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Rita Bake Verschiedene Welten II 109 historische und aktuelle Stationen in Hamburgs Neustadt Verschiedene Welten II

109 historische und aktuelle Stationen rund um den Infoladen der Landeszentrale für politische Bildung und des Jugendinformationszen- trums in Hamburgs Neustadt am Dammtorwall 1

Rita Bake Verschiedene WeltenII 109 historische und aktuelle Stationen rund um den Infoladen der Landeszentrale für politische Bildung und des Jugendinfor- mationszentrums in Hamburgs Neustadt am Dammtorwall 1

Landeszentrale für politische Bildung, Impressum

Die Landeszentrale für politische Bildung ist Teil der Behörde für Die Verfasserin dieser Broschüre hat die Bildrechte eingeholt. Schule und Berufsbildung der Freien und Hansestadt Hamburg. Sollte dies nicht in allen Fällen möglich gewesen sein, bitten wir Ein pluralistisch zusammengesetzter Beirat sichert die Überpar - die Rechte inhaber, sich an die Landeszentrale zu wenden. teilichkeit der Arbeit. © Landeszentrale für politische Bildung; August Hamburg 2010 Zu den Aufgaben der Landeszentrale gehören: Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die der Übersetzung, der Sendung in Rundfunk und Fernsehen und der Bereitstellung im – Herausgabe eigener Schriften Internet. – Erwerb und Ausgabe von themengebundenen Publikationen Lektorat: Elsbeth Müller – Koordination und Förderung der politischen Bildungsarbeit Gestaltung: – Beratung in Fragen politischer Bildung Andrea Orth, Hamburg – Zusammenarbeit mit Organisationen und Vereinen Abbildungen auf dem Umschlag: Grundkarte 1:500, 2010 (Freie – Finanzielle Förderung von Veranstaltungen und Hansestadt Hamburg, Landesbetrieb Geoinformation und politischer Bildung Vermessung); Infoladen der Landeszentrale für politische Bil- dung Hamburg und das Jugendinformationszentrum (Andrea – Veranstaltung von Rathausseminaren für Zielgruppen Orth); Restaurant „Patzenhofer“ Dammtorstraße 14 (Postkarte – Öffentliche Veranstaltungen 1920er Jahre); Dammtorwall im 19. Jahr hundert (Staatsarchiv Hamburg); Renaissance-Garten des Bürgermeisters Lütkens 1716 (Staatsarchiv Hamburg); Kinoeingang in den 1909 eröffnete Unser Angebot richtet sich an alle Hamburgerinnen und Hambur- „Waterloo-Theater“, Dammtorstraße 14 (Staatsarchiv Hamburg); ger. Die Informationen und Veröffent lichungen können Sie wäh- „Hotel Esplanade“ am Stephansplatz (Marina Bruse); „Jenisch- rend der Öffnungszeiten des Informationsladens abholen. Gegen Haus“ am Neuen Jungfernstieg 19 (Marina Bruse); Lessing-Denk- eine Be reitstellungspauschale von 15 3 pro Kalenderjahr er halten mal auf dem Gänsemarkt (Marina Bruse) Sie bis zu 5 Bücher aus einem zusätzlichen Publikationsangebot. Druck: Die Landeszentrale Hamburg arbeitet mit den Landeszen tralen Alsterdruck, Hamburg der anderen Bundesländer und der Bundeszentrale für politische ISBN: 978-3-929728-52-1 Bildung zusammen. Unter der gemeinsamen Internet-Adresse www.hamburg.de/politische-bildung werden alle Angebote er - fasst. Die Büroräume befinden sich in der Dammtorstraße 14, 20354 Hamburg; Ladeneingang Dammtorwall 1. Öffnungszeiten des Informationsladens: Montag bis Donnerstag: 13.30–18.00 Uhr, Freitag: 13.30–16.30 Uhr In den Hamburger Sommerschulferien: Montag bis Freitag: 12.00–15.00 Uhr

Erreichbarkeit: Telefon: (040) 428 23-48 02 Telefax: (040) 428 23-48 13 E-Mail: [email protected] Internet: www.hamburg.de/politische-bildung 5 Inhalt

Einleitung 11 1. Station: Dammtorstraße – Gartenlust (17.–18. Jh.); Schahdemonstration (1967) 18 2. Station: Dammtorstraße 14 – Renaissancegarten des Bürgermeisters Peter Lütkens jr. (17. Jh.); „Waterloo-Hotel“ (1850–1905); „Waterloo-Theater“ (1909–1974); Stolperstein für Dr. Max Fraenkel; „Öffentliche Rechtsauskunft (ÖRA)“; „Landeszentrale für politische Bildung“; „Kulturring der Jugend“; „Jugendinformationszentrum“; Referat „Bildungsurlaub“; Referat „All- gemeine Weiterbildung“ (21. Jh.) 23 3. Station: Dammtorstraße 13 – Café L’Arronge (1932–1972) 56 4. Station: Welckerstraße 6 – Kriegsgefangenen- und Zwangsarbeiterlager (1943–1945) 57 5. Station: Welckerstraße 8 – Logenhaus der „Vereinigten fünf hamburgischen Logen“ (1891–1937 und seit 1971) 58 6. Station: Dammtorstraße 12/Ecke Welckerstraße – Gläsernes Studio der „Aktuellen Schau- bude“ (1957–1967) 59 7. Station: Dammtorstraße 1/Ecke Drehbahn – Palast des Grafen Felix von Potocky (1793–1867) 61 8. Station: Drehbahn 3–5 – „Französisches Theater“/„Apollo Theater“ (1795–1814); „Apollo Saal“ (1804–1875) 62 9. Station: Drehbahn 7 – „Colosseum“ (um 1840–ca. 1862); „Sagebiel’s Etablissement“ (1862–Zweiter Weltkrieg) 67 10. Station: Drehbahn 11 – Stolperstein für Charles Julius Först 70 11. Station: Drehbahn 36–39 – „Wüppermannsche Hof“; „Hummel“ (19. Jh.) 71 12. Station: Drehbahn 36/Caffamachereihe/Dammtorwall – Justizbehörde; Versteigerungshal- len des Gerichtsvollzieheramtes (NS-Zeit); Öffentlicher Dienst und Nationalsozialismus 72 13. Station: Dammtorstraße 1/Ecke Valentinskamp – „Deutschlandhaus“; „Ufa-Palast Ham- burg“ (1929–1942) 78 14. Station: Dammtorstraße 40/Ecke Gänsemarkt – Atelier des Malers Karl Prahl (1930–1940) 81 15. Station: Dammtorstraße 36 – Filiale des „Korsetthauses Gazelle“ (NS-Zeit) 81 16. Station: Dammtorstraße 35 – Stolperstein für Jonny Steffens 83 17. Station: Dammtorstraße 30 – Filmkunsttheater „Metropolis“ (1952–2008) 83 18. Station: Ecke Kleine Theaterstraße/Kalkhof – „Opera Stabile“ 86 19. Station: Dammtorstraße 28 – Kalkhof (1616–1829); „Stadt-Theater“/„Hamburgische Staats- oper“ (seit 1827); „Hamburgische Staatsoper“ in der NS-Zeit; Stolpersteine (NS-Zeit); Elsa Bern- stein, Librettistin (NS-Zeit); „Hamburgische Staatsoper“ nach dem Zweiten Weltkrieg; Geschlechterrollen auf der Opernbühne 86 20. Station: Dammtorstraße 27 – „Schwan-Apotheke“ (seit 1842) 102 6 INHALT

21. Station: Dammtorstraße 25 – Oberschulbehörde (1913–1970); Aspekte der Schulpolitik (1914-1970); Erna Halbe, Arbeiter- und Soldatenrat (1918/19) 104 22. Station: Dammtorstraße 20 – Stolperstein für Hans Westermann 110 23. Station: Dammtorstraße/Riemanns Platz – Taubstummenanstalt (1827–1829) 111 24. Station: Stephansplatz – Erste Ampel Deutschlands (1922); Öffentliche Toilette: Die Ham- burger Spiegelaffäre (1973) 113 25. Station: Stephansplatz/Dammtordamm – 3. Dammtor (1632–1817) 115 26. Station: Stephansplatz 1 – Ehemal. Oberpostdirektion, Telegraphenamt (seit 1887) 117 27. Station: Dammtorwall 1 – Infoladen der „Landeszentrale für politische Bildung“ und des „Jugendinformationszentrums“ (21. Jh.) 121 28. Station: Dammtorwall 7 – Freimaurerkrankenhaus (1795–1885 ) 123 29. Station: Dammtorwall 9–13/Caffamacherreihe – Verwaltungsgebäude der Justizbehörde (seit 1913) 125 30. Station: Dammtorwall 11 – „Arbeitsstelle Vielfalt“ (21. Jh.) 126 31. Station: Dammtorwall 41 – „Notgemeinschaft der durch die Nürnberger Gesetze Betroffe- nen“ (1945–1954); „Beratungsstelle für Wiedergutmachung“ (1945–1946) 127 32. Station: Ulricusstraße – Prostitution (19.–20. Jh.); Obdachlosenheim für Frauen (1927– 1934); „Evangelisch-Sozialer Hilfsverein“ (20–30er Jahre); Bertha Keyser, der Engel von St. Pauli (19./20. Jh.); Christiane Nissen, Mutter von Johannes Brahms, 19. Jh. 129 33. Station: Fürstenplatz – (1799–50er Jahre des 20. Jh.) 134 34. Station: Dammtorwall 15 – „Unilever-Haus“/„Emporio“ (seit 1961); „Liliencron-Filmtheater (1968–1972) 135 35. Station: Dammtorwall vor Hausnummer 46 – Brahms-Monument (seit 1981); Dragoner- stall (1709/11–Mitte 19. Jh.) 140 36. Station: Johannes-Brahms-Platz – „Laeiszhalle“ (seit 1908); „Musikhalle“ während der NS-Zeit; Stolperstein für Jacob Sakom; Armeesender BFN (1945–1953); das „Klingende Museum“ (seit 1989) 141 37. Station: Johannes-Brahms-Platz – Brahms-Denkmal (seit 1981) 145 38. Station: Johannes-Brahms-Platz – Verbandshaus des „Deutschnationalen Handlungsgehil- fen-Verbands“/Brahms-Kontor (seit 1904); Annie Kienast, Gewerkschaftspolitikerin (20. Jh.); „Weibliche Schutzpolizei“ (Nachkriegszeit); „Kellertheater“ (seit 1966) 146 39. Station: Dragonerstall 14 – Geselligkeitsverein „Erholung“ (1815–1957); Das so genannte Gängeviertel: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft 151 40. Station: Dragonerstall 13 – „Stiftung Denkmalpflege Hamburg“ (seit 2. Hälfte 20. Jh.) 159 41. Station: Dragonerstall 11 – Frauencafé „endlich“; Frauenhotel „Die Hanseatin“ (seit 1995) 160 42. Station: Bäckerbreitergang 49–58 – Budenbebauung (18./19. Jh.) 161 43. Station: Valentinskamp 47 – Stolperstein für John Schickler ; „Madhouse“ (1969–21. Jh.) 163 44. Station: Valentinskamp 40–42 und 43 – „Hotel de Rom“ (1800–1814); Witwe Handje (19. Jh.); „Tütge’s Etablissement (1866–1920); „Hamburger Volkszeitung“ (1923–1933); KPD-Bezirksleitung „Wasserkante“ (1923–1933); HJ-Bann 424 (NS-Zeit); Stolperstein für Bruno Endrejat; „Engelsaal“ (seit 2005); „Otto Steins Verkehrslokal der Arbeiter“ (20. Jh.) 164 45. Station: Valentinskamp 38 und 34 – historische Gebäude (17./19. Jh.) 169 INHALT 7

46. Station: Caffamacherreihe – Gastwirtschaften/Arbeiterkneipen (20. Jh.); Mädchenhandel (50er Jahre 20. Jh.) 170 47. Station: Valentinskamp/Ecke Caffamacherreihe – „Concertsaal Auf dem Kamp“ (1761–1804) 174 48. Station: Valentinskamp 57 beim Gänsemarkt – Bar „Bohème“ (20. Jh.–1964/65); Tanzver- bot (1961) 176 49. Station: Valentinskamp 274 – Lithographische Anstalt Speckter (18. Jh.) 177 50. Station: St. Anscharplatz 1 und 2 – Deutsch-reformierte Kirche (18. Jh.–1857); St. Anschar- Kapelle (1860–60er Jahre 20. Jh.); Atelierhaus-Projekt (1932–Zweiter Weltkrieg) 178 51. Station: Valentinskamp 1 und 2/Ecke Dammtorstraße – Schlegel’s Weltrestaurant (1901–1928); Das Gänsemarktviertel 182 52. Station: Gänsemarkt – Bürgermilitär (1814–1866); Hamburger Dom (1804–1892); Europa- markt; Kundgebungsplatz bei Demonstrationen (20. u. 21. Jh.) 183 53. Station: Gänsemarkt – Lessing Denkmal (seit 1881); Nationaltheater (1767–1769); Gotthold E. Lessing und Eva König (18. Jh.) 185 54. Station: Gänsemarkt 36 – Privatgarten (17. Jh.); preußisches Oberpostamt (1841–1888); Finanzbehörde (seit 1918); Leo Lippmann, Staatsrat (NS-Zeit); Leo-Lippmann-Saal; Berthold Wal- ter, Opfer des Nationalsozialismus; Die Rolle der Finanzbehörden in der Judenverfolgung 188 55. Station: Gänsemarkt 35 – „Lessinghaus“ Gewerkschaftsbewegung (19./20. Jh.) 194 56. Station: Gänsemarkt 21/23 – Girardet-Haus (seit 1896); „General-Anzeiger“; „Hamburger Anzeiger“; „Neue Hamburger Zeitung“; Hans W. Fischer, Feuilletonchef; Der „Hamburger Anzeiger“ in der NS-Zeit; Erich Lüth; Hugo Sieker; Wolf Schramm (Journalisten); Vilma Mön- ckeberg-Kollmar (Märchenerzählerin); Harry Reuß-Löwenstein (Kunstkritiker) (20. Jh.); Zei- tungswesen im Girardet-Haus in der Nachkriegszeit 195 57. Station: ABC-Straße 55 – Kellerkneipe „Palette“ (50er Jahre 20. Jh.) 202 58. Station: Gänsemarkt 44 – Stadtbäckerei (seit 17. Jh.) 204 59. Station: Kalkhof – Bordellbezirk (20. Jh.) 205 60. Station: Gänsemarkt 45 – „Lessing-Theater“ (1923–1955): der neue Ufa-Palast“ (1958–2006); Skandal im „Lessing-Theater“ (1919) 205 61. Station: Gänsemarkt/Büschstraße – Zahlenlotto (1770–1774) 209 62. Station: Büschstraße 210 63. Station: Gänsemarkt 66–69 –„Gänsemarktoper“ (1677–1751); Die Oper als Wirtschafts-, Standort- und PR-Faktor (17.–18. Jh.); Inneneinrichtung, Operntechnik und das Publikum (17.–18. Jh.); Der Niedergang der Gänsemarktoper (18. Jh.); Opernchefin mit Ausstrahlung: Margaretha Susanna Kayser (18. Jh.); „Comödienhaus“ (1765–1827) 211 64. Station: Gänsemarkt 71–75/Colonnaden 17/19 – „Englischer Reitstall“ (1724–1885) 219 65. Station: Gänsemarkt 53/55 – Hauptgeschäftsstelle des „Hamburger Abendblattes“ (1949–1977); Nikolauspantoffeln/Nikolauspakete: Hilfe für Arme und Zeichen der Verbunden- heit mit Berliner Familien (1959ff.) 220 66. Station: Jungfernstieg 50 – Buchhandlung „Agentur des Rauhen Hauses“/„Buchhandlung am Jungfernstieg Anneliese Tuchel“ (1926–1998); Widerstandskreis „Hamburger Zweig der Weißen Rose“ (NS-Zeit): Traute Lafrenz, Felix Jud, Hannelore Willbrandt, Marie-Luise Jahn, Reinhold Meyer, Elisabeth Lange, Dr. rer. nat. Katharina Leipelt, Hans Leipelt, Marie Leipelt, Margarethe Mrosek, Heinz Kucharski, Margaretha Rothe, Erna Stahl, Prof. Rudolf Degwitz, 8 INHALT

Albert Suhr, Frederik Geussenhainer, Dr. Kurt Ledien (NS-Zeit); Kunstausstellungen in der Buch- handlung „Agentur des Rauen Hauses“ (NS-Zeit); Johannes P. Meyer (20. Jh.); Anneliese Tuchel (20. Jh.); Klaus Tuchel: Kirche und Homosexualität (20. Jh.) 221 67. Station: Ecke Jungfernstieg/Neuer Jungfernstieg – Befestigungsturm: „Isern Hinnerk (16. Jh.–1728) 227 68. Station: Neuer Jungfernstieg 1 – Böckmann’scher Garten (18.–19. Jh.); „Alsterhalle“/Kondi- toriei A. Giovanoly (1831–1866); Hep-Hep-Krawalle (1835); „Neuer Union-Club“ (19. Jh.) 228 69. Station: Colonnaden 5 – Senator Schemmann, Bauherr (19. Jh.); Heinz Liepmann, Schrift- steller (20. Jh.); erste schwule Buchhandlung Hamburgs, Redaktion der Homosexuellen Zeit- schrift „Der Weg“ (1953–1957) 233 70. Station: Colonnaden 11 – Jazzclub „Barett“ (1953–1966) 234 71. Station: Colonnaden 40a – Stolperstein für Edgard und Flora Francke 235 72. Station: Colonnaden 25/27/Ecke Büschstraße – Antiquitätengeschäft Hecht (19 Jh.-NS-Zeit); Felix Hecht (NS-Zeit); Ausstellungen der Künstlergruppe „Hamburger Gruppe“ (20. Jh.) 236 73. Station: Colonnaden 47 – Stolpersteine für Alfred Jacobsohn und Günther Ehrich 237 74. Station: Colonnaden 104 – „Hamburger Bücherstube Felix Jud & Co.“ (1923–1943); Felix Jud (20. Jh.); Treffpunkt verschiedener Widerstandskreise (NS-Zeit) 239 75. Station: Neuer Jungfernstieg 11 – Stadthaus der Familie Weber: die Weberabende (19. Jh.); Hotel „Vier Jahreszeiten“ (seit 1904) 240 76. Station: Binnenalster – Lustschüten (17.–20. Jh.); Die Binnenalster: ein Ort für politische Großereignisse auf künstlichen Inseln (19. Jh.); Rund um die Binnenalster: politische Veranstal- tungen, Demonstrationen und Lichterketten (20.–21. Jh.) 242 77. Station: Große Theaterstraße 44/45 – SPD-Parteizentrale (1887–1933; 1945–1957); Luise Zietz (19./20. Jh.); Die SPD in der NS-Zeit 245 78. Station: Große Theaterstraße 41 – Homosexuellenlokal „Theaterklause“ (1934–50er Jahre 20. Jh.) 247 79. Station: Große Theaterstraße 10 – „Frauenclub Hamburg 1909 für erwerbstätige, gebildete Frauen“ (1909–1911) 249 80. Station: Große Theaterstraße 22 – Stolpersteine für Ursula und Otto Westphal 249 81. Station: Große Theaterstraße 23 – „Neuer Frauenklub Hamburg“ (1910ff.); Hedwig Weide- mann, bürgerl. Frauenbewegung (19. Jh.); Rednerinnenschule (1910ff.) 251 82. Station: Große Theaterstraße 32 – Homosexuelle Literatur in der „Buchhandlung an der Staatsoper“ (60er Jahre 20. Jh.); Martin Reinecke (20. Jh.) 252 83. Station: Große Theaterstraße 33 – Antonie Petersen, Kunstförderin und Wohltäterin (19. Jh.) 254 84. Station: Große Theaterstraße 34/35 – Alma del Banco, Malerin (20. Jh.) 254 85. Station: Fehlandtstraße 40 – „Urania“-Kino (1927–1980) 255 86. Station: Fehlandtstraße 26–30 – Christliches Kellnerheim (1906–1920) 257 87. Station: Fehlandtstraße 11–19 – Gebäude der „Auer-Druckerei“; Redaktionsräume des „Ham- burger Echo“ (1900–1933); Louise Wegbrod , Redakteurin (19. Jh.); Letzte Sitzung der SPD-Par- teifunktionäre vor dem Verbot der SPD (1933); Buchhandlung Auer & Co. (1900–1933) 259 INHALT 9

88. Station: Neuer Jungfernstieg 19 – „Jenisch-Haus“ (1833–1900); Emilie Jenisch, Wohltäte- rin (19. Jh.); „Amsinck-Haus“ (1900–1925); „Frauenklub Hamburg“ (1910ff.); „Übersee-Club“ (seit 1970) 262 89. Station: Neuer Jungfernstieg 20 – Photoatelier Emilie Bieber (1872–1938); Leonhard Bieber (19. Jh.); Emil Bieber (20. Jh.) 266 90. Station: Neuer Jungfernstieg 21 – „Hamburgisches Welt-Wirtschafts-Archiv“ (1971–2006); „Deutsche Zentralbibliothek für Wirtschaftswissenschaften“ (seit 2007) 267 91. Station: Esplanade 3 – „Toni Milberg Kursusschule“ (1888ff.) 270 92. Station: Esplanade 6 – Teestube im „Bauzentrum“ (50er/60er Jahre 20. Jh.); Begegnungs- stätte „Die Brücke“ (1946–50er Jahre 20. Jh.) 271 93. Station: Esplanade 11 – „Christliches Hospiz Baseler Hof“ (seit 1906) 273 94. Station: Esplanade 14, 15 und 16 – Bischofskanzlei im Sprengel Hamburg und Lübeck (seit 2001); Maria Jebsen, Bischöfin (21. Jh.)„Evangelische Akademie (20. Jh.); „Christliche Akade- mie des Vereins Christlicher Hoteliere“ (seit 2004) 274 95. Station: Esplanade 23 – Redaktionsräume des R. Putziger Verlages, Herausgeber der Homo- sexuellenzeitschrift „Die Insel“ (1951–1952) 277 96. Station: Stephansplatz 10/Ecke Esplanade – „Hotel Esplanade“ (1908–1939); „Staatskom- missar für die Ausschaltung von Nationalsozialisten (Nachkriegszeit); „Esplanade-Theater“ (1948–1982); „Spielbank Hamburg“ (seit 2006) 278 97. Station: Esplanade 37 – Emma Lazarus, Saloniere (19. Jh.) 283 98. Station: Esplanade 39 – Charlotte Embden, Schwester und Unterstützerin Heinrich Heines (19. Jh.) 284 99. Station: Hans-Grahl-Weg – Hans Grahl, Heldentenor (NS-Zeit) 285 100. Station: Gustav-Mahler-Park – Denkmal für Friedrich Schiller (seit 1958) 287 101. Station: Dammtordamm – Alter Dammtorbahnhof (1866–1903); „CinemaxX-Kino“ (seit 1996) 289 102. Station: Edmund-Siemers-Allee – Neuer Dammtorbahnhof (seit 1903) 290 103. Station: Dag-Hammarskjöld-Platz – Dag Hammarskjöld, UNO-Generalsekretär (20. Jh.) 291 104. Station: Dammtordamm 2 – Polizeigebäude (seit 1879) 292 105. Station: Dammtordamm – so genanntes 76er Denkmal (seit 1936); Gegendenkmal (seit 1985) 292 106. Station: Gorch-Fock-Wall 11 – Ehemal. Generalzolldirektion (seit 1893) 294 107. Station: Gorch-Fock-Wall 15–17 – Ehemaliges Dienstgebäude der „Behörde für Versiche- rungswesen“ (seit 1885); „Hygienisches Institut“ (1930–1986) 295 108. Station: Wallanlagen (seit 17. Jh.) 296 109. Station: Wallanlagen – „Alter Botanischer Garten“ (seit 1821) 298 Adressregister – Straßenregister – Sachregister – Namen 300 An diesem Buch wirkten mit 314 10 KOLUMNENTITEL · Stichwort 2. Ordnung Verschiedene WeltenII

Die Grundkarte (Maßstab 1:500) in ihrer jüngsten Ausgabe 2010 zeigt nach wie vor große Baudichte, auch gibt es noch alte Straßenverläufe und Straßennamen aus sehr lang zurückliegenden Zeiten. Freie und Hansestadt Hamburg, Landesbetrieb Geoinformation und Vermessung EINLEITUNG 11

109 historische und aktuelle Stationen rund um den Infoladen der Landeszentrale für politische Bildung und des Jugendinformationszentrums in Hamburgs Neustadt am Dammtorwall 1

edes Stück Bauland in Hamburgs Innenstadt hat seine wechselvolle JGeschichte – so auch die Gegend, in der Anfang 2010 die Landeszen- trale für politische Bildung und das Jugendinformationszentrum ihren Informationsladen und ihre Büros bezogen haben. Von 2004 bis Ende 2009 noch in Hamburgs Altstadt ansässig, befinden sich die beiden In- stitutionen auch hier in der Neustadt auf historischem Boden, der von verschiedenen Welten erzählen kann. Und so präsentieren wir Ihnen nun den zweiten Teil der Publikation „Verschiedene Welten“.1) Im ersten Teil ging es um die wechselvolle Geschichte rund um den Infoladen der Landeszentrale und des Jugendinformationszentrums im Hamburger Kontorhausviertel. In dem Ihnen nun vorliegenden Buch bieten wir Ihnen einen Rundgang durch Hamburgs Neustadt an. Ein spannendes Stück Zeitgeschichte, das uns hier begegnet. Der Spaziergang umfasst folgende Straßen, Parks und Plätze: Dammtorstraße, Drehbahn, Kleine Theaterstraße, Stephansplatz, Damm- torwall, einen Teil der Caffamacherreihe, Ulricusstraße und Fürstenplatz (die beiden letztgenannten Straßen sind heute nicht mehr vorhanden), Dragonerstall, einen Teil des Bäckerbreiterganges, Valentinskamp, Gän- semarkt, Kalkhof, Büschstraße, einen Teil des Jungfernstiegs, Neuer Jungfernstieg, Colonnaden, Große Theaterstraße, Fehlandtstraße, Espla- nade, Hans-Grahl-Weg, Gustav-Mahler-Park, Dag-Hammarskjöld-Platz, Dammtordamm, Gorch-Fock-Wall, einen Teil der Wallanlagen und den alten Botanischen Garten. In der Gegend des Valentinskamps, der Caffamacherreihe und des Bäckerbreitergangs erstreckte sich lange Zeit ein Teil des Gängevier- tels der Hamburger Neustadt: eine mit Fachwerkhäusern dicht bebaute

1 Die erste Publikation „Verschiedene Welten“ straße. Siehe: Rita Bake: Verschiedene Welten. 45 beschäftigte sich mit der Gegend rund um den histo rische Stationen rund um den Infoladen der damaligen Sitz des Infoladens der Landeszentrale Landeszentrale für politische Bildung und des für po li tische Bildung und des Jugendinformati- Jugendinformationszentrums. Hamburg 2005, ak- onszentrums in der Altstädter Straße und Stein- tualisiert 2009. 12 EINLEITUNG

Gegend, geprägt durch Hinterhöfe, schmale Gänge und Twieten. Hier wohnten viele Arbeiterinnen und Arbeiter, hier hatte die KPD eine ihrer Hochburgen, aber auch die SPD führte dort Versammlungen durch, und in der Nähe des Gängeviertels, in der Großen Theaterstraße, lag lange Jahre ihre Parteizentrale. Daneben gab es im Gängeviertel eine Vielzahl von Arbeiterkneipen und Veranstaltungssälen, in denen politisch agitiert wurde. Noch heute wird die Gegend um den Informationsladen der Lan deszentrale für politische Bildung und des Jugendinfor mations zen- trums für politische Aktionen genutzt, so die Dammtorstraße, der Gänse-

Die folgenden fünf historischen Karten zeigen das in diesem Buch behan- delte Gebiet der Hamburger Neustadt im Wandel der Zeit.

1657 Kartenausschnitt aus: HamburgumHambvrgvm. [Amsterdam] [1657]. Blickrichtung von Westen. Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Kt H27

Isern Hinnerk Gänsemarkt

späterer Neuer Jungfernstieg

Valentinskamp

Dammtorstraße

spätere Esplanade

Dammtorwall EINLEITUNG 13 markt und die Binnenalster für Demonstrationen, Lichterketten und po- litische Kundgebungen und das so genannte 76er-Kriegerdenkmal und dessen Gegendenkmal am Dammtordamm z. B. für Auftaktveranstal- tungen zum jährlichen Antikriegstag am 1. September. Der Informationsladen liegt aber auch in einem ehemaligen Zen- trum der Kultur: der Musik, der Filmkunst, der Oper, des Tanzes, der Literatur und der bildenden Kunst. Hier gab es Tanzsäle, Künstlerateliers und Treff punkte der Boheme sowie in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahr hunderts Kneipen, in denen „Beatniks“, „Gammler“ und „Exis“ ver - kehr ten. In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts existierte in diesem Umkreis „eine blühende homosexuelle Subkultur. Anfang der 50er Jahre befand sich immer noch jedes dritte Homosexuellenlokal in der Neustadt. [Und] die meisten deutschsprachigen Homosexuellen Zeitschriften wur- den hier hergestellt.“2)

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1794 Kartenausschnitt aus: Grundriss der kaiserl. Freien Reichs-Stadt Hamburg im Jahre 1794, gestochen von T. A. Pingeling. [Hamburg] 1794. Dragonerstall (1), Dammtorwall (2), Große Drehbahn (3), Dammtor (4), spätere Esplanade (5), Dammtorstraße (6), Valentinskamp (7), Gänsemarkt (8) und Binnenalster (9). Blickrichtung von Süden. Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Kt H144

2 Bernhard Rosenkranz, Ulf Bollmann, Gottfried Lorenz: Homosexuellen-Verfolgung in Hamburg 1919–1969. Hamburg 2009, S. 19. 14 EINLEITUNG

In der Esplanade etablierte sich ein Zentrum der evangelischen Kirche. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts war hier ein christliches Kellnerheim eröffnet worden, aus dem das christlich geführte Hotel „Baseler Hof“ hervorging. Auch hatte die „Evangelische Akademie“ und haben heute die Bischofskanzlei im Sprengel Hamburg und Lübeck sowie die „Christliche Akademie des Vereins Christlicher Hoteliere“ in der Esplanade ihren Sitz. Während der NS-Zeit gab es rund um den Gänsemarkt heimliche Stätten des Widerstands, so in der „Bücherstube von Felix Jud“ in den Colonnaden, in der „Buchhandlung Conrad Kloss“ im Deutschlandhaus an der Dammtorstraße, in der „Buchhandlung der Agentur des Rauhen Hauses“ am Jungfernstieg 50 und auch im Feuilleton des „Hamburger Anzeigers“ am Gänsemarkt. Daneben wurden viele Menschen, die in dieser Gegend wohnten oder arbeiteten, aus politischen, „rassischen“ und Glaubensgründen verfolgt und getötet und deren Firmen und Ge- schäfte „arisiert“. An Wohnhäusern und öffentlichen Gebäuden verlegte „Stolpersteine“ erinnern daran. Gleichzeitig vollzogen in unmittelbarer Nähe – so z. B. in der Justiz-, Finanz- und Schulbehörde an der Dreh- bahn, am Gänsemarkt und in der Dammtorstraße – Angestellte und Be-

1827 Kartenaus- schnitt aus: Hamburg 1827 von C. L. B. Mirbeck, B. Baker Sculps. Hamburg 1827. Blickrichtung von Süden. Staats- und Uni- versitätsbiblio- thek Hamburg Kt H35b EINLEITUNG 15 amte des öffentlichen Dienstes die Anweisungen des NS-Staates, han- delten Behörden- und behördliche Abteilungsleitungen ganz im Sinne des nationalsozialistischen Gedankengutes. Auch wurde in den Verstei- gerungshallen des Gerichts voll zieheramtes im Hof der Justizbehörde an der Drehbahn Besitz von deportierten und ausgewanderten Juden und Jüdinnen und und Roma versteigert. In der unmittelbaren Nachkriegszeit hatten im Dammtorwall dann die „Notgemeinschaft der durch die Nürnberger Gesetze Betroffe- nen“ und die „Beratungsstelle für Wiedergutmachung“ ihre Büros, und am Stephansplatz 10 begann der „Staatskommissar für die Ausschaltung von Nationalsozialisten“ seine Arbeit. Gleichzeitig wurde 1946 im „Wa- terloo-Kino“ – dort, wo sich heute der Infoladen der Landeszentrale für politische Bildung und des Jugendinformationszentrums befindet – der

1854 Kartenausschnitt aus: Illustrirter Plan von Hamburg: [Vogelschau]. Hamburg 1854. Blickrichtung von Norden. Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Kt H43 16 EINLEITUNG

Um 1880 Kartenausschnitt aus: Plan von Hamburg. Hamburg [ca. 1880]. Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Kt H42 EINLEITUNG 17

Film „Die Todesmühlen“ gezeigt: ein Dokumentarfilm, den amerikani- sche Kameraleute kurz nach der Befreiung der Häftlinge in den Kon- zentrationslagern gedreht hatten. Und in der von der britischen Militär- regierung eingerichteten Begegnungsstätte „Die Brücke“ in der Esplanade 6 wurden Lehrfilme des britischen Erziehungsministeriums und Werke, die der so genannten „Re-education“, der Umerziehung der Deutschen zur Demokratie, dienen sollten, aufgeführt. Es gäbe an dieser Stelle noch viel mehr aufzuzeigen, denn der Rundgang führt an einer Vielzahl und Vielfalt von unterschiedlichen In- stitutionen, Gebäuden, Vereinen, Gewerben etc. vorbei. Dabei wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Das Gleiche gilt bezüglich der Ermittlung der Geburts- und Sterbedaten für die in diesem Buch aufge- führten Personen. Die 109 Stationen sind so angelegt, dass Sie sich einzelne Routen zusammenstellen oder aber auch auf einem längeren Spaziergang der gesamten Strecke folgen können. Da sich in einigen Fällen die Straßen- folge und sehr oft die Bebauung stark verändert haben, sind die alten Hausnummerierungen nicht mehr in allen Fällen identisch mit den ak- tuellen Hausnummern. Wenn nicht anders vermerkt, wurden die aktu- ellen Hausnummern angegeben. Wegen der straßenbaulichen Veränderungen können manche Standorte von Gebäuden und auch Wohnadressen nicht mehr exakt ausgemacht werden. Soweit nicht anders vermerkt, sind die Texte von Rita Bake. 18 DAMMTORSTRASSE · Gartenlust 17.–18. Jh.

Ländliche Idylle, wo heute 1. STATION Straßenlärm und Auspuffgase Dammtorstraße Ohren und Nasen strapazieren Die Straße wurde „zu Beginn des 17. Jahrhunderts als Als im 17. Jahrhundert die Umwallung der Ham- Bestandteil der Wallanlagen burger Neustadt angelegt wurde, wurden nicht alle bebaut. Noch im Jahre nun durch die Umwallung geschützten Stadtgebiete 1620 wurde dort eine Wiese städtisch bebaut. Besonders die Gegend zwischen vermietet.“1) der damals angelegten Dammtorstraße und der Als- Gartenlust (17.–18. Jh.); ter besaß noch lange Zeit Gärten von bedeutender Schahdemonstration (1967) Ausdehnung. Die Dammtorstraße führte damals vom Gänsemarkt (siehe S. 182) entlang an Gärten, Feldern und Wiesen zum Dammtor (siehe S. 115), das damals ungefähr am heutigen Stephansplatz (siehe S. 115) stand, und dann weiter nach Harve- stehude.

Im 17. und 18. Jh. war die Gegend an der Dammtorstraße eine Gartenlandschaft. Wo damals der Kalkhof stand, wurde später das Stadt-Theater/Hamburgische Staatsoper erbaut. Kartenausschnitt aus: Hamburg/Urbi/Inclytae Felicia Quaeque Precator Civis Qui Editit Samuel König. [Hamburg] [ca. 1675]. Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Ks 189/960: 2.3,321

1 Reinhold Pabel: Alte Hamburger Stra- ßennamen. 2001, S. 72. DAMMTORSTRASSE · Gartenlust 17.–18. Jh. 19

Die Dammtorstraße im 19. Jh. vom Dammtor aus gesehen, das mittlere Gebäude links, das die anderen Häuser überragt, ist das Stadt-Theater. Staatsarchiv Hamburg

Die Dammtorstraße Anfang des 20. Jh. vom Gänsemarkt in die Straße gesehen, das Gebäude links, dessen Eck- türme Kuppeldächer tragen, ist die Oberpostdirektion. Staatsarchiv Hamburg 20 DAMMTORSTRASSE · Schahdemonstration

Schahdemonstration 19.20 Uhr: Dammtorstraße frei. 19.25 Uhr: Die erste Straßenbahn fährt wieder, für Seit dem 20. Jahrhundert ist die Dammtorstraße im- den Autoverkehr wird die Straße aber erst nach mer wieder Schauplatz von Demonstrationen. Sie Schluss des Opernbesuchs freigegeben. gehört bis heute zur Route von Protestmärschen, 19.30 Uhr: Sitzstreik vor dem Botanischen Garten, die z. B. von der Moorweide zum Gänsemarkt, Rat- Rufe im Chor: ‚Mörderpack, Mörderpack!‘ Wieder haus oder Gewerkschaftshaus führen. Schläge mit dem Gummistab, wieder Feuerwerks- Als 1967 anlässlich des Staatsbesuches des Schahs körper. von Persien (1919–1980) in vielen deutschen Städten Der Polizei-Einsatz scheint jetzt ohne Konzept zu Demonstrationen von Regimegegnerinnen und -geg- sein. Reiterstaffel und Demonstranten spielen Katz nern stattfanden, war die Dammtorstraße Austra- und Maus. Wenn die Pferde in Richtung Botanischer gungsort einer Protestversammlung, in der es zu Garten preschen, flitzen die Jugendlichen davon, heftigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei werden die Pferde zurückgezogen, dringen die Ju- und Demon s trierenden kam. gendlichen wieder zum Stephansplatz vor. Allmäh- Am 2. Juni 1967 war in bei einer Schah de - lich setzen die ersten Jugendlichen sich in Richtung mons tration der Student Benno Ohnesorg (1940– Rathausmarkt in Bewegung.“2) 1967) durch eine Polizeikugel getötet worden. Als Die Bilanz des Einsatzes war: 28 Festnahmen, drei einen Tag später der Schah die Hamburgische Staats- leicht verletzte Polizisten, ein schwer verletzter Bild- oper in der Dammtorstraße besuchen wollte, kam reporter, ein verletzter Demonstrant, zwei verletzte es dort zu Protest aktionen. Im „Hamburger Abend- Perser, die von Demonstranten geschlagen worden blatt“ konnte man am nächsten Tag über die De- waren. monstration lesen: In dem vom AStA der Universität Hamburg veröf- „19.00 Uhr: Die Dammtorstraße ist zwischen Gänse- fentlichten Augenzeugenbericht des damaligen Stu- markt und Dammtorwall abgesperrt. Am Dammtor- denten und späteren Staatsrats der Senatskanzlei und wall stehen hinter der Absperrung auf beiden Stra - der Kulturbehörde Gert Hinnerk Behlmer (geb. 1943) ßenseiten einige hundert Jugendliche mit schwarzen wurde der Vorgang wie folgt beschrieben: „Gegen und HSV-Fahnen und schreien im Chor: ‚HSV‘ und 18.30 Uhr traf ich aus Richtung Dammtorwall kom- ‚Nieder mit dem Schah‘. mend in der Dammtorstraße ein und drängte mich 19.05 Uhr: Die Reiterstaffel postiert sich mit zehn durch die schon wartenden Personen bis vor das quer Pferden vor der stärkeren Gruppe auf der Seite der über die Dammtorstraße gezogene Gitter vor. (…) Schulbehörde [Dammtorstraße 25]. Gekreische, als Hinter einer zweiten Gitterreihe stand eine Polizei- aus dem Polizeilautsprecher zum Weitergehen mit kette. Dahinter Mannschaftswagen der Polizei, ein der Begründung ‚Es hat keinen Zweck‘ aufgefordert Lautsprecherwagen, auf der Opern straßenseite 10 be- wird. Neue Rufe: ‚Mörder, Mörder, Mörder.‘ rittene Polizisten. Direkt gegenüber der Oper stand 19.07 Uhr: Der Schah kommt. Wieder im Chor: ‚Mör - die schon vom Rathaus bekannte Gruppe der für den der‘ und Pfiffe. Das Kaiserpaar geht mit unbe wegten Schah demonstrierenden Perser. Mehrere hundert Stu - Gesichtern in die Oper. Ein Ei zerspritzt an der Sei- denten vor dem Gitter riefen die bekannten Sprech - tenscheibe des Kaiser-Mercedes. chöre (…) [‚Nieder mit dem Schahregime’, ‚De mo- 19.11 Uhr: ‚Pferde marsch!‘ Unter Riesengeschrei kratie – ja, Diktatur, nein‘, ‚Mörder‘], pfiffen auf laufen die Demonstranten zurück. Der erste Feuer- Trillerpfeifen und schwenkten Fahnen. Da ich direkt werkskörper explodiert. am Gitter stand, kann ich bezeu gen, dass in der Zeit 19.14 Uhr: Sitzstreik auf der Dammtorstraße. Wilde von 18.30–19.10 Uhr an dieser Stelle kein einziges Flucht vor den Pferden. Einige Polizisten haben den Wurfgeschoss flog. (Das vielzitierte eine Ei, das die Gummistab gezogen und benutzen ihn auch. Seitenscheibe laut Pressefotos eines Mercedes traf,

2 Zit. aus: Erik Verg: Vierzig Jahre Hamburger Abendblatt. Hamburg 1988, S. 182. DAMMTORSTRASSE · Schahdemonstration 21 wurde geworfen, als die Kolonne vom Gänsemarkt in Demonstranten wurden bis zum Kriegerdenkmal die Dammtorstraße einbog.) Im Übrigen betrug die von mehreren Polizeibeamten verfolgt und geschla- Entfernung zum Operneingang über 50 Meter. Auch gen. Nach wenigen Minuten zogen sich die Reiter die gemeldeten Schreckschüsse fielen nicht, solange und die Beamten zu Fuß wieder auf die Verkehrsin- die Pferde noch hinter der Gitterlinie standen. sel des Gorch-Fock-Walls zurück. Die Demonstran- Etwa 5 Minuten, nachdem der Schah aus Richtung ten rückten wieder nach, riefen ‚Mörder‘, machten Gänsemarkt kommend gegen 19.10 Uhr die Oper jedoch genauso wenig wie zuvor den Versuch, über betreten hatte und die ersten Demonstranten ab- die Straße vorzugehen. Das Ganze wiederholte sich wanderten, rückte die Reiterstaffel ohne Ankündi- bis 20 Uhr noch zwei Mal.“3) gung vor. Polizisten zu Fuß schoben Absperr- gitter auseinander, zogen den Gummistab und gingen ebenfalls vor. Die Mehrzahl der Demonstranten lief schreiend in Richtung Stephansplatz, auf dem reger Autoverkehr aus Richtung Gorch-Fock-Wall, Colonnaden und Esplanade herrschte. Einige wenige folg- ten für Augenblicke den Rufen ‚hinsetzen‘. Erst jetzt ertönte, auffallend leise, der Laut- sprecherwagen: ‚Folgen Sie den Anordnun- gen der Polizei!‘. Die Pferdestaffel ritt in die Sitzenden hinein, Polizeibeamte zu Fuß traten und schlugen Sit- zende und solche, die hinter der Menge zu- rückwichen, so schnell sie konnten. Ein Feu - Polizeieinsatz in der Dammtorstraße/Stephansplatz während Photo aus: Ernst Christian er werkskörper explodierte – ein Pferd stieg. der Schahdemonstration am 3.6.1967. Schütt unter Mitarbeit von Norbert Fischer und Hanna Vollmer-Heit- In wenigen Minuten war die ohnehin ge- mann sowie Erik Verg: Chronik Hamburg. 2. aktualisierte Aufl. Güters- sperrte Dammtorstraße frei, dafür entstand loh 1997, S. 549. ein Verkehrschaos auf dem Stephansplatz. Zwischen eingekeilten Autos flüchteten Menschen Gerd Hinnerk Behlmer kommt in seinem Augenzeu- – ein Mädchen stieg über die Haube eines Volkswa- genbericht zu dem Schluss: „Ich erkläre den be- gens – hinter ihr wurde geschlagen. schämenden Einsatz auch der Hamburger Polizei an- Ich sah keinen einzigen, der Widerstand leistete. lässlich des Schahbesuchs aus der Fehl einschätzung Um 19.30 Uhr war der Stephansplatz wieder be- der überwiegenden Mehrzahl der Demonstrierenden, fahrbar – die Menge hatte sich auf die Straßenecken aus deren Unverständnis, auf das ihr berechtigter verteilt, eine geschlossene Demonstrationsgruppe und mit angemessenen Mitteln zum Ausdruck ge- befand sich an der Ecke des Botanischen Gartens brachter Protest gegen die politischen Verhältnisse und rief in Sprechchören: ‚Mörder!‘ Geworfen wurde im Iran, gegen diesen Staatsbesuch und gegen die nichts! Ich stand 30 m entfernt auf der Verkehrsinsel Berliner Polizeiaktionen stieß. Die Schuld tragen die- in der Mitte der Dammtorstraße. Ohne Ankündigung jenigen politisch Verantwortlichen und der Teil der ritt genau um 19.30 Uhr eine Staffel von 6 Polizisten Presse, die wider besseres Wissen von den De mons- plötzlich über den Fußgängerüberweg des Gorch- trierenden das Bild von: ‚unreifen Jugendlichen‘, Fock-Walls, etwa 10 Polizisten mit Gummistäben in ‚Störenfrieden‘, ‚stupiden Schmäh rufern‘, ‚Rabauken‘, den Händen folgten. Zum ersten Mal hatte ich den ‚Wirrköpfen‘, ‚Radau brüdern‘, ‚rüpelhaf ten, dümm- Eindruck, dass brutal geschlagen wurde. Einzelne lichen Halbstarken‘ usw. usw. gezeichnet haben.

