32 Zu über- wachen war auch, dass der Ausländer, welcher die Waren übergab, die Grenze nur

29 Ebd. 30 Ebd. 31 Vgl. SOkA Děčín, ONV Děčín 1945–1960. Zřízení hraničních zátarasů. Inv. č. 309, kt 126. 32 Vgl. SOkA Děčín, ONV Děčín 1945–1960. Malý pohraniční styk. Inv. č. 307, kt 126.

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für die dafür unbedingt notwendige Zeit überschritt. Der eingeführte Artikel musste unmittelbar darauf auf dem Zollamt verzollt werden. Diese Anweisung stufte das Ministerium als streng geheim ein. Teil der Arbeit des Zollbeamten an der Wasserstraße Elbe war auch das Kontrollieren von Frachtschiffen, die aus dem besetzten Deutschland kamen. Der Zollposten kon- trollierte deren Ladung und forderte den Kapitän des Schiffes nach der Inspektion auf, dass auch die Besatzungsmitglieder die Waren angeben sollten, die sie zu verzollen hatten. Wenn alle Papiere in Ordnung waren, konnte die Fahrt fortgesetzt werden. Im Falle auch nur des geringsten Verdachts folgte eine weitere eingehende Unter - suchung des Schiffs. Ein im Nachhinein komischer, aber anfangs doch gefährlich aussehender Fall ereignete sich an Bord des Motorkahns von Franz Klaus, der Anfang März 1948 eine Ladung Salzheringe in die Tschechoslowakei einschiffte. Sein Kapitän gab vollkommen selbstsicher an, dass er nichts weiter zu verzollen habe. Die Zöllner aber schöpften Verdacht und führten deshalb eine sorgfältige Inspektion des Schiffes durch. Im Schiffsraum fanden sie schließlich zu ihrer Verwunderung faschistische Druckerzeugnisse: fünf Lehrbücher Volk und Führer für die sechste Klasse, elf Exem- plare des Buches Das Judentum in England und 42 Bücher des Kriegsverbrechers Hermann-Bernhard Rameck mit den Namen Vom Schiffsjungen zum Fallschirmjäger- General. Kurz nach Ende des Krieges wirkte es natürlich äußerst provokant, dass faschistische Literatur gerade auf einem deutschen Schiff gefunden wurde. Der Kapitän des Schiffes gab zur Erklärung an, dass er sie mit seinem Matrosen aus einem deutschen Lager geholt habe. Er wolle sie nämlich zweckentfremdet als Toiletten - papier und zum Anfeuern verwenden. Auch die Zöllner sahen ein, dass die Anschul- digung der Verbreitung faschistischer Druckerzeugnisse in der Tschechoslowakei ab- surd gewesen wäre, und sahen von einer Bestrafung ab. Die Bücher wurden daraufhin amtlich zerrissen und die Papierreste zur Wertstoffsammlung gegeben.33

Rückkehr ausgesiedelter Deutscher

Wie bereits oben erwähnt, wurden direkt nach dem Krieg an der sächsisch-böhmi- schen Grenze Zollämter und Grenzübergänge eingerichtet. In deren Nähe herrschten zu dieser Zeit noch wilde Verhältnisse. Beispielsweise meldeten die Sicherheitskräfte am 19. Juni 1945 aus den Felsen in der Umgebung des Übergangs Hřensko „weiterhin nächtliche Kämpfe mit deutschen Partisanen“.34 In Šluknov wurden am 6. Juli 1945

33 Vgl. SOkA Děčín, Celnice Děčín (1945–1953), kt 1. 34 Vgl. Biman/Cílek, Poslední mrtví (wie Anm. 15), S. 152.

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ein tschechoslowakischer Offizier und dessen Chauffeur ermordet. Laut Ermittlungen gab es 15 bis 20 Täter. Sie waren in polnische Uniformen gekleidet und hatten sich in einem Lastwagen vom Tatort entfernt. Die Meldung gab an, dass an der Aktion aus unausgeführten Gründen auch örtliche Deutsche eine „konspirative Teilhabe“ hat- ten.35 Geschossen wurde auch in der Umgebung von Varnsdorf, so in der Nacht vom 11. zum 12. Juli 1945 auf eine tschechoslowakische Armeewache auf dem Špičák.36 In den Wäldern bei Rumburk verletzte am 15. Juli 1945 ein Schütze aus dem Hinterhalt einen Zugführer der tschechoslowakischen Armee.37 In dieser Zeit begannen auch einige ausgesiedelte Deutsche über die sächsisch-böh- mische Grenze zurückzukehren, was von Seiten der tschechoslowakischen Behörden selbstverständlich unerwünscht war:38

Die Bewachung der Grenze ist nicht so perfekt, dass nicht ein Teil dieser Leute zurückkommen und sich wieder in ihrem Heimat- oder einem Nachbarkreis nie- derlassen könnte, wo die Leute genügend Möglichkeiten hätten, die notwenigsten Lebensmittel mit Hilfe ihrer Verwandten oder Bekannten zu bekommen […]. Diese Personen lassen sich lieber von der Polizei verhaften und arbeiten, als dass sie sich zwingen ließen, hinter der Grenze zu leben.

Deshalb schlug der Bevollmächtigte des Innenministeriums, der Kommunist Fran- tišek Lis, vor, die Deutschen soweit von der Grenze zu vertreiben, dass sie nicht mehr zurückkommen könnten. Seiner Meinung nach sollte der auch bisher behörd- lich geltende kleine Grenzverkehr auf ein niedrigstes Mindestmaß beschränkt wer- den. Am weitreichendsten aber war der Vorschlag von Lis, allen Deutschen zu er- klären, dass sie für das abermalige Überschreiten der Grenze mit dem Tod bestraft würden, „und einige dieser Exekutionen exemplarisch durchzuführen.“ Zu den damaligen Schreckgespenstern gehörte auch die faschistische Untergrundorganisa- tion ‚Werwolf‘. Lis erwähnte sie in seiner Nachricht, um seine Argumente zu stütz- ten: Zwar habe sie seither keine Aktivität entwickelt, aber in Zukunft war – laut ihm – weiterhin sicher mit Diversionstätigkeiten durch die Aktivität der Werwölfe zu rechnen.39

35 Vgl. ebd., S. 197. 36 Vgl. ebd., S. 198. 37 Ebd. 38 Národní archiv Praha (Nationalarchiv Prag), Archivbestand Innenministerium (ČSR), sog. Archiv von Václav Nosek, Situationsberichte 1945–1952. Grenzgebiet 1945–1946, Kart. 230. Verhandlungsbericht der Zwischen- ministerial- und Landes Kommission im Raum Varnsdorf, Rumburk und Šluknov in den Tagen 18.–28. Juli 1945 ausgearbeitet vom Beauftragten des Innenministeriums Frantisek Lis. 39 Vgl. SOkA Děčín, Okresní soud Varnsdorf. Trestní věci (1945). Spis Ulbrich Hermann Josef č. 49/45, kt 42.

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Das Schießen auf Flüchtlinge verbindet man unabdingbar mit der Westgrenze und der Zeit ab Februar 1948. In Wirklichkeit wurden bereits kurz nach Ende des Krie- ges auch zur Bewachung der sächsisch-böhmischen Grenze Schusswaffen verwendet, vor allem um der Rückkehr von ausgesiedelten Deutschen vorzubeugen. Im Wald am Fuß des Špičák erschossen beispielsweise während der Grenzbewachung Ange- hörige des 1. Bereitschaftsregiments des NB einen deutschen Bürger, der versuchte, auf tschechoslowakisches Gebiet zu gelangen. Der Gebrauch der Schusswaffe wurde von den Verwaltungsbehörden der Vorschriften gemäß überprüft und gebilligt.40 Die unklare Atmosphäre, Nervosität und Angst waren Gründe weiterer Schüsse an der sächsisch-böhmischen Grenze. Am 11. August 1945 überschritten zwei Frauen – Mutter und Tochter – über eine Wiese aus Richtung der sächsischen Gemeinde Großschönau kommend, die Grenze. Sie wollten nach Varnsdorf, aus dem beide Frauen drei Wochen vorher vertrieben worden waren. Allem Anschein nach wollten sie in ihre Wohnung zurückkehren, um Dinge mitzunehmen, die sie bei der Ver- treibung dort lassen mussten. Dass es möglich war, die Grenze zu überschreiten, verriet man ihnen angeblich im Rathaus in Zittau. Kurz nach Betreten tsche- chischen Bodens entdeckte sie eine Grenzwache, die auch aus Angehörigen des Be- reitschaftsregiments bestand. In diesem Moment aber schoss angeblich jemand von sächsischer Seite auf die Soldaten, und so eröffneten sie in dem unübersichtlichen Terrain das Feuer auf die sich nähernden Gestalten. Die Schießerei endete tragisch – sie erschossen die junge Frau und verletzten deren Mutter leicht. Am Grenzstein fand man darauf eine deutsche Armeepistole, aus der schon eine Patrone des Maga- zins abgefeuert war.41 Die Vertriebenen, die in ihre ehemaligen Behausungen für Sachen, die ihnen für ihr weiteres Leben unabdingbar waren, zurückkehrten, wurden in der Regel zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Dies passierte auch Norbert Hocke, der die sächsisch- böhmische Grenze am 25. September 1945 nahe der Liebischen Fabrik in Varnsdorf übertrat. Hier wurde er aber von einem Angehörigen der FS in zivil entdeckt und aufgegriffen. Hocke gab resigniert zu Protokoll:42

Ich bin schuldig. Ich gebe zu, dass ich über die Grenze zurück in die Tschecho - slowakische Republik gekommen bin. Ich wurde aus der Republik ausgesiedelt. Die Grenze habe ich überschritten, weil ich mir ein Stück Brot holen wollte. Nach dem Grenzübertritt bin ich bis zu meiner Wohnung gekommen, wo ich zur

40 Vgl. SOkA Děčín, Okresní soud Varnsdorf. Trestní věci (1945). Hlášení o použití zbraně na státní hranici, č. 22/45, kt 42. 41 Vgl. ebd. 42 SOkA Děčín, Okresní soud Varnsdorf. Trestní věci (1945). Spis Norberta Hocke č. 56/45, kt 42.

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Untermiete gewohnt hatte. Die Wohnung war nicht versiegelt. Deshalb konnte ich eintreten und mir meinen Winterumhang, zwei Taschentücher, eine Unterhose und ein paar braune Arbeitsschuhe mitnehmen. In der Wohnung war alles durch- einander, die meisten Sachen fehlten, aber die Dinge, die ich mir genommen hatte, waren vor dem Weggang mein Eigentum. Hinter die Grenze der ČSR wurde ich während der letzten Aktion verwiesen, die die Soldaten vor etwa sechs Wochen durchführten.

Nach Verbüßung seiner Strafe wurde Hocke wieder auf die andere Seite der Grenze ausgewiesen. Hedwig Röhl übertrat die Grenze am 21. Oktober 1945. Es näherte sich der Win- ter, die ausgesiedelte Familie blieb mittellos. „Im Juni 1945 wurde ich ausgesiedelt und heute bin ich nach Varnsdorf zur Wohnung meiner Schwiegereltern gegangen, um Sachen zu holen, die ich dringend brauche. Die Wohnung ist verlassen und ich bin durch ein Fenster hineingekommen. Über die Grenze bin ich heute Morgen zu früher Stunde gegangen und nun gehe ich wieder nach Deutschland zurück.“ Um 13.45 Uhr hielt sie ein Grenzer der FS an. Dafür, „dass sie in die ČSR zurück- kehrte, obwohl sie von dort für immer ausgesiedelt wurde, womit sie sich der Ordnungswidrigkeit der unerlaubten Rückkehr schuldig machte“, wurde sie zu zwei Monaten verurteilt. In den Dokumenten, die ihre Verurteilung betreffen, steht die Anmerkung: „Nach Verbüßung der Strafe wird die Verurteilte an das Kom- mando der SNB Varnsdorf zum Zwecke der Beförderung über die Grenze der ČSR übergeben.“43 Auch kehrten freigelassene Kriegsgefangene nach Böhmen zurück. So zum Beispiel der böhmische Deutsche Josef Hentschel, der die Grenze bei Rugiswalde/Nová Víska überschritt. Er gab zu, dass er in seine Geburtsgemeinde zurückkehren wollte, wo er auch Besitz hatte. Als Deutscher ohne tschechische Verwandte wurde er aber augen- blicklich festgenommen, verurteilt und nach Verbüßung der Gefängnisstrafe ausge- wiesen.44 Strafen drohten aber auch Tschechen, die den ausgesiedelten Deutschen halfen. Jaroslav Jurka aus Jiříkov wurde im Juni 1948, weil er einem ausgesiedelten Verwandten half, zu dreißig Tagen Gefängnis verurteilt. Er gab zu, „hinter seinem Haus an einem verabredeten Ort 5 kg Nägel, 1 Brot von 2 kg und ca. 1 kg Mehl ver- steckt zu haben“. Daneben gewährte er im November 1947 seiner ausgesiedelten Schwiegermutter wiederholt Obdach.45

43 SOkA Děčín, Okresní soud Varnsdorf. Trestní věci (1945). Trestní věc proti Hedvice Röhlové pro přestupek §323 tr. z. č. 59/45, kt 42. 44 Vgl. SOkA Děčín, Okresní soud Varnsdorf, Josef Hentschel, č. Nt 296/1948. 45 Vgl. SOkA Děčín, Okresní soud Varnsdorf, Jaroslav Jurka, č. Nt 454/1948.

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Weitere Fälle von Grenzübertritten

Weniger bekannt ist allerdings, dass auch Beamte aus der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands nach Böhmen kamen, und zwar zum Einkaufen gewöhnlicher Lebens- mittel. So einen Fall erlebte Miloslav Šolc in Varnsdorf:46

Einer dieser Beamten nahm mich dann mit nach Deutschland […]. Wir sind ge- meinsam mit dem Fahrrad nach Seiffen gefahren. Und dort habe ich noch nach den Leuten geschaut, die ich aus Varnsdorf kannte, aber sie waren schon vertrie- ben. Sie hatten nämlich eine Tochter, und ich bin mit ihr in Böhmen noch liiert gewesen. Also bin ich wegen ihr gekommen und wollte sehen, wie es dort aussah. Ich war neugierig, mit einer anderen Absicht bin ich dorthin nicht gefahren. Sie war aber schon nicht mehr zu Hause [...]. Sie war Konditorin wie ich, aber zu dieser Zeit arbeitete sie schon in einer Küche irgendwo im Erzgebirge. Sie schrieb mir, dass es dort Hunger gäbe.

Herr Šolc war mehrmals illegal in Sachsen:47

Zuerst fuhr der russische Beamte mit mir zurück bis zur Grenze, aber als ich später allein über die Grenze kam, wusste ich schon wohin […]. Eigentlich bin ich dort nur zum Schauen hingegangen, aber mit dem Mädchen habe ich mich nicht mehr getroffen. Ins Erzgebirge bin ich wegen ihr nicht gefahren.

Die Bürger der ČSR bekamen für die Überschreitung der Grenze weitaus geringere Strafen als die Deutschen. Sehr kurios stellt sich der Fall eines ehemaligen Grenzsoldaten der tschechoslowakischen Armee dar. Dieser unterhielt ebenfalls ein Liebesverhältnis mit einer ausgesiedelten Deutschen in Neugersdorf. Weil er wahrscheinlich keine Er- laubnis für die Reise hinter die Grenze bekam, überschritt er sie auf illegalem Wege. Später, im Februar 1947, schrieb er in seiner Eingabe an die Besiedlungskommission beim Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (ZK KSČ): „Ich wurde in ihrem Haus von zwei deutschen Polizisten ertappt und […] auf deren Dienststelle vorgeführt, wo [ich] nach der Kontrolle meiner Papiere freigelassen und hinter die Grenze zurückgebracht [wurde].“ Die deutsche Seite gab die Angaben über den Festgenommenen umgehend an die tschechoslowakischen Behörden weiter. „Mir wurde von der Passkontrollstation Šluknov mitgeteilt, dass die Überschreitung der

46 Gespräch mit Miloslav Šolc (geb. 1922), geführt am 9.8.2012 in Varnsdorf. Transkription [Archiv des Verfassers]. 47 Ebd.

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Grenze entweder mit einer Geldstrafe bis 3.000 Kčs, oder bis zu zwei Wochen Gefängnis bestraft wird.“ Der Leiter der Besiedlungskommission war Bedřich Steiner. Der Verfasser der Eingabe kannte ihn aus der Auslandsarmee. Seine Reise nach Sachsen präsentierte er naiv als private Ermittlung von Delikten, die sich angeblich Angestellte des Bezirks- gerichts in Šluknov an festgenommenen Frauen zu Schulden kommen lassen hatten. „Ich mache dich darauf aufmerksam“, schrieb er Steiner, „dass wenn ich verhaftet werde (Geld habe ich nicht), dies der größte Justizskandal werden wird, weil ich die Grenze nur zu dem einen Zweck überschritten habe, um den Sicherheitsorganen mitzuteilen, was zu meiner Dienstzeit [in Šluknov] geschehen war.“ Er forderte Steiner auf, sich für den Erlass der Strafe einzusetzen, weil die Straftat seine spätere Aufnahme in die SNB verhinderte: „Deshalb bitte ich dich, Béďo [Koseform von Bedřich], nimm dich mir an und erspare mir das, damit nicht die Annahme entsteht, ich hätte vielleicht etwas mit deutschen Frauen.“ Bedřich Steiner nahm die Argumentation aber nicht an und reagierte kühl: „Es tut mir Leid, dass ich der Bitte nicht nachkommen kann, weil deine Reisen zu den Deutschen ins Reich zu durchschaubar und deine Ausführungen überhaupt nicht gelungen sind. Zweijähriges Wohlergeben [sozialistische Grußformel]!“48

Exkurs 1: Der kleine Schmuggler aus Varnsdorf. Die Geschichte von Walter Bouchner

Walter Bouchner kommt aus einer gemischten deutsch-tschechischen Familie und lebt bis heute in Varnsdorf. Die Aussiedlung betraf die deutschen Teile seiner Familie – die Tanten mütterlicherseits wurden schon 1945 ausgesiedelt. Sie und ihre Familien wurden mittellos. Nach Deutschland konnten sie nur die allernotwendigsten Sachen mitneh- men. Der Rest der Familie, der in Böhmen blieb, wollte ihnen auf jedem erdenklichen Wege helfen. Jedoch war die Überführung von Besitz der Deutschen über die Grenze strafbar. Die Bouchners lebten damals nur ein Stück von der Grenze entfernt, was ein Vorteil war. „Dann habe ich eben angefangen zu schmuggeln. Ich hatte einen Bekann- ten, der dort auch hinging. Also sind wir nachts zusammen durch den Wald über den Špičák gegangen. Auf der anderen Seite, ein Stück hinter der Grenze war eine Gärt - nerei. Dort wurden sogar Erdbeeren gezogen.“ Und diese Plantage bewirtschafteten Bekannte Bouchners, die daraufhin die geschmuggelten Sachen (beispielsweise Decken und diverse Bekleidung) den ausgesiedelten Tanten schickten. Den Leuten aus der Gärtnerei brachte er weiterhin Mäntel, Fahrradschläuche und Schuhe, was ihr Lohn dafür war, dass sie den Schwestern die Sachen schickten. „Das war eine angemessene

48 Národní archiv Praha, ÚV KSČ (1945–1989), Politicko-organizační oddělení – Osídlovací komise při ÚV KSČ (1945–1950), korespondence s okresem Šluknov (1945–1948), archivní jednotka č. 229, list 7–10.

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Entschädigung, weil sie einiges riskierten.“ Die Grenzbewachung begann sich am Ende der vierziger Jahre zu verschärfen. Stacheldrähte tauchten zuerst in der Umgebung der Grenzübergänge auf, später, in den fünfziger Jahren, waren sie bereits fast überall:49

Einmal, als ich um Mitternacht zur Gärtnerei ging, waren die Besitzer vollkommen nervös und sagten, es gäbe ein Malheur. Es waren nämlich drei russische Soldaten weggelaufen und die Armee durchkämmte die Wälder. Ich hatte nicht geahnt, dass dort etwas Derartiges geschah, also bin ich gegangen […]. Naja, manchmal lief es mir schon kalt den Rücken herunter. Ich muss schon sagen, dass das kein einfaches Unterfangen war.

Über die Grenze ging Walter Bouchner aber nicht nur zum Schmuggeln. Im Jahre 1951 kam er, um sich die Ankunft des Freundschaftszuges anzusehen, der ostdeutsche Delegierte nach Böhmen brachte:50

Das war ein großes Ereignis, und ich war neugierig. Ich stand auf dem Bahnsteig und sah, dass aus dem Zug ein so schönes Mädchen schaute. So haben wir geplau- dert. Es handelte sich um eine Deutsche gleich von nebenan aus Seiffen. Das war an einem Sonnabend, und ich Ochse hatte gleich am nächsten Tag ein Rendezvous mit ihr. An der Grenze bei Hrádek war früher ein Grenzübergang.

Dorthin führte eine Straße, die genau an der Grenze zu Deutschland endete. Früher hieß sie Seifhennersdorfer Straße, und nach dem Krieg wurde sie mit einem Schlagbaum geschlossen. Auf deutscher und tschechischer Seite gab es Gasthäuser. Das in Böhmen war wegen der Grenzbewachung verlassen, jenes in Sachsen war weiter geöffnet:51

Dort hatten wir uns zum Rendezvous verabredet. Damals war ich ledig, ich hatte keine Verpflichtungen, also sagte ich mir, dass ich es riskiere. Also haben wir uns unterhalten, und auf einmal sehe ich, dass von unten zwei Beamte der SNB kom- men. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, eines war mir aber klar: Dass sie mich, wenn sie mich kriegten, einsperren würden. Also bin ich über die Grenze und dann mit dem Mädchen hinunter nach Seiffen gegangen. Sie wohnte nur ein Stück entfernt, in einem Haus an der Kreuzung. Dort habe ich bei ihr den Nachmittag verbracht, gut war mir dabei nicht.

49 Gespräch mit Walter Bouchner (geb.1932), geführt am 8.8.2012 in Varnsdorf. Transkription [Archiv des Verfassers]. 50 Ebd. 51 Ebd.

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Das Mädchen beriet ihn, wie er zurückkommen könnte. Sie kehrten in das bereits erwähnte deutsche Gasthaus an der Grenze ein, weil sie dort den Wirt kannte. Die- ser riet ihnen, noch eine Weile zu warten. Er stand mit dem Mädchen also am Fens- ter und schaute auf die Grenze. Draußen standen gerade zwei ältere Frauen, die sich unterhielten – eine von der deutschen, eine von der tschechischen Seite. „Auf einmal sprangen aus unserem zertrümmerten Gasthaus Beamte der SNB und führ- ten die Frau auf der tschechischen Seite ab.“ Der deutsche Wirt brachte ihn darauf- hin mit slowakischen Schmugglern in Kontakt. „Die Slowaken hatten 1951 ein per- fekt organisiertes Schmugglernetz. Die schmuggelten Zigaretten der Marke Detva nach Sachsen.“ Der Zigarettenschmuggel war ein einträgliches Geschäft, weil in Ostdeutschland zu Beginn der fünfziger Jahre ein Mangel an Tabakwaren herrschte. Die Slowaken besetzten unverzüglich nach 1945 die Häuser nahe der Staatsgrenze, um einen guten Überblick über das Geschehen an der deutsch-tschechischen Grenze zu haben. Einen Teil der Waren versteckten sie damals gerade in dem Gast- haus auf der sächsischen Seite. „Sie hatten ein perfekt organisiertes Schmugglernetz. Und sie kümmerten sich dann bei den weiteren Übertritten um mich. Mit ihnen und unter ihrer Aufsicht bin ich frei nach Deutschland gegangen und auch wieder zurückgekehrt.“ Die Ausflüge über die Grenze dauerten allerdings nicht lange. „Ich war dort ein paarmal, musste dann aber davon ablassen, weil ich angezeigt wurde und man ein Auge auf mich hatte.“52 Den Verwandten aber schmuggelte er Sachen bis zu seinem Eintritt in die Armee 1953. Danach traf er sich mit ihnen erst nach einigen Jahren wieder, als man bereits offiziell in die DDR einreisen konnte.53

Exkurs 2: Schmuggler, Betrüger und Hochstapler. Die Geschichte von František Pokorný

In großem Stil widmete sich gleich nach dem Krieg František Pokorný dem Schmuggel an der deutsch-böhmischen Grenze. Er leitete von 1945 bis 1947 als Nationalverwalter die Fabrik für Motorräder Čechie-Böhmerland in Kunratice bei

52 Ebd. Dass man den Mädchen nach Sachsen nachlief, wird auch von Leopold Tuček erwähnt. Dieser war in den 1950er Jahren als Offizier der Grenzwache bei Aš (Ascher Zipfel) tätig. Einer seiner Untergebenen hatte ein Ver- hältnis zu einem Mädchen aus Bad Brambach. Seine Kenntnisse der Stacheldrahtsperren ermöglichten es ihm die Staatsgrenze illegal zu überschreiten. Nach einer Zeit wurde er aber angezeigt und für längere Zeit verhaftet. Die Geschichte soll doch ein gutes Ende haben. Nachdem er entlassen wurde, heiratete er das Mädchen und beide lebten dann in der Tschechoslowakei. Gespräch mit Leopold Tuček (geb. 1928), geführt am 29.9.2012 in Aš. Transkription [Archiv des Verfassers]. 53 Vgl. Gespräch mit Walter Bouchner (geb. 1932), geführt am 8.8.2012 in Varnsdorf. Transkription [Archiv des Verfassers].

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Šluknov. Für ihren Betrieb war er vermutlich auf Material aus Deutschland an - gewiesen. Da aber bis dahin noch keine offiziellen Handelsabkommen zwischen beiden Staaten abgeschlossen waren, besorgte er sich die Waren illegal. Die gerin- gen wirtschaftlichen Erträge der von ihm geleiteten Fabrik legen die Vermutung nahe, dass er überhaupt mehr am Schmuggel als an der Fabrik interessiert war. Pokorný überführte Autos, Motorräder, Ersatzteile, Bremsflüssigkeit, Textilnadeln und Medikamente ohne Erlaubnis über die Grenze. Er profitierte auch vom Schmuggel von Reichsmark. Die zweitweise Straflosigkeit garantierten ihm ver - mutlich Kontakte zu Mitarbeitern der Staatssicherheit in Rumburk. Über eine seiner letzten Reisen nach Sachsen ist eine Zeugenaussage erhalten. Pokorný überschritt die Grenze ohne die geringsten Probleme – auf tschechischer Seite war er nämlich mit Angestellten des Zollamtes in Dolní Poustevna verabredet, die ihn über die Eisenbahntrasse nach Sebnitz brachten. Auf deutschem Gebiet trat er als tschechoslowakischer Kriminalist auf und suchte Kontakte zu den deutschen Sicherheitsbehörden. Diese informierte er über die Situation in der ČSR und gab vor, eine Ausfuhrgenehmigung für Quark, Käse, Fisch und weitere in Deutsch- land ausgesuchte Waren zu haben. In Pirna verhandelte er beispielsweise mit dem Leiter der Molkerei und des Ausschusses für Ernährung über die Lieferung von Quark und Käse. Über die Lieferung dieser Milchprodukte schloss er sogar eine fingierte Bestellung ab. Daneben sicherte er sich gleichzeitig den Kauf von Motor- radteilen. So machte er das auch in einigen weiteren sächsischen Städten. Auf einem Motorrad, das er als Besitz der Firma ausgab, fuhr er zurück. Es handelte sich aber um eine in Deutschland gekaufte Maschine, die Pokorný in die ČSR schmug- geln wollte […]. Ende Januar 1947 wurde Pokorný aber auf eine Anzeige hin von der „Sicherheit“ verhaftet. Freigelassen wurde er erst nach eineinhalb Jahren auf Grund eines Amnestieerlasses des Präsidenten. Den erhaltenen Dokumenten nach zu urteilen ahnten die sächsischen Polizisten schon lange, dass es sich um eine ver- dächtige Person unter dem Deckmantel der Vermittlung von Treffen deutscher und tschechischer Polizeibeamter handelte. Pokornýs Trick war einfach: Den Deut- schen gegenüber behauptete er, dass sich ein tschechischer Beamter mit ihnen treffen wolle. Demgegenüber „übermittelte“ er aber darauf auch der tschechischen Seite das Interesse der Deutschen an einem Treffen. František Pokorný war ein typisches Produkt seiner Zeit – Hochstapler, Goldsucher, Betrüger und notorischer Lügner.54

54 Vgl. Jan Němec: Legendární motocykl Čechie. Osudy Albina Liebische, konstruktéra nejdelších motocyklů. Prag: Grada Publishing 2010, S. 127-133. Die Unterlagen zu den illegalen Grenzüberschreitungen befinden sich im Bezirksarchiv Děčín (SOkA Děčín).

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Der Februar 1948

Der kommunistische Umsturz im Februar 1948 änderte die Einstellung des Staates zur Problematik der Auslandsreisen völlig. Die Einwohner sollten zu Hause den Sozialismus aufbauen und nicht das Land verlassen. Besonders unerwünscht waren Reisen in feindliche kapitalistische Staaten, wo doch die endgültige Emigration und damit der Verlust von Arbeitskräften drohte. Von 1948 bis 1956 versuchte der Staat folglich, seine Einwohner von der umliegenden Welt zu isolieren. Privatreisen waren gänzlich verboten, und die Reise in die Volksrepubliken gestaltete sich fast so schwie- rig wie die Ausreise in den Westen. An der Grenze zu Deutschland existierte nach 1948 faktisch nicht einmal ein kleiner Grenzverkehr, wenn theoretisch auch die Vor- schriften aus der Zeit der Ersten Republik gelten sollten. Schon Ende Februar 1948 untersuchte das Innenministerium, ob es unbedingt notwendig sei, dass die Bewohner der Grenzregionen die Grenze zwischen Sachsen und Böhmen überschritten. Die Pra- ger Beamten verheimlichten keineswegs, dass es um eine restriktive Korrektur des Grenzverkehres ging, durchgeführt im Interesse „der Verteidigung und Sicherheit des Staates.“ Die Mehrheit der befragten Grenzdienststellen der SNB gab an, dass die Bestimmungen der ehemaligen Verträge über den kleinen Grenzverkehr schon seit der Abtrennung der Grenzgebiete 1938, bzw. seit 1945, nicht mehr durchgeführt wer- den würden. Einigkeit bestand auch darin, dass es wünschenswert wäre, dass die Grenze nur Feuerwehrleute und Sanitäter im Falle eines Feuers überschreiten könnten – so wie es im schwülen Sommer 1947 unweit von Zadní Jetřichovice geschehen war. Damals halfen dort bei der Löschung eines Waldbrandes etwa 60 Einwohner aus Sachsen. Eventuelle Touristen sollten die Grenze ausschließlich über die ‚Zollwege‘ überschreiten. Ein weiteres Argument für die Verschärfung der Grenzkontrollen war, dass im Gegensatz zur Ersten Republik nun keine Menschen mehr, die in Böhmen lebten, in Sachsen arbeiteten. Mit der Aussiedlung der deutschen Bevölkerung waren auch die traditionellen Verwandtschaftsbeziehungen auf beiden Seiten der Grenze abgerissen.55 Im Verlauf des Jahres 1948 verringerte sich der offizielle Zug- und Straßenverkehr erheblich. Es blieben merklich die Fahrgäste aus. Nur ausnahmsweise tauchten Schmuggler von Lebensmitteln auf. In den Zügen gab es zu Beginn der 1950er Jahre nur kleine Schmuggler von Textilerzeugnissen (z.B. Damenstrumpfhosen), oft wurde versucht Valutageld auszuführen. Offiziell wurden über die Grenzübergänge haupt- sächlich industrielle Erzeugnisse transportiert, und zwar in beide Richtungen. Die Ein- und Ausfuhr von Waren wurde begrüßt – Grenzübertritte der eigenen Einwoh-

55 Vgl. SOkA Děčín, ONV Děčín 1945–1960. Malý pohraniční styk. Inv. č. 307, kt 126.

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ner aber nicht.56 Es wurde begonnen, die Grenzübergänge und Zollstationen zu schließen, weil sie weiterhin nicht für nötig erachtet wurden. Wenig bekannt ist, dass am Tag der Abdankung von Präsident Edvard Beneš (7. Juni 1948) an der gesamten Staatsgrenze ein Sonderbetrieb galt. Die äußerst argwöhnische Staatssicherheit (StB) erwartete damals, dass beispielsweise einige Armeeoffiziere ver- suchen könnten, aus dem Land zu kommen. Im Bezirk Děčín kontrollierten der Vor- sitzende des Bezirksnationalausschusses und ein Sicherheitsreferent die Aktivitäten der Grenzwächter in den Nachtstunden. Die Arbeit der Einheiten bewertete die SNB als zufriedenstellend, dafür übte die FS in einem Brief an das Regierungspräsidium harte Kritik:57

Obwohl gemäß von Feststellungen im wichtigen Abschnitt Jetřichovice die be- treffende Station der FS gemäß der erwähnten Weisung über die Notwendigkeit höchster Dienstaktivität und erhöhter Wachsamkeit durch ein Organ der SNB verständigt worden war, wurde das Dienstfahrzeug, obwohl es durch die volle Be- leuchtung weithin sichtbar und in der nächtlichen Stille der Lärm des Motors weit hörbar waren, nicht von einem einzigen Organ der Finanzwache angehalten, ab- gesehen davon, dass wie der Vorsitzende des Kreisnationalausschusses, auch der Stationsbeamte mehr als eine halbe Stunde dicht am Grenzstein verbrachten und die unmittelbare Umgebung der Grenzlinie überblickten.

Eifrige Beamte aus dem Bezirksnationalausschuss Děčín forderten eine genaue Unter- suchung des Falls. Die Tage der Existenz der FS waren aber ohnehin bereits gezählt. Nach dem Gesetz Nr. 275 vom 2. Dezember 1948 wurden alle Zuständigkeiten der FS ab dem 1. Januar 1949 den Grenzeinheiten der SNB übertragen. Die Kommunisten hiel- ten die FS für unzuverlässig, und so wurde eine Mehrheit ihrer Angehörigen entlassen.

II. Perfekt gesichert und überwacht (1949–1968)

Die wachsende Spannung zwischen den Staaten im Westen und der Sowjetunion (und ihrer Satelliten) wirkte sich sehr negativ gerade auf die Trennungslinie zwischen beiden ideologischen Blöcken aus. Die kommunistisch geführten Länder isolierten sich vom Rest Europas. An der Grenze zu Österreich und den beiden deutschen Staa- ten entstand eine geschlossene Grenzzone. Diese war manchmal einige Kilometer

56 Vgl. SOkA Děčín, Celnice Děčín (1945–1953), kt 1. 57 SOkA Děčín, ONV Děčín 1945–1960. Překročení hranic 1946–1950. Inv. č. 308, kt 126.

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breit, und die dort lebenden Menschen mussten entweder wegziehen oder sich, im besseren Fall, einem strengen Grenzbetrieb unterordnen. Die Staatsgrenze der Tsche- choslowakei war seit dem 1. April 1949 in zwei Zonen aufgeteilt. Die erste (die Grenze zur amerikanischen und sowjetischen Besatzungszone Deutschlands und zu Öster- reich umfassend) wurde streng durch militärisch organisierte Abteilungen des Grenz- schutzes (PS) bewacht. Die zweite Zone (die Grenze zu Polen, Ungarn und der UdSSR) bewachten die Grenzstationen der SNB. Die gesamte Grenze nach Sachsen überwachten ab 1952 Brigaden des PS aus Karlovy Vary und Děčín. Zu Beginn der 1950er Jahre begann das totalitäre Regime an der Grenze zum Westen eine Schneise von bis zu 20 Metern Breite zu schlagen, an der die Einheiten des PS daraufhin Stacheldrahtzäune errichteten. In exponierten Abschnitten der Grenze waren diese Zäune unter elektrischer Spannung. Den Eisernen Vorhang an der Westgrenze er- gänzten allerhand Überwachungssysteme, gründlich angebrachte Absperrungen oder sogar Mienenfelder. An der Staatsgrenze zur DDR wurde wegen der Möglichkeit, dass die Bürger über die DDR in die Westsektoren Berlins flüchten, ein Streifen Wald gerodet und an einigen Stellen ein Stacheldrahtzaun errichtet. Die Durchlässigkeit der Grenze zur DDR sank damit für die Bürger der ČSR erheblich.58

Abrissarbeiten

Im Jahre 1952 begannen im Grenzgebiet weitreichende Abrissaktionen. Von der Grenze nach Österreich und Westdeutschland breiteten sie sich schrittweise bis an die Grenze zur DDR aus. Das Innenministerium vergrößerte ab dem 14. Januar 1955 das Sperrgebiet und verstärkte die Bewachung an der gesamten sächsisch-böhmischen Grenze. Nach dem bereits abgesicherten Kreis Karlovy Vary weitete sich das strenge Grenzregime auch auf die damaligen Kreise Ústí nad Labem und Liberec aus. In der Grenzzone betraf dies gemäß amtlicher Dokumente 6.750 Häuser und beinahe 8.000 Einwohner. Für die Sperrzone galt der gleiche Betrieb wie an der Grenze zu Österreich und zur BRD – in ihr durfte niemand wohnen, nicht einmal sich aufhalten. Der to- talitäre Staat reagierte so auf die häufigen Fluchtversuche tschechoslowakischer Bürger nach West-Berlin. Nach Errichtung der Drahtabsperrungen und der Signalwände an der Grenze mit den westlichen Staaten, handelte es sich nämlich um einen der letzten Orte, über den man in die freie Welt durchbrechen konnte.59 Die Abbrucharbeiten

58 Vgl. Jílkovi, Železná opona (wie Anm. 24). 59 David Kovařík: Proměny českého pohraničí v letech 1958–1960. Demoliční akce v českém pohraničí se zřetelem k vývoji od roku 1945. Brno: Nakl. Prius 2006, S. 46.

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sollten alle Objekte betreffen, die im äußeren Teil des Sperrgebiets standen – also zwi- schen der Staatsgrenze und der Absperrung aus Draht. Im inneren Teil des Sperr - gebiets wurden nur baufällige Gebäude abgerissen.60 Die erste böhmische Gemeinde, die der Reisende im Zug auf dem Weg von Dresden nach Prag durchfährt, ist Dolní Žleb. Auch ein Teil dieser Gemeinde fiel in die Grenzzone und wurde Mitte der 1950er Jahre erbarmungslos zerstört.

Grenze zwischen den „Bruderländern“, Jiříkov [ca. 1960]

Die verlassenen Grenzgemeinden wurden zu einem internationalen Thema, zumin- dest in den Beziehungen zwischen der DDR und der Tschechoslowakei. Im April 1957 übergab das Außenministerium der DDR über seine Prager Botschaft den Kol- legen ein Dokument, das die gemeinsame Grenze betraf. Die verlassenen Gemeinden erweckten laut diesem keinen guten Eindruck bei der Bevölkerung der DDR, was auch zu unerwünschten Diskussionen unter den Bürgern führte. Die kommunalen Behörden auf deutscher Seite waren sogar mit schriftlichen Forderungen konfrontiert, dass die menschenleeren Gemeinden auf der böhmischen Seite zur Unterbringung von Menschen benutzt werden sollten. Der sich erhöhende Grenzverkehr verstärkte den peinlichen Eindruck noch.

60 Ebd.

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Zum Anlass des Wahlkampfes für die Volkskammer besuchte der Abgeordnete der tschechoslowakischen Nationalversammlung Josef Pötzl im Frühjahr 1957 das ost- deutsche Grenzgebiet. Als offizieller Repräsentant der in Böhmen verbliebenen deut- schen Minderheit und gleichzeitiger Vertreter des Nachbarlandes nahm er an Treffen mit der lokalen Bevölkerung in Sachsen teil. Diese stellte ihm aber auf sehr offene Art und Weise diverse unangenehme Fragen. Sie fragten beispielsweise danach, warum zwischen den beiden sozialistischen Ländern Stacheldrähte gespannt sein mussten, die häufigsten Erkundigungen drehten sich aber um die Frage, warum die tsche- chischen Bewohner der Grenzgemeinden umgesiedelt und ihre Häuser abgerissen wurden. Die ostdeutschen Bürger sondierten auch, ob sie Material von den Abrissen auf tschechischer Seite aufkaufen und zur Rekonstruktion der eigenen Häuser ver- wenden könnten. Die tschechoslowakischen Behörden lehnten es grundsätzlich ab, dass Bürger der DDR an den Abrissaktionen teilnahmen. Die einzigen Ausnahmen waren die Gemeinden Rájec und Zelný Dvůr im Kreis Ústí nad Labem, wo sich der Abriss wegen der Entfernung dieser Orte derart verteuerte, dass es vorteilhafter war die Abrissarbeiten der ostdeutschen Seite zu übergeben. Eine weitere Abrisswelle erfuhr das gesamte Grenzgebiet in den Jahren 1959 und 1960.61 Der Historiker David Kovařík führt drei Gründe an, die zu diesen ausgedehn- ten Abrissaktion führten: Es war notwendig, das Grenzgebiet von unbewohnten und baufälligen Objekten zu befreien (sie verunstalteten das Gemeindebild), Baumaterial zu bekommen und das Terrain zur Bewachung der Staatsgrenze übersichtlicher zu machen. Der Abriss veränderte die Gestalt der sächsisch-böhmischen Grenzlinie nicht zum Besseren. Abgeschiedenheit, eine kümmerliche demografische und soziale Struk- tur der Bevölkerung und der einschränkende Grenzbetrieb, der das Leben der Men- schen verkomplizierte, waren Ursachen für einen Zustand des Grenzgebietes, der bis heute spürbar ist.62

Illegale Grenzübertritte durch Personen

Viele der Deutschen, die in der Tschechoslowakei geblieben waren, wollten nach dem Februarumsturz 1948 das Land verlassen. Während sich die Behörden im Vorjahr noch damit beschäftigten, wie möglichst viele Personen deutschen Ursprungs aus der Republik zu bekommen waren, bemühten sie sich nach dem kommunistischen Putsch

61 Vgl. ebd., S. 48ff. Zu den Reaktionen auf die verwahrlosten Objekte in der Tschechoslowakei vgl. Adolf Ginter: V malém německém městě. In: Československý voják, 24 (1956), S. 7ff. 62 Vgl. ebd., S. 66.

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im Gegenteil darum, sie im Land zu behalten, da ihre Arbeit für das Funktionieren von Industrie und Landwirtschaft gebraucht wurde. Nach Beendigung der Massen- transporte verließ in den Jahren 1948/49 eine große Zahl der tschechoslowakischen Deutschen die ČSR in die amerikanische oder sowjetische Besatzungszone Deutsch- lands. Ein Teil von ihnen verließ das Land dabei illegal über die bis dahin nicht sehr streng bewachte ‚grüne Grenze‘.63 Die berühmteste und ohne Zweifel blutigste Flucht aus der totalitären Tschechoslo- wakei spielte sich an der sächsisch-böhmischen Grenze ab. Eine Widerstandsgruppe um die Brüder Mašín suchte sich für ihre Flucht aus dem Land den Oktober 1953 aus. Die Gruppe wurde aus Menschen gebildet, die sich mit dem kommunistischen Terror in der ČSR niemals aussöhnen konnten. Nach einigen kontroversen Kampf- aktionen entschieden sie sich, aus dem Land wegzugehen und vom Ausland aus gegen das Regime zu kämpfen. Den Erzählungen von Josef Mašín zufolge war es bereits schwierig, überhaupt an die eigentliche Grenze zu kommen. Das Faktum, dass es sich um die ‚Friedensgrenze‘ zur DDR handelte, spielte überhaupt keine Rolle. Sie traten illegal auf ostdeutsches Gebiet bei Hora sv. Kateřiny. Damals waren sie noch naiv genug zu hoffen, dass sie vom Erzgebirge bis nach Berlin innerhalb von vier Tagen zu Fuß gelangen könnten. Als großes Problem stellte sich die Orientierung auf säch- sischem Gebiet heraus:64

In der Tschechoslowakei konnte man sich damals keine Karte kaufen. Die einzige Karte, die wir hatten, war zur Umgebung von Hora Svaté Kateřiny, diese umfasste etwa zwei oder drei Kilometer deutschen Gebiets. Die einzige Karte von Deutsch- land hatten wir aus einer Zeitschrift herausgetrennt, wo Landstraßen und Auto- bahnen eingezeichnet waren.

Die Flüchtlinge überraschte die Bereitwilligkeit, mit der ihnen manche Deutsche hal- fen: „Es zeigte sich, dass wir einen gemeinsamen Feind hatten, und zwar den Kom- munismus.“ Die erste Abschätzung der Weglänge stellte sich als falsch heraus, und so beschlossen sie, mit dem Zug zu reisen. Hilfe bekamen sie von einem ortsansässigen Deutschen, der ihnen die Fahrt aus dem sächsischen Riesa ins brandenburgische Els- terwerda bezahlte. Unweit von Luckau auf der Station Uckro wartete die ostdeutsche Volkspolizei auf sie. Mitglieder der Gruppe begannen geistesgegenwärtig, zu schießen.

63 Vgl. Tomáš Staněk: Odsun Němců z Československa 1945–1947. Prag: Academia 1991, S. 253f. Neu zum ema, vgl. Matěj Spurný: Nejsou jako my. Česká společnost a menšiny v pohraničí 1945–1960. Prag: Anti- komplex 2011. 64 Zusammenfassung des Gesprächs mit Josef Mašín am 28.3.2008. In: http://www.pametnaroda.cz/story/masin- josef-1932-1307, Zugriff am 22.7.2012.

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Auf der Flucht erschossen sie vier Angehörige der Volkspolizei. Drei weitere ostdeut- sche Polizisten kamen durch Schüsse von der eigenen Seite um. Nach einer dramati- schen, fast einen Monat lang dauernden Fahrt durch die DDR gelang es den Brüdern Mašín und Milan Paumer in den amerikanischen Sektor Berlins zu kommen. Die übrigen Mitglieder der Gruppe, Zbyněk Janata und Václav Švéda, wurden aufgegrif- fen, an die ČSR ausgeliefert und hingerichtet.65 Die Aktivitäten der Gruppe spalten bis heute die tschechische Öffentlichkeit auf sie. Ein Teil hält sie für Verbrecher und Mörder, während der andere sie als Nationalhelden erachtet, die einen legitimen Kampf gegen die kommunistische Diktatur führten. Im Vergleich zu der vorausgegangenen Flucht sind die folgenden Fälle nur kleine Episoden. Trotzdem sind sie uns Quelle wertvoller Informationen zum Übertritt von Menschen über die sächsisch-böhmische Grenzlinie. Welche Strafen waren da- mals geläufig, welcher Lohn für die Schmuggler, oder wie sahen die Ziele der Flüch- tenden aus? Die Übertritte waren in der Regel nicht so drastisch wie an der Grenze zum Westen. Dort drohten nämlich auch außerordentliche Strafen.66 Einem Waldarbeiter aus Dolní Poustevna wiesen die Behörden im Januar 1954 Schmuggel von Waren und Menschen nach. Das Gericht maß ihm dafür eine Strafe von 14 Monaten Gefängnis bei und unter anderem auch „das Verbot in den Grenzbezirken nach Deutschland und Öster- reich zu leben und zwar für immer“.67 Aus einem anderen Fall ergibt sich, dass die Fluchthelfer in die BRD gewöhnlich 10 bis 20 Tausend damaliger Kronen verlangten. Die Höhe hing davon ab, wie tief hinein der Fluchthelfer seinen ‚Klienten‘ in den Nachbarstaat zu bringen im Stande war. Die größte Summe erhielt verständlicher- weise jener mit guten Kontakten zu einem Helfer auf sächsischer Seite, der den Flüchtling bis nach Westberlin bringen konnte.68 Einigermaßen ungewöhnlich ist der Fall von František Mihalík und Rudolf Kögler aus Krásná Lípa. Der Erstgenannte flüchtete wegen des Verdachts auf Schmuggel 1950 über die DDR in die BRD. Er fand zwar Arbeit in Westdeutschland, weil er sich aber nach seiner Familie sehnte, kehrte er jede Ostern illegal für ein paar Tage nach Hause zurück. Bei seinem Fortgang über die Grenze half ihm vor allem sein Onkel – Rudolf Kögler. Ostern 1953 kehrte Mihalík für immer nach Hause zurück. Er entschloss sich, seinen Aufenthalt legali- sieren zu lassen und meldete sich bei den Behörden an. Diese gaben sich zu Beginn

65 Vgl. auch Ctirad Mašín/Josef Mašín/Milan Paumer: Cesta na severozápad. Prag: Academia 2011. Vgl. dazu Ota Rambousek: Jenom ne strach. Prag: Nezávislé tiskové středisko 1990. Es gibt auch eine populär-belletristische Bearbeitung bei Jan Nowák: Zatím dobrý. Brno: Nakl. Petrov 2004. 66 Vgl. Rychlík, Cestování do ciziny (wie Anm. 21), S. 52f. 67 SOkA Děčín, Okresní soud Rumburk, spis 1T 25/1954, kt 39. 68 Vgl. ebd., spis 1T 87/1954, kt 39.

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kompromisslos und verurteilten Michalík zu 14 Monaten Gefängnis, Kögler zu zwei. Die Amnestie des Präsidenten vom 4. Mai 1954 erließ Kögler die Strafe schließlich und senkte sie für Mihalík um ein Jahr.69 Trotz des Baus von Drahtverhauen und hochentwickelten Signalanlagen gab es Lücken durch die man auf das Gebiet Sachsens gelangen konnte. Direkt vor der Nase der Grenzschutzeinheiten gelang es im Oktober 1955 einem Einwohner aus Varnsdorf durch die Grenze zu schlüpfen. Es sollte aber erwähnt werden, dass er die Grenze gar nicht zu überschreiten beabsichtigte. Der ungewollte Grenzverletzer trank nämlich mit ein paar Freunden nach einem Streit mit seiner Frau in dem Varnsdorfer Gasthaus ‚Stalingrad‘. Daraufhin wollte er anscheinend auf dem Fußballplatz schlafen, ver- wechselte in seiner Trunkenheit aber die Richtung, und statt zum Fußballplatz ging er Richtung Staatsgrenze. Die wachsame deutsche Grenzpolizei fasst ihn sofort. Auf dem Gebiet der DDR verbrachte er daraufhin ungewollt zwei Monate. Er wurde zu- rück in die Tschechoslowakei verbracht, und die örtliche Justiz belegte ihn offensicht- lich mit Rücksicht auf die Haftzeit in der DDR mit einer Bewährungsstrafe.70 Ein ähnlicher Fall spielte sich unweit der Gemeinde Studánka ab. Der übermäßige Kon- sum alkoholischer Getränke beförderte einen Wartungstechniker der Staatsgüter aus Dolní Podluží an die Grenze. Im Unterschied zum vorigen Fall musste der übermäßig betrunkene Mann hier zur Überwindung der Grenze sogar noch Kräfte aufwenden:71

Gegen drei Uhr morgens […] ging er […] in betrunkenem Zustand zur Staats- grenze. Im Raum der Gemeinde Studánka passierte er die Drahtverhaue und über- schritt [die Grenze zur] DDR ohne irgendeine Erlaubnis. Nachdem er ausgenüch- tert war, erkannte er, dass er sich auf dem Gebiet der DDR befand und entschied sich in die ČSR zurückzukehren. Er ging also zur Staatsgrenze zurück und als er Angehörige des Grenzschutzes sah, bat er sie, ihn in die ČSR zurückzubringen. Er wurde zurück in unser Land gebracht und verhaftet.

Verurteilt wurde er erstaunlicherweise nur auf Bewährung, weil das Gericht seine bis- herige Unbescholtenheit berücksichtigte, sein vollständiges Geständnis und zudem die Tatsache, „dass der Beschuldigte das Delikt in Trunkenheit begangen hatte.“ Über die DDR flüchteten Nachkommen der ausgesiedelten Deutschen auch zu Beginn der 1950er Jahre. Hauptsächlich ging es um junge Leute, die in der Tschecho- slowakei geblieben waren und zurück zu ihren Familien wollten. Nur dass es 1955 an-

69 Vgl. ebd., spis 1T 125/1954, kt 39. 70 Vgl. SOkA Děčín, Okresní soud Rumburk, spis T5/1955, kt 39. 71 Ebd., spis T4/1955, kt 39.

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geblich bis zu zehn Monaten dauerte, auf offiziellem Wege einen Aussiedler-Pass zu erhalten.72 Weiterhin war ein Visum für die DDR gemessen an damaligen Verhält- nissen einigermaßen teuer. Kostspielig war auch die Zugfahrt, denn man konnte in Děčín nur den fernen Grenzbahnhof benutzen.73 Es ist also kein Wunder, dass viele der verbliebenen Deutschen die Grenze illegal überwanden. Den Grenzübertritt versuchte eine Gruppe bewaffneter Deserteure 1964 unweit von Jiříkov. Zur Flucht benutzen sie sogar mehrmals die Waffe und erschossen einen An- gehörigen der ostdeutschen Grenzpolizei. Letztlich wurden sie aber aufgegriffen. In Zu- sammenhang mit diesem Fall wurden die Bewohner des Grenzgebiets zur Wachsamkeit unbekannten Leuten gegenüber aufgerufen: „Es ist nicht immer einfach einen tatsäch- lichen Touristen von einer Person zu unterscheiden, die die Absicht hat, unser Land zu verlassen, oder von einer Person, welche kam, um uns zu schaden.“ Für die Sicherheit des Staates und seiner Bewohner war wichtig, dass die Bürger „auf die Bewegung ver- dächtiger Personen reagieren, besonders jener, die sich nach der Situation an der Staats- grenze erkundigten oder um Unterschlupf oder andere Hilfe bitten.“ Die Rumburker ‚Sicherheit‘ verwies noch auf den Fakt, dass den Grenzübertritt vor allem Leute im Alter von 16 bis 24 Jahren versuchten. Die Mehrheit von ihnen hatte sich angeblich strafbar gemacht und wollte sich mit der Flucht über die Grenze aus der Verantwortung vor dem Gesetz stehlen. In diesem Zusammenhang wurden auch „Zusammenrottungen von Rowdys“ erwähnt, die in den ehemaligen Grenzbefestigungen der Ersten Republik biwakierten. Die Behörden versuchten, sie von dort wegzubekommen.74 Nach dem Bau der Berliner Mauer verloren die Fluchtversuche in die DDR ihren Sinn. Die finanziell aufwendige Bewachung der Grenze zur DDR wurde Mitte der 1960er Jahre beendet. Es verschwanden damit auch die Brigaden des Grenzschutzes in Karlovy Vary und Děčín. Deren Aufgaben übernahm die Grenzabteilung der Staatssicherheit (VB).75

Schmuggel über den Fluss

Für die Verletzung der Vorschriften zum Warenverkehr mit dem Ausland standen in der Tschechoslowakei oft Schiffer vor Gericht, die in der Tschechoslowakischen Schiff-

72 Vgl. SOkA Děčín, Okresní soud Rumburk, spis T2/1956, kt 39. 73 Gespräch mit Frau Veronika Račanská (geb. 1924), aus Jiříkov, geführt am 26.9.2012. Transkription [Archiv des Verfassers]. 74 Městský národní výbor Rumburk (1945–1990), Zápisy z rady 1964, Zpráva komise pro ochranu veřejného pořádku připravená pro radu města Rumburk konanou 2. prosince 1964, kn 113. 75 Vgl. Jílkovi, Železná opona (wie Anm. 24), S. 32f.

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fahrt Elbe-Oder (ČSPLO) arbeiteten. Von den Schifffahrten durch Westeuropa (am häufigsten auf der Trasse Hamburg–Děčín) brachten sie nicht nur einmal heimlich Waren mit, die in den sozialistischen Staaten normalerweise nicht zu beschaffen waren. Der Staat wurde damit nicht nur um den Zoll gebracht, sondern auch um die Kontrolle der Waren, deren Einfuhr unerwünscht war. Auch wenn die Angestellten der ČSPLO gegenüber gewöhnlichen Reisenden erhebliche Vorteile bei der zollfreien Einfuhr von Waren hatten, brachten sie illegal Feuerzeuge, Zigaretten, Kosmetik, Uhren, Textilien, Fotoapparate oder Elektronik mit.76 Wurde den Schiffern nach - gewiesen, dass sie versuchten, die illegal eingeführten Dinge zu verkaufen, wurden sie auch der Spekulation beschuldigt. Schmuggel dieser Art erfassten die Behörden hauptsächlich an der Grenze der Tschechoslowakei zur DDR, teilweise auf Anzeige.77

Stufenweise Reiseerleichterungen

„Auch wenn wir an die Deutsche Demokratische Republik grenzen, mit der wir gute freundschaftliche Beziehungen haben und dies vor allem seit diesem Jahr, in dem der touristische Reiseverkehr ausgeweitet wird, dürfen wir nicht in der Annahme leben, dass diese Grenze nicht perfekt gesichert und bewacht sein sollte.“ Um den illegalen Grenzübertritt bemühten sich laut der Rumburker ‚Sicherheit‘ auch Personen, die keine Chance hatten legal auszureisen, also „feindlich gesinnte“ Personen, Justizflücht- linge und „die besonders für die westliche Propaganda empfängliche Jugend“.78 Die kommunistische Sicht auf die Reise der Bürger über die Grenze änderte sich nicht: Es handelte sich nicht um das selbstverständliche Recht eines Bürgers, sondern viel- mehr um ein Privileg für loyale Bürger und Erbauer des Sozialismus.79 Bereits in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre begannen sich aber langsam die An- weisungen bezüglich der Auslandsreisen zu mäßigen – wenigstens bei sozialistischen Reisezielen. Touristische Reisen in diese Länder wurden allmählich toleriert. Am häu- figsten machten sich organisierte Gruppenfahrten auf den Weg über die Grenze. Dazu

76 Nach einem Erlass der Zentralen Zollverwaltung vom Oktober 1954 wurden genaue Quoten definiert, was und wie viel die Angestellten der ČSPLO (Elbschifffahrtsgesellschaft) über die Grenze zollfrei mitführen durften. Es handelte sich z.B. um fünf kg Kaffee, 30 kg Obst, 10 l Wein, 12 Paar Socken, 12 Schallplatten, ein Herrenanzug oder 200 Stück Rasierklingen. Die Ware wurde bei der Zollkontrolle vorgelegt und in die persönlichen Zoll - bücher eingetragen. Für die übrige Ware galten geläufige Zolltarife; vgl. Okresní soud Děčín, Trestní spisy, č. 4T 91/1961. 77 Vgl. SOkA Děčín, Okresní soud Děčín (nezpracovaný fond), Trestní spisy, č. 4T 91/1961. 78 Městský národní výbor Rumburk (1945–1990), Zápisy z rady 1964, Zpráva komise pro ochranu veřejného pořádku připravená pro radu města Rumburk konanou 2. prosince 1964, kn 113. 79 Vgl. Rychlík, Cestování do ciziny (wie Anm. 21), S. 60.

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war es nötig, gemeinsame Listen der Reisenden anzufertigen, die von der Haupt - direktion der Staatssicherheit in Prag ausgewertet wurden. Auch hier galten aber be- stimmte Einschränkungen in der Beziehung zur DDR (bis 1961 bestand hier die Mög- lichkeit zur Flucht nach Westberlin) und zum ideologisch ungefestigten Jugoslawien.80 Den Reiseverkehr hemmte auch eine andere Hürde. Ab Ende des Jahres 1953 verbot ein Gesetz grundsätzlich die Ein- und Ausfuhr tschechoslowakischer Kronen, die Ein- fuhr fremder Währungen unterlag der Zustimmung durch das Finanzministerium. Jeder Bürger, der im Besitz von Fremdwährung war, musste diese der Tschechoslowa - kischen Bank zum Aufkauf anbieten.81 Nach 1963 verbesserten sich die Möglichkeiten der Reise in befreundete Staaten weiter. Nun konnte jeder Bürger ausreisen, sofern gegen ihn kein Strafverfahren lief und keine politischen oder andere Sicherheitsbedenken erhoben wurden. Die Reisepässe galten aber nur, wenn auch der Ausreise-Vermerk erteilt wurde:82

Wenn die Reise ins Ausland durchdacht vorbereitet ist, einem Studium der Geo- grafie, kulturhistorischer und politischer Literatur und den Werten ähnlicher Fä- cher verschrieben, bringt sie einen vielfältigen Ertrag und wird zu einer das ganze Leben betreffenden Erfahrung. Deshalb sollten besonders junge Leute, die nächste Generation im Leben und in der Heimat, viel reisen und erfahren. Die fort - dauernden politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse nach dem Zweiten Welt- krieg verhinderten dies lange. Eine ganze Generation unserer Jugend hatte des - wegen bis auf wenige Ausnahmen nicht die Möglichkeit, die näheren oder entfernteren Länder Europas kennenzulernen.

Jungen Leuten, organisiert im Tschechoslowakischen Jugendbund (ČSM), empfahl man natürlich den Besuch der umliegenden sozialistischen Länder: in erster Reihe die Sowjetunion, die Deutsche Demokratische Republik, Polen, Ungarn, Rumänien und Bulgarien.83 Die Reiseabteilung des ČSM bot 1963 drei Arten von Fahrten in die DDR an: Die erste führte in die Hauptstadt, die zweite nach Sachsen und Thüringen und die dritte an die Ostseeküste. Touristen, die mit dem Zug reisten, benutzten den Grenz- übergang Děčín/Bad Schandau und jene, die mit dem Bus fuhren, Hřensko/ Schmilka.

80 Vgl. ebd., S. 55. 81 Vgl. ebd., S. 60. 82 Dieser hatte die Form eines Visumsstempels und beinhaltete Angaben über die Gültigkeit (Destination und Dauer). Für diese Erlaubnis waren eine schriftliche Zustimmung des Arbeitsgebers, der Bezirksmilitärverwaltung (bei Männern), eine Bestätigung der Bank über den Verkauf einer bestimmten Summe an Valuta oder die Ein- ladung des Ausländers, der die mit Aufenthalt verbundenen Kosten auf sich nahm, nötig. Vgl. ebd., S. 67. 83 Vgl. Václav Kocourek (ed.): Šťastnou cestu... Průvodce zahraniční turistiky mládeže. Prag 1963, S. 3.

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In Sachsen und Thüringen hatten sie einen vereinbarten offiziellen Reiseführer, die Ziele der Reise waren Dresden, Mei- ßen, Leipzig, Halle a. d. Saale, Erfurt, Weimar, Eisenach, Friedrichroda und Oberhof.84 Mitte der sechziger Jahre galten für Rei- sende in die Länder des Rates für gegen- seitige Wirtschaftshilfe (RGW) verschie- dene Erleichterungen. Den Bürgern bzw. Reisenden in die befreundeten Staaten wurden noch keine Pässe ausgegeben, aber Beilagen zum Personalausweis, die sie befugten, die Staatsgrenze für eine bestimmte Zeit (in der Regel 30 Tage) zu überschreiten.85 Bei Reisen im Rahmen Besuch der ostdeutschen Delegation im Rum- des kleinen touristischen Grenzverkehrs burger Museum, Rumburk [Frühjahr 1958] mit der DDR wurde die Höhe der Devi- senzuteilung an Mark durch eine Tagesquote festgelegt, ebenso wie die maximale Zuteilung für den gesamten Aufenthalt. Dies ermöglichte, die Anzahl der Tage im Ausland zu übertreiben und einen ausreichenden Betrag an Geld zu bekommen.86

Sachsen – Aufmarschgebiet für ‚internationale Hilfe‘

Während Ende der sechziger Jahre in der Tschechoslowakei ein Versuch der Erneue- rung der bürgerlichen Gesellschaft stattfand, nahm die DDR nach 1965 einen harten Kurs gegenüber allen ein, die der rigiden Parteiideologie widersprachen. Zu den här- testen Gegnern des ‚Prager Frühlings‘ gehörte der ostdeutsche Parteiführer Walter Ulbricht. Die Situation in der Tschechoslowakei kritisierte er fortwährend, und er stand hinter der Vorbereitung einer umfangreichen Propagandakampagne, die die

84 Vgl. ebd., S. 64. 85 Der Reisende wurde verpflichtet, in der Bank den Reisepass, die Zollerklärung und die Devisengenehmigung vorzulegen. Erst dann wurde ihm eine bestimmte Summe an Ostmark verkauft; vgl. Rychlík, Cestování do ciziny (wie Anm. 21), S. 71. 86 Die nicht verbrauchten Valuta sollten laut Gesetz wieder an die Bank zurückverkauft werden. Man konnte dies aber nicht kontrollieren, sodass die Bürger die Valuta für ihre weiteren Reisen behielten. Die Währungsmittel waren im Rahmen der RGW nicht konvertierbar; vgl. ebd., S. 71.

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Prager Reformen in der ostdeutschen Bevölkerung diskreditieren sollte. Sein Versuch scheiterte aber größtenteils, weil viele Ostdeutsche selbst sehen konnten, was in der Tschechoslowakei vor sich ging.87 Die Spannung in den Beziehungen zwischen DDR und ČSSR zeigte sich 1968 in dem erhöhten Interesse der ostdeutschen Zöllner an Dingen, die aus der Tschecho- slowakei eingeführt wurden. Gepfändet wurde alles, was irgendwie mit dem ‚Tau- wetter‘ im Nachbarland zusammenhing. Es ging um Zeitungen, Bücher oder Ton- träger mit Aufnahmen von Rock-(Beat-)Gruppen. Die ostdeutschen Behörden woll ten so das Eindringen liberaler Gedanken in die DDR unterbinden.

Exkurs 3: The Matadors – Die Beatles aus Prag

Eine sehr unkonventionelle Form der kulturellen Zusammenarbeit zwischen Sachsen und Böhmen kam in der ersten Hälfte der sechziger Jahre zustande. Ähnlich wie in den vorhergehenden Dekaden der Jazz und später der Rock’n’Roll, beeinflusste in den 1960er und 1970er Jahren die Beatmusik das musikalische Gespür der Jugend.88 Die typische Zusammensetzung einer Beatgruppe bestand aus zwei elektrischen Gitarren, Bass und Schlagzeug. Musikalisch waren anfangs mehrstimmiger Gesang mit Gitarrenmelodien und kürzere Lieder charakteristisch. Inspirierte wurden die Beatmusiker vor allem von den Bands ‚Beatles‘, ‚Rolling Stones‘ oder ‚The Who‘. Die bekannteste und bis heute bestehende Gruppe in Böhmen war die Band ‚Olympic‘. In der DDR erlangten zum Beispiel die Beatgruppen ‚Sputniks‘ oder ‚Frankie Echo Quintett‘ Berühmtheit. Die Bewunderer der Beatmusik wollten niemals das totalitäre Regime stürzen, trotzdem nahmen die DDR und die Tschechoslowakei sie als un - erwünschte ideologische Diversion des Westens wahr. Es sollte erwähnt werden, dass das ostdeutsche Regime die Beatgruppen zuerst tolerierte. Die Wende kam 1965, als die Behörden der DDR exemplarisch die Gruppe ‚The Butlers‘ beseitigten. Deren Meinung nach verletzte sie ethische und ästhetische Prinzipien der Kunst und zahlte zudem angeblich keine Steuern. Es folgten Proteste der Jugend und die grimmige Re- aktion des Regimes, mit brutalem Einschreiten der Polizei gegen die Demonstranten. Es wurden sogar offizielle Direktiven herausgegeben, die die Beseitigung der Beat- musik auf dem Territorium der DDR einläuteten.89 Die ständige Bekämpfung der

87 Vgl. Tomáš Vilímek: Pražské jaro a jeho reflexe v NDR. In: Bezpečnostní aparát, propaganda a Pražské jaro. Sborník k mezinárodní konferenci pořádané v Praze ve dnech 7.–9. září 2008. Prag 2009. 88 In der Tschechoslowakei wurde schon in den 1960er Jahren für Rockmusik der Name big bit, der sogenannte big beat benutzt [Anm. des Verfassers]. 89 Vgl. Aleš Opekar: e Matadors. Beatová aristokracie z Prahy. Ústí nad Orlicí: Oftis 1997, S. 14.

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Beatmusik in der Tschechoslowakei begann nicht ganz ein Jahr später, nachdem das Land durch die sowjetischen Truppen besetzt worden war. Zuerst wurden Rockclubs geschlossen und auch einzelne Bands schikaniert und aufgelöst. Der Gipfel des Feldzuges gegen die „westliche Musik“ war der politische Prozess gegen die Band ‚The Plastic People of the Universe‘ 1976. Wilfried Jelinek wurde 1939 in Liberec geboren, und seine Familie wurde nach dem Krieg nach Zittau ausgesiedelt. Nach Böhmen kehrte er 1959 aber als Student der Medizin zurück. Zu dieser Zeit begannen in Prag die ersten Rock’n’Roll-Bands zu spielen und Jelinek war mit seinen deutschen und tschechischen Kollegen bei der Gründung der Band ‚Pra-Be‘ dabei. Ihr Name verwies auf Berlin und Prag – also die Hauptstädte der Staaten, aus denen ihre Mitglieder kamen.90 Im Unterschied zu vie- len anderen damals beginnenden Bands hatte ‚Pra-Be‘ dank der Managerkünste Wil- fried Jelineks ausgezeichnete Bedingungen für ihr Wirken. Ihr Förderer war nämlich das Kultur- und Informationszentrum der DDR in Prag, das der Band einen Probe- raum zur Verfügung stellte und sie auf kulturelle Veranstaltungen in Ostdeutschland zu schickte. Vorteilhaft war das für beide Seiten – die Band ‚Pra-Be‘ hatte die Mög- lichkeit zu spielen, und die Angestellten des Zentrums konnten kulturelle Aktivitäten nachweisen. Die erste zweimonatige Tournee in der DDR absolvierten sie 1964. Sil- vester 1965 spielten sie beispielsweise auf einem Silvesterball in Seifhennersdorf. Ob- schon die Beatmusik in der DDR seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre verboten war, gelang es Bands aus den befreundeten sozialistischen Staaten hier zu spielen. Und dank der allgemeinen Gier nach dieser Art von Musik hatten die Musiker einen umso größeren Erfolg beim Publikum.91 Im Frühjahr 1965 gelang Wilfried Jelinek für die Gruppe, die sich inzwischen in ‚Fontana‘ umbenannt hatte, ein herausragender Schachzug. Auf der Leipziger Messe handelte er mit den Firmen ‚Demusa‘ und ‚Paiste‘ den Test ihrer Produkte aus. Die Band bekam von ‚Demusa‘ den für die damalige Zeit herausragenden Tonapparat ‚Regent‘, elektrische ‚Musima‘-Gitarren, elektro - nische ‚Matador‘-Orgeln und dazu noch Becken von ‚Paiste‘. Ihre Aufgabe war nun, die Ausrüstung zu testen und zu propagieren. Ihr Tonmeister sollte den Betrieb der Apparaturen überwachen und deren Verschleiß notieren. Die Bezeichnung der elek- tronischen Orgeln ‚Matador‘ gab der Band auch ihren definitiven Namen. Von dieser Zeit bis zu ihrem Ende trat die Band unter dem stylischen Namen ‚THE MATA- DORS‘ auf. Der Musikhistoriker Aleš Opekar beschreibt in seinem Buch über die ‚Matadors‘ den Hintergrund der Zusammenarbeit mit der ostdeutschen Seite:92

90 Vgl. ebd., S. 6. 91 Vgl. ebd., S. 14. 92 Vgl. ebd., S. 21.

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Demusa verabredete für die Band die erste Tournee in der DDR und die Matadors begannen hart zu proben. Ihre Reifung und die Entwicklung ihres Spielkönnens spielten sich ausnahmsweise vor ostdeutschem Publikum ab. Am häufigsten spiel- ten sie im Bezirk Zittau. Wilfried Jelinek war hier zuhause und hatte hier die meis- ten Kontakte. Und es war von Prag nur einen Steinwurf entfernt. Bis April 1966 hatte in Böhmen niemand die Matadors je gehört!

Die ‚Matadors‘ sangen damals englisch und unterlagen dem Einfluss von Rhythm, Blues und Soul. Das Rückgrat ihres Repertoires bildeten Lieder der Bands ‚Yardbirds‘, ‚Pretty Things‘, ‚The Who‘, ‚Rolling Stones‘ oder ‚The Kinks‘. Auch heute wirkt die Tatsache, dass eine Beatband aus der Tschechoslowakei in der Zeit des harten Durch- greifens gegenüber der heimischen Beatmusik eine Tournee durch die DDR mit Wissen der Behörden absolvierte, einigermaßen komisch. Über ‚The Matadors‘ erschien in der DDR sogar ein Artikel mit dem Titel Beatles aus Prag. Begleitet wurde er durch ein ge- wagtes Bild der Band auf einer Hafenmole in Begleitung zweier tanzender ostdeutscher Models im Bikini. Demgegenüber erschien in einer anderen Zeitschrift eine Fotografie mit der Unterschrift, wie junge Leute nicht aussehen sollten. Auf diesem Foto war die Sechserreihe der Musiker von hinten abgebildet. Neben den Apparaturen organisierte die Firma Demusa den ‚Matadors‘ auch ausgefallene Kostüme. Die Fans in der DDR überraschten sie mit einer wilden Show, inspiriert durch die Gruppe ‚Manfred Mann‘, während der Gitarrist und der Sänger wild in die Luft sprangen. Nach ununterbroche- nen Auftritten in der DDR stellte sich die Band im April 1966 erstmals dem tsche- chischen Publikum vor und bewirkte eine Sensation: „Und als wir damit in Prag auf- traten, setzten sich alle zu einem gewissen Grad glatt auf den Hintern, weil wir die erste Band mit Profiausrüstung waren. Gegenüber dem Westen war das aber natürlich ein Graus.“ Natürlich war keineswegs allein die Apparatur der Grund für den Erfolg der Band: „Wir haben in Prag das geliefert, was wir in der DDR einstudiert hatten.“93 Jelinek organisierte der Band über die Firma Demusa sogar die Entsendung auf das Musikfestival ‚Golden Micro‘ im belgischen Gent. Die ostdeutschen Behörden ließen in der Verfolgung der Beatbands nicht nach, im Gegenteil. Und die musikalische Darbietung der ‚Matadors‘ wurde währenddessen immer rauer. Die Tournee durch die DDR 1967 wurde deshalb auch zur letzten. Der Gitarrist Radim Hladík erinnerte sich an sie viele Jahre später so:94

93 Gespräch mit Jan Obermayer. Bigbít (1956–1989), Teil 8. In: http://www.ceskatelevize.cz/specialy/bigbit/ kapely/3664-matadors-the, Zugriff am 15.7.2012. 94 Ebd.; Erinnerungen von Radim Hladík aus dem Jahre 2006. Die Schwierigkeiten an der Grenze hatte z.B. auch der Sänger Miky Volek. 1969 wurde er im Zug an der ostdeutschen Grenze zusammen mit dem Fotografen L. Valenta verhaftet. Vgl. auch Opekar, e Matadors (wie Anm. 84), S. 74.

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In der DDR war das schrecklich […]. Wir hatten nicht einmal besonders lange Haare, aber für die DDR war das zu viel. Regelmäßig schmissen sie uns in Dresden aus dem Zug, wir warteten dann etwa vier oder fünf Stunden. Sie überprüften alle Magnetbänder, notierten sich alle Adressen, das war abscheulich. Und dann die Kisten bewegen! Es gab keine Roadies, kein Auto, wir reisten mit dem Zug. Die Kisten im Gang gelagert […]. Und dann das! Das war schrecklich, die DDR. Das haben wir darauf nie wieder erlebt, nicht einmal in Russland.

Dem tschechischen Publikum vermittelten ‚The Matadors‘ die zeitgenössischsten Welt- produktionen des Beat. Übernommene fremde Stücke ersetzten sie im Fortgang der Zeit durch ihre eigenen Produktionen. Ihr Hauptkonkurrent in Böhmen war die Band ‚Olympic‘. ‚The Matadors‘ nutzen die ostdeutsche Anlage bis 1968. Mit Auftritten in der Schweiz um die Jahreswende 1967/1968 verdienten sich die Bandmitglieder dann die erträumten Instrumente und Apparaturen westlicher Provenienz. Die Bandmitglieder der ‚Matadors‘ waren legendäre Gestalten des tschechischen Rock, so zum Beispiel die Sänger Karel Kahovec, Viktor Sodoma, Vladimír Mišík, der Schlag- zeuger Tony Black oder der geniale Gitarrist Radim Hladík. ‚The Matadors‘ werden bis heute zu Recht als beste tschechoslowakische Band der 1960er angesehen.95 Nach Erkenntnissen der amtlichen Stellen sympathisierte vor allem die Jugend mit den Veränderungen in der Tschechoslowakei; auf das harte Vorgehen der eigenen Zöllner reagierte sie pikiert. Die ostdeutschen Grenzwachen machte es auch nervös, dass die benachbarte Seite bei der Bewachung der gemeinsamen Grenze nachließ. In Hinblick auf das Geschehen in der Tschechoslowakei wurde den leitenden Funk- tionären in der DDR die Anweisung zur beschleunigten Ernte im Bezirk Dresden gegeben.96 Am 21. August 1968 überschritt die sowjetische Armee über die sächsisch- böhmische Grenze. Der Demokratisierungsprozess bekannt als Prager Frühling en- dete, und die Okkupationsarmee blieb bis 1991 in der Tschechoslowakei.

Exkurs 4: Die Rundfunkstation ‚Vltava‘ und das Peridikum ‚Zprávy‘

Dresden wurde für einen großen Teil der Tschechen und Slowaken zum Sitz der ver- hassten Okkupationsmedien – der Rundfunkstation ‚Vlatava‘ und der Wochenzeitung mit dem Namen ‚Zprávy‘. Auf Initiative Walter Ulbrichts wurde noch vor der Inva-

95 e Matadors. In: Bigbít – Internetová encyklopedie rocku. Ke stažení na: http://www.ceskatelevize.cz/ specialy/ bigbit/kapely/3664-matadors-the, Zugriff am 10.10.2012. 96 Vgl. Manfred Püschner: Dresden als Vorposten gegen den „Prager Frühling“ 1968. In: Böhmen und Sachsen. Momente einer Nachbarschaft. Dresdener Hefte 48 (1996), S. 82–89.

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sion mit der Vorbereitung des propagandistischen Einwirkens auf die Einwohner der Tschechoslowakei begonnen. Der Radiosender ‚Vltava‘ wurde gegründet, um Pro - paganda gegen die neuen Tendenzen in Prag zu machen;97 als Verstärker diente der Mittelwellensender ‚Wilsdruff‘ bei Dresden-Wilsdruff. Außerdem wurde eine Sen- destation der sowjetischen Armee, die unweit von Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) eingerichtet war, genutzt. Die Redaktion bildeten beinahe einhundert Angestellte – größtenteils Bürger der DDR. Unter ihnen waren auch ehemalige Bürger der Tsche- choslowakei, die nach dem Zweiten Weltkrieg ausgesiedelt worden waren. Ein Teil der Redaktion hatte seinen Sitz in Ostberlin, ein zweiter in Dresden, wo ihre Mit - arbeiter frischen Nachschub an Druckerzeugnissen aus der Tschechoslowakei hatten. Das Mitglied des Politbüros, verantwortlich für die Kontrolle der Medien, Albert Norden, informierte Ulbricht am 19. Juli 1968, dass spätestens in einer Woche der Sender ‚Wilsdruff‘ unweit Dresdens in der Lage sein werde, zwei halbstündige Sendungen (morgens und abends) für Hörer in der Tschechoslowakei zu senden. Ab 22. Juli wurde bereits zweimal täglich in tschechischer Sprache gesendet, später auch auf slowakisch. Die Tests bestätigten ein gutes Signal im Zentrum Prags und in Mäh- ren. Damit war die vorbereitende Phase beendet. Am Morgen des 21. August, kurz nach Beginn der Invasion, konnten die überraschten Hörer in der Tschechoslowakei der Sendung der ‚Patrioten‘ folgen, die den Einsatz der ‚verbrüderten Armeen‘ gegen die Konterrevolution heraufbeschworen. Überrascht waren sicher auch die sächsischen Hörer des Ersten Rundfunks der DDR, dessen Fre- quenz vorläufig dem propagandistischen Sender zufiel. ‚Vltava‘ selbst bezeichnete sich als „sozialistische Stimme der Wahrheit“ und griff in ihrer Übertragung den offiziellen Rundfunk, die Presse und die Spitzenpolitiker des Prager Frühlings an. In ihrer Version waren die sowjetischen Soldaten heldenhafte Befreier, denen die Bewohner der Tschechoslowakei spontan für den Schutz vor der Konterrevolution dankten. Attackiert wurden tschechoslowakische Medien und Po- litiker; die Errungenschaften der DDR wurden gelobt; von entdeckten faschistischen Sendern, Waffen und sogar einem Hitlerbild im Zentrum Prags berichtete man. In anderen Sendungen wiederum verkündete ‚Vltava‘, dass in Westdeutschland ausge- bildete Faschisten in die ČSSR kamen und dort Kommunisten gefangen nahmen. – Nach außen hin sollte der Eindruck erweckt werden, dass es sich bei all dem um eine Sendung vom Gebiet des besetzten Staates handelte. Die Hörer auf dem Gebiet der ČSSR lüfteten aber leicht das Geheimnis um die fremde Regie der Sendung; die man- gelnden Tschechisch-Kenntnisse der Sprecher sorgten dafür, dass der Sender kein son-

97 Vgl. Manfred Püschner: Kalter Krieg im Radio. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.2.2009. – Ich danke Walter Schmitz für einige Hinweise in diesem ‚Exkurs‘.

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derlicher Erfolg war.98 Störer ohne Hörer hat man ihn genannt.99 Die Tätigkeit der Propagandastation ‚Vltava‘ traf nicht auf die ihr zugedachte Resonanz, sie wurde viel- mehr zur Zielscheibe von Gespött und Hohn. Alexander Dubček bat im Januar 1969 Walter Ulbricht um die Beendigung des Betriebs der Station und einen Monat später sogar der Fürsprecher des prosowjetischen Kurses Vasil Biľak. Der Betrieb der Station wurde im Februar 1969 beendet, und seine Angestellten unmittelbar darauf mit hohen Orden der DDR ausgezeichnet.100 In Dresden erschien am 30. August 1968 ein Periodikum, das für Tschechen und Slo- waken bestimmt war, und Zprávy genannt wurde. Dies war nicht das erste Mal, dass in Dresden eine Zeitung zur propagandistischen Einwirkung auf die Bewohner Böh- mens herauskam.101 Ähnlich wie die Rundfunkstation ‚Vltava‘ war auch die Zprávy das Sprachrohr der Gegner des ‚Prager Frühlings‘. „Der Chefredakteur der Zpravy und des Senders ‚Vltava‘ standen in ständiger Verbindung.“102 Aus der Moskauer Zeitung Pravda übernommene Informationen wurden hier durch Mitteilungen zur Situation in der Tschechoslowakei ergänzt. Die Redaktion sollte ihren Sitz in einem der sowjetischen Militärobjekte in Dresden haben. Die Auflage der Zeitung betrug mehr als 350.000 Stück, für den Druck garantierte die ostdeutsche SED. In der Tschechoslowakei verbreiteten sie sowjetische Soldaten. Unter den dortigen Lesern, die bereits an unzensierten Journalismus gewöhnt waren, sorgte die streng konser - vative kommunistische Zprávy für Spott. Die Herausgabe dieses Blattes endete am 11. Mai 1969.103

98 Vgl. Manfred Wilke: Die SED und der Prager Frühling 1968. In: Die Politische Meinung, Nr. 465 (August 2008), S. 45–51. Tschechoslowakische Fachleute und Rundfunkamateure lokalisierten zudem die Lage des Sen- ders bei Dresden. 99 Vgl. Claus Röck: Invasion durch den Äther. Die Rundfunkpropaganda der DDR gegen die politische Reform- bewegung in der ČSSR von 1968 ("Prager Frühling"). Struktur, Funktion und Resonanz des Geheimsenders Radio Vltava. Dissertation. Philosophische Fakultät Universität Leipzig 2004; ders.: Störer ohne Hörer: der Geheimsender "Radio Moldau". In: Sachsen und der "Prager Frühling". Hg. v. Konstantin Hermann. Beucha: Sax-Verlag 2008, S. 127–138. 100 Vgl. Püschner, Dresden als Vorposten (wie Anm. 91), S. 82–89. Dazu auch die Sendung des Autors David Hertl, Jak šuměla Vltava. Onlineressource: http://www.rozhlas.cz/historie/1968/_zprava/socialisticky-hlas-pravdy-siril- bludy--773265 (veröffentlicht am 20.8.2010, Zugriff am 13.6.2012). 101 Vgl. Werner Röhr: Böhmisch-Sächsischer Herbst 1938. In: Böhmen und Sachsen. Momente einer Nachbarschaft. Dresdener Hefte 48 (1996), S. 71. In diesem Zusammenhang darf man nicht die Zeit der Münchner Krise vergessen, als in Dresden die Tageszeitung Die Zeit von der Henleinpartei herausgegeben wurde. Die Prager Redaktion hatte nämlich die Herausgabe aus Protest gegen das Vorgehen der tschechoslowakischen Behörden gegen die Sudeten- deutsche Partei ostentativ stillgelegt. Nach Auflösung der SdP-Zentrale in Prag wurde sie bis September 1938 von reichsdeutschem Territorium aus und im Stil der nationalsozialistischen Propaganda herausgegeben. Vgl. die Aus- gaben der Tageszeitung im Herbst 1938, die in Dresden herausgegeben wurden [Anm. des Verfassers]. 102 Vgl. Konstantin Hermann: Verbrannt wegen einer Zeitung – die Dresdner Zeitung ‚Zprávy‘ gegen den Prager Frühling. In: Sachsen und der Prager Frühling (wie Anm. 98), S. 139–149, hier S. 140. 103 Vgl. Püschner, Vorposten gegen den „Prager Frühling“ (wie Anm. 91), S. 82–89.