3 Augenzeugenbericht vom Schah-Be- Gesichtspunkten. Verfasst von Gert- ausschusses der Universität Hamburg, such in Hamburg vom 3.–4. Juni 1967. Hinnerk Behlmer, 21.6.1967. Hrsg. vom 1/67, S. 4–5 und Anmerkung 12 auf Versuch einer Beurteilung des Verhal- AStA der Universität Hamburg. In: S. 7, in dem hier zitierten Text in Klam- tens von Demonstranten und Polizei AStA-Dokumente. Berichte und Infor- mern eingefügt. unter rechtlichen und polizeitaktischen mationen des Allgemeinen Studenten- 22 DAMMTORSTRASSE · Schahdemonstration

Die viel geforderte ‚Selbstreinigung‘ der Studenten- missbrauchen zu lassen, dass Nichttoleranz das Bild schaft scheint mir zur Vermeidung ähn licher Kon- der Straße bestimmt. Das wäre der Anfang vom flikte jedenfalls nicht das vordringliche Problem zu Ende der Würde des Menschen.‘“6) sein! gez. Gert Hinnerk Behlmer“4) So wie Herbert Weichmann verurteilten viele Bür- Der damalige Erste Bürgermeister Herbert Weich- gerinnen und Bürger die Demonstrationen der jun- mann (SPD, 1896–1983) stand den Demonstrieren- gen Menschen. Aber es gab auch andere, die Ver- den äußerst ablehnend gegenüber. In einem am Tag ständnis zeigten. Unter Letzteren befand sich der nach der Schahdemonstration veröffentlichten Arti- damalige evangelische Landesbischof Hans-Otto kel des „Hamburger Abend blattes“ zu den Protest- Wölber (1913–1989). Als dieser nach den Demons- aktionen wurde er wie folgt zitiert: „‚Dieser Tag war trationen 1967 im Hamburger Rathaus vor der Syno- in meiner Bürgermeistereigenschaft ein schwarzer de zum Thema „Kirche und Jugend“ sprach, ging Tag – und ein schwarzer Tag auch in der Geschichte er auch auf die protes tierende junge Generation ein. Hamburgs. (…) Gestern ist in dieser Stadt, die sich Das „Hamburger Abend blatt“ druckte hierzu einen rühmt, ein Tor zu allen Ländern der Welt, ein Tor Artikel von Ferdinand Gatermann ab und zitierte der Freundschaft zu sein, das Gesetz der Gastfreund- aus der Rede. So erklärte Bischof Wölber: „‚Hinter schaft aufs Äußerste verletzt worden gegenüber dem dem Ringen der Jugend steht die Forderung nach Oberhaupt eines Landes, das in freundschaftlicher einer neuen Ordnung der menschlichen Gesell- Absicht zu uns gekommen ist. (…) Es ist in der Ge- schaft.‘ (…) Der Bischof erhob harte Vor würfe gegen schichte dieser Stadt noch nicht dagewe sen, dass die Universitäten, die er als ‚unsere schwächsten der Gastgeber in einer solchen Weise gehindert wor- Stellen der Demokratie‘ bezeichnete. (…) Im Mas- den ist, dem Freund die freundliche Gesinnung un- senbetrieb der Universität mit ihrer hierarchischen serer Stadt zum Ausdruck zu bringen. Mit der Ver- Verfassung komme es kaum zum Dialog zwischen letzung der Gastfreundschaft verband sich zugleich Lehrenden und Lernenden. Der Bischof: ‚Man eine Verletzung des Rufes unserer Stadt. (…) Freiheit möchte fast sagen, wenn es hier nicht zu einer Re- hat ihre Grenze in der Würde, mit der der Freiheits- bellion kommt, wäre es traurig um die deutsche Ju- staat sich darzustellen hat. Diese Würde wurde gend bestellt.‘ (…) Die Unruhe der Jugend (…) habe gründlich verletzt. An die Stelle der erlaubten Dis- viele Faktoren. (…) ‚Hier haben nicht einfach böse kussion trat die Absicht der Ordnungsstörung. Der Leute etwas angezettelt; wenn der Dampfkessel eigenen nationalen Würde wurde ins Gesicht ge- platzt, ist irgend wo der Druck zu groß.‘ (…) Man schlagen. Der Schah fragte mich, warum ge rade er müsse die große Unruhe angesichts des ‚fürchterli- feindlichen Gefühlen in diesem Lande ausgesetzt chen‘ Vietnamkrieges als notwendigen Ausdruck sei, und beschämt wusste ich darauf nichts mehr zu ‚radikaler Ethik‘ in unseren Zeitläuften verstehen. erwidern.‘(…).“5) Wölber: ‚Für die Jugend hat es nicht zu Unrecht Der „Hamburger Abendblatt“-Journalist schrieb in den Anschein, als würde ohne geistige und sittliche diesem Artikel weiter: „Weichmann ging auch auf Kraft von der selbstzufriedenen Gesellschaft einfach die Studenten ein, die einen erheblichen Teil der weitergemacht und als behaupte sie um jeden Preis Demonstranten ausmachten und betonte, dass Ham- ihre überholten Positionen um des relativen Beha- burg erhebliche Steuergelder für die Universität aus- gens willen, das wir noch haben.‘ gebe: ‚Aber nicht, um dem Rabaukentum eine Stätte Der Bischof wies darauf hin, dass die Jugend die der Betätigung zu bieten. Wir wünschen nicht ,Pfeif- bitteren Erfahrungen der älteren Generation nicht konzerte‘, Trillersymphonien und Krawalle aus staat- gemacht habe und daher empfänglicher für Radika- lichen Mitteln Hamburger Steuerzahler zu subven- lismus und Terror sei. Er fragte: ‚Ist das Spiel unserer tionieren‘, so Weichmann. ‚Wir haben in Zukunft Demokratie tatsächlich schon aus? Wenn die Revo- nicht die Absicht, die Gesetze der Toleranz dazu lution mit Feuereifer proklamiert wird, ist die wich-

4 Gert Hinnerk Behlmer, Augenzeu- genbericht, a. a. O., S. 8. 5, 6 Zit. aus: Erik Verg, a. a. O., S. 182. DAMMTORSTRASSE · Schahdemonstration 23 DAMMTORSTRASSE 14 · Bürgermeister Peter Lütkens’ Renaissancegarten

tigste Frage doch wohl, was wir eigentlich zu er- Kerstin von Stürmer in ihrem Buch „Stürmische Zei- warten haben in einer Welt, die nicht nur böswillig, ten. Hamburg in den 60er Jahren“. sondern schwierig und undurchsichtig ist. Ich hoffe, Die Ereignisse anlässlich des Schahbesuches waren dass unsere jungen Leute ganz allgemein merken, der Anfang der „Studentenunruhen“ Ende der 60er dass gerade in unseren Tagen Revolution keine Gaudi Jahre des 20. Jahrhunderts. „Nach Beginn des Herbst- ist, sondern eine Katastrophe, nicht weniger schlimm semesters 1967/68 bestimmen die Ereignisse an der als Kriege. Deshalb muss man auf dem Gebiet der Universität die Entwicklung der Außerparlamenta- Evolution nichts unversucht lassen.‘“7) rischen Opposition (APO) in Hamburg. Am 9. No- In der SPD wurden Bürgermeister Weichmanns An- vember wird die traditionelle Rektoratsübergabe von sichten über die Schahdemonstranten nicht von allen Studenten durch Pfiffe, Sprechchöre und Zwischen- Genossinnen und Genossen geteilt. So „gab es auch rufe gestört. Die Studenten zeigen ein Transparent bei einflussreichen Parteimitgliedern viel Sympathie mit dem Motto: ,Unter den Talaren – Muff von 1000 für die Motive der Studenten. Zugleich stieß die Jahren!‘. [Transparentträger waren die damaligen harte Gangart der Polizei weithin auf scharfe Kritik. AStA-Vorsitzenden Gert Hinnerk Behlmer und Detlev Erschwerend kam hinzu, dass ebenso wie in Berlin Albers (1943–2008)]. Der Ordinarius Bertold Spuler auch in Hamburg Mitglieder der iranischen Geheim- [1911–1990], der den Demonstranten ‚Ihr gehört ins polizei mit Latten und Knüppeln gegen Schah-Gegner KZ!‘ zuruft, wird später von seinen Dienstgeschäften vorgegangen waren“,8) schreiben Uwe Bahnsen und suspendiert.“9)

2. STATION Dammtorstraße 14 „Dammtor-Haus“: Jugendstilgebäude mit Buntsandsteinfassade, erbaut 1908/12 von den Architekten Leon Freitag (1862–1927) und Erich Elingius (1879–1948). Das alte ver- flieste Treppenhaus ist noch vorhanden. Renaissancegarten des Bürgermeisters Peter Lütkens jr. (17. Jh.); „Waterloo-Hotel“ (Standort: 1850–1905); „Waterloo-Theater“/Kino (Standort: 1909–1974); Stolperstein für Dr. Max Fraenkel (NS-Zeit); „ÖRA“ (Standort: seit 2008); „Landeszentrale für politische Bildung“ (Standort: seit 2010); „Kulturring der Jugend“ (Standort: seit 2010); „Jugendinformationszentrum“ (Standort: seit 2010); Referat „Bildungsurlaub“ (Standort: seit 2010); Referat „Allgemeine Weiterbildung“ (Standort: seit 2010)

Bürgermeister Peter Lütkens’ jr. dem Ratsherrn Gerhard Schott (1641–1702) und Renaissancegarten dem Musiker Johann Adam Reinken (verschiedene Angaben zum Geburtsjahr: 1623/1637, getauft 1643– Zwischen Welckerstraße (siehe S. 57) und Damm- 1722) die Gänsemarktoper gegründet hatte, seinen torwall (siehe S. 121) erstreckte sich im 17. Jahr- Sommersitz errichtet. Der Schriftsteller Hans Leip hundert der Renaissancegarten von Bürgermeister (1893–1983) schrieb in seinem Buch „Die unauf- Peter Lütkens jr. (2.7.1636–28. 8.1717). Ganz in der hörliche Gartenlust“ über Lütkens’ Garten: „Hart an Nähe der damaligen Gänsemarktoper (siehe S. 211) der Straße wird das ausgedehnte Gelände von zwei hatte der Opernliebhaber, der 1677 gemeinsam mit steinernen Wohngebäuden flankiert. Eine Mauer ver-

7 Zit. aus: Erik Verg, a. a. O., S. 182. Hamburg. 2. aktualisierte Aufl. Güters- 8 Uwe Bahnsen, Kerstin von Stürmer: loh/München 1997, S. 549. Stürmische Zeiten. Hamburg in den 60er Jahren. Hamburg 2006, S. 94. 9 Ernst Christian Schütt: Chronik 24 DAMMTORSTRASSE 14 · Bürgermeister Peter Lütkens’ Renaissancegarten

bindet die Fronten und enthält ein breites Tor zur zu Bühneneffekten eigen war, lässt auch die Ge- Einfahrt und zwei Pforten. Dahinter sieht man einen staltung seines Sommersitzes ahnen. Elegante Flü- Hofplatz mit Taubenschlag, Sonnensäule, Stallungen, gelbauten und ein hoher hexagonaler Turm erweck- Wirtschaftsgebäuden und einem dünnen sechsecki- ten Assoziationen an ein Herrenhaus, während gen von Galerie und Kuppel gekrönten Turm, der zu gleichzeitig in dem nun deutlicher vom Barock ge- genussreicher Aussicht auf die architektonisch ge- prägten Lustgarten ein großes sternenförmiges Fon- zirkelte Anlage des Gartens einlädt (…). Gegen die tänenbassin die Szene dominierte. Es wurde umge- scharfen Ostwinde sind hohe Rankwände errichtet. ben von Broderien und im Vierpass angelegten Und vor dem Hintergrund des Walles mit den Bas- Rasenkanten, die mit vielen Topfblumen und spitz tionen Ulricus und Rudolphus erkennt man die an geschnittenen Eiben besetzt waren. Skulpturen und den Ziergarten sich reihenden Nutzbeete, die anmu- Vasen thronten auf hohen Sockeln und betonten ten wie von einem Feldwebel gedrillt.“10) diagonale Achsen. An der Trennwand zum Nutz- Auch die Gartenhistorikerin Ingrid Schubert wid- garten und seitlich vor dem hohen Plankenzaun mete sich dem Garten von Peter Lütkens und brach- zeig ten Dutzende von Kübelpflanzen, dass auch te seine Gestaltung in Verbindung mit dessen Liebe Lütkens ein Liebhaber und Sammler dieser empfind- zur Oper: „Dass Peter Lütkens eine gewisse Neigung lichen Gewächse war. Auffällig sind dabei zu schlan-

Renaissance-Garten des Bürgermeisters Lütkens 1716 an der Dammtorstraße. Im Hintergrund der Dammtorwall. Staatsarchiv Hamburg

10 Hans Leip: Die unaufhörliche Gar- tenlust. Ein Brevier der Hamburger Gartenkultur und Gartenkünste seit Karl dem Großen, zuerst erschienen 1953. Hamburg 2004, S. 46f. DAMMTORSTRASSE 14 · Bürgermeister Peter Lütkens’ Renaissancegarten 25 ken Obelisken geschnittene Koniferen – wahrschein- lich Lebensbäume, die damals noch als selten und kostbar galten. Als Orangerie diente offenbar ein Flügelbau an der nördlichen Grenze des Hofes mit völlig verglaster Südseite. Ein breiter Weg führte, effektvoll begleitet von Pflanzen-Obelisken, auf ein hohes, reich ornamentiertes Tor zu.“11) Die bürgerliche Oberschicht, zu der Lütkens gehörte, prägte im 17. Jahrhundert das geistige und kulturelle Leben in Hamburg. Dabei orientierte sie „sich (…) an dem Adel und Hochadel der niedersächsischen und schleswig-holsteinischen wie mecklenburgi- schen Höfe, deren aristokratischen Lebensstil sie – in bescheidenerem Maßstabe zwar, aber doch mit erheblicher Prätention – nachahmte. (…) Eine beson- dere Vorliebe entwickelten die begüterten Hamburger für die Gartenkultur, und die Lusthäuser und Gar- tenanlagen spiegelten wiederum den aristokratischen Stil der großen Schloss- und Parkarchitekturen wider. Lustgrotte in Bürgermeister Lütkens’ Garten 1708 an Die Prachtentfaltung war durchaus als Nachahmung der Dammtorstraße. Staatsarchiv Hamburg des Adels beabsichtigt (…)“,12) schreibt die ehema- lige Direktorin des Museums für Ham burgische Ge- abzuhalten. Und politische Krisen gab es in der da- schichte, Prof. Dr. Gisela Jaacks. Und so stand in maligen Zeit reichlich in Hamburg. Mitte des 17. Lütkens’ Garten auch ein kleiner runder Pavillon – Jahrhunderts herrschten schwere Auseinanderset- Lustgrotte genannt. Lustgrotten galten „in Fürsten- zungen zwischen Rat und Bürgerschaft. Der Rat gärten (…) als geheimnisumwitterte Orte, die in der setzte sich damals aus wohlhabenden Grundeigen- Regel mit kostbaren Werken der Kunst und der Natur tümern und Kaufleuten zusammen. „Die Bürger- aus gestattet wurden. In die Wände eingelassene Mu- schaft bestand in Hamburg aus den männlichen Ein- scheln und Seegetier erzeugten zusammen mit im wohnern, die das Bürgerrecht, für das lutherischer sparsamen Licht der Laterne aufblinkenden Edelstei- Glaube Voraussetzung war, erworben hatten und nen und dem Murmeln einer Quelle eine mystische, Grundbesitz in der Stadt besaßen. Nur sie durften von Transzendenz der Elemente aufgeladene Stim- politisch mitbestimmen und bildeten die so genannte mung. In Lütkens’ Grotte wurde man im Vorraum Erbgesessene Bürgerschaft. Diese war eine Art Ur- zu nächst von zwei in Wandnischen aufgestellten wählergemeinschaft, kein Repräsentativorgan. Das Schönen (…) empfangen, doch änderte sich abrupt Bürgerrecht besaß nur eine Minderheit der Einwoh- der Charakter: Zwei lüsterne Faune bewachten das nerschaft. Im 17. Jahrhundert betrug der Anteil etwa Tor in der rauen Tuffsteinwand, die das eigentliche 15–20%. Hiervon war nur ein Teil ‚erbgesessen‘, Zen trum verbarg. Nicht jeder durfte es betreten. Leider das heißt Eigentümer eines bebauten Grundstücks, auch der Zeichner nicht“,13) so Ingrid Schubert. eines Erbes. Der Kreis der Einwohner mit Berechti- Was Bürgermeister Lütkens in der Lustgrotte tat und gung zu politischer Mitsprache war mithin sehr be- mit wem, das werden wir nicht mehr erfahren. Viel- grenzt“,14) schreibt der ehemalige Direktor des leicht nutzte er, der 37 Jahre dem Hamburger Rat Staatsarchivs Hamburg, Prof. Dr. Hans-Dieter Loose. angehörte, die besondere Atmosphäre solch eines Der Streit zwischen Bürgerschaft und Senat, der zeit- Etablissements, um dort Krisensitzungen des Rates weilig bürgerkriegsähnliche Zustände annahm, be-

11 Ingrid A. Schubert: „Was pflanzt burgs Gartenkultur vom Barock bis ins nis zwischen Barock und Aufklärung diese Stadt für wunderschöne Gär- 20. Jahrhundert. Ostfildern-Riut 2006, (1660–1760). Hamburg 1997, S.15f. ten!“. Von früher Hamburger Lustgar- S. 55. 13 Ingrid A. Schubert, a. a. O., S. 56. tenkultur. In: Claudia Horbas (Hrsg.): 12 Gisela Jaacks: Hamburg zu Lust 14 Hans-Dieter Loose: Kaufleute, Mä- Gartenlust und Blumenliebe. Ham- und Nutz. Bürgerliches Musikverständ- zene und Diplomaten. Finanzierung 26 DAMMTORSTRASSE 14 · Bürgermeister Peter Lütkens’ Renaissancegarten · „Waterloo-Hotel“

gann 1663 „durch den Verdacht der Vetternwirtschaft Dieser Streit fand während der Regierungszeit von bei den Ratswahlen und Missstände in der Recht- Peter Lütkens statt. 1678 war er in den Rat berufen sprechung und Gesetzgebung. Dahinter stand die worden und amtierte vom 3. November 1687 bis grundsätzliche Frage, ob der Rat gegenüber der Bür- kurz vor seinem Tod im August 1717 als Bürgermeis- gerschaft entsprechend dem absolutistischen Prinzip ter. Damals bestand der Senat aus vier Bürgermeis- die Macht der Obrigkeit gegenüber den Untertanen tern und zwanzig Senatoren. Angesichts der politi- besaß oder ob zwischen Rat und Bürgerschaft ein schen Tumulte während Lütkens’ Amtszeit darf die Verhältnis von Mandatsträgern zum tatsächlichen Frage erlaubt sein, ob Lütkens seine Lustgrotte eher Herrschaftsinhaber bestand“,15) so Gisela Jaacks. Und als Zufluchtsort vor handfesten Streitigkeiten, denn Hans-Dieter Loose erläutert: „Rat und Bürgerschaft als Ort für lustvolle Gedanken nutzte. beanspruchten gleichermaßen die höchste Macht und Am Tag, als Lütkens zu Grabe getragen wurde, „er- das höchste Recht im (Stadt-) Staat.“16) hob sich ein schrecklicher Orkan“, erzählt Hans „Da die politischen Gremien in ihrer Zusammenset- Leip, „so dass mit anderen Gärten auch der seine zung aus der Einteilung der Stadt in Kirchspiele er- schwer beschädigt wurde und Turm und Dächer wachsen waren, kam es zu einer Verquickung mit nicht ungeschoren blieben. Die neuen Häuser aber den theologischen Auseinandersetzungen, die die in der ABC-Straße und am Stubbenhuk, deren Bau Ham burger Geistlichkeit und mit ihr die Gemeinden er mitbewilligt, wurden völlig umgeweht und ebenso spalteten, nachdem seit 1678 mit der Wahl Anton der Galgen mit einem wegen Münzvergehens ge- Reisers [1628–1686] zum Hauptpastor an St. Jakobi hängten jüdischen Händlers, dessen Urteil Lütkens und den in den achtziger Jahren erfolgten Ämterbe- noch mit unterschrieben. setzungen durch Johann Winckler [1642–1705] an Gerade in letzterem Vorfall wollten manche trotz St. Michaelis, Johann Heinrich Horb [1645–1695] an aller fortschreitenden humanistischen Aufgeklärtheit St. Nikolai und Abraham Hinckelmann [1652–1695] einen höheren Fingerzeig eräugen. Und es kam ein an St. Katharinen Pastoren in das bis dahin starr or- Gerede auf, der verblichene Bürgermeister habe sein thodox lutherische Hamburg berufen wurden, die unbeschrieenes, allen Verwicklungen, Kriegsläuften, dem Pietismus nahestanden. Beide Gruppen benutz- Parteilichkeiten, Spekulationen und Pestilenzen stets ten eifrig das ihnen zustehende ‚geistliche Strafamt‘ so glückhaft begegnetes Dasein insgeheim womög- (‚elenchus‘) und kommentierten in ihren Predigten lich durch einige scheußliche Teufelspakte gesichert sowohl die politischen Ereignisse wie die ihrer Mei- gehabt.“18) nung nach ketzerischen Lehren der jeweiligen Ge- genpartei. Der Streit eskalierte schließlich in den Jah- „Waterloo-Hotel“ ren 1705–1708 und machte durch einen ‚Terror der Straße‘ die Stadt praktisch funktionsunfähig. Erst das 1850 wurde auf dem Areal Dammtorstraße 14, wo Eingreifen des Kaisers durch Truppenaufmarsch und einst ein Teil des Lütken’schen Gartens lag, das Entsendung einer Kommission, die in vierjähriger Ar- „Waterloo-Hotel“ errichtet. Es galt als modernes beit die strittigen Fragen zu klären suchte, brachte Hotel mit prachtvoller Einrichtung. Doch da es fern der Stadt 1712 die innere Befriedung in dem Haupt- von dem damals einzigen Fernverkehrsbahnhof rezess, der dann für nahezu 150 Jahre die Verfas- Hamburgs, dem Berliner Bahnhof, lag, hatte es nur sungsgrundlage bildete und festlegte, dass das ‚Kyrion wenige Hotelgäste, und so wurde das Hotel schließ- oder das höchste Recht und Gewalt bei E. E. Rat und lich zu Privatwohnungen umgebaut. Als sich später der Erbgesessenen Bürgerschaft inseparabili nexu die Verkehrsverhältnisse änderten und neben dem conjunctim [in unauflöslicher Einheit verbunden] Berliner Bahnhof auch der Dammtorbahnhof (siehe und zusammen, nicht aber bei einem oder andern S. 289) für den Fernverkehr eröffnet wurde, erleb - Teil privative bestehe‘“,17) erklärt Gisela Jaacks weiter. te das „Waterloo-Hotel“ in der zweiten Hälfte des

und Organisationstruktur der alten sien der internationalen Händel-Akade- 17 Gisela Jaacks, a. a. O., S. 15. Hamburger Oper am Gänsemarkt. In: mie Karlsruhe 2001 bis 2004. Karlsruhe 18 Hans Leip, a. a. O., S. 47. Siegfried Schmalzriedt (Hrsg.): Aspekte 2006, S. 323. der Musik des Barock. Aufführungspra- 15 Gisela Jaacks, a. a. O., S. 14. xis und Stil. Bericht über die Sympo- 16 Hans-Dieter Loose, a. a. O., S. 323. DAMMTORSTRASSE 14 · „Waterloo-Theater“ 27

19. Jahrhunderts eine Renaissance. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts war das Hotel dann eine beliebte Adresse für Fremde, aber auch für Gesellschaften, Hochzeitfeiern und andere Festivitäten. 1905 wurde das Haus abgerissen, und das erste grö- ßere vornehme Kino Hamburgs zog in das neue Ge bäude ein.

Das hohe Gebäude links zeigt das 1850 erbaute „Waterloo-Hotel“ an der heutigen Dammtorstraße 14. Staatsarchiv Hamburg

„Waterloo-Theater“ hier annonciert als „moder nes Sitten-Gemälde aus der Gesellschaft“. Am 30. Oktober 1909 kündigte eine Zeitungsanzeige Manfred Hirschel (1892–1967) übernahm das Kino die Eröffnung der „Licht- und Tonbild-Bühne ‚Wa- 1921 und führte es zunächst zusammen mit Her- terloo-Theater‘“ an. Lange Spielfilme gab es damals mann Ulrich Sass und Hugo Streit (1885–?). Hirschel, noch nicht, gezeigt wurde ein Kurzfilmprogramm. nahezu 25 Jahre mit wechselndem Erfolg im Kino- Eine bunte Mischung, zur Eröffnung gab es u. a. geschäft, hatte 1911 als Lehrling im „American Kino“ die Streifen „Die Rollschuhbahn“, „Agra, die be- auf der Reeperbahn begonnen. Die Norddeutsche rühmte Affenstadt in Bengalen“ und „Nero oder Der Brand von Rom“. Das neue Haus war nach Ansicht des Fachblatts „Der Kinematograph“ geeignet, „bald zu einem Lieblingsaufenthalt der vornehmen Gesellschaft Hamburgs zu werden. Der Innenraum des Theaters ist in Rokoko gehalten, für das Auge angenehm ab- getönt, die Stühle sind gleich denen eines Theaters gebaut.“ Das „Waterloo-Theater“ gehörte, wie schon das „Belle-Alliance-Theater“ in Altona, James Hen- schel (1863–1939), Hamburgs erstem Kinokönig. Er rühmte sich, „zwei ganz vornehme, zwei mittlere Thea ter und zwei für das allerkleinste Publikum“ zu besitzen; das „Waterloo“ war zweifellos eins der beiden „ganz vornehmen“ Häuser. Bespielt wurden die Theater nach dem so genannten „Pendel-Prin- zip“: Die Henschel-Kinos, so sehr sie sich in Größe und Ausstattung auch unterschieden, zeigten das- selbe Filmprogramm (lediglich die Reihenfolge än- derte sich, doch die Filme wurden stets überall aus- genutzt). So wurde im „Waterloo-Theater“ Ende September 1911, wie zuvor schon in zwielichtigen Kinoeingang ins 1909 eröffnete „Waterloo-Theater“, Kneipen-Kinos, der „Sündige Liebe“ gezeigt, Dammtorstraße 14. Staatsarchiv Hamburg 28 DAMMTORSTRASSE 14 · „Waterloo-Hotel“ · „Waterloo-Theater“

film-Apparate kosteten nicht nur viel Geld, auch die Leihmieten stiegen um 35–45 Prozent. Mit der Tonfilm-Revolution wurde ein ganzer Berufsstand – die großen Kinos leisteten sich richtige Orchester, in den Nachspiel-Theatern begnügte man sich mit einem Pianisten – über Nacht arbeitslos. Am 8. Ja- nuar 1930 wurde im „Waterloo“ der erste amerika- nische Tonfilm in Hamburg aufgeführt: „The Singing Fool“ mit Al Jolson (1886–1950). 1930 gab es in ganz Hamburg bereits 70 Kinos mit knapp 50000 Plätzen; gut die Hälfte davon entfiel auf Filmtheater der Konzerne. Die kleineren und älteren Kinos konnten nur mithalten, wenn sie ihre Theater kostspielig modernisierten. Über das not- wendige Kapital jedoch verfügten sie meist nicht. Mit dem aufwändigen Umbau des „Waterloo“ hatte Manfred Hirschel sich hoch verschuldet. Er musste eine KG gründen, die zur Hälfte dem Ehepaar Esslen gehörte, den Besitzern des Grundstücks und zu- gleich seine Hauptgläubiger. Die Mietschulden sum- Vor Beginn einer Kinoaufführung im „Waterloo-Theater“. mierten sich trotzdem weiter, also verpfändete er Staatsarchiv Hamburg seine Hälfte an Klara Esslen (1887–1959) – er blieb Geschäftsführer des „Waterloo“, war faktisch aber Film-Theater-Kommandit-Gesellschaft Hirschel & Co. nur noch Angestellter. war ebenfalls eine Kinokette, die neben dem „Wa- Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme terloo“ das „Neue Reichstheater“ (Neuer Steinweg), wurde es für Hirschel, der jüdischer Herkunft war, das „Apollo-Theater“ (Süderstraße) und das Alto - unmöglich, das „Waterloo“ weiterzuführen: Um ein naer „Helios Theater“ betrieb. Manfred Hirschel war Kino zu betreiben, musste man Mitglied in der mit Grete Streit (1895–?) verheiratet, einer Schwes- „Reichsfilmkammer“ sein. Wann Hirschel genau ter von Hugo Streit. sein Amt als Geschäftsführer niederlegen musste, Der rasche Aufschwung des Kinos, die rasante tech- lässt sich nicht mehr eruieren; am 23. Februar 1934 nische Entwicklung, aber auch die wachsende Kon- bat die „Waterloo-Theater“ GmbH in einem Schrei- kurrenz zwangen Hirschel dazu, sein Filmtheater ben an die Gewerbepolizei darum, „anstelle des den neuen Standards anzupassen. 1927 erfolgte Herrn Hirschel unseren Herrn Heinz B. Heisig (1899– durch den Architekten Max Bach (1865–1935) ein 1984) vorzumerken“. Hirschel, der in seinem ehe- Umbau, der einem Neubau gleichkam: Ein im Hin- maligen Kino inzwischen Hausverbot hatte, erhielt terhof liegendes Kontorhaus wurde abgerissen, um von der „Waterloo-Theater“ GmbH 21000 Reichs- einen neuen Saal zu errichten (während aus dem mark als Abfindung (und durfte davon nur die ehemaligen Saal ein pompöses Foyer wurde). Das Hälfte ausführen, als er 1936 nach Argentinien emi- neue „Waterloo“ (mit nun mehr als doppelt so vie- grierte). Nach einem sechsjährigen Rechtsstreit, der len Plätzen) wurde am 11. Dezember 1927 mit dem als Vergleich endete, wurden ihm 1952 50000 DM Film „Der Meister von Nürnberg“ eingeweiht. Die als Wiedergutmachung zugesprochen. drei Jahre später notwendige Umrüstung auf den Die Ufa hatte seit Langem ein Auge auf das vor- Tonfilm bedeutete erneute Investitionen: Die Klang- nehme Haus in bester Lage geworfen; in einem in- DAMMTORSTRASSE 14 · „Waterloo-Theater“ 29 ternen Vermerk des großen Konkurrenten vom Juni Begehrlichkeiten der übermächtigen Konkurrenz 1935 wird ein „Gerücht“ festgehalten, „wonach die ausgesetzt, verschärfte sich in dieser prekären Si- bisherige Inhaberin aus finanziellen und politischen tuation auch noch der politische Druck: Heinz B. Gründen das Theater möglicherweise aufgeben Heisig war, wie Klara Esslen, kein Parteigenosse müsse“. Undercover inspizierte ein Spion des Berli- und gehörte, von der Zwangsmitgliedschaft in der ner Filmkonzerns das Objekt und empfahl es nach Reichsfilmkammer abgesehen, keiner NS-Organisa- Besichtigung für eine Übernahme: das „Waterloo“ tion an. Am 2. November 1935 wurde er von der sei zwar nicht im besten Zustand, die Wandbe- Ge stapo verhaftet und ins KZ Fuhlsbüttel gebracht, spannung stark abgenutzt und die Bestuhlung billi- wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ angeklagt, ges Hochpolster, doch insgesamt mache das Kino aus Mangel an Beweisen aber freigesprochen. Die „den Eindruck eines gut geführten Hauses“. Den Bedrohung konnte jedoch abgewendet werden.

1927: Umbauzeichnung für das „Waterloo-Theater“. Bildquelle: privat

Werdegang Heinz B. Heisigs Düsseldorf. Ab 1934 Geschäftsführer des „Waterloo- (31.8.1899–7.12.1984) Theaters“ in der Dammtorstraße. Mitte der 1930er Jahre wurde er von den Nationalsozialisten für kurze Eigentlich Heinrich Bernhard Heisig. 1918 Lehrling Zeit in „Schutzhaft“ genommen. Nach 1945 führte bei der „Recklinghäuser Zeitung“, danach Geschäfts- er das „Waterloo“ weiter und war einer der Be - führer: 1921–1922 des Lichtspielhauses „Tilsit“ in der gründer des Fachorgans „Film-Echo“, zudem von Stadt Hof; 1923 der „Flora- und Reform-Licht spiele“ 1945 bis 1949 Vorsitzender des „Wirtschaftsverban- Franz Czygan in Insterburg (Ostpreußen), 1924 der des der Filmtheater in Hamburg und Schleswig-Hol- „vereinigten Lichtspielhäuser Zentral- & Kam mer- stein e. V.“ Kinos: „Waterloo“ (1934), „Espla nade“ Lichtspiele“, „Walhalla Theater“ in Liegnitz; von (1948), „Residenz Düsseldorf“ (1949). Dezember 1924 bis September 1928 der „Schaubur- In einem Schreiben an das „Komitee ehemaliger po- gen“ in Worms und Essen sowie des „Ufa-Palastes“ litischer Gefangener“ vom 15. April 1946, dem ein 30 DAMMTORSTRASSE 14 · „Waterloo-Theater“

Grundriss des Dammtorhauses Nr. 14 mit Kinosaal. Bildquelle: privat DAMMTORSTRASSE 14 · „Waterloo-Theater“ 31 ausgefüllter Fragebogen beilag, erläuterte Heisig in worden wären. In den aufreibenden Jahren der einigen Punkten seinen Werdegang: „Die äußeren Nazi-Herrschaft konnte ich meinem Ziel und meinen Daten meines Lebensweges finden Sie in den Ant- Absichten nur treu bleiben, weil ich, wie es gar worten des Fragebogens. Was sie nicht aussagen, nicht anders denkbar und möglich war, manches in möchte ich in dem anschließenden Lebenslauf nie- Kauf nehmen musste, denn dass eine so polemisch derlegen: festgelegte Spielplangestaltung allen nur denkbaren Ich entstammte kleinbürgerlichen Kreisen, besuchte Anfeindungen und Angriffen ausgesetzt war, ver- sieben Jahre lang die Volksschule meiner kleinen steht sich von selbst. Trotz der wütenden Angriffe westfälischen Heimatstadt und trat mit dreizehn- der Nazipresse zeigte ich, wie ich heute noch mit einhalb Jahren als Lehrling in das kaufmännische Ge nugtuung feststellen kann, bis zum November Büro unseres heimischen Amtsblattes ein. Schule 1940 amerikanische Filme. und Lehrstätte lenkten mein Denken in nationale Aus dem Fragebogen ersehen Sie, welche Verfol- Bahnen, so dass ich, nachdem ich als Neunzehn- gungen mir meine Haltung und Einstellung einge- jähriger an den letzten Schlachten der Westfront tragen hat. Was der Fragebogen nicht ausweist, sind teil genommen hatte, zum Grenzschutz ‚Ost‘ über- die Fülle der kleinen Tücken und Schikanen, und trat, dem ich bis zum Juli 1919 angehörte. Diese hierzu möchte ich nur folgende kleine Aufstellung Flucht vor der drohenden Arbeitslosigkeit war aber hinzufügen: Eine Anzeige wegen öffentlicher Zer- für mich in vielerlei Hinsicht heilsam, denn ich reißung eines Hitlerbildes, Anzeige wegen Verwei- machte als Soldat des Grenzschutzes allzu nahe Be- gerung des Hitler-Grußes, Verfahren zur Aberken- kanntschaft mit dem Militarismus. Nicht zuletzt war nung der Betriebsführer-Eigenschaft, Verlust meiner es der lebendige Anschauungsunterricht über die Woh nung wegen meines Aufenthaltes im KZ, An- menschenunwürdige Behandlung der Deputatarbei- zeige wegen nationaler Würdelosigkeit, Anschuldi- ter auf den adligen Großgrundbesitzen, der mich gung des damaligen Kultursenators Dr. [Helmuth] von jeder Art Nationalismus kurierte. Becker [1902–1962], ich führe einen ‚Juden- und Während der anschließenden Lehr- und Wanderjahre Kommunisten-Kintopp‘ usw. usw.“19) in allen Teilen Deutschlands vertiefte sich meine Einsicht noch, da ich im Laufe meiner Tätigkeit in verschiedenen Berufen in enge Berührung mit dem Leben des werktätigen Volkes kam und seinen Kampf um seine Sehnsüchte aus eigener Anschauung ken- nenlernte. Was Wunder, dass ich mich zum Sozia- lismus bekannte und die großen internationalen Dichter und Polemiker mir den Weg zu einer klaren und eindeutigen Weltanschauung wiesen. (…) Als ich (...) im Jahre 1930 nach Hamburg ans Wa- terloo-Theater kam, brachte ich ein gutes Rüstzeug mit. Ich betrachtete es als meine Mission, dem werk- tätigen Volk beim Kampf um die Besserung seiner sozialen Lage mit meinen Einflussmöglichkeiten zu Kinosaal des „Waterloo-Theaters“. helfen und beizustehen. Die Spielplangestaltung des Aus: Michael Töteberg, Filmstadt Hamburg. Hamburg 1990. Waterloo-Theaters weist das eindeutig auf, und ich darf für mich in Anspruch nehmen, dass viele ame- rikanische, englische, russische und französische Filme ohne meine Initiative nie in Hamburg gezeigt

19 Staatsarchiv Hamburg, 622-1. Fa- milie Heisig. 2.4. 32 DAMMTORSTRASSE 14 · „Waterloo-Theater“

Das „Waterloo“ behauptete in der gleichgeschalteten ausländischen Produktionen würden dem deutschen Kinolandschaft der NZ-Zeit eine Sonderstellung. Es Kinobesucher die Möglichkeit geben, „seinen Ge- war das einzige konzernunabhängige Urauffüh- sichtskreis zu weiten“, hieß es in der Ausgabe für rungstheater in der Innenstadt, weshalb es keinen 1939/40: „Im Spielplan des laufenden Abendpro- der Erfolgsfilme aus der deutschen Produktion be- gramms hat nun auch der deutsche Film seinen Ein- kam. Doch Heinz B. Heisig machte aus der Not eine zug gehalten.“ Zwar sah man es als seine Aufgabe Tugend: Hier liefen nun vorrangig MGM- und Para- an, „auf filmkünstlerischem Gebiet das Tor zur Welt mount-Filme, „Meuterei auf der Bounty“ mit Char- offen zu halten“, doch dies war unmöglich: Alle aus- les Laughton (1899–1962) und Clark Gable (1901– ländischen Filme, sofern sie nicht von den Verbün- 1960), „Die Kameliendame“ mit Greta Garbo (1905– deten stammten, waren verboten, Hollywood-Pro- 1990) oder der neueste Fall des „Dünnen Mannes“, duktionen durften nicht mehr vorgeführt werden. hier gab es regelmäßig „Fox’ tönende Wochen- schau“, die einen anderen Blick auf das Weltge- Swing Kids im „Waterloo-Theater“ schehen hatte als das Propagandaministerium. Die Hollywood-Produktionen wurden in englischer Ori- Diese oppositionelle Gruppe vierzehn- bis einund- ginal fassung, teilweise sogar ohne Untertitel, ge- zwanzigjähriger Jugendlicher lehnte das Hitler-Re- zeigt. Gelegentlich standen auch französische oder gime ab, zeigte dies durch ihre Vorliebe für Swing- britische Filme auf dem Programm, deutsch war je- musik und Kleidung. Zum Bespiel trugen doch lediglich der obligatorische Kulturfilm zu Be- die jungen Männer Ruderklub- oder Seglerklub- ginn (da gab es wie überall „Die deutsche Frau- jacken, lange Jacketts mit großen Karomustern, enkolonialschule ‚Rendsburg‘“ oder „Altfränkisches Schuhe mit Kreppsohlen und weiße Seidenschals. um Würzburg“), ansonsten wurde hier der Ameri- Die jungen Frauen zeigten sich betont modebewusst, can Way of Life gefeiert. trugen femi nine Kleidung, kurze Röcke, Seiden- Die Presse hatte strikte Anweisung, nicht mehr po- strümpfe, malten sich die Lippen rot und lackierten sitiv über amerikanische Filme zu berichten, doch sich die Fingernägel. Eine politische Widerstands- das Kinopublikum strömte trotzdem ins „Waterloo“. gruppe waren die Swing Kids nicht. Der ehemalige Revue- und Musikfilme wie „Mississippi-Melodie“ Swing Boy Uwe Storjohann sagte dazu: „Wir waren (Originaltitel: „A Banyo on My Knee“) oder „Broad- ja unpolitisch, wir hatten von Politik keine Ahnung. way-Me lodie“ (1938) waren besonders beliebt. Im Keiner hatte Marx oder Lenin gelesen, keiner kannte „Dritten Reich“, wo „entartete Neger-Musik“ ver- Hegel, wir hatten ja überhaupt keinen politischen pönt war, bargen solche Filme politische Spreng- Hintergrund, aber wir erlebten die politische Wirk- kraft. Uwe Storjohann (geb. 1925), damals aktiv in lichkeit und schufen uns eine Gegenwelt, und diese der (verbotenen) Hamburger Swing-Szene, erinnerte Gegenwelt war der Swing.“20) sich an das „Waterloo“ als „Cosmopolitician-En- Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete der späte- klave“, in dem die „Kultfilme der Stenzer, Lotter- re Zeitungsverleger Axel Cäsar Springer (1912–1985) Joes und Kreppsohlen-Dandys“ liefen: „Das Gejohle für kurze Zeit als Lehrling im „Waterloo-Theater“; war bis nach nebenan in die Konditorei L’Arronge so bediente er z. B. den Filmprojektor. Axel Springer (siehe S. 56) zu hören, wenn Bigband-untermalt, „hatte großes Glück gehabt, dass er aus Gesund- zum Scatgesang und Steptanz auf der Leinwand, heitsgründen nicht eingezogen worden war, nun die Swings im gedunkelten Parkett ihre Schmähge- genoss er in Hamburg als ungebundener Senior- sänge gegen die HJ anstimmten.“ Swing das Leben, so gut es ging. Im Gegensatz zu Damit war es im November 1940 endgültig vorbei. uns jüngeren, tollkühnen Swings bevorzugte er we- Hatte das „Waterloo-Theater“ im „Ham burger Büh- niger provokante Aktivitäten, unsere, so hatte er er- nen-Almanach 1938/39“ noch herausgestellt, die kannt, provozierten Ärger.“21)

20 Der ehemalige Swing Kid Uwe Storjohann, zit. nach: Jörg Ueberall: Swing Kids. Berlin 2004, S. 9. 21 Harry Stephens, zit. nach: Jörg Ue- berall, a. a. O., S. 47f. DAMMTORSTRASSE 14 · „Waterloo-Theater“ 33

trieb wieder aufgenommen werden. Dabei halfen Zwangsarbeiter (siehe zum Thema Zwangsarbeiter auch Seite 57), wie einem Vermerk im Tagebuch des Bürgermeisters Carl Vincent Krogmann (1889– 1978) zu entnehmen ist: „24.2.44: Herr Steinkamp wegen Zurverfügungstellung von Gefangenen, um das Waterloo-The ater wieder aufzubauen“. Daran bestand von politischer Seite großes Interesse, denn das Regime wusste um die Bedeutung des Massen- mediums Kino. „Unser Volk bei guter Laune zu hal- ten, das ist auch kriegswichtig“, notierte Propagan- daminister (1897–1945). Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte 1945 das ge- rade erst wieder hergerichtete, zunächst von der bri- tischen Besatzungstruppe beschlagnahmte „Water- loo“ zu den ersten Kinos, die wieder für das deutsche Publikum öffnen durften. Zur feierlichen Wieder- eröffnung des „Waterloo-Theaters“ am 20. Septem - ber 1945 zeigte man Alexander Kordas (1893– An der Kinokasse des „Waterloo-Theaters“. 1956) „Rembrandt“ mit Charles Laughton. Der Film Staatsarchiv Hamburg stammte zwar aus dem Jahr 1937, aber für Hamburg war er doch neu: Nach fünf Jahren konnte man Bei Fliegeralarm wurden die Zuschauerinnen und erstmals wieder eine englische Produktion sehen. Zuschauer in den Kinos durch ein Dia aufgefordert, Das Filmereig nis des Kinojahres 1945 aber war den Saal zu verlassen und sich in den Luftschutz- „Große Freiheit Nr. 7“, der ultimative Hamburg- keller zu begeben; das Verlassen des Gebäudes war Film, am 19. Oktober im „Water loo“: streng genom- verboten. „Ruhe bewahren und zum Notausgang men keine Uraufführung (der Film war von den Na- rechts gehen“, so die Anweisungen im „Waterloo“: tionalsozialisten für Deutschland verboten worden „Das Personal geleitet Sie sicher in den Luftschutz- und wurde deshalb Ende 1944 in Prag uraufgeführt), keller, folgen Sie deshalb bitte den Anweisungen. nicht einmal eine Erstaufführung (die hatte einen Der Gebrauch Ihrer eigenen Taschenlampe beim Monat zuvor in Berlin stattgefunden, aber Ilse Wer- Gang durch die offene Toreinfahrt ist Ihnen strengs- ner (1921–2005), Gustav Knuth (1901–1987) und tens untersagt.“ Hans Söhnker (1903–1981) waren zur Hamburger Im Krieg erreichte der Kinobesuch neue Rekordhö- Premiere gekommen), auch kam nur eine von der hen. 1942 wurden 35,2 Millionen Karten verkauft, englischen Zensur gekürzte Version zur Aufführung umgerechnet ging jeder Ham burger und jede Ham- (die Originalfassung sah man, ebenfalls im „Water- burgerin mehr als zwanzigmal im Jahr ins Kino. loo“, erst am 1. August 1950). Am 22. Juli 1943 inserierten im „Hamburger Anzei- Das Kino diente auch als Ort der Aufklärung, der ger“ 100 Kinos; als am 19. August, erstmals nach Aufklärung über die NS-Verbrechen und den Holo- den verheerenden Bombennächten Ende Juli, wie- caust. Im März 1946 zeigte man „Die Todesmühlen“, der Kinoanzeigen erschienen, waren es nur noch einen Dokumentarfilm, den amerikanische Kamera- 21. Auch das „Waterloo“ wurde von einer Bombe leute kurz nach der Befreiung der Häftlinge in Kon - getroffen und brannte aus. In nur wenigen Monaten zentrationslagern gedreht hatten. In den Zeitungen konnte das Kino wieder hergerichtet, der Spielbe- konnte man lesen: „‚Die Todesmühlen‘ werden im 34 DAMMTORSTRASSE 14 · „Waterloo-Theater“

Waterloo-Theater gezeigt – schon fast zwei Wochen „Traum ohne Ende“ („Dead of Night“), ab 28. Juni lang, und immer noch kommen die Hamburger, um Musikpiraten („I’ll be your Sweetheart“) usw. Am sich durch echte Dokumente von der Wahrheit des- 30. August 1946 eine Premiere der besonderen Art: sen zu überzeugen, was über Buchenwald und Bel- der erste englische Film in deutscher Synchronisation sen, Mauthausen und Neuengamme zu lesen war, – David Leans (1908–1991) „Brief Encounter“ („Be- und allmählich auch jene zu belehren, die sich bisher gegnung“), mit Celia Johnson (1908–1982) und Tre- störrisch weigerten, an den von vor Howard (1913–1988) –, in der zweiten Woche [1900–1945] inszenierten Massenmord zu glauben.“ zeigte das „Waterloo“ den Film „OmU“, doch fortan (Hamburger Freie Presse, 3. April 1946). Die Kino- sollten Synchronfassungen fremdsprachiger Produk- besucher, so ist vielfach bezeugt, verließen das tionen in allen anderen Hamburger Filmtheatern zur „Waterloo“ in stummer Erschütterung. Regel werden. Trotz der Restriktionen des Interzo- Das „Waterloo“ hatte schnell eine Sonderstellung: nenverkehrs schaffte es Heisig, das „Waterloo“ wie- Es fungierte als das offizielle Erstaufführungstheater der zu einem Fenster in die Welt zu machen: Im für die gesamte Britische Zone. Damit konnte Heinz September 1946 stand erstmals ein russischer, im B. Heisig an eine gute alte, durch den Krieg unter- November 1946 ein französischer, im April 1947 ein brochene Tradition des Hauses anknüpfen. In der Schweizer Film auf dem Spielplan. Dammtorstraße kamen englische und, weit seltener, Die Uraufführung des ersten deutschen , der amerikanische Filme in der Originalfassung mit deut- nach Kriegsende in Hamburg und Umgebung ge- schen Untertiteln heraus: Ab 3. Mai 1946 lief „Zum dreht wurde, fand am 14. Juni 1947 im „Waterloo- halben Wege“ („The Halfway House“), ab 17. Mai Theater“ statt. Im Foyer stand auf einem hohen, „Cornwall-Rhapsodie“ („Love Story“), ab 7. Juni blumengeschmückten Podest ein alter PKW, darun-

Kinofilmplakat für den Film „Morituri“. Staatsarchiv Hamburg

1948 fand im „Waterloo-Theater“ die Erstaufführung des Films „Morituri“, einem der wenigen westdeutschen Filme, die sich mit dem Thema Konzentrationslager in der NS-Zeit auseinandersetz- ten, statt. Produktion Artur Brauner (geb. 1918), Drehbuch Gustav Kampendonk (1909–1966), Regie Eugen York (1912–1991). Die Idee zu diesem Film hatte Artur Brauner, der, 1918 als Sohn eines jüdischen Holzgroßhändlers in Lodz geboren, während der NS-Zeit aus einem KZ ausgebrochen war und sich in Ostdeutsch- land durchgeschlagen hatte. Der Film basiert auf den von Brauner erlebten Geschehnissen. Brauner berichtet von seinem Schicksal im KZ und bei den Partisanen. Im Film handelt es sich um eine Gruppe von KZ-Häftlingen, die mit Hilfe eines polnischen Arztes fliehen kann. In einem Waldversteck trifft sie auf weitere Verfolgte unterschiedlicher Nationalität, die dort aus Angst vor dem Entdeckt- werden ausharren. Als die Front immer näher rückt und die Lebens- mittel knapp werden, bringen polnische Flüchtlin ge neue Vorräte. Nachdem der polnische Arzt eine Brücke in die Luft gesprengt hat, durchkämmt die SS den Wald. Auf der Flucht vor ihnen wird der Arzt erschossen. Doch unmittelbar vor dem Entdecktwerden durch die SS kommt die Nachricht, die deutschen Truppen sind auf dem Rückzug – die Verfolgten sind nun endlich frei. Die Resonanz des Kinopublikums war sehr ablehnend. Die meisten Kinobesuchenden wollten sich weder erinnern noch sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Man wollte lieber „Gras über die Sache“ wachsen lassen. DAMMTORSTRASSE 14 · „Waterloo-Theater“ 35 ter ein Schild: „Der Hauptdarsteller“. Helmut Käut- ners (1908–1980) „In jenen Tagen“ war ein Episo- denfilm, erzählt wurde die „Geschichte eines Autos“ zwischen 1933 und 1945. Die Premiere wurde im „Film-Echo“ als künstlerisches und gesellschaftliches Ereignis gefeiert: „Menschenmassen und Absper- rungen vor dem Theater. Ankunft von Spitzen der Besatzungsmacht, der Stadt und der Kulturschaf- fenden unter dem Objektiv der Wochenschau“. „Arche Nora“, die erste Produktion der von Walter Koppel (1906–1982) und Gyula Trebitsch (1914– 2005) neugegründeten Real-Film, erlebte am 6. Feb- ruar 1948 ebenfalls im „Waterloo“ ihre Urauffüh- rung. In seiner Begrüßungsrede richtete sich Heisig 50er Jahre des 20. Jh.: MGM-Filmwoche im „Waterloo- an die anwesenden Journalisten: „Helfen Sie uns Theater“. Staatsarchiv Hamburg bitte in Ihren Presseveröffentlichungen, dass wir mit unseren Anträgen um eine echte und tiefe Ver- Gästen befanden sich neben Regisseur und Haupt- wurzelung der Filmwirtschaft in Hamburg nicht vor darstellern auch zahlreiche Verfolgte des Nazi-Re- einer verständnislosen Verwaltung stehen. Wir brau- gimes – und nicht eingeladen Veit Harlan, (1899– chen Ihren Appell an den Senat, damit das gesteckte 1964) Regisseur des antisemitischen Hetzfilms „Jud Ziel erreicht wird: Die Filmstadt H A M B U R G!“22) Süß“. Heisig, Hausherr im „Waterloo“, ließ ihn und Als Kompensationsgeschäft lief „Arche Nora“ in den die Schauspielerin und Hauptdarstellerin im Film Kinos der sowjetischen Zone, dafür konnte Heisig „Jud Süß“, Kristina Söderbaum (1912–2001), nach in seinem Theater zwei Monate später als Erstauf- Beginn der Wochenschau herausrufen und setzte führung für die britische Zone am 17. April 1948 beide kurzerhand vor die Tür. die erste Produktion der ostzonalen DEFA, Kurt Maetzigs (geb. 1911) „Ehe im Schatten“, zeigen. Der Film zeichnete das Schicksal des Schauspielers Joachim Gottschalk (1904–1941) nach, der sich wei- gerte, seine jüdische Frau Meta zu verlassen; das Ehepaar ging 1941 gemeinsam in den Tod, um der Deportation zuvorzukommen. In seiner Begrü- ßungsrede appellierte Heisig an das „Gefühl der Achtung vor den Mitmenschen, die Menschlichkeit schlechthin“, dies sei, über die trennenden Zonen- grenzen hinweg, die moralische Aussage des Films. Heisig: „Die hinter uns liegenden Jahre waren nicht danach angetan, dem persönlichen Freimut den Weg zu bereiten. Lassen Sie uns von diesem nun- mehr wiedergewonnenen Recht besonders da, wo es um unsere besondere Aufgabe geht, wieder Ge- MGM Waterloo zeigt 1957 das US-amerikanische Film - brauch machen.“23) musical „Seidenstrümpfe“, Regie: Rouben Mamoulian Er konnte dies gleich in die Tat umsetzen, denn am (1897–1987), in den Hauptrollen Fred Astaire (1899– Rande der Premiere kam es zum Eklat: Unter den 1987) und Cyd Charisse (1921–2008). Staatsarchiv Hamburg

22 Staatsarchiv Hamburg 622-1 Fami- lie Heisig, 2.18. 23 Staatsarchiv Hamburg 622-1 Fami- lie Heisig 221. 36 DAMMTORSTRASSE 14 · „Waterloo-Theater“

Heisig engagierte sich in der Filmpolitik, und so Kino, doch das Ende eines der ältesten und angese- hatten in den Etagen über dem Kino bald eine An- hensten Filmtheater Hamburgs war nicht mehr ab- zahl von Verbänden der Filmwirtschaft ihren Sitz: zuwenden: Am 31. März 1974 wurde nach der der „Wirtschaftsverband der Filmtheater e.V.“, das Abendvorstellung um 20.45 Uhr, gezeigt wurde noch „Film-Echo“, das „Branchenorgan für die Filmwirt- einmal der Walt-Disney-Klassiker „Bambi“, der Ki- schaft der britischen Zone“ sowie Verleih- und Pro- nobetrieb endgültig eingestellt. duktionsfirmen. Das Schicksal des Traditionshauses in der Damm- Die Oase für Liebhaber der Filmkunst wurde 1956 torstraße war symptomatisch. Das Kinosterben hatte von dem US-Kinogiganten Metro-Gold wyn-Mayer in den 1960er Jahren in den Randbezirken begon- von dem in wirtschaftlichen Schwierigkeiten ste- nen; in den Stadtteilen schloss ein Filmtheater nach ckenden Heisig übernommen. Der neue Betreiber dem anderen, bis ganze Bezirke ohne Kino waren. nannte das Kino fortan „MGM-Waterloo“ und ließ Nun hatte die Krise die Innenstadt erreicht. Nach es nochmals umbauen; das Kino erhielt die erste einem Totalumbau zogen in den oberen Etagen Bü- Neonfassade Hamburgs, und die Presse war sehr ros und im Erdgeschoss Ladengeschäfte ein. Auch angetan von der speziellen Lichtspielarchitektur mit das Engagement des Hamburger Denkmalschutzrats einer frei stehenden Empore und indirekter Beleuch- konnte einen Rückbau des Kinosaals nicht verhin- tung. Das Foyer beherbergte eine mächtige Trep- dern. Immerhin blieb die klassizistische Vorderfront penanlage (auch das Parkett lag oberhalb der Ein- des Gebäudes, welches seitdem nur noch schlicht gangsebene). Der Saal wurde von einer flachen, „Dammtor-Haus“ heißt, erhalten. gewölbten Decke abgeschlossen. Text: Michael Töteberg und Volker Reißmann Nachdem MGM den Kinobetrieb 1973 aufgab, über- nahm kurzzeitig die Cinerama-Filmgesellschaft das

Innenansicht des Restaurants „Patzenhofer“, Damm- torstraße 14. Postkarte

Im Haus Dammtorstraße 14 gab es viele Jahre das Restau- rant „Patzenhofer“. Postkarte aus den 20er Jahren des 20. Jh. DAMMTORSTRASSE 14 · Stolperstein für Max Fraenkel 37

Stolperstein für Max Fraenkel die ehemalige Hausangestellte Erna Klingmann: ‚Je- den Sommer gab es in der Familie Fraenkel nachei- Zu Zeiten des „Waterloo-Theaters“ gab es in der nander drei Geburtstage zu feiern. Erst der von Frau Dammtorstraße 14 auch Praxen und Kontore. Eine Dr. am 23.7., der mit einer großen Abendgesellschaft Arztpraxis gehörte dem Nervenarzt Dr. Max Fraenkel begangen wurde. Dann Ullas am 26.7. als Kinderge- (7.1.1882, Freitod am 21.3.1938). Seit 2005 erinnert burtstag. Und im August dann mein Geburtstag. Da ein Stolperstein vor dem Hauseingang an ihn. Ein konnte ich mir Gäste in die Villa einladen und feiern. weiterer Stolperstein wurde für ihn, der auch als Herr und Frau Dr. verließen an diesem Tag morgens Theaterarzt arbeitete, 2006 vor der Staatsoper verlegt. das Haus und kehrten erst spät zurück. Am Tag „Max Fraenkel wurde als ältestes von drei Kindern zuvor durfte ich mir alles, was ich für meine Feier in Hamburg geboren. Die Eltern Marie, geb. Deutsch, brauchte, in den Volksdorfer Geschäften holen.‘ und Eugen kamen in jungen Jahren aus Schlesien Nach Praxisschluss wurde Max Fraenkel oft in das nach Hamburg. Den jüdischen Glauben ihrer Vor- Kinderheim ‚Im Erlenbusch’ in der Schemmann- fahren hatten sie abgelegt und ihre Kinder Max, straße gerufen. Hier hatte die Sozialpädagogin Hilde Margarete und Hans evangelisch taufen lassen. Wulff [1898–1972. Ihr Grabstein steht im „Garten Die Familie wohnte am Alsterglacis. Professor Eugen der Frauen“ auf dem Ohlsdorfer Friedhof] 1935 ein Fraenkel lehrte und forschte am Krankenhaus Ep- privates Heim für Kinder mit Behinderungen eröff- pendorf. Durch Experimente am eigenen Leibe war net. Da Hilde Wulff zeitweilig heimlich auch jüdi- ihm die Entdeckung des ‚Welch-Fraenkelschen Ba- sche Kinder aufnahm, half Erna Klingmann, diese zillus‘, des Gasbranderregers, gelungen. Max Fra- mit Lebensmitteln zu versorgen, die sie durch den enkel studierte Medizin mit Schwerpunkt Neurolo- Wald von der Arztvilla zum Kinderheim trug. Aus- gie. 1906 erhielt er die Approbation und eröffnete nahmsweise quartierte sie sogar einige privat in eine Praxis als Facharzt für Nervenkrankheiten in ihrer kleinen Wohnung ein: ‚Bei neugierigen Fragen der Dammtorstraße 14. 1914 heiratete er die Ham- meiner Nachbarin habe ich nur gesagt: Das sind burgerin Charlotte Sperber, die mütterlicherseits mit Kinder vom Lande, vom Nachbarhof meiner Eltern.‘ der Bürgermeisterfamilie Petersen verwandt war. Nach einer anonymen Verwarnung stellte Erna Als Oberstabsarzt nahm Fraenkel am Ersten Welt- Klingmann diese Hilfsleistungen ein. krieg teil. Mit dem ‚Eisernen Kreuz 1. Klasse’ deko- Obwohl Familie Fraenkel der evangelischen Kirche riert, kehrte er 1918 nach Hamburg zurück. Wie angehörte, wurde ihr während der NS-Zeit eine an- seine Tochter erzählt, bewies er seine patriotische dere Identität zugewiesen. Die Eltern führten nach Gesinnung in einer Prügelei mit jungen Leuten auf NS-Terminologie eine ‚privilegierte Mischehe‘, der der Straße, als diese versuchten, ihm die Schulter- Ehemann galt als ‚jüdisch‘, die Töchter galten als blätter seiner Uniform abzureißen. ‚Halbjüdinnen‘ bzw. ‚Mischlinge ersten Grades‘. Ulla Das erste Kind Ursula wurde 1917 geboren, 1920 hätte 1935 das Abitur machen wollen, musste aber kam Ilse auf die Welt. Die Söhne Claus Eugen (Jg. die Walddörferschule vorher verlassen. Ilse legte 1921) und Claus Eugen Renatus (Jg. 1924) starben 1938 das Abitur ab. Obwohl sie eine der besten Sport- als Kleinkinder. lerinnen der Schule war, durfte sie auf dem Sportfest In den 1920er Jahren baute die Familie eine Villa am nicht geehrt werden. Schulleiter Hayungs milderte Mellenbergweg am Volksdorfer Wald. Dort lud man diese Kränkung allerdings dadurch ab, dass er vor nicht nur zu Konzerten ein, sondern stellte im Haus der versammelten Schulgemeinschaft sagte: ‚Und außerdem einen Musiklehrer und ein Zimmer zur wie wir alle wissen, gibt es unter uns ausgezeichnete Verfügung, damit auch andere Kinder aus Volksdorf Sportler, die aber heute nicht geehrt werden.‘ in den Genuss musikalischen Unterrichts kamen. An 1933 waren in Hamburg 325 Ärzte als ‚jüdisch‘ re- die warmherzige Atmosphäre im Haus erinnert sich gistriert. Allen wurde bereits im April des Jahres 38 DAMMTORSTRASSE 14 · Stolperstein für Max Fraenkel · „Öffentliche Rechtsauskunft“ (ÖRA)

die Kassenzulassung entzogen. Eine Fülle von Ver- „Öffentliche Rechtsauskunft“ (ÖRA) ordnungen bis zum totalen Berufsverbot und auch zum Verbot, privat-wissenschaftlich zu arbeiten (De- Seit September 2008 befindet sich im Gebäude zember 1938), betraf damit jeden fünften Hamburger Dammtorstraße 14 die „Öffentliche Rechtsauskunft“ Arzt. Viele wanderten aus. Besonders Jüngere ver- (ÖRA). Beraten werden Menschen, die in Hamburg suchten, im Ausland eine neue Existenz aufzubau - leben oder arbeiten und nur über ein geringes Ein- en. Aber Max Fraenkel war schon Mitte 50. Zuerst kommen verfügen. behandelte er seine Patienten noch unentgeltlich. Die Gründungsphase der ÖRA geht zurück bis zum Das wurde aber beobachtet und ‚gemeldet‘. Die Pa- Ende des 19. Jahrhunderts und Beginn des 20. Jahr- tienten wurden bestraft. Auch die Tätigkeit als Thea- hunderts. Zeitgleich mit der Einführung des BGB terarzt der Staatsoper musste er einstellen. Zuneh- im Jahre 1900 und im zeitlichen Zusammenhang mend empfand Max Fraenkel sich als Last für seine mit der Abfassung der ZPO [Zivilprozessordnung] ‚arische’ Frau und seine Töchter. Im Familienkreis (1877), die auch damals schon Regelungen zum sprach er darüber, sich das Leben zu nehmen, in Armenrecht beinhaltete, wurde in weiten Kreisen der Hoffnung, dass seine Familie dann durch das der Justizöffentlichkeit die Thematik der außer - Eintreten der Ärzteversicherung besser versorgt sei. gerichtlichen gütlichen Einigung und Schlichtung Im März 1938 unternahm Ilse mit ihrer Klasse eine diskutiert. Neben einer Vielzahl von anderen Ein- Abiturreise nach Berlin, Ursula war schon des Län- richtungen, die auf lokaler Ebene tätig wurden, kon - geren in Süddeutschland zur Ausbildung. Als so s tituierte sich im Jahre 1922 die Öffentliche Rechts- beide Töchter abwesend waren, erschoss sich Max auskunft und Gütestelle (Ragü) in Hamburg. Fraenkel am Morgen des 21. März 1938 in seinem Hauptinitiatoren waren neben den staatstragenden, Schlafzimmer. aber demokratisch gesinnten Teilen der Hamburger Max Fraenkels Mutter Marie Fraenkel, geb. Deutsch, Justiz bedeutende Vertreter und Vertreterinnen der wurde am 24. März 1943 mit 82 Jahren nach The- hamburgischen Arbeiterschaft und der Frauenbe- resienstadt deportiert und dort umgebracht. Seine wegung. Schwester Margarete Kuttner, geb. Fraenkel (Jg. Das „Arbeitersekretariat Altona/Ottensen“ eröffnete 1884), wurde im November 1944 in Auschwitz-Bir- seine Tätigkeit am 1. Juli 1900, das „Arbeitersekre- kenau mit Gas ermordet. Sein Bruder Hans (Jg. tariat Hamburg“ am 1. September 1900, das „Ar- 1888) wanderte aus. beitersekretariat Harburg“ am 1. April 1902, weitere Die Stadt Hamburg benannte 1945 Eugen Fraenkel Arbeitersekretariate folgten. zu Ehren den Schaudinnsweg in Barmbek in Fraen- Der „Zentralverband der Hausangestellten Deutsch- kelstraße um. Die Universität Hamburg würdigte lands“, in dem in Hamburg im Jahre 1909 allein seine Verdienste mit der Aufstellung einer Büste.“24) 8000 Dienstmädchen organisiert waren, eröffnete Text: Ursula Pietsch seine Beratungsstelle am 1. April 1908. Text mit freundlicher Genehmigung der Autorinnen Der „Allgemeine Deutsche Frauenverein, Ortgruppe entnommen aus: Astrid Louven, Ursula Pietsch: Hamburg“ verfügte seit dem 27. Juni 1896 über eine Stolpersteine in Hamburg-Wandsbek mit den Wald- „Abteilung Rechtsschutz“ und beriet Frauen in ihren dörfern. Biographische Spurensuche. rechtlichen Angelegenheiten und förderte das Rechts- Hamburg 2008, S. 162ff. bewusstsein von Frauen durch Vorträge, Diskus - sionen und Bildungsveranstaltungen. Der „Verein Frauenwohl“, der der radikalen Frauenbewegung zu zurechnen war, eröffnete seine Beratungsstelle am 19. Januar 1900. Die Rechtsberatungen fanden zum damaligen Zeitpunkt beispielsweise in den Häusern

24 Quellen/Literatur: 1938/463. Alf Schreyer: Kinderheim „Im Erlen- Staatsarchiv Hamburg, 331-5, Polizei- Anna v. Villiez: Die Vertreibung der busch“, seit 50 Jahren in Volksdorf. In: behörde-Unnatürliche Todesfälle. jüdischen Ärzte Hamburgs aus dem Unsere Heimat die Walddörfer. Nr. 5, Amt für Wiedergutmachung Hamburg Berufsleben 1933–45. In: Hamburger 1985. Akte Charlotte Sperber 220791, Ärzteblatt. Nr. 3, 2004, S. 1–110. Petra Fuchs: Hilde Wulf (1898–1972), DAMMTORSTRASSE 14 · „Öffentliche Rechtsauskunft“ (ÖRA) 39 des „Volksheim e. V.“ sowie im „Curio-Haus“, Ro - 1919, als der damalige Gerichtsassessor Hannes then baumchaussee 15, Hinterhaus, oder im „Heim Kaufmann [1887–?] mit der Geschäftsführung be- für junge Mädchen“, Große Bleichen 64, statt. auftragt wurde, setzte dieser sofort kräftige Impulse. Interessanterweise fand sich der damalige Ansatz- Andere berufliche Wege führten Kaufmann zunächst punkt – außergerichtliche Streitbeilegung – nicht un- jedoch wieder weg von der Verbandsarbeit. Die fi- ter dem ausschließlichen Primat der Kostenersparnis, nanziell begrenzte Unterstützung war ausgelaufen unter dem er heute zuvorderst diskutiert wird, son- und wurde nicht verlängert. dern er war stets verbunden mit dem Gedanken der Erst mit der Eröffnung des Hamburgischen Wohl- Gleichheit vor dem Gesetz und des gleichen Zugangs fahrtsamtes (Vorläufer der heutigen Sozialbehörde) zum Recht. Schon die damalige Erkenntnis war‚ 1920, das von Anbeginn an die „geordnete Rechts- „dass nicht nur die Volkswohlfahrt, sondern auch fürsorge für Unbemittelte für die gesamte Wohl- die Rechtspflege bei der Entfaltung einer Rechtsfür- fahrtspflege von Bedeutung“ ansah und deshalb die sorge an Wert gewinnen und die Rechtspflege durch Öffentliche Rechtsauskunft als die ureigenste Auf- sie erst ihren Schmelz erhalten würde“. gabe verstand, wurde die Grundlage für die heutige Der heute noch aktive und eng mit der Arbeit der Arbeit der ÖRA gelegt. ÖRA verbundene „Verband der gemeinnützigen und Die Interessen des Wohlfahrtsamtes waren damals unparteiischen Rechtsauskunftsstellen e. V.“ wurde so eindeutig formuliert wie heute noch gültig. 1920 von Dr. Hermann Link [1879–1964] 1906 gegründet. heißt es in der vom Wohlfahrtsamt verfassten Denk- Der größte Träger der Rechtsberatung in Hamburg schrift: „Das Wohlfahrtsamt würde in einer gut ge- – das „Volksheim e. V.“ – richtete 1909 an den Senat leiteten Rechtsauskunftstelle einen Schatz von Er- das Gesuch, für den dargelegten Zweck eine ein- fahrungen über die Rechtsnöte unseres Volkes malige Beihilfe in Höhe von 2500 Mark und ferner sammeln und durch ihn Anregungen erhalten, um einen laufenden Zuschuss von 7500 Mark jährlich Lücken in der Volkswohlfahrtspflege ausfüllen und zu gewähren. Diesem Gesuch wurde zunächst nicht neu auftretende Bedürfnisse zu befriedigen und in stattgegeben. Am 4. November 1920 fasste die Ham- dieser Richtung Einfluss auf die Gesetzgebung burgische Bürgerschaft den einstimmigen Beschluss, gewinnen.“ Der „Hamburgische Verein der Rechts - der Senat möge „sich die Förderung einer Stelle zu auskunftstellen“ begrüßte die Übernahme durch die gemeinnütziger und unparteiischer Rechtsauskunft- Wohlfahrtspflege, vermerkte jedoch schon damals erteilung angelegen sein lassen“, jedoch erst 1912 ausdrücklich: „Die Aufgabe der Rechtsauskunftstel- auf erneuten Vorstoß des Bürgerschaftsabgeordneten len erschöpft sich nicht etwa darin, Rechtsrat zu er- Dr. Walter Matthaei [1874–1953, seinerzeit Richter, teilen, sondern erstreckt sich auch darauf, nach An- nachmals Senator] unter Einbeziehung positiver hörung beider Parteien Rechtsstreite zu schlichten.“ Stellungnahmen der Deputation Handel, Schifffahrt Hier sei aber eine klaffende Lücke in der Rechtsord- und Gewerbe sowie der mittlerweile positiven Auf- nung festzustellen. fassung der Hanseatischen Anwaltskammer wurde Das Jahr 1921 ist angefüllt mit regelmäßigen Sitzun- ein staatlicher Zuschuss von 10 000 Mark jährlich gen des Wohlfahrtsamtes, an denen Vertreterinnen auf die Dauer von fünf Jahren bewilligt. der Frauenvereine, der Arbeitersekretariate, des Träger war der am 11. November 1913 gegründete Volksheimes, des Arbeitsamtes und natürlich des „Hamburgische Verein der gemeinnützigen und un- hamburgischen Vereins teilnahmen. Stellenpläne parteiischen Rechtsauskunftsstelle“. Die Räume der wurden erörtert, und schließlich wurde am 4. Okto- Öffentlichen Bücherhalle an den Kohlhöfen wurden ber 1922 die Rechtsauskunftstelle als Teil des Wohl- zur Verfügung gestellt. fahrtsamtes eröffnet. Mit der Novellierung der ZPO Bedingt durch den baldigen Ausbruch des Krieges und der Einfügung des damaligen § 495 a Abs. 1 verlief die Arbeit zunächst bescheiden, und erst Ziff. 1 am 1. Juni 1924 wurden Gütestellen gesetzlich

Leben im Paradies der Gradheit. Müns- Interviews mit Ilse Jochimsen, geb. ter 2002. Fraenkel, 2003–2008. Ursula Pietsch: Volksdorfer Schicksale. Interview mit Erna Klingmann, 2001. In: Unsere Heimat die Walddörfer. Nr. 4, 2005, S. 51; Nr. 5, S. 67. 40 DAMMTORSTRASSE 14 · „Öffentliche Rechtsauskunft“ (ÖRA)

verankert, und schon am 13. September 1924 er- sorgewesen ausgeschieden, die ich stets als einen klärte die Justizverwaltung die Öffentliche Rechts- wertvollen Teil vorbeugender Fürsorge erkannt und auskunft zur Gütestelle im Sinne des § 495 a Abs. 1 nachdrücklich gefördert habe. Demgemäß wurde Ziff. 1 ZPO. Die Rechts auskunft und Gütestelle, die mit der NS-Rechtsbetreuung enge Zusammenarbeit nunmehr unter der Abkürzung Ragü firmierte, erhielt vereinbart. Unsere hamburgische Einrichtung war eine Geschäftsordnung und hatte ihre Diensträume tief in der Bevölkerung verwurzelt; sie genoss im in der ABC-Straße 46/47. Acht Bezirksstellen gehör- ganzen Reich hohes Ansehen und gilt mit Recht als ten mit zur Hauptstelle. In den Jahren bis 1933 er- vorbildlich. Diesen Ruf verdankt sie nicht zuletzt blühte die Ragü. Sie war Vorbild für vergleichbare dem unermüdlichen ehrenamtlichen Wirken ihrer Bestrebungen in Deutschland und arbeitete nach erfahrenen Berater, die sich für den regelmäßigen wie vor im Verband der Rechtsauskunftsstellen mit. Dienst in den Abendstunden zur Verfügung gestellt Der Verband gab eine eigene Zeitschrift heraus. haben.“ Aus den verschiedenen Aktenvermerken Nebentätigkeiten, wie die Übernahme der Auf ga - ist ebenfalls ersichtlich, dass die Zahl der Beratun- ben des Mieteinigungsamtes (1924) und die Entge- gen und Gütesachen in der Zeit der nationalso - gennahme von Kirchenaustrittserklärungen (1929), zialistischen Diktatur drastisch gesunken ist. Mit wurden damals, ebenso wie später die Erteilung dem 1. September 1943 wurde in Hamburg die NS- von Armenrechtszeugnissen, von der Öffentlichen Rechtsbetreuung auf Anordnung Hitlers (1889–1945 Rechtsauskunft- und Vergleichsstelle geleistet. Suizid) direkt von der Gauleitung übernommen und Die gesicherte Einbindung der hamburgischen Ragü war damit auch offiziell eine reine Parteiangelegen- in das Wohlfahrtsamt bewirkte auch, dass die an- heit. Welcher Art die behandelten Rechtsfälle waren, derenorts schon im Juli 1933 abgeschlossene Ein- wie sich die Formulierung von Vergleichen verändert verleibung der Öffentlichen Rechtsauskunftstellen hat, ob sich noch Personen jüdischer Abstammung in die NS-Rechtsbetreuung in Hamburg seine Zeit unter den Ratsuchenden befanden, wissen wir nicht. dauerte. Forschungen in den Unterlagen des Staats- Auch gibt es derzeit keine fundierten Informationen archivs haben deutlich gemacht, dass zwischen dem darüber, ob und wie sich die Gruppe der ÖRA-Bera- 20. Januar 1934, an dem die Landesjustizverwaltung ter zwischen 1933 und 1945 zusammengesetzt hat. an die Ragü das Verlangen des BNSDJ („Bund na- Angesichts der Blitzhaftigkeit jedoch, in der sich tionalsozialistischer deutscher Juristen“) auf Über- die Einverleibung der Juristenschaft im allgemeinen nahme übermittelt hatte, und der mit dem 1. Februar vollzog, hat sich das zutiefst rassistische Menschen- 1936 erfolgten Übernahme der Ragü durch die NS- bild und die demokratiefeindliche Gesellschaftsauf- Rechtsbetreuung ein zähes Ringen hinter den Ku- fassung des Nationalsozialismus sicher auch auf lissen stattfand. Dabei wurde selbstverständlich die Arbeit der Ragü und der sie aufsuchenden Men- nicht mit offenen Worten protestiert, jedoch wurden schen ausgewirkt. Mit der Einführung des § 1 i.V. m. Verwaltungsabläufe verzögert, Stellungnahmen ab- § 3 Ziff. 2 Rechtsberatungsgesetz am 13. Dezember gegeben und von Seiten der Wohlfahrtspflege immer 1935, der die Rechtsberatung im Wesentlichen der wieder betont, dass der strukturelle Zusammenhang Anwaltschaft vorbehielt, wurden beispielsweise die von Rechtsauskunft und Gütestelle nicht gefährdet zwar schon aus der Anwaltschaft ausgeschlossenen, werden dürfe. Zudem wurde lang und breit disku- aber noch als so genannte Rechtsbesorger tätigen tiert, wer welche Kosten zu übernehmen habe. An- jüdischen Juristen ihrer letzen legalen Erwerbsmög- lässlich der Überleitung der Ragü auf die NS-Rechts- lichkeiten beraubt. Sie mussten ihre Existenz z. T. betreuung gibt der Präsident der Wohlfahrtsbehörde halb legal in den Hinterzimmern „arischer“ Kanz- [Oskar] Martini [1884–1980] durch Rundschreiben leien führen oder emigrieren, wenn sie dem beruf- sämtlichen Mitarbeitern bekannt: „Mit der Überlei- lichen Ruin oder später der physischen Vernichtung tung ist eine Einrichtung aus dem staatlichen Für- entgehen wollten. Die demokratischen Kräfte konn- DAMMTORSTRASSE 14 · „Öffentliche Rechtsauskunft“ (ÖRA) 41 ten sich kaum mehr legal äußern – jedenfalls nicht in offiziellen Ragü-Hauptakten. Freiheitlich gesinnte Publikationen – wie etwa „Die Rechtsauskunft“ – wurden eingestellt. Offensichtlich haben jedoch noch vereinzelte und manchmal vereinte Kräfte unter der Oberfläche ge- schlummert; denn schon am 4. Februar 1946, noch unter britischer Oberhoheit und noch vor der Ver- abschiedung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949, wurde die Ragü jetzt als ÖRA wiedereröffnet. Neben den Aufgaben der Rechtsauskunft und Gütestelle kam als drittes Element die ÖRA als Vergleichsbe- hörde im Sinne des § 380 StPO hinzu. Untergebracht war die ÖRA zunächst in den Räu- Noch heute ist das Jugendstiltreppenhaus im Haus men des Ziviljustizgebäudes, gemeinsam mit der Dammtorstraße 14 vorhanden. Im 2. Stock befindet sich die ÖRA. Photo: Peter Mühlenhardt „Vertrauensstelle für Verlobte und Eheleute“, mit der „Deutschen Zentralstelle zur Bekämpfung der Schwindelfirmen e. V.“ sowie mit „Pro Honore, Ver- Anwaltschaft angesiedelt wissen, wobei die Anwäl- ein für Treu und Glauben im Geschäftsleben e. V.“. tinnen und Anwälte ihre Beratungshilfehonorare bis Mit all diesen Einrichtungen arbeitet die ÖRA auch auf 20 DM mit den Landeshauptkassen abzurechnen noch heute eng zusammen, sei es über die Mit- hätten. Der Gesetzgeber hat sich mit der Verabschie- gliedschaft im Verband der Rechtsauskunftstellen, dung des Rechtsberatungshilfegesetzes vom 18. Juni sei es über die thematische Kooperation im Zusam- 1980 grundsätzlich für die Angliederung an die An- menhang mit der außergerichtlichen Regelung von waltschaft entschieden, wobei für die Länder Berlin, Trennung und Scheidung (Mediation). Zunächst je- Bremen und Hamburg Ausnahmeregelungen abge- doch musste sich die ÖRA räumlich und organi- sichert wurden. Die Vorteile eines sehr breiten, qua- satorisch neu konstituieren. Ihre Geschäftsräume lifizierten, bürgernahen und streitschlichtenden so- bezog sie im Dammtorwall 13. Hannes Kaufmann wie zudem kostengünstigen Verfah rens hat sich wurde 1952 von Carl-Peter Hennings [1885–1967] damit für Hamburg durchsetzen können. Von 1985 abgelöst. In dessen Amtszeit fällt insbesondere die bis 1994 wurde die ÖRA von Werner Schlenther ge- lang anhaltende rechtspolitische Auseinanderset- leitet. Unter seiner Regie vollzog sich der Umzug in zung über die Einführung des Beratungshilfegeset- das ÖRA-Haus am Holstenwall 6. Im September 2008 zes. Im Vergleich zu dem, was die ÖRA schon seit erfolgte der Umzug in die Dammtorstraße 14. In- 1922 leistete – nämlich Rechtsberatung auf allen haltlich und organisatorisch ist die ÖRA bis heute in Rechtsgebieten für Bürgerinnen und Bürger mit ge- ihren guten Traditionen verwurzelt, und es gehört ringem Einkommen –, waren die verbrieften Rechte, nach wie vor zum guten Ton unter der hamburgi- die das Beratungshilfegesetz für breite Schichten schen Juristenschaft, im Rahmen der ÖRA ehren- der Bevölkerung eröffnen sollte, auf wesentlich nied- amtlich tätig zu werden. Mit ausgesuchter fachlicher rigerem Standard. Dementsprechend wurde landes- und persönlicher Qualifikation widmen sich ehren- weit politisch kontrovers Position bezogen: Die eine amtliche Juristinnen und Juristen, Verwaltungs- und Fraktion favorisierte ein flächendeckendes System Schreibkräfte der ratsuchenden Bevölkerung sowie öffentlicher Rechtsberatungseinrichtungen nach dem den Parteien im Güte- und Sühneverfahren. Dabei Vorbild der ÖRA Hamburg, die andere Fraktion profitieren alle Beraterinnen und Berater von der in- wollte die außergerichtliche Rechtsberatung bei der terdisziplinären Zusammenarbeit. 42 DAMMTORSTRASSE 14 · „Öffentliche Rechtsauskunft“ (ÖRA) · „Landeszentrale für politische Bildung“