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In der Bevölkerung Sachsens und Böhmens wird bis heute tradiert, dass sich an der Okkupation der Tschechoslowakei auch massenhaft ostdeutsche Armeeeinheiten (NVA) und Polizeieinheiten beteiligt hätten.104 Doch wahrscheinlich überschrit- ten die Grenze letztlich nur ostdeutsche Korrespondenten und Beobachter. Die An wesenheit deutscher Streitkräfte auf fremdstaatlichem Territorium hätte für Moskau Schwierigkeiten in der Propaganda bedeutet. Mit der Proklamation der Freundschaft und brüderlichen Zusammenarbeit zwischen der DDR und den an- deren sozialistischen Staaten verschwanden nicht die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und die deutsche Besatzung. Gegen die Anwesenheit der Deutschen sprach sich auch der sowjetische Führer Leonid Breschnew aus, während Walter Ulbricht die Teilnahme der NVA an der Besetzung der Tschechoslowakei bis zuletzt betrieb.105

III. Exotik im Bereich des Möglichen – Einkaufstourismus (1968–1989)

Zum Einkaufen in die DDR

Nach der Besetzung verschärften sich die Grenzkontrollen an der Westgrenze der Tschechoslowakei erneut. Demgegenüber war das Reisen in die DDR (und die übri- gen sozialistischen Länder) zu dieser Zeit kein großes Problem. Dieser Tourismus wurde vom Staat begrüßt und sollte nach den Worten des Historikers Jan Rychlík „zur Entstehung des Bewusstseins als Zusammengehörigkeit zwischen den Bürgern der sozialistischen Staaten dienen“.106 Im Jahre 1972 wurden schließlich die Ausreise- vermerke abgeschafft und durch eine besondere Stempelmarke (die sogenannten Zu- satzmarke) ersetzt, die auf die erste Seite des Passes geklebt wurde. Nach 1980 wurden auch diese Zusatzmarken abgeschafft und zur Reise in die DDR (und die übrigen Staaten des RGW) genügte ein gültiger Reisepass. Bei jedem Grenzübertritt bezahlte man aber für das Einkleben einer Stempelmarke zur Zoll- und Devisenerklärung. Für Kurzaufenthalte in der DDR (bis zu zwei Tage) bezahlten die Reisenden 10 Kronen. Zur Anmeldung von aus- oder eingeführten Waren diente die bereits oben erwähnte

104 Vgl. Arnošt Herman: Obdivuhodný i tragický. In: Volali jsme bratrství. Hg. v. Miroslav Kindl. Ústí nad Labem: Dialog 1990, S. 86. Vgl. ebenso Jiří Dienstbier, Snění o Evropě. Prag: Lidové noviny 1990, S. 68. 105 Vgl. Püschner, Vorposten gegen den „Prager Frühling“ (wie Anm. 91), S. 82–89. Vgl. auch Tomáš Vilímek: Pražské jaro a jeho reflexe v NDR. In: Bezpečnostní aparát, propaganda a Pražské jaro. Sborník k mezinárodní konferenci pořádané v Praze ve dnech 7.–9. září 2008. Prag 2009. Vgl. auch den Beitrag von Walter Schmitz: 1968 in der DDR – Wahrnehmungsspuren in einem ‚ruhigen Land‘. In: Die Kunst des Überwinterns. Musik und Literatur um 1968. Hrsg. von Jörn Peter Hiekel. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2011, S. 23–68, hier S. 26. 106 Rychlík, Cestování do ciziny (wie Anm. 21), S. 84.

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Zoll- und Devisenerklärung. In dieses Dokument trug die Bank auch die Zuteilung an Mark ein, die Touristen legal ausführen durften. Bei der Rückkehr in die Tschecho - slowakei mussten die Reisenden die Zoll- und Devisenerklärung an der Grenze ab- geben, die dann archiviert wurde.107 Offiziell erlaubt war der Umtausch von Mark für 100 Kronen für einen Aufenthalts- tag, was damals ungefähr 33 Ostmark entsprach. Dank dieser Beschränkung entstand zwischen Deutschen und Tschechen eine Reihe solidarischer Freundschaften:108

Ich hatte ein Heft und dort war eingetragen, wieviel Mark ich bei jemandem auf der anderen Grenzseite hatte und wieviel er wiederum an Hand des Kurses um - gerechnet bei mir hatte […]. Wenn sie zum Urlaub ins Riesengebirge oder in den Böhmerwald fahren wollten, fingen wir das finanziell ab, damit sie ein wenig mehr Geld hatten, und sie gaben uns das Geld später zurück.

Freundschaft gab es auch unter den kleineren Gewerbetreibenden:109

Wir hatten dort [in Sachsen] einen Bekannten, der eine Sägerei hatte, einen be- kannten Fleischer, einen Drogeristen, und mit denen haben wir Geschäfte ge- macht. Der eine brauchte das, also haben wir es ihm gebracht. Tauschhandel […]. Ein Vorteil war, dass wir auch die Finanzen gesichert hatten. Wenn wir es brauch- ten, bekamen wir mehr, was dann durch deren Einkäufe hier kompensiert wurde. So ging das vonstatten.

In der DDR wurde in den 1960er und 1970er Jahren eine soziale und konsumfreund- liche Politik unterstützt. Diese half zwar auf raffinierte Weise das totalitäre System zu er - halten, dem Staat aber brachte sie gleichzeitig eine hohe Verschuldung ein. Billige und qualitativ relativ hochwertige ostdeutsche Verbrauchswaren und Lebensmittel zogen natürlich ausländische Besucher aus den anderen sozialistischen Staaten an.110 Zum Einkaufen in die DDR fuhren die Bürger der Tschechoslowakei mit Privatautos, Bussen oder Zügen. Ein besonderes Phänomen war die Sendung betriebseigener Busse. Der Textilbetrieb ‚Tosta Aš‘ beispielsweise schickte relativ häufig einen Bus für die Einkäufer. Man fuhr immer freitagnachmittags nach dem Mittagessen. Ziel der

107 Vgl. ebd., S. 88f. 108 Gespräch mit Walter Bouchner (geb. 1932), geführt am 8.8.2012 in Varnsdorf. Trankription [Archiv des Ver - fassers]. 109 Ebd. 110 Vgl. Christoph Boyer: Hospodářské vztahy mezi Československem a Sovětskou okupační zónou/NDR (1945– 1989). In: Československo a dva německé (wie Anm. 6), S. 135.

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Busse, die aus dem Ascher Ländchen über Vojtanov geschickt wurden, waren in der Regel Oelsnitz, Adorf, Plauen oder auch das etwas weiter entfernte Chemnitz. Die Reisenden freuten sich auf das ostdeutsche Grenzgebiet, da es für sie in Zeiten des begrenzten Reisens in den Westen den Zugang zu etwas Exotischem bedeutete. Viele der damaligen Einkaufstouristen sprachen deutsch, obwohl gute Kenntnisse des Deut- schen damals wirklich nicht gängig waren. Verpflichtende Fremdsprache in der Schule war nämlich seit Jahren nur russisch, und so kam es während der Einkäufe in Deutschland zu unterhaltsamen Situationen. Es unterhielten sich in der Regel aber nur örtliche Verkäufer. Ungeahnte Verwirrungen beim Fleischer erweckte beispiels- weise der Wunsch „Šunken [šunka = tschech. Schinken] - kein štyk!“ Die Angestellten eines Haushaltswarengeschäfts wiederum lachten, als ihnen ein tschechoslowakischer Tourist erklärte, er wolle eine Leiter kaufen und mit den Händen vorführte, wozu diese dienen solle „Einmal štáfl [štafle = tschech. Leiter] – hopky, hupky!“ Eine merk- würdige Nachfrage nach zwei Kleidungsstücken klang in einem vogtländischen Tex- tilgeschäft so: „Bitte, zweimál das im Bett!“ Die größte Freude aber verursachte der Wunsch: „Bitte, ein Vogelkriminal!“ Nach einer Weile wurde klar, dass der Tourist aus Böhmen einen Papageienkäfig kaufen wollte. Ein deutscher Verkäufer wusste sich keinen Rat bei der Ware, die ein tschechischer Kunde schleierhaft als ‚In Auto Finger‘ bezeichnete. Er wollte einen Verteilerläufer für sein Auto kaufen (auch Verteilerfinger genannt). Trotz der nicht perfekten Sprachkenntnisse galt, dass die Kunden die ge- forderten Waren in der Regel auch erhielten. Manchmal war die Unkenntnis, aber gleichzeitig die ehrliche Bemühung um Verständigung sogar von Vorteil. Eine „ko- misch deutschsprechende“ Tschechin bekam im Unterschied zu anderen regelmäßig auch Waren, bei denen es Engpässe gab. Die deutsche Bedienung wollte sich nämlich mit ihr „unterhalten“.111 Nach Überwindung der Sprachbarriere konnte mit den Einkäufen begonnen werden. Zu den beliebtesten aus Deutschland eingeführten Waren gehörten Textilien – nach- gemachte Jeans, Vorhänge, Bett- und Unterwäsche. Während man in der tschecho- slowakischen Bekleidungsindustrie of synthetische Materialien verwendete, nahmen die Ostdeutschen qualitativ hochwertige Baumwolle. Ende der siebziger Jahre kam es in der ČSSR zu einer erheblichen Verteuerung von Kinderkleidung und Ausstat-

111 Der Verfasser dieser Studie führte Gespräche mit ausgewählten Zeitzeugen sowohl aus dem sächsisch-tschechischen Grenzgebiet als auch aus dem Inland. Quelle für die Liste der meist importierten Waren aus der DDR in den 1970er und 1980er Jahren waren die Gespräche mit folgenden Tschechen, Deutschen und Slowaken. Alle Infor- manten waren tschechoslowakische Bürger und besuchten die DDR: Walter Bouchner (geb. 1933), Vojtěch Čelko (geb.1946), Hana Flemmrová (geb. 1943), Stanislav Flemmr (geb. 1942), Martin Franc (geb. 1973), Petr Joza (geb. 1969), Karel Klaus (geb.1969), Jaroslav Polák (geb.1947), Veronika Račanská (geb.1924), Petr Sedlák (geb.1975), Miloslav Šolc (geb. 1922), Leopold Tuček (geb. 1928), Věra Tučková (geb. 1932) und Václav Vytlačil (geb. 1959).

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tung. In das Interessensfeld der Einkaufstouristen rückten deshalb Kinderschuhe, Kinderwägen oder die Erstausstattung für Säuglinge. Unter den Kindern waren die Indianerspiele äußerst beliebt (der Kult um Karl May war unübersehbar), elektrische Spielzeugeisenbahnen, Kompasse, das Spiel ‚Kleiner Zauberer‘ und die sogenannten wissenschaftlichen Spiele wie ‚Der Kleine Chemiker‘. Zum Einkauf locken weiterhin Produkte der Schuh- und Lederwarenindustrie – zum Beispiel Halbschuhe, Skischuhe (Bindungen) oder Damenhandtaschen. Gärtner und Bastler kauften in großem Stil Samen, Setzlinge, Leitern, kleine Räucheröfen, Bohrer und Schraubendreher. Daneben konzentrierte sich das Interesse auch auf Produkte der Chemieindustrie – Kosmetik, Shampoo, Waschpulver und Fotobedarf. Autofahrer suchten Ersatzteile für den Trabant, Wartburg oder die in der ČSSR beliebten ostdeutschen Motorräder. Ein großes Lockmittel für Besucher aus der Tschechoslowakei waren vor allem Lebensmittel. Bis heute wird die Qualität der Fleischwaren gelobt. Populär war der Aufschnitt. Man kaufte Schinken, Presswurst und vor allem Mettwurst, daneben auch Rindfleisch, Gänse oder Innereien, die auf dem heimischen Markt fehlten. In der Weihnachtszeit brachte man Rosinen, Mandeln und Stollen in die Tschechoslowakei. Einige Touristen verschmähten auch nicht exotische Zutaten für Cocktails oder harten Alkohol (in der Regel ging es um Kräuterliköre, Kümmelbrandwein oder Korn). Das Einkaufen in der DDR war vor allem deshalb beliebt, weil das angebotene Sortiment in einigen Bereichen reicher, qualitativ hochwertiger und vor allem billiger war als in der ČSSR. In den 1980er Jahren begannen in der DDR zudem häufiger Waren aus dem Westen aufzutauchen. Alle Befragten sind sich darin einig, dass die Waren in der DDR besser waren, weil dort im Gegensatz zur Tschechoslowakei kleinere Land- wirte und Gewerbetreibende toleriert wurden.112 Mitte der 1980er Jahre war die Mei- nung verbreitet, dass die Sowjetunion (und der gesamte RGW) erhebliche Mittel dafür aufwandten, dass die übermäßige Rückständigkeit der DDR gegenüber der prosperierenden Bundesrepublik nicht zu sehen war. Im Rahmen des Ostblocks er- rang die DDR angeblich deutliche Vorteile, „die in Kombination mit den Methoden in Technik und Management, kleinem privaten Gewerbe, traditioneller preußischer Zucht und Sorgfalt bei der Arbeit halfen das Lebensniveau zu heben […].“113 Die Realität war aber selbstverständlich um einiges komplizierter.114 Billige Lebensmittel und Gebrauchswaren waren in der DDR (ähnlich wie in der Tschechoslowakei) vom Staat subventioniert. Die Preise waren damit oft niedriger als die Ausgaben für die Produktion. Es handelte sich um eine Wirtschaftstaktik, die

112 Ebd. 113 Dienstbier, Snění o Evropě (wie Anm. 104), S. 83. 114 Vgl. Boyer, Hospodářské vztahy mezi (wie Anm. 105), S. 119–141.

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die Bürger des eigenen Staates korrumpierte. Die Ausfuhr solcher Waren ins Nach- barland war unerwünscht, weil der Staat damit Verluste machte. Einkaufstouristen wurde oftmals deutlich gemacht, dass sie nicht willkommen waren, weil sie die Waren aufkauften, die eigentlich für die lokale Bevölkerung bestimmt waren. Infolge dessen wurden die Kontrollen an der Grenze verschärft, wodurch die Ausfuhr einiger Waren reduziert werden konnte. Eine begrenzte Ausfuhr oder ein verhältnismäßig hoher Zoll führten dazu, dass die Touristen die Waren illegal über die Grenze brachten – sie schmuggelten. Zur Irreleitung der Zöllner dienten verschiedene Verstecke in pri- vaten Autos, die Leute trugen gekaufte Kleidung in mehreren Schichten am Körper, neu gekauften Schuhen gab man Patina, während man die alten lieblos wegwarf. Diese Situation war einigen Bürgern der ČSSR peinlich, sodass sie daran nicht teil- nahmen und nicht regelmäßig in die DDR fuhren. Die Mehrheit der Einkaufstou- risten aber schmuggelte hauptsächlich kleine Waren, und so entstand eine ganze Reihe von Familiengeschichten zum Schmuggel, die man auch heute noch gerne erzählt.115

„Guten Tag, tschechoslowakische Zoll- und Passkontrolle”

Der Ertrag der Zoll- und Passkontrolle hing von den einzelnen Beamten ab. Zöllne- rinnen, die in den 1970er und 1980er Jahren im Zug zwischen Dresden und Děčín arbeiteten, erinnerten sich an einen Kollegen, der sozusagen ‚Punkte sammelte‘.116

Ich bin ungern mit ihm gefahren. Ich habe bei der Kontrolle oft geahnt, dass einige Leute etwa zu viel Geld ausführten. Ich habe daraus keine Affäre gemacht, aber er bedrängte den Betroffenen teilweise bis nach Dresden. Und wir mussten während- dessen den ganzen Zug abfertigen, er schrieb sich siegesfroh die Maßnahme auf.

Die Zahl der gelösten Fälle konnte nämlich für eine höhere Prämie sorgen oder die Aussichten auf einen Karrieresprung verbessern. Die Passagiere im Zug hatten gegen- über der Zoll- und Passkontrolle gemischte Gefühle und die tschechoslowakischen Zöllnerinnen waren sich dessen auch bewusst. „Sie hatten uns nicht gern, wir haben in ihren Sachen rumgewühlt.“ Auf deutscher Seite war unter den damaligen Touristen

115 Gespräche mit ausgewählten Augenzeugen: Walter Bouchner (geb. 1933), Vojtěch Čelko (geb. 1946), Hana Flemmrová (geb. 1943), Stanislav Flemmr (geb. 1942), Martin Franc (geb. 1973), Petr Joza (geb. 1969), Karel Klaus (geb. 1969), Jaroslav Polák (geb. 1947), Veronika Račanská (geb. 1924), Petr Sedlák (geb. 1975), Miloslav Šolc (geb. 1922), Leopold Tuček (geb. 1928), Věra Tučková (geb. 1932) und Václav Vytlačil (geb. 1959). 116 Gespräch mit damaligen Mitarbeiterinnen der Zollverwaltung Dana Loubková (geb. 1953) und Marcela Faltová (geb. 1954), geführt am 1.10.2012 in Děčín. Transkription [Archiv des Verfassers].

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die Zöllnerin Brigitte gefürchtet, der man die Spitznamen ‚Pferdegesicht‘ oder ‚die blonde Kuh‘ gab. Sie durchsuchte die Reisenden kompromisslos und in der Regel er- folgreich.117 An der Grenze war es üblich, dass sich Leute aus der DDR wertvollere Waren mit- brachten, diese aber absichtlich nicht in der Zollerklärung aufführten. Wurden sie von den Zollbeamten entdeckt, wurde an Ort und Stelle die Zollgebühr berechnet, die zu entrichten war. War der Reisende in der Lage zu zahlen, konnte er seine Schulden direkt begleichen. Im Fall, dass er nicht bezahlen wollte oder den gefor- derten Betrag nicht hatte, konnte es zum „Rauswurf aus dem Zug“ kommen. Dann fertigten die Zöllner ein Strafprotokoll aus, das dann am Wohnort des Betroffenen verhandelt wurde. Beschlagnahmte Waren wanderten daraufhin in ein Lager des Zolls. Manchmal gaben die Reisenden den Zöllnern kleine Geschenke. Es ging hauptsächlich um Schokolade oder spezielle Seifenstückchen. Der Zoll drückte dann im Gegenzug bei der Überführung von Waren über dem Limit ‚beide Augen‘ zu. Die illegale Überführung von Artikeln, die in der DDR fehlten, kontrollierte der deutsche Zoll. Gelang es jemandem, etwas derartiges (zum Beispiel Kinder- schuhe) über die Grenze zu bringen, verzollte die tschechoslowakische Seite diese Waren dann nur noch. Ausnahmsweise wurden auf Anweisung der Passkontrolle auch Leibesvisitationen durchgeführt. Der Passagier musste dazu aussteigen, durchsucht wurde er in dazu vorgesehenen Räumlichkeiten. Zwei Beamte des entsprechenden Geschlechts mussten zugegen sein, und es war notwendigerweise ein Protokoll zu verfassen:118

Es war mir einigermaßen unangenehm jemanden zu entkleiden, aber meistens fand man dann auch etwas. Zum Beispiel hatten Frauen in ihren Büstenhaltern Mark versteckt. Ich weiß nicht, wie die Zöllner das errieten, aber auf ihre Veran- lassung hin machten wir den Fund. Die Frau, die das Geld versteckt hatte, haben wir aber freigelassen.

Die Bürger der DDR nahmen aus der Tschechoslowakei vor allem Gebäck, Wurst- waren, Butter oder bestimmte Südfrüchte mit. Im Gebiet Děčín erinnert man sich bis heute an den Personenzug, den man ‚Banane‘ nannte. Er fuhr gewöhnlich vormittags aus Dresden nach Děčín und nachmittags zurück. Die Ostdeutschen

117 Ebd. Weiterhin das Gespräch mit Vojtěch Čelko (geb. 1946), geführt am 16.9.2012 in Prag. Transkription [Archiv des Verfassers]. 118 Gespräch mit damaligen Mitarbeiterinnen der Zollverwaltung Dana Loubková (geb. 1953) und Marcela Faltová (geb. 1954) geführt am 1.10.2012 in Děčín. Transkription [Archiv des Verfassers].

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nutzen in der Tschechoslowakei auch mit Vorliebe bestimmte Dienstleistungen (Fri- seur, Erholung) oder sie fuhren zum Essen in die ČSSR. Die tschechoslowakischen Waren aber waren für sie nicht so anziehend und ihr Interesse an ihnen ließ sich keineswegs mit dem Interesse der Bürger der ČSSR an Waren aus der DDR ver - gleichen.

Einige Fälle von Schmuggel und illegalen Grenzübertritten

An der Wende von den 1970er zu den 1980er Jahren vermehrte sich an der Grenze der Schmuggel von digitalen Armbanduhren. Die häufigsten Schmuggler dieses Artikels waren Bürger der Volksrepublik Polen. Sie reisten gewöhnlich aus Österreich (oder Ungarn) über die ČSSR und DDR nach Polen. Auf tschechoslowakischem Staatsgebiet meldeten sie dann die Armbanduhren bei der Zollkontrolle nicht an und wurden an der Grenze zwischen ČSSR und DDR oft erwischt. Und weil sie die Vor- schriften zur Warenzirkulation mit dem Ausland verletzten, wurde ein Strafverfahren eröffnet. Die polnischen Schwarzhändler verteidigten sich in einem Fall damit, dass sie die Uhren nur transportierten und vergessen hatten, sie beim Zoll anzumelden, weil sie kein Tschechisch konnten. Die gewöhnliche Strafe waren acht Monate Ge- fängnis und die Beschlagnahmung der geschmuggelten Waren. Eine derartige Strafe bekam beispielsweise ein polnischer Schmuggler, der im Dezember 1980 eintausend Uhren mit sich führte (mit einem veranschlagten Wert von 30.000 Kronen).119 Ein Beispiel für die ‚Gefährdung der Devisenwirtschaft‘ war beispielsweise die uner- laubte Mitnahme von Westmark: Einem Busfahrer aus Jablonec nad Nisou brachte seine Tante 1.400 D-Mark aus Kanada mit. Den Gesetzen zum Devisenhandel zufolge hatte der Beschenkte diese Summe der Staatsbank der Tschechoslowakei zum Aufkauf anzubieten. Das tat er aber nicht, er fuhr nach Zittau und kaufte sich im Intershop (hier konnte der Kunde in DM zahlen) von den geschenkten Devisen einen Farb- fernseher der Marke ‚SHARP‘. Für den Grenzübertritt trug er ihn nicht in die Zoll- erklärung ein. Er versteckte ihn unter einer Decke im Kofferraum, damit er nicht zu sehen war. Die Zöllner der DDR ließen sich aber den Kofferraum öffnen und ent- deckten den mitgenommenen Fernseher. Sein frischgebackener Besitzer versuchte sich eine Weile noch herauszuwinden, er habe ihn selbst aus der Tschechoslowakei mitgebracht und nur nicht in der Zollerklärung aufgeführt, aber ohne Erfolg. Der Fernseher wurde aus dem Auto in die Zollstation gebracht. Es vor den tschecho -

119 Vgl. SOkA Děčín, Okresní soud Děčín (nezpracovaný fond), spis 2T 684/1980, 5T 274/1980, 2T 273/1980 a 2T 407/1980.

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slowakischen Zöllnern abzustreiten hatte bereits keinen Sinn mehr und der Fall wurde an ein Gericht weitergegeben. Auf der Gerichtsverhandlung verteidigte er sich wenig überzeugend damit, dass er nichts davon gewusst hätte, dass man geschenkte Valuta dem Staat anbieten musste. Dass man Valuta nicht mit über die Grenze nehmen durfte, wusste er aber wiederum. Der Fernseher wurde erst beschlagnahmt, nach Aus- zahlung des Zollbetrags aber wieder an ihn ausgehändigt. Gemäß einer Stellung- nahme des Finanzministeriums verursachte er mit der unerlaubten Ausfuhr von Valuta „bei der tschechoslowakischen Devisenwirtschaft einen Schaden in Höhe von 4.046 Kčs“. Bestraft wurde er mit einem zehnprozentigen Lohnabzug zum Wohle des Staates für die Zeit von sechs Monaten.120 Verhältnismäßig hohe Strafen für die Verletzung der Vorschriften zum Warenverkehr mit dem Ausland bekamen Autoschmuggler. In der DDR waren die Autos der sowje - tischen Marke Lada sehr gefragt. Ein Arbeiter aus dem slowakischen Galanta über- führte im Februar 1983 über Hora Sv. Šebestiána einen PKW Lada 1600 in die DDR. Zur Erklärung gab er anfangs rätselhaft an, dass er ihn dort „einem nicht näher bestimmbaren tschechoslowakischen Staatsbürger mit Roma-Herkunft überlassen habe“. Später änderte er diese Aussage und behauptete, er habe das Auto zur Reparatur in einer ostdeutschen Werkstatt gelassen. In die Tschechoslowakei sei er dann aber mit dem internationalen Schnellzug über Děčín zurückgekehrt – ohne Auto also. Die Zollerklärung legte er an der Grenze nicht vor, weil er sich angeblich dachte, er könne die Überführung des Autos geheim halten und müsste so nicht die Zollgebühren be- zahlen. – Nicht ganz einen Monat später reiste ein Ehepaar aus dem slowakischen Liptovský Mikuláš mit einem Lada 1600 (mit einem geschätzten Wert von über 41.000 Kronen) in die DDR. In Leipzig überließen sie das Auto aber dem Schwager und fuhren mit dem Zug über Děčín zurück. Bei der Zollkontrolle gaben sie an, dass sie die Zollerklärung, in die das Automobil eingetragen war, verloren hatten. Die Zollgebühr, um die sie den Staat brachten, betrug beinahe 13.000 Kronen. Beide Fälle stimmen darin überein, dass die ‚Autoschmuggler‘ Verwandte in der DDR hatten – diese waren auch in beiden Fällen Mitorganisatoren der illegalen Autoüberführung. Der erste Schmuggler bekam zehn Monate und das Ehepaar jeweils acht Monate Ge- fängnis.121 Und wie wurde schließlich die unerlaubte Mitnahme von Fotoapparaten und ihrem Zubehör bestraft? Für die illegale Überführung eines Apparats von ‚Practica‘, einigen Objektiven der Marken ‚Pentacon‘ und ‚Sonnar‘ (mit einem Wert von über 18.000 Kronen) folgte eine sogenannte Besserungsmaßnahme. Dies bedeutete, dass dem

120 Vgl. SOkA Děčín, Okresní soud Děčín (nezpracovaný fond), spis 3T 80/1988. 121 Vgl. SOkA Děčín, Okresní soud Děčín (nezpracovaný fond), spis 3T 1378/1983 a 5T 758/1983.

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Schmuggler der Lohn um 20 Prozent gesenkt und die geschmuggelten Waren selbst- verständlich beschlagnahmt wurden.122 In den 1970er und 1980er Jahren verschwanden beinahe die Fälle von Flüchtlingen, die über die sächsische-böhmische Grenze versuchten, in den Westen zu kommen. Jetzt ging es in der Regel nur noch darum, sich der Zoll- und Passkontrolle zu ent- ziehen, in Einzelfällen auch darum, sich den Weg zum offiziellen Grenzübergang zu sparen. Dies illustriert sehr eindrücklich die Geschichte einer Rentnerin, die sich zu Beginn der 1980er Jahre dem Schmuggel zwischen Jiříkov und Neugersdorf widmete. Zuerst benutzte sie den einige Kilometer entfernten Grenzübergang bei Varnsdorf. Bis dorthin zu fahren, kam ihr mit der Zeit aber unnötig weit vor:123

Da habe ich gemerkt, dass ich die Grenze auch illegal überschreiten könnte und zwar gleich in Jiříkov II., und ich müsste so nicht erst bis zum Grenzübergang gehen. Dies war 1980 im Monat Juli, als ich die Staatsgrenze beim Grenzstein Nummer 9 überschritt, wo es ein Tor gab. Gleich hinter der Grenze in der DDR liegen eine Straße und die Gemeinde Neugersdorf. […] Ich war überrascht, wie einfach das ging, und so entschied ich mich, dass ich so immer über die Grenze gehen würde, damit ich nicht erst über zum Übergang bei Varnsdorf fahren musste.

In der DDR lernte sie eine ortsansässige Friseuse kennen, der sie begann ‚rohlíky‘ (Hörnchen), Brot, Bier und Rum zu bringen. Im Gegenzug bekam sie Mark, die sie zum Einkauf von Lebensmitteln, Geschenken für die Enkel oder andere Kleinigkeiten nutzte, die sie dann wieder über die Grenze brachte. So ging das etwa zehnmal, bis sie die DDR-Grenzpolizei anhielt und auf die böhmische Seite überstellte. Bei der Untersuchung bereute sie förmlich ihre Tat und gab folgendes zu Protokoll: „Mein Verhalten bedauere ich, und dies wird sich nie mehr wiederholen, das ist für mich eine Lehre, in die DDR kann ich legal über einen Grenzübergang gehen.“ Sie wurde mit einer Bewährungsstrafe belegt, weil sie Reue für die begangene Tat zeigte, und weil es den Behörden nicht gelang, den Waren, die sie ohne Erlaubnis mit sich ge- führte hatte, einen reellen Wert nachzuweisen. Das Phänomen der Prostitution von Frauen an der sächsisch-böhmischen Grenze ist keine Angelegenheit, die nur für die Zeit nach 1990 typisch war. Der tschechoslowa- kische Staat bestrafte in der totalitären Epoche die Ausübung dieses Gewerbes – des

122 Vgl. SOkA Děčín, Okresní soud Děčín (nezpracovaný fond), spis 3T 1027/81. 123 Vgl. SOkA Děčín, Okresní soud Děčín (nezpracovaný fond), spis 3T 1230/1981. Alle weiteren Zitate beziehen sich auf diese Quellenangabe.

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sogenannten Schmarotzertums. Für dieses Vergehen konnte ein Bürger der ČSSR nur in dem Fall verurteilt werden, dass er nicht arbeitete und „dass er sich seinen Lebens- unterhalt durch eine unlautere Arbeit verdiente“. Probleme mit diesem Gesetz hatten gewöhnlich weniger anpassungsfähige Bevölkerungsschichten oder politisch Verfolgte. Sehr oft wurden als solche Schmarotzer auch Prostituierte verfolgt. Einen solchen Fall „eines unlauteren Weges zum Verdienen des Lebensunterhaltes“ untersuchte die ‚Sicherheit‘ in der Stadt Varnsdorf. Die beschuldigte junge Frau erklärte in diesem Fall ziemlich routiniert, wie so eine grenzüberschreitende Beziehung zwischen Mann und Frau funktionierte:124

1979 lernte ich vor Weihnachten im Restaurant Zelený strom irgendeinen Deutschen kennen. Ich weiß, dass er Bert heißt, mehr weiß ich nicht. Wir haben vereinbart, dass er regelmäßig zu mir fahren wird, dass wir uns amüsieren gehen werden. Er kam zu mir direkt in das Wohnheim des Betriebs, wo er im- mer mit mir den Abend verbrachte, höchstens bis 22 Uhr, und dann fuhr er nach Hause in die DDR. Er kam auf dem Motorrad, und dann sind wir zu - sammen etwa ins Restaurant nach Hrádek, Zelený strom oder Hraniční přechod gefahren. Ich weiß, dass Bert niemals Geld bei sich hatte, und wenn, dann nur 20 Kčs oder 10 Kčs, die er im Gasthaus für Essen ausgab, mir zahlte er also nichts.

Käufliche Frauen hielten sich auch damals bei den Grenzübergängen auf (zum Beispiel in Varnsdorf oder Cínovec), und ihre Kunden waren am häufigsten LKW-Fahrer aus Ungarn, Österreich, Jugoslawien oder der Bundesrepublik Deutschland. Die Frau, die der Prostitution beschuldigt wurde, wusste genau, dass sie die Annahme von Geld nicht zugeben durfte: „Es ist die Wahrheit, dass er mir Weihnachten 1979 zwei Armbanduhren mitbrachte […]. Weiter brachte er mir drei Paar Hosen, teilweise gebraucht.“ Prostitu- tion war zwar zur Zeit des Sozialismus nicht strafbar, aber die beschuldigte Frau konnte man gerade und nur deswegen verurteilen, weil sie keinen Beruf ausübte und das Geld für ihren Lebensunterhalt von Dritten erhielt. Raffiniert gab sie im Polizeiprotokoll nur den illegalen Grenzübertritt und die Annahme kleinerer Geschenke an:

Danach habe ich ihn in der DDR besucht, ich bin einfach so ohne Papiere beim Restaurant Hrádek über die Grenze gegangen. Bei diesem Besuch bekam ich von ihm Stoffe, etwa zwei laufende Meter. Auch brachte er mir Wein, Zigaretten und verschiedene Süßigkeiten […]. Das alles brachte er mir von selbst, ich hatte nichts mit ihm, er hat mich nicht einmal angefasst.

124 Vgl. SOkA Děčín, Okresní soud Děčín (nezpracovaný fond), trestní spisy, rok 1980. Die folgenden Zitate ebd.

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Zeugen bestätigten dann, dass sie regelmäßig illegal über die Grenze ging („zwischen Zollstation und Hrádek“) und neben der neuen Kleidung (drei ‚Rifle-Hosen‘) bekam sie auch einen ostdeutschen Kassettenrekorder, mit dem sie prahlte. Den Empfang von Geld von dem Mann aus Sachsen konnte man ihr aber nicht nachweisen, und das Gericht bestrafte die Frau letztlich für die Ausübung der Prostitution und den Empfang von Geld von tschechischen Männern.

Exkurs 5: Die Sicht eines jungen Mannes auf die gemeinsame Grenze und der letzte Schmuggler

Der Anhänger von unabhängiger Kultur und Undergroundmusik Josef ‚Bobeš‘ Rösler segelte mit seinem Vater Mitte der 1970er Jahre über die Nordsee. Die Reise in den Westen organisierte ihnen damals das Reisebüro Sporttourist, womit sie sich viele Formalitäten ersparten. Im Sommer 1978 begann Rössler wegen seiner Einstellungen ernsthafte Probleme mit der Polizei zu bekommen, und an die Möglichkeit, in den Westen zu fahren, hatte er schon fast aufhört zu glauben:125

Das Datum unserer Abreise näherte sich. Deshalb sind wir abermals als organi- sierte Gruppe auf eine Ausfahrt unter Organisation durch das Reisebüro Sport- tourist über die Grenze gefahren, es war nicht nötig, um eine Devisenzuteilung zu bitten, die ich natürlich niemals bekommen hätte. Unvorteilhaft war nur, dass wir eigentlich gar kein Geld hatten. Das Reisebüro berechnete uns für den Preis der Ausfahrt nur ein minimales Taschengeld in Dollar, was gerade für Ge- bühren in den Häfen und dergleichen langte. Es kam auf alles an, was man irgendwie schmuggeln konnte. Ich konnte ein paar Franken organisieren. Wenn man es so sieht, war so viel Geld nicht einmal nötig. Essen haben wir uns von zu Hause mitgenommen [...]. Es kam der Tag der Abreise. Das kann nicht gut gehen, sagte ich mir, als wir uns mit dem Auto der Staatsgrenze in Cínovec näherten. Es war gegen elf Uhr abends, der Verkehr war zu dieser Zeit minimal. Wir fuhren mit dem Auto, weil das Boot in Stralsund im örtlichen Jachtclub überwinterte […]. Das Auto war voller Gepäck und Material, das für die Segelfahrt notwendig war. Wir hielten vor der Schranke an und gaben den Aufpassern unsere Pässe. Einer ging mit diesen irgendwohin fort, und der zweite begutachtete uns argwöhnisch. Ich begann darüber nachzu-

125 Josef „Bobeš“ Rössler: Obraz doby aneb Chaotické vzpomínky na život v českém undergroundu 70. let. Prag: Pulchra 2009, S. 179ff.

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denken, wie ich zurück nach Prag kommen würde, wenn sie mich nicht gleich wegen versuchter Emigration einsperrten. Nach einer Weile kam ein Zöllner, oder was das war, und wies an, alles Gepäck auszuladen und nach drinnen zu schaffen. ‚Verdammt, die Sache ist gelaufen‘, dachte ich mir und machte mich an die Arbeit. Sie hatten dort so ein niedriges Pult, auf das wir alles auspacken mussten ein- schließlich des Inhaltes unserer Hosentaschen. Eine Weile kramten sie darin herum und währenddessen horchten sie uns aus, wohin wir fuhren, was wir dann dort machen würden, wen wir dort treffen werden und was wir bekommen würden, wo wir arbeiteten, und weiß ich was noch alles. Bis heute habe ich bei Grenzüber- tritten irgendwo auf der Welt immer dieses gleiche Gefühl, als würde ich warten, dass sie mich auf einmal aus dem Nichts heraus an die Wand stellen würden und – und dann [...]. Darauf brachte der Aufpasser unsere Pässe und klopfte sich mit ihnen auf die linke Handfläche. Er schaute mich forschend an, vielleicht war mir anzusehen, wie mir die Knie zitterten. Nach einer Weile, die mir unendlich lang vorkam, legte er die Pässe auf den Tisch und sagte: ‚Dann packen Sie alles wieder ein, sie können wei- terfahren.‘ Ich weiß nicht, was sie danach auf der Zollstelle mit dem Felsbrocken machten, der mir vom Herzen fiel. Vielleicht hat ihn dort jemand ausgestellt. Die Kontrolle auf DDR-Seite haben wir dann ohne Schwierigkeiten hinter uns ge- bracht und ein paar Kilometer weiter hielten wir im Wald auf einem Parkplatz an und legten uns schlafen. Noch vor dem ersten Hahnenschrei weckte uns der Lärm einiger Tschechen, die hier zum Zwecke des Urinierens angehalten hatten. Auch wir taten dies und mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 60 Kilometern pro Stunde, schneller fuhr unser Minibus nicht, fuhren wir nach Berlin, wo wir nach unserem Plan die noch fehlenden Konserven besorgen wollten. Das dachte sich Tomáš Tamassy aus, eines der Mitglieder unserer Gruppe. Er hatte bemerkt, dass die Deutschen einige bessere Konserven hatten und dass das preislich auf das- selbe hinauskam, vielleicht sogar billiger. Nachdem es uns gelungen war durch Dresden hindurch zu finden und auf die Autobahn Hitlers zu kommen, war alles im Trockenen. Am Mittag kauften wir in Berlin ein und abends legten wir uns in Stralsund ins Boot, das nur darauf wartete, dass wir es zu Wasser ließen. Am nächs- ten Tag taten wir das, und nach den letzten Einkäufen, Reparaturen, dem Auf- richten des Mastes und der Passabfertigung durch die ostdeutschen Aufpasser fuh- ren wir endlich los in den Osten, nach Polen.

Einer der tschechoslowakischen Zöllner arbeitete Ende der achtziger Jahre in feuille- tonistischer Form die Geschichte des angeblich letzten Schmugglers aus. Der ost- deutsche Rentner versuchte als Tourist bei Vojtanov über die Grenze in die DDR zu

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gehen. Auf die Frage eines Zöllners, ob er etwas mit sich führte, antwortete er, dass er nur Gläser dabei habe:126

Dass er in der Hand eine prall gefüllte Aktentasche hatte, hatte er vergessen. Einer der Gründe dafür war auch der Konsum von Alkohol unbekannter Zusammen- setzung und Menge. Sehr ungern, aber dann doch, holte er verschiedene Lebens- mittel – zum Beispiel konserviertes Gemüse, Gebäck und dergleichen aus der Aktentasche. Nachdem er den gesamten Inhalt der Aktentasche ausgepackt hatte, schien es schon, dass die Untersuchung innerhalb weniger Minuten beendet sein würde und dass die Zollbeamten keine weiteren, für den Touristen unangenehmen Fragen mehr hätten. Nichts da! Die Erkundigung war einfach, aber unerwartet. Ob er noch irgendwelche Waren hätte. Als Antwort sollte offensichtlich das ‚Schüt- teln‘ des gesamten Körpers des Rentners dienen, zuzüglich der allen Zöllnern be- kannten Antwort ‚Nein, nichts‘. Noch bevor die bekannte Redewendung beant- wortet wurde, zersplitterte bereits eines der Gläser mit Instantkaffee auf dem Linoleumboden der Hallen. Stück für Stück holte er aus seinen Gewändern weitere Lebensmittel, ausnahmslos Konserven mit Kondensmilch. Und der Höhepunkt des Auftritts ohne Tusch und feierliche Fanfaren war die Demontage der kompli- zierten Struktur von Stricken, mit denen der Rentner etwa 300 Gramm Schnittkäse, der gewöhnlich Ziegel genannt wurde, an seinem Körper festgebunden hatte [...].

IV. Schlussbetrachtungen

In der zweiten Hälfte des Jahres 1989 begannen die Bürger Ostdeutschlands, über die Tschechoslowakei nach Ungarn auszuwandern, das seine Grenze zu Österreich geöff- net hatte. Die Regierung der DDR verbot infolge dessen den Ostdeutschen die Reise nach Ungarn, und die tschechoslowakische Regierung unterstützte sie durch die Ver- stärkung der Bewachung der slowakisch-ungarischen Grenze.127 Schließlich musste auch die Grenze zwischen der DDR und der Tschechoslowakei geschlossen werden. Die ostdeutschen Bürger fanden nämlich einen anderen Weg, in die Bundesrepublik zu emigrieren. Hunderte von ihnen besetzten die westdeutsche Botschaft in Prag und forderten die freie Ausreise in die BRD. Für die Vertreter der ČSSR war das eine sehr unangenehme Situation. Nach langen Verhandlungen

126 Jiří Mayer: Poslední pašerák? In: Clo Douane 17.6.1989, S. 11. 127 Vgl. Rychlík, Cestování do ciziny (wie Anm. 21), S. 108. Zum ema vgl. Vilém Prečan: Ke svobodě přes Prahu. Exodus občanů NDR na podzim 1989. Prag: Československé Dokumentační Středisko 2009.

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stimmte die Führung der SED dem zu. Damit sie ihr Gesicht nicht verlor, erwirkte sie, dass die Ausreise in den Westen über ostdeutsches Gebiet erfolgte. Dort sollte den Leuten die formelle Erlaubnis zur Ausreise erteilt und die Staatbürgerschaft der DDR entzogen werden. Kurz darauf begann eine zweite Welle Ostdeutscher zur Pra- ger Botschaft der BRD. Die Tschechoslowakei rang sich deswegen die Schließung der Grenze für ostdeutsche Bürger ab dem 3. Oktober 1989 ab. Bei ihrer Bewachung half neben Einheiten des Staatlichen Grenzschutzes (OSH) auch die Grenzwache.128 Laut Angaben des Innenministeriums vom 5. Oktober hielten die tschechoslowakischen Behörden rund 400 Ostdeutsche auf, die sie zurück in die DDR brachten. Nach dem Fall Erich Honeckers begann die neue ostdeutsche Führung, ein Gesetz für die Reisen der Bürger ins Ausland vorzubereiten. Am 1. November 1989 wurde die sächsisch- böhmische Grenze wieder geöffnet. Es wiederholte sich daraufhin die vorhergehende Szenerie und eine weitere Flüchtlingswelle besetzte die Botschaft in Prag. In der DDR selbst setzten sich die Demonstrationen fort, und die bereits geschwächte SED er- laubte, dass die Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei ohne Papiere in die BRD aus- reisten. Bereits eine Woche später wurde die Grenze in Berlin geöffnet, was den sym- bolischen und faktischen Fall des ostdeutschen Regimes zu bedeuten hatte.129 In dieser Studie habe ich mich bemüht, einige Möglichkeiten des Reisens über die sächsisch-böhmische Grenze und deren Besonderheiten in den Jahren 1945–1989 zu beschreiben. Es handelt sich selbstverständlich um eine Sicht von tschechischer Seite. Die damaligen Worte über die ‚Grenze der Freundschaft‘ klingen aus heutiger Sicht erlogen und heuchlerisch. Auch an der sächsisch-böhmischen Grenze wurden nämlich erstmals (und hoffen wir, zum letzten Mal) Stacheldrahtzäune gezogen. Kurz nach ihrer Beseitigung wurde das Grenzgebiet der DDR zum Aufmarschterrain für die sowjetische Besatzungsarmee. Positiv ist, dass sich heute die Zeitzeugen nicht aus- nahmslos an die dunklen Seiten der gemeinsamen Geschichte erinnern. Erinnerungen an kritische Augenblicke oder an vom Staat dirigierte Beziehungen der Massenorga- nisationen sind heute auf tschechischer Seite zu einem gewissen Grad von positiven Bildern überdeckt. Unter ihnen finden wir die bereits erwähnten ‚Schmuggler - geschichten‘ in der Familie und auch Erinnerungen an die Möglichkeit, in die erlaubte Exotik zu fahren. Im Sommer 1985 unterzeichneten Frankreich, die BRD und die Benelux-Staaten an Bord des Schiffes ‚Princesse Marie-Astrid‘, das bei Schengen auf der Mosel ankerte,

128 Laut dem Historiker Jan Rychlík war eine der letzten Lücken, durch welche die ostdeutschen Bürger das Land verlassen konnten, die Eisenbahnlinie Zittau–Görlitz. Diese führte teilweise über polnisches Territorium. Der Zug hielt in der Station Krzewina Zgorzelecka, welche gleichzeitig als Bahnhof für die sächsische Stadt Ostritz diente. Die DDR-Bürger reisten dann weiter nach Warschau, wo es eine Botschaft der BRD gab; vgl. ebd., S. 109. 129 Vgl. ebd., S. 109f.