Die Freie und Hansestadt Hamburg konnte schon den. So fand weitere zwei Jahre später, am 11. De- von 1946 bis 1980 auf ein gut funktionierendes Sys- zember 1956, die erste Sitzung des neu gegründeten tem der Rechtsberatung und außergerichtlichen „Hamburger Kuratoriums für staatsbürgerliche Bil- Streitschlichtung verweisen. Sie war damit 34 Jahre dung“ statt. Der Senat beschloss, die Geschäfte des der bundesweiten Regelung voraus. Und auch nach „Kuratoriums“ nebenamtlich von einem Beamten 1980 war das Hamburger Angebot im Gegensatz im Auftrag des „Kuratoriums“ führen zu lassen, der zum restlichen Bundesgebiet weiterhin auf Angele- vom Senat im Einvernehmen mit dem „Kuratorium“ genheiten des Arbeits-, Sozialversicherungs- und des auf drei Jahre bestellt werden sollte. Das „Kurato- Steuerrechtes ausgelegt. Dies war ein Privileg, das rium“ bestand aus den ständigen Mitgliedern: dem sich die Bürgerinnen und Bürger des Bundes erst Ersten und dem Zweiten Bürgermeister, dem Schul- durch eine erfolgreiche Verfassungsklage 1993 mit senator und einem ehemaligen Senator, dem Führer anschließender Novellierung des Beratungshilfege- der Opposition, einem Mitglied der Bürgerschaft, setzes vom 14. September 1994 erstreiten mussten. dem Rektor der Universität, dem Direktor der Volks- Text: Monika Hartges hochschule, dem Präses der Handelskammer, dem Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und zehn weiteren Mitgliedern, die der Erste Abteilung „Allgemeine Weiterbildung“ des Bürgermeister auf Vorschlag der ständigen Mitglie- „Amtes für Weiterbildung“ der Behörde für der auf fünf Jahre berief. Schule und Berufsbildung Das „Kuratorium“, dessen Geschäftsstelle sich in ei- nem Raum des Hamburger Rathauses befand, erhielt Seit Januar 2010 befinden sich im 5. Stock der Damm- 1957 einen Jahresetat von 200 000 DM. Die finanziel- torstraße 14 die Büroräume der „Abteilung Allge- len Mittel sollten im Wesentlichen für staatsbürgerli- meine Weiterbildung“ des „Amtes für Weiterbildung“ che Kurse ausgegeben werden, die u. a. von der „Ge - der Behörde für Schule und Berufsbildung, zu der sell schaft für Wirtschaft und Sozialpolitik e. V.“ (Haus die „Landeszentrale für politische Bildung“, das „Ju- Rissen) und der „Neuen Gesellschaft“ abgehalten gendinformationszentrum“, der „Kulturring der Ju- wurden. Das „Kuratorium“ verteilte die staatlichen gend“, das Referat „Bildungsurlaub“ und das Referat Mittel auf die Gesellschaften und kontrollierte deren „Allgemeine Weiterbildung“ gehören. Verwendung. Daneben setzte es sich folgende Arbeits - schwerpunkte: Koordination der „Jungbürgeraktion“ Geschichte und Entwicklung der und Durchführung von Lehrerinnen- und Leh rer- „Landeszentrale für politische Bildung“ seminaren, die in Bonn und in Berlin stattfanden. 1958 zog die Geschäftsstelle des „Kuratoriums“ in Nachdem 1952 die „Bundeszentrale für Heimat- zwei Räume der Schulbehörde in der ABC-Straße 40 dienst“ eröffnet worden war, die an die „Reichszen- B. Nun hatten die Verwaltungsarbeiten bereits einen trale für den Heimatdienst“ der Weimarer Republik solchen Umfang angenommen, dass eine Sekretärin, anknüpfte und zu deren Aufgabe es gehörte, das die anfangs halbtags tätig war, ganztägig eingestellt demokratische und europäische Gedankengut im werden musste. Außerdem wurde ein Beamter der deutschen Volk zu festigen und zu verbreiten, stellte Senatskanzlei nebenamtlich mit der Bearbeitung der zwei Jahre später, am 5./6. Februar 1954, die Minis- Anträge, Abrechungen und sonstigen haushaltsrecht- terpräsidentenkonferenz in München fest, dass in lichen Angelegenheiten beschäftigt. den einzelnen Bundesländern Einrichtungen zur Im selben Jahr entwickelte das „Kuratorium“ ein Pflege der staatsbürgerlichen Bildung erforderlich Schaubild, das in anschaulicher und allgemeinver- seien. Deshalb wurde beschlossen, entsprechende ständlicher Form die Gliederung der Hamburger Ver- Einrichtungen in den einzelnen Ländern zu grün- waltung zeigte und in allen Behörden, in denen Pu- DAMMTORSTRASSE 14 · „Landeszentrale für politische Bildung“ 43 blikumsverkehr war, ausgehängt wurde, um den 1966 fällte das Bundesverfassungsgericht sein Urteil Bürgerinnen und Bürgern die Struktur ihres Staates über die bisherige Förderungspraxis des „Kuratori- und den Aufbau der Verwaltung nahezubringen. ums“. Danach war die staatliche Förderung partei- Ebenfalls 1958 begannen die „Jungbürgerabende“. naher Gesellschaften nicht mehr zulässig, und zwar Das „Kuratorium für staatsbürgerliche Bildung“, das besonders dann nicht, wenn die politische Bildungs- „Amt für Bezirksverwaltung“ und die Bezirksämter arbeit der Werbung für eine politische Partei diene. luden bei Fruchtsaft, Bier und Zigaretten zu diesen Nach diesem Urteilsspruch änderten die „Neue Ge- Abenden in die Verwaltungsgebäude der jeweiligen sellschaft“ und die „Staatspolitische Gesellschaft“ Bezirksämter ein. Verteilt wurden Schriften wie ihre Satzungen, um damit ihre Parteienunabhängig - „Mein Leben als Bürger“ oder das Büchlein des da- keit zu unterstreichen. maligen Leiters der staatlichen Pressestelle Hamburg 1972 kam es in der politischen Bildung zu einer Erich Lüth (1902–1989) „Stadtstaat Hamburg“. heftigen Krise: Das bisherige Förderungsmodell des Im Laufe der Zeit nahm die Anzahl der Anträge „Kuratoriums“ hatte sich in den letzten Jahren im- von Gesellschaften und Vereinen auf finanzielle För- mer mehr als schwierig erwiesen. Die Beschränkung derung von Veranstaltungen und Projekten der po- auf wenige Zuwendungsempfänger konnte kaum litischen Bildung immer mehr zu. Deshalb beschloss noch aufrechterhalten werden, da immer neue An- das „Kuratorium“ 1960 eine Begrenzung der Zu- tragsteller Ansprüche anmeldeten, so dass die Strei- wendungsempfänger, denn es befürchtete eine Zer- tigkeiten um die Mittelvergabe nicht mehr geschlich- splitterung der finanziellen Mittel. Gefördert wurden tet werden konnten. Hinzu kam, dass immer weni - von nun an nur vier Gesellschaften: die „Neue Ge- ger Geld für die eigentliche Bildungsarbeit der Bil- sellschaft“, „Haus Rissen“, die „Freie Gesellschaft“ dungsgesellschaften (Seminare, Vorträge) ausgege- und ab 1963 die „Staatspolitische Gesellschaft“. ben wurde, dafür immer mehr für Verwaltungsar- Mit der Aufnahme der Förderung der „Staatspoliti- beiten. Der Hamburger Senat finanzierte somit schen Gesellschaft“ begannen die Auseinanderset- zunehmend die Verwaltung der privaten Bildungs- zungen zwischen dem „Kuratorium“ und den politi- gesellschaften, die alle mehr oder weniger das schen Gesellschaften um die Vergabe der finanziellen Gleiche taten. Darüber hinaus stagnierten die finan- Mittel. Insbesondere drehte sich der Streit um die ziellen Mittel für die politische Bildung, und das Frage: Sollen sich die eher konservativ ausgerichteten „Ku ratorium“ arbeitete schwerfällig und unrationell, bzw. CDU-nahen Gesellschaften „Haus Rissen“ und da seine Mitglieder mit anderen Aufgaben mehr als „Staatspolitische Gesellschaft“ den finanziellen Par- genug zu tun hatten. teienanteil teilen, oder wäre „Haus Rissen“ als par- Um die Krise in der politischen Bildung abzuwen- teipolitisch unabhängig zu betrachten und müsste den, wurde erneut die Gründung einer „Landeszen- als solche gesondert gefördert werden? trale für politische Bildung“ erwogen. Die politi- Die Diskussion um die finanzielle Mittelvergabe schen Gesellschaften wehrten sich nach wie vor wurde noch erschwert durch die Tatsache, dass die gegen solch ein Vorhaben. Nun spielten nicht mehr Verwaltungskosten der Gesellschaften enorm gestie- Bedenken der finanziellen Art die Rolle, sondern gen waren, so dass staatliche Zuschüsse ohnehin er- die Gesellschaften vertraten die Auffassung, eine forderlich waren. Dies führte zu ersten Überlegungen, staatliche Bildungseinrichtung würde auf Akzep- eine „Landeszentrale für politische Bildung“ ins Le- tanzprobleme stoßen. ben zu rufen, die effizienter arbeiten und damit die Doch trotz solcher Bedenken zeichnete sich 1973 Verwaltungskosten durch Konzentration der Arbeit nun auch in Hamburg die Gründung einer „Landes- senken würde. Doch die Gesellschaften wehrten sich zentrale für politische Bildung“ ab, die das „Kurato- gegen solch ein Ansinnen, da eine institutionalisierte rium“ ersetzen und zugleich dessen Arbeit fortsetzen „Landeszentrale“ als Konkurrenz gesehen wurde. sollte. Ausgelöst wurde dieses Vorhaben durch ein 44 DAMMTORSTRASSE 14 · „Landeszentrale für politische Bildung“

bürgerschaftliches Ersuchen an den Senat. Bei der lich tätige Leiter des „Kuratoriums“. Hinzu kamen Vorbereitung der Senatsantwort auf das Ersuchen zwei Referentenstellen für die politische Bildung, kam es zu einem regen Briefwechsel zwischen dem eine Oberamtsratstelle für die Verwaltungsaufgaben Senat, den beteiligten Behörden und den politischen und zwei Sachbearbei tungsstellen. Gesellschaften. Schließlich wurde in der Antwort In den folgenden Jahren bis 1980 legte die „Landes - des Senats die Gründung einer „Landeszentrale“ vor- zentrale“ ihre Schwerpunkte auf „Seminare für Spät- gesehen. Diese sollte die bisherigen Aufgaben des aussiedler“ und Modellseminare zu den Themen „Kuratoriums“ übernehmen; zu ihren weiteren Tä- „Rationalisierung und Humanisierung des Ar beits- tigkeiten sollten gehören: Dozentinnen- und Dozen- platzes“, „Situation der berufstätigen Frau“ und tenfortbildung, die Durchführung von Modellsemi- „Europäische Direktwahl“. Die „Landeszentrale“ naren, in denen didaktische Konzepte ausprobiert gab Publikationen heraus u. a. zu den Themen „Or- werden sollten, Konzeption und Durchführung von ganisierter Kommunismus in der Bundesrepublik Veranstaltungen zu Grundproblemen der politischen Deutschland“ (1974), „Investitionslenkung und so- Bildung und zu besonderen politischen Ereignissen ziale Marktwirtschaft“ (1975), „Alter native Instru- und Anlässen. Außerdem sollte die „Landeszentrale mente zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit“ (1976), für politische Bildung“ geeignete Referentinnen und „Rechtsextre mismus“ (1978). Referenten vermitteln und Publikationen erstellen 1981 musste die „Landeszentrale“ ihre Eigenaktivi- und ankaufen, die über die freiheitlich-demokrati- täten reduzieren. Zwar war der Haushaltsansatz für sche Grundordnung und die parlamentarische De- 1981 um 61000 DM auf 1 323 000 DM erhöht wor- mokratie unterrichteten. Die privaten politischen Ge- den, doch unterlag der neue Gesamtbetrag infolge sellschaften sollten weiterhin gefördert werden. der Bewirtschaftungsmaßnahmen des Senats einer Ein Jahr später, 1974, war es dann so weit. Nun Kürzung von 6%, so dass die Mittel insgesamt leicht hatte auch der Stadtstaat Hamburg eine „Landes- zurückgegangen waren. zentrale für politische Bildung“. Sie wurde der Se- Da die politischen Gesellschaften wegen ihrer ange - natskanzlei zugeordnet und erhielt einen Beirat, der spannten Finanzlage nicht von den Kürzungen be- das „Kuratorium“ ersetzen sollte. Zu dessen Aufga- troffen werden sollten, musste eine Reduzierung der ben gehörten: die Überwachung der Überparteilich- Eigenaktivitäten der „Landeszentrale“ vorgenommen keit der „Landeszentrale“, Beratung bei Schwerpunkt- werden. Das bedeutete: Es wurden weniger Eigen - setzungen und Beschlussfassung über die Grundsätze pu blikationen erstellt und weniger Bücher angekauft. der Vergabe von Zuwendungen. Die Leitung der Dennoch ließ sich das Programm der „Landeszen- „Landeszentrale“ übernahm der bisherige hauptamt- trale“ sehen. So kamen in den 80er Jahren neue The-

1998 führte die Landeszentrale für politi- sche Bildung im kommunalen Kino „Metropolis“, Dammtorstraße 30, die Ver - anstaltung „Es begann 1952 … die Anfänge des Dokumentarismus im Fern- sehen“ durch. Im Bild von links die Fernsehmänner der Ersten Stunde: Max H. Rehbein (geb. 1918), Jürgen Roland (1925–2007), Rüdiger Proske (geb. 1916), Carsten Diercks (1921–2009) und ganz rechts außen Peter von Zahn (1913–2001). Photo: Gerda Aldermann DAMMTORSTRASSE 14 · „Landeszentrale für politische Bildung“ 45 menschwerpunkte hinzu, wie z. B. Bundes wehr - ner“ (1990); „Der Traum von der Einheit (1990)“; seminare und das Sonderprogramm zum 50. Jahrestag „Kleine Geschichte Hamburgs“ (1991); „Prag – des 30. Januars 1933. An neuen Eigenpublikatio nen schönste Schwester Hamburgs“ (1991); „Als Fremde wurden z. B. die Buchtitel erstellt: „Rundfunkpolitik“ zuhause in Hamburg?“ (1991); „Jugendlichen Raum (1980), „Neuengamme“ (1981), „Die Bürgerschaft“ lassen“ (1992); „Trotz Fleiß keinen Preis – histori- (1982), „Standort Hamburg. Beiträge zur Entwick- scher Stadtrundgang zu den Frauen der Unterschicht“ lung und Bedeutung der Bundeswehreinrichtungen (1992); „Zeitbombe Müll“ (1992); „Aber wir müssen in Hamburg“ (1985), „1. Mai 1946 – Die ersten freien zusammenbleiben – Mütter und Kinder im Bomben- Maifeiern in Hamburg seit dem Ende der Weimarer krieg“ (1993); „Hamburg gewinnt mit Europa“ Republik“ (1986), „Der Hamburger Hafenarbeiter- (1994); „Demokratie braucht Bildung – Bildung streik 1896/97“ (1987), „Marseille – eine kritische braucht Demokratie“ (1994); „Finanznot als Motor Lie beserklärung“ (1988), „Die Türkei steht in der von Reformen – Haushaltskonsolidierung und eine Drit ten Republik“ (1988), „Shanghai – Chinas Tor zur effiziente bürgerfreundliche Verwaltung – Parallele Welt“ (1988), „Historische Lieder aus acht Jahrhun- oder zuwiderlaufende Ziele?“ (1994); „Der schwere derten“ (1989), „Leinen los – Frauenarbeit im Ham - Weg zur Demokratie. Politischer Neuaufbau in Ham- burger Hafen“ (1989), „Hamburg und die Französi- burg 1945/46“ (1995); „Jonglieren mit drei Bällen. sche Revolution“ (1989). Frauen in der Hamburgischen Bürgerschaft“ (1995); 1986 zog die „Landeszentrale für politische Bildung“ „Hamburg zur Zeit der Weimarer Republik“ (1996); aus der Poststraße 11 (Alte Post), in der sie jahrelang „Europäische Unionsbürgerschaft – eine neue Per- ihren Sitz gehabt hatte, in den 3. Stock der Großen spektive für die deutsche Ausländerpolitik“ (1996); Bleichen 23. „Unter uns – ein Jugendcomic zum Thema Rechts- Ab 1996 wurde dann die Mehrzahl der von der „Lan- radikalismus“ (1996); „Wer steckt dahinter? Ham- deszentrale“ geförderten Bildungsgesellschaften vom burgs Straßen, die nach Frauen benannt sind“ (1996); Amt für Berufs- und Weiterbildung der Schulbe- „Staat und Parteien im Stadtstaat Hamburg oder die hörde gefördert. Es verblieben bei der „Landeszen- Unregierbarkeit der Städte“ (1996); „Der Kurdenkon- trale“ nur noch drei zu fördernde Gesellschaften. flikt – Ursachen und Lösungswege“ (1996); „Rat- Gleichzeitig wurde ein neuer Zuwendungstitel hausbau, Handwerk und Arbeiterschaft“ (1997); „Auf „Sonstige Antragsteller“ geschaffen. Damit erhielten den Zweiten Blick. Streifzüge durch das Hamburger nun nicht mehr nur die großen Bildungsgesellschaf- Rathaus“ (1997); „Einblicke Hamburgs Verfassung ten Förderung, sondern auch kleine gemeinnützige und politischer Alltag leicht gemacht“ (1998); „Ham- Vereine für Projekte und Veranstaltungen der politi- burg im 3. Reich“ (1998); „Die Flüchtlinge kommen. schen Bildung. Die Bearbeitung und Vergabe dieses Aufnahme und Integration der Flüchtlinge in Ham- Titels liegt in Händen der „Landeszentrale“. burg 1945–1947“ (1998); „Hamburger Stadtplan zu In den 90er Jahren wirkte sich die Öffnung der Gren- den jüdischen Stätten in Hamburg“ (1998). zen stark auf die Arbeit der „Landeszentrale“ aus. An Veranstaltungsthemen wurden in den 90er Jahren Es herrschte eine große Nachfrage aus den Neuen z. B. präsentiert: „Psychogramm der DDR“ (1991); Bundesländern. Vor allem forderten die Bürgerinnen „Hamburgs erster Mütterkongress“ (1993); „Was tun? und Bürger das „erweiterte“ Grundgesetz mit Ab- Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum § 218“ druck des Wahlrechtes, des Parteiengesetzes und (1993); „Goody Goody – Lebensgefühl der Hamburger der Erklärung der Menschenrechte ab. Swingjugend in den 30er und 40er Jahren“ (1998); An Eigenpublikationen erschienen in den 90er Jahren szenische Aufführung im Hamburger Rathaus zu den z. B. folgende Publikationen: „Gleiche Rechte – Glei- Frauen und Männern im Rathaus (1998). che Pflichten. Zur Geschichte des Frauenalltags in Ebenfalls in den 90er Jahren begann die „Landes- Hamburg (1990)“; „Asyl in Deutschland: Die Zigeu- zentrale für politische Bildung“ in Kooperation mit 46 DAMMTORSTRASSE 14 · „Landeszentrale für politische Bildung“

Amt der Senatskanzlei und direkt dem Ersten Bür- germeister und seinem Staatsrat unterstellt war, in die Schulbehörde integriert. Durch die im Jahr 2003 erfolgte umfangreiche Reor- ganisation der Schulbehörde erfuhr auch die „Lan- deszentrale für politische Bildung“ grundsätzliche Veränderungen in ihrer Struktur und Zuständigkeit. So erhielt sie die Gesamtzuständigkeit für den Be- reich „Zuwendungen“, das heißt, die bis dahin im bis herigen „Amt für Berufliche Bildung und Weiter- Einladungskarte zur 1998 von der „Landeszentrale für bildung“ der Schulbehörde geförderten Bildungsträ- politische Bildung“ mit der „Hamburg Welle 90,3“ ger wurden nun der „Landeszentrale“ zugewiesen. des NDR Rundfunks im Alsterpavillon durchgeführten Seitdem liegt die fachliche Steuerung und inhaltliche Veran staltung „Goody, Goody, Lebensgefühl der Hamburger Swingjugend in den 30er und 40er Jahren“. Beurteilung der Anträge allein bei der „Landeszen- trale für politische Bildung“. Eine personelle Auf- stockung hierfür fand allerdings nicht statt. der Bürgerschaftskanzlei mit eintägigen und dreitä- Die Zusammenführung der Förderung der politi- gigen Rathausseminaren für Schulklassen der Ober- schen Bildung in einen Verwaltungsbereich machte stufe. es erforderlich, dass anstelle des bisher bestehenden Die zunehmenden Gewalttaten von Rechtsextremis- Beirates der „Landeszentrale für politische Bildung“ ten in den 90er Jahren bewog 1994 die Bürgerschaft und des Fachbeirats für politische Weiterbildung zur Verabschiedung eines Sonderprogramms gegen beim ehemaligen „Amt für Berufliche Bildung und Rechtsextremismus und Gewalt. Auch die „Landes- Weiterbildung“ ein neuer Beirat für die politische zentrale“ bekam für Veranstaltungen, Projekte und Bildung gebildet werden musste. Dieser Beirat be- Publikationen, die sie zu dem Thema durchführte steht nun aus neunzehn Mitgliedern: neun Abge- bzw. förderte, Gelder zugewiesen.25) ordneten der Hamburgischen Bürgerschaft; vier Ver- treterinnen/Vertretern der Bildungseinrichtungen, die als anerkannte Bildungsträger gefördert werden; zwei Vertreterinnen/Vertretern der Hochschulen; zwei Vertreterinnen/Vertretern der Handels-/Hand- werkskammer und der Arbeitgeberverbände; zwei Vertreterinnen/Vertretern der Gewerkschaften. Außerdem zog die „Landeszentrale für politische Bildung“ Ende 2003 in die Steinstraße um, wo sie gemeinsam mit dem „Jugendinformationszentrum“ einen Infoladen einrichtete, in dem die Publikationen der „Landeszentrale“ und das Infomaterial des „Ju- Im Foyer des 4. Ranges der Hamburgischen Staatsoper gendinformationszentrums“ bereitgehalten wurden. präsentierte die „Landeszentrale für politische Bil- Damit hatte die „Landeszentrale“ erstmals in ihrer dung“ 1998 die Veranstaltung „Geschlechterrollen auf Geschichte einen Laden, in dem sie ihre Publikatio- der Opernbühne“. Photo: Gerda Aldermann nen und Broschüren präsentieren konnte; in den Jahren zuvor war das Pub likationsangebot der „Lan- Nach der Bürgerschaftswahl 2001 wurde die „Lan- deszentrale“ lediglich in einem Büroraum der Be- deszentrale für politische Bildung“, die seit 1974 ein völkerung zur Verfügung gestellt worden. 2003/2004

25 Vgl.: Rita Bake, Helga Kutz-Bauer, Dirk Jörke: Halb so alt wie das Grund- gesetz. 25 Jahre Landeszentrale für po- litische Bildung – eine Chronik. Ham- burg 1999. DAMMTORSTRASSE 14 · „Landeszentrale für politische Bildung“ 47 wurde die „Landeszentrale“ eine Abteilung des „Am- schen Spuren der verfolgten und ermordeten Men- tes für Bildung“ der Behörde für Bildung und Sport. schen nachgehen, für die in Hamburg Stolpersteine Seit 2009 ist sie Teil der Abteilung „Allgemeine Wei- verlegt wurden bzw. eine Verlegung geplant ist. Für terbildung des „Amtes für Weiterbildung“ der Behör - diese Publikationsreihe bekam das Projekt 2010 de für Schule und Berufsbildung. Die Leitung der die höchste Auszeichnung des Vereins für Hambur- „Landeszentrale für politische Bildung“ ist zugleich gische Geschichte verliehen: die Lappenbergsme- Leitung der Abteilung „Allgemeine Weiterbildung“. daille. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts gab die Das Thema „Obdachlosigkeit“ für Kinder dazustel- „Landeszentrale“ z. B. folgende Eigenpublikationen len, um ihnen damit die möglichen Ursachen für heraus: „Von machtvollen Frauen und weiblichen Obdachlosigkeit zu erklären und Empathie für ob- Körpern – ein Rundgang durch das Hamburger dachlose Menschen sowie Verständnis für ein sozia- Rathaus“ (2000); „Grenzen des grundrechtlichen les Miteinander zu wecken, war in 2008 der Ansatz Schutzes für rechtsextremistische Demonstrationen“ der „Landeszentrale für politische Bildung“ bei ihrer (2000); „Ich bin jetzt deutsch – eine Handreichung Förderung des bundesweit ersten Kinderbuches zum für Lehrerinnen und Lehrer zum neuen Staatsange- Thema Obdachlosigkeit: „Ein mittelschönes Leben“ hörigkeitsrecht“ (2001); „Länderfinanzausgleich“ für Kinder ab der 3. Schul klasse. (2001); „Recht gegen Rechts“ (2001); „Fünf Jahre di- Im Veranstaltungsbereich führte die „Landeszentrale rekte Bürgerbeteiligung in Hamburg“ (2001); „Gehen für politische Bildung“ im ersten Jahrzehnt des 21. oder Bleiben. Neuanfang der Jüdischen Gemeinde Jahrhunderts z. B. folgende Veranstaltungen durch: Hamburg nach 1945“ (2002); „Die Verfolgung der Im Jahr 2000 fand in der Aula der Heinrich-Hertz- Roma und Sinti in der Zeit des Natio nalsozialismus“ Schule eine Veranstaltung zum Thema „Hamburger (2002); „Gedenkstätten in Hamburg – ein Wegweiser Zweig der Widerstandsgruppe ,Weiße Rose‘“ statt. zu Stätten der Erinnerung an die Jahre 1933–1945“ Als Rednerin trat Traute Lafrenz (verh. Page), ein (2003); „So lebten sie! Spazieren auf den Wegen von damaliges Mitglied dieser Gruppe, auf. Frauen in Hamburgs Alt- und Neustadt“ (2003); DVD: Eine der Veranstaltungen, mit denen die „Landes- „Shalom Hamburg. Synagogen in Hamburg und Vi- zentrale“ bewusst auch die Grenzen zwischen Kultur sualisierung der Bornplatzsynagoge“ (2003); „Zer- und politischer Information überschritt, war die Dar- störte Geschichte. 400 Jahre jüdisches Leben in Ham- bietung „Der Duft, der Politik begleitet“ (2000). In burg“ (2005); „Das neue Wahlrecht. So wählen wir einer Multimedia-Show führte der Aachener Parfü- in Hamburg“ (2005); „6 Stimmen für Hamburg. Das meur Albert Thomas (geb. 1946) durch die Ge- neue Wahlrecht zur Hamburgischen Bürgerschaft“ schichte des Parfüms und der großen politischen (2007); CD-Box: „Hier spricht Hamburg – Hamburg Ereignisse. In einem Einführungsreferat machte Rita in der Nachkriegszeit, Rundfunkreportagen, Nach- Bake von der „Landeszentrale für politische Bildung“ richtensendungen, Hörspiele und Meldungen des den Zusammenhang zwischen der Kreation eines Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR) der Jahre Parfüms und den jeweils aktuellen politischen Er- 1945–1949“ (2007); CD-Rom: „Zwangsarbeit in der eignissen deutlich, denn viele Parfümkreationen spie- Hamburger Kriegswirtschaft 1939–1945“ (2007). geln in ihrer Duftkombination den politischen Zeit- Seit 2007 gibt die „Landeszentrale für politische Bil- geist einer Epoche wieder. Die Veranstaltung wurde dung“ gemeinsam mit dem „Institut für die Ge- in Kooperation mit der Hamburger-Hof-Parfümerie schichte der deutschen Juden“ die Publikationsreihe durchgeführt, und es konnte eine neue Klientel für „Stolpersteine in Hamburg – biographische Spuren- die politische Bildung gewonnen werden. suche“ heraus. Bis zum Jahr 2013 werden zu den 2001 führte die „Landeszentrale für politische Bil- meisten Stadtteilen Hamburgs Bücher erscheinen, dung“ zusammen mit der „Bundeszentrale für politi - in denen die Autorinnen und Autoren den biographi - sche Bildung“ das 5. Festival „politik im freien thea- 48 DAMMTORSTRASSE 14 · „Landeszentrale für politische Bildung“

nung – Genetik in der Zeitmaschine“ durch. 2004 präsentierte die „Landeszentrale“ Veranstaltungen zu den Themen „Hamburgs Nachbarn. Die EU-Oster- weiterung am 1. Mai 2004“ und „DDR“, ebenso ein Seminar zum Thema „Neue Rechte für Unionsbür- gerinnen und -bürger aus den Beitrittsländern als Arbeitnehmer, Studenten, Selbstständige, die schon in Hamburg leben“. Auch gab es nach der Bürger- schaftswahl 2004 wieder eine Veranstaltungsreihe für neu gewählte Bezirksparlamentarier zum Thema: „Einführung der Bezirksabgeordneten der 18. Wahl- periode in ihre Aufgaben“. 2005 wurden z. B. die 2001 lud die Landeszentrale für politische Bildung in Veranstaltungen „Die Kindertransporte nach Groß- den Spiegelsaal des Museums für Kunst und Gewerbe britannien 1938/39. Exilerfahrungen von Kindern ein zu der Veranstaltung „,Hier lebten keine Schmet - und Jugendlichen aus Hamburg“, „Die Geschwister terlinge‘ – über Komponisten im KZ Theresienstadt“. Photo: Gerda Aldermann Gady und Peggy Parnass erzählen aus ihrem Leben“, „Ich, Emilie Schindler. Erinnerungen einer Ungehor- samen“, „Die Frau an seiner Seite – eine szenische ter“ durch. Mit diesem Festival soll freies Theater Lesung zur Rolle der Frauen von SS-Männern“ und gefördert werden, das zu politischen Problemen Stel- „Das Stasi-Gefängnis Bautzen II“ durchgeführt sowie lung bezieht. Ebenfalls 2001 gab es im Spiegelsaal mit der über drei Jahre laufenden Veranstaltungsreihe des Museums für Kunst und Gewerbe eine Veran- „Gärten und Politik“ begonnen. Im Jahre 2008 gab staltung mit dem Thema „,Hier lebten keine Schmet- es z. B. die Veranstaltungsreihe „Die Klimakatastro- terlinge‘ – über Komponisten im KZ Theresienstadt“. phe – eine Chance für den Umbau der Welt“. An- Und auch im Jahre 2001 begann Rita Bake mit den lässlich des Tags der deutschen Einheit am 3. Okto- von ihr konzipierten und geschriebenen szenischen ber 2008 in Hamburg hatten die „Landeszentrale für historischen Stadtrundgängen, von Schauspielerin- politische Bildung“ und das „MiniaturWunderland“ nen und Schauspielern z. B. des Ohnsorgtheaters gespielt. Bis zum Jahre 2010 wurden sieben thema- tisch unterschiedliche Stadtrundgänge durchgeführt. 2003 gab es eine Veranstaltungsreihe zu der von Ka- rin Guth ausgerichteten Ausstellung „Die den Winkel tragen mussten. Sinti und Roma, Oppositionelle, Ho- mosexuelle, ‚Asoziale‘, Zeugen Jehovas“. Ebenfalls 2003 veranstaltete die „Landeszentrale“ mit „Rock- Links“ an Hamburger Schulen das Projekt „Afro- deutsch – fremd im eigenen Land“ mit den afro - deutschen Musikerinnen der Musikband „sister keepers“. 2003 war das Europäische Jahr der Men- schen mit Behinderungen. Gemeinsam mit der Beratungsstelle „Autonom Leben e. V.“ führte die „Landeszentrale“ eine Vortrags- und Diskussionsver - Die Landeszentrale für politische Bildung führte 2006 im Plenarsaal der Hamburgischen Bürgerschaft die sze- anstaltung sowie eine Filmreihe mit dem Kommuna- nische Aufführung „Von machtvollen Frauen – Frau en len Kino „Metropolis“ zum Thema „Zucht und Ord- im Hamburger Rathaus“ auf. Photo: Friedrich Ropertz DAMMTORSTRASSE 14 · „Landeszentrale für politische Bildung“ ·„Kulturring der Jugend“ 49 gemeinsam eine Dioramen-Ausstellung im Miniatur- Mit ihrem Publikationsangebot ist die „Landeszen- Wunderland zur deutschen Teilung und zur Wie- trale“ die einzige Institution der politischen Bildung dervereinigung erarbeitet und ausgestellt. Sie wurde in Hamburg, die der Hamburger Bevölkerung durch von ca. 200 000 Menschen besucht und bildete 2009 den Ankauf von Publikationen sowie durch die He- den Grundstock für eine gemeinsame Ausstellung rausgabe von Eigenpublikationen politische Themen zur deutschen Einheit mit der Hamburgischen Bür- vermittelt. Darüber hinaus fördert die „Landeszen- gerschaft und der Deutschen Presseagentur (dpa) trale“ ständig Veranstaltungen und Projekte von im Rathaus. Zur Bürgerschaftswahl 2008 führte die vier zehn „anerkannten“ Bildungsgesellschaften und „Landeszentrale“ 32 Schulungen zum neuen Wahl- eine Vielzahl so genannter nichtanerkannter Bil- recht durch. 2009 veranstaltete sie anlässlich des dungsträger. Damit ist die „Landeszentrale“ die zen- 60-jährigen Geburtstags des Grundgesetzes im Ple- trale Dienstleistungs- und Service-Einrichtung für narsaal der Hamburgischen Bürgerschaft eine mehr- die politische Bildung in Hamburg. fach wiederholte szenische Darbietung der tatsäch- lich stattgefundenen lebhaften Bürgerschaftssitzung „Kulturring der Jugend“ vom 18. Mai 1949 zur Abstimmung über das Grund- gesetz. Der „Kulturring der Jugend“ wurde 1945 von der Seit dem Wahljahr 2004 initiiert die „Landeszentrale“ Schulbehörde auf Initiative der britischen Militärre- zu Bürgerschafts- und Bundestagswahlen einen gierung gegründet. Neben dem Ansinnen, durch „Wahl-O-Mat“, eine Online-Wahlplattform, auf der Kultur die Demokratie zu fördern, war der Grün- den Userinnen und Usern ca. 30 Thesen zu wichtigen dungsgedanke: „Die nachwachsenden jungen Gene - politischen Themen vorgestellt werden. Nachdem rationen sollen an das kulturelle Leben in Hamburg man den Thesen entweder zugestimmt oder sie ab- herangeführt werden, denn sie sind das Publikum gelehnt hat, errechnet der Wahl-O-Mat aus den Zu- von morgen.“ stimmungen und Ablehnungen die höchste Über- Noch immer arbeitet der „Kulturring“, wenn auch einstimmung mit den jeweiligen Stellungnahmen leider in stark eingeschränkter Form, nach diesem der Parteien, so dass man am Ende weiß, zu welcher Motto. Die erste Theaterveranstaltung im Dezember Partei man tendiert. 1945 war Johann Wolfgang Goethes (1749–1832) Im Jahre 2008 ging die gemeinsam mit der Stolper- „Iphigenie auf Tauris“. Spielstätte war die Ober- stein-Initiative von Peter Hess erarbeitete und ein- schule Hamburg-Niendorf, und die Hauptdarsteller gerichtete Stolpersteindatenbank www.stolpersteine- waren die Schauspielstars Maria Wimmer (1911– hamburg.de online. In ihr werden alle in Hamburg 1996) und Will Quadflieg (1914–2003). Einen besse - verlegten und geplanten Stolpersteine aufgeführt. ren Einstand konnte eine Besucherorganisation für Seit 2010 kann man die Stolpersteindatenbank auf Jugendliche gar nicht haben, und so entwickelte jedem internetfähigen Mobiltelephon via Browser sich der „Kulturring“ zu einer wichtigen Größe im öffnen und die Standorte der Stolpersteine Hamburg Hamburger Kulturleben. aufrufen. Der „Kulturring“ veränderte über die Jahre immer Seit 2007 zeigt die „Landeszentrale“ während der wieder seine Strukturen und erweiterte seine Ange- Frei luftkinotage auf dem Rathausmarkt vor den bote, um den Bedürfnissen der Jugendlichen und der Hauptfilmen jeweils einen politischen Kurzfilm, der Kulturanbieter in Hamburg Rechnung zu tragen. eingeleitet wird mit einem Trailer über die „Landes- Ohne Schwellenangst sollte den nachwachsenden zentrale für politische Bildung“. Hinter all diesen hier Generationen der Zugang zu allen kulturellen Veran- aufgelisteten Angeboten der „Landeszentrale“, wobei staltungen in Hamburg ermöglicht werden. Die Kol-

1 es sich nur um eine Auswahl handelt, stehen 5 ⁄2 Ar- leginnen und Kollegen des „Kulturrings“ informieren beitsstellen, über die die „Landeszentrale“ verfügt. und beraten ihre Kunden umfassend über wichtige 50 DAMMTORSTRASSE 14 · „Kulturring der Jugend“ · Das Referat „Bildungsurlaub“

Kulturereignisse. Dank der Veranstalter, die günstige hänge sollten darüber hinaus Arbeitnehmende an Eintrittspreise gewährten, und der Bezuschussung gesellschaftspolitischen Entwicklungen teilhaben durch die Freie und Hansestadt Hamburg konnten und die Gesellschaft mitgestalten lernen. Schülerinnen und Schüler und Studierende aufgrund Im Übereinkommen Nr. 140 der Internationalen Ar- der für sie erschwinglichen Eintrittspreise regelmäßig beitsorganisation (ILO) über den bezahlten Bil- am kulturellen Leben in Hamburg teilnehmen. In der dungsurlaub vom 24.6.1974 verpflichtete sich die Blütezeit in den siebziger Jahren wurden über 130 000 Bundesrepublik Deutschland zur Einführung be- Karten pro Jahr verkauft. Theater von Peter Zadek zahlten Bildungsurlaubs zum Zwecke der Berufs- (1926–2009), Ballette von Pina Bausch (1940–2009) bildung, der allgemeinen und politischen Bildung bis John Neumeier (geb. 1942), Musik – von der gro- sowie der gewerkschaftlichen Bildung. ßen Oper und klassischen Konzerten bis hin zu Rock Die Bundesregierung ergriff zur Umsetzung dieser und Pop und Musical –, alles war im Angebot, was Verpflichtung keine Initiative, dafür wurde aber die in Hamburg Gesprächsthema war. Mehrzahl der Bundesländer tätig und erließ seit Leider wurde der „Kulturring“ im Jahr 2004 zusam- 1974 Landesgesetze zum Bildungsurlaub. Mittler- mengespart. Es gab viele Proteste von Schülerinnen weile existieren Bildungsurlaubs- oder genauer Bil- und Schülern, Lehrkräften, Studentinnen und Stu- dungsfreistellungsgesetze in zwölf Bundesländern. denten, den Theatern und Konzertveranstaltern ge- Hamburg verabschiedete bereits am 21. Januar 1974 gen diese Einsparungen, doch Erfolg hatten sie nicht. als erstes Bundesland eine umfassende Bildungsfrei - Aus dem vollen Programm wurde ein kleines Pro- stellungsregelung: das Hamburgische Bildungsur- gramm: Nur noch Schulklassen und Jugendgruppen laubsgesetz, das allen Hamburger Arbeitnehmerin- können vom „Kulturring“ beraten und mit Karten nen und Arbeitnehmern sowie allen Auszubildenden für Theater und Oper versorgt werden. Ein Zuschuss die Freistellung von der Arbeit unter Fortzahlung für besonders günstige Karten kann auch nicht mehr des Arbeitsentgelts für die Teilnahme an Bildungs- gewährt werden. Nur Dank der großzügigen Unter- veranstaltungen der politischen Bildung und der be- stützung der Theater und der Oper kann der „Kul- ruflichen Weiterbildung ermöglichen soll. turring“ weiterhin Karten zu günstigen Konditionen Das Gesetz wurde später modernisiert, so wurde für die oben aufgeführten Gruppen anbieten. die Freistellung für Veranstaltungen bestimmter Be- Text: Michael Conrad reiche ehrenamtlichen Engagements möglich und der Kreis der durch dieses Gesetz Bildungsurlaubs- berechtigten erweitert um Beschäftigte in Werkstät- Das Referat „Bildungsurlaub“ ten für Behinderte. Während in den ersten Jahren nach Einführung des Schon in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts Bildungsurlaubs in Hamburg noch das Angebot an wurde die Forderung nach der Einführung eines be- Veranstaltungen der politischen Bildung überwog, zahlten Bildungsurlaubs für Arbeitnehmerinnen und setzte sich der Bildungsurlaub auch als Instrument Arbeitnehmer laut. Intendiert war mit dieser Forde- der beruflichen Weiterbildung immer mehr durch. rung, Wei terbildungsmöglichkeiten auch für jene Jetzt war es möglich, sich intensiv und in kompri- Arbeitnehmenden zu schaffen, die ohne eine Be- mierter Form weiterzubilden, berufsbezogene Kurse freiung von der Arbeit kaum Zugang zu Weiterbil- zu besuchen und an der eigenen beruflichen und dung hatten. Weiter sollte der Bildungsurlaub die persönlichen Weiterentwicklung zu arbeiten. grundsätzliche Weiterbildungsbereitschaft erhöhen Heute ist die Freistellung auch für flexible Arbeits- und Arbeitnehmende motivieren, sich in ihrem Ar- formen möglich. Das Angebot erstreckt sich von beitsleben immer wieder weiterzuentwickeln. Über eintägigen EDV-Workshops für Fortgeschrittene bis ein besseres Verständnis politischer Zusammen- zu zehntägigen Intensivsprachkursen, von Präsenz- DAMMTORSTRASSE 14 · Das Referat „Bildungsurlaub“ · Das Referat „Allgemeine Weiterbildung“ 51 phasen längerfristiger kaufmännischer Fortbildun- rung neuartiger landwirtschaftlicher Produktions- gen bis zu Kursen aus dem Themenspektrum der weisen ausgetauscht. Das zweite zentrale Motiv war Schlüsselqualifikationen, wie Rhetorik, Team- und andererseits der Emanzipationsgedanke: Ziel eman- Konfliktbewältigungstraining oder Zeitmanagement. zipatorischen Bestrebens sollte ein Zugewinn an Darüber hinaus findet sich im Bereich der politi- Freiheit oder Gleichheit bestimmter Gruppierungen schen Bildung eine Vielzahl von Angeboten zu den sein, damit einher ging meist Kritik an Diskriminie- unterschiedlichsten Themen der politischen Bildung, rung, Unterdrückung oder hegemonialen bzw. pa- nicht zuletzt auch Veranstaltungen, die aktuelle po- ternalistischen Strukturen. Hierin trafen sich die bür- litische Fragen aufgreifen oder aktuelle politische gerliche, die Arbeiter- und Frauenbewegung und Entwicklungen begleiten. auch die christlichen Reformer. Insgesamt werden im Referat „Bildungsurlaub“ pro Entsprechend vielfältig war das Bild des „Bildungs- Jahr etwa 1800 Anträge von Bildungsveranstaltern aufbruchs“ im 19. Jahrhundert. Es entstanden Arbei - aus dem In- und Ausland auf Anerkennung der un- terbildungsvereine (siehe dazu auch S. 165), Volks- terschiedlichsten Kurse bearbeitet, die überwiegende bühnen, Volkshochschulen, Heimvolkshochschulen, Mehrzahl der Veranstaltungen wird dabei als Bil- Lese- und Literaturgesellschaften sowie Akademien dungsurlaubsveranstaltung anerkannt. der verschiedensten Ausrichtung und Couleur. Eine Vielzahl von Angeboten also, die allen Ham- Diese Vielfältigkeit der Weiterbildungslandschaft hat burgerinnen und Hamburgern offensteht. sich bis heute gehalten. In Hamburg sind über 700 Text: Birgit Waltereit Einrichtungen bekannt, die ein öffentlich zugängli- ches Angebot an Veranstaltungen bieten. Bereits die Weimarer Verfassung von 1919 sah in Ar- Das Referat „Allgemeine Weiterbildung“ tikel 148 vor, dass „das Volksbildungswesen, ein- schließlich der Volkshochschulen, (...) von Reich, Das Referat „Allgemeine Weiterbildung“ beschäftigt Ländern und Gemeinden gefördert werden [sollte]“. sich mit Grundsatzfragen der Weiterbildung, insbe- Zudem war vorgesehen: „Beim Unterricht in öffentli- sondere der Allgemeinen Weiterbildung. chen Schulen ist Bedacht zu nehmen, dass die Emp- Unter Weiterbildung sind alle Aktivitäten zu verste- findungen Andersdenkender nicht verletzt werden.“ hen, die der Vertiefung, Erweiterung oder Erneue- Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozia- rung von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten von listen distanzierten sich jedoch führende Vertreter der Menschen dienen, die eine erste Bildungsphase – Erwachsenenbildung von den liberalen Tendenzen. in der Regel zumindest eine Schulausbildung – ab- Nun sollten alle Volkshochschulen im Geiste der na- geschlossen haben. Mit anderen Worten: Weiterbil- tionalsozialistischen Weltanschauung durchstruktu- dung ist eine Form der Erwachsenenbildung. riert werden. 1934 wurden sie dem Reichsschu lungs - Die Ursprünge der Weiter- und Erwachsenenbildung amt der NSDAP zugeordnet und sukzessive in gehen weit zurück und zeigten sich bereits in der Volksbildungswerke umgewandelt. Nach einem Rund- Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Dabei las- erlass von 1939 durften nur noch staatliche Einrich- sen sich zwei zentrale Motivlagen benennen: einer- tungen als Volks- und Erwachsenenbildung firmieren. seits Erkenntnisse und Fortschritt voranzutreiben Die Volksbildung verlor damit ihre Autonomie.26) und zu verbreiten, u. a. auch aus ökonomischen Bereits vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Gründen. So wurden von der Königlichen Dänischen auf der Regierungsebene der Siegermächte in ver- Ackerakademie zu Glücksburg (gegr. 1763) – einem schiedenen Gremien und Kommissionen über die losen Zusammenschluss von Bauern, Lehrern und Rolle des Erziehungswesens im Hinblick auf die De- Pastoren – Zusammenkünfte zu landwirtschaftlichen mokratisierung Deutschlands diskutiert. Dies kam Fragen organisiert und Erfahrungen mit der Einfüh- auch im Potsdamer Abkommen wie folgt zum Aus-

26 Vgl. auch: Handbuch der Erwach- senenbildung/Weiterbildung, Hrsg. Rudolf Tippelt und Aiga von Hippel. 3. Aufl. Wiesbaden 2009, S. 52ff. 52 DAMMTORSTRASSE 14 · Das Referat „Allgemeine Weiterbildung“ · Das „Jugendinformationszentrum“ (JIZ)

druck: „Das Erziehungswesen in Deutschland muss Nachhaltigkeit, aufgreifen. Seit 2009 begleitet und be- so überwacht werden, dass die Nazi- und militaris- fördert das Referat „Allgemeine Weiterbildung“ das tischen Lehren völlig entfernt werden und eine er- Bundesprojekt „Lernen vor Ort Hamburg“ fachlich. folgreiche Entwicklung der demokratischen Ideen „Lernen vor Ort“ ist ein dreijähriges Strukturprojekt möglich gemacht wird.“27) mit dem Ziel, ein aufeinander abgestimmtes Bildungs- Es galt und gilt, Bildung als Faktor der gesellschaft- management zu etablieren. Infos: www.hamburg.de/ lichen Stabilisierung einerseits und der Modernisie- lernen-vor-ort.de. rung andererseits anzuerkennen und dabei zu starke Die allgemeine Weiterbildung zeichnet sich dadurch einseitige Einflussnahme zu verhindern sowie aus, dass sie sich gleichermaßen um alle Erwachse- gleichzeitig Chancengleichheit und Partizipation für nengruppen bemüht – Männer und Frauen, jung den Einzelnen zu ermöglichen.28) und alt, Menschen mit und ohne Migrationshinter- Staatliche Intervention im Bereich der Weiterbildung grund – und nicht speziell das berufliche Fortkom- bewegt sich daher immer in einem Spannungsfeld: men im Fokus hat. Weiterbildung soll und muss gefördert werden, um Text: Katrin Struck alle Bevölkerungskreise zu erreichen. Demokratie und gesellschaftliche Entwicklung braucht gebildete und gefestigte Persönlichkeiten. Andererseits darf Das „Jugendinformationszentrum“ (JIZ) nicht reglementiert werden und sollen keine Struk- Hamburg turen geschaffen werden, die eine einseitige Beein- flussung ermöglichen. Jugendinformationsarbeit ist vor dem Hintergrund Hamburg hat diese Spannung u. a. so gelöst, dass es stetig wachsender Komplexität von Gesellschaft ei- einen weitgehend unabhängigen Landesbetrieb Ham- nes der Hauptthemen der Jugendpolitik der Euro- burger Volkshochschule (VHS) gibt, der zu einem päischen Gemeinschaft. Gutteil staatliche Förderung erhält und damit insbe- Die Forderung nach einer Verbesserung des Zugangs sondere im Grundbildungsbereich günstige Weiterbil- von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu In- dungsangebote vorhalten kann. Das Referat „Allge- formationsdiensten und die Bereitstellung qualitativ meine Weiterbildung“ hat die Aufsicht über die VHS hochwertiger Informationen, die den spezifischen und ist mit Steuerungsaufgaben bezüglich dieser Ein- Be dürfnissen dieser Zielgruppen Rechnung tragen, richtung betraut. Zudem liegt ein Schwerpunkt des ist entsprechend Gegenstand verschiedener Entschlie- Referats „Allgemeine Weiterbildung“ in der Förderung ßungen des Rates der Europäischen Union.29) der Weiterbildungsberatung und -information, die So existieren in neunzehn Mitgliedsstaaten umfas- konkret von der „Weiterbildung Hamburg Service und sende Jugendinformationsdienste; in Deutschland Beratung gGmbH“ durchgeführt wird. Sie erfolgt un- gibt es dreizehn Jugendinformationszentren mit Pu- abhängig und trägerneutral. Ziel ist es, aus Sicht der blikums verkehr sowie 27 reine Online-Portale für Nutzerinnen und Nutzer, also der Bürgerinnen und Jugendliche im Internet.30) Bürger, ein auf ihre individuellen Bildungswünsche Das erste deutsche „Jugendinformationszentrum“ und mitgebrachte persön liche und finanzielle Res- entstand 1967 in München; in den 70er und 80er sourcen abgestimmtes Bildungsangebot zu finden. Jahren wurden in westdeutschen Großstädten wei- Darüber hinaus fördert das Referat „Allgemeine Wei- tere Jugendinfozentren gegründet, von denen einige terbildung“ eine Reihe von Projekten bei verschie- indes nicht mehr existieren; seit der Wende finden denen Bildungsträgern, die u. a. bestimmte The- sich auch in ostdeutschen Städten einschlägige Ein- menfelder, wie z. B. den demographischen Wandel, richtungen und Angebote. Integration und Partizipation, Alphabetisierung, Ge- Das „Jugendinformationszentrum“ (JIZ) Hamburg sundheitsförderung, „Lebenslanges Lernen“ oder wurde Anfang 1996 aus dem Referat „Kultur- und

27 Christine Zeuner: Erwachsenenbil- rence, July 17-August 2, 1945“, Ab- nenbildung in Hamburg 1945–1972, dung in Hamburg 1945–1972, Instituti- schnitt IIA Ziff. 7 auf a. a. O., S. 40f. onen und Profile. Münster 2000, S. 47. http://www.pbs.org/wgbh/amex/tru- Quellen: WIEGMANN Vgl. auch American Experience: „Agree- man/psources/ps_potsdam.html ) 29 Vgl. z.B. Entschließung des Rates ments of the Berlin (Potsdam) Confe- 28 Vgl. Christine Zeuner: Erwachse- vom 25.November 2003 über gemein- DAMMTORSTRASSE 14 · Das „Jugendinformationszentrum“ (JIZ) 53

Medienarbeit“ und dem „Kulturring der Jugend“ ge- den richtigen Adressen und Ansprechpartnern wei- gründet. Sein erster Standort war die Steinstraße 7; terhelfen und auch direkte Kontakte vermitteln. dort befand sich auch der Infoladen des JIZ, der spä - Leitidee ist dabei, junge Menschen zwischen zehn ter, nach Zusammenlegung mit der „Landeszentrale und 27 Jahren zu befähigen, sich im Dschungel der für politische Bildung“, seine Adresse in der Altstäd - Institutionen und Zuständigkeiten, der Einrichtungen ter Straße hatte. Seit dem Umzug der neuen Abtei- und Angebote in Hamburg zurechtzufinden und ei- lung „Allgemeine Weiterbildung“ in die Dammtor- nen Überblick über das vielfältige Angebots- und straße 14 befindet sich der gemeinsame, großzügig Programmspektrum in dieser Stadt zu bekommen. ausgestaltete Infoladen von „Landeszentrale“ und Damit leistet das JIZ durch niedrigschwelligen und „Jugendinformationszentrum“ im Dammtorwall 1. zielgruppenorientierten Informations- und Wissens- Das „Jugendinformationszentrum“ (JIZ) Hamburg ist transfer einen wesentlichen Beitrag zur Förderung eine Serviceagentur für junge Menschen, die Infor- der Eigenständigkeit von jungen Menschen, unter- mationen zu fast allen für sie interessanten The- stützt sie bei der Übernahme von Verantwortung men – z. B. Ausbildung, Arbeit und Beruf, Schule, und trägt zu ihrer aktiven und gestaltenden Teilhabe Studium, Recht und Soziales, Finanzen, Wohnen, an der Gesellschaft bei. Gesundheit, Sexualität und Drogen, Politik und Um- Das JIZ richtet sich auch an Lehrkräfte, Multiplika- welt, Auslandsaufenthalte und Freiwilligendienste, toren der Jugendarbeit sowie Eltern und bietet ihnen Freizeit – und Ferienangebote und Kultur – sammelt, die Möglichkeit des Informationsaustausches und sichtet und systematisiert zur Verfügung stellt. Die- der fachlichen Kooperation. ses geschieht durch Auslage einschlägiger Flyer, Das JIZ nutzt mit seinem Hamburger Jugendserver Broschüren und weiterer Materialien im Infoladen, unter www.jugendserver-hamburg.de auch das In- die kostenlos mitgenommen werden können, durch ternet als wichtiges, im Alltag junger Menschen fest die Produktion eigener Publikationen sowie die Prä- verankertes Informations- und Kommunikationsme- sentation der vielfältigen und umfänglichen Infor- dium. Hier finden die Nutzerinnen und Nutzer kos- mationen unter www.jugendserver-hamburg.de auf tenfreie Informationen zu allen jugendrelevanten dem Hamburger Jugendserver. Themen, einen Veranstaltungskalender, Link-Tipps, Neben dem Besuch des Infoladens oder die eigene eine Pinnwand sowie einen Überblick über alle im Recherche auf dem Jugendserver können sich die JIZ-Infoladen erhältlichen Publikationen: Rund Nutzerinnen und Nutzer auch per Telefon oder Mail 90 000 Besuchende jährlich und mehr als 350 000 mit ihren Fragen und Anliegen an die Mitarbeiterin- Seitenzugriffe jährlich sprechen für den Erfolg dieses nen und Mitarbeiter des JIZ wenden, die ihnen mit Online-Serviceangebots!

Unter www.jugendserver-hamburg.de hält das Jugend- informationszentrum (JIZ) ein breites Serviceange- bot für Hamburger Jugendliche bereit. Das Jugendpor- tal hat sich mit jährlich über 90 000 Besucherinnen und Besucher und mehr als 350 000 Seitenzugriffen zu einem wichtigen Medium in der Jugendinformationsar- beit entwickelt. Neben einer Adress- und Datenbank enthält die Internetplattform aktuelle Informationen zu jugendrelevanten Themen, einen Veranstaltungskalen- der sowie Link-Tipps, eine Pinnwand und eine Auflis- tung aller im JIZ-Infoladen erhältlichen Publikationen.

same Zielsetzungen für Partizipation 30 Vgl. Annette Kappes: „Jugendin- und Information der Jugendlichen, Ent- formation in Deutschland und Europa- schließung des Rates vom 24. Mai 2005 Stand und Perspektiven“ in Forum Ju- zur Umsetzung der gemeinsamen Ziele gendarbeit International. Bonn 2010, im Bereich der Jugendinformation. S. 208–220. 54 DAMMTORSTRASSE 14 · Das „Jugendinformationszentrum“ (JIZ)

Fachberatung Medien im JIZ von Angeboten, Maßnahmen und Materialien für Digitale Medien sind heute integraler Bestandteil Lehr kräfte, Multiplikatoren und Eltern ein. der Lebenswelt nicht nur junger Menschen. Sie er- Zum Kanon einer praxisorientierten Vermittlung von öffnen neue Lern- und Erfahrungsbereiche, „bieten medienpädagogischem Wissen gehören u. a. auch Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung und zur regelmäßige moderierte Filmveranstaltungen für kulturellen und gesellschaftlichen Teilhabe“, liefern Schulklassen, durch die Lehrkräfte und Schülerin- „wichtige Deutungsangebote, Identifikations-, Ori- nen und Schüler über die thematische Auseinan- entierungs- und Handlungsräume“ und bringen dersetzung und Diskussion hinaus die Möglichkeit gleichzeitig „auch neue Entwicklungs- und Soziali- erhalten, ihre Filmkompetenz zu erweitern, sowie sationsprobleme sowie gesellschaftliche Risiken mit themenspezifische Film-Großveranstaltungen, die sich“.31) in Kooperation mit anderen Hamburger Behörden Das JIZ betreibt nicht nur Jugendinformationsarbeit, und Einrichtungen Filme nutzen, um für Themen sondern nimmt für die Behörde für Schule und Be- zu sensibilisieren, aufzuklären und miteinander ins rufsbildung auch die Aufgaben als Oberste Landes- Gespräch zu kommen. jugendbehörde für den gesetzlichen Jugendmedien- Filmbildung und das Drehen eigener Filme als wich- schutz wahr und ist damit Ansprechpartner für eine tige Bestandteile von übergreifender Medienkom- Fülle medienrelevanter Fragen, z. B. zur Mediennut- petenz werden auch durch „abgedreht“, das Festival zung von Kindern und Jugendlichen, zu Alterfrei- des jungen Films, gefördert und gestärkt. Dessen gaben von Filmen und Computerspielen oder zum Vorläufer „abgezoomt“ wurde 1988 vom Referat Umgang mit jugend-beeinträchtigenden oder jugend- „Kultur- und Medienarbeit“ (später JIZ), initiiert; gefährdenden Medienangeboten und -inhalten. seit der Neuausrichtung 1998 wirkt das JIZ maß- Das JIZ ist vor diesem Hintergrund wesentlicher geblich an der Ausrichtung von „abgedreht“ mit. Knotenpunkt eines hamburgweiten Netzwerkes im Das JIZ ist ferner Herausgeber des Hamburger Feri- Bereich der Medienerziehung und Medienkompe- enpasses, der seit nunmehr 40 Jahren pünktlich zu tenzentwicklung, arbeitet mit den einschlägigen re- den Hamburger Sommerferien erscheint und allen gionalen und überregionalen Einrichtungen und In- Schülerinnen und Schüler, die nicht oder nur kurz stitutionen in diesem Arbeitsfeld zusammen und verreisen kön nen, abwechslungsreiche und span- bringt seine fachliche Expertise in die Entwicklung nende Ferien in und um Hamburg ermöglicht, ohne

Seit 40 Jahren kommt jährlich zu den Sommerferien der „Hamburger Ferienpass“ he- raus. Er ist den in Hamburg gebliebenen Schülerinnen und Schülern ein anregender und zuverlässiger Begleiter für ab- wechslungsreiche und span- nende Ferien. Im Ferienpass wird eine Viel- zahl von preiswerten und sogar kostenlosen Angeboten aus den Bereichen Sport, Kultur, Natur und Bildung präsentiert. Erstellt und heraus gegeben wird der „Hamburger Ferien- pass“ vom „Jugendinformati- onszentrum“.

31 Vgl. „Keine Bildung ohne Medien!“ Medienpädagogisches Manifest vom März 2009, www.keine-bildung-ohne- medien.de DAMMTORSTRASSE 14 · Das „Jugendinformationszentrum“ (JIZ) 55

Der Kinderveranstaltungskalender in Hamburg. Unter dem Motto „Langeweile gibt’s woan- ders, das volle Programm gibt’s hier“ un- terhält das „Jugendinformationszentrum“ einen Kinderveranstaltungskalender unter www.kinder.hamburg.de. Neben vielen Angeboten aus verschiedenen Themenbe- reichen wie z. B. Theater, Zirkus, Musik, Tanz, Film und Literatur runden „Klick- tipps“ und Informationen zu Medien oder Politik das Angebot für Kinder ab.

das Taschengeld oder den familiären Geldbeutel zu Kinder- und Jugendbuchautoren (in Kooperation mit strapazieren – die meisten Angebote sind besonders der HanseMerkur Versicherung) und regelmäßigen günstig, viele sogar kostenlos. Der Ferienpass bün- Kinder-Lesereihen im Literaturhaus genannt, die Ko- delt die breite Palette von Spiel-, Sport-, Natur-, Kul- operation mit dem Mitmach-Zirkus Zaretti und dem tur- und Bildungsangeboten für Schülerinnen und Kinder- und Jugendfilmfest „Michel“ im Rahmen des Schüler und lässt sich als anregendes Nachschlage- Hamburger Filmfestes. werk (natürlich auch online verfügbar unter www.fe- Mit der Zusammenführung von „Jugendinformati- rienpass-hamburg.de) über das ganze Jahr nutzen – onszentrum“ und „Landeszentrale für politische Bil- der Kinder-Veranstaltungs-kalender unter www.kin- dung“ haben sich wertvolle Synergien ergeben, die der.hamburg.de flankiert diesen Service mit aktuel- nicht nur im gemeinsamen Infoladen ihren sinnfäl- len Programmen und Tipps. Unter dem Motto: „Lan- ligen Ausdruck finden, sondern durch die Vermitt- geweile gibt’s woanders, das volle Programm gibt’s lung von vielfältigen, lebensnahen Informationen hier“ sind hier viele Angebote aus verschiedenen und Kompetenzen unter einem Dach der grundle- Themenbereichen wie z. B. Theater, Zirkus, Musik, genden Erziehung und Bildung von Menschen zu Tanz, Film und Literatur, aber auch zu empfehlens- autonomen und mündigen Staatsbürgerinnen und werten Kinderseiten im Netz („Klicktipps“) sowie -bürgern dienen. kindgerechte Informa tio nen zu Politik und Medien Text: Frauke Wiegmann zusammengetragen. Durch seine langjährige, auch aus der Jahrzehnte währenden Arbeit des „Kulturrings der Jugend“ re- sultierenden Zusammenarbeit mit den unterschied- lichsten Programmveranstaltern und -anbietern, seine Kenntnisse kinder- und jugendkulturell bedeutsamer Themen, Phänomene und Entwicklungen wie auch seine Kenntnisse und praktischen Erfahrungen im Jugendmedienschutz und der Medienerziehung ist das JIZ nicht nur ein nachgefragter Informationspool und eine anerkannte Anlaufstelle, sondern auch ein beliebter Kooperationspartner im Bereich der kin- der- und jugendkulturellen Bildung in Hamburg: Hier seien beispielhaft die Lesungen mit renommierten 56 DAMMTORSTRASSE 13 · Café L’Arronge

Gisela Griffel und Paul L’Arronge wurden ein Paar. 3. STATION Gisela, die sich beruflich von ihrer Schwester ge- Dammtorstraße 13 trennt hatte, trat nun allein als Sängerin auf, unter- (alte Nummerierung) nahm Tourneen nach Italien, Dänemark, Belgien Café L’Arronge (Standort: und den Niederlanden, hatte längere Zeit im engli- 1932–1972) schen Fernsehen Auftritte und einen Schallplatten- vertrag mit Telefunken. Bei diversen ihrer Gesangs- auftritte wurde sie von Paul Kuhn (geb. 1928) und Links neben dem Haus Dammtorstraße 14 stand das seinem Orchester musikalisch begleitet. Haus mit der Nummer 13, in dem 38 Jahre lang bis Ende der 50er Jahre beendete Gisela L’Arronge ihre zum 31. März 1972 das legendäre Café L’Arronge an- Gesangskarriere, um Paul L’Arronge, den sie inzwi- sässig gewesen war. Nachdem das Café seine Pforten schen nach zehnjähriger außerstandesamtlicher geschlossen hatte, wurde das Haus abgerissen. Liebe geheiratet hatte, im Geschäft zu helfen. Peter In der NS-Zeit war das Café ein beliebter Treffpunkt Kruse schreibt dazu: „Für Paul ist damit die Zeit der Swing Kids (siehe dazu auch S. 108 Schulbe- gekommen, ‚Frau Gisela Griffel, die Sängerin‘ seinen hörde und S. 32 „Waterloo-Theater“). Auch Gisela Stammgästen und dem Personal der Konditorei als Griffel (20.5.1925–13.8.2009), spätere verheiratete ‚die Frau an meiner Seite‘ vorzustellen. (…) Paul L’Arronge, gehörte zu den Swing Kids. Nachdem sie 1941 während einer Tanzveranstaltung von der Ge- stapo verhaftet worden war, musste sie die Schule verlassen und tauchte danach in Berlin bei ihrer Schwester, einer Schauspielerin, unter. Ab 1942 tra- ten die Schwestern als Gesangsduo „die Griffel Schwestern“ vor Soldaten an der Front auf. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die beiden als „Anti-Nationalsozialistinnen“ anerkannt und arbeite- ten für die Besatzungstruppen als Dolmetscherinnen. Bald traten sie jedoch wieder als Gesangsduo auf. Sie nannten sich nun „Griffel Sisters“ und hatten mit dem Titel „Rum and Coca-Cola“ großen Erfolg. 1947 lernten sich Gisela und Paul L’Arronge (1909– 1986) in einer Hamburger Künstleragentur kennen, wo Paul L’Arronge zufällig als Gast des Künstler- agenten anwesend war, als Gisela um einen neuen Gesangsauftritt nachfragte. Paul L’Arronge war Konditor, hatte seine beruflichen Erfahrungen in vielen europäischen Ländern und in Amerika gemacht und dann schließlich 1932 in der Dammtorstraße 13 einen kleinen Eisladen ge- kauft, den er „zu einer Konditorei aus[baute] und (...) sie mit dem schwungvollen und selbst entwor- fenen Schriftzug ‚L’Arronge‘“ schmückte 32), schreibt 2. Mai 1969: Studierenden-Demonstration vor dem Peter Kruse in seinem Buch „L’Arronge. Der Ham- „Waterloo-Theater“, links das Cafe L’Arronge. burger Salon“. Photo: Conti-Press, Staatsarchiv Hamburg

32 Peter Kruse: L’Arronge. Der Ham- burger Salon. Hamburg 2008, S. 33. DAMMTORSTRASSE 13 · Café L’Arronge 57 WELCKERSTRASSE 6 · Zwangsarbeiterlager

nimmt Gisela in den Arm und sagt: ‚Liebe Gisela, [1921–2005] und Zarah Leander [1907–1981]“, du brauchst hier nicht zu arbeiten, nimm, wenn du schrieb das „Hamburger Abendblatt“ in einem Nach- kommst, an unserem Stammtisch Platz und unter- ruf auf Gisi L’Arronge am 15. August 2009. halte unsere Freunde.‘“33) Hamburger Politikerinnen und Politiker und auch Und so kam es dann auch. Gisi und Paul L’Arronge die Theater- und Kinostars gingen nach anstrengen- machten das Café zu einem der beliebtesten Treff- den Sitzungen bzw. nach einem Auftritt in der Staats- punkte für die Hamburgerinnen und Hamburger. oper oder einer Premierenvorstellung im „Waterloo- „Der Kreis der Prominenten wurde immer größer. Theater“ (siehe S. 27) gerne ins Café L’Arronge, wo Bald verwandelte sich das Café zu einem Salon gro- sie keine Furcht zu haben brauchten, dass das, was ßer Namen – zum Hamburger Salon. Es waren die sie dort in geselliger Runde taten und sprachen, am großen Namen des Films, der Bühne, der Musik und nächsten Tag in der Zeitung stehen würde. Gisi und der Medien: Maria Callas [1923–1977], Alain Delon Paul L’Arronges Gabe war es, das Café auf eine sehr (geb. 1935) und Romy Schneider [1938–1982], der diskrete Weise zu führen. Am 31. März 1972 schloss Verleger Axel Springer [1912–1985], Heinz Rühmann Paul L’Arronge aus gesundheitlichen Gründen und [1902–1994], Grethe Weiser [1903–1970], Ilse Werner dem Alter gezollt die Konditorei.

4. STATION Welckerstraße 6 (alte Nummerierung) Benannt „1848 nach dem Professor der Rechte, badischen Bundestagsgesandten, Mitglied des Vorparlaments und der Nationalversammlung in , Karl Theodor Welcker (1790–1869)“.34) Kriegsgefangenen- und Zwangsarbeiterlager in der Opelgeneral- vertretung „Ernst Dello & Co“ (Standort: 1943–1945)

Im 3. und 4. Stock des Gebäudes Welckerstraße 6 denen die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter befand sich von Juli 1943 bis Mai 1945 in den Räu- untergebracht waren. men der Opelgeneralvertretung der Firma „Ernst Die Firma „Ernst Dello & Co“ war im 19. Jahrhun- Dello & Co.“ ein von Soldaten bewachtes Lager mit dert als Fahrradhandlung gegründet worden und ca. 180 französischen und sowjetischen Kriegsge- 1899 zu einem Großhandelsbetrieb ausgebaut wor- fangenen und einer geringeren Anzahl französischer den. Es war die Zeit, als das erste Automobil ent- Zwangsarbeiter.35) stand. So wurde der Fahrradgroßhandel aufgegeben, Zwischen 1939 und 1945 mussten ca. 500 000 aus- um sich ganz dem Verkauf von Automobilen zu ländische Frauen, Männer und Kinder Zwangsarbeit widmen. Seit ca. 1904 hatte die Firma Dello die Ge- in der Hamburger Kriegswirtschaft leisten. Einge- neralvertretung der Opelwerke in Händen. 1913 setzt wurden sie in rund 1000 Hamburger Betrieben, wurde, neben den Geschäftsräumen in der Damm- aber auch in Privathaushalten, Bauernhöfen und torstraße, in der Welckerstraße ein eigenes Ge- kleinen Handwerksbetrieben. Verstreut über das ge- schäftshaus errichtet. samte Hamburger Gebiet gab es ca. 1100 Lager, in

33 Peter Kruse, a. a. O., S. 55. 35 Vgl.: Zwangsarbeit in der Hambur- gamme e.V. und der KZ-Gedenkstätte 34 Horst Beckershaus: Die Hamburger ger Kriegswirtschaft 1933–1945. CD- Neuengamme. Hamburg 2007. Grund- Straßennamen. Woher sie kommen Rom. Hrsg. von der Landeszentrale für lage dieser CD-Rom ist die von der und was sie bedeuten. Hamburg 1997, politische Bildung Hamburg, dem Hamburger Historikerin Dr. Friederike S. 379. Freundeskreis KZ-Gedenkstätte Neuen- Littmann erstellte Datenbank mit Hin- 58 WELCKERSTRASSE 8 · Logenhaus der „Vereinigten fünf hamburgischen Logen“

unter dem bis heute gültigen Namen „Vereinigte fünf 5. STATION hamburgische Logen“ zusammengeschlossen. Welckerstraße 8 In den Tagen vom 5. bis 8. Mai 1842 brach der große Logenhaus der „Vereinigten fünf hamburgischen Hamburger Brand aus, der weite Teile der Innenstadt Logen“ (Standort: 1891–1937, neu errichtet 1971) verwüstete. Darunter war auch die Hamburger Börse, die dann zunächst im großen Festsaal des Logen- hauses weiterarbeiten konnte. Die Hamburger Frei- Am Ende der Welckerstraße, bevor sie einen kleinen maurer unterstützten die leidende Stadtbevölkerung Bogen in Richtung Drehbahn macht, steht das Lo- durch eine Sammlung von 25000 Mark Courant. genhaus Welckerstraße 8. 1875 wurden Reparaturen am Logenhaus nötig; die Während die Freimaurer in England in Gasthäusern Kosten schienen zu hoch, so dass man sich entschied, zusammenkamen, trafen sich die Logenmitglieder direkt auf dem Nachbargelände an der Welckerstraße im Hamburg des 18. Jahrhunderts in Privatwohnun- ein Grundstück zu erwerben. Die Kaufsumme betrug gen; diese waren damals weitaus geräumiger als die 90000 Mark. Der würdige und eindrucksvolle Bau unsrigen heute. eines dortigen Logenhauses sollte dann 350 000 Mark Am 4. Februar 1799 beratschlagte man in Hamburg kosten; diese Mittel wurden von den Brüdern aufge- erstmals über einen Logenhausbau; am 17. Mai des- bracht. Der Bau wurde am 15. Juli 1890 begonnen, selben Jahres trat eine Baukommission zusammen, die Einweihung des Logenhauses Welckerstraße 8 an der auch der spätere Bürgermeister Johann Hein- erfolgte bereits am 7. Februar 1891. rich Bartels [1761–1850] teilnahm. Am 7. August 1918 mussten alle Messingbeschläge Am 15. November des Jahres 1800 fand dann die im Logenhaus abgeliefert werden; daraus sollten Ein weihung des Logenhauses „An der Drehbahn“ Granaten für den Krieg hergestellt werden. Die Stadt unter großer Beteiligung statt. Hier kamen zusammen zahlte für die Hergabe 630 Mark. und wirkten gemeinsam die Logenmitglieder von Im Jahre 1935 mussten sich die Logen in Hamburg fünf hamburgischen Logen. Diese hatten sich 1795 – im Beisein von -Beamten – selbst auflösen. Sofern Einrichtungsgegenstände nicht persönlich gerettet werden konnten, wurde die große Bibliothek abgeholt und in dem Logenhaus eine Anti-Freimau- rer-Ausstellung eingerichtet. Im Januar 1937 wurde das Logenhaus abgerissen, wobei die Arbeiter da- rauf zu achten hatten, ob irgendwo etwas Geheim-

Das zweite Logenhaus in der Welckerstraße, erbaut 1890/91, 1937 von den Nationalsozialisten abge- rissen. Photo aus: Rolf Appel: Schröders Erbe, 200 Jahre Eingang des heutigen Logenhauses in der Welcker- vereinigte fünf Logen. Hamburg 2000 straße, erbaut 1971. Photo: Marina Bruse

weisen auf Lagerstandorte in Hamburg und Unternehmen, die die Zwangsar- beiterinnen und Zwangsarbeiter einge- setzt haben. WELCKERSTRASSE 8 · Logenhaus der „Vereinigten fünf hamburgischen Logen“ 59 DAMMTORSTRASSE 12/ECKE WELCKERSTRASSE · „Gläsernes Studio“

nisvolles von den Freimaurern versteckt sei. Das Ge- raum stand die Bar, an der die Leute Kaffee, Limo- lände wurde zum Parkplatz für die Post. nade oder auch ein Bier oder einen Whisky tran- Nach dem Krieg kamen die Hamburger Logen zu- ken.‘“36), erzählte der damalige Schaubudenmode- nächst in verschiedenen Lokalitäten zusammen, so rator Rolf Eschenbach. im „Remter“, in der „Erholung“ am Dragonerstall Am 7. Dezember 1957 um 18.45 Uhr nahm die Sen- (siehe S. 151), in einem Wandsbeker Gymnasium und dung mit dem damaligen Moderator Werner Baecker in Harburg, ehe endlich das Grundstück zurücker- (1917–1993) ihren Anfang. worben werden konnte. Die „Aktuelle Schaubude“ wurde zu einem Stra- Am 15. Juli 1971 fand die Grundsteinlegung eines ßenfeger. Die Zuschauerinnen und Zuschauer drück- neuen Logenhauses statt; der Neubau wurde so ar- ten sich draußen an den Scheiben die Nasen platt, rangiert, dass in den unteren Etagen die Freimaurer um die Sendung live mitzuerleben. Drinnen gab es ihre Räume nutzen, während alle oberen Etagen für Zuschauende gerade mal 30 Plätze. der Universität dienen. Heute halten siebzehn Frei- Werner Baecker, der Schöpfer der Sendung, hatte maurerlogen in dem Haus ihre Versammlungen ab. zum richtigen Zeitpunkt zwei Ideen zusammenge- Text: Rolf Appel bracht und daraus die „Aktuelle Schaubude“ ent- stehen lassen: Er selbst hatte gemeinsam mit dem damaligen Fernsehreporter und späteren Krimi-Re- 6. STATION gisseur Jürgen Roland (1925–2007) in den 50er Jah- Dammtorstraße ren des 20. Jahrhunderts die Sendung „Was ist los 12/Ecke Welcker- in Hamburg?“ aus dem Fernsehbunker am Heiligen- straße geistfeld gestartet. Diese kombinierte er mit der Idee (alte Nummerierung) der amerikanischen „Today’s Show“, die in New Gläsernes Studio der York aus einem Autosalon übertragen wurde. The- „Aktuellen Schaubude“ men der Sendung waren aktuelles Zeitgeschehen (Standort: 1957–1967) und Unterhaltung. „Kurzfristig wurde auf aktuelle Tagesereignisse reagiert, auch wenn das noch am Freitagabend den ganzen Sendeablauf durcheinan- Nach dem Zweiten Weltkrieg baute gegenüber der derbrachte. Der Akzent der Aktuellen Schaubude Staatsoper die Firma „Opel Dello“ (siehe auch S. 59) lag eindeutig auf dem ersten Teil des Titels. Erst einen gläsernen Autosalon. Von 1957 bis 1967 wurde später verschob sich das Schwergewicht zugunsten er jeden Sonnabend zum „Gläsernen Studio“ der der Unterhaltung.“37) NDR Fernsehsendung „Aktuelle Schaubude“. Nach Als durch die Flutkatastrophe 1962 weite Teile der Geschäftsschluss um 14 Uhr kamen die Autos in Hamburger Stadtteile Wilhelmsburg und Billbrook den Keller, ab 16 Uhr sperrte die Polizei die Welck- überschwemmt wurden und 315 Menschen in den erstraße ab, „ein Übertragungswagen wurde in einer Fluten ums Leben kamen, war der damalige Ham- Seitenstraße postiert, Kabel wurden verlegt, drei burger Zweite Bürgermeister Edgar Engelhard (1917– Ungetüme von Kameras aufgebaut und zwei graue 1979) Gast im „Gläsernen Studio“. Er antwortete Pappwände im Autosalon aufgestellt. Davor die In- auf die Frage des Moderators Carlheinz Hollmann terviewtische (…). ‚Unsere Maskenbildnerinnen ar- (1930–2004): „Wie konnte es passieren, dass die beiteten im Keller, richtige Garderoben gab es nicht. Be hörden von der Flutkatastrophe so überrascht Das Sekretariat – bestehend aus einem Tisch, einem wurden?“: „Es gibt eben wenig Menschen, die außer Stuhl, einer Schreibmaschine – war in einer Besen- lesen und schreiben auch mitdenken können.“38) kammer. Zum Luftschnappen ging man bei schlech- Auch die Studentenunruhen 1968 waren ein Thema tem Wetter in die Garage. In einem kleinen Neben- für die „Aktuelle Schaubude“. Als der Moderator