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ein Abkommen über die schrittweise Aufhebung der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen und die Gültigkeit des Prinzips der Freizügigkeit von Waren und Dienst- leistungen. Damals konnte sich noch keiner vorstellen, dass dieses Abkommen nicht nur um weitere westeuropäische Staaten erweitert werden würde, sondern auch um die Mehrheit der Staaten des ehemaligen Ostblocks, einschließlich der Tschechischen Republik und der Slowakei. Nach Fall des Eisernen Vorhangs nahm Tschechien all- mählich den Kurs Richtung Europäischer Union und Schengener Abkommen auf. Ab 1991 begann für die Bürger der Tschechoslowakei das Recht auf Reisefreiheit ins Ausland zu gelten.130 Daraufhin bereitete sich die Tschechische Republik länger als ein Jahrzehnt (vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht) auf den Beitritt zur EU vor. Diese Zeit wurde mit dem Beitritt zur EU am 1. Mai 2004 erfolgreich abgeschlossen. Seit Dezember 2007 kontrolliert die ČR nicht mehr die Landesgrenzen und schloss sich an den größeren Teil Europas an, indem sie Teil des Schengener Abkommens wurde. Für alle Bürger des Schengenraums gilt die Möglichkeit des freien Reisens und der freien Überschreitung der Grenze zu den Vertragsstaaten an jedem beliebigen Ort ohne die Notwendigkeit, Grenzkontrollen zu durchlaufen und sich mit überflüs- sigen Formalitäten aufzuhalten. Ist nicht gerade die Grenze, die man nun frei überschreiten kann, erstmals wirklich eine ‚Grenze der Freundschaft‘?

Glossar:

Big Beat oder Big Beats: in der damaligen Tschechoslowakei übliche Bezeichnung für Rockmusik. Zu Beginn der 1960er Jahre handelte es sich um eine Bezeichnung für Bands, die den vom kommunistischen Regime verworfenen Rock‘n‘Roll spiel- ten | Devisen/Valuta: es handelt sich um die Währungen der hochentwickelten westlichen Staaten (z.B. amerikanische Dollar, westdeutsche Mark, Schweizer oder französische Franken und britische Pfund), die in der sozialistischen Tschecho - slowakei legal nur schwer zu bekommen waren. Der Kurs der tschechoslowakischen Krone war, ähnlich wie bei den Währungen aller RGW-Staaten, gegenüber den westlichen Währungen künstlich überbewertet. Eine Binnenkonvertibilität der Krone konnte aus politischen Gründen nicht eingeführt werden, weil dies zu ihrer augenblicklichen Abwertung und zur Entwertung der Ersparnisse der Bürger ge- führt hätte | Rifle/texasky: zeitgenössischer tschechoslowakischer Ausdruck für

130 Vgl. ebd., S. 133.

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Jeanshosen. Indem sie Jeans trugen, ließen die jungen Leute ihre Sympathie zum amerikanischen Lebensstil durchblicken. Texasky (diesen Begriff verwendete man auch in Polen) sind an die Cowboys aus dem amerikanischen Bundesstaat Texas angelehnt, die Gefallen an Kleidung aus Jeansstoff gefunden hatten. Rifle wie- derum von der italienischen Jeansmarke Rifle. Kleidung von letztgenannter Marke vertrieb in der Tschechoslowakei offiziell die Handelsfirma Tuzex. Im klassischen Kleinhandel tauchten Jeans bis beinahe Ende der achtziger Jahre nicht auf | Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW): eine Handelsorganisation, die vor allem die sozialistischen Länder mit zentraler Planwirtschaft umfasste. Zu ihrer Entstehung im Jahr 1949 sollte sie einen Gegenpol zum Marshallplan bilden, später zur Euro- päischen Wirtschaftsgemeinschaft. Sie verschwand mit dem Jahr 1991 | Tuzex: ein 1957 eingerichteter Betrieb für den Außenhandel, der für ‚harte‘ Valuta exklusive heimische (Export-)Ware und importierte Produkte aus den westlichen Staaten (z.B. Jeans, Schuhe, Feuerzeuge, Alkohol, Kaugummis, später auch Automobile u.a.) verkaufte. Bei Tuzex bezahlte man mit Tuzex-Kronen (TKčs), im Volksmund Bons genannt. Diese hatten eine begrenzte Gültigkeit und man erhielt sie durch den Verkauf von Valuta direkt im Geschäft. Schnell aber wuchs der illegale Handel mit den Bons. Schwarzmarkthändler nannte man ‚veksláci [lies: Wexlahzi]‘ – vom deutschen Wort ‚wechseln‘. Das ostdeutsche Pendent zur tschechoslowakischen Firma Tuzex war der Betrieb Genex

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1945/1968. Literatur der Zeugenschaft

Walter Schmitz

1945/1968. Literatur der Zeugenschaft

Nach den Kriegen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts begann man von der zeitgenössischen Literatur zu erwarten, dass sie Zeugnis ablege von dem, was den Menschen wiederfuhr – in Krieg und Verfolgung, aber auch bei den großen Er- eignissen, die Hoffnung auslösten. Diese Zeugenschaft der Literatur setzt inter - national ein mit der Erinnerung an die Shoah*, also an die Verfolgung und Er - mordung der Juden durch das nationalsozialistische Deutschland. Doch bald traten weitere, wenn auch im Ausmaß des Unrechts nicht vergleichbare Ereignisse hinzu: die Vertreibung der Deutschen aus ihren Wohngebieten im Nachkriegspolen und in der Nachkriegstschechoslowakei. Und als sich die Bevölkerung der Tschecho - slowakei eine Umwandlung der kommunistischen Diktatur in einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz wünschte und Reformer in der KSČ (Kommunistische Partei der Tschechoslowakei) dies 1968 versuchten, gab es einen weiteren Anlass der Erinnerung an historisches Leid, denn der ‚Prager Frühling‘ wurde durch den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes* mit Gewalt beendet. Die bei- den Ereignisse hatten eins gemein: Sie unterlagen einer strengen Erinnerungs - kontrolle; ‚1968‘ und ‚1945‘ sollten jeweils als Erfolge der Herrschenden in der Tschechoslowakei geschildert werden; die Erinnerung der Menschen freilich sah anders aus.

I. Okkupation 1968

1. Ein Aufbruch und Nachrichten ‚mitten aus Europa‘ 1968

In Prag erschien schon seit 1957 eine tschechoslowakische Monatsschrift in deut- scher Sprache mit dem Titel Im Herzen Europas. Sie sollte die neue kommunistische Tschechoslowakei in den deutschsprachigen Ländern populär machen, vor allem als Reiseziel. Wir finden in dieser Zeitung Artikel über tschechisches Kunst- handwerk, über schöne und interessante Orte im Land, über kulturelle Spitzen - leistungen, über das Leben im Alltag, kurzum alles, was im Ausland ein positives Bild der Tschechoslowakei vermitteln konnte, so wie es sich die Machthaber vor- stellten. Aber man wusste, dass man den Ausländern mehr bieten musste. Die Redakteurin von Im Herzen Europas, Lenka Reinerová, hatte bei der Kafka-Kon -

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ferenz in Liblice* František Černý kennengelernt, der nach 1989 Botschafter der Tschechoslowakischen Republik in der Bundesrepublik Deutschland sein wird. Er berichtet:1

Ich war im Rundfunk tätig, sie wurde wieder rehabilitiert, war also wieder kom- munistisches Parteimitglied und für eine Zeitschrift tätig, deren Chefredakteur sie dann wurde und bis 1968 war. Die Zeitschrift hieß Im Herzen Europas – eine auf- wendig gestaltete Monatszeitschrift auf wunderbarem Papier. Das war in der da- maligen Tschechoslowakei selten so. Nicht einmal Kunstbücher hatten ein so gutes Papier. Das war eine Zeitschrift, die – sie erschien auch in Englisch, Französisch und, ich glaube, in Spanisch – das schöne Leben der sozialistischen Tschecho - slowakei für die im Westen lebenden potentiellen Leser schildern sollte. Es war also eine repräsentative Zeitschrift. Da war in den Sechzigerjahren vieles erlaubt, was eigentlich sonst nicht erlaubt gewesen wäre.

So wurden etwa auch Bilder von Künstlern gezeigt, „die in Prag nicht ausstellen durften. In dieser Zeitung hat man dafür Seiten zur Verfügung gestellt“. 2 Und doch stieß dies alles in der Bundesrepublik auf wenig Interesse. In der DDR aber war diese Zeitschrift „eines der begehrtesten Printmedien“.3 Da der Vertrieb indessen immer wieder be - hindert wurde, mussten Exemplare über die Grenze geschmuggelt werden.4 Das galt besonders, als im Januar 1968 diese Monatsschrift „besonderen Schub [...] mit dem ZK- Plenum der kommunistischen Partei“5 bekam, „bei dem Alexander Dubček zum Ersten Sekretär des ZK der KPČ gewählt wurde. Nun sparte die Zeitschrift kein Thema, keinen Widerspruch und keinen Konflikt aus“.6 Sie vermittelt den ‚Prager Frühling‘ an ihre Leserschaft in der DDR. In der kommunistischen Partei der ČSSR hatte sich unter Alexander Dubček ein Reformflügel mit dem Programm eines ‚Sozialismus mit mensch- lichem Antlitz‘ herausgebildet. Es gelang dieser Gruppe, den Rücktritt des Staatschefs Antonín Novotný zu erzwingen. Neuer Parteichef wurde Dubček. Man setzte zu einem großen Umbau der gesamten Gesellschaft an; doch ging es nicht um einen Bruch, son-

1 František Černý: Lenka Reinerová: eine deutschsprachige Autorin in Prag. In: Zu Hause in der Welt. Topogra- phien einer grenzüberschreitenden Literatur. Hg. v. Immacolata Amodeo u. Heidrun Hörner. Sulzbach/Taunus: Ulrike Helmer Verlag 2010, S. 77–101, hier S. 86. 2 Ebd., S. 87. 3 Ebd. 4 Ebd. 5 Bernd-Lutz Lange: Mauer, Jeans und Prager Frühling. Berlin: Aufbau 2006, S. 285. 6 Walter Schmitz: 1968 in der DDR – Wahrnehmungsspuren in einem ‚ruhigen Land‘. In: Die Kunst des Über- winterns. Musik und Literatur um 1968. Hg. v. Jörn Peter Hiekel. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2011, S. 23–68, hier S. 26. – Michael Haase: Prag 1968 im Spiegel der west- und ostdeutschen Literatur. In: brücken. Germanis- tisches Jahrbuch Tschechien – Slowakei 21 (2012), Nr. 1–2, S. 313–332.

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dern um eine Vollendung des Sozialismus. Man blieb zwar sozialistischen Zielen treu, wandte sich aber vom sowjetischen Sozialismusmodell ab. Verlautbarungen und Diskussionsbeiträge zur neuen Lage waren in der DDR nicht erwünscht. Es war ein „Einfluß, der nicht wahrgenommen werden sollte“.7 Aber die Leser von Im Herzen Europas erfuhren einiges. Einer dieser Leser war Bernd-Lutz Lange, späterhin ein bekannter Kabarettist vor und nach dem Ende der DDR, der 1968 noch Student war. Für ihn war diese Zeitschrift „das interessanteste Magazin des Ostblocks.“8 Sie rückte in ihren Beiträgen „die sozialistische Welt zurecht“. 9 Heikle Fragen wurden nicht länger ausgespart. Aber auch die Auslandssendungen von Radio Prag waren selbstverständlich an die DDR adressiert und sollten dort empfangen werden. Allerdings hatte man in der DDR „[in] einigen Ortschaften, hauptsächlich in Sachsen, […] Störsender aufgestellt, die [schon lange] darauf ausgerichtet waren, den ‚Hetzsender‘ in Berlin, RIAS, zu stören und diese Störsender wurden dann umgepolt und auf Radio Prag gerichtet.“10 Der Maler Peter Graf berichtet von den „deutschsprachigen […] Sendungen des tschechischen Rundfunks,“ die er dennoch hören konnte; er sei „auf diese Weise nahe an der Entwicklung und den Ereignissen gewesen.“11 Der Aufbruch in Prag, also im damaligen Ostblock, schien das Gegenstück zu bilden zu den Protesten der Studenten in den westlichen Ländern, der sogenannten 1968er Bewegung. Damals war die ČSSR für die DDR-Bürger der ‚kleine Westen‘, „es gab größere geis- tige Freiheit, mehr Abwechslung, mehr Farbe und auch ein größeres Warenangebot als in der DDR – darunter auch westliche Zeitungen.“12 Deshalb hofften viele, dass

7 Werner Mittenzwei: Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945–2000. Leipzig: Faber & Faber 2002, S. 249. 8 Lange, Mauer, Jeans und Prager Frühling (wie Anm. 5), S. 285. Vgl. auch Manfred Jäger: Die abwartende Hoffnung. Reiner Kunze, Wolf Biermann und andere1968. In: „Es genügt nicht die einfache Wahrheit“. DDR- Literatur der sechziger Jahre in der Diskussion. Hg. v. Michael Hametner/Kerstin Schilling. Leipzig: Friedrich- Ebert-Stiftung Büro Leipzig 1995, S. 111–125, bes. S. 118. Künftig meine Studie: Mitteleuropäischer Ideen - schmuggel. „Im Herzen Europas“, eine deutschsprachige ‚Revue‘ aus Prag 1967/68. (Vortrag beim Kongress des Mitteleuropäischen Germanistenverbandes „Mittlerin aus Europas Mitte. Fundamente und Perspektiven der deutschen Sprache und ihrer Literatur im ostmittel- und südosteuropäischen Raum“, Wien 2010). 9 Lange, Mauer, Jeans und Prager Frühling (wie Anm. 5), S. 285. 10 Černý, Lenka Reinerová (wie Anm. 1), S. 88. 11 Gespräch Jörg Bernigs mit Peter Graf vom 27. Januar 2010 über das Bild Übers Malen im Jahr 68. Graf besitzt noch heute einige Minuten Mitschnitt, auf dem ein vom tschechoslowakischen Rundfunk mit Walter Ulbricht geführtes Interview zu hören ist. Ulbricht lobt darin u.a. die – quasi klassenabschaffende – Leistung der DDR, die sogar Nazi-Militärs nach entsprechender Umschulung in die NVA integriert habe. Zuerst bei Schmitz: 1968 in der DDR (wie Anm. 6), S. 27 (Gespräch im folgenden in dieser Weise zitiert). 12 Konstantin Hermann: Sachsen und der Prager Frühling. In: Horch und Guck. Zeitschrift zur kritischen Auf - arbeitung der SED-Diktatur, Heft 04/2008. In: http://www.horch-und-guck.info/hug/archiv/2008-2009/heft- 62/06213, Zugriff am 30.07.2013.

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die dortige Reformbewegung auf die DDR Einfluss nehmen würde. „In jenem Jahr“, so schreibt wiederBernd-LutzLange, „blickten wir Ost-68er alle nach Prag. Dort keimte nicht nur, dort wuchs schon die Hoffnung.“13 In diesem Prager Früh- lingsjahr 1968 schuf der Maler Peter Graf ein Gemälde Übers Malen im Jahr 68. Peter Graf war mit Wolf Biermann und dessen Kreis bekannt. Wolf Biermann erinnert sich, wie er „halb besoffen von den Achtundsechziger Hoffnungen“ ge- wesen sei, der Sehnsucht „nach roter Freiheit“.14 Peter Graf war 1957 nach einer Ausein - andersetzung mit dem Kulturminister Johannes R. Becher von der Kunsthoch- Peter Graf: Über das Malen im Jahr 1968, schule Berlin-Weißensee exmatrikuliert [undatiert] worden. Aus dieser Exmatrikulation folgte dann allerdings „auch die Bestrafung mit Arbeit“.15 Das hieß für Peter Graf Bewährung in der Produktion. Man wollte ihm seine Freiheit dadurch nehmen, dass man ihn in strenge tägliche Arbeit band, doch Peter Graf bot all seine Kräfte auf, um weiterzumalen, und er war nicht mehr an die Regeln und die Zensur im DDR-Kunstbetrieb gebunden: „Er befand sich außerhalb davon, er hatte von ihm nichts zu erwarten und so auch nichts zu verlieren.“16 So hatte er „in der DDR seinen Weg als nicht vergesellschafteter Künstler gehen können und müssen und so vor allem Kontakte zu und Freundschaft mit jenen gewonnen, die sich als Künstler und Intellektuelle nicht mit diesem Staat identifizieren wollten. Sein 68er-Gemälde ist ein Atelierbild. Links, in halber Rücken- ansicht, der Maler vor einem Gemälde; rechts eine junge Frau in einem biedermeierlich anmutenden Kleid, die offenbar eingeschlafen ist und ihren Kopf mit dem Arm ab- stützt. Vor ihr auf dem Tisch liegt – wie ein offenes Füllhorn – eine Farbtube. Der

13 Lange, Mauer, Jeans und Prager Frühling (wie Anm. 5), S. 285. Vgl. Christiane Schmitt-Teichert: „Hoffnung auf Veränderung“. Sachsen und der „Prager Frühling“ – ein Stimmungsbild. In: Sachsen und der „Prager Früh- ling“. Hg. v. Konstantin Hermann. Beucha: Sax-Verlag 2008, S. 69–87. 14 Wolf Biermann: Wie man Verse macht und Lieder. Eine Poetik in acht Gängen. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1997, S. 241f. 15 Jörg Bernig: Die Freiheit und das Blau. Zur Eröffnung der Ausstellung „Überall ocker“ von Peter Graf (am 7. April 2009 in der Villa Eschebach, Dresden), S. 2. 16 Ebd.

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Maler arbeitet an einer Landschaft am Meer mit zwei Frauen. Es handelt sich um ein Bild, das Peter Graf dann tatsächlich um diese Zeit geschaffen hat.“17 Das ist nicht das einzige Selbstzitat im Gemälde. Rechts oben auf dem Bild wird auch Peter Grafs Gemälde Mädchen mit Lupe in die Atelierszene mit aufgenommen. Und dann findet sich in dem Atelier, wie es das Bild Übers Malen im Jahr 68 zeigt, noch ein weiteres Porträt, und zwar hat Peter Graf hier ein Porträt von Wolf Bier- mann in sein eigenes Bild mit aufgenommen, aber er hat es auf den Kopf gestellt. „Peter Graf malte von früh auf und malt immer wieder“, so notiert Jörg Bernig aus einem Gespräch mit dem Künstler,18

,verkehrt herum‘, stellt zum Betrachten seine Bilder während der Arbeit an ihnen auf den Kopf. Er meint, das hätten die Alten auch schon immer so gemacht. Durch das Auf-den-Kopf-Stellen bzw. -Malen werde aus dem Bild sogleich ein abstraktes. Dazu zitierte er sinngemäß aus einem Wilhelm-Busch-Gedicht [...]: Bilder die man aufhängt umgekehrt/Ändern sich gar wunderlich im Wert/…/ weil sie in das Reich der Phantasie erhoben. Auf diesem imaginären Porträt trägt Wolf Biermann eine Elbseglermütze und eine Friedenstaube auf dem Kopf.

Diese Friedenstaube wiederum kannte jeder Schüler in der DDR, denn sie war das am weitesten verbreitete Bild von Pablo Picasso. Und man muss wissen, so erfahren wir abermals von Jörg Bernig, „daß Graf stets ein großer Bewunderer von Picasso war und ist und daß Graf, wie er mir sagte, politische Aussagen nicht verschlüsseln wolle, weil sie dann ja nur von denen erkannt werden könnten, die sowieso schon um sie wüßten.“19 Aber mit der schlummernden Frau am Tisch – es ist Peter Grafs erste Frau, Jetty Graf, – gelangt auch „der Alltag der Grafs ins Bild.“20 „Beide“, so hat es Peter Graf Jörg Bernig erzählt, „seien sie ja von früh bis abends berufstätig gewesen (Peter Graf u.a. als Last- wagenfahrer) und an den Abenden oft völlig erschöpft. Im An gesicht und trotz der ei- genen Erschöpfung aber habe Peter Graf dann doch wieder und wieder gemalt.“21 „Es ging um Kunst – nicht mehr, aber weniger auch nicht.“22 Die Kunst aber bedarf der Freiheit. Unter das Zeichen der Freiheit stellt Graf dann auch diese Atelierszene Übers Malen im Jahr 68. Denn über allem schwebt hier eine

17 Schmitz, 1968 in der DDR (wie Anm. 6), S. 34f. 18 Ebd., S. 35. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Jörg Bernig: Gevatter Tod, die Schöne und der Dickhäuter. Peter Graf zeigt in der Villa Eschebach die Schau „Überall ocker“ mit Gemälden und Plakaten. In: Sächsische Zeitung, 7. April 2009.

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nackte allegorische Figur, die den Blick auf das Bild des Malers – die Landschaft am Meer mit zwei Frauen – richtet. Das Haar der allegorischen Figur weht, und auch die Flagge, die sie trägt – es ist die der Tschechoslowakei – wird offenbar vom Wind bewegt. Diese ‚mit der tschechoslowakischen Trikolore ausgestattete Figur auf Grafs Übers Malen im Jahr 68 verdankt sich einem Bild Henri Rousseaus‘ La Liberté invitant les artistes à prendre part à la 22ème exposition des indépendants (Die Freiheit lädt die Künstler zum 22. Salon der Unabhängigen ein).23 Die Freiheit trägt dort die franzö- sische Trikolore. Und diese weht nach fast einhundert Jahren neuerlich schon in einem von Peter Graf, dem ‚freien‘ Künstler in der DDR, 1966 geschaffenen Bild Übers Malen nach der Arbeit. Peter Graf spricht von ihr als einem „Musenengel“; offenbar ist dies ein Modell der Inspiration. Von Übers Malen nach der Arbeit fliegt die alle - gorische Figur dann auf das weitere Bild Übers Malen im Jahr 68. Und die historische Entwicklung verlangt in einer West-Ost-Passage die Verwandlung der Trikolore der 1789er Revolution in die Staatsfahne der Tschechoslowakei von 1968. Anders als bei Rousseau sind aber auf Grafs Bild die Flügel der allegorischen Figur schwarz. Wohl verkörpert sie den Aufbruch im Nachbarland, gewiss als Allegorie der Freiheit – aber einer Freiheit, deren schwarze Flügel eher zu einem Todesengel passen würden. Für Peter Graf ist sie Ausdruck der Hoffnung und der Idee eines demokratischen Sozia- lismus, deren Faszination für ihn bis heute nichts verloren hat. Er sehe sie aber eher philosophisch und nicht ökonomisch, präzisierte er im Gespräch mit Jörg Bernig. Vor der vom sozialistischen Alltag ermatteten Frau auf dem Tisch liegt „eine Farbtube, der die Spitze abgeschnitten ist. Es quillt rote Farbe heraus als Sinnbild eines mög - lichen Anfangs von etwas, und so schleicht sich auch von da ein wenig Hoffnung ein.“24 Nicht nur der Maler Peter Graf hat Zeugnis von seinen Hoffnungen auf den ‚Prager Frühling‘ von 1968 gegeben. Hartmut Zwahr, damals ein junger Historiker an der Leipziger Karl-Marx-Universität, hat die Ereignisse dieser Wochen und Monate, seine Gedanken und Hoffnungen, in einem Tagebuch festgehalten, das er im Jahr 2007 veröffentlichte. Er glaubte noch, dass man eine „höhere Stufe des Sozialismus“25 er- reichen könne und dass dies auch dringend notwendig sei. Er notiert am 17. Juli 1968, dass „ein großer Teil der Jugend mit den Tschechen [bangt]. Wie es in anderen Kreisen steht, ist schwer zu beurteilen.“26

23 Liberty Inviting Artists To Take Part In e 22nd Exhibition Of e Societe Des Artistes Independants 1905, oil/canvas 175 x 118 cm, e National Museum of Modern Art Tokyo. 24 Schmitz, 1968 in der DDR (wie Anm. 6), S. 36. 25 Hartmut Zwahr: Die erfrorenen Flügel der Schwalbe. DDR und „Prager Frühling“. Tagebuch einer Krise 1968 bis 1970. Bonn: Dietz 2007, S. 86 (2. August 1968). 26 Ebd., S. 81 (27. Juli 1968).

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2. Ende des Aufbruchs

Im August 1968 waren die verbündeten Staaten des Warschauer Paktes unter der Füh- rung der Sowjetunion nicht mehr bereit, hinzunehmen, dass in Prag die kommunis- tische Ordnung soweit reformiert wurde, dass sie nicht mehr wiederzuerkennen war. Man wollte Einhalt gebieten; vor allem die DDR drängte darauf, bei dem unruhigen Nachbarn wieder sozialistische Ruhe und Ordnung herzustellen. Die Intervention im August hatte mit einer Konfrontation auf der Wirtschaftskonferenz der regieren- den Kommunistischen Parteien aus den Staaten des Warschauer Paktes in Dresden begonnen. Dort hatte man Alexander Dubček darauf hingewiesen, dass der „gemein- same [] Todfeind, der Imperalismus“ niemals schlafe, man müsse Vorsicht walten las- sen, was sich aber in der Tschechoslowakei aufbaue, sei geradezu eine Konterrevolu- tion.27 – Besorgniserregend war ja, dass im Bezirk Dresden bis zum 21. August immerhin 300 ‚Vorkommnisse‘, im Bezirk Karl-Marx-Stadt zwischen dem 21. August und dem 10. September 250 Vorkommnisse registriert wurden. Vor allem jugendliche ‚Straftäter‘ taten sich dabei mit Sympathiebekundungen für einen Umschwung auch in der DDR hervor. Zudem besuchten „[i]m Frühjahr und im Sommer 1968 [...] ungewöhnlich viele DDR-Bürger die Tschechoslowakei. […] Allein im Juli fuhren wöchentlich etwa 80.000 Ostdeutsche in bzw. durch die ČSSR“.28 Im Nachbarland gab es Dinge, die in der DDR nicht zu bekommen waren. „Dort konnte man die begehrten Schallplatten der Beatles, Bee Gees und Rolling Stones kaufen“ und sich im geringen Umfang den westlichen Kosumstandart anschauen.29 Die SED-Führung versuchte, um den unkontrollierbaren Ablauf zu steuern, jetzt Reisen von verlässlichen Genossen zu organisieren, und besonders der Bezirk Leipzig mit dem Vorsitzenden Paul Fröhlich tat sich bei dieser Aktion eines „sozialistischen Tourismus“30 hervor. Das Resultat war ernüchternd: „Die Argumente unserer Genossen wurden angehört, aber nur in geringem Umfang akzeptiert“, vielmehr hätten die tschechoslowakischen Gesprächspartner immer wieder darauf hingewiesen, „dass sie ihre eigene Politik durchführen und sich von niemanden hereinreden lassen.“31 Statt die Abweichler zu

27 Vgl. Manfred Wilke: Die SED und der Prager Frühling 1968. In: Die Politische Meinung (2008), Nr. 465, S. 45–51, hier S. 48. 28 Vgl. Christian Kurzweg: „Jetzt machen wir mal sozialistischen Tourismus.“ Die SED und der Prager Frühling 1968. Berichte aus dem Bezirk Leipzig. In: Horch und Guck (2/2007), Heft 58, S. 10–15, hier S. 10. Vgl. auch Bernd Eisenfeld: Hoffnung, Widerstand, Resignation. Die Auswirkungen des „Prager Frühlings“ und seiner Zer- störung in der DDR. In: Deutschland Archiv 36 (2003), Nr. 5, S. 792. 29 Stefan Wolle: Der Traum von der Revolte. Die DDR 1968. Berlin: Christoph Links Verlag 2008, S. 147. 30 StA Leipzig, SED-BL Leipzig, IV B 2/1/09, Sitzung der Bezirksparteileitung am 22.05.1968. 31 StA Leipzig, SED-BL Leipzig, IV B 2/3/188, Schreiben des 1. Sekretärs der SED-Kreisleitung Torgau an Paul Fröhlich, 14.05.1968.

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bekehren, wurden die Entsandten in ihrer eigenen Überzeugungstreue wankend. Rückkehrende äußerten sich „beeindruckt über die Reformbestrebungen“32 beim Nachbarn und viele forderten: „Auch bei uns sollte eine Demokratisierung – sprich Lockerung – eintreten.“ Und sie ergänzten: „Alles muss bei uns erst genehmigt wer- den, Informationen über die ČSSR bekommt man ausführlicher vom Westen.“33 So nahm man von diesem Propagandainstrument wieder Abstand. Gewählt wurde die militärische Option.34 Seit den letzten Juli-Wochen marschierten die Truppen des Warschauer Paktes im Grenzgebiet, vor allem im Vogtland, auf.35 Die Leipziger Grafikerin Ursula Mat- theuer-Neustadt hielt sich damals im Vogtland auf. Sie schuf angesichts dieser be- ängstigenden Szenen ihre Blattfolge Der schöne deutsche Wald.36 Der logistische Auf- wand für die so genannte ‚Operation Donau‘ war groß. Die Truppen der Nationalen Volksarmee der DDR sollten sich nicht beteiligen. Die Dresdner 7. Panzerdivision war jedoch einmarschbereit aufgestellt; suggeriert wurde den DDR-Bürgern dabei selbst vom Neuen Deutschland und anderen DDR-Zeitungen, dass die NVA mit - marschiere. So publizierte man Anfang September Fotos von ostdeutschen Soldaten, die sich bei Prag befänden. Doch die Planung für die Teilnahme der NVA war auf sowjetische Intervention noch kurz vor dem Angriff zurückgezogen worden. Man wollte den Eindruck meiden, dass ein Jahr vor dem 30-jährigen Gedenken an den Einmarsch der Truppen des ‚Dritten Reiches‘ in die damalige Tschechoslowakische Republik nun wieder deutsche Truppen in die Tschechoslowakei einmarschierten. Zudem lag 1968 das Münchner Abkommen, das den Untergang eingeleitet hatte, eben genau 30 Jahre zurück. So heißt es später denn auch in einem Text Okkupation von Gerald Zschorsch: „Du weißt doch noch, im Jahre achtunddreißig…“37 Der Schriftsteller Utz Rachowski erinnert sich allerdings, dass er damals als Jugend- licher im Vogtland sehr wohl DDR-Panzer habe rollen sehen, und Augenzeugen hät-

32 Kurzweg, „Jetzt machen wir mal“ (wie Anm. 28), S. 13. 33 StA Leipzig, SED-BL Leipzig, IV B 2/%/297, Bl. 82f., Information an das Sekretariat der BL zur Entwicklung des Parteilebens, zum Verlauf der Mitgliederversammlung in den letzten Monaten und zu Verhaltensweisen der Mitglieder und Kandidaten unserer Partei, 27.06.1968. 34 Vgl. zur Vorgeschichte, insbesondere der Zusammenkunft der Staats- und Parteichefs in Dresden, Konstantin Hermann: „In der nächsten Zeit werden Sie vor dem Tribunal stehen“ – Das „Tribunal der Fünf“ in Dresden. In: Sachsen und der „Prager Frühling“ (wie Anm. 13), S. 53–67. 35 Vgl. Rüdiger Wenzke: Sachsen als militärischer Aufmarsch- und Handlungsraum von NVA und Sowjetarmee im Sommer 1968. In: Sachsen und der „Prager Frühling“ (wie Anm. 13), S. 89–126. 36 Vgl. die Abbildung bei Bernd Lindner: Enttäuschte Hoffnungen. In: Demokratie jetzt oder nie! Diktatur, Widerstand, Alltag. Hg. v. der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland / Zeitgeschicht- liches Forum Leipzig. Leipzig: Edition Leipzig u.a. 2008, S. 122–129, hier S. 125. – Ebd., S. 124 das Gemälde von Jürgen Schieferdecker (Dresden) Prager Sommer 68. 37 Gerald Zschorsch: Okkupation. In: Ders.: Glaubt bloß nicht, daß ich traurig bin. Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1990, S. 32.

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ten diese Panzer auch jenseits der Grenze gesichtet.38 Offenbar gab es tatsächlich Grenzverletzungen durch die NVA, und ein Nachrichtentrupp samt einigen Offizie- ren begleitete die Sowjetarmee in die Tschechoslowakei. Am 21. August rückten die Militärverbände vor. Dabei sollte die DDR-Bevölkerung keineswegs umfassend über die Aktionen an den Grenzen informiert sein. Die DDR- Zeitungen berichteten kontrolliert; ihre Artikel gaben die Parteilinie wieder. Dennoch erfuhren die Bürger der DDR etliches aus erster Hand, in Berlin, aber besonders auch in den sächsischen Grenzgebieten. So erinnert sich Gerald Zschorsch, damals ebenfalls noch Oberschüler, später im Westberliner Exil als Schriftsteller und Verleger tätig, gut daran, wie auffällig die Truppenbewegungen im Vogtland waren: „Es war eine unheimlich aufgeheizte Situation in so einer Grenzstadt wie Plauen. Da standen an den ganz zentralen Punkten sowjetische Panzer, nachdem die anderen schon durch- gefahren waren, Richtung Prag ...“39 Ebenfalls 15-jährig war damals Utz Rachowski, und auch er erlebte im heimischen Reichenbach nicht nur den Durchmarsch der Truppen; damals brach die Politik in sein Leben ein. Sein älterer Bruder versuchte zu protestieren, allerdings vergeblich. Rachowski hat diesen 21. August als ‚den letzten Tag der Kindheit‘ erlebt.40 Nach dem Einmarsch setzte eine groß inszenierte „Medienschlacht um die Deutung der Ereignisse“ ein.41 Verschweigen war unmöglich; jetzt also galt es, die den Macht- habern genehme Deutung zu etablieren. Dass im August 1968 das Erscheinen der Zeit- schrift Im Herzen Europas abrupt endete, versteht sich. Die Zeitungen der DDR begannen nun, die offizielle Version von einer eingeleiteten ‚Normalisierung‘ im Nach- barland zu verbreiten. Selbstverständlich ging das Neue Deutschland, das Presse organ des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, voran. Es sah sich freilich „in einer Zwickmühle. Kritik an der Intervention kam nicht nur vom po- litischen Gegner, sondern auch von westlichen kommunistischen Bewegungen. Auch die gerade noch vom ND medial unterstützte Studentenbewegung protestierte – wie- der unter Roten Fahnen – gegen den Einmarsch.“42 Doch man bot alles auf, um eine

38 Utz Rachowski: Der Sinngeber. Meine wunderbaren Jahre mit Reiner Kunze – als Leser, Mitwirkender und Kol- lege. In: Reiner Kunze. Erfahrungen und Lektüre. – Studien und eine Werkgeschichte. Hg. v. Walter Schmitz. Dresden: elem (i.V. 2014). Vgl. den Auszug im Quellenband. 39 Gerald Zschorsch: Interview. In: Ders.: Glaubt bloß nicht, daß ich traurig bin: Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1990, S. 197–212, hier S. 200. 40 Vgl. Utz Rachowski: Der letzte Tag der Kindheit. In: Ders.: Der letzte Tag der Kindheit. Berlin: Oberbaum Verlag 1987, S. 9–21. Dazu meine Studie: Die Erfahrungen des Schriftstellers Utz Rachowski in drei deutschen Staaten. In: Deutsch-deutsches Literaturexil, Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus der DDR in der Bundes- republik. Hg. v. Walter Schmitz/Jörg Bernig. Dresden: elem 2009, S. 387–413, hier S. 520–554. 41 Alexander Bringmann: Das „Neue Deutschland“ und der Einmarsch. Die Rolle der DDR-Medien beim „Prager Frühling“ im Jahre 1968. In: Der Freidenker, 11.9.2008. 42 Ebd.

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eigene Interpretationslinie aufzubauen. Die Sächsische Zeitung, Organ der Bezirks - leitung Dresden der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, setzte ebenfalls ihre Leser von den Abläufen in Kenntnis, sie war dabei streng auf der Linie der DDR- Politik. Übernommen wurde der grundlegende Artikel aus dem Neuen Deutschland:43

Wie durch Rundfunk und Fernsehen bekannt geworden, haben dem Sozialismus treu ergebene Persönlichkeiten der Partei und des Staates der CSSR am 20. August offen den Kampf zum Schutz der sozialistischen Staatsordnung, gegen die kon- terrevolutionären Umtriebe aufgenommen. […] Diese Persönlichkeiten der Partei und des Staates der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik haben sich am 21. August an die Regierungen der mit der CSSR verbündeten sozialistischen Staa- ten, der Volksrepublik Bulgarien, der Deutschen Demokratischen Republik, der Volksrepublik Polen, der Ungarischen Volksrepublik und der Union der Sozialis- tischen Sowjetrepubliken, mit der Bitte gewandt, in Anbetracht der durch die Wühlarbeit der konterrevolutionären Elemente und der Einmischungsbestrebun- gen der imperialistischen Mächte entstandenen Gefahr, dem tschechoslowakischen Brudervolk und Bruderstaat unverzüglich jegliche Hilfe, einschließlich militä - rischer Hilfe, zu erweisen. Entsprechend den abgeschlossenen Verträgen über Freundschaft, gegenseitigen Beistand und Zusammenarbeit haben die Ministerräte der sozialistischen Bruderländer diesem Ersuchen entsprochen.

Doch über den Zentralismus hinaus entwickelte man für Sachsens Zeitungsleser ein eigenständiges, ganz heterogenes Ensemble von Information und Aktion auf den Zei- tungsseiten. Dazu druckte die Zeitung zunächst Stellungnahmen von DDR-Bürgern. Ein Mitglied der Brigade ‚VII. Parteitag der SED‘ des VEB Funkwerks Dresden gab ausdrücklich seine Zustimmung zu Papier.44 Der Leiter des E-512-Komplexes der Kooperation Lommatzscher Pflege erklärt: „Wie ein Mann steht unser Kollektiv hinter den Maßnahmen der sozialistischen Bruderländer.“ Und Prof. Dr. rer. oec. habil. Wolf- gang Heyde, amtierender Rektor der TH Dresden, hatte „[m]it großer Genugtuung […] die Maßnahmen unserer brüderlich verbundenen sozialistischen Länder“ zur Kenntnis genommen. Der 22. August ist auch der Tag einer journalistischen Großoffensive. Die Sächsische Zeitung schafft ein Tableau der Zustimmung. Die Hauptschlagzeile bildet eine Mit- teilung von TASS, der sowjetischen Nachrichtenagentur, dann folgt die Verlaut- barung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und

43 Sächsische Zeitung, 22. August 1968, S. 1. 44 Ebd.

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auf der folgenden Seite nochmals eine Mitteilung der TASS mit der Überschrift Brüderliche Hilfe unverzüglich erwiesen,45 zudem der Aufruf einer Gruppe des Zen- tralkommitees der KPC, der Regierung und der Nationalversammlung der ČSSR. Die Folgeseite bringt in einem Block den Aufruf „Bürger unseres Bezirks bekunden durch ihre Taten: Alle Kraft für unsere große und gerechte Sache, für den Sieg des Sozialismus, für den Frieden und die Sicherheit Europas!“46 Neben die Loyalitäts- bekenntnisse zur Macht der Arbeiterklasse in der DDR tritt – komplementär – ein Kommentar mit dem Titel Ins Bonner Konzept gehagelt;47 dann weitere Zustimmung aus dem Volk. Die vierte Seite dann widmet den größten Raum einer Chronik: Zum Kesseltreiben gegen Prager Arbeiter; da zeige die Konterrevolution ihr wahres Gesicht.48 Auf der fünften Seite dann folgt der Wortlaut eines Artikels von Juri Shukow aus der Prawda mit dem Titel Spekulation und Fehlkalkulation der Feinde des Tschechoslowakischen Volkes, dazu in einem Kasten ergänzend Proletarischer Inter - nationalismus in Aktion.49 Auf der Seite sechs wird dann wiederum eine historische Linie gezogen. Diesmal lautet die Überschrift Strich durch die Rechnung der Global - strategen, also der Drahtzieher gegen den Sozialismus weltweit. Eine historische Linie setzt sich fort: Im Jahr 1961 wurden „Menschenhandel und Terrorakte“, die Bonn ‚initiiert‘ hatte, endlich durch den Bau der Berliner Mauer unterbunden; jetzt durchkreuzt die finsteren Pläne der westlichen Revanchisten und Faschisten der „Einmarsch der sozialistischen Brudervölker“, in deren „festen und sicheren Hän- den“ nun der Frieden in der Tschechoslowakei ruhe. In den folgenden Tagen werden die Nachrichten beruhigend. Noch einmal betont ein Kommentar von Wolfgang Strehle Am Pranger steht Bonn,50 aber man kann auch schon aus einem Moskauer Korrespondentenbericht erfahren: Die CSSR- Bevölkerung bewahrt Ruhe.51 Abermals ist die Konstellation der Titelseite bemerkenswert. Es wird das „Kon- sument“-Warenhaus in Leipzig gezeigt, ein augenfälliger Beleg für die Überlegenheit der sozialistischen Wirtschaftsordnung, und die Hochschulreform in der DDR wird ange- kündigt mit einer Loyalitätsadresse „der ver antwortlichen staatlichen Leiter der Techni- schen Universität Dresden“52. Es folgen dann auf der nächsten Seite die Loyalitätsadres- sen der Völker der sozialistischen Länder in aller Welt von Bulgarien bis Uruguay, und man registriert spöttisch: Panik und Wut bei Bonner Inspiratoren. Wüste antikommunis-

45 Sächsische Zeitung, 22.August 1968, S. 2. 46 Ebd., S. 3. 47 Ebd. 48 Ebd., S. 4. 49 Ebd., S. 5. 50 Sächsische Zeitung, 23. August 1968, S. 1. 51 Ebd. 52 Ebd.

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tische Hetze der westdeutschen Regierungspresse – und zusätzlich mit gelassener Ruhe die Meldung Prawda weist Bonn in die Schranken.53 – Die Sächsische Zeitung baut das Thema weiter aus, beleuchtet es von allen der Staatsführung genehmen Seiten und beginnt mit der Veröffentlichung über die Zustimmung in der ČSSR: CSSR-Bürger er kennen Pläne der Reaktion lautet eine Überschrift.54 Das Wechselspiel von gelenkter Meinungsäuße- rung, Korrespondentenbericht, staatlicher Verlautbarung, Kommentar, gelegentlichen Karikaturen und Reportage prägt das mediale Bild der Presse in der Diktatur. Jetzt wird auch Greuelpropaganda mit Schockfotos aus Kriegsschauplätzen wie Vietnam, in denen nach Lesart der Sächsischen Zeitung die Freiheit gegen den westlichen Imperialismus ver- teidigt wird, aufgenommen, verbunden mit der Schlagzeile: Mord an Kommunisten;55 so habe es die Reaktion 1968 in der ČSSR geplant. Die kontinuierliche Entlarvung des Klassenfeindes geschieht durch Abdruck von Dokumenten (deren Authentizität freilich nirgends beglaubigt ist). Erst spät wird die heikle Kontinuität angesprochen, die immer- hin den geplanten Einmarsch von DDR-Truppen in der ČSSR verhindert hatte. Am 30. August 1968 veröffentlicht Dr. Horst Schneider einen Artikel mit zwei Bildern Münchner Abkommen führte zum Krieg. 1968 ist nicht 1938.56 Und auch die Folgerung wird noch einmal betont: Bürger unseres Bezirkes bekunden: Jetzt erst Recht. Alles für unsere Republik.57 Relativ schnell tritt das Thema dann zurück. Die Linie der Zeitung ist klar. Sie wird in einer Überschrift des Beitrags vom 3. September 1968 bündig zusammen - gefasst: Normalisierung in der CSSR geht weiter.58 Und schon am Folgetag, dem 4. Sep- tember 1968: Wachsende Aktivität für Ruhe und Sicherheit 59 – und das trotz illegaler kon- terrevolutionärer Hetzblätter in Prag. Die Bevölkerung der DDR blieb jedoch keineswegs so ‚ruhig‘, wie sich dies Partei und Regierung wünschten. Am 16. Februar 1969 ist der Tagebuchschreiber Hartmut Zwahr im Rückblick überzeugt, dass die Mächtigen in der DDR zu Recht über die Prager Ereignisse beunruhigt waren: „Weil bei uns so viele für euch waren, mußten unsre marschieren.“60 Unmut regte sich allenthalben im Land. Unmittelbar nach der Besetzung der ČSSR hatte Volker Braun, ein in Dresden geborener Schriftsteller, der 1965 nach Berlin um- gesiedelt und Mitglied einer Gruppe war, die sich etwas selbstironisch gelegentlich als ‚Sächsische Dichterschule‘ benannte, ein Soldatenlied verfasst:61

53 Ebd., S. 5. 54 Sächsische Zeitung, 27. August 1968, S. 1. 55 Ebd., S. 6. 56 Sächsische Zeitung, 30. August 1968, Beilage „Wir“, S. 2. 57 Sächsische Zeitung, 31. August 1968, S. 3. 58 Sächsische Zeitung, 3. September 1968, S. 1. 59 Sächsische Zeitung, 4. September 1968, S. 1. 60 Zwahr, Flügel der Schwalbe (wie Anm. 25), S. 253 (16. Februar 1969).

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Wir ziehen in den Böhmerwald Mit Kugeln im Tornister Und tränken lieber euer Bier, Mit euch, liebe Geschwister.

Saloppe Verse, die in der Umgangssprache der Leute aus dem Volk die offizielle Phra- seologie sozialistischer Brüderlichkeit mit der Realität eines ‚geschwisterlichen‘ Um- gangs kontrastieren,62 das Stereotyp vom guten tschechischen Bier nutzen und die Absurdität der Verwandlung von ‚Brüdern‘ in Soldaten aufzeigen: „Zirkus ist reine Logik dagegen“ lautet der Schlussvers bei Braun.63 Junge Leute provozierten auch öffentlich, und sie wurden dafür verfolgt. Im „Zentrum von Plauen“ stellte sich der Schüler Gerald Zschorsch „mit einer Gitarre“ hin und trug „selbstverfaßte Lieder“ vor. Er wurde aufgrund des Vortrags seiner Gedichte, den er nicht aufgeben wollte, ins „Zuchthaus Cottbus“ interniert.64 Ein Abiturient aus Schneeberg, Thomas Günther, hatte auf einem Literaturabend mit Gleichgesinnten die Verse rezitiert, die sich am Anfang von Bertolt Brechts Drama Schweyk im Zweiten Weltkrieg finden:65

Am Grunde der Moldau wandern die Steine, es liegen drei Kaiser begraben in Prag. Das Grosse bleibt gross nicht und klein nicht das Kleine. Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.

Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne der Mächtigen kommen am Ende zum Halt. Und gehen sie einher auch wie blutige Hähne, es wechseln die Zeiten, da hilft kein Gewalt.

61 Volker Braun: Soldatenlied. In: Ders.: Texte in zeitlicher Folge. Bd. 3. Halle/Leipzig 1990, S. 106. 62 Vgl. den bei Zwahr überlieferten Spott: Zwahr, Flügel der Schwalbe (wie Anm. 25), S. 75 (20. Juli 1968). 63 Braun, Soldatenlied (wie Anm. 61), S. 106. – Das Kennwort ‚Zirkus‘ taucht auch in dem Prosaband Die Bühne von Volker Braun auf: „Meldungen, von denen gut ein Drittel wahr sein konnte, ich ließ den Zirkus über mich ergehen.“ Braun: Die Bühne. In: Ders.: Texte. Bd. 3, S. 19. – Weiteres zu dem späteren großen, mit Pathos anklagenden Gedicht Prag vgl. Walter Schmitz/Annette Teufel/Ludger Udolph/Klaus Walther: Böhmen am Meer. Literatur im Herzen Europas. Chemnitz: Chemnitzer Verlag 1997, S. 183 sowie in meiner Studie: 1968 in der DDR (wie Anm. 6), S. 50f. 64 Zschorsch, Interview (wie Anm. 39), S. 199. – Im Jahr 1974 wurde Gerald Zschorch ausgebürgert und von der BRD aus dem Gefängnis freigekauft. 65 Vgl. Lindner, Enttäuschte Hoffnungen (wie Anm. 36), S. 127; laut Bernd-Lutz Lange, Mauer, Jeans und Prager Frühling (wie Anm. 5), S. 337 seien diese Verse „wie eine Weissagung“ zu lesen. Zu dem ebenfalls zu Gefängnis verurteilten Bernd Eisenfeld vgl. wiederum Lindner, ebd.; eine weitere Fallstudie bietet Michael Hofmann: Das Ende des Eigen-Sinns. Leipziger Metallarbeiter und die Ereignisse des Jahres 1968. In: 1968 – Ein europäisches Jahr. Hg. v. Etienne François u.a. Leipzig: Universitätsverlag 1997, S. 89–94.

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Ein Jahr nach dem Einmarsch wurde Thomas Günther zu 27 Jahren Haft verurteilt, da er Mitglied einer staatsfeindlichen Gruppe sei. – Reiner Kunze schaltet in sein 1976 – in der nächsten Repressionswelle – erschienenes Buch Die wunderbaren Jahre, Prosaminia- turen, die genau die Situation der Jugend in der Diktatur offenlegen, auch einen Text Handschellen ein, den Bericht eines Jugendlichen, der Flugblätter gegen die Okkupation verbreitet hatte: „Das Urteil lautete auf eineinhalb Jahre Jugend gefängnis. Das ist nicht Werkhof, sondern schärfer. Aber in der Begründung hieß es, das Gericht habe mein Alter berücksichtigt und deshalb sei die Strafe so mild ausgefallen. Ich war 15.“66 Der Bruch zwischen den Generationen, dessen Entstehen Kunzes Prosastücke sorgsam nach- zeichnen, wird sich als unheilbar erweisen.67 – Kunze hatte 1968 schon Publikationsver- bot und stand unter Beobachtung. Seine Frau Elisabeth Littnerová stammte aus der Tschechoslowakei. Kunze hatte beste Verbindungen zu den Autoren, die dort missliebig waren, Vertreter einer tschechischen Moderne, die sich dem Diktat des ‚sozialistischen Realismus‘ nicht fügen wollte, Jan Skácel etwa oder Ludvík Vaculík; und er schließt denn auch an die Skizzen aus dem Alltag der DDR-Literatur in den Wunderbaren Jahren kurze Porträts der verfolgten Prager Schriftsteller an, die zum ‚Prager Frühling‘ auf ihre Weise beitrugen, Gegenbilder der Poesie zur Repression, jetzt und künftig, schufen: Jan Skácel, Ludvik Kundera, auch der Dichter und bildende Künstler Jiří Kolář, Oldřich Mikulášek, Antonín Bartušek.68 Nach dem Einmarsch zeigte sich dann, dass zum ‚Wun- derbaren‘ dieser Jahre auch erstaunliche Gesten im DDR-Alltag gehörten, daß es unter nahen und fernen Bekannten der Kunzes am Wohnort in der DDR viel Loyalität mit dem Nachbarvolk, das seine Freiheit gewollt hatte, gab; Reiner Kunze notiert:69

HINTER DER FRONT

Am Morgen des 22. August 1968 wäre meine Frau beinahe gestürzt. Vor der Woh- nungstür lag ein Strauß Gladiolen. In der Nachbarschaft wohnte ein Ehepaar, das einen Garten besaß und manchmal Blumen brachte. „Wahrscheinlich haben sie gestern Abend nicht mehr stören wollen“, sagte meine Frau. Am Nachmittag kam sie mit drei Sträußen im Arm. „Das ist nur ein Teil“, sagte sie. Sie waren in der Klinik, in der meine Frau arbeitet, für sie abgegeben worden, und außer ihr selbst hatte sich niemand darüber gewundert. Es sei doch bekannt, dass sie aus der Tschechoslowakei sei.

66 Reiner Kunze: Die wunderbaren Jahre. Frankfurt a. Main: Fischer 1976, S. 99. 67 Dazu Michae Haase: Prag1968 im Spiegel der west- und ostdeutschen Literatur. In: Mitteleuropa. Kontakte und Kon- troversen. Hg. v. Ingeborg Fiala-Fürst/Jürgen Joachimsthaler/Walter Schmitz. Dresden: elem [i.V.], S. 329–343, neben Kunze besonders auch der Hinweis auf omas Brasch, S. 338. 68 Vgl. Kunze, Die wunderbaren Jahre (wie Anm. 66), S. 110–118. 69 Reiner Kunze: Hinter der Front. In: Ders.: Die wunderbaren Jahre (wie Anm. 66), S. 87.

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Agitatorisches hat Reiner Kunze nicht geschrieben, doch seine poetische Antwort fin- den wir in den Versen aus Wie die Dinge aus Ton:70

WIE DIE DINGE AUS TON

1 Wir wollen sein, wie die Dinge aus Ton Dasein für jene, die morgens um fünf ihren kaffee trinken in der küche

Zu den einfachen tischen gehören

Wir wollen sein wie die dinge aus ton, gemacht

aus erde vom acker

Auch, dass niemand mit uns töten kann

Wir wollen sein wie die dinge aus ton

inmitten soviel rollenden stahls

2 Wir werden sein wie die Scherben der dinge aus ton: nie mehr ein ganzes vielleicht ein aufleuchten im wind

70 Reiner Kunze: Wie die Dinge aus Ton. In: Zimmerlautstärke. Frankfurt a. Main: Fischer 1973, S. 27; Utz Rachowski zitiert dieses Gedicht in seinen Erinnerungen über Reiner Kunze, vgl. Rachowski, Der Sinngeber (wie Anm. 38); vgl. auch Heiner Feldkamp: Poesie als Dialog. Grundlinien im Werk Reiner Kunzes. Regensburg: S. Roderer 1994, S. 120f.

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Aus Ton hat, dem Bericht der Bibel zufolge, Gott den ersten Menschen, Adam, ge- formt. Zerbrechlich sind die Menschen; beim Zusammenstoß mit rollendem Stahl zerbrechen sie. Nach dieser Zerstörung werden sie niemals mehr sein wie früher. Die rollenden Panzer, so durften es die Leser verstehen, hatten im Innersten der Menschen selbst ihr Zerstörungswerk getan. Doch immerhin ist dem Gedicht ein Satz aus einem Brief von Jan Skácel vom Februar 1970 vorangestellt: „Aber ich klebe meine hälften zusammen wie ein zerschlagener topf aus ton.“ Und doch verweisen im Gedicht die Scherben auf ‚ein Ganzes‘, das vielleicht wieder möglich wäre; vorläufig bleibt es beim ‚Aufleuchten im Wind‘, einem schnell verwehten Licht, einem ‚Vorschein‘ der Utopie, die in der Zukunft wartet. Ernst Bloch, in den 1950er Jahren noch Hochschullehrer in Leipzig, hatte diese Hoffnung auf das Utopische in die triste DDR-Wirklichkeit gestellt;71 Reiner Kunze wird sie immer wieder, trotz weiter drohender Verletzung durch die ‚Scherben‘ nach einem Bruch im Innern des Menschen, dem Gedicht an- vertrauen.72 Es gab durchaus DDR-Bürger, die „den Einmarsch gut f[a]nden, weil diese Truppen den Sozialismus und den Frieden gerettet haben.“73 Doch die Intellektuellen protes- tierten, und sie waren sich bewusst, dass sie damit einen Gefängnisaufenthalt riskier- ten. Wolf Biermann versteckte sich denn auch vorsorglich in Dresden bei Freunden. Ein Ort, den das Ministerium für Staatssicherheit sehr argwöhnisch betrachtete, war das Literatur-Institut Johannes R. Becher in Leipzig. Siegmar Faust, der damals dort einer der Stipendiaten war, hat die Situation nach der Niederschlagung der Reformen in Prag geschildert:74

Unter dem aufblühen und vielmehr noch unter den folgen des PRAGER FRÜHLINGS veränderten sich ab 1968 für viele, besonders für künstlerisch ambitionierte bürger der Deutschen Demo... die biografien. Wolf Biermann bangte in diesen tagen um sein leben und versteckte sich; Reiner Kunze trat demonstrativ aus der SED aus; Bettina Wegner, Sandra Weigel, Thomas Brasch, Florian und Frank Havemann und an anderer Stelle Gerald Zschorsch verteilten flugblätter gegen den einmarsch der Warschauer pakttruppen in die CSSR und wurden prompt verhaftet. Auch das reifer gewordene Wunderkind

71 Vgl. Zum Utopiebegriff in der DDR vgl. Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. 2. Band. Berlin: Aufbau Verlag 1955. Die Lichtmetapher ist eben ‚Vorschein‘, in der sich das ‚Licht‘ der Erkenntnis und der Aufklärung und der ‚Schein‘ des Schönen überlagern. 72 So 1978 in dem Credo an einem guten Morgen, das unter ein Motto von Jan Skácel gestellt ist; vgl. Reiner Kunze: Auf eine eigene Hoffnung. Frankfurt a. Main: Fischer 1981, S. 75. 73 Friedrich Schorlemmer: „Das Land ist still. Noch.“ Meine Erinnerungen an 1968. In: Ders.: Wohl dem, der Hei- mat hat. Berlin: Aufbau 2009, S. 146–159, hier S. 154. 74 Siegmar Faust: Erstes stadium. In: Ders.: Ich will hier raus. Berlin: Klaus Guhl 1983, S. 15f.

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der deutschen Lyrik, Andreas Reimann, geriet während dieser zeit in die fänge des ministeriums für staatssicherheit. Andere, wie privilegierte studenten des In stituts für Literatur ‚Johannes R. Becher‘ in Leipzig: Heide Härtl, Gerti Tetz- ner, Klaus Bourguin, Paul Gratzik, Gert Neumann, Odwin Quast, Martin Stade und ich fielen einer lagebedingten säuberungswelle zum opfer. Trotzdem setzten sich die meisten der aufgezählten dennoch als schriftsteller durch, teils nur im westen. Der bruch mit dem SED-regime war für die meisten perfekt, doch einige, ich eingeschlossen, glaubten noch immer, trotz parteiausschluß, daß nach den lehren von Marx und Engels ein sozialismus ‚mit menschlichem antlitz‘ möglich sei.

Siegmar Faust selbst allerdings ist damit auf der Bahn des Dissidenten und ihm wird schließlich, nach weiteren Akten des Widerstand und einer Gefängnisstrafe, 1976 die Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland gestattet. Die Staatssicherheit spähte alles Verdächtige aus und hielt es in umfangreichen Protokollen fest. Die Machthaber griffen hart durch. Die wachsende ideolo- gische Intoleranz dokumentiert sich auch in schroffer Symbolpolitik – etwa der rabiat durchgesetzten Sprengung der Universitätskirche Leipzig am 30. Mai 1968.75 Ebenso aber kam es zu strukturellen Maßnahmen, vor allem zu einer Hoch- schulreform, die von kritischen Universitätsangehörigen als Hochschuldiszi- plinierung begriffen wurde. Immerhin hatte auch ein großer Teil der Leipziger Uni versitätsangehörigen während der Sommermonate bis zum Einmarsch die Tschechoslowakei besucht. Wenn, wie Hartmut Zwahr meint, die „Hinwendung zur tschechoslowakischen Alternative“ ebenfalls „an den Universitäten der DDR“ begonnen hatte,76 so fassten viele – und wohl zu Recht77 – die radikale Um ge - staltung des Universitätswesens nach sowjetischem Vorbild als Antwort des Regi- mes auf.

75 Vgl. Katrin Löffler: Die Zerstörung. Dokumente und Erinnerungen zum Fall der Universitätskirche Leipzig. Leipzig: Benno 1993. 76 Hartmut Zwahr: Rok šedesátý osmý. Das Jahr 1968. Zeitgenössische Texte und Kommentar. In: 1968 – ein europäisches Jahr (wie Anm. 65), S. 111–123, hier S. 115; Zwahr führt zur Begründung seiner ese vor allem an, an den Universitäten seien die Sprachbarrieren leichter zu überwinden gewesen. Vgl. die bei Zwahr zitierten Dokumente, ebd., S. 114f. – In der ‚Hauptstadt der DDR‘, Berlin entstanden, aber den Blick auf das Leipziger Universitätsmilieu lenkend, erscheint 1988 von Christoph Hein der Roman Der Tangospieler, vgl. dazu meine Studie: 1968 in der DDR (wie Anm. 6), S. 60ff.; außerdem Haase, Prag 1968 (wie Anm. 67), S. 341. 77 Auch wenn Middell in der Fixierung der Hochschulreform auf das Jahr 1968 „teilweise eine nachträgliche [] Korrelation mit den symbolischen Daten West- und Ostmitteleuropas“ erblickt, so ändert die lange Vorberei- tungszeit nichts an der faktischen Koinzidenz der Durchführung. Matthias Middell: 1968 in der DDR. Das Bei- spiel der Hochschulreform. In: Ebd., S. 125–146, hier S. 135.

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Der Bruch mit dem ‚Dritten Reich‘ hatte auch einen Bruch mit dessen Sprache, der – von Viktor Klemperer in einem berühmten Buch so benannten und beschriebenen – Lingua tertii imperii bedeutet. Jenes Vertrauen in die Sprache aber, das konstitutiv für die frühe DDR-Kultur gewesen war,78 wurde spätestens 1968 irreparabel erschüttert. „Sonntag-Ausgabe des Neuen Deutschland. Faschistische Redeweise. LTI reinsten Was- sers“, notiert Hartmut Zwahr,79 der nicht ahnen konnte, dass Klemperer selbst sich bereits aus seinen Erfahrungen in der frühen DDR Notizen zu einem Folgeband Lingua quartae imperii gemacht hatte. Der Historiker als Zeitzeuge erkennt jenes Zentrum der Erfahrung, von dem her sich auch künftig literarisch-politische Zweifel und Nachfragen bestimmen lassen werden, die Verselbständigung der Phrase: „Sie wüten hier in Worten wie die Faschisten“;80 „Phrasen und Ideologie“ behaupten das Feld; „Wort und Tat fallen auseinander“;81 „alle Großtaten, alle großen Worte und Traditionen werden zu Schaum.“82 – Zwahr ist keineswegs ein Kritiker der sozialistischen Ideale; doch sie wer- den verraten: „Die Worte“ nehmen „einen neuen Inhalt“ an, doch eben dies wird ver- schwiegen, so kommt es zu einer bloß „verbale[n] Demokratie“.83 Zwahr wünscht sich keineswegs „westliche Verhältnisse“, doch er fordert einen Sozialismus der Wahrheit: „eine sozialistische Politik zur Erhaltung der DDR [...]. Wir müssen Bedingungen schaf- fen, daß sich das Wort nicht zur Phrase verwandelt, die proklamierte sozialistische Men- schengemeinschaft auch zu einer solchen werden kann.“84 Was als Erkundungen einer Utopie literarisch formuliert wird, drängt auch in den politischen Raum. Pragmatisch konstatiert Zwahr: „Die politischen Rückwirkungen werden nicht ausbleiben [...]. Die Staaten, die nachfolgen werden, haben ein Beispiel. Die Konturen des demokratischen Sozialismus sind nicht verschwunden [...]. Die Zeit ist für die Reformer.“85 „Ich denke immer noch an das, was in der ČSSR war, und andere haben es auch nicht vergessen“,86 notiert Hartmut Zwahr mehr als ein Jahr nach der Okkupation in seinem Tagebuch.

78 Vgl. meine Studie: Johannes R. Becher – der ‚klassische Nationalautor‘ der DDR. In: Literatur in der Diktatur: Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus. Hg. v. Günther Rüther. Paderborn [u.a.]: Schöningh 1997, S. 303–342, hier S. 324f. 79 Zwahr, Flügel der Schwalbe (wie Anm. 25), S. 130 (25. August 1968). Vgl. ebd., S. 296 (21. Oktober 1969). – Analoge Zeugnisse wären aus dem vogtländischen Kreis junger Intellektueller um Jürgen Fuchs anzuführen, vgl. Holger Ehrhardt: Unbehagen. Exilerfahrungen im Werk von Jürgen Fuchs. In: Deutsch-deutsches Literaturexil (wie Anm. 40), S. 426–436, bes. S. 426f. 80 Zwahr, Flügel der Schwalbe (wie Anm. 25), S. 125 (23. August 1968). 81 Ebd., S. 22 (23. März 1968). 82 Ebd., S. 234 (21. Januar 1969). 83 Ebd., S. 47 (7. April 1968). 84 Ebd., S. 22 (23. März 1968). 85 Ebd., S. 136 (27. August 1968). – Braun konnte für den Alltag der DDR-Wirtschaft höchst aufschlussreiches Material, das ihm Rudolf Bahro überließ, verwenden; vgl. Guntolf Herzberg/Kurt Seifert: Rudolf Bahro – Glaube an das Veränderbare. Eine Biographie. Berlin: Links 2002, S. 104. 86 Zwahr, Flügel der Schwalbe (wie Anm. 25), S. 296 (21. Oktober 1969).

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II. Vertreibung/Aussiedlung 1945 – Erinnerung nach 1989

In der deutsch-tschechischen Beziehungsgeschichte ist die tiefe Enttäuschung, die auch viele Deutsche, besonders aber Bürger der DDR, bei der Niederschlagung der Prager Reformen erlitten, doch eng verschränkt mit einem tiefer liegenden Trauma, das eben dreißig Jahre zuvor im Jahr 1938 seinen Anfang genommen hatte; eine öffentliche – und in den jeweiligen Öffentlichkeiten kontroverse – Erinnerungs - debatte war in der Tschechoslowakei und dem ehemaligen DDR-Gebiet erst nach dem Ende der kommunistischen Diktatur möglich; doch hatte man im tschechischen Samisdat das Thema bereits gegen die Parteilinie aufgenommen.87 Dieses Trauma ist die Besetzung der damaligen demokratischen Tschechoslowakei durch die Truppen Nazi-Deutschlands, die Kollaboration von Teilen der dortigen ‚sudetendeutschen‘ Bevölkerung mit den von ihnen als Befreiern herbeigesehnten Okkupanten und die Aussiedlung – ‚odsun‘ wie es tschechisch heißt, oder die Vertreibung, wie man es im Deutschen nennt – der Sudetendeutschen aus ihren Siedlungsgebieten nach 1945. Die Verbände der Heimatvertriebenen spielen ihre politische Rolle in dem westdeut- schen Teilstaat, der Bundesrepublik Deutschland. Aber sie werden auch in der DDR benötigt. Eine der denunziatorischen Bildkombinationen, die die Sächsische Zeitung zur Rechtfertigung des bewaffneten Eingreifens 1968 ihren Lesern vorlegt, will die wahren Aggressoren weltweit entlarven. Es sind nicht die friedliebenden Brüdervölker des Sowjetimperiums, es sind die Staaten des Westens. Präsentiert wird ein Bild, das die sadistische Quälerei „junger Vietnamesen, die für Freiheit und Unabhängigkeit ihrer Heimat kämpfen“, zeigt – und darunter zugeordnet „dieselben ehemaligen Nazis, die 1938/39 die damalige CSR okkupierten und zerstückelten“: „das Revan- chistentreffen der ‚Egerländer‘ am 25. August 1968“.88 Als nach der Samtenen Revolution im Jahre 1989 die Kommunistische Parteienherr- schaft beendet war, und eine demokratische Tschechoslowakei wieder erstand, mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Untergang der ersten Republik im Jahr 1939 mit der Besetzung durch die Nationalsozialisten, – da war die Erinnerung an den ‚Prager Frühling‘ verblasst. Der damalige Protagonist Alexander Dubček spielte keine politi- sche Rolle mehr. Die Dissidenten der Charta 77 um Václav Havel hatten nicht mehr an eine Reform des Kommunismus geglaubt. Sie suchten nach 1989 keine historische Kontinuität zum ‚Prager Frühling‘.

87 Vgl. einleitend dazu Jan Křen: Zum Buch von Dr. Václav Kural Konflikt anstatt Gemeinschaft. In: Václav Kural: Konflikt ansatt Gemeinschaft. Tschechen und Deutsche im Tschechoslowakischen Staat (1918–1938). Prag: Institut für internationale Beziehungen Prag 2001, S. 7. 88 Sächsische Zeitung, 30. August 1968, Beilage „Wir“, S. 2.

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Jenes frühere traumatische Datum, das Jahr 1945, indessen wird jetzt erst zum Anlass für Erinnerungskontroversen. Mit dem Zusammenbruch des ‚Dritten Reiches‘ war auch die NS-Politik gegenüber den Tschechen beendet. Die Machthaber in Berlin hatten die tschechische Bevölkerung entweder aussiedeln wollen und das bedeutete im ‚Dritten Reich‘ letztlich dann die Ermordung in einem der Vernichtungslager im Osten, in Auschwitz etwa, Belzec oder Sobibor oder doch zumindest eine ‚Umvolkung‘, also eine Zwangsassimilation geplant. Zu einer klaren politischen Linie war es nicht gekommen, doch klar war das Ziel: Böhmen und Mähren müsse, so Heinrich Himmler, der Reichs- führer der SS 1942, in zwanzig Jahren ‚total deutsch besiedelt‘ sein.89 Die durchaus heterogen zusammengesetzte deutsche Minderheit in der Tschechoslowakei hatte sich schon seit der Jahrhundertwende als eine Einheit begriffen. Man sprach nicht mehr von den Deutschen in Nord- oder West-Böhmen, sondern man fasste die ganze Region als ‚Sudentenland‘ zusammen, und die deutsche Minderheit bezeichnete sich als ‚Sudetendeutsche‘. Ihren Wunsch, sich an einen Staat der Deutschen – etwa „Deutsch- Österreich“ – anzuschließen, hatten einflussreiche Sprecher der Sudetendeutschen schon 1919, unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Habsburger Monarchie artikuliert und beharrlich wiederholt.90 Der Einzug von Hitlers Wehrmacht Anfang Oktober 1938 wurde von vielen Mitgliedern der ‚sudetendeutschen‘ Minderheit begeistert begrüßt, freilich nicht von allen. Es gab durchaus Opposition und Widerstand, auch in Zusam- menarbeit mit dem tschechischen Widerstand; sie wurden brutal unterdrückt. „Selbst wenn man“ – so der Historiker Detlef Brandes – „die Pläne der tschechoslowakischen Exilregierung und Widerstandsbewegung zur Aussiedlung der Deutschen aus den böh- mischen Ländern (und der Slowakei) vor allem als Antwort auf die Politik der Sudeten - deutschen Partei, die Haltung der übergroßen Mehrheit der Sudetendeutschen in den Jahren 1935 bis 1938 und das Münchner Abkommen sieht, trug die Besatzungspolitik gewiss zur Zustimmung der Alliierten zur Zwangsaussiedlung und zur Verschärfung der Pläne in Bezug auf Ausmaß und Methoden der Vertreibung bei.“91 Im Jahr 1945 kam unter dem Ministerpräsidenten Edvard Beneš wieder eine tsche- chische Regierung ins Amt. Beneš, der aus dem Londoner Exil zurückgekehrt war, leitet zügig die Umsetzung (tschech. ‚Odsun‘) der deutschen Bevölkerung aus dem

89 Vgl. Detlef Brandes: Umvolkung, Umsiedlung, rassische Bestandsaufnahme. NS-„Volkstumspolitik“ in den böhmischen Ländern. München: Oldenbourg 2012, S. 33; Caitlin Murdock: Changing Places. Society, Culture, and Territory in the Saxon-Bohemian Borderlands, 1870–1946. Ann Arbor: University of Michigan Press 2010, S. 158–201. 90 Franz Sz. Horváth: Minorities into Majorities: Sudeten Geman and Transylvanian Hungarian political elites as actors of revisionism before and during the Second World War. In: Territorial Revisionism and the Allies of Ger- many in the Second World War. Goals, Expectations, Practices. Hg. v. Marina Cattaruzza/Stefan Dyroff/Dieter Langenwiesche. New York/Oxford: Berghahn 2013, S. 30–55. 91 Brandes, Umvolkung (wie Anm. 89), S. 247.

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Staatsgebiet der Tschechoslowakei ein, ein Vorgang, der von den Deutschen als Ver- treibung empfunden und auch so benannt wurde: „Zehn Dekrete, erlassen zwischen dem 8. Mai und der ersten Sitzung der Provisorischen Nationalversammlung, regelten die Rechtsverhältnisse zwischen dem Staatsvolk und der deutschen und magyarischen Minderheit.“92 Edvard Beneš wollte einen homogenen Nationalstaat erreichen. Die Aufgabe, die Staatsgrenzen und das Grenzgebiet zu sichern und von den Deutschen zu säubern „wurde am 14. Mai 1945“ der Armee übertragen, doch daneben „operierten in den Grenzgebieten sogenannte Revolutionsgarden“; „[s]elbsternannte Rächer und sogenannte Goldgräber konnten sich austoben und Beute machen“, zumindest in Nordböhmen.93 Es kam zu Gewalttaten an entwaffneten und festgenommenen deut- schen Personen, die als Nationalsozialisten oder Kollaborateure erkannt waren, oder die auch nur so bezeichnet wurden, bis zur Lynch- und Selbstjustiz und zu wilden Exekutionen.94 In den ersten Monaten nach den Dekreten wurden mindestens 120.000 bis 130.000 Personen, darunter 92% Deutsche in Gefängnissen und min- destens 500 Lagern aller Art – auch beschlagnahmten Kinosälen, Gasthäusern und Schulen – interniert. Wiederum kam es zu Ausschreitungen. Mit einem „Amnestie- gesetz“95 vom 8. Mai 1946 wurden jedoch Handlungen, die bis zum 28. Oktober 1945 begangen worden waren, straffrei gestellt, wenn sie dem Ziel gedient hätten, „zum Kampf um die Wiedererlangung der Freiheit der Tschechen und Slowaken beizutra- gen, oder auf die gerechte Vergeltung für Taten der Okkupanten oder ihrer Helfer gerichtet“ waren.96 – Berühmt wurde das ,Massaker von Aussig‘. In dem Stadtteil Schönpriesen wurden am 31. Juli 1945 nach einer Explosion des Munitionslagers die Deutschen verantwortlich gemacht. Laut einem Bericht des Innenministeriums wurden sie „geschlagen, mit Prügeln erschlagen, erschossen, mit Bajonetten nieder- gemetzelt oder in die Elbe geworfen“.97 „Es war“, so hat Peter Glotz resümiert, „of- fenbar keine einheitliche Tätergruppe: Revolutionsgarden, Rotarmisten, Svoboda- Leute, aber auch Zivilisten. Übereinstimmend wird aber gesagt, dass ‚einheimische‘ Aussiger Tschechen ihren deutschen Mitbürgern eher halfen.“98 Am 2. August schrieb

92 Peter Glotz: Die Vertreibung. Böhmen als Lehrstück. München: Ullstein 2003, S. 193. Aus der Position des Zeit- zeugen vgl. Karlheinz Filipp: Misericordia Bohemiae. Große Geschichte und kleine Leute. Dresden: Sächsische Landeszentrale für politische Bildung 2008. 93 Stefan Aust/Stephan Burgdorff: Die Flucht. Über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Bonn: Bun- deszentrale für politische Bildung 2005, S. 127. 94 In den west- und südböhmischen Gebieten, die unter der Kontrolle von Einheiten der dritten US-Armee standen, wurden größere Exzesse allerdings verhindert. 95 Glotz, Vertreibung (wie Anm. 88), S. 197. 96 Aust/Burgdorff, Die Flucht (wie Anm. 89), S. 128f. 97 Nach einem Bericht des Innenministeriums, zitiert nach Glotz, Vertreibung (wie Anm. 88), S. 222f. 98 Ebd., S. 223.

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die Zeitschrift Rudé pravo, das Organ der Kommunistischen Partei in Prag: „Der hin- terhältige Anschlag nazistischer Brandstifter in Aussig und die Berichte über das Wüten gemeiner deutscher Werwölfe erhalten ihre Antwort mit dem einmütigen zor- nigen Aufschrei unseres ganzen Volkes: ‚Raus mit den Deutschen aus unserem Land. Mit eiserner Hand werden wir unser Grenzgebiet säubern.‘“99 Der rechtliche Rahmen für die Zwangsaussiedlung wurde erst nach der Potsdamer Kon- ferenz durch ein Dekret des Präsidenten vom 2. August 1945 geschaffen. Danach verloren diejenigen Deutschen und Ungarn die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit, die „nach den Vorschriften einer fremden Besatzungsmacht die deutsche oder ungarische Staatsangehörigkeit erworben haben, und zwar rückwirkend zum Tage ihres Erwerbs“.100 Schließlich wurden am 14. Dezember 1949 die „Richtlinien zur systematischen Durch- führung der Abschiebung (des Transfers) der Deutschen“ verabschiedet.101 In diesem Jahr 1949 wurde das Lager Theresienstadt, von den Nationalsozialisten als Zwischenstation vor dem Abtransport der jüdischen Insassen in die Vernichtungslager eingerichtet, wieder in Betrieb genommen. H. G. Adler, ein überlebender früherer Häftling des Lagers Theresienstadt, hat dessen ‚Umfunktionierung‘ in seiner frühen und umfassenden Dokumentation der gesamten Lagergeschichte kommentiert:102

Die Befreiung von Theresienstadt hat das Elend an diesem Ort nicht beendet. Nein, nicht allein für die ehemaligen Gefangenen, deren Leiden mit dem Wiedergewinn der äußeren Freiheit gewiss nicht abgeschlossen war, sondern auch für neue Gefan- gene, deren Elend jetzt erst begann. In die ‚Kleine Festung‘ wurden Deutsche des Landes und reichsdeutsche Flüchtlinge eingeliefert. Bestimmt gab es unter ihnen welche, die sich während der Besatzungsjahre manches hatten zuschulden kommen lassen, aber die Mehrzahl, darunter viele Kinder und Halbwüchsige, wurden bloß eingesperrt, weil sei Deutsche waren. Nur weil sie Deutsche waren …? Der Satz klingt erschreckend bekannt; man hatte bloß das Wort ‚Juden‘ mit ‚Deutschen‘ vertauscht.

Auch ein Kinderlager hatte man eingerichtet. Dem Betreuer Přemysl Pitter gelang es, über 400 deutsche Kinder aus dem Lager zu retten. – Spätestens 1946 schon galt die ‚Umsiedlung‘ als abgeschlossen. Jetzt sollten die Grenzgebiete „durch kleine, ehr-

99 Zit. nach ebd., S. 224. 100 Aust/Burgdorff, Die Flucht (wie Anm. 89), S. 129. 101 Ebd., S. 131. Vgl. die Übersicht für das auch nach1989 gespannte Verhältnis der Vertriebenenverbände zur neuen Tschechoslowakei von Hans Henning Hahn: Wo ist ihre Heimat? In: Der Spiegel Special 2 (2002), S. 68–72; und das Kapitel Die Vertreibung. Wahre Wunder nationaler Säuberung. In: Glotz, Vertreibung (wie Anm. 88), S. 187–253. 102 Hans Günther Adler: eresienstadt 1941–1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. Geschichte. Soziologie. Psychologie. Tübingen: Mohr 1960, S. 218f.

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liche tschechische Menschen“103 neu besiedelt werden – so Klement Gottwald, der Parteiführer der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, in einer Rede in Brünn am 23. Juni 1945; im Jahr 1948 wird Gottwald in Folge des Februarumsturzes Beneš entmachten und selbst ohne Neuwahlen die Regierung übernehmen. In der jungen Bundesrepublik spielten dann die Heimatvertriebenen eine wichtige politische Rolle. Sie organisierten sich in großen Verbänden, zeitweilig in einer Partei; ein eigenes Vertriebenenministerium war für ihre Belange zuständig. In ihren jähr - lichen Zusammenkünften gedachten sie mit großem öffentlichem Aufwand der ver- lorenen Heimat. In Heimatmuseen, in Ortsgruppen der Landesverbände wurde ver- sucht, eine Kontinuität aufrecht zu erhalten durch Pflege von Brauchtum und Erinnerung. In ihren Medien bildeten sie gleichsam die verlorene Heimat virtuell neu ab mit Bildern und Geschichten. Heimatbücher erscheinen, die die Basis für die eigene Erinnerungskultur der Vertriebenen bilden. Bei den Sudetendeutschen fällt dabei auf, dass die eigene Mitverantwortung an der Zerschlagung der ersten Tschecho - slowakischen Republik ebenso wenig thematisiert wird, wie die Verbrechen des Nationalsozialismus benannt werden. Die Heimat ist eine heile Welt gewesen. Die Bedrohungen kamen von den äußeren Feinden, eben auch von den Tschechen, die diese Heimat zerstörten.104 Und die ‚Heimatvertriebenen‘ insistierten darauf, dass dieses Land, das sie verlassen mussten, ‚deutsch‘ sei und sein müsse. Ganz anders selbstverständlich die Auffassung auf der tschechischen Seite. Die Zeitschrift Im Her- zen Europas hat einen Themenschwerpunkt in der Abwehr der Ansprüche der Ver- triebenen. Die Tschechoslowakische Sozialistische Republik (ČSSR) durfte dabei auf die Unterstützung der ‚brüderlich verbundenen‘ DDR rechnen. Die DDR hatte eine Vertreibung der Deutschen aus dem Sudetenland überhaupt nicht wahrhaben wollen. Die offizielle Sprachregelung sprach von Umsiedlern, die sogleich in der DDR eine neue Heimat gefunden hätten. Literarisch wurde diese Bot- schaft etwa von Franz Fühmann verarbeitet. In seiner Erzählung Böhmen am Meer (1962) schildert er, wie die von faschistischen Ausbeutern gepeinigte arme Bevölke- rung nun endlich in Freiheit leben kann. Eine alte Prophezeiung, dass Böhmen am Meer liege, ist eine Formel der Utopie*, die sich auf Shakespeares Drama A Winter‘s Tale berufen kann. Bei Fühmann wird die Utopie Wirklichkeit. Shakespeare hat ge- dichtet, was in der DDR verwirklicht ist, und die ehemaligen Ausbeuter findet man

103 Zit. in Glotz, Vertreibung (wie Anm. 88), S. 234. – Zum Stereotyp des ‚kleinen Volkes‘ der Tschechen vgl. Ludger Udolph: Die Tschechen: KLEIN und groß. In: Konzeptualisierung und Status kleiner Kulturen. Beiträge zur gleichnamigen Konferenz in Dresden vom 3. bis 6. März 2008. Hg. v. Christian Prunitsch. München, Berlin: Otto Sagner 2009, S. 135–144. 104 Vgl. Jutta Faehndrich: Eine endliche Geschichte. Die Heimatbücher der deutschen Vertriebenen. Köln: Böhlau 2011.

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dagegen in Westdeutschland als Kriegshetzer wieder. Soweit Fühmanns Erzählung. Sie steht vereinzelt. Für gewöhnlich war Erinnerung an 1945 in der DDR uner- wünscht. 1989 ändert sich dieses Bild. Es wird möglich, was vorher verboten war. Nun erscheinen freilich Bücher, die mit den Werken der Vertriebenen nicht mehr viel gemeinsam hatten. Allerdings war im Bewusstsein und Urteil der sächsischen Bevölkerung die Vertrei- bung im neuen Jahrtausend ein vergessenes Thema. Auch in Westdeutschland ver- schwand das Thema allmählich aus der öffentlichen Meinung und damit auch aus den Umfragen. Es kehrte jedoch im Umfeld der Debatte um den EU-Beitritt Tsche- chiens und die Diskussion um den Bau eines ‚Zentrums gegen Vertreibungen‘ in Berlin noch einmal zurück, schnellte im Jahr 2004 geradezu in die Höhe.105 Doch in Sachsen blieb das Interesse vergleichsweise gering; das Bedürfnis, eine Einstellung zur Vertreibung zu äußern, war auffällig niedrig. 52% unter den Vertriebenen selbst hatten keine Meinung dazu, ob die Vertreibung gerechtfertigt war oder nicht. 44% hielten die Vertreibung für ein durch nichts zu rechtfertigendes Unrecht, 14% nur fanden sie, angesichts der Verbrechen der Deutschen im Weltkrieg, gerechtfertigt. Bei den Nichtbetroffenen neigte knapp die Hälfte der Befragten (48%) zu der Auffassung, die Vertreibung sei nicht zu rechtfertigen oder tendierte doch dazu, aber immerhin 30% erklärten, dass nach ihrer Meinung die Vertreibung durchaus gerechtfertigt war. In der damals aktuellen Frage der Entschädigung für Vertriebene, die die sogenannte Preußische Treuhand an den polnischen Staat erheben wollte, was großes Medien - interesse fand, erklärte eine deutliche Mehrheit – 61% – die Forderung nach Ent- schädigung durch Polen für nicht gerechtfertigt. Ein knappes Fünftel (19%) unter- stützte hingegen die Forderung. Entsprechende Vergleichszahlen im Blick auf die sogenannten Sudetendeutschen liegen nicht vor, sie dürften aber ähnlich ausfallen. Doch noch bemerkenswerter ist das Gesamtresultat der Frage nach der Bedeutung dieses Themas in Sachsen. Danach würden drei Viertel „einen Schlussstrich unter das Thema ziehen“. Und zwar überraschenderweise auch ältere Personen, von denen 80% zu dieser Meinung neigen. Von den Beneš-Dekreten hatte nur etwa ein Drittel gehört. Jeder siebte Sachse konnte nicht eines der Ostgebiete benennen, aus denen die Ver- triebenen stammten. Die Zahl der Vertriebenen wurde häufig maßlos unterschätzt. Wiederum, wie Weisbach und Donsbach folgern, „ein subtiler Indikator auch für das Themenbewußtsein generell.“106

105 Vgl. Wolfgang Donsbach/Kerstin Weisbach: Das vergessene ema. Vertreibung im Bewusstsein und Urteil der sächsischen Bevölkerung. In: Vertreibung in Mitteleuropa nach 1945. Anatomie einer Debatte. Hg. v. Walter Schmitz in Verbindung mit Krzysztof Ruchniewicz. Dresden: elem 2008, S. 159–174, hier S. 161f. 106 Ebd., S. 173.