36 Brigitte Ehrich: Die aktuelle Schau- 37 Brigitte Ehrich, a. a. O., S. 29. bude. Geschichte und Geschichten, 38 Zit. nach: Brigitte Ehrich, a. a. O., Hamburg 1997, S. 12.; und Rolf S. 46. Eschenbach, zit. nach: Brigitte Ehrich, a. a. O., S. 57. 60 DAMMTORSTRASSE 12/ECKE WELCKERSTRASSE · „Gläsernes Studio“

Die Aktuelle Schaubude im Gläsernen Studio des Autosalons von „Opel Dello“. Die Zuschauerinnen und Zuschauer stehen in der Welckerstraße. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Ernst Dello GmbH & CO. KG

der Schaubude „wissen wollte, was geschehen Fernsehstudio ziehen. 1967 wurde zum letzten Mal müsse, damit die Studenten wieder das täten, wofür aus dem „Gläsernen Studio“ an der Dammtorstraße sie angetreten waren, nämlich studieren, brachte gesendet. Die „Aktuelle Schaubude“ fand ihr neues der AStA-Vorsitzende Jörg König39) eine Kommili- Domizil im NDR-Fernsehhaus in Hamburg Lokstedt. tonin mit ins Studio. Statt die Fragen zu beantwor- ten, wollte die Dame ein Manifest verlesen. Dazu aber gab man ihr keine Gelegenheit. Diese Studentin war Angela Luther [geb. 1940], später als Terroristin beim [Jürgen-]Ponto-Mord [1923–1977 durch die RAF] der Mittäterschaft verdächtigt. Wegen des Kontaktes zu Luther wurden König und Schaubudenmoderator Christian Müller [geb. 1937] anschließend vom Verfassungsschutz observiert“,40) schreiben Kurt Grobecker und Christian Müller 1998 in ihrem Buch „Die Stadt im Umbruch. Hamburg in den 60er Jahren.“ Mit der Einführung des Farbfernsehens wurden an- dere technische Anforderungen an die Produktion Der 1793 erbaute Palast des Grafen von Potocki Ecke Dammtorstraße/Drehbahn. Zeichnung aus einem der „Aktuellen Schaubude“ gerichtet. Dies war im Zeitungsartikel mit dem Titel : „Zwischen Dammtor- „Gläsernen Studio“ nicht zu leisten, und deshalb strasse, Valentinskamp und Drehbahn im Wandel musste die „Aktuelle Schaubude“ in ein richtiges der Zeiten“. Staatsarchiv Hamburg

39 1968 war Norbert Jankowski AStA- dent des Studentenparlamentes gewe- Krause, Universität Hamburg. Vorsitzender gewesen. Wenn es sich sen. Dieser Jörg König wurde 1943 ge- 40 Kurt Grobecker, Christian Müller: bei dem genannten Jörg König um den boren und starb 1995; von 1983–1984 Die Stadt im Umbruch. Hamburg in späteren Hamburger Finanzsenator war er Finanzsenator in Hamburg. den 60er Jahren. Hamburg 1998, S. 54. handelt, so war dieser damals Präsi- Freundliche Auskunft von Eckart DAMMTORSTRASSE 1/ECKE DREHBAHN · Potocki-Palast 61

Rechtsnachfolger später durch einen Gang mit dem 7. STATION Hause verbinden ließen und der französischen Dammtorstraße 1/ Schau spielertruppe [siehe S. 62] für ihre Vorstellun- Ecke Drehbahn gen zur Verfügung stellten. (…) Palast des Grafen Felix von Po- Das Originelle ist, dass der Marschall Graf Potocki tocki(y) (Standort: 1793–1867) seinen Palast niemals bezogen hat, sondern während seines Aufenthalts in Hamburg im Kaiserhof logierte; wohl aber wohnte darin seine bildschöne Gemahlin, „Ein sehr interessantes Gebäude lag an der Ecke die Gräfin Potocka [1776 bis ca. 1822 oder 1845]. Drehbahn und Dammtorstraße. Dort hatte Graf Felix (…) Sie war eine Griechin, die Tochter eines Schuh- von Potocki (1745–1805) [polnischer Konfödera - machers, die der russische General Graf de Witt ge- tionsmarschall] gleich nach seiner Ankunft in heiratet hatte. Als die Emigranten und andere Flücht- Hamburg ein Grundstück erworben, das ihm am linge Hamburg wieder verließen, übertrug Graf 8. September 1793 zugeschrieben wurde. Da er als Potocki den Besitz seines Grundstückes an Carl Ale- Nichthamburger aber kein Grundstück in Hamburg xander de Baur. Während dann in den hinteren Räu- erwerben durfte, wurde es seinem Treuhänder, dem men die französischen Schauspieler weiterspielten, nachmaligen Oberalten Johann Gottfried Schramm richtete er wie viele andere seiner Schicksalsgenos- [1742–1822], dem Großvater des späteren Bürger- sen (Rainville, Duvernet) im Wohnhaus an der meisters, mit der Klausel zugeschrieben, dass das Dammtorstraße ein vornehmes Restaurant und Café Grundstück ohne Zustimmung des Grafen Stanislaus ein (…). In einem ‚Sketch of Hambourg’ schrieb ein Felix von Potocki weder umgeschrieben noch be- Engländer über das Hotel Potocki: ‚which is a cof- schwert werden dürfe. Am 9. Oktober 1793 wurde fee-house and restaurant and one of the first‘. Er die Bauerlaubnis erteilt, und nun ließ der Graf im sagt dann, dass man nach Schluss der Theatervor- Stil der damaligen Bauart einen Palast errichten, stellung an den schönen Abenden auf dem Wall zu der fast ein Jahrhundert hindurch dort gestanden promenieren pflegte, um sich nachher in das Hotel hat. Die Hauptfront sprang etwas von der Straßen- Potocki zu begeben, in dessen schönen Räumen viel front zurück, während die beiden Seitenflügel bis und hoch gespielt werde. Zu den Vorzügen des Ho- an die Straße ragten. Hinter dem Hause an der Dreh- tels wurde es gerechnet, dass die Säle mit Kanapees bahn lagen Stallungen, die der Graf oder seine versehen seien, auf denen man nicht nur sitzen, sondern auch liegend ruhen könne. Ein Emigrant – Milon de Mesnes – leitete die Restauration (…). Diese Glanzzeit dauerte indessen (…) nicht lange. Auch de Baur verließ Hamburg und an seine Stelle trat [César] Rainville [1767–1845] (…). Von ihm er- warb Senatssekretär Christian Daniel Anderson [1753–1826] [die Senatssekretäre – Secretarien – ge- hörten dem Senat an und führten mit den ebenfalls zum Senat gehörenden Syndici die Prozesse und re- ferierten dem Senat. Sie wurden auch öffentliche Anwälte genannt und zu öffentlichen und privaten Geschäften der Stadt genutzt] das Grundstück. 1802 wurde es in Wohnungen aufgeteilt, von denen [An- Die heutige Ecke Dammtorstraße/Drehbahn. derson] selbst eine bezog. Im Jahre 1867 ist das ehe- Photo: Marina Bruse malige Hotel Potocki abgebrochen worden (…).“41

41 Arthur Obst: Von Dammtor und Dammtorstraße. In: „Hamburger Frem- denblatt“ vom 28.4.1928. 62 DREHBAHN 3–5 · „Französisches Theater“/„Apollo Theater“

zum französischen Emigrantentheater.42) 8. STATION Schröder fürchtete die Konkurrenz und Drehbahn 3–5 verweigerte die Zusammenlegung beider An der Nordseite des Kamps (siehe Valentinskamp S. 163) Bühnen in seinem Haus. Er wurde dafür hatten schon im 16. Jahrhundert einige Reepschläger Drehbah- auf Flugschriften verspottet, etwa in Platt- nen – Reeperbahnen (Seile, zur Herstellung von Tauen) – an- deutsch, unter dem Titel: „Schröders gelegt, die der dort später gelegenen Straße den Namen gaben. Looppaß“: Bebaut seit dem 17. Jahrhundert hieß die Straße bis 1899 „Neid un Mißgunst heppt em qualt / „Große Drehbahn“. Heppt em unner kregen. „Französisches Theater“/„Apollo Theater“ (Standort „Französi- De Franzosen, de hier spehlt, 43) sches Theater“: 1795–1814); „Apollo Saal“ (Standort: 1804–1875) Kann he nich verdregen. (...).“ Doch mit Hilfe eines solventen Unterstüt- zerkreises, den „Aktionisten“, konnten „Französisches Theater“/„Apollo Theater“ die französischen Hofschauspieler 1795 in ein neu errichtetes Schauspielhaus umziehen: „Den Grund Dort, wo heute neue Bürohäuser die Drehbahn be- und Boden gab Fürst Potocky [siehe S. 61] her, der herrschen, befanden sich das „Französische Thea- viel mit den Emigranten verkehrte und dessen Haus ter“/„Apollo Theater“ und der „Apollo Saal“. Ihnen an der Damm thor straße 33 [alte Hausnummerierung, gegenüber auf der anderen Straßenseite stand damals siehe Dammtor straße 1] lag. Das neue Theater die alte Freimaurerloge (siehe S. 58), dort wo heute [„Französisches Theater“/„Apollo Theater“] war 100 die Welckerstraße in die Drehbahn mündet. Fuß44) lang und 40 Fuß breit, also kleiner als das Nach der Französischen Revolution waren viele fran- deutsche mit 110 und 59 Fuß, zudem leicht gebaut, zösische Emigranten in die Stadt gekommen, deren sicher Fachwerkbau, wie jenes auch, aber es enthielt Kulturleben auch die Hamburgerinnen und Hambur- außer dem schön dekorierten Theaterraume, der ger begeisterte. Im Dezember 1794 hatten Mitglieder vom Erdgeschosse die drei Ränge hinauf genügend der Brüsseler französischen Hofschauspieler, die bei Zuschauer fassen konnte, in Anbauten eine Zahl der Eroberung der österreichischen Niederlande ge- von Sälen, die geselligen Zwecken dienten.“45) flohen waren, im alten Konzertsaal auf dem (Valen- Die Bedingungen waren ideal für einen kulturellen tins) Kamp (siehe S. 174) ihre Eröffnungsvorstellung Treffpunkt mit gut beheizten und beleuchteten Ge- gegeben. Auf dem Programm standen zunächst fran- sellschaftsräumen. Das Theater hatte zwei Reihen zösische Lustspiele, für die mittels Theaterzetteln an Logen, Parkett, Parterre und Galerie. „Nicht weit den Straßenecken geworben wurde. „Die vereinigte vom Zuschauerraum öffnete sich eine Thür in den französische Schauspielergesellschaft“, deren Kern einen Anbau mit dem ‚Coffeesaal‘, la salle du café, aus drei Familien bestand, spielte mehr und mehr dessen Namen man nicht buchstäblich nehmen Opern, die mit einem eigens zusammengestellten Or- muß: das dampfende Getränk, das hier (...) in vor- chester präsentiert wurden, bestehend aus Mitglie- züglicher Beschaffenheit für einen mäßigen Preis dern der Gesellschaft, Dilettanten, adligen Emigranten genossen wurde, war ein köstlicher Grog, während etc. Der Zuspruch des Pub likums war so groß, dass die gewöhnlichen Theaterschenken einen dünnen der kleine Saal nicht mehr reichte und eine neue, Trank mit wenig Rum oder Arrak zu bieten wagten. größere Spielstätte gesucht wurde. Der Theaterdirek- Das Café wurde aber auch von M. de Milon geführt, tor des Theaters am Gänsemarkt, Friedrich Ludwig der die Restauration im Hotel Potocky leitete.“46) Schröder (1744–1816), hatte die Zusammenarbeit Kurze Zeit darauf wurde ein zweiter Flügel fertig verweigert, sein Haus am Gänsemarkt (siehe S. 211) gestellt, in dem eine Bibliothek für die Theaterbe- nannte sich jetzt „Deutsches Theater“ in Abgrenzung sucherinnen und -besucher eingerichtet und Mode-

42 Vgl. Gisela Jaacks (Redaktion und und der Vereins- und Westbank. Ham- 44 Ein Fuß = die durchschnittliche Konzept): Dreihundert Jahre Oper in burg 1977, S. 160. Länge eines Männerfußes, ca. 30 cm. Hamburg (1678–1978). Hrsg. von der 43 Heinrich Harkensee: Beiträge zur 45 Heinrich Harkensee, a. a. O., S. 13. Hamburgischen Staatsoper; dem Mu- Geschichte der Emigranten in Ham - 46 ebenda. seum für Hamburgische Geschichte burg. Hamburg 1896, S. 11. DREHBAHN 3–5 · „Französisches Theater“/„Apollo Theater“ 63 artikel verkauft wurden. „Zwei Thüren führten aus stellung in der Oper „Blaubart" von André Grétry dem Theaterraume hinab in den Garten, durch den (1741–1813), als sie die Todeskammer entdeckt. An eine Verbindung mit dem berühmten Speise- und ihrer Todesfurcht delektierte sich das Publikum. Kaffeehaus des Herrn C. A. Devaux in dem ehema- Das „Französische Theater“ war nicht nur Schau- ligen Hotel Potocky bestand. Hier eröffnete am 6. platz glänzender Aufführungen und Bälle, sondern November 1796 M. Thibault seinen ‚Salon de lecture auch von Tumulten zwischen Royalisten und Repu- française dramatique‘; und hier trug er des Sonn- blikanern. 1802 kam es zu einer ersten großen Krise, abends oder am Sonntagabend, wenn kein Schau- die Stars und viele Emigranten verließen Hamburg spiel war, klassische Dramen vor.“47) – die Besetzung Hamburgs durch napoleonische Üppige Ausstattungen und Kostüme, eigene Ensem- Truppen wirkte sich auch auf das kulturelle Leben bles für Ballett- und Opernaufführungen und ein aus. Das Ende der Fremdherrschaft bedeutete auch Orchester, das Sinfonien mit Werken von Wolfgang für das „Französische Theater“ das Aus: Am 21. Mai Amadeus Mozart (1756–1791) und Joseph Haydn 1814 fand die letzte Theatervorstellung statt. (1732–1809) konzertierte, begeisterte das franzö- „Nachdem die Franzosen aus Hamburg verschwun- sisch-deutsche Publikum. Weibliche Stars wie Ma- den waren, diente das Theater deutschen Schau- dame Chevalier, die vom Theatre italien in Paris spielgesellschaften zu kurzem Aufenthalt, bis 1817 kam, begeisterten mit Gesangs- und Schauspiel- dort eine neue deutsche Theatergesellschaft unter kunst, und Monsieur Pierre Chevalier kreierte mu- dem Namen Apollo-Theatergesellschaft mit den Mit- sikalische Tanzschauspiele, losgelöst von der Oper. gliedern Lebrün [Caroline, 1803–1851], Frau [Frie- Caspar Voght (1752–1839) und andere Herren der derike] Ellmenreich [1775–1845] usw. spielte. Diese Hamburger Gesellschaft zählten zu den Verehrern konnte sich aber nur drei Monate halten.“48) von Madame Chevalier. Sehr beliebt war ihre Dar- Text: Birgit Kiupel

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In der Großen Drehbahn befanden sich um 1842 mehrere Musentempel und das erste Logenhaus (3): der Apollo Saal (1); das Apollo Theater bis 1814, das Französische Theater (2), das Colosseum (4), später dort auch Sagebiel’s Etablissement. Kartenausschnitt aus dem Jahre 1842, aus: Hamburg zur Übersicht des grossen Brand- unglücks vom 5.–8. Mai 1842. Leipzig [ca. 1842]. Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Kt H116

47 ebenda. 48 J. Heckscher: Der Salon d’Apollon. In: Mitteilungen des Vereins für Ham- burgische Geschichte. Elfter Band. Hamburg 1914, S. 430. 64 DREHBAHN 3–5 · „Apollo Saal“

„Apollo Saal“ bäude befindlichen schönen Sälen und Zimmern ein Lokal liefern, welches zu den Conzerten, Bällen und „Apollo Saal“ hieß der neue 1804 errichtete Konzert - anderen großen und kleinen Assembleen nicht schö- saal – „Salon d’Apollon“ – benannt nach dem „Fran- ner und bequemer angetroffen werden kann.“50) zösischen Theater“, das daneben lag – und angeb- Apollos Gefolge durchlebte hier wechselvolle Sta- lich „Apollo Theater“ hieß. tionen und diverse Umbauten. So fanden in diesem „Als später [1802] das Potockysche Erbe mit dem Gebäude spektakuläre Konzertaufführungen, aber dazugehörigen französischen Theater in den Besitz auch Bälle und Ausstellungen statt. Während der des Secretarius Dr. Anderson überging und Rainville Be satzung durch napoleonische Truppen wurden die nach Rückkehr der Emigranten an Devaux’ Stelle Säle für Sitzungen des Douanengerichtshofes und trat, erhob sich [errichtet von Dr. Anderson] – im als Lotteriesaal und 1813/14 als Militärlazarett ge- Jahr 1804 – an der Drehbahn zwischen Theater und nutzt.51) Ab 1814 fanden hier wieder Konzerte und dem bisherigen Hotel Devaux ein großes Ball- und Bälle statt.52) Konzerthaus, der Salon d’Appollon, der durch Gal- Gefeierte Sängerinnen waren im „Apollo Saal“ zu lerien mit dem Theater verbunden wurde.“49) Im Gast, wie Anna Milder-Hauptmann (1785–1838) am hinteren Teil des Gebäudes befand sich der große 15. Juli 1815, Ludwig van Beethovens (1770–1827) ovale Saal, von ca. 24 Meter Länge, 15 Meter Breite erste Fidelio/Leonore, die auch in Schröders „Ham- und neun Meter Höhe, wie im Hamburger Adress- burgischen Deutschen Stadt-Theater“ am Gänse- buch für 1805 berichtet wird. markt gastierte (siehe S. 211). Madame Catalani (An- Neben guter Akustik zeichnete sich der Saal, der den gelica, 1780–1849) gab im Juni 1816 innerhalb von alten Konzertsaal auf dem Kamp ablöste (siehe S. 174) zehn Tagen vier Konzerte im „Apollo Saal“.53) Rund auch durch stilvolle Bauweise und Dekoration aus. 1000 Menschen sollen sich trotz hoher Eintrittspreise „Der Eingang ist durch einen andern gleichfalls auf in den ersten beiden Konzerten dort gedrängt haben. das geschmackvollste decorirten großen und kleinern „Seit 1821 ließ eine Gesellschaft von Musikfreunden, Saal, welche beide letztre auch während des franzö- der Apollo-Verein, vom Oktober bis Ende März jeden sischen Schauspiels zum Foyer bestimmt sind, und Donnerstagabend große Musikstücke für Orchester überdem in Verbindung mit den übrigen in dem Ge- und Gesang aufführen.“54) Am 5. Oktober 1823 wurde im „Apol- lo Saal“ „zum ersten Male die Apollo Union abgehalten, die 500 Abonnenten zählte. An Wochentagen war das Lokal dem übrigen Publikum gegen 12 Schil- linge Entrée geöffnet. Mehrfach erho- ben sich Streitigkeiten über das Hut abnehmen und Rauchen, was schließ- lich zu einem Rauchverbot im Tanzsaal führte, während die Hüte von Nicht- tänzern aufbehalten werden durften. Die Union löste sich im Frühjahr 1824 auf. (…) Dann hat ein Herr Wilckens

Tanzvergnügen im „Apollo Saal“ um 1830. Litho., unsigniert aus Hamburg 1831

49 Hamburger Adress-Buch für 1805, öffentlichen Hamburger Konzertwesens. 51 ebenda. S. 431. Zit. nach: Sonja Esmyer: Ham- Magisterarbeit an der Universität Lüne- 52 Cipriano Francisco Gaedechens: burger Konzertstätten von der Mitte des burg, Studiengang angewandte Kultur- Historische Topographie der Freien und 18. bis Anfang des 20. Jahrhunderts vor wissenschaften. Lüneburg 1996, S. 34. Hansestadt Hamburg und ihrer nächsten dem Hintergrund der Entwicklung des 50 ebenda. Umgebung von der Entstehung bis auf DREHBAHN 3–5 · „Apollo Saal“ 65 den Apollosaal dem Publikum zur Abhaltung von 1859: Herren Entrée Karte Festlichkeiten und Konzerten vermietet, so dem Apol- in den „Apollo-Saal“. Staatsarchiv Hamburg lo Kasino, einem aus bürgerlichen Familien beste- henden Klub (…). Das Apollotheater, welches sich auch zu einem Zirkus umwandeln ließ, vermietete er an Pantomimisten und Gymnastiker.“55) die Brüder Keiling, die Im November 1830 wurde Henriette Sontag (1806– das Lokal 1849 über- 1854) bei vier – teuren – Konzerten bejubelt.56) nommen hatten, wirkte Zu den beliebten Virtuosinnen und Virtuosen zählten wie ein Publikumsmag- das Ehepaar Ludwig und Dorothea Spohr (Ludwig: net. Das „war so enorm, 1784–1859¸ Dorothea: 1787–1834), das z. B. hier 1811 dass er die Vergröße- konzertierte, er war Komponist und Geiger, sie eine rung der Einrichtung er- Meisterin der Pedalharfe.57) forderlich machte, die Die 1828 gegründete „Philharmonische Gesellschaft“ dann von Mai bis Au- (Vorläufer des Philharmonischen Staatsorchesters) gust 1853 in die Tat um- nutzte den „Apollo Saal“ in den ersten Jahren ihres gesetzt wurde. (…) In Bestehens. Beim ersten Konzert am 17. Januar 1829 der kurzen Zeit von nur im „Apollo Saal“ dirigierte Friedrich W. Grund (1791– vier Monaten wurde der 1874) Beethovens damals noch wenig geschätzte gesamte Umbau reali- 5. Sinfonie, zudem Arien von Gioacchino Rossini siert, so dass am 4. Sep- (1792–1868) und Werke für Klarinette. tember 1853 das umgestaltete Gebäude eröffnet wer- Als „ein Liebling der Hamburger“58) galt Clara Schu- den konnte. Die Einrichtung soll nach der Ver ände- mann (1819–1896), die von 1835 bis 1881 in den rung drei verbundene Säle geboten haben, die der Phil harmonischen Konzerten neunzehn Mal auftrat Öffentlichkeit wieder in erster Linie für Konzerte zur – und sechzehn Mal im „Apollo Saal“. Als Teenager, Verfügung standen, aber auch weiterhin für Bälle, mit fünfzehn Jahren, und noch als Clara Wieck spielte Ausstellungen und andere Gesellschaften. Die Ge- sie am 14. März 1835 im 29. Philharmonischen „Pri- samtgröße von 16 000 Quadratfuß [1440 qm] inklu- vat Concert“ das Adagio und das Finale aus dem C- sive der sechs Logen und der Kolonnaden machte Dur-Konzert von Johann Peter Pipis (1788–1874), die Einrichtung zur größten Veranstaltungsmöglich- die fis-Moll Mazurka und zwei Etüden von Frédéric keit der Stadt Hamburg. ‚Die Erleuchtung wird durch Chopin (1810–1849).59) 12 große Kronen und Lüstres bewerkstelligt. Die Ak- Sechs Tage später gab sie am 20. März 1835 ein kustik des neuerbauten Saals steht der des altbe- „Großes Concert“ im „Apollo Saal“ und am 4. April rühmten ersteren durchaus nicht nach und der Be- desselben Jahres spielte sie dort im Abschiedskonzert such des Publikums steigert sich von Woche zu von Georg Albert (?–1869, Tenor von 1827–1835). Woche‘“.60) Zwei Jahre später, 1837, trat sie zweimal im „Apollo Bei den Brüdern Keiling angestellt war auch Hein- Saal“ auf: am 1. April 1837 im 37. Philharmonischen rich Schacht (1817–1863), der z. B. plattdeutsche Privat-Concert, und sieben Tage später gab sie am Lieder für die Drehorgel schrieb.61) Die Drehorgel- 8. April eine Musikalische Soiree. Bis 1867 trat sie spieler gehörten damals selbstverständlich zum klin- noch mehrfach im „Apollo Saal“ auf – danach im genden Straßenbild. Convent garten. (Freundliche Mitteilung von Renate „Wer danzen will mutt een, twee, dree Hofmann.) Gliek na de Dreibaan hen, Zum Kunstgenuss gehörten auch kulinarische At- Denn im Apollo=Saal kann he traktionen. Die Bewirtung des „Apollo Saals“ durch Probeeren mal sien Been.“62)

die Gegenwart. Hamburg 1880, S. 193. 54 J. Heckscher, a. a. O., S. 430. 59 Vgl. Josef Sittard, a. a. O., S. 234f. 53 Josef Sittard: Geschichte des Musik- 55 J. Heckscher, a. a. O., S. 340. 60 Sonja Esmyer, a. a. O., S. 35f.; und Concertwesens in Hamburg – vom 56 Josef Sittard, a. a.O., S. 165. und: Hamburgisches Adress-Buch für 14. Jahrhundert bis auf die Gegenwart. 57 Josef Sittard, a. a. O., S. 174. 1854, S. 459. Zit. nach Sonja Esmyer, Hildesheim, New York 1971, S. 162. 58 Josef Sittard, a. a. O., S. 320. a. a. O., S. 36. 66 DREHBAHN 3–5 · „Apollo Saal“

Von einer genauen Kenntnis des „Apollo Saals“ kün- ganzes Leben lang hart zu sitzen gewohnt sind und den Schachts 1855 veröffentlichte „Bilder aus Ham- solcher giebts genug auf dieser schönen Welt.“ burg’s Volksleben“, ein Sammelbändchen mit Dreh- Das Babysitting ist gutnachbarschaftlich organisiert. orgelliedern, hoch- und plattdeutschen Gedichten, „Der Sonntag kommt heran, Frau Meier hat Christi- komischen Geschichten, die in mehreren Jahrgängen ans Söhnchen in sichern Verwahrsam genommen der Zeitschrift „Reform“ erschienen waren. (...).“ Schacht, selbst aus dem Arbeitermilieu im Gänge- Für den Ball wurde sich sehr individuell zurechtge- viertel stammend, erlernte das Schiffsschmiedehand- macht und auch für Proviant gesorgt, um Kosten werk und begann 1840 nach seiner Heirat mit einem zu sparen. Fischer hat in der Manteltasche eine Fla- „armen, braven Mädchen“ Gedichte zu schreiben, sche Alkohol versteckt, „een in’n Buddel mitnah’m, ab 1848 für die „Reform“. Aufschlussreich sind seine denn köhnt wi doch mal een lütten mit op de Lamp Geschichten, die er um das Arbeitermilieu im Gän- geten, denn dat Gedränk is düür – een Glas 5 Schil- geviertel ansiedelte. Schließlich gab Schacht, ein Un- ling!“ Doris hat acht Rundstücke in der Manteltasche terstützer der Reformbewegungen, 1853 das Hand- verstaut: „Wi brukt denn man blos en Portschon werk zugunsten der Dichtkunst auf: Schacht Thee to vertehren.“63) schmiedete nun Geschichten um das berufstätige Aber um das Eintrittsgeld kommen sie nicht herum, Elternpaar Christian und Doris. Zu diesen „Lebens- „und ein freudiges Ah! ertönt aus allen Kehlen, als bildern aus dem Hamburger Arbeiterstande“ zählt: die beiden Familien in den schönen, glänzend er- ein Besuch im „Apollo Saal“: „Der schöne Apollo - leuchteten Saal eintreten. Es gelingt ihnen, einen saal war früher für den Arbeiter ein verschlossenes Platz auf dem ,Sopha‘ zu erhalten [...].“ Paradies, an dem gerade kein Erzengel mit feuriger Während Christian und Doris „schon im raschen Klinge, aber doch ein sehr beträchtlicher Eintritts- Walzer“ dahin schweben, zeigt Fischer keine „Tanz- preis als Schlagbaum stand; man hörte nur von glän- lust“, weil er die Flasche in der Tasche nicht gefähr - zenden Concerten, prachtvollen Maskeraden u. dgl. den will. Doch schließlich versteckt er sie im Hut mehr, aber den Augen und Ohren des Volkes waren und wirbelt mit Jette durch den Saal „und rechts die Räume des Dichtergottes unbekannt und theil- und links karamboliren unglückliche Paare mit nahmslos ging es an den erleuchteten Fenstern vo- ihm.“64) rüber. Seit Keiling’s Zeiten hat sich das geändert, Die Familien rücken zusammen, „man ruft mehrere Bürgerbälle verherrlichen am Sonntagabend die nummerierte Kellner nacheinander ohne Erfolg“.65) schönen Säle und Christian darf es wagen, mit seiner Bei Kellner Nr. 10 wird endlich Tee und Kuchen be- Doris in Verein, Complott zu schmieden, das gegen stellt. Schustermeister Fischer freut sich über die den ehrlichen Meister Fischer gerichtet und darauf ab getanzten Sohlen: „Ick wull, de ganze Welt wör berechnet ist, denselben mit seiner Jette zum Ball- en Danzsalon.“ „Endlich hat auch der Spaß sein besuch zu verführen. Die Sache macht sich bei Jette Ende und Christian erinnert daran, daß Morgen um sehr leicht, trotz ihrer 40 Jahre juckt’s ihr noch im- 5 Uhr Alles auf den Beinen sein muß.“ mer in den Beinen, wenn sie Tanzmusik hört, aber Der Tanzmuffel Fischer ist bekehrt: „Schön is’t doch Fischer brummt immer: ‚Watt soll ick mit so’n Hop- bi Keiling und billig ok – na nächstes Jahr ward wed- hei’ und stellt sich als entschiedener Gegner solcher der mal danzt, Kinners!“ Doris denkt nicht daran, so Sonntagsbelustigungen hin. Doch was gelingt nicht lange zu warten, und man trennt sich, um Christians weiblicher Ausdauer und einem trefflich bereiteten Worte: „wenn de Froonslüüd mal danzt hefft, hefft Leibgericht?“ se den Düwel in’n Lüf gehörig zu beherzigen.“66) Sie schaffen es bis in den „Apollo Saal“, beliebt und Die Kombination aus Konzert und Tanzveranstal- umkämpft ist das „Keiling’sche Sopha“: „Ein Kei - tung bewährte sich wohl über Jahre. Inzwischen ling’sches Sopha ist das Ideal für alle Leute, die ihr waren neue Konzerthäuser entstanden, wie ab 1848

61 Helmut Glagla: Hamburg im platt- Heinrich Schacht: Bilder aus Ham burg’s 66 Hermann Schacht, a. a. O., S. 44. deutschen Orgellied des 19. Jahrhun- Volksleben. Hamburg 1855. derts. Hamburg 1974, S. 17f. 63 Hermann Schacht, a. a. O., S. 42. 62 Hermann Schacht, aus: Hamburger 64 Hermann Schacht, a. a. O., S. 43. Volks=ABC, 1855 S. 148ff; S. 167. In: 65 ebenda. DREHBAHN 7 · „Colosseum“ · „Sagebiel’s Etablissement“ 67

die „Tonhalle“ am Neuen Wall/Ecke Bleichenbrücke, „Sagebiel’s Etablissement“ und ab 1853 der „Wörmersche Saal“ in der Neustäd - ter Fuhlentwiete 59, 1866, wohl nach englischem An der Stelle, wo das „Colosseum“ stand, wurde Vorbild, in „Conventgarten“ umbenannt. Im „Apollo 1862 „Sagebiel’s Etablissement“ errichtet. Es war Saal“ fanden nun immer seltener Konzerte statt, eine der größten Versammlungsstätten in der Vor- dafür wurde immer häufiger getanzt und gefeiert. kriegszeit, fasste bis zu 10 000 Personen und hatte 1875 wurde der Saal an eine Luxuswagenfabrik ver- sechs größere Säle, die durch ca. 1200 Gasflammen kauft. erleuchtet wurden. Allein der große Konzertsaal Text: Birgit Kiupel konnte rund 4000 Menschen aufnehmen. Miter- bauer des Hauses war der Architekt Martin Haller (1835–1925). 9. STATION Im Speisesaal I standen kleine Tische für sechs bis Drehbahn 7 zehn Personen, an denen gleichzeitig 1000 bis 1200 „Colosseum“ (Standort: 1830 in Gäste speisen konnten. Ab 14 Uhr wurde in den alten Stadtkarten noch nicht Spei sesälen auch Bier ausgeschenkt, und es durfte eingezeichnet, 1842 bereits ein- ge raucht werden. Letzteres war zu anderen Tages- gezeichnet bis ca. 1862); „Sage- zeiten nur im oberen Stock in zwei dazu auserwähl - biel’s Etablissement“ (Stand - ten Rauchsälen erlaubt. ort: 1862 bis zur Zerstörung im „Nach der Renovierung des Saals im Jahre 1867 Zweiten Weltkrieg) schrieb die Hamburger Zeitung ‚Die Reform‘: ‚Der große Saal ist nämlich ganz und gar im geschmack- vollsten pompejanischen Stil decoriert, die schönste „Colosseum“ Harmonie der Farben, der Vergoldung (…).‘ Zum Eröffnungsball wurde nur das bürgerliche Publikum Nur wenige Schritte vom „Apollo Saal“ entfernt auf eingeladen, aber die Unterhaltungsprogramme bei derselben Straßenseite befand sich bis ca. 1862 un- „Sagebiel“ wurden auch von der Arbeiterschaft so gefähr bei der heutigen Hausnummer 7 der Tanzsaal zahlreich besucht, dass es manchmal überfüllt war. „Colosseum“. Besucht wurde er von den wohlha- benden Hamburgerinnen und Hamburgern. Doch in einem Hamburgführer über das „Colosseum“ hieß es: „Das weibliche Geschlecht, welches sich in diesen Lokalen versammelt, gehört fast durchgängig zu der leichten Klasse.“67) Damit waren Frauen gemeint, die sich in den Augen des Bürgertums nicht sittsam und bescheiden verhielten, sondern u. a. wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse, die für erwerbstätige Frauen nicht gut bestellt waren, der Prostitution (siehe zum Thema „Prostitution“ S. 129) nachgingen, um dadurch ihren Lebensunterhalt bestreiten zu kön- nen. So haben vielfach die Bürgerkreise, die abfällig auf diese Frauen blickten, durch die schlechte Ent- lohnung ihrer Dienstmädchen und anderer für sie in Lohnarbeit tätigen Frauen dazu beigetragen, dass 1. Hälfte 20. Jh.: „Sagebiel’s Etablissement“ von außen, diese Frauen in die „leichte Klasse rutschten“. erbaut 1862. Postkarte

67 Führer durch das Abendfest der hamburgischen Feier zur Erinnerung an die Entdeckung Amerikas. Hamburg 16.3.1893. 68 DREHBAHN 7 · „Sagebiel’s Etablissement“

familien so sehr Not litten, dass selbst Ham- burger Bürger erhebliche Summen spende- ten“, erklärt die Historikerin Helga Kutz- Bauer.68) Als der Erste Weltkrieg bevorstand, wurden bei „Sagebiel“ diverse Protestveranstaltun- gen gegen den „drohenden Weltkrieg“ ab- gehalten. „Um die wirkliche Stimmung der Bevölkerungsmehrheit, das heißt deren Friedensliebe, zu demonstrieren, führte die Sozialdemokratie im Großraum Hamburg, einschließlich Altona, Ottensen, Harburg, Wilhelmsburg und Schiffbek, einundzwan- zig Volks versammlungen [so auch bei „Sa- 1. Hälfte. 20. Jh.: Sagebiels’s Weisser Saal. gebiel“] zumeist am 28. Juli [1914] gegen Postkarte die ‚Kriegs provokation der österreichischen Regierung‘ durch. Die Redner wiesen die So war ‚Sagebiel’s Etablissement‘ schon 1864 Schau- Schuld am Konflikt auf dem Balkan eindeutig Öster- platz der großen Totenfeier für den Arbeiterführer reich und allgemein dem ‚Imperialismus‘ zu. Ein Ferdinand Lassalle (1825–1864) gewesen – dort sang Krieg würde der Bevölkerung Europas nur Leid und man zum ersten Mal die von dem Hamburger Jacob Elend bringen, Nutznießer wären nur ein ‚paar Dut- Audorf (1834–1898) gedichtete ‚Arbeiter-Marseil- zend‘ an der Spitze der ‚imperialistischen, chauvi- laise‘. Am 23. April 1890 beschlossen dort 7000 Ar- nistischen und kapitalistischen Gesellschaft‘.“69) beiter, den 1. Mai als Kampftag der Arbeiterklasse Über eine Ende Juli 1914 von der Sozialdemokratie zu feiern – mit der Folge, dass Tausende von ihren durchgeführte Kundgebung in „Sagebiel’s Etablis- Arbeitgebern ausgesperrt wurden und die Arbeiter- sement“ hieß es im „Hamburger Echo“ (siehe zum

2. Hälfte 19. Jh.: Grundriss von „Sagebiel’s Etablissement“. Parterre. Staatsarchiv Hamburg

68 schriftliche Ausführungen für diese Overdieck, Joost-L. Pfeiffer; Christina erstattung und Kriegsgegnerschaft Publikation von Helga Kutz-Bauer. Schünemann, Lukasz Silezin, Nora am Vorabend des Ersten Weltkriegs in 69 Jörg Berlin, Benjamin Gillich, Vi- Waitkus, Philip Warnecke: „Vaterländi- Ham burg. Außerhalb der Unterrichts- vienne Harbeck, Alexander Knapp, sche Begeisterung“ oder „Dat sind all zeit erarbeitet vom Leistungskurs Ge- Meike Köpcke, Nadine Nizker, Merle Lüt, de nich mit brukt“. Kriegsbericht- schichte S 2 der Erich Kästner-Gesamt- DREHBAHN 7 · „Sagebiel’s Etablissement“ 69

„Hamburger Echo“ auch S. 259), dem Organ der So- die ein solcher Krieg mit sich bringen würde. Ohne zialdemokratie: „In Sagebiel’s Etablissement war Diskussion wurde die Resolution unter dem Beifall ebenfalls eine ungeheure Menge, die der große Saal der Versammlung angenommen.“70) allein nicht fassen konnte, so daß auch der angren- Die bürgerliche Zeitung der „Hamburgische Corres- zende Saal eröffnet werden mußte, zusammenge- pondent“ berichtete über eine am folgenden Tag kommen, um gegen die Kriegshetze zu demonstrie- bei „Sagebiel“ stattgefundene „Vaterländische Kund- ren. Den Auftakt zu dieser imposanten Versamm- gebung für Oesterreich-Ungarn“: „Im großen Saal lung gab ein interessantes Schauspiel vor dem Lokal. bei Sagebiel, der gleichen Stätte, an der am Abend Dort hatte sich nämlich eine Horde des bereits von vorher eine sozialdemokratische Protestveranstal- uns gekennzeichneten patriotischen Mobs zusam- tung gegen den Krieg stattgefunden hatte, vereinig- mengefunden, in der Absicht, unsere Veranstaltung ten sich am Mittwochabend mehr als 2000 wehrfä- zu stören. Patriotische Lieder singend und Hurra hige Männer zu einer großartigen Sympathiekund- schreiend, stand der Haufe dicht gedrängt vor dem gebung für Oesterreich-Ungarn. Veranstalter war Lokal und versperrte den Eingang. Erst mit Hilfe der Herausgeber einer neuen Zeitschrift, mit Namen von Schutzleuten, die diese schreienden Leutchen ‚Der Hanseart‘, Theodor Mumm, der auch der Red- recht sanft, wie man das sonst nicht von ihnen ge- ner des Abends war. Auf dem Podium stand, von wohnt ist, beiseite schoben, konnte der Eingang für Lorbeerbäumen umgeben, die Büste des Kaisers, die Besucher unserer Versammlung freigemacht wer- und von der Orgelempore herab flatterten Hambur- den. In eindrucksvoller Weise schilderte Genosse ger und oesterreich-ungarische Fahnen. Nachdem Paul Hoffmann [1863–1928] die kriegerischen Ver- zu Beginn unter Orgelbegleitung das ‚Niederländi- wicklungen, in die Österreich und Serbien geraten sche Dankgebet‘ gesungen und ein Hoch auf den sind, und die es nicht ausgeschlossen erscheinen Kaiser ausgebracht worden war, spielten sich zu- lassen, daß alle übrigen europäischen Mächte, vor nächst einige erregte Szenen ab, da es galt, einige allem Deutschland, in diesen Konflikt mit hineinge- sozialdemokratische Störenfriede, die sich über den zogen werden, so daß ein Weltkrieg die unaus- Saal verteilt hatten, zum Verlassen der Veranstal- weichliche Folge sein würde, sowie auch die Folgen, tung zu veranlassen. Soweit das nicht mit Worten