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„Irgendwann später erzählte mir mein Klassenlehrer, der in der Jugend zu einem en- thusiastischen Kommunisten geworden war, daß er als kleiner Junge die Vertreibung aus Aussig erlebt habe und daß er dies als Strafe für die deutsche Verbrechen be- trachte.“ So hat der Schriftsteller Jörg Bernig seine DDR-Erfahrung als Kind aus einer ‚vertriebenen‘ Familie berichtet und erinnernd gedeutet:107

Damit befand er sich, wahrscheinlich ohne daß er es wußte, im Einklang mit der Majorität der Deutschen in Ost und West, die – offen oder unausgesprochen – die Vertreibung der Deutschen als gezahlten Preis betrachteten. Der mit Vertreibung einhergehende Verlust wurde zu einem kollektiven Opfer aller Deutschen, ohne daß jedoch die Schmerzensspur aus dem Dasein der Vertriebenen kollektive Aufnahme unter der Majorität der Deutschen gefunden hätte. Diese spezifische Erfahrung von Schmerz und Leid blieb den Betroffenen überlassen. Nicht wenige der nicht Betrof- fenen mögen zudem der Meinung gewesen seien, daß, wenn ihnen solches wider- fahren ist, die Vertriebenen wohl selbst schuld an allem gehabt hätten. Was wiederum ermöglichte, eigene Schuld und schuldhafte Verstrickungen zu minimieren. Uns so erscheint mir die Aufnahme der Vertriebenen in den alliierten Besatzungszonen weniger als Aufnahme denn als ein von Abstoßungsreflexen begleitetes Dulden.

Es formiert sich zwar – freilich erst 2011 – auch in Sachsen ein „Landesverband der Ver- triebenen und Spätaussiedler im Freistaat Sachsen/Schlesische Lausitz e.V. mit Erinne- rung und Begegnung e. V. (EUB)“, kleine Heimatstuben und Museen entstehen, doch die Literatur geht einen anderen Weg. – Im Jahr 2002 erscheint Jörg Bernigs Roman Niemandszeit. Bernig, der Germanistik und Anglistik an der Universität Leipzig studierte und als Assistenzlehrer und Lektor in Schottland und Wales tätig war, bevor er als freier Schriftsteller nach Deutschland zurückkam, hat hier keine Familiengeschichte erzählt; aber er stammt aus einer Familie, die ihren Wohnsitz in Nordböhmen, den sie seit Ge- nerationen hatte, 1945 verlor. In zwei großen Essays hat sich Bernig in den Jahren 2008 und 2011 dieser Erinnerung der Menschen, die gegen die Erinnerung der Systeme, Ver- bände und Staaten gesetzt wird, erneut zugewendet.108 – Die Roman-Erzählung von der ‚Niemandszeit‘ führt die Leser zunächst an einen Ort, den es nicht gibt, es ist der letzte Ort der Welt. „Er war in keiner ihrer Karten eingezeichnet“;109 es ist ein „Grenzort“,110 am Rand der Geschichte. An diesem im strengen Sinn utopischen Ort finden sich die-

107 Jörg Bernig: „Du bist hier nur geboren…“. In: Ders.: Der Gablonzer Glasknopf. Essays aus Mitteleuropa. Dresden. elem 2011, S. 26–36, hier S. 28. 108 Ebd. sowie Niemands Welt. Sieben Nachrichten aus Mitteleuropa. In: Ebd., S. 39–66. 109 Jörg Bernig: Niemandszeit. Stuttgart/München: DVA 2002, S. 15. 110 Ebd., S. 24.

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jenigen zusammen, die einmal Mitteleuropa ausmachten. Sie repräsentieren die verschie- denen Völker, sie repräsentieren Lebensläufe, in denen sich Kulturen begegnen, bekämp- fen, aber auch verbinden, deren Mischung und Trennung einen scheinbar unendlichen Prozess bildeten; jetzt sind sie versammelt an diesem Ort, der – wie einem Neuankömm- ling erklärt wird – eben „nicht in der Zeit sei, der sich außerhalb davon befinde oder in einer ganz anderen, jedenfalls nicht in der, aus der sie allesamt in den Ort geflohen oder gefallen oder verstoßen waren.“111 Denn der Präsident der neuen Tschechoslowakei hatte Erlasse herausgegeben; dieser Präsident Beneš verlangt, „daß Nation, Staat und Volk eins wären“;112 Tomáš And˘el aber, der wie seine Landsleute unter der deutschen Besatzung arg zu leiden hatte, vernimmt die Botschaft dieses tschechischen Nationalismus, der end- gültig Abhilfe zu schaffen verspricht; And˘el verliest – bei einer der aufgeregten Versamm- lungen „die Dekrete des Präsidenten [...], als wären es Gedichte“.113 Und er wird zum ‚Jäger‘, der die Deutschen jagt, damit sie – aufgespürt – verjagt und vertrieben werden. Der Jäger Tomáš And˘el ist der Agent der Rache. Er ist auch der todbringende Engel, denn ‚And˘el‘ heißt ja Engel; wenn er die Versteckten findet, folgt ihm die Revolutions- garde; Gewalt und Vertreibung sind deren Metier. Doch der Ort in der ‚Niemandszeit‘ bleibt ihm lange verborgen. Endlich am Ziel, als er auch dieses letzte Versteck gefunden hat, packt den ‚Jäger‘ der Zweifel an seiner bisherigen Existenz: „Er hatte den Ort erreicht, an dem er sich aus der Existenz herauslösen wollte, die er gewählt hatte, die ihm zuge- fallen war und in der er sich seit Kriegsende aufgehalten hatte.“114 Hier findet er wieder seine Liebe aus seinem früheren Leben, Theres, eine Deutsche; nicht mehr der Jäger will er sein, sondern wieder Tomáš And˘el; Theres und Tomáš wären jenes ‚deutsch-tsche- chische Liebespaar‘, das in der ‚Konfliktgemeinschaft‘, wie sie die Nachbarn seit jeher verband, für eine andere, allerdings utopische Lösung einsteht. Ihre Namen schon ver- schlüsseln eine Geschichte, die nicht mehr zusammenpassen will. Er heißt Tomáš „nach dem ersten Präsidenten. Und František. Nach dem alten Kaiser Franz-Josef.“ Sie: „The- resia. Nach der Kaiserin.“115 Zerstört wurde diese Chance einer Gemeinschaft im Guten bereits durch die Nationalsozialisten, als sie in die damalige Tschechoslowakei einmar- schierten. Damals kam es zur „Vertreibung der Eingesessenen durch die Deutschen“, Neuansiedlung unter der Besatzung; auch bei den hellsichtigen Deutschen, so bei der ‚Mutter‘, herrscht seitdem die Angst, „das alles könne auch einmal andersherum ge - schehen“116 und „daß wir alles, was wir tun, immer und immer wieder tun müssen“.117

111 Ebd., S. 19. 112 Ebd., S.16. 113 Ebd., S. 193. 114 Ebd., S. 111f. 115 Ebd., S. 93. 116 Ebd., S. 73. 117 Ebd., S. 75f.

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Es gibt keine ‚Niemandszeit‘; die Geschichte nimmt ihren falschen Lauf, die Epoche heißt: „Unzeit“.118 – In dem Ort am Ende Welt wirkt die bloße Präsenz des Jägers wie ein Katalysator. Die Verständigungsgemeinschaft der Gejagten, die sich noch ein- mal brüchig wieder hergestellt hatte, zerbricht. Jeder reagiert auf die Projektionen, die er vom anderen hat. Seine ehemaligen Kameraden erkennen in dem, der wieder Tomáš And˘el werden will, nur den Jäger und drängen ihn in seine Rolle zurück. And˘el erkennt wiederum nicht die Wandlung seiner ehemaligen Kameraden, sondern er- blickt in ihnen nur die Deserteure, von denen er allerdings zu Recht annimmt, dass sie ihn töten werden, um ihr Versteck zu retten. So führt auch dieses Vertreibungs- modell zur Logik der Vernichtung, es endet mit Mord. Die Liebe, die als utopisches Motiv mit jener Frau, die And˘els Geliebte war, nun aber ‚die Unsichtbare‘ heißt, ebenso verbunden ist wie mit der Hoffnung And˘els selbst auf eine andere Existenz, – diese Liebe findet eben keinen Raum mehr in dem, was aus Mitteleuropa geworden ist. Das Motto von Reiner Kunze, das dem Buch voran gestellt ist, notiert dies mit leiser Klage. „Nur daß am ende uns nicht reue heimsucht über nicht geliebte liebe“. Es triumphiert das neue Gesetz der Grenzen, es triumphieren die Dekrete, während die Sprache der Erzählung verlöscht. Es hätte sie wohl in der Tat nie gegeben „die Zeit der langsamen Erzählung“119 – einer Erzählung von ‚Mitteleuropa‘, einem Raum der Gemeinsamkeit mitten in Europa. Das wäre eine andere Geschichte.120 Bernig kann sie auch als Familiengeschichte erzählen. Seine Eltern mussten die ‚Hei- mat‘ in Nordböhmen verlassen. Nach 1989 geht der Sohn auf Spurensuche, entdeckt allmählich wieder einen verschollenen Raum. Niemands Welt. Sieben Nachrichten aus Mitteleuropa, so ist ein großer Essay überschrieben, in dem Jörg Bernig diesen Raum erkundet hat.121 Es ist auch ein Raum der verlorenen Sprachen. Die vielfältigen Variationen des Deutschen, die es an der Grenze gab, sind so gut wie ausgestorben, aber in den Zeugnissen, die sich erhalten haben, ist auch ein Appell an die Nach - geborenen enthalten. Die Stimmen aus einer anderen Zeit fordern uns auf, über die Zukunft einer anderen Welt in Mitteleuropa nachzudenken. Was von der mitteleuropäischen Geschichtsgemeinschaft geblieben ist, ist – wieder im Roman Niemandszeit – dem jungen Frieder übereignet, demjenigen im Roman, der nur noch mit einer versehrten Sprache und einem zerbrechenden Gedächtnis von einer zerstörten Geschichte Zeugnis geben kann. Von ihm heißt es: „[A]lles, was er gesehen hat, er wird es behalten.“122 Seine Eltern hatten den behinderten Jungen vor

118 Ebd., S. 95. 119 Ebd., S. 206. 120 Ebd., S. 155. 121 Vgl. Text im Quellenband. 122 Ebd.

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dem nationalsozialistischen Euthanasieprogramm gerettet, der Vernichtung ‚Utopias‘ durch die Revolutionsgarden entgeht er wiederum. – Frieders Sprachstörung aber er- weist sich als Signatur der mitteleuropäischen Geschichte. Nachdem diese gewaltsam beendet wurde, bleibt nur das hektische Zusammenwerfen der Worte – also die Rede des ‚behinderten‘ Frieder (in dessen Namen sich das Wort ‚Friede‘ verbirgt) –, nur das verzweifelte Aneinanderreihen aller Daten und Eindrücke; im Moment des Ver- schwindens wird dies alles so noch einmal bewahrt. Den Außenstehenden, die dieser Implosion der Geschichte unberührt beiwohnen, erscheint dies als Symptom einer Krankheit; tatsächlich spiegelt es nur die wahre Pathologie einer der Sprachlosigkeit und damit auch der Lieblosigkeit verfallenden Welt. Nicht das Leid der Vertreibung selbst ist unsagbar, wohl aber, so zeigt Jörg Bernigs Roman, hat die Vertreibung eine bisher nicht beendete Sprachlosigkeit über jene Gefilde gebracht, die früher einmal in einem Moment der Geschichte die Chance hatten, ein Verständigungsraum zu werden. Die Klage um den Verlust national definierter Heimaten setzt dem gegenüber nur symmetrisch die Rede der Vertreibung fort. Erst in jener poetischen Reflexion, die es noch einmal erlaubt, die Utopie der mitteleuropäischen Gemeinschaft der Rede und des Erzählens zu entwerfen, wird auch die Rede über die Vertreibung wieder sinnvoll. Er habe, so erläutert der Autor Jörg Bernig, für seine Erzählung sich123

eine Kunstwelt schaffen und diese Kunstwelt mit Menschen bevölkern [müssen]. Das gab mir die Möglichkeit, einen Zustand aufrecht erhaltener Absprachen zu installieren. Der größte Teil der Handlung in Niemandszeit ereignet sich am dritten September neunzehnhundertsechsundvierzig. Die Kunstwelt, der nordböhmische Ort, an dem der Roman angesiedelt ist, hört an diesem Tag auf zu existieren, wird, wie andere Orte im Grenzgebiet zu Deutschland, durch die Revolutionsgarde zer- stört und geschleift, nachdem diese Kunstwelt vom Frühsommer neunzehnhun- dertfünfundvierzig an Bestand hatte. Die Deutschen und Tschechen, die an diesem Ort angespült worden waren wie Treibgut, sie sind nicht etwa frei von Geschichte, im Gegenteil, aber gerade das versetzt sie in die Lage, noch einmal die Möglichkeit aufscheinen zu lassen, die sich immer hinter den beinahe tausend Jahren tsche- chisch-deutscher Geschichte in Böhmen verbarg, zuzeiten deutlicher sichtbar, zu- zeiten verborgen und zurückgezogen. Diese Geschichte der Möglichkeiten ist auch unsere Geschichte, die der sogenannten Nachgeborenen, und sie ist, darauf ist zu bestehen, eben nicht angetrieben von einem Vernichtungswillen, der zudem immer der anderen Nation zugeschrieben wurde. Es ist darauf zu bestehen nicht nur im Rückblick, sondern auch im Ausblick und gerade angesichts der scheinbar stets

123 Jörg Bernig: Wurzelwerk. In: Ders.: Glasknopf, S. 21–25, hier S. 23f.

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vorhandenen Gefahr, die Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen auf die Stufe des Volkstumskampfes der Vorkriegszeit zu bringen.

Das Thema ‚Vertreibung‘ ist in der tschechischen Öffentlichkeit noch immer ein heikles Thema.124 Die Beneš-Dekrete wurden bis heute nicht außer Kraft gesetzt. Deutsche Forderungen, dies zu tun, verstärkten eher den tschechischen Unwillen dazu, der sich auch aus der Furcht vor Reparations- und Rückgabeforderungen speiste. Die Rhetorik der deutschen Vertriebenenverbände konnte eine solche Sorge durchaus schüren. Noch im Präsidentschaftswahlkampf des Jahres 2013 nutzt der Kan- didat der SPOZ (Strana Práv Občanů ZEMANOVCI; Partei der Bürgerrechte), Miloš Zeman, die Ängste und die Vorbehalte gegen den mächtigen Nachbarn. Aber Kateřina Tučková hat zur Vertreibung ein Aufsehen erregendes Buch Die Vertrei- bung der Gerta Schnirch (2009) geschrieben, das sich vor allem dem ‚sogenannten Todes - marsch von Brünn nach Pohořelice‘ widmet. Sie erhielt im Jahr 2010 den Preis ‚Magnesia Litera 2010‘ (Buchklub – Preis der Leser) für dieses Buch. Und jüngere tschechische Autoren haben auch das Sudetenland neu entdeckt. Etliche von ihnen scheuen sich auch nicht mehr von ‚Sudety‘ zu sprechen und damit den politsch-historisch neutraleren Begriff ‚pohraničí‘ abzulösen. Die Sudeten, so hat die Literaturwissenschaftlerin Anne Hultsch geschrieben, etablieren sich mehr und mehr als Topos in der tschechischen Li - teratur. „Das wenige, das erhalten bleibt – in architektonischer Hinsicht setzt die end- gültige Zerstörung erst in den 70er Jahren ein – erscheint ihm [Václav Voko lek] nur noch als stiller Vorwurf.“ Auf den Dörfern „versanken die leeren Häuser vorwurfsvoll in ihre Verlassenheit und fremde Erinnerungen“.125 Und so erwächst aus dem „Gefühl des Untergangs und der Pflicht, nicht zu vergessen,“ für ihn [Václav Voko lek] „das Lebens- thema.“126 Václav Vokolek, der in Děčín aufgewachsen ist, schildert Landschaften der Erinnerung. Er beklagt, wie „aus der schönen Stadt, aus luxuriösen Relikten des Ro- mantismus geistige Peripherie wurde, eine Stadt ohne Gesicht, ohne Geschichte. Er spürt schon als Kind, daß mit den Dingen ihr Geist verloren geh[e] und alles, was an die Vergangenheit erinnert. Die Zeit, die erst den Charakter formt, bleibt stehen oder fängt neu an zu zählen.“127 Im Jahr 2004 ver öffentlicht Martin Fibiger die Erzählung Aussiger. Er ermittelt das Gefühl einer zerschlagenen literarischen Welt, die mit der zer- schlagenen nordböhmischen Landschaft korrespondiert, die von Häusern und Weg-

124 Vgl. Miroslav Kunštát: Fremd- und Feindbilder der Deutschen in der tschechischen innenpolitischen Instrumentali - sierung nach 1989. In: Die Destruktion des Dialogs. Hg. v. Dieter Bingen. Wiesbaden: Harrassowitz 2007, S. 114–128. 125 Václav Vokolek: Krajiny vzpomínek. Prag: Triáda 2000, S. 33. 126 Anne Hultsch: Leben in der Gegenwart – Vertreibung in der tschechischen Literatur. In: Vertreibung in Mittel- europa nach 1945. Anatomie einer Debatte. Hg. v. Walter Schmitz in Verbindung mit Krzysztof Ruchniewicz, Dresden: elem 2008, S. 97–124, hier S. 99f. 127 Ebd., S. 99.

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fragmenten übersäht ist. Der Text wird gleichsam selbst zur geschundenen Landschaft, so wie man in der Person des alten Aussiger gleichsam der Stadt Ústí nad Labem per- sonifiziert und gespiegelt erkennen kann. Die Erinnerung ist in der Gegenwart ange- kommen; sie könnte in eine bessere Zukunft übergehen.

Alois Nebel. Leben nach Fahrplan

Eine gute Voraussetzung dafür ist, dass allmählich auch in der Breitenkultur die Er- innerung an das lange tabuisierte Thema freier wird; Alois Nebel, der traurige Bahn- wärter im Altvatergebirge, dem nördlichen Teil der ‚sudety‘, ist Titelfigur einer graphic novel, ein Eigenbrötler, die zur Kultfigur wurde; jetzt wird er auch dem deutschen Publikum vorgestellt:128

Immer wieder sieht Alois Züge, mit denen die Deutschen 1945 heim ins Reich ge- bracht werden, gegen ihren Willen und für immer. Und er sieht noch mehr: Züge voller deutscher Soldaten, die bis hinter den Ural fahren, und solche, die nur bis Auschwitz kommen. Den gesamten Horror des 20. Jahrhunderts.

128 Stephanie Flamm: Die Welt des Alois Nebel. In: Die Zeit. 29.08.2013, S. 57f.; vgl. Jaroslav Rudiš/Jaromír 99 [Jaromír Švejdík]: Alois Nebel. Leipzig: Voland und Quist 2012 [Orig. Alois Nebel. Prag: Labyrint 2006]. 129 Zit. nach Flamm, Die Welt des Alois Nebel (wie Anm. 123). 130 Ebd.

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Geschaffen wurde die Figur von Jaroslav Rudiš und Jaromír Švejdík; Švejdík, auch bekannt als Jaromír 99, war Frontmann der New-Wave-Band ,Priessnitz‘, 1991 im Alt- vatergebirge gegründet, deren Lieder provozierend von „verschwundenen Nachbarn“ handeln, „von gebrochenen Versprechen, auch von den Scheiterhaufen, auf denen [in der Region] bis ins 18. Jahrhundert Hexen verbrannt wurden“ – kurzum, von allem, von dem man nicht spricht, das aber verdrängt weiterlebt: „Ich hatte immer das Bedürfnis, dieser Region ihre Geschichten zurückzugeben“, sagt Švejdík.129 Alois Nebel verdankt seine Existenz diesem Wunsch. Und obschon seine Geschichte nicht liebenswert und erbaulich ist, erkunden mittlerweile tschechische Touristen „die Welt des Alois Nebel“, immerhin so viele, dass die große deutsche Wochenzeitung Die Zeit einen eigenen Bericht dazu schreibt. Sie entdecken dann auch ein Sanatorium, das den Namen des Paten der aufrührerischen Band trägt: Vinzenz Prießnitz, der von 1799 bis 1851 in Gräfenberg bei Jeseník lebte, hatte um 1815 schon begonnen, Kranke mit Waschungen, Umschlägen, Wassertrinkkuren und Diät zu behandeln, so erfolg- reich, dass 1831 eine Badeanstalt errichtet und ein lebhafter, internationaler Kurbetrieb entstehen konnte. Heute findet man, nach ihm benannt, in dieser nördlichen Grenz- region, die lange zu Schlesien gehörte, „einen gigantischen Jugendstilpalast [...], neben dem der Berghof aus dem Zauberberg* wie eine Almhütte wirken würde. Drinnen hallen Schritte auf poliertem Marmor.“130 Ein Denkmal der – europäischen – Belle Epoque*, eine Hoffnung auf die Wiederbelebung der internationalen Bäderland- schaft, eine provozierende New-Wave-Band, eine melancholische Kunstfigur und der Tabubruch einer graphic novel, die Wiederkehr einer Schreckensgeschichte in der Erinnerung – und eine grenzüberschreitende Neugier: Die Region ist jedenfalls in Bewegung geraten; Überraschendes geschieht.

Glossar:

Shoah: Bezeichnung für den Völkermord an den Juden während des Nationalsozia- lismus | Warschauer Pakt: Von 1955 bis 1991 bestehender militärischer Beistandspakt zwischen den Ländern des sozialistischen sog. ‚Ostblocks‘ unter der Führung der Sowjet union | Kafka-Konferenz: internationale Tagung des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes im Jahre 1963, auf der es um den damals in der Öffentlich- keit der sogenannten Ostblock-Staaten wenig bekannten Schriftsteller Franz Kafka und das Phänomen der ‚Entfremdung‘ ging; galt später als ein Markstein des Demokratisierungsprozesses und als wichtiger Impulse für den ‚Prager Frühling‘ von 1968 | ZK: Zentralkomitee; oberstes Entscheidungsgremium kommunistischer

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Parteien | Karl-Marx-Stadt: Von 1953 bis 1990 offizielle Bezeichnung der Stadt Chemnitz | Egerländer: Bewohner einer Region im Westen Tschechiens, des Eger- landes | Potsdamer Konferenz: Vom 17. Juli bis 2. August 1945 abgehaltenes Tref- fen der drei Hauptalliierten des Zweiten Weltkriegs USA, Großbritannien und Sowjetunion nach der Beendigung der Kämpfe in Europa, zur Beratung über das weitere gemeinsame Vorgehen im besetzten Deutschland. Einer der Hauptpunkte waren die Gebietsabtretungen Deutschlands im Osten und die Übersiedlung der dortigen Deutschen Bevölkerung in die verbliebenen deutschen Besatzungszonen | Utopie: Entwurf einer fiktiven Gesellschaftsordnung | Euthanasie: Sterbehilfe; im ‚Dritten Reich‘ systematische Ermordung geistig- und körperlich behinderter Men- schen im Rahmen des nationalsozialistischen Programms der sog. ‚Rassenhygiene‘ | Zauberberg: Epochenroman von Thomas Mann aus dem Jahr 1924, der in einem Sanatorium in Davos spielt | Belle Epoque: Name für die Zeitspanne von 1880 bis zum Ersten Weltkrieg, der den damaligen Luxus und Lebensgenuss betont

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Die deutsch-tschechische Grenzregion im Kontext der deutsch-tschechischen Beziehungen nach 1989

Václav Houžvička

Die deutsch-tschechische Grenzregion im Kontext der deutsch-tschechischen Beziehungen nach 1989

Die folgende Studie, die sich mit den deutsch-tschechischen bzw. sächsisch-tsche - chischen Beziehungen nach 1989 beschäftigt, konzentriert sich auf zwei ausgewählte Problem felder, die die Entwicklung der Beziehungen beider Staaten auf grundlegende Weise beeinflussten. Der erste Aspekt beinhaltet die historische Dimension, die mit dem Untergang der Tschechoslowakei im Jahr 1938 und ihrer Wiedererrichtung im Jahr 1945 verbunden ist. Unmittelbar nach dem Fall des Eisernen Vorhangs begann eine umfangreiche, oft eine sehr emotional geführte Debatte um das Thema der ge- waltsamen Aussiedlung der ethnischen (Sudeten-)Deutschen* aus der damaligen ČSR. Heute gehört dieses Thema bereits nicht mehr zur Prioritätsagenda der höchsten Vertreter beider Staaten. Die gegenseitigen Beziehungen haben sich bedeutend beru- higt. Der vorliegende Text rekapituliert den Fortgang der Debatte bis zur Konsti - tuierung der Deutsch-tschechischen Erklärung über die gegenseitigen Beziehungen und deren künftige Entwicklung. Der zweite Aspekt, der in dieser Studie eine Rolle spielen soll, ist die vollkommen neue grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Deutschen und Tschechen nach 1989, als es zur schrittweisen Öffnung der Grenzen kam und sich institutionelle und zwischenmenschliche Beziehungen auf lokalem und regiona- lem Niveau verknüpften.

Teil 1: Mit der Freiheit kehrte auch die Vergangenheit zurück

Die schnelle Annäherung der Bundesrepublik Deutschland an die damalige Tschecho- slowakei nach dem Jahr 1989 hatte ihre Wurzeln in den achtziger Jahren des 20. Jahr- hunderts im Milieu tschechoslowakischer Dissidenten. Sie stellt das Ergebnis intensiver Diskussionen über eine mögliche Wiedervereinigung Deutschlands in einer Situation dar, als sich nach dem Antritt des sowjetischen Parteivorsitzenden Michail Gorbatschow die Möglichkeit politischer Veränderungen boten, die im ideologisch und machtpolitisch monolithischen Block kommunistischer Staaten vorher nicht denkbar waren.

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Die deutsch-tschechische Grenzregion im Kontext der deutsch-tschechischen Beziehungen nach 1989

In dem Moment, als das kommunistische Regime in der Tschechoslowakei nach der Studentendemonstration vom 17. November 1989 und der nachfolgenden ‚Samtenen Revolution‘ unerwartet schnell zusammenzubrechen begann, wurde die sogenannte Prager Erklärung im Fahrwasser der Charta 77* ausgearbeitet. Sie be inhaltete die Vision von einer Demokratisierung in Mittel- und Osteuropa. Im Text wurde fol- gendes angeführt:1

Die deutsche Frage ist seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges einer der Schlüssel zum Frieden in Europa und zur Erneuerung der europäischen Identität […]. Das kollektive Gedächtnis der heutigen Generationen ist von der langfristigen Entwicklung der deutschen Frage beeinflusst, und welche Erinnerung auch immer in den statischen Verhältnissen schlummert, sie wird in dem Moment er- wachen, in dem die Frage ins Gedächtnis gerufen wird, und sie wird beginnen sich dynamisch zu entwickeln.

Die neue tschechoslowakische Außenpolitik nahm vom ersten Moment an wahr, wie wichtig gute Beziehungen zum sich vereinigenden Deutschland seien. Außen- minister Jiří Dienstbier knüpfte programmatisch an den Standpunkt der Charta 77 von 1985 an, deren zentraler Gedanke es war, dass die Lösung beider Probleme, die der deutschen Wiedervereinigung und die Demokratisierung in Mittel- und Ost- europa, im Grunde die beiden Seiten ein und derselben Medaille waren. Das Ent- gegenkommen der Repräsentanten der neuen tschechoslowakischen Außenpolitik gegenüber dem deutschen Partner wurde gerade durch diese Meinung geformt, die lange in dem Zirkel der Dissidenten geteilt wurde, zu dem auch der tschecho- slowakische Außenminister Dienstbier gehörte. Als Symbol des fallenden Eisernen Vorhangs, der Europa (ebenso wie Deutschland) für die gesamte Zeit des Kalten Krieges in einen östlichen und einen westlichen Teil teilte, wurden die Grenzbefestigungen beseitigt und neue Grenzübergänge er- öffnet. Der Außenminister der BRD Hans Dietrich Genscher und Jiří Dienstbier durchschnitten am 23. Dezember 1989 gemeinsam den Stacheldraht des Eisernen Vorhangs im bayrischen Waidhaus. Tausende Menschen von beiden Seiten der Grenze feierten spontan die Rückkehr von Demokratie und Freiheit. Die Grenze zwischen Sachsen und den Böhmischen Ländern war während des Kalten Krieges zwar durchlässiger, die Freude über die neuen Gegebenheiten aber nicht geringer.

1 Vgl. Prager Erklärung. 11.03.1985; Jiří Dienstbier: Snění o Evropě [Träumen von Europa]. Prag: Lidové noviny 1990, S. 63; Gesamter Text der sogenannten Prager Erklärung: vgl. Česko-německé vztahy po pádu železné opony [Deutsch-tschechische Beziehungen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs], S. 53–55.

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Die deutsch-tschechische Grenzregion im Kontext der deutsch-tschechischen Beziehungen nach 1989

I. Von der Euphorie zur politischen Realität

Unmittelbar nach dem 17. November 1989 stieß die bayrische Partei CSU die Debatte um das Thema des Transfers/der Vertreibung wieder an.2 Gefordert wurde eine Ent- schuldigung (Max Streibl, 14.12.1989) für die Vertreibung der Sudetendeutschen aus der ČSR. Es schien, dass die Vergangenheit, in den sich ansonsten dynamisch ent - wickelnden Beziehungen zwischen der BRD und der ČSFR, dank der Forderungen der ‚Sudetendeutschen Landsmannschaft‘ (SL),3 die sich vor allem nach dem Treffen des Premiers der ČSFR Marián Čalfa mit dem Sprecher der SL Franz Neubauer im Dezember 1989 noch steigerten,4 abermals zu einem Problem wurde. Augenblicklich war klar, dass die Geschichte, bisher verschwiegen und vom Kalten Krieg überformt, in die deutsch-tschechischen Beziehungen zurückkehrte. In der Neuauflage der deutsch-tschechischen Beziehungen begann die historische Dimension des Problems eine zweideutige Rolle zu spielen. Viele der damaligen Landeskinder sehnten sich da- nach die Orte zu besuchen, die sie auf tragische Weise verlassen mussten, was mensch- lich verständlich war. Es war auch spürbar, dass die politische Lage mit den Interessen der Vertriebenen den Prozess der Annäherung zwischen Deutschen und Tschechen gefährdete. Die Situation wurde weiter verkompliziert, dass die sensiblen Probleme der Vergan- genheit gerade im Moment der dringend notwendigen Transformation der tschecho- slowakischen Wirtschaft (Erneuerung der Marktwirtschaft) und des politischen Sys- tems (Konstitution einer pluralistischen Demokratie) thematisiert wurden. Die tschechische Gesellschaft erwartete eine schwere Periode mit einem partikulären Absinken des Lebensstandards, politischer Instabilität und weiteren Transformations- problemen. Das Rekurrieren auf die Vergangenheit war somit nicht das primäre Pro- blem und es traf die tschechische Gesellschaft unvorbereitet.

2 Die Alliierten gaben bei der Vorbereitung der Nachkriegsordnung für Europa dem Experiment des Zusammen- lebens von Deutschen und Tschechen in der wiedererrichteten Tschechoslowakei keine Aussicht auf Erfolg. Auf der Konferenz in Potsdam im August 1945 erklärten sie, dass die deutsche Bevölkerung aus Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei auf das Gebiet Deutschlands umgesiedelt werden sollte. Ziel war es in Zukunft die Wie- derholung der tragischen ethnischen Konflikte auszuschließen. Die zeitgenössische Terminologie verwendete die englischen Ausdrücke ‚transfer of population/expulsion‘. Aktuell gebraucht man ‚Transfer‘, ‚gezwungene Aus- siedlung‘, ‚Vertreibung‘, wobei es sich um unterschiedliche Bezeichnungen einer einzigen Sache handelt. Diese Begriffe reflektieren die gegenwärtig unterschiedliche Auffassung ihres Inhaltes. 3 Grundlegende Forderung der SL war das Recht auf Rückkehr für die gesamte ethnische Gruppe und die finan- zielle Entschädigung für die erlittenen Schäden von Seiten des tschechoslowakischen Staates. Sowohl aus dem Standpunkt des internationalen Rechts, als auch aus Sicht der inneren Stabilität der Tschechoslowakei waren diese Forderungen inakzeptabel. 4 Vgl. Václav Kural: Peripetie v česko-německých vztazích [Wendepunkt in den deutsch-tschechischen Beziehun- gen]. In: Mezinárodní politika 4 (1996), S. 12–14.

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Die deutsch-tschechische Grenzregion im Kontext der deutsch-tschechischen Beziehungen nach 1989

Kurz vor Weihnachten, am 23. Dezember 1989 folgten die Worte Václav Havels, da- mals noch Bürger und mitnichten Präsident, dass „wir verpflichtet sind, uns bei den Deutschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg ausgesiedelt worden waren, zu entschul- digen. Denn es handelte sich um einen Akt der harschen Enthebung einiger Millionen Menschen von ihrer Heimat und es war eigentlich etwas Böses, das die Rache für etwas vorausgegangenes Böses war.“ Es erforderte außerordentlichen politischen Mut den Akt der Aussiedlung, dem die Mehrheit der tschechischen Bevölkerung schlicht- weg vorbehaltlos zustimmte, so zu benennen. Havels Worte riefen einen donnernden Widerhall hervor. Es erklangen neben fach- lichen auch eine Reihe hochemotionaler Meinungen aus der tschechischen Öffent- lichkeit, die mit einer beträchtlichen Mehrheit die Entschuldigung Václav Havels mit dem Argument ablehnten, dass die Vertreibung keine Rache gewesen sei, sondern ein gerechter Akt, der durch die alliierten Siegermächte legitimiert wurde.5 Havels Aussage und zu einem gewissen Maß auch die Deutsch-tschechische Erklärung von deutscher Seite zeigten, dass eine noch so gute politische Geste, die nicht einmal nach- träglich von einem breiteren gesellschaftlichen Konsens getragen wird, Probleme nicht lösen kann, sondern sie nur verlagert. Die Probleme kehren dann mit größerer Wucht in einer anderen Konstellation zurück.6 Den Standpunkt der tschechischen Gesellschaft beeinflusste langfristig die negative Rolle der ‚Sudetendeutschen Partei‘ geführt von Konrad Henlein, die in den drei- ßiger Jahren des 20. Jahrhunderts aktiv zum Ausbruch der ‚Münchner Krise‘* im Jahr 1938 und im Folgenden zum Zusammenbruch der demokratischen Tschecho- slowakei beitrug.7 In der tschechischen Gesellschaft ist infolge der historischen Erfahrungen ein latentes und Bild von den Sudetendeutschen als Instrument verankert, mit des- sen Hilfe das nationalsozialistische Deutschland die demokratische Tschecho - slowakei zerstörte. Diese tief und emotional verankerte Meinung konnte nicht einmal der intensive sudetendeutsche-tschechische Dialog, zu dem es nach 1989 kam (und an dem im Ganzen nur eine zahlenmäßig kleine Gruppe sich neu etab- lierender kultureller und politischer Eliten teilnahm) umstoßen. Die Mehrheit der tschechischen Bevölkerung blieb weiterhin davon überzeugt, dass die Sudeten -

5 Siehe z.B. der demonstrative Hungerstreik von Jan Klein auf dem Altstädter Ring (Staroměstské náměstí) in Prag im Januar1990 als Beweis der Nicht-Zustimmung zu Václav Havel. Klein revidierte später seinen Standpunkt einigermaßen und wurde zum Mitglied des Koordinierungsrates des Deutsch-tschechischen Gesprächsforums als Vorsitzender des Kreises der 1938 infolge der Angliederung der tschechoslowakischen Grenzgebiete an das Deutsche Reich aus dem Grenzgebiet vertriebenen Bürger der ČSR benannt. 6 Vgl. Petr Fiala: Evropský mezičas [Europäische Zwischenzeit]. Brno: Barrister & Principal 2010, S. 56. 7 Näheres vgl. Václav Houžvička: Návraty sudetské otázky [Rückkehr der sudetendeutschen Frage]. Prag: Karo - linum 2005.

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deutschen den Staat in einem Schicksalsmoment seiner Existenz verrieten (Mün- chen 1938), während bei der Mehrheit der Vertriebenen weiterhin das Gefühl tiefen Unrechts infolge der kompromisslose Durchsetzung des Prinzips der Kollektiv- schuld, für dessen Symbol sie die präsidialen Dekrete von Edvard Beneš ansehen, dominierte. Die Sudetendeutsche Landsmannschaft verstand Havels Äußerung aber mitnichten als ein zur Versöhnung aufrufendes Bedauern eines tragischen Schicksals von Men- schen, sondern als Eingeständnis von Schuld im rechtlichen Sinne. Von Seite der SL folgte keineswegs ein Ausdruck des guten Willens, sondern vielmehr die ultimative Forderung nach Entschädigung und der Annullierung der Dekrete (in Wirklichkeit der Entnazifizierungsgesetze der ČSR) des Präsidenten Edvard Beneš. Auf die Geste des guten Willens reagierte nicht einmal die deutsche Bundesregierung. Die traditio- nellen tschechischen Befürchtungen, die Deutschen spielten mit ihnen ein undurch- sichtiges Spiel, wurden damit geradezu bestärkt.8 Nichtsdestotrotz ist in diesem Zu- sammenhang zu betonen, dass die Bundesregierung nie irgendwelche Forderungen von eigentumsrechtlichem Charakter gegenüber dem tschechischen Staat erhob. Zum Symbol des Neuanfangs in den Beziehungen zwischen Deutschen und Tsche- chen sollte der Besuch des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 15. März 1990 in Prag werden. Zum Jahrestag des Einmarsches der Wehrmacht in die ČSR im Jahr 1939 trug der damalige deutsche Präsident die folgenden Worte vor, die die historische Spannung zwischen beiden Nationen überwinden sollten:9

Wir Deutsche wissen sehr wohl, wie wichtig es ist, bei unseren Nachbarn durch unsere Einigung keine alten oder neue Sorgen entstehen zu lassen. Wir wollen und werden ihre Empfindungen, mit denen sie unsere Entwicklung begleiten, ganz ernst nehmen […]. Mit unseren Taten und Worten wollen wir die Men- schen davon überzeugen, dass eine deutsche Einheit nicht nur demokratisch le- gitim, sondern dass sie förderlich ist für den friedlichen Geist in Europa.

Die vom deutschen Präsidenten auf der Prager Burg vorgetragenen Worte, die an Havels symbolisches Händereichen mit einer ähnlichen Geste anknüpfen sollten, wurden bald durch die Realität der deutsch-tschechischen Beziehungen korrigiert. Die neue tschechoslowakische Außenpolitik begegnete von Beginn an dem speziel-

8 Vgl. Alena Wagnerová: Nevypočitatelnosti symbolické politiky [Die Unberechenbarkeit symbolischer Politik]. In: Listy 3 (1995), S. 11. Die Besitzansprüche der sudetendeutschen Organisationen wurden nach 1989 in ge- schlossener Form unter dem Titel Gesichtspunkte zur Entschädigung der Sudetendeutschen durch die ČSFR in der Sudetendeutschen Zeitung vom 10.1.1992 publiziert. 9 Vgl. Dienstbier, Od snění k realitě (wie Anm. 1), S. 283.

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Die deutsch-tschechische Grenzregion im Kontext der deutsch-tschechischen Beziehungen nach 1989

len Faktor des bayerischen Patronats über die Vertriebenen, welches die CSU lange aktiv sowohl in der Innen-, vor allem aber in der Außenpolitik des Freistaats Bayern und der BRD durchsetzte. Präsident Havel schlug in dem Bemühen das missliche Moment der Besitzansprüche durch die Vertriebenen zu entschärfen, ein ‚Paket‘ zusammenhängender Schritte vor, die helfen sollten, die Situation in den Beziehungen zwischen BRD und ČSFR zu klären. Im Gegenzug kam es zur Befriedigung der tschechoslowakischen Verfol- gungsansprüche (Entschädigung der Opfer nationalsozialistischer Verfolgung), der Abschreibung des Saldos im Handel mit der ehemaligen DDR und einem Kredit von zwei Milliarden Mark. Unter diesen Voraussetzungen war die Tschechoslowakei bereit den Sudetendeutschen, die den Wunsch nach Rückkehr und Wiederansied- lung äußerten, die Möglichkeit zur Rückkehr zu geben. Auf Grundlage eines Antrags konnte ihnen die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft zugeteilt und zu gleichen Bedingungen die Teilnahme an der ‚Kupon-Privatisierung‘* ermöglicht werden. Die deutsche Seite sollte sich gemäß dem Vorschlag im Gegenzug definitiv von Besitzansprüchen lossagen und die Ungültigkeit des Münchner Abkommens anerkennen.10 Bundeskanzler Helmut Kohl reagierte aber nicht auf Havels Angebot. Sein Meinungslavieren und die ständige Verzögerung einer Antwort bot der baye- rischen CSU Raum. Eine grundsätzliche Wende in den deutsch-tschechischen Beziehungen sollte der Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit werden, der von Kohl und Havel am 27. Februar 1992 auf der Prager Burg unterzeichnet wurde. Integraler Bestandteil des Vertrags war der Begleitbrief identischen Wortlauts in deutscher und tschechischer Sprache, der auch folgende Deklaration enthielt: „Beide Seiten erklären übereinstimmend: Dieser Vertrag befasst sich nicht mit Ver- mögensfragen.“11 Aus der Formulierung ging hervor, dass in naher Zukunft eine weitere Runde misslicher Verhandlungen zu erwarten war.

10 Vgl. ebd. 11 In einer Diskussion, die im Föderalkongress der ČSFR dem Abschluß des tschechisch-deutschen Paktes voranging, bemerkte Ulrich Irmer (ein Mitglied des Auslandausschußes des Bundestages, FDP): „Wir konnten uns nicht einigen in der Frage der gegenseitigen Vermögensansprüche und der Ungültigkeit des Münchners Abkommens. Ich stimme den Kollegen ganz zu, die hier sagten, daß der Pakt nicht die Vermögensfragen er- wähnen soll.“ In derselben Debatte hat Christian Schmidt (Außenpolitischer Sprecher der CSU im Bundestag) angegeben: „Wenn wir die Fehler der vielen Friedensverträge, die in diesem Jahrhundert abgeschloßen wurden, vermeiden wollen, dann müssen wir willig auch die betroffenen Minderheitengruppen einschließen. Auch müssen wir Verständnis zeigen für die Anforderungen der Sudetendeutschen, damit sie kooperieren und z.B. auch die Jugend unterstützen können. Ich denke, wir sollten einige Modelle der Minderheiten in den Grenz- gebieten Europas beachten […] Ihre (gemeint ist eine deutsche Minderheit in Dänemark) Kulturautonomie – das ist das ideal Modell für Europa.“ Československo-německý dialog ve Federálním shromáždění ČSFR. 1991. Prag: ÚMV, S. 10–11.

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II. Volksdiplomatie

Das menschliche Bedürfnis der Vertriebenen eine Annäherung und die symbolische Rückkehr zu den Orten der ehemaligen Heimat zu suchen, fand ihren Weg weitaus schneller als die offizielle Politik. Zudem waren keine rechtlichen Standpunkte und keine vertraglichen Verpflichtungen eingebunden. Es eröffnete sich ein paralleler Dialog auf bürgerlichem Niveau, an dem sich sowohl Glaubensgemeinschaften als auch politische Vereine und Verbände beteiligten. Eine wichtige Rolle übernahmen dabei die ‚Gemeinde sudetendeutscher Sozialdemokraten‘, die ‚Seliger-Gemeinde‘, oder der auf den Austausch kultureller Werte12 ausgerichtete ‚Adalbert Stifter Verein‘ sowie weitere. Von sudetendeutscher Seite waren ebenso kirchliche Organisationen aktiv. Sie knüpf- ten in einigen Fällen an die Bindung zum böhmischen Raum schon vor den Ereig- nissen im November 1989, vor allem die ‚Ackermann Gemeinde‘, an. Es gibt in diesen Zusammenhang ein Dokument, dass den gemeinsamen Standpunkt der Evangelische Kirche der ‚Böhmischen Brüder‘ und der deutsche Evangelische Kirche darlegt.13 Die Stellungnahme ist ein nicht zu unterschätzendes, erstes erfolgreiches ‚Modell‘ einer konsensuellen Überwindung der konfliktträchtigen Vergangenheit zwischen Deut- schen und Tschechen. Wiederholt erklangen aus den Reihen der Vertriebenenverbände und Organisationen Meinungen, die eine Aussöhnung forderten, die vor allem von den christlichen Idea- len der Verständigung und Vergebung ausgehen sollte. In geschlossener Form wurden die Vorstellungen von Versöhnung in der gemeinsamen Erklärung tschechischer und sudetendeutscher Christen Die deutsch-tschechische Nachbarschaft muss gelingen zur Jahreswende 1991/92 herausgegeben. In dem versöhnlich stimmenden Text werden die Haltungen zu beiden grundlegenden Thesen zur sudetendeutschen Frage (Recht auf Heimat, Eigentumsrestitution) formuliert.14

Die Rückkkehr in die ČSFR würde die Verlegung des Lebensmittelpunktes in eine Umgebung bedeuten, die kaum jemand als Heimat erleben dürfte […]. Die Rück - erstattung des widerrechtlich konfiszierten Eigentums wäre wohl allenfalls in For-

12 Die Forschung belegt, dass gerade kulturelle Werte am ehesten teilbare und ausweitbare Kontakte auf Bürgerni- veau sind. 13 „Wenn wir es auch bedauern können, eine Rückkehr zu früheren Verhältnissen ist unmöglich: Was wir alle ver- loren haben, muss zu den Kriegsverlusten gezählt werden.“ Smíření mezi Čechy a Němci/Versöhnung zwischen Tschechen und Deutschen. Hg. v. der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Hannover: EKD Texte 1996, S. 36. Weitere Dokumente vgl.: Der Trennende Zaun ist abgebrochen/Rozdělující zeď je zbořena. Leipzig: Verlag GAW 1998. 14 Erklärung sudetendeutscher und tschechisches Christen zur Gestaltung der deutsch-tschechischen Nachbarschaft, München/Prag 1991/92, Absatz II.

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men und Größenordnungen zu verwirklichen, welche die jetzt aufgekommenen Hoffnungen eher enttäuschen dürften […]. Eine Vertreibung der Menschen, wel- che das Eigentum heute nutzen, kommt keinesfalls in Frage. Unter solchen Um- ständen liegt ein persönliches freiwilliges Opfer als Beitrag zu einem friedlichen Neubeginn nahe.

Der Text der Erklärung forderte unter anderem auch: „Es muss Möglich sein, den deut- schen Anteil an der Gestaltung von Kultur und Wirtschaft in unserem Land wieder in unser Geschichtsbild einzufügen (hier ist die Tschechische Republik gemeint).“15 Zur Rückkehr des deutschen Anteils an der Gestaltung der tschechischen Geschichte ist es bereits in weitem Umfang gekommen und zweifelsohne wird sich dieser Prozess fortsetzen. Ein überzeugender Beweis ist die Anzahl von Publikationen (fachliche und populäre), die nach 1989 in tschechischer Sprache veröffentlicht wurden. Im von der Aussiedlung betroffenen Grenzgebiet kommt es zur Erneuerung kleiner sakraler Denkmäler, von Friedhöfen, Kirchen, Wallfahrtsorten und weiteren Bestandteilen der ehemaligen Gestalt dieser Kulturlandschaft, die zwar mit dem Fortgang ihrer ehe- maligen Bewohner unterging, an vielen Stellen (beispielsweise in den Felsenmassiven der Sächsisch-Böhmischen Schweiz) aber deutliche Spuren hinterließ. Eine grund - legende Rolle in dieser Erneuerung spielt der ‚Deutsch-tschechische Zukunftsfonds‘*.

III. Die Suche nach einem Kompromiss

Das andauernde Zerwürfnis um den Problemkomplex, zusammenfassend und mit Vereinfachung als sudetendeutsche Frage benannt, setzte sich fort. Mitte der neunziger Jahre war bereits ersichtlich, dass auf Ebene der ‚hohen‘ Politik ein Schritt getan werden musste, der die wachsende Spannung in den bilateralen Beziehungen dämpfen könnte. Die Ergebnisse soziologischer Untersuchungen zur öffentlichen Meinung16 signali- sierten, dass es zu einer Veränderung der anfangs verhältnismäßig toleranten Einstel- lung der Bewohner der ČR zu den sudetendeutschen Forderungen kommt. Zu dieser Radikalisierung der Meinungen trugen offensichtlich das Zögern bei der Vorbereitung des Textes der gemeinsamen Erklärung und auch die Debatte selbst bei. Zusätzlich

15 Vgl. ebd. 16 Vgl. Václav Houžvička (Hg.): Reflexe sudetoněmecké otázky a postoje obyvatelstva českého pohraničí k Německu [Reflexe der sudetendeutschen Frage und Standpunkte der Bevölkerung des tschechischen Grenzgebietes nach Deutschland], Prag: Sociologický ústav Akademie věd ČR1997. Zwischen den Jahren1991 und1996 stieg der Anteil von Antworten, die den Transfer der Sudetendeutschen befürworteten,mäßig aber langanhaltend bis auf 75Prozent.

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wurden die Forderungen der Sudetendeutschen Landsmannschaft offensiver. Die all- mähliche Polarisierung der Meinungen war nicht nur in der tschechischen Öffent- lichkeit zu spüren, sondern auch bei den gesellschaftlichen Eliten in der ‚Deklara - tions-Debatte‘, die Kommentare aus der Tageszeitung Lidové noviny andeuten.17 Der Bruch in der ‚vordeklarativen‘ Etappe des deutsch-tschechischen (aber bis zu einem wesentlichen Grad vor allem inner-tschechischen) Diskurses war die Äußerung Václav Havels zu den deutsch-tschechischen Beziehungen, vorgetragen am 17. Februar 1995 im Karolinum*. Der Präsident reagierte in ihr auf den starren Standpunkt der Sudetendeutschen Landsmannschaft:18

Wir können unterschiedliche Ansichten über die Nachkriegsaussiedlung haben – meine eigene kritische Haltung ist allgemein bekannt – wir können sie jedoch nicht aus dem geschichtlichen Kontext herauslösen […]. Ich habe es ja bereits mehrmals gesagt, dass das Böse ansteckend ist und dass das Böse der Aussiedlung nur eine trau- rige Folge des ihr vorausgegangen Bösen war. Darüber, wer als erster den Geist eines tatsächlischen Nationalhasses aus der Flasche liess, kann kein Zweifel bestehen.

IV. Der Freistaat Sachsen reicht die Hand

In der Situation, als es schien, dass sich die deutsch-tschechischen Beziehungen im Kreis bewegen, aus dem es kein Entkommen gibt, schaltete sich ein besonders cha- rismatischer Politiker der CDU, der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf,

17 Stellvertretend für viele, vgl.: Dušan Třeštík: Bloudění v Teutoburském lese. In: Lidové noviny (LN) 14.6.1995; Martin C. Putna: Smiřovací jehňátka. In: Lidové noviny, 20.2.1996, S. 2. Es entwickelten sich verschiedentlich Mei- nungen über die deutsche Problematik z. B. bei Václav Bělohradský. Das Dilemma der Suche nach Identität im wie- dervereinten Deutschland und mit dem Zusammenhang mit der sich neu definierende tschechische Identität (als direkte Nachwirkung des Zerfalls der ČSFR und die Entstehung eines unabhängigen tschechischen Staates) verdeut- licht folgende Formulierung: „Wird das wiedervereinigte Deutschland zu dem außermittigen Europa gehören wollen, in das westliche, relativistische und liberale ‚demos‘ [lat.: Volk], oder wird es dem alten Dämonen unterliegen, die ihm einflüstern, daß es „Reich der Mitte“ seien soll? In dem Europeanismus ist vor allem etwas ‚ethnisches‘? Ich denke, daß die Nachbarn die Deutschen unterstützen sollten, die die westliche Orientierung ihres eigene Staates als definitiv befreiend betrachten. Uns Tschechen verhindert dies aber der Eiserne Vorhang, der zwischen uns und diesen Deutschen besteht und der den sudetendeutschen Versuch um ein Dialogmonopol aufgebaut hat.“ Václav Běloh- radský: Německo a excentrická Evropa. In: Lidové noviny, 13.7.1993. „Die Bedeutung des politischen Konzepts in der Problematik Deutschlands und das Bedürfnis der gemeinsamen Auf- sicht darüber, ist es, dass es durch Europa eine neue Trennlinie nach einem anderem Kriterium als bisher zieht. Sie teilt die Staaten auf in die die sich angeblich zu dem ethnischen Prinzip bekennen (z.B. Deutschland) und die anderen. Das ist der Motor für den faktischen Zerfall dessen, was in den letzten fast fünfzig Jahren in Europa mit gemeinsamer Arbeit aufgebaut wurde.“ Bohumil Doležal: Pohled na Němce: přísně střežit pozorovat. Mladá fronta Dnes, 12.9.1995. 18 Václav Havel: Češi a Němci na cestě k dobrému sousedství [Deutsche und Tschechen auf dem Weg zu guter Nachbarschaft]. In: Rozhovory o sousedství [Gespräche über Nachbarschaft]. Prag: Karlova univerzita 1997, S. 36.

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in die Diskussion ein und ergriff die Initiative. Seine Meinung widersprach in einigen Gesichtspunkten der bayerischen Ansicht und er zeigte einen Weg auf, wie man die Standpunkte mittels konkreter Zusammenarbeit verbinden könnte. Diese sollten die Regionen und deren soziale Gemeinschaften vernetzen. Die sächsische Initiative half die gegenseitigen Beziehungen zu lockern und ihre positive Wirkung überdauert bis in die Gegenwart. Funktional waren zum Beispiel partikuläre pragmatische Verabredungen zur Lösung konkreter Probleme in den Grenzregionen (Verkehrsinfrastruktur, Lebensbedingun- gen, Bau von Grenzübergängen, Zusammenarbeit bei der Bekämpfung illegaler Mi- gration etc.). Die Regierung des Freistaates Sachsen übernahm die Initiative und kon- zipierte eine regionale Raumentwicklung auf dem Gebiet der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit.19 Die hohe ökologische Belastung des Erzgebirges, aber auch des Elbtals, versinnbild- lichte sich in den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts im dichter werden- den LKW-Verkehr. Bis zum Bau der Autobahn A17/D8 gab es keine Verkehrsverbin- dung, die für den Schwertransport ausgelegt war. Deshalb schlug die sächsische Regierung als entgegenkommende Geste der guten Beziehungen den Transport der LKWs mit der Eisenbahn vor. Über mehrere Jahre finanzierte sie zum großen Teil den Transport der Wagen mit der ‚RO-LA‘ (Rollende Landstraße), die zwischen Dres- den und Tetschen (Děčín) in beiden Richtungen durch das Naturschutzgebiet der Sächsisch-Böhmischen Schweiz durchfuhr. Im April 1995 besuchte Präsident Václav Havel in Begleitung einer großen Delegation Dresden, wo er an der Technischen Universität den Ehrendoktortitel annahm; ver- bunden war dies mit Diskussionen mit einer Reihe von Wissenschaftlern, Akademi- kern, Organisationen von Opfern des Nationalsozialismus und weiteren Teilnehmern. Gleichzeitig fand eine feierliche Tagung der gemischten deutsch-tschechischen His- torikerkommission statt, in deren Verlauf der Präsident eine Auszeichnung entgegen- nahm. In Dresden wurde auch der Gedanke geboren, ein gemeinsames Schulbuch zur deutsch-tschechischen Geschichte auszuarbeiten und die Mehrheit der Teilnehmer einigte sich, dass innerhalb von zwei Jahren dieses Buch herausgegeben werde. Die Realisierung dieses Projekts verkomplizierte sich dann aber aus ähnlichen Gründen, mit denen die Unterhändler des Vertrages von 1992 und ebenso die Arbeitsgruppe, die mit der Vorbereitung des Textes der gemeinsamen Erklärung betraut war, kon- frontiert waren – die unterschiedliche Interpretation der historischen Ereignisse.

19 Zu nennen wäre beispielsweise die Konferenz „Hlavní plán regionálního rozvoje v česko-saském pohraničí. Re- gionalentwicklung und Perspektiven in Grenzräumen-das Beispiel Sachsen-Tschechien“, Dresden, 28. März 2012.

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Es wurde deutlich, dass die Historiker und ihre Fähigkeit, Ansätze zu objektivieren, das Problem nicht lösen konnten. Den benötigten Schritt konnte nur ein politisches Dokument bieten. Im April 1995 trat Ministerpräsident Biedenkopf im Rahmen der Gespräche über die Nachbarschaft in der Aula des Prager Karolinums auf. Bei dieser Gelegenheit trug er eine Rede vor, deren Botschaft einen zeitlosen Charakter hat:20

Das neue Europa wird in den kommenden Jahren erheblichen inneren und äuße- ren Belastungen ausgesetzt sein. Es wird diese Belastungen erfolgreich und ohne Schaden für die europäische Friedensordnung bewältigen können, wenn das, was uns zusammenhält, stärker sein wird als das, was uns trennen könnte. Unsere politischen, geistigen und kulturellen wie unsere wirtschaftlichen und sozialen Anstrengungen werden deshalb darauf gerichtet sein müssen, das zu stärken, was uns verbindet, und das zu bekämpfen, was uns erneut trennen könnte.

V. Der Weg zur Deutsch-tschechischen Erklärung

Am 21. Januar 1997 wurde durch Bundeskanzler Kohl und den damaligen Premier - minister Klaus die Deutsch-Tschechische Erklärung über die gegenseitigen Beziehungen und deren künftige Entwicklung unterzeichnet. Es folgte eine Zeit der positiven gegen - seitigen Zusammenarbeit, die bis heute andauert. Es gelang die Voraussetzungen für die Erfüllung beider grundlegender Ziele der tschechischen Außenpolitik zu schaffen, also dem Beitritt des Landes zum ‚Nordatlantikpakt‘* im Jahr 1999 und die Mitglied- schaft der ČR in der ‚Europäischen Union‘ im Jahr 2004. Die Erklärung lässt sich auch als Versuch bewerten, den Verweis auf die Geschichte zu ‚entsichern‘, der auch die Unterzeichnung des Vertrages über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit zwischen SFR und der Bundesrepublik (1992) über- dauerte, wie bereits im vorhergehenden Text erwähnt. Der schließlich niedergeschrie- bene Text repräsentierte unausweichlich einen Kompromiss, aber mit dem Fortgang der Zeit einen nachweislich funktionierenden. Nach 1989 wurde deutlich, dass das sozialpsychologische Fundament des Auftretens der Tschechen gegenüber den Deutschen auch die Historiker nicht lösten. Zwar konnten sie bei der ‚Historisierung‘ der Traumata aus der Vergangenheit helfen, bei- spielsweise mit der gemeinsamen Anstrengung für einen möglichst objektiven Inhalt

20 Kurt Biedenkopf: Češi a Němci na cestě k dobrému sousedství [Deutsche und Tschechen auf dem Weg zu guter Nachbarschaft]. In: Rozhovory o sousedství [Gespräche über Nachbarschaft]. Prag: Karlova univerzita 1997, S. 79.

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der Geschichtslehrbücher oder mit der Beseitigung des Feindbildes, aber über Instru- mente zur Veränderung der öffentlichen Anschauungen verfügten sie nicht. Außer- dem werden Historiker ähnlich wie die einfachen Leute, die nach einem Ausgleich mit der Geschichte streben, selbst ein zu einem Teil des Phänomens des „verdeckten Gruppengedächtnisses“, dass die gegebene Gruppe vereint (Maurice Halbwachs). Das bedeutet, dass so viele Gedächtnisse existieren, wie es Gruppen gibt. Das Gedächtnis wird zum Gegenstand einer möglichen Geschichte,21 verfügt aber auch über die Fer- tigkeit ursprüngliche Konflikte unter neuen Bedingungen zu rekonstruieren und die „gestrige Schlacht zu schlagen“ (Daniel Cohn-Bendit). „Wenn wir uns an die Vergangenheit erinnern, konstruieren wir sie im Verständnis unserer gegenwärtigen Ideen. Wir nehmen nur jene Fakten wahr, die für unsere un- mittelbaren Ziele wichtig sind.“22 Bezogen auf die Debatte von Deutschen und Tsche- chen ist die langfristige Tendenz den Inhalt mit historischen Themen zu überfrachten, die die Wahrscheinlichkeit der Instrumentalisierung von geschichtlichen Ereignissen und Fakten durch die Verhaftung in der aktuellen Situation erhöht, deren definito- rischer Rahmen aber diametral andersartig ist.23 Teile individueller Erinnerungen sind in das kollektive Gedächtnis eingeschmolzen. Das kollektive Gedächtnis lenkt das Handeln und das Erinnern im Rahmen von Interaktion innerhalb der Gesellschaft und zu einem gewissen Maße erleichtert es diese Prozesse, indem es kollektiv geteilte Vorbilder bietet – wie ‚eingeübt-umgewan- delt‘ von Generation zu Generation.24

21 Vgl. Pierre Nora: Mezi pamětí a historií (problematika míst) [Zwischen Erinnerung und Geschichte (die Pro- blematik von Orten)]. In: Politika paměti (antologie francouzských společenských věd), Nr. 13 (1998). Prag: Cahiers du Cefres, S. 9–11. Der Autor macht vor allem auf die Tatsache aufmerksam, dass das Gedächtnis ein Phänomen der privaten Sphäre ist, wohingegen die Geschichte zu einer Gesellschaftswissenschaft wurde. Daraus begründet er, dass das Gedächtnis einer Nation die letzte Inkorporation vom Gedächtnis der Geschichte ist. 22 Ebd. S. 9. 23 Auch diese Möglichkeiten sind aber kompliziert und begrenzt. Beispielsweise entstand unmittelbar nach der Wende im November 1989 der Gedanke eine uminterpretierte ‚versöhnende‘ Auffassung von Geschichte auszuarbeiten, zu der die gemischte Deutsch-tschechische Historikerkommission innerhalb kurzer Zeit die Arbeiten hätte beenden sollen. Gerade aus diesem Kreis sollte ein nachdenkliches neues Schulbuch der ‚gemeinsamen‘ Geschichte entstehen. Ergebnis war eine bescheidene Ausführung zur Deutung der deutsch-tschechischen Geschichte seit dem 19. Jahr- hundert; vgl. o. A.: Konfliktgemeinschaft, Katastrophe, Entspannung. Skizze einer Darstellung der deutsch-tsche- chischen Geschichte seit dem 19. Jahrhundert. Hg. v. Gemeinsame Deutsch-Tschechische Historikerkommission. München: Oldenbourg 1996. Einige Kompromisse bei der Formulierung von Schlüsselereignissen wurden in den Text der Deutsch-tschechischen Erklärung übernommen. Ebenso setzte sich die Überarbeitung der Schulbücher auf der einen und auf der anderen Seite begrenzt fort. Näheres zu diesem ema vgl. die Studien: Zdeněk Beneš: České dějiny 20. století v německých učebnicích dějepisu; sowie: Tobias Weger: Analýza českých učebnic dějepisu [Analyse tschechischer Schulgeschichtsbücher]. In: Učebnice a česko-německé sousedství [Schulbücher und deutsch-tsche- chische Nachbarschaft] (Mariánskolázeňské rozhovory), 2001. Ackermann-Gemeinde/Česká křesťanská akademie. 24 Vgl. Lukáš Novotný: Dekrety, odsun sudetských Němců v historické paměti Čechů. In: Naše společnost 2 (2012), S. 31.

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Der gesunde Menschenverstand hat Unrecht, wenn er denkt, dass die Vergangenheit etwas Festes, Andauerndes und nicht Veränderliches ist gegenüber der sich ständig ver- ändernden Gegenwart. Es findet ein Prozess der Überformung der Vergangenheit statt, der ihre Re-Interpretation umfasst, ein ‚Neulesen/rereading‘. Das wahrhaftige Verständnis der Vergangenheit ist eine Sache unseres Standpunktes. Parallel zu diesem ‚Neulesen‘ der Vergangenheit im gesellschaftlichen Gebiet bleiben in der Politik unterschiedliche Rechts- auffassungen. Gerade in dieser Relation findet man die Quelle kontroverser Haltungen. Zweierlei rechtliche Auffassungen des selben einen Moments wie bei dem Münchner Abkommen, dem Potsdamer Abkommen und der anschließenden Aussiedlung der Sudetendeutschen repräsentieren diese schwierig zu überbrückenden Widersprüche (resultierend aus unterschiedlichen Rechtsstandpunkten beider Seiten) in den deutsch- tschechischen Beziehungen. Jeder Staat ist das Produkt kumulierender historischer Erfahrungen. Dies gilt auch im Falle der Bundesrepublik Deutschland und der Tsche- chischen Republik und ihrer Beziehungen im mitteleuropäischen Kontext. Versuche, diese Erklärung zu umgehen und abermals die Dekrete des Präsidenten Edvard Beneš25 auf der Bühne des Europäischen Parlaments zu thematisieren, zeigten, welch de- struktive Auswirkung diese Methode für die deutsch-tschechischen Beziehungen auf Bür- gerebene haben kann. Beweise erbrachten Untersuchungen der öffentlichen Meinung.

Tab. 1: Meinungen zur Gültigkeit der Beneš-Dekrete – Vergleich (Angaben in Prozent)

2002/ 2004/ 2005/ 2006/ 2007/ 2009/ 2011/ März Juni Febr. Nov. Nov. Nov. Nov.

sollten auch weiterhin gelten 67 66 64 53 52 65 49

sollten aufgehoben werden 5 8 7 13 11 8 17

weiß nicht 28 26 29 34 37 27 34

Anm.: Summe pro Spalte 100%. Quelle: Kontinuierliche Erforschung der Meinungen und Standpunkte der Bevölkerung der ČR. Zentrum zur Er- forschung der öffentlichen Meinung. Soziologisches Institut der Akademie der Wissenschaften. Prag 2002–2011.

25 Das ema der Dekrete wurde durch Abgeordnete der CSU von 2002 bis 2003 ema im Europäischen Par- lament als Teil der verhandelten Agenda, die mit der Aufnahme der ČR in die Europäische Union in Zusam- menhang stand. Rechtliche Aspekte wurden einer Kritik vom Standpunkt gegenwärtigen internationalen Rechts unterworfen. „Weder das in den europäischen Gemeinschaftsverträgen verankerte Recht noch das Sekundärrecht der europäischen Gemeinschaften bieten Handhaben, mit denen sich die Beneš-Dekrete und das Straffreiheits- gesetz vom 8. Mai 1946 in Frage stellen lassen könnten.“ Christian Tomuschat: Dekrety-překážka přijetí České republiky do Evropské unie? [Die Dekrete – Hindernis bei der Aufnahme der Tschechischen Republik in die EU?]. In: Ist das tschechische Rechtssystem bereits EU-konform? Prag: Friedrich Ebert Stiftung, S. 203.

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Die folgende Graphik dokumentiert zwei Tiefpunkte bei der positiven Bewertung des Niveaus der deutsch-tschechischen Beziehungen, zu denen es infolge emotionaler Debatten, denen die Unterzeichnung der Erklärung (1997) und der Druck zur Auf- hebung der Beneš-Dekrete in Zusammenhang mit dem Beitritt der ČR zur Europäi- schen Union (2004) vorausgingen, kam.

Graphik 1: Meinungen zur langfristigen Entwicklung der tschechischen Gesellschaft zum Niveau der deutsch-tschechischen Beziehungen.

Anmerkungen: Dargestellt ist der prozentuale Anteil positiver Bewertungen, Antworten – die Beziehungen sind sehr gut und verhältnismäßig gut. Quelle: Kontinuierliche Erforschung der Meinungen und Standpunkte der Bevölkerung der ČR. Zentrum zur Erforschung der öffentlichen Meinung. Soziologisches Institut der Akademie der Wissenschaften. Prag, 1995–2005. Obgleich sowohl die BRD als auch die ČR Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und der NATO sind und die Prinzipien der pluralistischen Demo kratie und bürger - lichen Gesellschaft teilen, bleibt das historische Gedächtnis Teil sich unterscheidender nationaler Identitäten (deren integraler Bestandteil die Interpretation historischer Ereignisse aus der Sicht der nationalen Gemeinschaft ist). In deren letzter Konsequenz ist es für die Partnerseite oft schwer, die Probleme des Nachbarn und die Schritte zu deren Lösung zu verstehen und abzuschätzen. Die Formierung einer vielschichtigen Identität, die den europäischen Kontext von Integrationsprozessen auf bürgerlichem Niveau einschließt, schreitet nur langsam voran und im Fall der gesellschaftlichen Probleme ist eine retrograde Be wegung nicht aus - geschlossen (siehe die tiefe ethnische Distanz zwischen Flamen* und Wallonen*, die zu Überlegungen über die Teilung des belgischen Staates führt). Jedwede Integrationsprozesse mäßigen bedeutend die Intensität ethnischer Pro- bleme und die Frequenz interethnischer Konflikte, es lässt sich nicht mit einer automatischen linearen Bewegung zu einem konfliktfreien Stand rechnen. Selten

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geschieht es, dass das Problem der Ethnizität innerhalb der Gesellschaft komplex wahrgenommen wird, im Rahmen eines weiteren übernationalen Prozesses, der inter ethnische Toleranz voraussetzt.

VI. Mit einem pragmatischen Kompromiss vom Konflikt zur Kooperation

Die Erklärung kann als Modellbeispiel genommen werden, wie man mit der Geschichte innerhalb bilateraler Beziehungen umgehen kann. Der offenkundig höchste Wert der Erklärung basiert auf dem, was die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth präg- nant benannte, als sie sagte: „Unsere gemeinsame Erklärung soll helfen, den Teufelskreis gegenseitiger Aufrechnung und Schuldzuweisungen zu durchbrechen. Wir dürfen nicht Gefangene der Vergangenheit bleiben, sonst hätte die Vergangenheit letzlich gesiegt.“26 Auf der Bühne des Bundestages charakterisierte Václav Havel den befreienden Cha- rakter dieser Worte:27

Durch diese Erklärung haben wir meines Erachtens klar gesagt, dass wir nicht das Unmögliche anstreben, das heißt, dass wir nicht versuchen, die eigene Geschichte zu ändern und ihre nicht wiedergutzumachenden Folgen wiedergutzumachen, sondern dass wir diese Geschichte unvoreingenommen erforschen, ihre Wahrheit suchen und dadurch die einzig möglichen und sinnvollen Grundlagen unseres künftigen guten Zusammenlebens legen wollen.

Aus dieser Sicht wird der letzte Satz von Artikel 4 als Schlüsselfeststellung der Erklä- rung wahrgenommen: „Beide Seiten erklären deshalb, dass sie ihre Beziehungen nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen belasten werden“28 Der grundlegende Beitrag der Erklärung, die den deutsch-tschechischen Dialog vor- teilhaft beeinflusst hat, lässt sich in folgenden Punkten zusammenfassen: 1. Es wurde der Weg frei gemacht für die Entschädigung der tschechischen Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen (inklusive der Opfer des Holocausts).

26 Ansprache von Bundestagspräsidentin Prof. Dr. Rita Süssmuth. In: Ansprachen aus Anlass der Deutsch-tsche- chischen Erklärung vor den Mitgliedern des Deutschen Bundestages am 24. April 1997 in Bonn und den Abge- ordneten und Senatoren des Tschechischen Parlaments am 29. April 1997 in Prag. Hg. v. Deutschen Bundestag, Referat Öffentlichkeitsarbeit. Bonn 1997. S. 6–12. 27 Václav Havel: Evropa jako úkol (výběr z projevů 1990–2009) [Europa als Aufgabe (Auswahl aus Äußerungen 1990–2009)]. Prag: Havel Library 2012, S. 106. 28 Deutsch-tschechische Erklärung über die gegenseitigen Beziehungen und deren künftige Entwicklung. In: An- sprachen (wie Anm. 26), S. 114–116.

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2. Es wurde der ‚Deutsch-tschechische Zukunftsfonds‘ eingerichtet, mit dessen Mit- teln in der Zeit nach der Erklärung Projekte zur Erneuerung der Kulturlandschaft in den einstmalig deutsch besiedelten Gebieten der Böhmischen Länder unter- stützt werden, Publikationen zur vertiefenden Erkenntnis kultureller, sozialer und historiographischer Probleme der deutsch-tschechischen Beziehungen sollen herausgegeben werden sowie den Austausch von Schülern und Studenten unter - stützen. 3. Zur freien Erörterung der strittigen Fragen wurde der Koordinierungsrat des Deutsch-tschechischen Gesprächsforums eingerichtet. 4. Und nicht zuletzt konstatierten beide Seiten, dass die unterschiedlichen Rechts- auffassungen ein Fakt sind, mit dem man leben und eine Zusammenarbeit ent - falten kann, was in der Folge die Debatten im öffentlichen Raum dämpfte und kultivierte sowie pragmatische Grundsätze etablierte, die auf ein kooperatives Ver- ständnis der gegenseitigen Beziehungen BRD/ČR abzielten.

Nach dem Beitritt der ČR zur Europäischen Union 2004 beruhigte sich die Situa- tion in den deutsch-tschechischen Beziehungen merklich. Die historisierenden The- men traten in den Hintergrund. Im Grunde lässt sich konstatieren, dass die Situa- tion zu den stabilisierten Werten vollkommen positiver bzw. neutraler Akzeptanz der deutschen Nachbarschaft aus der ersten Hälfte der neunziger Jahre des 20. Jahr- hunderts zurückkehrte.29 Die historischen Themen in den deutsch-tschechischen Beziehungen werden wahrscheinlich mit dem Kommen neuer Generationen ab- klingen, gegebenenfalls werden sie von neuen Faktoren der gemeinsamen Bedro- hung des Staates überformt: Terrorismus, globale Klimaveränderungen, Energiekrise usw. Trotzdem ist mit einer langanhaltenden Nachwirkung der konfliktreichen Ver- gangenheit zu rechnen, die eine sensible und eher zurückhaltende Haltung bei der Suche nach neuen Interpretationsrahmen der Schlüsselereignisse der gemeinsamen Geschichte verlangt. Mit den Worten des Historikers Bartošek: „Wir leben in zwei Geschichten – in der, die uns scheint, und in der, die es tatsächlich gegeben hat. Beide wirken auf unsere Gegenwart und auch auf unsere Versuche die Zukunft zu gestalten ein.“30

29 Zur Entwicklung der Ansichten und Einstellungen der tschechische Gesellschaft zu Deutschland im aktuellen Zusammenhang des Eintritts ČR in EU, zur Entwicklung grenzübergreifender Zusammenarbeit, wie auch zu einigen Aspekten der historischen Erinnerung, vgl.: Bulletin Česko-německé souvislosti, herausgegeben in den Jahren 2003 bis 2005 in dreisprachiger Ausführung im Rahmen des Projekts „Občanská dimenze česko- německých vztahů ve fázi vstupu ČR do EU s důrazem na pohraniční oblasti“. Internetauftritt des Projekts: www.borderland.cz 30 Karel Bartošek: Češi nemocní dějinami. Prag/Litomyšl: Paseka 2003, S. 83.

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Die deutsch-tschechische Grenzregion im Kontext der deutsch-tschechischen Beziehungen nach 1989

Teil2: Grenzüberschreitende Gemeinschaft statt geteilter Welt

Seit dem 1. Mai 2004, als die ČR in die Europäische Union eintrat, vertieft sich dieser Prozess infolge der Wirkung integrativer Mechanismen weiter (programmatische Be- seitigung des Barriere-Effekts der Grenze, Bewegungsfreiheit der Bürger, von Waren und des Kapitals, Betritt der ČR zum ‚Schengener Abkommen‘*). Die Mitgliedschaft der ČR in der EU modifizierte den Inhalt nationaler wie politischer Interessen, die wir in diesem Zusammenhang als vitales Interesse des Staates an der Veränderung seines exklusiven nationalen Charakters interpretieren, der bei neuer Konzeption übernationale Elemente des europäischen Integrationsprozesses enthalten würde. Die Komplementarität der Interessen der beiden Staaten BRD/ČR (was in erhöhten Maße auch die Beziehungen zu den Bundesländern Sachsen und Bayern betrifft) basiert auf dem Einhalten ethnischer Ruhe und der Stärkung kooperativen Potenzials. Gleich- zeitig verlangt dies eine Stärkung der nationalen Identität in der Gestalt eines gesun- den selbstbewussten Patriotismus basierend auf der Leistung der tschechischen Ge- sellschaft,31 aber auch auf der schrittweisen Herausbildung kombinierter europäischer und nationaler Identitäten.

I. Die zunehmende Vernetzung bewirkt eine Entnationalisierung der Grenzen

An der deutsch-tschechischen Grenze setzt sich allmählich der aktuelle Trend aus Westeuropa durch, die inneren Grenzen zwischen den EU-Staaten abzubauen. Es lässt sich von einem Prozess der Entnationalisierung der Grenzen sprechen. Es modi - fiziert sich gleichermaßen die klassische Auffassung von Souveränität im Bereich der internationalen Beziehungen, wenn einzelne ihrer Teile von übernationalen Entschei- dungsstrukturen übernommen werden, was in der Folge die regionalen Entschei- dungsebenen stärkt (direkte Partnerschaft der Unionsorgane und regionalen Institu- tionen schwächt das zentrale Element der Entscheidung). Die Zusammenarbeit zwischen Mitgliedsstaaten innerhalb der Union hat den Charakter einer normalen interregionalen Zusammenarbeit, wie innerhalb eines Staates. Durch den Beitritt der Tschechischen Republik zur EU wurde auch ein Teil der Asymmetrie in der Beziehung mit Deutschland beseitigt. Der Prozess der Europäisierung gegenseitiger Beziehungen

32 Vgl. Kol.: Vstup České republiky do prostoru politické komunikace a rozhodování v Evropské unii: výzvy, pro- blémy, východiska [Beitritt der Tschechischen Republik zum Raum politischer Kommunikation und Entschei- dung in der Europäischen Union: Herausforderungen, Probleme, Standpunkte], Prag: Univerzita Karlova FSC Ceses 2004, S. 8.

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umfasst zudem parallel wirkende Entwicklungen: Globalisierung, Integration, Mo- dernisierung, Regionalisierung und Dezentralisierung. Erstmals in der Geschichte sind die Länder West-, Mittel- und Osteuropas Mitglieder einer europäischen Gemeinschaft, die Demokratie und Marktwirtschaft entfaltet. Die gegenseitigen Beziehungen der BRD und ČR beeinflussen die Prozesse der Europäisie- rung, die in den Grenzgebieten territoriale und soziale Vernetzung und die Ausbildung von Netzwerken (‚networking‘) auf institutioneller und bürgerlicher Ebene umfassen. Der Prozess des Netzwerkens führt in einem langfristigen zeitlichen Horizont zur Ausbildung einer grenzüberschreitenden Gesellschaft in den deutsch-tschechischen Grenzgebieten. Ein sich positiv auswirkender Faktor für Veränderungen auf tschechischer Seite ist vom Standpunkt der Kompatibilität beider Seiten des Grenzgebietes die Einrichtung der Kreisverwaltungen, die im Rahmen ihres Kompetenzbereiches zu einem effektiven Partner der einzelnen Bundesländer in der Frage nach einer weiteren Vertiefung und Ausweitung der grenzüberschreitenden Kooperation geworden sind. Gerade die unter - schiedliche administrative Gliederung bildete in den Beziehungen zwischen BRD und ČR eine der Quellen von Asymmetrie auf regionaler und lokaler Ebene, die die Kooperation in den Grenzgebieten verkomplizierte. Eine komplett aufeinander abgestimmte administrative Gliederung auf dieser Ebene ist aber nicht zu erwarten, da die föderale Struktur der BRD die Rollen und Gesetz- gebungskompetenz auf den einzelnen Ebenen der Verwaltungsstruktur anders defi- niert. Nichtsdestotrotz indizieren die Erfahrungen in der Zusammenarbeit von Frank- reich und der BRD in den Grenzregionen, dass eine zentralistische Konzeption der Staatsrolle (Frankreich) nicht notwendig ein Hindernis in einer dynamischen Zusammenarbeit sein muss. Als entscheidend in diesem Aspekt können klar der poli - tische Wille und die kooperative Haltung des Zentrums gelten. Einige Fachstudien, die die Erfahrungen Westeuropas verallgemeinern, verweisen allerdings auf die Er- fahrung, dass ein Teil der Probleme in den Grenzgebieten in ähnlichem Ausmaß und ähnlicher Struktur auch nach der Integration des Staates in die EU bleibt. Malcolm Anderson macht beispielsweise auf die Erfahrung aufmerksam, dass die Zusam- menarbeit auf lokaler und regionaler Ebene, wie sie in den Grenzregionen der EU-Länder stattfindet, neue Aktivitäten hervorruft, in deren Folge sich die Zahl potenzieller Kon- fliktsituationen erhöht.32 Die Diversifikation der Interessen, die diese Zusammenarbeit umfasst, ebenso wie auch die wachsende Zahl politischer, sozialer und ökonomischer Ver- träge zwischen individuellen Subjekten auf lokaler Ebene kann eine konfuse politische Situation erzeugen. Wie sehr auch die Autoren die Möglichkeit bewaffneter Konflikte

32 Vgl. Malcolm Anderson: Scenarios for Conflict in Frontier Regions. In: Cooperation and Conflict in Border Areas. Hg. v. Raimondo Strassoldo/Giovanni Delli Zotti. Mailand: Franco Angeli 1982.

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hervorgerufen um einen Streit um die Grenzlinie (eine Bedingung der Mitgliedschaft in der EU ist die Klärung von Grenzkonflikten mit den Nachbarstaaten auf friedfertige Weise) ausschließen, halten sie die Grenzgebiete doch weiter für eine Konfliktzone. Der Charakter der Konflikte in den Grenzgebieten ändert sich, wie beispielsweise das Anwachsen sozial-pathologischer Vorgänge im sächsisch-böhmischen Grenzgebiet (z.B. Prostitution) oder die Aktivität des internationalen Verbrechens (z.B. der Trans- fer von Flüchtlingen über die grüne Grenze) indizieren, die die Sicherheitssituation im deutsch-tschechischen Grenzgebiet gefährden. Als positiv ist der Trend zum Rück- gang ethnischer Intoleranz zu vermerken,33 die in der Vergangenheit Spannungen zwischen Deutschen und Tschechen hervorrief.

II. Soziales Kapital, Vertrauen und die Rolle gesellschaftlicher Eliten

Die politische Integration Europas schreitet im Prinzip langsamer voran als die öko- nomische Integration, was eine direkte Folge der Trägheit von Einstellungen und der öffentlichen Meinung hinsichtlich der Reflexion der konfliktvollen Geschichte ist. Durch die ökonomische Asymmetrie zwischen den einzelnen Staaten wird dies weiter erhöht. In der Praxis äußert sich diese Erkenntnis in einer gewissen Distanz zwischen den Meinungen der gesellschaftlichen Eliten (die die Vision eines integrierten Europa durchsetzen) und den einfachen Bürgern, der Gesellschaft. Unter den Bedingungen offener Grenzen und einer offenen Volkswirtschaft verbleibt beispielsweise eine prä- sente national-regionale Identität als Quelle von Differenzen, die ihre Wurzeln in sich unterscheidender Kultur, Sprache, historischem Gedächtnis usw. hat. Dies gilt in vol- lem Maße für die sächsisch-tschechische Grenzregion. Auf dem gegenwärtigen Stand der Kooperation zwischen der BRD und der ČR ist es erstrebenswert die Schlüsselgruppe von Faktoren, eventuell Akteuren, die in der Lage sind die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu aktivieren, um gegenseitiges Ver- trauen zu generieren, das Grundlage für lokale und soziale Vernetzung im Raum be- nachbarter mitteleuropäischer Staaten ist, zu definieren. Dieser Zugang lässt die Wir- kung kohäsiver Programme unter den Bedingungen der neuen Mitgliedsstaaten der EU erkennen. Vor allem aus der Sicht der Nachhaltigkeit ist eine Kooperation wichtig, die sowohl auf institutioneller Ebene, als auch im öffentlichen Bewusstsein, eintritt, denn die gegenwärtige Situation der Währungs- und Wirtschaftskrise droht das er-

33 Zu dieser Feststellung berechtigen die Ergebnisse langfristiger soziologischer Untersuchungen eines Teams der Forschungsstelle des tschechischen Grenzgebietes durch das Soziologische Institut AV ČR, durchgeführt nach 1990 im Rahmen eines Graduiertenprogramms des Außenministeriums ČR, Projektförderungsagenturen der ČR, aber auch in Zusammenarbeit mit akademischen Stellen in der BRD.

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reichte Potenzial des sozialen Kapitals von Vertrauen und Kooperation zu beschädi- gen, was die Erwägungen einiger Staaten, wie Dänemark, über die Notwendigkeit des Schengen Abkommens nachdenken lässt. Der folgende Graphik belegt, dass die Bevölkerung des tschechischen Grenzgebiets den guten Beziehungen zur BRD eine wesentliche Bedeutung beimisst. Gemäß der Mehr- heit gehören für die ČR im Vergleich zu den anderen Nachbarstaaten die guten Bezie- hungen zu Deutschland zu den wichtigeren, während sie ein Viertel für am Allerwich- tigsten hält; zu den wichtigeren zählt sie für ein Drittel der Befragten. Diese Einstellung reflektiert offenkundig sowohl die historische Erfahrung als auch die aktuelle wirtschaft- liche und politische Bedeutung, aber auch die Nähe zum ‚westlichen‘ Nachbarn.

Graphik 2: Entwicklung der Bewertung der deutsch-tschechischen Beziehungen durch die tsche- chische Gesellschaft im Zeitraum 1999–2005

100% 6,1 7,1 14,8 15,1 10,1 80% 20,5

60%

82,8 40% 78,8 64,7

20%

0% Gesamtbevölkerung 1999 Bewohner der Grenzgebiete 2003 Bewohner der Grenzgebiete 2005

weiß nicht schlecht gut

Quelle: Forschungsprojekt: „Die bürgerliche Dimension der deutsch-tschechischen Beziehungen in der Phase des Bei- tritts der ČR zur EU – mit einem Schwerpunkt auf den Grenzgebieten“ (2003–2005) Forschungsstelle des tschechischen Grenzgebietes, Soziologisches Institut der Akademie der Wissenschaften der ČR. Programm zur Unterstützung der gezielten Forschung und Entwicklung, Akademie der Wissenschaften ČR (V. Houžvička).

In den Meinungen zu Unterschieden und Hemmnissen, die die deutsch-tschechische Zusammenarbeit negativ beeinflussen, sind zwischen den Bewohnern der Grenz - gebiete zu Bayern und zu Sachsen keine grundlegenden Unterschiede festzustellen.

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Konkrete Differenzen wurden im Fall der konfliktbeladenen Vergangenheit, bei Vor- urteilen von Tschechen gegenüber Deutschen, der Ungleichheit nationaler Wesens- arten und beim Mangel an Informationen vermerkt. Diese Ungleichheit wird öfter von den Nachbarn Sachsens als Hemmnis wahrgenommen, die Ungleichheit in Leis- tungsfähigkeit und Informationsfülle im Gegenteil von den Nachbarn zu Bayern. Die Struktur der Meinungen und Einstellungen gegenüber der deutschen (sächsischen/ bayrischen) Nachbarschaft ist verhältnismäßig kompliziert und umfasst eine Skala gegen - läufiger Inhalte (beeinflusst durch direkten sozialen Kontakt mit dem deutschen Raum und seinen Bewohnern, die Generationenerfahrung, die mit dem Alter und individuellen Erlebnissen zusammenhängt, die Kompetenz abstrakten Denkens, den Grad vertretener Vorurteile, die Intensität ethnischer Loyalität, das kollektiv geteilte historische Gedächt- nis etc.). Die folgende Graphik folgt aus einer Reihe von Fragen, die auf das nähere Ken- nenlernen der Meinungsstruktur über die deutsche Nachbarschaft abzielen.