2. Hälfte 19. Jh.: Grundriss vom 1. Stock bei „Sagebiel“. Staatsarchiv Hamburg

schule. Hamburg 2004. www.hh.Schule.de/ekg/projekt-wk1/ Quellen-Julikrise14-HH.html 70 Zit. nach: ebenda. 70 DREHBAHN 7 · „Sagebiel’s Etablissement“ DREHBAHN 11 · Stolperstein für Charles Först

zu erreichen war, wurden die unliebsamen Gäste Denkmal, wo Herr Mumm nochmals eine Ansprache mit sanfter Gewalt und unter lautem Hallo hinaus- hielt und patriotische Lieder gesungen wurden. Dann gedrängt. ging man auseinander. Versuche von Sozialdemokra- Die patriotische Stimmung war so hoch gespannt, ten, unterwegs Zusammenstöße mit den vaterländisch dass ihr auch die nicht ganz geschickten Auslas- Gesinnten herbeizuführen, mißlangen.“71) sungen des Redners keine Einbuße taten, und häu- Auch KPD-Versammlungen wurden bei „Sagebiel“ fige Beifallssalven erschollen. Der Redner gab einen abgehalten. So war „Sagebiel“ das Versammlungs- Überblick über die Vorgeschichte zu der jetzigen lokal des Rote Frontkämpferbundes (RFB), ein in politischen Krisis, wandte sich mit heftigen Ausfäl- der Weimarer Zeit agierender paramilitärischer len gegen Serbien und Montenegro und geißelte das Kampf bund/Schutztruppe der KPD (siehe auch S. 91 Verhalten der Sozialdemokraten. Nach der Rede Oper). Später fanden hier auch Hitler-Kundgebun- wurde ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ ge- gen statt. sungen und dann vom Einberufer ein Telegramm Auch der bis heute veranstaltete „Hamburger Pres- an den oesterreichischen Ministerpräsidenten und seball“ nutzte einst die Festsäle von „Sagebiel“. Da- an den Deutschen Kaiser verlesen und einstimmig mals hieß der Ball noch „Ball für die Schriftsteller angenommen. Das Telegramm an den Grafen Stürgk und Bühnenkünstler“. Als er zum ersten Mal 1901 (!) [Ministerpräsident von Österreich Karl Graf von durchgeführt wurde, standen die Pferdedroschken Stürgkh 1859–1916, erschossen von dem sozialde- mit den ankommenden Besucherinnen und -besu- mokratischen Politiker Friedrich Adler (1879–1960) chern bis zur Hauptpost in der Dammtorstraße. Erst mit dem Ausruf „Nieder mit dem Absolutismus, wir nach dem Ersten Weltkrieg siedelte der Presseball wollen den Frieden!“] lautet: ‚Die zu der großen va- um ins „Curiohaus“. terländischen Kundgebung am 29. Juli erschienenen Die Vorfahrt zu „Sagebiel’s Etablissement“ konnte tausende (!) Frauen und Männer erklären: ... Die nur von der Dammtorstraße aus erfolgen. Und so Sache Oesterreich-Ungarns ist unsere Sache.‘ wurde für Festivitäten empfohlen: „Da die Vorfahrt Zum Schluß wurde die Nationalhymne gesungen. Un- erfahrungsmäßig äußerst langsam von sich geht, wird ter Mitnahme der beiden Fahnen zog die Menge dann, allen Festtheilnehmern recht frühzeitiges Eintreffen patriotische Lieder singend, zum Kaiser Wilhelm- in der Dammthorstraße dringend empfohlen.“72)

10. STATION „Charles Först wurde am 26. Oktober 1900 in Altona geboren. Er arbeitete als Bote, Schreibgehilfe, Büro- Drehbahn 11 angestellter, Postbetriebs- und Hafenarbeiter. Vom Stolperstein für Eberhard Franz 16. Januar bis 9. März 1936 war er in der Untersu- Charles „Charly“ Julius Först chungshaftanstalt Hamburg-Stadt wegen ‚widerna- (NS-Zeit) türlicher Unzucht’ eingewiesen. Ende 1936 kam er erneut in Untersuchungshaft. Im Februar 1937 wurde er nach § 175 verurteilt und bekam eine Ge- Vor dem Gebäude Drehbahn 11, direkt gegenüber fängnisstrafe von sechs Monaten. 1938 denunzierten dem Eingang zur Justizbehörde Drehbahn 36, liegt ihn Passanten bei einer Kontaktanbahnung. Vom ein Stolperstein für Eberhard Franz Charles „Charly“ 12. bis 18. August 1938 war Charles Först im KZ Julius Först. Auf ihm steht geschrieben: „Hier wohnte Fuhlsbüttel inhaftiert. Im Oktober 1938 wurde er Charles Först, Jg. 1900, verhaftet 1936/38, KZ Fuhls- nach § 185 zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. büttel, KZ Neuengamme, Heil- und Pflegeanstalt 1939 wurde er wieder Opfer einer Denunziation Bernburg (Tötungsanstalt), ermordet 15.6.1942.“ durch einen vierzehnjährigen Hitlerjungen, der Kon-

71 Zit. nach: ebenda. 72 Ganz Hamburg für zwanzig Schil- ling. Hamburg 1841, S. 8. DREHBAHN 11 · Stolperstein für Charles Först 71 DREHBAHN 36–39 · „Wüppermannsche Hof“ · „Hummel“

takt zu Homosexuellen gesucht hatte, um Geld zu zur Kripo Hamburg überstellt. Der Zugang und die erhalten. Wieder wurde Charles Först im KZ Fuhls- Häftlingsnummer im KZ Neuengamme sind unbe- büttel inhaftiert (15. bis 20. Juli 1939). kannt. Charles Först wurde in die Tötungsanstalt Vier Monate später kam es erneut zu einer Verur- Bernburg verlegt und dort am 15.6.1942 ermordet.“ teilung nach § 175. Charles Först musste für ein Text mit freundlicher Genehmigung der Autoren aus: Jahr und 5 Monate ins Strafgefängnis Fuhlsbüttel. Bernhard Rosenkranz, Ulf Bollmann, Gottfried 1940 wurden zwei Gnadengesuche des Vaters ab- Lorenz: Homosexuellen-Verfolgung in Hamburg gelehnt. Am 9. Februar 1941 wurde Charles Först 1919–1969. Hamburg 2009, S. 210.

war also nichts Besonderes. In der Verdoppelung, die 11. STATION rhythmisch einen Wohlklang darstellt, wird der erste Drehbahn 36–39, Teil den Mangel eines Vornamens ausgeglichen ha- Hinterhof ben. (…) Hummel wandte sich dann dem Rufenden „Wüppermannsche Hof“/„Wüp - zu und quittierte mit einem fröhlichen Winken. Dieses permanns Platz“; „Hummel“ gute Verhältnis hielt an, bis der Stadtsoldat a. D. er- alias Wilhelm Benz (19. Jh.) krankte, ins Lohmühlenkrankenhaus eingeliefert wurde und dort im Alter von 41 Jahren starb. (…) Nun wollte es der Zufall, dass bald nach dem Ab- scheiden Hummels ein neuer Mieter im Hof Dreh- „Hummel“ bahn 36 einzog, der Wasserträger Wilhelm Benz. Schräg gegenüber von „Sagebiel’s Etablissement“ befand sich bis zum Bau des Gebäudes der Justizbe- hörde in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts der „Wüppermannsche Hof“. Hier wohnte der über Ham- burgs Grenzen hinaus bekannte „Hummel“. In Wirk- lichkeit hieß er Wilhelm Benz (1786–1854). Johannes Sass hat in einem Buch über Hamburger Originale den Lebensweg „Hummels“ nachgezeichnet: „Um zu verstehen, wie aus dem Benz ein Hummel wurde, muß erst einmal ein alter Stadtsoldat namens Hum- mel vorgestellt werden. Daniel Christian Hummel wohnte nach seiner Verabschiedung im Hofe des Hauses Drehbahn 36. (…) Hummel soll klein und etwas dicklich gewesen sein und trug, wenn er seinen täglichen Spaziergang über den Wall machte, immer noch den roten Rock seiner ehemaligen Artilleris- tenuniform. (…) Wenn auch die Erwachsenen nicht groß von ihm Notiz nahmen, so wusste er sich doch bei der Jugend beliebt zu machen, indem er gern von seinen Kriegserlebnissen erzählte. (…) Jungen, die einander auf der Straße begegnen, pflegen sich als Ersatz für eine wortreiche Begrüßung mit Hof Drehbahn 36, 1913, Abriss 1913. dem Namen anzurufen (…). Der Ausruf ‚Hummel‘ Staatsarchiv Hamburg 72 DREHBAHN 36–39 · „Hummel“

Als Hummel durch den Tod des Vaters eine Erb- Eimer absetzen und den Jungen nachlaufen, war schaft, bestehend aus einer goldenen Tabakdose und nicht ratsam, sie wären wohl bald außer Reichweite einigem Geld, bekam, glaubte er etwas Rechtes dar- gewesen. Mit einem Stein oder einem Stück Holz zu zustellen, lächelte allen vorübergehenden Schönen werfen, wäre auch verfehlt gewesen, da sie meistens zu und verliebte sich ernstlich in eine Schenkmam- aus sicherer Deckung vorgingen. So blieb ihm denn sell. Sobald er sich mit ihr verlobt hatte, übergab er nur sein Mundwerk, und er gebrauchte es, wie es ihr die wertvolle Tabakdose und händigte ihr das jeder Hafenlöwe, jeder Lastenträger, Kutscher und Geld aus, damit sie die nötigen Anschaffungen für Speicherarbeiter zu brauchen pflegt, wenn ihm etwas den künftigen Hausstand besorge. Die Schenkmam- zugemutet wird, was gegen seine Standesehre geht. sell ging mit einem Seemann durch und vergaß, ihm Der Unanständige war eben der, der diesen Ausbruch Dose und Geld zurückzugeben. Diese Enttäuschung hervorrief. war für das einfache Gemüt des jungen Mannes zu Man sollte meinen, Wilhelm Benz hätte es gemerkt, viel. Er wurde trübsinnig und verbittert. (…) dass er durch seine stets gleiche Antwort die Straßen - In dieser seelischen Verfassung zog er in den Hof jungen immer aufs neue zum gleichen Anruf veran- Drehbahn 36, wo die Erinnerung an den alten Stadt- lasste, dass es für sie zu einer Art Sport wurde, diese soldaten noch nicht erloschen war. Auch dieser neue Antwort (Mors, Mors) herauszufordern. Offenbar ge- Einwohner war eine auffällige Erscheinung: lang und hörte er doch zu den geistig Schwachen. (…) dürr, schweigsam und leicht reizbar (…). Der hohe 1848 wurde die Wasserkunst in Rothenburgsort in Hut und die durch die geschulterte Last immer gleich Betrieb genommen. Wenn auch nicht gleich jede bleibende gestraffte Haltung trugen wesentlich dazu Wohnung eine Wasserleitung bekam, so doch jedes bei, ihn als eine komische Figur anzusehen. Das galt Haus oder mindestens jeder Hof. Damit aber war vor allem für die Straßenjungen (…). Und da sich dem Geschäft der Wasserhändler die Grundlage ent- ein Name gar leicht auf einen Nachfolger übertragen zogen. Auch der Kundenkreis Benzens wurde klein lässt, wenn dieser wie jener etwas Originelles an und kleiner. Schließlich reichten seine Einnahmen sich hat, so wird es nicht lange gedauert haben, bis zu seinem Unterhalt nicht mehr aus. Er stand mit- ihm das erste Mal ein Hummel-Hummel! nachgeru- tellos da. Aus dieser Not befreite ihn 1853 die Auf- fen wurde. Es wäre wohl dabei geblieben, wenn Wil- nahme in das Werk- und Armenhaus. Ein Jahr war helm Benz den Zuruf der Jungen nicht beachtet es ihm noch vergönnt, sich vom täglichen Kampf hätte. (…) Aber Benz ärgerte sich darüber und mit den Straßenjungen zu erholen, dann starb er.“73) musste seinem Ärger irgendwie Luft machen. Die

12. STATION Gebäudekomplex der Justizbehörde

Drehbahn 36/ Nachdem schon kurz nach seiner Eröffnung 1903 Caffamacherreihe/ das Ziviljustizgebäude am Sievekingplatz für die Be- Dammtorwall diensteten der Justizverwaltung räumlich zu klein Gebäudekomplex der Justizbe- geworden war, kaufte der Senat ein großes mit 48 hörde (Standort seit: 1926, Fachwerkhäusern aus dem 17. und 18. Jahrhundert Erweiterung: 1980/82); Verstei- bebautes Grundstück zwischen Dammtorwall und gerungshallen des Gerichtsvoll- Drehbahn (Drehbahn 36–45 und Dammtorwall 57– zieheramtes (hier behandelte 95), um dort ein Verwaltungsgebäude für die Justiz- Zeit: NS-Zeit); Öffentlicher behörde errichten zu lassen, das der Postzollabfer- Dienst und Nationalsozialismus tigung, dem Gerichtsvollzieheramt, der Vormund-

73 Johannes Sass: Hamburger Orgi- nale. Hamburg o J., S. 7–11. DREHBAHN 36 · Justizbehörde 73

Versteigerungshallen des Gerichtsvollzieheramtes

Während der NS-Zeit bereicherten sich viele Ham- burgerinnen und Hamburger an den konfiszierten Möbeln und anderen Gegenständen von deportier- ten und ausgewanderten Jüdinnen und Juden und Sinti und Roma. Auch in den Versteigerungshallen des Gerichtsvollzieheramtes im Hof des Justizgebäu - des Drehbahn 36 wurden diese Sachen und Güter versteigert. Seit 1941 trafen zahlreiche Transporte mit konfiszier - tem Besitz von Juden in Hamburg ein. Vor allem Einrichtungsgegenstände aller Art wurden an Kauf- interessenten aus Hamburg und seiner norddeut- schen Umgebung verkauft und versteigert. Die öf- fentlichen Versteigerungen, die teilweise durch gewerbliche Auktionatoren, teilweise durch Ge- Häuserzeile Drehbahn 36–40 vor dem Abriss der Häu- richtsvollzieher durchgeführt wurden, begannen in ser in den 20er Jahren des 20. Jh. zugunsten des Baus der Hansestadt im Februar 1941, als die Gestapo des Justizbehördengebäudes. Staatsarchiv Hamburg auf Anweisung des Reichsstatthalters das Umzugs- gut jüdischer Auswanderer beschlagnahmte, das schaftsbehörde und dem Jugendgericht dienen sollte. durch den Kriegsbeginn 1939 nicht mehr hatte ver- „Das Gerichtsvollzieheramt erhielt das erste bis vierte schifft werden können. Es umfasste etwa 3000–4000 Obergeschoss am Dammtorwall, einen Teil des linken containerähnliche „Lifts“, die bis dahin im Hambur - Seitenflügels sowie auf dem Hof Lager- und Verstei- ger Freihafen gelagert hatten. In ihnen befand sich gerungsräume (…). Die Post-Zollab fer tigungsstelle, das Umzugsgut von jüdischen Auswanderern aus seit 1888 auf dem Grundstück zwischen Gänsemarkt, allen Teilen Deutschlands, weil die meisten jüdi- Valentinskamp und der Neuen ABC Straße, wurde schen Emigranten über den traditionellen Auswan- im Untergeschoss und Erdgeschoss am Dammthor- dererhafen Hamburg ausgereist waren. Die erzielten wall sowie im Erdgeschoss des Verbindungsflügels Versteigerungserlöse wanderten auf ein Konto der untergebracht. Die Vormundschaftsbehörde (…) er- Gestapo bei der Deutschen Bank und erreichten bis hielt das erste bis dritte Obergeschoss des Verbin- Anfang 1943 eine Höhe von 7 200 000 RM. Auch der dungsgebäudes.“74) Besitz deportierter Sinti und Roma wurde öffentlich 1926/27 wurde dann für die Justizbehörde an der an die Bevölkerung versteigert: So fand beispiels- Drehbahn nach Plänen von Fritz Schumacher weise am 5. Dezember 1942 an der Drehbahn eine (1869– 1947) ein Erweiterungsbau aus dunklem Ol- öffentliche Versteigerung von Schmucksachen „um- denburger Klinker für den zuerst am Dammtorwall gesiedelter Zigeuner“ statt, die zuvor in der Tages- erbauten Gebäudekomplex errichtet. 1980/82 wur- presse angekündigt worden war. den die beiden Bauten am Dammtorwall und an Ziel der Versteigerungen war es, „die Waren zu an- der Drehbahn durch ein von den Architekten Karl- gemessenen Preisen in möglichst weite Kreise der heinz Riecke (geb. 1920) und Gustav Karres (geb. Bevölkerung zu bringen“, versicherten die beteilig- 1925) errichtetes Gebäude an der Caffamacherreihe ten Dienststellen in der Presse. Eine bevorzugte Be- verbunden. handlung erfuhren dabei Ausgebombte, junge Ehe-

74 Wilhelm Melhop: Historische To- pographie der Freien und Hansestadt Hamburg von 1895–1920. Bd. 1. Ham- burg 1923, S. 103. 74 DREHBAHN 36 · Versteigerungshallen des Gerichtsvollzieheramtes

große Mengen jüdischen Besitzes nach Hamburg, die in Westeuropa im Rahmen der „Aktion M“ (Mö- bel-Aktion) beschlagnahmt worden waren. Die Hamburger Bevölkerung, die vom Bombenkrieg besonders stark betroffen war, profitierte von den Lie ferungen der „Möbel-Aktion“ in besonderem Maße. So gelangten auf dem Wasserwege mehrere Tausend Wohnungseinrichtungen deportierter nie- derländischer Juden in die Hansestadt. Der Gesamt- umfang des „Judenguts“, das von März 1942 bis Juli 1943 allein von Holland nach Hamburg transportiert wurde, betrug 45 Schiffsladungen mit insgesamt 27 227 Tonnen an Möbeln, Einrichtungsgegenstän- den, Kleidung etc. Darüber hinaus transportierte die Deutsche Reichsbahn bis 1944 insgesamt 2699 Eisen- bahnwaggons mit jüdischem Besitz nach Hamburg. Insgesamt dürfte allein in Hamburg in den Jahren Ehemalige Versteigerungshallen des Gerichtsvollzie- 1941–1945 das gesamte Eigentum von mindestens heramtes im Hof der Justizbehörde. Auch hier wurden 30 000 jüdischen Haushalten aus Hamburg, Deutsch- in der NS-Zeit konfiszierte Möbel und andere Gegen- land und Westeuropa öffentlich versteigert worden stände von deportierten und ausgewanderten jüdi- schen Mitbürgerinnen und Mitbürgern und von Sinti sein. Da nach den erhalten gebliebenen Listen der und Roma versteigert. Photo: Jürgen Brömme Versteigerer auf den Besitz eines einzelnen Juden ungefähr zehn Erwerber kamen, dürften – berück- paare und Rückwanderer nach Deutschland, die sichtigt man eine Vielzahl von Mehrfacherwerbun- von der Auslandsorganisation der NSDAP betreut gen – in den Jahren 1941–1945 mindestens 100 000 wurden. Darüber hinaus bedienten sich zahlreiche Bewohner Hamburgs und der unmittelbaren nord- Dienststellen des Staates und der NSDAP aus dem deutschen Umgebung entsprechen de Gegenstände so genannten „Judengut“: Die Sozialverwaltung legte ersteigert haben. Insgesamt reichte der Abnehmer- sich einen entsprechenden Fundus an Möbeln und kreis dieses jüdischen Besitzes von der „einfachen Hausratsgegenständen an, der Oberfinanzpräsident Hausfrau“ aus Hamburg bis zu Kaufhäusern aus dem und der SD-Leitabschnitt Hamburg komplettierten Emsland, die sich bei den Versteigerern regelmäßig ihre Ausstattung mit Büromöbeln, eine Kommission nach neuen Lieferungen erkundigten. Ein ehemaliger der Hamburger Kunsthalle übernahm Gemälde aus Auktionator erklärte nach 1945, dass die Gegenstän - dem Umzugsgut, und die Hamburger Öffentlichen de aus jüdischem Besitz „meist zu Schleuderpreisen Bücherhallen bereicherten sich an Privatbibliothe- weggegangen“ seien und insbesondere bei „Wert- ken von Juden. gut“, wie Möbeln, Teppichen und Pelzen, eine erheb- Von Februar 1941 bis zum April 1945 verging in liche Diskrepanz zwischen tatsächlichem Wert und Ham burg kaum ein Tag, an dem nicht jüdisches Ei- dem Versteigerungserlös bestanden habe. gentum öffentlich angeboten und versteigert wurde. Die ehemalige Hamburger Bibliothekarin Gertrud Für den ausreichenden Nachschub sorgte zum einen Seydelmann [geb. 1913] berichtete in ihren autobio- die „Vermögensverwertungsstelle“ des Hamburger graphischen Aufzeichnungen, in welch großem Um- Ober finanzpräsidenten, die den Versteigerern ab fang die Bevölkerung an der „Heimatfront“ von den Herbst 1941 die Wohnungseinrichtungen deportierter Raubzügen – insbesondere von der Versteigerung jü- Hamburger Juden zuführte. Zum anderen gelangten dischen Besit zes – profitierte: „Wir hatten noch keine DREHBAHN 36 · Versteigerungshallen des Gerichtsvollzieheramtes · Öffentlicher Dienst und Nationalsozialismus 75

Versorgungsnöte. Noch rollten ja aus dem ganzen, ich vorsichtig beeinflussen, indem ich sie aufklärte, von uns überfallenen und ausgeplünderten Europa woher diese Schiffsladungen voll bester Haushalts- die geraubten oder mit wertlosem Papiergeld bezahl- gegenstände kamen und ihnen das alte Sprichwort ten Güter auf uns zu. Noch wurden ja unsere Le- sagen: ,Unrecht Gut gedeihet nicht.‘ Und sie richteten bensmittelkarten, Kleiderkarten, Schuhbezugsscheine sich danach.“75) korrekt eingelöst. Noch brachten die Männer auf Ur- Nach 1945 mussten die ersteigerten Gegenstände laub aus den besetzten Gebieten Fleisch, Wein, Tex- den jüdischen Besitzern bzw. ihren überlebenden tilien, Tabak nach Hause. Noch lagen im Hafen die Nachfahren nicht wieder zurückgegeben werden, Schiffe mit dem beschlagnahmten jüdischen Eigen- weil die Bundesrepublik finanzielle Entschädigungs- tum aus Holland. Die einfachen Hausfrauen auf der zahlungen leistete. Noch heute dürften sich daher Veddel trugen plötzlich Pelzmäntel, handelten mit – oft ohne Wissen der jetzigen Besitzer – in zahlrei- Kaffee und Schmuck, hatten alte Möbel und Tep - chen Hamburger Wohnungen Gegenstände befin- piche aus dem Hafen, aus Hol land, aus Frankreich. den, die im Zeitraum von 1941–1945 bei entspre- Es war das geraubte Eigentum holländischer Juden, chenden Versteigerungen erworben worden sind. die – wie ich nach dem Krieg erfahren sollte – schon Text: Frank Bajohr in die Gaskammern abtransportiert waren. Ich wollte damit nichts zu tun haben. Auch in meiner Ableh- nung musste ich bei den primitiven, sich raffgierig Öffentlicher Dienst und bereichernden Menschen, insbesondere bei den Nationalsozialismus Frauen, vorsichtig sein. Ich durfte meine wahren Ge- danken nicht ausdrücken. Nur einige, nicht so eu- In seiner Publikation „‚… anständig und aufopfe- phorische Frauen, von denen ich wusste, dass ihre rungsbereit‘. Öffentlicher Dienst und Nationalsozia- Männer gestandene Sozialdemokraten waren, konnte lismus in Hamburg 1933 bis 1945“ beschreibt Uwe Lohalm die Mechanismen von Entlassung und Ein- stellung im öffentlichen Dienst während der NS-Zeit, so auch in der Justiz-, der Schul- und der Finanzbe- hörde, deren Gebäude auf diesem Rundgang rund um den Infoladen der „Landeszentrale für politische Bildung“ und des „Jugendinformationszentrums“ gestreift werden. Im Folgenden soll aus der oben genannten Schrift von Uwe Lohalm zitiert werden, wobei die Justizbehörde hier stellvertretend für die Praxis der Einstellung und Entlassung im öffentlichen Dienst während der NS-Zeit steht: „(…) Die Natio- nalsozialisten, die in Hamburg mit dem 8. März 1933 an die Macht gelangten, beschränkten sich – nach einer kurzen Phase der Machtaneignung, in der vor allem führende politische Gegner und jüdi- sche Bedienstete teils sogar noch vor dem Erlass des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamten- tums vom 7. April 1933 aus ihren Stellungen entfernt Der Eingangsbereich des Gebäudes der Justizbehörde wurden – darauf, die Schlüsselpositionen zu beset- an der Drehbahn. Die Wände haben blaue Kacheln, die Decke ist in den Farben rot und weiß gehalten. zen und zugleich die große Schar arbeitsloser Par- Photo: Marina Bruse teigänger mittels des öffentlichen Dienstes in Lohn

75 Gertrud Seydelmann: Gefährdete Balance. Ein Leben in Hamburg 1936–1945. Hamburg 1996. 76 DREHBAHN 36 · Öffentlicher Dienst und Nationalsozialismus

und Brot zu bringen. Im Wesentlichen mussten sie nem gleichmäßigen Zugriff. Vielmehr ließ man sich sich indessen aus Mangel an eigenen qualifizierten offensichtlich gleichfalls von der Überzeugung lei- Kräften weitgehend auf die überkommenen Kader ten, dass bei der Lösung der weiterhin anstehenden der Beamten und Angestellten stützen. Und diese großen Aufgaben auf fachlich ausgebildetes und er- überdauerten nach dem Krieg auch die Entnazifi- fahrenes Personal nicht verzichtet werden konnte, zierung. In deren Verlauf war es zunächst zu zahl- so dass manche Position selbst in leitenden Stel- reichen Entlassungen gekommen, die aber in den lungen unangetastet blieb. (…) folgenden Jahren weitgehend rückgängig gemacht Nach der begrenzten Öffnung der Partei für neue wurden, so dass Bürgermeister Max Brauer Eintritte im Jahre 1937 wies Reichsstatthalter Karl [1887–1973] erklären konnte: ‚Wir haben bei dem, Kaufmann [1900–1969] die Behördenleiter generell was in Hamburg bisher geschehen ist, eine liberale, an, die ihnen unterstehenden Beamten und Ange- eine faire, eine Behandlung Platz greifen lassen, die stellten aufzufordern, um eine Aufnahme in die Par- wirklich nicht nur ein Auge zugedrückt hat, sondern tei nachzusuchen. (…) Der höchste Repräsentant beide Augen haben wir zugedrückt.‘ (…) der Justizverwaltung in Hamburg, Curt Rothenber- Am 10. Mai 1933 machte der damalige Erste Bür- ger [1896–1959], hatte sich schon im Mai 1937 germeister Carl Vincent Krogmann [1889–1978] in schriftlich mit der Bitte an die Gerichtspräsidenten seiner Regierungserklärung vor der Bürgerschaft die gewandt, ‚unverzüglich sämtliche Beamten und An- personalpolitische Richtung der Nationalsozialisten gestellten ihres Dienstbereichs (…) zu befragen, ob deutlich: ‚Der neue Staat kann nur solche Beamte sie einen solchen Aufnahmeantrag stellen‘ wollten. gebrauchen, die bereit sind, im Sinne der Weltan- Wenngleich er sein Interesse daran erklärte, ‚dass schauung des Volksführers [1889–1945] möglichst viele Beamten und Angestellten von der und seiner großen Freiheitsbewegung an der weite- sich jetzt bietenden Gelegenheit Gebrauch‘ machten, ren Durchführung der Erhebung schaffend mitzu- sollte doch ‚jedweder Druck‘ in dieser Richtung ver- wirken. Wer sich zu den Zielen dieser Bewegung mieden werden. Immerhin waren aber sämtliche nach seiner politischen Vergangenheit oder aus in- Anträge bei ihm einzureichen. (…) nerer Überzeugung nicht bekennen kann, […] muss Insgesamt ist davon auszugehen, dass der Anteil aber den Dienst quittieren.‘ der NSDAP-Mitglieder an der Beamtenschaft des öf- Für alle diese Fälle bot dann das Gesetz zur Wieder- fentlichen Dienstes in Hamburg am Ende bei über herstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 90% gelegen hat. (...) die gesetzliche Grundlage. Damit wollten die Na- Der öffentliche Dienst war auf Dauer einem vielsei- tionalsozialisten im Reich, in den Ländern und Kom- tigen, mehr oder weniger intensiven Gesinnungs- munen den öffentlichen Dienst von ihren aus politi- zwang und Formierungsterror ausgesetzt. Formal- schen und rassischen Gründen missliebigen Personen rechtlich begannen diese mit dem Berufsbeamten- säubern und Platz schaffen für die eigene Klientel gesetz, setzten sich fort in zahlreichen Verordnungen und so den öffentlichen Dienst zu ihrem eigenen per- und Erlassen zur Anstellung und Beförderung und sonalen Herrschaftsinstrument ausbauen. (…) mündeten ein in das Deutsche Beamtengesetz vom Die grundsätzliche Tendenz des Berufsbeamtenge- 26. Januar 1937. Diese Entwicklung kulminierte im setzes – die Ausschaltung von aus politischen und Krieg schließlich in dem Beschluss des großdeut- rassischen Gründen unerwünschten Mitarbeitern – schen Reichstags vom 26. April 1942, der dem ‚Füh- wurde berücksichtigt, so dass Kommunisten, aktive rer‘ das uneingeschränkte Recht einräumte, nicht Sozialdemokraten, Gewerkschaftler sowie Juden aus nur jeden Soldaten, jeden Beamten, Richter, Staats- den Dienststellen der Behörden auszuscheiden hat- angestellten oder -arbeiter, sondern schlechthin ‚je- ten. Jedoch geschah dies, mit Ausnahme der die den Deutschen‘, ‚mit allen ihm geeignet erscheinen- Juden betreffenden Maßnahmen, keineswegs in ei- den Mitteln zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten DREHBAHN 36 · Öffentlicher Dienst und Nationalsozialismus 77 und bei Verletzung dieser Pflichten […] ihn im be- leistungsfähig. Es war somit der öffentliche Dienst sonderen ohne Einleitung vorgeschriebener Verfah- und nicht die nationalsozialistischen Karrieristen ren aus seinem Amte, aus seinem Rang und seiner und Korruptionsträger in ihm, der – eingebettet in Stellung zu entfernen‘. (…) Dem politischen Kon- einen breiten gesellschaftlichen Grundkonsens mit formitätsdruck war durch den Rückzug auf eine un- dem nationalsozialistischen Regime – das national- politische Fachkompetenz nur selten auszuweichen, sozialistische System funktionstüchtig erhielt. (…) und er führte oft zu Konzessionen in Bezug auf Ein- Das Verwaltungshandeln der öffentlich Bediensteten ordnung in die parteipolitischen Formationen, offi- [deutet] (...) darauf hin, dass sich die überwiegende zielle Loyalitätsbekundungen und andere Rituale. Er Mehrheit weiterhin mit den Zielsetzungen ihrer je- machte aus den öffentlich Bediensteten quasi politi- weiligen Behörde und Ämter zu identifizieren ver- sche Beamte, deren Stellung und damit auch mate- mochte. Es gab nicht wenige, die die Normen des rielle Sicherung aus politischen Gründen stets zur demokratischen Rechtsstaates als Fesseln und die Disposition standen. Er stellte somit ein wesentliches Pluralität der Meinungen als Last empfunden hatten Instrument zur Kontrolle und Disziplinierung dar, und nun vermeinten, dass ihnen die neue Zeit mehr gegenüber einer trotz aller generellen und individu- Möglichkeiten zu effektiverem und entschlossene- ellen nationalsozialistischen Ämterpatronage weit- rem Handeln eröffnete. (…) gehend intakt gebliebenen Verwaltung. Darüber hinaus zeigten die widerspruchslose Hin- Die Hinwendung zur NSDAP und zu den Parteior- nahme der personalpolitischen Säuberungen wie die ganisationen wurde nachträglich – wie die zahllosen weitgehend geschlossene politische Formierung, dass Zeugnisse in den Akten der Entnazifizierungskom- ein im öffentlichen Dienst möglicherweise vorhande- mission zeigen – häufig mit ähnlichen Argumenta- nes Widerstandspotenzial von vornherein ausgeschal- tionsmustern gerechtfertigt. Sie sei teils aus Sym- tet worden war und es danach kaum Ansatzpunkte pathie für die neue Bewegung geschehen, von deren zu seiner Neubildung gab. Wo sich danach Ablehnung Entschlossenheit und Geschlossenheit man angeb- zeigte, war diese eher diffus oder nur punktuell. Auch lich allein noch die Behebung der großen Not er- fortbestehender weltanschaulicher Dissens führte hoffte, teils aus prinzipieller Loyalität, mit der sich nicht zur Verweigerung des Dienstes. Das Bewusstsein vornehmlich viele Beamte dem Staat unverbrüchlich der allermeisten Mitarbeiter war vielmehr davon ge- verbunden fühlten. (…) prägt, persönlich redlich und verwaltungsgemäß stets Größtenteils resultierte solches Verhalten indessen korrekt gegenüber jedermann und in jeglicher Ange- wohl auch aus der Angst, die mit Mühe aufgebaute legenheit gehandelt zu haben. (…) Stellung zu verlieren, oder aus der Sorge, in der be- Diese Denk- und Verhaltensweisen der Funktions- ruflichen Karriere benachteiligt zu werden. (…) Da- gruppen auf der mittleren und unteren Ebene der rüber hinaus zeichnete gleichfalls ein hohes Maß Verwaltung trugen wesentlich dazu bei, dass die an Anpassungsbereitschaft, an bürokratischem Eifer nationalsozialistische Herrschaft eine relativ hohe und Funktionärsehrgeiz das Verhalten vieler im öf- Effizienz und Stabilität ereichte. (…) fentlichen Dienst Tätigen aus. (…) Die Bilanz der nationalsozialistischen Verfolgungs- Reichsstatthalter Karl Kaufmann hatte zwar seine und Vernichtungspolitik, zu der die öffentliche Ver- nationalsozialistische Kamarilla in den hamburgi- waltung in Hamburg beitrug, sah folgendermaßen schen Staatsapparat eingebaut und die öffentliche aus: Innere Verwaltung, Finanz- und Justizverwal- Verwaltung von politischer und fachlicher Partizi- tung waren mitverantwortlich zunächst für den ‚bür- pation weitgehend ausgeschlossen, doch blieb diese gerlichen Tod‘ der Hamburger Juden, bevor sie mit- während der gesamten nationalsozialistischen Zeit halfen, auch deren physische Vernichtung ins Werk in ihrem Kernbestand erhalten und in ihrer admi- zu setzen. Zehntausend Juden wurden unter Zurück- nistrativen Funktion bis 1945 nahezu ungebrochen lassung fast ihrer gesamten Habe aus Hamburg ver- 78 DREHBAHN 36 · Öffentlicher Dienst und Nationalsozialismus DAMMTORSTRASSE 1/ECKE VALENTINSKAMP · „Deutschlandhaus“ · „Ufa-Palast Hamburg“

trieben. 1500 jüdische Betriebe wurden zwangsent- nen Eigentums übernahm das Amtsgericht. Zwei eignet, das heißt arisiert oder liquidiert. Annähernd Jahre später wurden weitere 244 Zigeuner nach 9000 Juden wurden in den Osten deportiert und dort Auschwitz abtransportiert. Nur wenige sollten über- ermordet. Ihr Besitz und ihre Vermögen wurden er- leben. Die Arbeitsverwaltung in Hamburg vermittelte fasst und ‚verwertet‘. In Durchführung der national- und betreute während der Kriegsjahre ca. 400 000 sozialistischen Gesundheits- und Rassenhygienepo- Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, die in Ham- litik ‚sortierten‘ Gesundheits- und Sozialverwaltung burg im ‚Kriegseinsatz‘ waren, zeitweilig bis zu über 4000 psychisch kranke Hamburger ‚aus‘; sie 80 000 zur gleichen Zeit. [siehe auch S. 57, Zwangs- wurden aus Hamburg abtransportiert, fast 2700 wur- arbeiterlager] Hunderte von Hamburgern wurden den in Zwischen- oder Tötungsanstalten umgebracht. aus politischen Gründen ins Gefängnis und als so Die gleichen Verwaltungen stuften in Zusammenar- genannte Schutzhäftlinge in die frühen Hamburger beit mit Hamburgs Erbgesundheitsgericht mindestens Konzentrationslager Wittmoor und Fuhlsbüttel ver- 16 000 Hamburger als biologisch oder sozial ‚min- bracht, deren Verwaltung sich seit Dezember 1933 derwertig‘ herab und ließen sie in Hamburger Kran- die Landesjustizverwaltung, die Gefängnisbehörde kenhäusern zwangssterilisieren. Mediziner des Ham- und die Staatspolizei teilten. Die Hamburger Krimi- burger Tropeninstituts erprobten im Februar 1942 nalpolizei ging in Zusammenarbeit mit der Gesund- neue Medikamente gegen Flecktyphus an KZ-Gefan- heits- und Fürsorgebehörde im großen Maßstab ge- genen in Neuengamme. Über 900 so genannte Zi- gen die Prostitution vor und nahm allein 1933 über geuner, fast zwei Drittel Hamburger, wurden im Mai 1500 ‚Inschutzhaftnahmen’ vor. Im Dezember 1940 1940 durch die Kriminalpolizei im Hamburger Hafen begann die Hamburger Gestapo damit, Einweisungen interniert und nach Polen ins so genannte General- auch in das Konzentrationslager Neuengamme vor- gouvernement verschleppt; die Abwesenheitspflege zunehmen, in dem über 50 000 Häftlinge ums Leben für größere und wertvollere Teile des zurückgelasse- kamen. (…)“76)

13. STATION Architekten“ ausgeschlossen. Sein Büro beschäftigte sich nun nur noch mit der Verkleinerung von Woh- Dammtorstraße 1/ nungen jüdischer Familien. 1938 emigrierte Fritz Ecke Valentins- Block mit seiner Frau nach Los Angeles, wo er als kamp Photograph tätig wurde. „Deutschlandhaus“ (Standort: Auch Ernst Hochfeld, der ebenfalls jüdischer Her- seit 1928/29); kunft war, emigrierte 1938 mit seiner Frau und sei- „Ufa-Palast Hamburg“ (Stand- ner Tochter nach Los Angeles, wo er zunächst als ort: 1929–1942 ) set designer bei der Filmindustrie in Hollywood tätig wurde und später als Chefzeichner in verschiedenen Architektenbüros arbeitete. „Deutschlandhaus“ „Ufa-Palast Hamburg“ Das „Deutschlandhaus“ wurde 1928/29 nach Plänen der Architekten Fritz Block (1889–1955) und Ernst Hamburgs Oberbaudirektor Fritz Schumacher (1869– Hochfeld (1890–1985) im „internationalen Stil“ er- 1947) hatte eine Vision: Der Gänsemarkt sollte um- baut, mit horizontalen Fensterbänken und abgerun- gestaltet werden, an der Ecke Valentinskamp ein rie- deten Ecken. Fritz Block wurde nach 1933 auf Grund siges Kontorhaus entstehen. Es war zugleich die Ge- seiner jüdischen Herkunft aus dem „Bund Deutscher legenheit, das Nadelöhr zwischen Gänsemarkt und

76 Zit. mit freundlicher Genehmigung bis 1945. Hamburg 2001. (Veröffentli- des Autors aus dessen Publikation. chungen der Forschungsstelle für Zeit- Uwe Lohalm: „… anständig und aufop- geschichte in Hamburg.) ferungsbereit“. Öffentlicher Dienst und Nationalsozialismus in Hamburg 1933 DAMMTORSTRASSE 1/ECKE VALENTINSKAMP · „Ufa-Palast“ 79

„Ufa-Palast“ im „Deutschlandhaus“. Staatsarchiv Hamburg

Stephansplatz zu beseitigen: Die schmale Damm - der Vollendung des Baues die Direktion zur Ortbe- torstraße wurde wesentlich verbreitert. Und man sichtigung. „Man betritt ebenerdig vom Valentins- konnte etwas für die Belebung der City tun, indem kamp die sehr geräumige Kassenhalle“, schilderte man den Bürokomplex verband mit einem Restau- ein Journalist den ersten Eindruck. „Die Wände des rant, einem Café, einer Tanzbar und einem Filmpa- Theaters sowie die Rangbrüstung sind mit kaukasi- last, wie es noch keinen in der Stadt gab. Dafür schem Nussbaum verkleidet, die Flächen selbst sind kam nur ein großer Konzern in Frage, die „Ufa“, mit vergoldeten Bändern aufgeteilt.“ die hier das stolze Flaggschiff ihrer Kino-Flotte er- Neben dem Prunk begeisterte die technische Aus- richtete. Der „Ufa-Palast Hamburg“ war mit 2667 stattung, aber auch das moderne Konzept: Der „Ufa- Plätzen das größte Kino Europas. Es stand nicht in Palast“ sollte nicht nur Kino sein, sondern ein Ort der Hauptstadt, in der Filmmetropole Berlin, son- großstädtischen Entertainments. „Beim Projekt lag dern in der einstigen Kinoprovinz Hamburg. die Idee des amerikanischen ‚Movietheaters‘ zugrun - Ende 1928 begannen die Ausschachtungsarbeiten, de“, erklärte Diplom-Ingenieur Unruh, „jener gro- nachdem zuvor rund 250 Mieterinnen und Mieter ßen Häuser wie Roxy und Paramount in New York, aus dem damaligen Gängeviertel ausquartiert wor- mit mehreren Tausend Sitzplätzen, in denen in un- den waren. In Rekordzeit wurden rund 15 000 qm unterbrochener Folge Film, Sketch, Konzert, Ballett, Bürofläche aus dem Boden gestampft; rund um die Varieté usw. auf einer meist sehr breiten, aber wenig Uhr waren bis zu 1500 Arbeiter in drei Schichten tiefen Bühne sich abspielen.“ Genau das schwebte mit dem Bau beschäftigt. Sechs Millionen Mark kos- der „Ufa“ vor: Man setzte nicht nur auf den aufkom - tete der repräsentative Bau, dem man den Namen menden Ton film, sondern behielt sich die Option „Deutschlandhaus“ gab. Voller Stolz lud kurz vor auch für andere Unterhaltungsveranstaltungen vor. 80 DAMMTORSTRASSE 1/ECKE VALENTINSKAMP · „Ufa-Palast“