Graphik 3: Faktoren, die Einfluss auf die Qualität der tschechisch-deutschen Zusammenarbeit ausüben.

0,0 10,0 20,0 30,0 40,0 50,0 60,0 70,0 80,0 66,2 Unterschiede im Lebensniveau 67,9 69,0 Unterschiede in der Wirtschaftsleistung 64,3 Konflikte der Vergangenheit, z. B. Nazismus, 59,9 Okkupation, Vertreibung 64,1 Vorurteile der Deutschen 43,0 gegenüber den Tschechen 45,6 38,7 Vorurteile der Tschechen 45,6 gegenüber den Deutschen 46,5 Zugehörigkeit zur Sprache 36,8

Unterschiede in nationaler Wesensart 38,7 und Gewohnheit 44,5 38,0 Unterschiedliche Interessen beider Staaten 33,9

Informationsmangel in den Medien 19,7 27,4 Fehlende Kommunikationsmittel, 22,5 z.B. Grenzübergänge 22,0

Grenzgebiet zu Bayern Grenzgebiet zu Sachsen

Quelle: Forschungsprojekt: „Die bürgerliche Dimension der deutsch-tschechischen Beziehungen in der Phase des Bei- tritts der ČR zur EU – mit einem Schwerpunkt auf den Grenzgebieten“ (2003–2005) Forschungsstelle des tschechischen Grenzgebietes, Soziologisches Institut der Akademie der Wissenschaften der ČR. Programm zur Unterstützung der gezielten Forschung und Entwicklung, Akademie der Wissenschaften ČR (V. Houžvička).

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Graphik 4: Die Beziehung der Bewohner des Grenzgebietes der ČR zu Deutschland charakterisie- rende Aussagen.

0% 20% 40% 60% 80% 100%

Die Nachbarschaft zu Deutschland ist für uns ökonomisch vorteilhaft 45,7 45,1 6,0 3,2

Mit Deutschland können wir in Ruhe und Frieden leben. 47,7 40,6 5,5 6,2

Gegenüber den Deutschen sollten wir mehr Stolz entwickeln. 49,3 32,3 11,7 6,7

Interesse des Staates ist die engste Zusammenarbeit mit Deutschland. 33,4 47,1 8,1 11,5

Deutschland hat von allen europäischen Staten den größten Einfluss auf uns. 39,4 40,6 14,5 5,5

Die Vertreibung der Sudetendeutschen war gerecht. 44,6 34,7 7,6 13,1 Es kann nicht vergessen werden, was Deutschland uns nach dem Münchner Abkommen angetan hat. 36,1 41,2 13,2 9,5 Die Deutschen sind unsere Freunde. 20,0 55,6 13,6 10,8

Deutschland unterstützt den Beitritt der ČR in die EU. 30,4 38,6 12,1 18,8

Deutschland ist ein stabiles Land ohne politische Erschütterungen. 21,4 46,9 19,3 12,3

Von den Deutschen haben wir immer etwas zu lernen. 21,1 46,6 23,7 8,6

Auf die Deutschen müssen wir immer acht geben. 17,8 42,8 26,9 12,5

Die deutsche Kultur ist uns sehr nah. 17,1 42,2 33,0 7,7

Deutschland hat sich definitiv mit seiner faschistischen 16,0 37,7 28,0 18,3 Vergangenheit auseinandergesetzt. In Deutschland sind die Beziehungen zu nationalen Minderheiten gut gelöst. 13,1 37,9 20,9 28,1

In Deutschland können wieder Faschismus und Nationalismus aufkommen. 15,9 34,8 28,6 20,7

Es ist normals, dass Deutsche bei uns Grundstücke kaufen. 18,5 28,2 43,5 9,8

Wir sollten uns mehr um die Zusammenarbeit mit den 10,0 29,7 41,4 18,8 vertriebenen Deutschen bemühen.

Deutschland könnte die ČR in Gefahr bringen. 9,0 28,0 49,4 13,6

Gegenüber Deutschland sind wir immer machtlos. 7,9 23,8 57,5 10,8

Volle Zustimmung Teilweise Zustimmung Gar keine Zustimmung Weiß nicht.

Quelle: Forschungsprojekt: „Die bürgerliche Dimension der deutsch-tschechischen Beziehungen in der Phase des Bei- tritts der ČR zur EU – mit einem Schwerpunkt auf den Grenzgebieten“ (2003-2005) Forschungsstelle des tschechischen Grenzgebietes, Soziologisches Institut der Akademie der Wissenschaften der ČR. Programm zur Unterstützung der gezielten Forschung und Entwicklung, Akademie der Wissenschaften ČR (V. Houžvička).

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Die empirischen Erkenntnisse weisen der sozialen Interaktion eine Schlüsselrolle bei der Herausbildung von sozialem Kapital zu, das nur auf Grundlage des vollen Informationsflusses über die Grenze mobilisiert werden kann. Informelle persön- liche Kontakte bilden strukturelle Elemente interpersoneller Netzwerke und einen dynamisierenden Faktor im Prozess der Bildung des sozialen Kapitals. Eine maß- gebliche Rolle spielt ein effektives Kommunikationsnetz der Angehörigen lokaler politischer, ökonomischer und kultureller Eliten im Sinne von ‚opinion makers‘ (Meinungsmachern). Es besteht eine nachweisliche Wechselbeziehung zwischen der sozialen Interaktion und der Herausbildung politischen Vertrauens, das schrittweise zur Überwindung von ökonomischer Asymmetrie, kultureller Unterschiedlichkeit und historischen Ressentiments beiträgt. Vertrauen unterstützt die Gestaltung neuer Verhaltens - modelle, die auf die Konstituierung grenzüberschreitender Gesellschaften als höheren Typs der Vernetzung des nachbarschaftlichen Raumes abzielen.34 Dieser Prozess vollführt unsere Vorstellung vom Prozess der Europäisierung. Auf Ebene des sächsisch-tschechischen Grenzgebietes läuft das Ziel 3 Projekt ‚Sächsisch- tschechische Hochschulinitiative‘ als Netzwerk von Hochschulinstitutionen in Sachsen und Nordböhmen, welches akademische Arbeitsstellen auf beiden Seiten der Grenze vernetzt (TU Chemnitz, Univerzita J. E. Purkyně Ústí nad Labem, TU Liberec). Es wird deutlich, dass die entscheidenden Gruppen sozialer Akteure in den Inte- grationsprozessen auf lokaler und regionaler Ebene zu suchen sind, vor allem aber die politischen und kulturellen Eliten stehen im Fokus des Prozesses. Im ökono - mischen Bereich macht sich zu einem gewissen Grad ein spontan wirkender Mechanismus pragmatischer Zusammenarbeit zwischen BRD und ČR bemerk- bar. Die Meinungen lokaler Eliten zu den einzelnen Ebenen der Zusammenarbeit auf beiden Seiten der Grenze (Grenzgebiet Sachsen/Bayern/ČR) umreißt die Graphik 5. Auf einem Mikroniveau bildet sich soziales Kapital heraus, welches auf lokaler Ebene zirkulierende Beziehungen herausbildet: Interaktion, Partizipation, Vertrauen, Zu- gang, Einfluss, soziales Kapital/Netzwerk. Konsekutiv generiert die grenzüberschrei- tende Zusammenarbeit Vertrauen, welches die erste Stufe der Mobilisierung von sozialem Kapital ist. In diesem Sinne unterstützt das Schengener Abkommen mit offe nen Binnengrenzen innerhalb der EU eine tiefere territoriale und soziale Vernet- zung der Grenzgebiete. Dies gilt auch für Sachsen und für die Tschechische Republik.

34 Vgl. Jonathan Grix/Václav Houžvička: Cross-border cooperation in theory and practice, the case of Czech- German borderland. In: Acta Universitatis Carolinae Geographica 1 (2005), S. 61–77.

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Graphik 5: Positives Bewerten der regionalen tschechisch-deutschen Zusammenarbeit in ausgewähl- ten Regionen

Positives Bewerten der regionalen tschechisch-deutschen Zusammenarbeit in ausgewählten Regionen (Bewerten der Repräsentanten der tschechischen und deutschen Gemeinden, Schulen, der kleinen und Mittelstands-Unternehmen, nichtregierenden Organisationen und Kulturinstitutionen

Zusammenarbeit der Städte und Gemeinden

Sport und Touristik

Kultur und Schulwesen

zwischenmenschliche Beziehungen

Wirtschaft

Sicherheit

0 20 40 60 80 Deutsche grenznahe Region Tsch. grenznahe Region

Quelle: Analýza a předpokládaný vývoj hraničních oblastí ČR-SRN. Výzkumný projekt Ministerstva zahraničních věcí ČR RB 6/5/3 [Analyse und angenommene Entwicklung der Grenzgebiete BRD–ČR. Forschungsprojekt des Außen ministeriums der ČR]. Gaiues/TNS Factum, Praha 2003.

Drei Schlüsselfaktoren ermöglichen dies einerseits, limitieren aber andererseits auch die Dynamik der grenzüberschreitenden Vernetzung: Sprachkompetenz, unterschied- liche Mentalität und ökonomische Disparität/Asymmetrie. Am Ende des Zyklus kehrt dieser Prozess zurück zum Ausgangspunkt. Die Dynamik der Bewegung in den einzelnen Phasen beeinflusst das Maß an Distanz oder im Gegenteil an Proximität* des sozialen Raumes beider sich unterscheidender Systeme, die sich in den Grenzgebieten treffen. Gegenwärtig bekundet die Bildung sozialen Kapitals das Vermögen beide Systeme miteinander zu vernetzen.

III. Die Grenze verschwindet, die Unterschiede aber bleiben

In Zusammenhang mit dem Bedürfnis die Grenzproblematik auf den politischen Entscheidungsprozess der Mitgliedsstatten der EU zu projizieren, wurde die Gemein- schaftscharta zur Regionalisierung ausgearbeitet und im Jahr 1988 verabschiedet. Ihr

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Inhalt ist ein Maßnahmenkatalog, der unter anderem folgende politische Empfeh- lungen beinhaltet: – Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen regionalen Subjekten der Mit- gliedsstaaten im Bereich ihrer Kompetenz wird im Rahmen nachbarschaftlicher Zusammenarbeit (innerhalb der EU) angesehen, keineswegs als Außenbeziehung (Art. 20, Abs. 3), – Die Gesamtheit der gemeinsamen Politik der Europäischen Gemeinschaft kann nicht als ‚Außenbeziehungen‘ im Sinne klassischen internationalen Rechts angesehen werden, infolge dessen ist es nicht gebührend, ihr ausschließliche Kompetenzen der Staaten beizumessen (Art. 24, Abs. 1), – Die Regionen werden sich an der Seite des Staates an der Kooperation beteiligen, sofern es um Ansprüche der Gesellschaft geht, die in ihren Kompetenzbereich fallen, wenn die ermessenen Probleme direkt das Interesse des Staates berühren (Art.25, Abs.1). Aus dem angeführten Text wird im Ganzen der grundlegende Unterschied zwischen Binnen- und Außengrenzen der Europäischen Union deutlich. Die Zusammenarbeit innerhalb des Unionsraumes zwischen den Mitgliedsstaaten hat den Charakter einer standardmäßigen interregionalen Zusammenarbeit wie innerhalb eines Staates. Dieses Prinzip, angewandt an den Außengrenzen der EU, generierte allerdings im Fall der Vor- bereitungsphase zur Osterweiterung (2004) eine bedeutende Asymmetrie in den Bezie- hungen, wie sie sich zum Beispiel an der deutsch-tschechischen oder deutsch-polnischen Grenze zeigte. Unter allen Konsequenzen sei zumindest der unterschiedliche Zugang zur Möglichkeit aus Fonds zur Unterstützung der strukturellen Entwicklung innerhalb der EU zu schöpfen angeführt. Die Quelle der Andersartigkeit war damit gleichermaßen der legislative Rahmen kultureller, sozialer und weiterer Unterschiede. Die Defunktionalisierung der Grenzen zwischen Staaten der EU durch das Schengener Abkommen repräsentiert gegenwärtig eine Kulmination von Integrationsprozessen. Wird dies nun das völlige Verschwinden der Grenzen, die neben der territorialen Ausdehnung vor allem die Scheide zwischen kulturellen Identitäten repräsentieren, bedeuten?35 Oder transformieren sich die Grenzen zu einer vollkommen anderen Gestalt? Die Antwort hängt von der weiteren politischen Entwicklung der europäischen Integration ab. Die Folgen der ökonomischen Globalisierung wirken sich auch auf die deutsch-tsche- chischen Beziehungen aus, denn beide Volkswirtschaften sind durchaus miteinander vernetzt. Eine unmittelbare Folge der ökonomischen Verbindung ist die Veränderung

35 Die soziologischen Erkentnisse dokumentieren, dass die miteinander gekoppelte Pluralität der postmodernen Staatlichkeit nicht die Unterschiede aufhebt. Die Globalisierung forciert den Prozess des Durchbrechens des „traditionellen Verhältnisses zwischen einer physischen Lage und einer sozialen Situation“. Folge ist das ‚Nicht- verankert-sein‘ der Identitäten in „konkreter Zeit, Ort und Tradition“.

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des Inhalts des Konfliktpotenzials der deutsch-tschechischen Beziehungen, in dem die ökonomische Zusammenarbeit ein pragmatischer Faktor zur Bildung von koope- rativen Beziehungen ist. Diese Entwicklung spiegelt sich im Bewusstsein der tsche- chischen Gesellschaft wieder und ist im engeren Zusammenhang der sozialen Verän- derungen eine Quelle positiver Veränderung von Meinungen und Standpunkten, aber auch Vorurteilen gegenüber Deutschland. Das Feld der internationalen Beziehungen verändert den Prozess der ökonomischen Globalisierung. Die Staaten sind schon seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr dazu in der Lage die eigene Wirtschaft zu kontrollieren, was in der Folge die Mobilität von Kapital und Arbeitskräften erhöht. Unter diesen neuen Umständen durchlief Europa in der Nachkriegszeit eine bis dahin nie dagewesene ökonomische Expansion.36 Dank des Wirtschaftswachstums und hohen Lebensstandards waren die Staaten und Gesellschaften der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union vor allem in der kulturellen und sozialen Sphäre mit einer kontinuierlichen Massenimmigration konfrontiert, die ernste soziale, kulturelle und politische Probleme generiert. Die politische Integration schreitet aber langsamer voran als die ökonomische, was eine Folge sich unterscheidender nationaler Mentalitäten ist, des Beharrungsvermö- gens der Standpunkte der Bewohner und des gesellschaftlichen Bewusstseins. Unter den Bedingungen offener Grenzen und einheitlicher Veränderungen bleibt beispiels- weise die gegenwärtige regionale Identität als Quelle von Differenzen, fußend auf un- terschiedlicher Kultur, Sprache oder dem historischem Gedächtnis vorhanden. Der stattfindende Abbau der Binnengrenzen in der EU verlangsamte sich im Zusam- menhang mit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008. Die nationale Grenze trat zum Nutzen der Außengrenze der Gemeinschaft in den Hintergrund. Einige Mitglieds- staaten des Schengener Abkommens gaben bereits zu verstehen, dass sie bereit sind, das Statut der offenen Grenzen zu brechen und gegebenenfalls wieder Grenzkontrol- len einzuführen. Es ist offensichtlich, dass sich diese Phase der europäischen Integra- tion erschöpft hat und ein weiterer Schwung grundlegende neue Impulse erfordert, die aber ohnehin nicht vor Lösung der aktuellen finanziellen Krisensituation, in der sich die EU befindet, zu erwarten sind. Welche Form das Fortschreiten der Integration auch haben wird, aus den Erkenntnissen soziologischer Forschungen und den Ergeb- nissen der Wahlen wird deutlich, dass die Europäische Union für ihre weitere Existenz das Vertrauen der Bewohner der europäischen Länder braucht, das sie auch dank der Verfassungs- und Vertragsexperimente heute nicht in ausreichendem Maße be- kommt.37

36 Vgl. Hans Knippenberg/Jan Markusse (Hg.): Nationalising and Denationalising European Border Regions. 1800–2000. Views from Geography and History. Dordrecht/Boston/London: Kluwer 1999, S. 10.

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IV. Integration als Quelle von Veränderungen in den Grenzgebieten

Die Grenzgebiete einer Reihe europäischer Staaten machen größtenteils Randgebiete aus, charakterisiert durch die Anwesenheit einer sprachlich und kulturell gemischten Bevölkerung, ungünstig verteilter und weitmaschiger Besiedlung, limitierten natür- lichen Bevölkerungswachstums, erhöht durch die Migration der Bevölkerung von der Peripherie ins Zentrum. Problematisch sind oft auch die wirtschaftlichen Bedin- gungen, zu denen ein Mangel an Arbeitsmöglichkeiten zählt, die strukturell an die Konzentration landwirtschaftlicher Produkte gebunden sind, was vor allem die peri- pheren Gebiete des Staates betrifft. Das Grenzgebiet war gleichsam Quelle von Kon- fliktsituationen in der Vergangenheit. Diese allgemeine Feststellung gilt in vollem Maße für das sächsisch-tschechische Grenz- gebiet, dessen Besiedlungsdichte und Sozialstruktur durch die historische Entwicklung geprägt sind. Auf der tschechischen Seite ist diese Situation bedeutend komplizierter durch die Aussiedlung der deutschsprachigen Bevölkerung nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Trotzdem gelang es in den meisten Städten und Siedlungsgebieten den Ansiedlungsprozess zu Ende zu bringen. Eine Erneuerung des ursprünglichen Standes hinsichtlich Besiedlung und Sozialstruktur ist ohnehin nicht real, da sich vor allem der innere politische und der ökonomische Rahmen verändert haben. Infolge der Aussiedlung der deutschsprachigen Bewohner der einstigen Sudeten nach dem Zweiten Weltkrieg fehlt im tschechischen Grenzgebiet der positiv wirkende Fak- tor der Bilingualität* in einem national gemischten Gebiet, das eine Zone des schritt- weisen Übergangs beider Räume, des deutschen und tschechischen bilden könnte. Es lässt sich nur spekulieren, ob dieses historisch entstandene Phänomen zur schnel- leren Annäherung der Tschechischen Republik an den westeuropäischen Kern beige- tragen hätte. Es lässt sich aber nicht zurückweisen, und diese Meinung wurde in der Fachöffentlichkeit bereits formuliert, dass die Mehrheit der Sudetendeutschen auch ohne die präsidialen Dekrete der Nachkriegszeit nach und nach Nordböhmen ver- lassen hätte, ähnlich wie ethnische Deutsche andere osteuropäische Länder verlassen haben, damals hauptsächlich mit ökonomischen Motiven der Migration. Der Anteil der in den Grenzregionen lebenden tschechischen Bevölkerung beträgt 14,1 Prozent aller Einwohner der ČR. Im deutschen Fall bildet der Anteil der in den Grenz- regionen lebenden Deutschen nur 2,6 Prozent der gesamten deutschen Bevölkerung. Ein augenscheinliches Missverhältnis regiert auch beim Vergleich des Anteils an der Ge- samtfläche der Staaten. Während in der Tschechischen Republik die Grenzbezirke 18,3 Prozent der Gesamtfläche einnehmen, sind dies im Fall des Anteils der deutschen Grenz-

37 Vgl. Fiala: Evropský mezičas (wie Anm. 6), S. 119.

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Die deutsch-tschechische Grenzregion im Kontext der deutsch-tschechischen Beziehungen nach 1989

gebiete gegenüber dem Gesamtgebiet der BRD nur 8,6 Prozent. In dieser Hinsicht ist evident, dass die Grenzbezirke für die tschechische Republik insgesamt eine höhere Bedeutung haben. Wenn es um Sachsen geht, nimmt das Territorium der Grenzgebiete sogar mehr als ein Drittel (38,5 Prozent) des Gesamtgebietes ein, mit mehr als einem Viertel (28,5 Prozent) der Einwohner. Beim Vergleich des Flächenanteils mit der Bevölkerungszahl deutscher und tschechischer Einwohner in dieser ‚grenzüberschreitenden‘ Region (siehe Tab. Nr. 2), kann man zu dem Schluss kommen, dass diese Region für die ČR trotzdem eine größere Bedeutung hat, aber es ist Deutschland (respektive Sachsen), das in dem ge- nannten Raum aus demographischer Sicht die auffälligere Position hat. In Nordostböhmen spielten neben der genannten Vertreibung die Besiedlungsprozesse der mit dem Fortgang der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg entvölkerten Grenz- bezirke eine wichtige Rolle. Diese Besiedlung fand innerhalb mehrerer Wellen bis zur ersten Hälfte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts statt, als der Prozess der Besiedlung offiziell abgeschlossen wurde. Die Besiedlungsstruktur zu erneuern gelang nur zum Teil. In der Mehrheit hatten die neu Zugezogenen (vor allem in den ländlichen Gebieten) ein niedrigeres Bildungsniveau bzw. waren weniger qualifiziert. Von ihrem Zuzug er- hofften sie sich sozialen Aufstieg auf Grundlage des zugeteilten Besitzes, der von den ausgesiedelten Deutschen konfisziert wurde. Diese Erwartungen verpufften darauf aber schnell, als zu Beginn der fünfziger Jahre die Kollektivierung der Landwirtschaft ansetzte und für individuell wirtschaftende Land- wirte kein Platz war. Durch die Unterdrückung individueller Initiativen erlahmte schon zu Beginn das Bedürfnis, die Grenzbezirke zu erneuern. Die vielen Regierungs- und Zuwendungsprogramme (vorteilhafte Zuteilung von Wohnungen und Familien - häusern, Besoldungs- und Lohnpräferenzen, Gewährung von Krediten für neu Ver- heiratete, materielle Vorteile für qualifizierte Arbeiter u.a.) konnten die notwendige Dynamik, vor allem in den ländlichen Bezirken, nicht entfalten. Die Übersiedler rekrutierten sich aus einer Reihe von Repatrianten (aus Frankreich, Belgien, Österreich, Wolhynien u.a.)38 und Zugezogenen aus der Slowakei und vor allem aus direkt benachbarten Bezirken im Landesinneren. Die Roma, die aus der Ostslowakei, Ungarn und Rumänien kamen, bildeten die problematischste Gruppe der Angesiedelten, und dies vor allem aufgrund äußerst niedriger Qualifikation, unzureichender Sprachkennt- nisse und geringer sozialer Anpassungsfähigkeit. Diese Gruppe wurde in erhöhtem Maße Quelle von sozialpathologischen Erscheinungen, die in den Grenzbezirken bis heute (siehe Region Teplitz, Schluckenauer Zipfel (Šluknovský výběžek, Janov), u.a.) vorhanden sind.

38 Vgl. Jaroslav Vaculík: Poválečná reemigrace a usídlování zahraničních krajanů [Reimmigration nach dem Zweiten Weltkrieg und Besiedlung der Grenzlandschaften]. Brno: Masarykova univerzita 2002.

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Die deutsch-tschechische Grenzregion im Kontext der deutsch-tschechischen Beziehungen nach 1989

Im sächsisch-tschechischen Grenzgebiet, und das sowohl auf sächsischer als auch auf tschechischer Seite der Grenze, lebt ein verhältnismäßig großer Teil der Bevölkerung in großen Städten. Auf sächsischer Seite der Grenze sind dies vor allem Zittau, Löbau, Bautzen, Pirna, Dresden, Freiberg, Chemnitz, Zwickau, Auerbach und Plauen, welche im Kern und in den umliegenden Gebieten einen verhältnismäßig großen Teil der Bevölkerung zusammenziehen. Auf tschechischer Seite zeichnet sich, ähnlich wie in Sachsen, der nordwestliche Teil des tschechischen Grenzgebietes durch eine hohe Bevölkerungsdichte aus – die Bezirke Aussig, Teplitz und Brüx (Most) gehören unter den städtischen Agglomerationen zu den am dich- testen besiedelten Gebieten der ČR, sie haben eine bis zu siebenmal höhere Bevölkerungs- dichte als z.B.die Regionen Prachatitz(Prachatice)oder Tachau (Tachov). Der Unterschied zwischen dem tschechischen Grenzgebiet mit Sachsen und Bayern tut sich un gewöhnlich stark hervor, wenn man die vertretenen Städte mit mehr als 20.000 Einwohnern betrach- tet. Von vierzehn dieser Städte gibt es nur eine – Klattau (Klatovy) –, die sich im Grenz- gebiet mit Bayern befindet. Die übrigen – Reichenberg (Liberec), Böhmisch Leipa (Česká Lípa), Aussig (Ústí nad Labem), Tetschen (Děčín), Teplitz (Teplice), Brüx (Most), Komotau (Chomutov), Görkau (Jirkov), Oberleutensdorf (Litvínov), Karlsbad (Karlovy Vary), Falkenau an der Eger (Sokolov), Eger (Cheb) – liegen entlang der tschechisch- sächsischen Grenze und in ihnen lebt in etwa die Hälfte aller Einwohner dieser Gebiete.

Tab. 2: Vergleich der Einwohnerzahl in den deutsch-tschechischen Grenzgebieten

Quelle: ČSÚ, Statistisches Landesamt Einwoh- Bevölke- Anzahl Anteilder Anteil der Bayern, Statistisches Landesamt Sachsen nerzahl rungs- Städte Bevölkerung Bevölkerung Stand: 2001 (in Mio) dichte über 20 in Städten in Gemein- pro km2 Tsd. Ein- mit über 20 den bis 500 wohner Tsd. Einw. Einwohner Tschechisches Grenzgebiet mit Sachsen 1,19 139 13 51,7% 4,3%

Tschechisches Grenzgebiet mit Bayern 0,25 43 1 9,2% 17.2%

Sächsisches Grenzgebiet mit ČR 1,25 176 – – –

Bayrisches Grenzgebiet mit ČR 0,91 100 – – –

ČR 10,21 129 63 44,6% 8,5%

Sachsen 4,38 238 – – –

Bayern 12,36 175 – – –

BRD (1999) 82,20 230 – – –

Quelle: Analýza a předpokládaný vývoj hraničních oblastí ČR–SRN. Výzkumný projekt Ministerstva zahraničních věcí ČR RB 6/5/3 [Analyse und angenommene Entwicklung der Grenzgebiete BRD–ČR. Forschungsprojekt des Außenministeriums der ČR]. Gaiues/TNS Factum, Praha 2003.

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Die deutsch-tschechische Grenzregion im Kontext der deutsch-tschechischen Beziehungen nach 1989

Seit dem Jahr 1989 erfuhr das sächsische Grenzgebiet dramatischste demographische Veränderungen. Die Gebiete Sachsens an der Grenze zur ČR sind verhältnismäßig dicht besiedelt, obgleich die Bevölkerungsdichte hier wesentlich geringer ist als im Landes - inneren. Dominanter Trend der Entwicklung für ganz Sachsen ist aber das rasante Ab- sinken der Einwohnerzahl – zwischen 1989 und 2002 nahm sie um ein Siebtel ab. Das entspricht etwa 644.000 Einwohnern. Vor allem betraf diese Tatsache die Grenzgebiete, denn die Einwohnerzahl des gesamten Grenzgebiets fiel um ein Fünfzehntel, ausgehend vom Stand des Jahres 1990. Einzige Ausnahme ist der Weißeritzkreises, wo die Zahl um 4 Prozent stieg. Nicht einmal die Aussichten sind besser. Nach Angaben des ‚Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung‘ ist ein Rückgang der Bevölkerung in der Größenord- nung von 10 bis 30 Prozent zu erwarten (z.B. Bautzen –15 Prozent, Annaberg –12 Prozent, Chemnitz –20 Prozent, Görlitz –25 Prozent usw.).39 Das Absinken der Bevölkerungszahl wird zudem von einer Überalterung der Bevöl- kerung begleitet. Auf tschechischer Seite der Grenze laufen ähnliche Prozesse ab, ebenso mit der Alterung der Gesellschaft verbunden. Ein weiteres Problem stellt sich der unausgeglichenen Besiedlung und der niedrigen Bildungsstruktur dar. Zu den sozialen Folgen dieser andauernden bzw. sich vertiefenden Degradierung der Sozial- struktur gehört die Empfänglichkeit, vor allem der jüngeren Leute, für rechtsextreme Ideen und Parolen, die gerade im sächsisch-tschechischen Grenzgebiet aktiven Wie- derhall finden. Spricht man vom Bedürfnis ein grenzüberschreitendes soziales Netz- werk und die dazugehörigen Kontakte zu knüpfen, entwickelt gerade diese Gruppe gefährlich schnell eine neue Bindekraft.40

Tab. 3: Entwicklung des BIP in Sachsen und den Grenzgebieten der ČR, 1995=100

1996 1997 1998 1999 2000 2001

Sachsen 102,9 104.1 104.1 105.4 106.8 109.3

Karlovarský kraj (Kreis Karolvy Vary) 101.8 95.8 92.2 91.0 95.4 92.7

Ústecký kraj (Kreis Ústí/L) 105.3 98.0 93.7 91.8 92.6 92.0

Liberecký kraj (Kreis Liberec) 104.0 103.8 98.3 99.9 104.7 107.4

Quelle: Analýza a předpokládaný vývoj hraničních oblastí ČR–SRN. Výzkumný projekt Ministerstva zahraničních věcí ČR RB 6/5/3 [Analyse und angenommene Entwicklung der Grenzgebiete BRD–ČR. Forschungsprojekt des Außenministeriums der ČR]. Gaiues/TNS Factum, Praha 2003.

39 Vgl. o. A.: Sachsen. Musterland mit Sorgen. In: Die Demografische Lage der Nation. Wie zukunftsfähig sind Deutschlands Regionen? Hg. v. Steffen Kröhnert/Franziska Medicus/Rainer Klingholz. Berlin: dtv 2006, S. 90–99. 40 Vgl. o. A.: Gefährliche Liebschaften. Rechtsextremismus im kleinen Grenzverkehr. Hg. v. Heinrich Böll Stiftung und dem Kulturbüro Sachsen. Berlin 2008.

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Die deutsch-tschechische Grenzregion im Kontext der deutsch-tschechischen Beziehungen nach 1989

Graphik 6: Bevölkerung in der tschechisch-deutschen Grenzregion

tausend Bevölkerung der tschechisch-deutschengrenznahen Region Einwohner (Zustand zum Jahr 2001) 1400

1200

1000

800

600

400

200

0 Sächsische Tschechische Bayerische Tschechische grenznahe Region grenznahe Region grenznahe Region grenznahe Region mit der ČR mit Sachsen mit der ČR mit Bayen Quelle: Analýza a předpokládaný vývoj hraničních oblastí ČR–SRN. Výzkumný projekt Ministerstva zahraničních věcí ČR RB 6/5/3 [Analyse und angenommene Entwicklung der Grenzgebiete BRD–ČR. Forschungsprojekt des Außenministeriums der ČR]. Gaiues/TNS Factum, Praha 2003.

Graphik 7: Indikatorenvergleich der Veränderungen der Bevölkerungszahl in den grenznahen Regionen der ČR und der BRD

Index Indikatorenvergleich der Änderungen der Bevölkerungsanzahl in den grenznahen Regionen der ČR und der BRD (1991=100) 104

102

100

98

96

94

92 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 Tschechische grenznahe Region mit Sachsen Bayrische grenznahe Region mit der ČR Sachsen insgesamt Tschechische grenznahe Region mit Bayern

Anmerkung: Im Fall des sächsischen Grenzgebietes wurden Daten für ganz Sachsen verwendet. Nach allen Feststellungen lässt sich aber annehmen, dass der Trend im sächsischen Grenzgebiet ähnlich oder sogar noch unvorteilhafter sein wird. Quelle: Analýza a předpokládaný vývoj hraničních oblastí ČR-SRN. Výzkumný projekt Ministerstva zahraničních věcí ČR RB 6/5/3 [Analyse und angenommene Entwicklung der Grenzgebiete BRD- ČR. Forschungsprojekt des Außenministeriums der ČR]. Gaiues/TNS Factum, Praha 2003.

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Der Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen Union brachte in das deutsch-tschechische Grenzgebiet ähnliche Effekte von Integrationsprozessen, wie sie aus Westeuropa bekannt sind. Freie Bewegung von Kapital, Dienstleistungen und Personen über das gesamte Gebiet der Union hilft zu einem gewissen Maß das Konfliktpotenzial der Grenzgebiete zu schwächen und zu eliminieren.41 Es ent standen einige neue, qualitativ unterschiedliche soziale Entwicklungen, wie zum Beispiel der ‚grenzüberschreitende Arbeitsmarkt‘, welcher eine professionelle Bezahlung qualifizierter Arbeitskräfte im Nachbarland bietet, gleichzeitig aber ein strukturelles Ungleichgewicht am heimischen Arbeitsmarkt hervorruft.42 Die Be- wegung der Arbeitskräfte im sächsisch-böhmischen Grenzgebiet ruft offensichtlich ähnliche Prozesse der Veränderung bei der individuellen Strategie sich auf dem Arbeitsmarkt zu bewegen hervor, wie das bei der Gruppe von ‚commuting workers‘ (Pendlern) der Fall war – Angestellte, die zu ihrer Arbeit täglich in einen anderen Staat fahren. Ein Charakteristikum für diese Bewegung ist die Dynamik ökonomischer Ver - änderungen, die auf die Entwicklung der Globalisierung der Weltwirtschaft rea - gieren (wachsende Vernetzung und gegenseitige Abhängigkeit der National - ökonomien) und Investitionen in die Grenzregion bringen, die auf die Nutzung momentaner komparativer Vorteile abzielen (billige und qualifizierte Arbeitskräfte, vorteilhafte Besteuerung, territoriale Nähe, Vorteile des Wechselkurses etc.). Er- fahrungen aus dem tschechischen Grenzgebiet legen aber nahe, dass dies mit dem Wachsen der Löhne, der Änderung der Steuerbelastung usw. zu einem schnellen Abfluss des Kapitals führen kann, begleitet vom Wegfall von Arbeitsplätzen, für die man gerade im Grenzgebiet nur schwer Ersatz findet (siehe die Schließung einiger kleinerer Zulieferbetriebe für deutsche Kunden, als spezifische Reaktion auf den Rückgang in der Automobilindustrie nach 2008). Die wachsende gegen- seitige Vernetzung beider Staaten kann im Grenzgebiet also sowohl positive als auch negative Folgen nach sich ziehen.

41 Die schrittweise Beseitigung nationaler Grenzen unterstützt das Bedürfnis nach interregionaler Kooperation und wirkt als unterstützender Integrationsfaktor innerhalb der EU. Gegenwärtig erfordert das höhere Maß an Auto- nomie Entscheidungen auf regionaler Ebene, was ein flexibleres Reagieren auf interregionale Probleme (spillover effects) ermöglicht, die sich aus der Dynamik der wirtschaftlichen Verflechtung ergeben. In der Folge hilft dies eine Machtkonzentration auf höheren Entscheidungsebenen einzuschränken. Näheres vgl. Riccardo Cappellin: Interregional Cooperation in Europe. In: Regional Networks, Border Regions and European Integration. Hg. v. Dems./ Peter W.J. Battery: London: Pion 1993. 42 So fehlen aktuell in den Grenzgebieten der ČR Fachärzte und es ist anzunehmen, dass sich dieses Problem nach dem Beitritt der ČR in die EU auch auf weiteren Gebieten verschärft.

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Die deutsch-tschechische Grenzregion im Kontext der deutsch-tschechischen Beziehungen nach 1989

Im Raum lokaler Gemeinschaften des tschechischen Grenzgebiets43 (denn das Gebiet des deutsch-tschechischen Grenzraumes kann als System von Mikroregionen bzw. Region angenommen werden) entsteht erst ein Geflecht einer bürgerlichen Öffent- lichkeit (Vereine, Verbände, Stiftungen), die grenzüberschreitende Kontakte in das bürgerliche Niveau bringt. Der Trend der wirtschaftlichen Zusammenarbeit verdrängt schrittweise die histori- schen Ressentiments, deren Wiederaufleben aber in der Situation ethnischer Mobilität nicht ausgeschlossen ist. Die Hauptaufgaben muss eine Politik sein, die die Verschär- fung einer Konfliktsituation in den Grenzgebieten verhindert. Bereits nach acht Jahren der Mitgliedschaft der Tschechischen Republik in der Euro- päischen Union kann man konstatieren, dass die neue Situation zur Beschleunigung des Erneuerungsprozesses in den Grenzregionen und vielleicht auch zur wiederholten nationalen Differenzierung der Bevölkerung des Grenzgebietes beiträgt.

Glossar:

Bilingualität: Zweisprachigkeit | Charta 77: 1977 von tschechischen Künstlern, Intellektuellen, Oppositionspolitikern und auch Arbeitern u.a. veröffentlichte Petition gegen die Menschenrechtsverletzungen in der kommunistischen Tsche- choslowakei. Gleichzeitig ein Überbegriff für die daran anschließende Bürgerrechts- bewegung der 1970er und 80er Jahre | Deutsch-Tschechischer Zukunftsfonds: 1997 in der ‚Deutsch-Tschechischen Erklärung‘ beschlossenes Förderprogramm für Projekte, die die Bevölkerung beider Staaten bei der Auseinandersetzung mit der gemeinsamen Kultur und Geschichte zusammenbringen | Flamen: Niederländisch- sprachige Einwohner der belgischen Region Flandern | Karolinum: Karls-Univer- sität in Prag | Kupon/Coupon-Privatisierung: An die Idee des Volkskapitalismus an- gelehnte Form der Privatisierung von Staatseigentum, welches hierbei in Form von Coupons an die Bevölkerung ausgegeben wird. Diese Art der Wiederprivatisierung

43 Das Gebiet des deutsch-tschechischen Grenzraumes kann als System von Mikroregionen bzw. Regionen, die sich außerhalb gemeinsamer Merkmale, wie der territorialen Nähe zur Grenze und der Marginalisierung des Gebietes vom Standpunkt sich unterscheidender Parameter auf politischer, ökonomischer, demographischer u. a. Ebene differenzieren, aufgefasst werden. Klares Kennzeichen der Unterschiede ist z.B. das Wahlverhalten (in dem sich die politische Kultur ausdrückt) der Einwohner einzelner Regionen im Grenzgebiet (u. a. niedrigere Wahlbetei- ligung), obwohl sich auch auf dieser Ebene mildernde Entwicklungen beobachten lassen, die offensichtlich Aus- kunft über die fortschreitende Verringerung der Unterschiede zwischen den Grenzgebieten und dem Landesin- neren Auskunft geben. Vgl. Petr Daněk: Existuje politická kultura českého pohraničí? [Existiert eine politische Kultur des tschechischen Grenzgebietes? In: Geografie 2000

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Die deutsch-tschechische Grenzregion im Kontext der deutsch-tschechischen Beziehungen nach 1989

von ehemals enteignetem Privateigentum wurde vor allem in der Endphase der ehemaligen Tschechoslowakei in der ersten Hälfte der 1990er Jahre durchgeführt | Münchner Krise 1938: Debatte um die friedliche Lösung der Sudentenkrise auf der ‚Münchner Konferenz‘ am 29. September 1938 zwischen Großbritannien, Italien, Frankreich und dem Deutschen Reich | Nordatlantikpakt: Bekannt als ‚North Atlantic Treaty Organization‘ (NATO); am 7. April 1949 unterzeichnetes Militär- bündnis zwischen europäischen und nordamerikanischen Staaten | Proximität: Oberbegriff für die Maßkategorien in einer Clusteranalyse: Ähnlichkeitsmaße, Distanzmaße und Korrelationsmaße | Schengener Abkommen: Das 1985 und 1990 unterzeichnete internationale Abkommen teilnehmender europäischer Länder (vorwiegend EU) zur Aufhebung zwischenstaatlicher Grenzkontrollen. Inzwischen fast vollständig durch EU-Rechtsakten übernommen und ersetzt | Sudetendeutsche: Ehemalige deutschsprachige Bevölkerung der böhmischen Region Sudeten | Wal- lonen: Französischsprachige Einwohner der belgischen Region Wallonie

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Abkürzungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Sächs. HStA Dresden Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden

StFilA Bautzen Staatsfilialarchiv Bautzen

StA Leipzig Staatsarchiv Leipzig

SOkA Ústí nad Orlicí Státní okresní archiv Ústí nad Orlicí

SOkA Děčín Státní okresní archiv Děčín

SOA Litoměřice Státní oblastní archiv v Litoměřicích

AM ÚL Archiv města Ústí nad Labem

Literar. Archiv PNP Literární archiv Památníku národního písemnictví

ÚHS UJEP Ústav humanitních studií Univerzity Jana Evangelisty Purkyně

OÚ Okresní úřad

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Abbildungsnachweis

Abbildungsnachweis

Freundlicherweise stellten uns folgende Institutionen Abbildungen zum Abdruck zur Verfügung:

Ústí nad Labem (CZ), Sammlung Jan Němec: S. 310 Ústí nad Labem (CZ), Sammlung Martin Krsek: S. 187, 189 Ústí nad Labem (CZ), Sammlung Kristina Kaiserová, S. 132 Ústí nad Labem (CZ), Archiv města Ústí nad Labem: 341, 348 Ústí nad Labem (CZ), Muzeum města Ústí nad labem: S. 65, 74, 321, 327 Praha (CZ), Archiv hlavního města Prahy: S. 99 Praha (CZ), Knihovna Národního muzea v Praze: S. 102 Dresden (D), Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB) / Deutsche Fotothek: Christa Hüttel: S. 244; Walter Möbius: S. 254, 255; Lydia Pokoj: S. 46; Günter Rapp: S. 147; André Rous: S. 32, 230; Karin Stein: S. 19; Thomas Görner: S. 212; Dietmar Alex: S. 238; Hans Loos: S. 229; Hans Reinecke: S. 81; Martin Würker: S. 44, 51; Daniel Scholz: S. 22; unbekannter Fotograf: S. 39; SLUB Digitalisierungszentrum: S. 28, 90, 258, 262, 262, 267, 270 Dresden (D), Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB): Jugend 1908, Bd. 2, Nr. 27/52, Nr. 47: S. 331 Dresden (D), Sächsisches Staatsarchiv – Hauptstaatsarchiv Dresden, 10024 – Gehei- mer Rat (Geheimes Archiv), Loc. 9717/35: S. 11 Dresden (D), Staatliche Kunstsammlungen / Galerie Neue Meister: S. 213, 214, 228 London (GB), National Gallery Picture Library, The Art Fund – Sir Robert Witt Fund: S. 277 Hamburg (D), bpk Hamburger Kunsthalle, Elke Walford, S. 210 Bamberg (D), Karl May Verlag Bamberg / Radebeul: S. 168, 180 Dresden (D), Voland & Quist: s. 438 Ostritz (D), Sammlung Tilo Böhmer: S. 151 Radebeul (D), Sammlung Peter Graf: S. 412 Panitzsch (D), Sammlung Marion v. Sahr-Schönberg: S. 277 Děčín (CZ), Státní okresní archiv: S. 311, 378, 386 Ústí nad Labem (CZ), Foto Táňa Nejezchlebová: S. 10 Děčín (CZ), Sammlung, Petr Joza: S. 124 Praha (CZ), Foto Martin Fraus: S. 9

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