So wurde gleich ein versenkbarer Orchestergraben, „Presco & Campo“ (Exzentriker), „Lai Foun“ (asiati- groß genug für 50 Mann, und eine richtige Bühne sche Artistik), „Little Esther“ („Der kleine Negerstar“) mit Schnürboden und allen Raffinessen eingebaut, usw. Artisten sind ein internationales Völkchen, schon deren Ausmaße – 18 Meter tief, 39 Meter hoch und die Künstlernamen haben den Reiz des Exotischen – 26 Meter breit – so manches konventionelle Schau- trotzdem durften während der NS-Zeit nur „arische“ spielhaus übertraf. Volksgenossen auftreten. Für jeden Künstler und jede Die glanzvolle Eröffnung fand am 21. Dezember Künstlerin musste zuvor bei der Gewerbepolizei die 1929 statt. Die Gäste erhielten eine Festschrift, die Erlaubnis eingeholt werden, und die Durchsicht der den Bau des Kinos als nationale Überzeugungstat Akten raubt einem manche Illusion. Die Geschwister darstellte: „Wenn die Ufa den Mut hat, aller Krisen- Swenson z. B. entpuppen sich als Char lotte und luft in Deutschland zum Trotz in Hamburg ein Haus Bianca Knopfnatel, geboren in Neukölln. zu eröffnen, wie Deutschland kein zweites besitzt, Es kam sogar vor, dass man auf den Film ganz ver- so offenbart sie damit den Glauben an die Genesung zichtete, den Abend als Modenschau oder Jahr- unseres wirtschaftlichen Lebens.“ Nach dem musi- marktsrummel aufzog. So auch im April 1935. Das kalischen Auftakt und der Wochenschau folgte ein Publikum war begeistert, doch nicht allen gefiel der Varietéprogramm, dessen Struktur über die Jahre Aprilscherz. Ein NSDAP-Ortsgruppenleiter schrieb unverändert bleiben sollte: Das argentinische Or- an die Gau-Propagandaleitung und legte das Pro- chester „Bacchia“ spielte Tangos, das amerikanische grammheft bei. Man möge doch einmal die Seite Tanztrio „Die drei Berkhoffs“ zeigte seine Kunst, mit dem Photo von Violet, Ry und Norman aufschla- und der Grotesk-Tänzer Harry Reso (1901–1986) de- gen: „Ohne über die Rassenzugehörigkeit zu spre- monstrierte seine Gelenkigkeit. Als Eröffnungsfilm chen, darf gesagt werden, daß der Gesichtsausdruck lief das Bergsteiger-Drama „Die weiße Hölle von des Partners nicht gerade anständig ist.“ Überhaupt Piz Palu“; zur Vorführung waren der Regisseur Ar- würden sich die Herren Künstler durch das Pro- nold Fanck (1889–1974) und seine Hauptdarstellerin gramm „jüdeln“. Besonders missfiel dem Nazi der erschienen – Leni Riefenstahl (1902–2003), damals Auftritt von Hugo Fischer-Köppe (1890–1937). „Er noch Schauspielerin. erscheint mit langwallendem Germanenbart, persi- Es erwies sich als schwierig, in einer Stadt wie Ham- fliert Hermann den Cherusker und erzählt zur Er- burg ein derart großes Kino allabendlich zu füllen. heiterung des anwesenden Publikums von den alten Im „Ufa-Palast“ kamen die Kassenschlager zur Erst- Germanen und ihrem Leben, welches nach seiner aufführung, 1931 z. B. „Bomben auf Monte Carlo“ Ansicht darin bestand, dass diese große Mengen mit Hans Albers (1891–1960) oder die Tonfilm-Ope- Meth tranken, im übrigen auf der faulen Bärenhaut rette „Der Kongreß tanzt“ mit Lilian Harvey (1906– lagen und zuweilen den Wald, das Feld und ihre 1968) und Willy Fritsch (1901–1973), den hier in Frauen bestellten.“ Der Beschwerdebrief blieb nicht vierzehn Tagen rund 75 000 Besucherinnen und Be- ohne Folgen. Zwei Tage später konnte Oberregie- sucher sahen. In der Regel wurden die Filme zwei rungsrat Jansen melden, dass man die beanstandeten Wochen lang im „Ufa-Palast“ gezeigt und wanderten Darbietungen inzwischen unterbunden habe. dann in die anderen Ufa-Kinos in den Stadtteilen Das Kino war in der NS-Zeit gleichgeschaltet, das weiter. Abgesehen von Kulturfilm-Matineen am machte sich auch im Programm des „Ufa-Palastes“ Sonn tagvormittag, dominierte im „Ufa-Palast“ der bemerkbar. Im größten Filmtheater der Stadt kamen Unterhaltungsfilm für die breite Masse. die „staatspolitisch wertvollen Filme“ heraus. Nach- Das Varieté-Programm vor der Filmvorführung ge- dem die Uraufführung am Geburtstag des „Führers“ hörte zu den Attraktionen des „Ufa-Palastes“. Man in der Reichshauptstadt zelebriert wurde, folgte am konnte dem Hansa-Theater Konkurrenz machen: die 1. Mai 1938 die feierliche Hamburg-Premiere von „Hudson-Wonders“ (vierzehnjährige Wunderkinder), Leni Riefenstahls „Olympia“-Film; anwesend waren DAMMTORSTRASSE 1/ECKE VALENTINSKAMP · „Ufa-Palast“ · DAMMTORSTRASSE 40/ECKE GÄNSEMARKT · Atelier des Malers Karl Prahl 81 DAMMTORSTRASSE 36 · Filiale des Kaufhauses „Gazelle“

Reichsstatthalter Karl Kaufmann (1900–1969) und vom St. Anscharplatz [siehe S. XX] einfanden, die Bürgermeister Carl Vincent Krogmann (1889–1978), hier auch Ausstellungen durchführten: Reinhold General [Wilhelm] Knochenhauer (1878–1939) sowie Zulkowski [1899–1966], Adolf Wriggers [1896– die Hamburger Olympia-Teilnehmer. Der „Ufa-Palast“ 1984] (…)“77), schreibt Maike Bruhns in ihrem Buch bildete, am 1. Oktober 1940, die Kulisse für die groß „Kunst in der Krise“. aufgezogene Erstaufführung des antisemitischen In seinem Atelier „fanden regelmäßig so genannte Hetzfilms „Jud Süß“ von Veit Harlan (1899–1964). ‚Mu senfeierabende‘ statt. (…) Zu den ‚Musenfeier- „Das Publikum war ergriffen. Es gab sogar donnern- abenden‘ lud Prahl mit selbstgedruckten Radierun- den Szenenbeifall“, vermerkte das „Hamburger Ta- gen ein. Es wurden Butterbrote gereicht und 450 geblatt“. Eine kritische Berichterstattung gab es nicht Pfennig Unkostenbeitrag kassiert.“78) mehr: Die Zeitungen schrieben, was ihnen vom Pro- Karl Prahl „war sehr frei, von Rücksichten auf Ge- pagandaministerium vorgeben wurde. sellschaft und Politik unabhängig“. Er „versuchte Am 10. Juli 1944 wurde das Kino im Innenhof durch (...), in seinem Atelier der geistigen Isolierung und Bomben größtenteils zerstört, während das Kontor- Eigenbrötelei entgegenzuwirken und zu freund- haus ausbrannte, aber stehen blieb. Die Reste des schaftlichen Begegnungen anzuregen. Die Musen- ausgebrannten Kinosaals wurden beseitigt, im Foyer feierabende wurden ein Netzwerk für vereinsamte ein Behelfskino eingerichtet. Im Mai 1945 beschlag- Künstler, hier kam es zum Austausch über nicht nahmten die britischen Besatzungstruppen das genehme Kunst und Kultur, wurde Geselligkeit ge- „Deutschlandhaus“, das nun „Hamburg House“ boten und die Idee einer Gegenwelt verwirklicht hieß und u. a. den „Victory Club“ (mit Billard-Saal) (…). Jeder Abend hatte ein eigenes Gesicht: Maler, für die Soldaten beherbergte. 1962 räumten die Eng- Schriftsteller und Musiker, Rezitatoren und Puppen- länder das Haus, 20 Jahre später wurde es grundle- spieler wetteiferten. Carl Albert Lange [1892–1952] gend saniert und renoviert. Vom ehemaligen „Ufa- trug aus seinem ‚Kolumbus‘ vor, [Wilhelm August] Palast“, dem einst größten Kino Europas, ist dort Hammond-Norden [1906 – vermisst seit 1943], Her- heute nichts mehr zu sehen. tha Borchert [1895–1985] sowie der niederdeutsche Text: Michael Töteberg Schriftsteller Dirks Paulun [1903–1976] aus ihren Dichtungen. Hugo Sieker [1903–1979, siehe auch S. 199] sprach über Kunst. (…) Man führte keine po- 14. STATION litischen Gespräche, aber man wusste, wes Geistes Dammtorstraße 40/Ecke Kind man war.“79) Gänsemarkt (alte Nummerierung) 15. STATION Atelier des Malers Karl Prahl (Standort: 1930–1940) Dammtorstraße 36 Filiale des „Korsetthauses

Auf der gegenüberliegenden Seite des „Deutsch- Gazelle“ (behandelte Zeit: NS- landhauses“ (Dammtorstraße 1, siehe S. 78) befand Zeit) sich in der Dammtorstraße 40, „im 5. Stock eines vormaligen Bordells“, zwischen 1930 und 1940 das „Korsetthaus Gazelle“ nannte sich eines der größten Atelier des Malers Karl Prahl (1882–1948). Das Haus jüdischen Filialbetriebe in Hamburg – eine Einzel- wurde 1943 durch Bomben zerstört. handelsfirma für Damenwäsche und Korsetts, die Karl Prahls Atelier war ein „Treffpunkt der Hambur- allein in Hamburg über achtzehn Filialen verfügte. ger Boheme, in dem sich unter anderem die Künstler Ihr Inhaber Ferdinand Isenberg (1875–1939) hatte

77 Maike Bruhns: Kunst in der Krise. Bd.1.: Hamburger Kunst im „Dritten Reich“. Hamburg 2001, S. 320. 78 ebenda. 79 ebenda. 82 DAMMTORSTRASSE 36/ECKE GÄNSEMARKT · „Korsetthaus Gazelle“

seinen Betrieb seit 1907 schrittweise zu einem der Hilfe der „Arisierung“ selbstständig machten. Im reichsweit größten Unternehmen der Branche aus- Interesse der mittelständischen Wirtschaft wurden gebaut. Im Jahre 1938 wurde die Firma – wie viele vor allem Einzelhandelsgeschäfte und Handwerks- andere auch – „arisiert“ und teilweise zerschlagen. betriebe oft nicht „arisiert“, sondern ohne Verkauf Das Wort „Arisierung“ bezeichnete im engeren kurzerhand liquidiert, um den Konkurrenzdruck in Sinne den Besitztransfer zwischen „Juden“ und einzelnen Branchen zu mindern. So kam es, dass „Ariern“ unter nationalsozialistischer Herrschaft, Anfang 1939 allein in Hamburg 2000 Ladenlokale im weiteren Sinne steht es für die wirtschaftliche leer standen. So genannte „Filialbetriebe“ mit einem Existenzvernichtung von Jüdinnen und Juden – ein Stammunternehmen und zahlreichen Verkaufsstel- Prozess, der 1933 einsetzte und sich in den Folge- len wurden in der Regel nicht geschlossen „arisiert“, jahren schrittweise radikalisierte: Boykottaufrufe der sondern zerschlagen und filialweise verkauft. NSDAP, antijüdische Straßenaktionen und gezielte Dies geschah auch mit dem „Korsetthaus Gazelle“: Machenschaften nichtjüdischer Konkurrenten trie- Ein nach dem Novemberpogrom eingesetzter Treu- ben die Entwicklung voran. Im Jahre 1938/39 er- händer verkaufte Anfang 1939 elf Ladenlokale an reichte die „Arisierung“ ihren Höhepunkt, als sie ehemalige Verkäuferinnen, darunter auch die Filiale staatlich systematisiert und nach kurzer Zeit zum in der Dammtorstraße 36. Die restlichen sieben Filia- Abschluss gebracht wurde. len wickelte er ohne Verkauf ab. In vier Fällen wurde Zu dieser Zeit existierten in Hamburg noch 1201 der Verkauf durch branchenfremde private Geldge- Unternehmen in jüdischem Besitz. Die Hälfte von ber finanziert, die sich auf diesem Wege an den ihnen befand sich in der Innenstadt, ein weiteres Unternehmen beteiligten, ohne selbst eine formale Viertel im Kreis Eimsbüttel, in dem am Grindel auch Übernahmegenehmigung einholen zu müssen. Die der Hauptwohnbereich der Hamburger Jüdinnen in allen Fällen sehr niedrigen Verkaufspreise setzten und Juden lag. sich aus dem Liquidationswert des Inventars und Nur selten wurde bei „Arisierungen“ ein angemes- der minderbewerteten Warenlager zusammen. Der sener Preis gezahlt, der dem tatsächlichen Wert des völlig ausgeplünderte Firmeninhaber Ferdinand Unternehmens entsprach. Dafür sorgte schon der Isenberg wurde 1938 unter dem Vorwurf der „Ras- Umstand, dass entsprechende Kaufverträge dem senschande“ im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel inhaf- NSDAP-Gauwirtschaftsberater zur Genehmigung tiert, wo er am 18. Februar 1939 Suizid beging. vorgelegt werden mussten. So durfte der eigentliche Nachdem die Nationalsozialisten Isenbergs Lebens- Firmenwert seit 1938 nicht mehr vergütet werden, werk zerstört, ihn enteignet und in den Tod getrie- so dass die jüdischen Inhaber oft lediglich Zahlun- ben hatten, nahmen sie dem toten Firmeninhaber gen für Inventar und Warenlager erhielten, die sich mit posthumen Verleumdungen auch noch die Wür - zudem am niedrigen „Konkurswert“ orientierten. de: Zwei Tage nach seinem Tod hielt es das „Ham- Als nach dem Novemberpogrom 1938 zahlreiche burger Tageblatt“ für angebracht, der Öffentlichkeit jüdische Unternehmer verhaftet und in Konzentra- in großer Aufmachung den Suizid des als „Rasse- tionslager abtransportiert waren, zogen Treuhänder schänder“ apostrophierten „Israel Isenberg“ (sic!) in die verwaisten Firmen ein, die sie nun ohne Zu- unter der Überschrift „Das Ende eines Schacherju- stimmung des jüdischen Besitzers verkaufen konn- den“ mitzuteilen. ten, dessen Rechte sich auf die Unterzeichnung des Text: Frank Bajohr Kaufvertrages reduzierten. Zu den Hauptprofiteuren der „Arisierung“ zählte keineswegs die Großindustrie – wie man oft meint –, sondern in erster Linie die mittelständische Wirt- schaft, vor allem auch Existenzgründer, die sich mit DAMMTORSTRASSE 35 · Stolperstein für Jonny Steffens 83 DAMMTROSTRASSE 30 · Kino „Metropolis“

16. STATION Dammtorstraße 35 Stolperstein für Jonny Steffens (NS-Zeit)

Vor dem Haus Nr. 35 liegt ein Stolperstein für den Justizsekretär Jonny Steffens (14.2.1891–6.10.1933). Gegen den Witwer und Vater eines Sohnes hatte die Staatsanwaltschaft am 21. September 1933 ein Verfahren eröffnet, nachdem Steffens ehemaliger Sexualpartner, der Strichjunge Otto Giering (geb. 1916), während eines Verhöres Steffens Namen ge- nannt hatte. Am 6.10.1933 nahm sich Jonny Steffens in seiner Wohnung mit Leuchtgas das Leben.80) Dammtorstraße 35 imJahre 2010. Photo: Jürgen Brömme

17. STATION Stop-Programm sollte tagsüber Einnahmen erzielen, die die geplanten Abendveranstaltungen mit Klein- Dammtorstraße 30 kunst und Musik finanzieren sollten – deshalb hatte Filmkunsttheater „Metropolis“ das Kino bis zum Einbau einer CinemaScope-Lein- (Standort: 1952–2008), ca. 2012 wand eine Bühne mit zwei Aufgängen und Umklei- soll das Kino dort wieder seinen dekabinen. Dazu kam es jedoch nie. Danach gab es Platz finden (Stand: 2010) mehrere Versuche, ein eigenständiges Programm- profil zu entwickeln. 1958 übernahm Syguda allein Eröffnet wurde das spätere „Metropolis“ am 10. Ok- den Betrieb, 1969 löste ihn Robert Billerbeck ab. tober 1952 zunächst als ein Aktualitäten- und Non- Doch alle Versuche, dauerhaft ein Filmkunstpro- Stop-Kino, eingepackt wurde es am 1. Juli 2008. gramm zu etablieren, scheiterten schließlich. Denn das Kino mit dem legendären 50er-Jahre- Verschiedene Hamburger Filminitiativen mieteten Charme – das Material der Wandbespannung war das Kino häufig für Sonderveranstaltungen. Im Mai identisch mit der Sitzbespannung des VW Käfers – 1977 gründete sich die „Initiative Kommunales Kino steht unter Denkmalschutz und wird, sobald die im e. V.“. In der Lokalpresse war man skeptisch. Die Bau befindliche Einkaufspassage in zwei Jahren fer- „Hamburger Morgenpost“ schrieb: „Die einen wit- tig ist (Stand: Frühjahr 2010), an Ort und Stelle eins tern dahinter eine ultralinke Zelle mit konspirativem zu eins wieder aufgebaut. [Dabei soll der historische Filmtheater-Treff, andere einen staatlich subventio- Kinosaal in das neue Büro- und Geschäftshaus in- nierten Zirkel ausgebuffter Cineasten. Dritte gar tegriert werden.] glauben, es sei nur ein Hirngespinst oder ein bloßer Architekt des Kinos war Johannes Bräger. Die Idee Wunschtraum!“ Dass er Wirklichkeit wurde, dafür und Initiative zur Kinogründung ging von Georg Sy- sorgten im zähen Ringen mit der Kulturbehörde guda (1894–1955) und Hellmuth Lux (1895–?) aus. Leute wie Uwe M. Schneede (geb. 1939), der spätere Letzterer war vor dem Zweiten Weltkrieg Geschäfts- Direktor der Hamburger Kunsthalle. führer des „Ufa-Palasts“ in der Dammtorstraße/Ecke Kommunale Kinos gab es bereits in anderen Städten. Valentinskamp (siehe S. 78) gewesen. Das Non- Mit den Freunden vom „Arsenal“ in Berlin, das Vor-

80 Vgl.: Bernhard Rosenkranz, Ulf Bollmann, Gottfried Lorenz: Homose- xuellen-Verfolgung in Hamburg 1919–1969. Hamburg 2009, S. 260. 84 DAMMTORSTRASSE 30 · Kino „Metropolis“

format) ausgerüstet für alle Filmformate und Vorführgeschwindigkeiten, diverse Videosys- teme, klassische und moderne Tonsysteme (auch 2-Band). Inzwischen ist das „Metropolis“ aus der Kul- turlandschaft der Stadt nicht mehr wegzu- denken. Das filmische Gedächtnis wird hier bewahrt: In keinem anderen Hamburger Kino können Stummfilme authentisch, das heißt in der Originalgeschwindigkeit mit 16 bis 24 Bildern pro Sekunde, und auch zweistreifige Filme, bei denen der Ton separat läuft, vor- geführt werden. Davon profitieren der film- Beim Bau des Filmkunsttheaters „Metropolis“ 1951. historische Kongress des CineGraph und das Photo: Conti Press, Staatsarchiv Hamburg Cinefest, das sich dem filmischen Erbe widmet. Aber das „Metropolis“ ist nicht nur Filmmuseum. Das bildfunktion hatte, war man nicht nur im regen Er- Weltkino ist hier zu Hause, in Filmreihen werden fahrungsaustausch: Im Mai 1979 konnte man den Werke aus allen Ländern der Welt gezeigt, aus den dortigen Geschäftsführer Heiner Roß (geb. 1942) für osteuropäischen Staaten, Neuseeland, Kanada, Japan das Hamburger Projekt gewinnen. Der Senat stellte etc., stets in Originalsprache mit deutschen Unterti- für das erste Jahr einen Etat von 335000 DM zur Ver- teln (oder eingesprochener Übersetzung). Auch deut- fügung. Es fehlte nur noch ein geeignetes Kino. Man sche Filme, die im kommerziellen Kino keine Chance fand es mitten in der Stadt: das ehemalige Aktualitä- haben, erleben ihre Premiere im „Metropolis“. Ein ten-Kino in der Dammtorstraße, das seit geraumer Haus für Entdeckungen und Raritäten, ein Cineas- Zeit als Filmkunsttheater vor sich hindümpelte. ten-Tempel mit hervorragender Projektion und neu- Mit der Aufführung des namensgebenden Stumm- ester Technik, zugleich ein Lichtspieltheater mit filmes „Metropolis“ (Regie: Fritz Lang (1890–1976), 50er-Jahre-Charme. Und stets offen für neue Ideen 1927), am Klavier Willy Sommerfeld (1904–2007), und Experimente. Hier wurden das Kurzfilmfestival begann am 13. Oktober 1979 die neue Ära als Kom- und die Lesbisch-Schwulen Filmtage erfunden, munales Kino. Streng genommen handelt es sich Events, die nun schon über Jahre sich fest im Leben nicht um ein Kommunales Kino, sondern nur um ein der Hansestadt etabliert haben. kommunal gefördertes: Träger war und ist der einge- Während in der Dammtorstraße gebaut wird (Stand: tragene Verein „Kinemathek Hamburg“. Die schwie- 2010), residiert das „Metropolis“ vorübergehend im rige Startphase, in der die Presse teilweise höhnte, ehemaligen „Savoy“-Kino am Steindamm in St. dass die „Kundschaft nur kleckerweise“ käme, meis- Georg. Nach Schließung des Kinos im Juli 2008 terten Heiner Roß und seine Mitstreiter mit Bravour. wurde die unter Denkmalschutz stehende Einrich- Seitdem werden filmgeschichtlich wichtige Werke tung sorgfältig ausgebaut und zwischengelagert: Bis ebenso wie experimentelles Filmprogramm gezeigt. zur Fertigstellung des neuen „Metropolis Hauses“ Zum Programm gehören bis heute Filme, die es sonst lagert die Inneneinrichtung in einer klimatisierten nirgendwo zu sehen gibt: Werke aus der ehemaligen Lagerhalle, bis sie wieder ausgepackt werden kann DDR und dem „Ostblock“ genauso wie selten ge- im neuen „Metropolis“, an alter Stelle und in alter zeigte Streifen aus anderen europäischen Ländern Größe, allerdings gleichsam gedreht und im Tief- und den USA. Täglich drei verschiedene Vorstellun- parterre „versenkt“. gen. Technisch ist das Kino (bis auf 70-mm-Film- Text: Michael Töteberg und Volker Reißmann DAMMTORSTRASSE 30 · Kino „Metropolis“ 85

Auch die „Landeszentrale für politische Bildung“ Freundschaft zwischen Hamburg und Haifa zweier führt bis heute viele Kooperationsveranstaltungen kleinwüchsiger Frauen. Perla Ovici (1921–2001) war mit dem „Metropolis“-Kino durch. 1995 ließ die da- das jüngste von zehn Geschwistern, von denen sie- malige Leiterin der „Landeszentrale für politische ben kleinwüchsig waren. In Auschwitz nahm Dr. Bildung“, Helga Kutz-Bauer, den Film „Deutschland, Mengele Experimente an ihnen und anderen vor. bleiche Mutter“ von Helma Sanders (geb. 1940) zei- Aber die Familie überlebte. Hannelore Witkofski gen, der den Schrecken des Krieges aus Frauensicht (geb. 1950) aus Hamburg war Perlas Briefpartnerin. darstellt und auch die an Frauen begangenen Verge- Im Film „Liebe Perla“ will Hannelore Witkofski ihrer waltigungen durch sowjetische Soldaten anspricht. Freundin einen Lebenswunsch erfüllen, indem sie 1998 führten der damalige Leiter des „Metropolis’“, versucht, einen verlorenen NS-Dokumentarfilm zu Heiner Roß, und Rita Bake von der „Landeszentrale fin den, den Mengele über die Kleinwüchsigen in für politische Bildung“ eine viertägige Veranstal- Ausch witz herstellen ließ. tungsreihe zum Thema „Es begann 1952 … die An- Seit 2007 zeigt die „Landeszentrale für politische fänge des Dokumentarismus im Fernsehen“ durch. Bil dung“ während des vom „Metropolis“ jährlich Es wurden Dokumentarfilme aus den Anfangsjahren veranstalteten Freiluftkinos auf dem Rathausmarkt des Fernsehens gezeigt. Viele der ausgewählten Bei- vor dem jeweiligen Hauptfilm einen politischen Kurz- spiele spiegelten die politische Wirklichkeit sowohl film. Die Filmauswahl besorgen Michael Conrad vom der Bundesrepublik als auch anderer Staaten wieder. „Kulturring der Jugend“ und Rita Bake von der „Lan- Mit dabei waren die Regisseure und Redakteure: deszentrale für politische Bildung“. Und last but not Charsten Diercks (1921–2009); Rüdiger Proske (geb. 1916), Max H. Rehbein (geb. 1918), Jürgen Roland (1925–2007) und Peter von Zahn (1913–2001), die stilprägend beim NDR die Entwicklung des Doku- mentarfilms mitgeformt hatten. 1999 präsentierten ebenfalls Heiner Roß und Rita Bake an einem Juni- Wochenende zahlreiche wiederentdeckte Filme aus dem Re-education-Programm der drei westlichen Al- liierten. Ein zweites Seminar folgte 2002 – und am Schluss gab Heiner Roß in Kooperation mit der „Lan- deszentrale“ die Publikation: „Lernen Sie Diskutie- ren! Re-education durch Film, Strategien der westli- chen Alliierten nach 1945“ heraus. Ebenfalls ins „Metropolis“ lud Anfang der 2000er Jahre Rita Bake zu der Vorführung des Dokumentarfilms „Mörderi- sche Diagnose“ von Silvia Matthies mit anschlie- ßender Diskussion ein. Der Film widmete sich der durch den § 218 erlaubten Möglichkeit der Abtrei- bung von Föten bis zum Einsetzen der Geburts- wehen, vorausgesetzt, bei den Schwangerschafts- untersuchungen wurde festgestellt, dass die Kinder schwer behindert zur Welt kommen würden. Eingang zum „Metropolis“. Für den Bau der Opern - Ebenfalls in dieser Zeit zeigte die „Landeszentrale passage wurde das Kino abgerissen und die Innenein- richtung bis zur Fertigstellung des neuen Büro- und für politische Bildung“ im „Metropolis“ den Film Geschäftshauses „Metropolis Haus“, in das das Kino „Liebe Perla“: die Geschichte einer besonderen integriert werden soll, eingelagert. Staatsarchiv Hamburg 86 ECKE KLEINE THEATERSTRASSE/KALKHOF · „Opera Stabile“ DAMMTORSTRASSE 28 · Kalkhof

least: Seit 2009 gibt die „Landeszentrale“ das Preis- veranstalteten Dokumentarfilmfestivals. Eine drei- geld für den besten Dokumentarfilm des von den köpfige Jury, darunter Rita Bake, entscheidet über Kinos „Metropolis“, „3001“ und „Lichtmess“ jährlich die Preisvergabe.

18. Station Ecke Kleine Thea- terstraße/Kalkhof „Opera Stabile“ (Standort: seit 2005)

1975 wurde die „Opera Stabile“ als Kammerbühne der Staatsoper in der Büschstraße eingerichtet. Nach der 2005 erfolgten Fertigstellung des neuen Betriebsgebäudes der Staatsoper be- findet sich der Besuchendeneingang Seit 2005 befindet sich die „Opera Stabile“ an der Ecke an der Ecke Kleine Theaterstraße/Kalkhof. Kleine Theaterstraße/Kalkhof. Photo: Marina Bruse Die „Opera Stabile“ ist eine Studiobühne der Staats- oper. Hier werden experimentelles Musiktheater, Lie- derabende und Diskussionsrunden geboten.

zum Bau ihrer Wohnhäuser zu kaufen. 19. STATION Ein ebenso notwendiges Unterfangen wie Dammtorstraße 28 sich der Muse hinzugeben. Kalkhof (Standort: 1616–1829); „Stadt-Theater“ (Standort: seit Der erste Kalkhof, der als städtische Ein- 1827; Umbau: 1873/74, weiterer Umbau: 1925/26, seit 1934 „Ham- richtung Mitte des 14. Jahrhunderts am burgische Staatsoper“ genannt, weitestgehend zerstört: 1943, Ende der Holländischen Reihe errichtet Neu bau 1953, Neubau des Betriebsgebäudes: 2005 ); „Hamburgi- worden war, wurde 1616 nach der Weide sche Staatsoper“ in der NS-Zeit; Stolpersteine (NS-Zeit); Elsa Bern- vor dem Dammtor, dort, wo später das stein, Librettistin: ein überlebendes Opfer des Nationalsozialis mus; „Stadt-Theater“ gebaut wurde, verlegt. „Hamburgische Staatsoper“ nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute; Der Kalkhof hatte einen Stichgraben (die Geschlechterrollen auf der Opernbühne (gestern und heute) spätere Große Theaterstraße), der direkt zur Alster führte. So konnte der von Se- geberg per Schiff transportierte Kalk di- Kalkhof rekt am Kalkhof angelandet werden. Dort wurde der Kalk in Kalköfen (Kalkrüsen genannt) gebrannt. Dort, wo später Gesang und Tanz die Menschen er- „Aufbewahrt wurde der Kalk im ‚Kalkhus‘, und dort freuen sollten, hatte die Hamburger Bevölkerung (…) zu sehr billigem Preis an die Bürger verkauft, zuvor gut zweihundert Jahre lang die Gelegenheit um das Erbauen der Häuser aus Ziegelsteinen zu gehabt, sich von dem dort gelegenen Kalkhof Kalk erleichtern. (…) Infolge der häufigen größeren Un- DAMMTORSTRASSE 28 · Kalkhof · „Stadt-Theater“ 87 terschleife hatte die Stadt alljährlich bei dem Kalk- weiteres eingehen; auch 1814 ward er nicht wieder verkauf auf dem Kalkhof Schaden bis zu 9600 Mark, hergestellt, jedoch erst 1825 beschlossen, die Ge- weshalb der Senat schon 1800 und dann noch ein- bäude abzubrechen.“81) 1829 wurden die Kalköfen mal 1801 beantragte, den Kalkhof ganz aufzuheben, abgerissen. Die Konkurrenz des preisgünstigeren was aber die Bürgerschaft nicht bewilligte. Die fran- fertig gebrannten Lüneburger Kalks war zu groß ge- zösische Verwaltung ließ den Kalkhof aber ohne worden.

An der Stelle der heutigen Staatsoper befand sich von 1616 bis 1829 der Kalkhof. Auf der Zeichnung ist auch der Kalkgraben zu sehen, der zur Binnenalster führte. Nach seiner Zuschüttung wurde dort die Große Theater- straße angelegt. Kartenausschnitt aus dem Jahre 1813 aus: C. L. B. Mirbeck, B. Baker Sculps. Hamburg, London Grundriss vom Kalkhof mit den beiden Brennöfen und 1813. Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Kt H 36 der Kalkmühle. Staatsarchiv Hamburg

„Stadt-Theater“ ten nahten wir dem neuen Musentempel in der Dammtorstraße. Da lag er, oder vielmehr stand er Als das „Comödienhaus“ am Gänsemarkt (siehe vor uns, anspruchslos wie das wahre Verdienst, und S. 216) den neuen technischen Anforderungen der einfach wie die Natur. Kein äußerliches Abzeichen Aufführungen nicht mehr genügte und die Balkende- der Kunst und seiner Bestimmung; solide wie ein cke des Holzbaus zusammenzustürzen drohte, wurde Beefsteak, begnügt er sich mit innerer Consistenz. 1827 an der Dammtorstraße auf dem Platz des ehe- Ganz charakteristisch sieht er wie ein Fabrikgebäude maligen Kalkhofes ein neues Haus: das „Stadt-Thea- aus, da die Kunst, insbesondere die lieben Theater- ter“ gebaut, wobei der ursprüngliche Schinkel’sche musen, in unserer Zeit fabrikmäßig betrieben wer- (Karl Friedrich Schinkel 1781–1841) Entwurf aus kom- den. Die Hamburger hätten nur als Inschrift auf das merziellen Gründen von Carl Ludwig Wimmel Gebäude setzen sollen: ‚Hier wird Genuss fabriciert.‘ (1786–1845) reduziert wurde. Der Bau wurde im Stil Eine Schnur echter Krämerladen-Perlen reiht sich des Hamburger Klassizismus errichtet und konnte da- zu ebener Erde des Gebäudes rings herum. Der mals schon mit 2000 Theaterplätzen aufwarten. Facade hat man später eine Nase gedreht, nämlich Der Berliner Humorist Moritz Gottlieb Saphir (1795– einen Blechschirm vorgesetzt, ungefähr wie ein 1858) beschrieb seine Eindrücke: „Mit eiligen Schrit- zum Trocknen ausgehängtes Taschentuch. Nicht eben

81 Wilhelm Melhop: Alt=Hamburgi- sche Bauweise. Hamburg 1908, S. 7. 88 DAMMTORSTRASSE 28 · „Stadt-Theater“

sehr erbaut von dem Exterieur dieser Leimfabrik, betraten wir das Vestibül, welches wahrhaft schön ist, und in wel- chem sich die Seele oder die Seelen des Ganzen: die zwei Cassen befinden. Rechts kann man sich vor oder nach dem Theater erholen: in den Conditoreien. Noch eine Vorhalle passirten wir; dann endlich gelangten wir in das Himmelreich des Parketts. Der erste Eindruck, den die- ses ungeheure Innere auf den Fremden macht, ist breitartig, wenn auch nicht großartig. (...) Die Verzierung des Hauses ist reich, der Kronleuchter imposant, al- lein es ist ein Uebelstand, daß er während Das Stadt-Theater nach seinem Umbau 1874. des Spiels hinaufgezogen wird; wenn die Bühne Staatsarchiv Hamburg gut beleuchtet ist, braucht man das Publicum über die Darstellung nicht im Dunkeln zu lassen. Der Aufführung gebracht. Das von Georg Nikolaus Bär- Hauptvorhang ist etwas peinlich ausgeführt, drei mann (1785–1850) verfasste Stück hieß „Bürger- Felder mit fünf Musen. Er ist nach einem hercula- treue“, ein schwerfälliges patriotisches Epos, dessen nieschen Wandgemälde und leidet nicht an zu gro- Schlussgesang: „Stadt Hamburg an der Elbe Auen“ große Popularität erhielt und bis heute das Ham- burglied ist. Die mangelnde Eignung dieses kolossalen Baus als Sprechtheater, die Tatsache, dass es keine guten neuen Theaterstücke gab, und die Konkurrenz des „Apollo Theaters“ (siehe S. 62), des „Theaters in der Steinstraße“ und verschiedener Theater in den Vorstädten St. Georg und St. Pauli führten dazu, dass das Schauspiel gegenüber der Oper immer mehr in den Hintergrund trat. Bei seiner Eröffnung wurde das Theater noch zu 60 % als Sprechbühne genutzt. 1900/01 waren von 269 Vorstellungen nur noch 45 Schauspielvorführungen. Das Niveau der Das 1827 erbaute Stadt-Theater. Litho. von Otto Speck- Oper in dieser Zeit beurteilten zeitgenössische Kri- ter 1831. Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg tiker allerdings schonungslos. Den rasch wechseln- den Direktoren gelang es nicht, bedeutende Sänger ßer Sinnigkeit. Das Theater im Ganzen steht den und Sängerinnen an das Haus zu binden, und das Hamburgern an wie ein Kleid, das zu weit ist und Publikum forderte Unterhaltung und Amüsement. über die Beine herabschlottert.“82) So versuchte man sich bald mit Gastspielen und Ein Jahr nach der Eröffnung des „Stadt-Theaters“ Stars, wie Wilhelmine Schröder-Devrient (1804– wurde am 29. September 1828 zur 300-Jahr-Feier 1860) und Jenny Lind (1820–1887) zu retten.83) der Reformation und der bürgerlichen Verfassung Auf Grund verfehlter Finanz-, Spielplan- und En- in Hamburg ein „vaterstädtisches Schauspiel“ zur semblepolitik geriet das „Stadt-Theater“ in eine wirt-

82 Zit. nach: Hermann Uhde (Hrsg.): 83 In diesem Beitrag über die Oper den auf biographische Darstellungen Denkwürdigkeiten des Schauspielers, wurde, mit Ausnahme der Biographien von Mitarbeitenden sowie Künstlern Schauspieldichters und Schauspieldi- von ermordeten und/oder verfolgten und Künstlerinnen der Oper verzichtet. rectors Friedrich Ludwig Schmidt Künstlerinnen und Künstlern/Mitarbei- Künstlerinnenbiographien – auch die 1772–1841. Hamburg 1875. tenden der Staatsoper, aus Platzgrün- über Sabine Kalter, Bertha Dehn, Rose DAMMTORSTRASSE 28 · „Stadt-Theater“ 89

das „Stadt-Theater“, das bis 1873 in sei- nem Besitz blieb. Nach dem Sieg über Frankreich im Jahre 1870/71, in der ökonomischen Euphorie des neu gegründeten Kaiserreiches, ge- nügte der Theaterbau nicht länger dem Bedürfnis der Bevölkerung nach Reprä- sentation. Auch entsprach seine techni- sche Ausstattung nicht mehr dem neu- esten Stand. So hatte sich 1873 eine Aktiengesellschaft gebildet, die den Umbau finanzierte. Die Stadt Hamburg finanzierte erstmals das Theater und übernahm die Gas- und Vestibül des Stadt-Theaters. Staatsarchiv Hamburg Was serkosten. Der Hamburger Architekt und Rathausbaumeister schaftliche und künstlerische Krise, so dass es 1854 Martin Haller (1835–1925) wurde mit dem Umbau Konkurs anmelden musste. Beigetragen zu dieser beauftragt. 1873/74 errichtete er eine neue Fassade Krise hatte auch die starke Konkurrenz durch das mit Säulen-Portikus. Die Foyers wurden umgestaltet „Thalia-Theater“. Der Reeder Robert Miles Sloman und erweitert, der Zuschauerraum mit breiteren Sit- (1812–1900) erwarb in einer öffentlichen Auktion zen ausgestattet, im Parkett gab es Logen und im

Übersichtsplan des Stadt-Theaters aus dem Jahre 1877. Staatsarchiv Hamburg

Bock und Hedi Guru, die von den Na- tion: Rita Bake und Brita Reimers: So tionalsozialisten verfolgt wurden, kön- lebten sie! Spazieren auf den Wegen nen Sie nachlesen in der von der „Lan- von Frauen in Hamburgs Alt- und Neu- deszentrale für politische Bildung stadt. Hamburg 2003. Ham burg“ herausgegebenen Publika- 90 DAMMTORSTRASSE 28 · „Stadt-Theater“ · „Hamburgische Staatsoper“ in der NS-Zeit

ersten Rang Vorzimmer für die Logen. Das Haus er- ses, die politisch missliebig oder jüdischer Herkunft strahlte im prunkvollen Rot und Gold. Der neue waren, wurden entlassen“,84) erklärt Rüdiger Thom- Lei ter Bernhard Pollini (1838–1897), der das „Stadt- sen-Fürste in seinem Buch „Hamburg musikalisch. Theater“ bis zu seinem Tode 1897 leitete, brachte Spurensuche in der Neustadt“. das Haus zur Weltgeltung. Doch Tänzer und Tän- „Zwei der dienstältesten Solisten der Oper wurde zerinnen wurden fast nur noch bei großen Opern- im Mai 1933 gekündigt: dem seit 1912 in Hamburg inszenierungen eingesetzt. Als im Jahre 1900 das engagierten Tenor Paul Schwarz [1887–1980] – mit „Deutsche Schauspielhaus“ in der Kirchenallee seine der fadenscheinigen Begründung, dass er sich als Türen öffnete, wurde das ursprüngliche Dreispar- Jude nicht in die Figuren Richard Wagners [1813– tenhaus zum reinen Opernhaus. 1883] ‚hineinfühlen‘ könne – und dem Gewerk- In der Zeit von 1891 bis 1897 war Gustav Mahler schafter Ferdinand Christophory [1885–1975]. Die (1860–1911) Erster Kapellmeister am „Stadt-Theater“ mit einem jüdischen Musiker verheiratete Sängerin in Hamburg. Während seiner Hamburger Zeit ent- Maria Hussa [1896–1980], die Orchestermitglieder standen seine 2. und 3. Sinfonie. 1897 verließ Mah- Bertha Dehn [1881–1953] und Bruno Wolf [siehe ler Hamburg, um Direktor der Wiener Hofoper zu S. 97] sowie das Chormitglied Mauritz Kapper [siehe werden. An der Vorderfront der Staatsoper ließ die S. 95] wurden zwangspensioniert. Das Orchester des Gustav-Mahler-Vereinigung eine Gedenktafel für den Stadt-Theaters und des 1828 gegründeten Orches ters Komponisten anbringen. 1990 wurde der Platz hin- der Philharmonischen Gesellschaft wurden zu einem ter der Staatsoper an den Colonnaden nach ihm be- 149 Mann starken Orchesterapparat vereinigt“,85) nannt. Außerdem gibt es am Dammtordamm noch erzählt der Musikwissenschaftler und ehemalige Prä - den Gustav-Mahler-Park. sident der Hochschule für Musik und Theater Her- 1925/26 wurde das „Stadt-Theater“ abermals reno- mann Rauhe in seiner klingenden Chronik „Musik- viert und diesmal in Art-déco-Formen umgebaut. stadt Hamburg“. Der Bühnenkonstrukteur Professor A. Linnebach Erich Lüth (siehe S. 197) schreibt in seinem Buch (1876–1963) baute zusammen mit den Architekten „Hamburger Theater 1933–1945“ über die Zeit des Hermann Diestel (1875–1945) und August Grubitz Nationalsozialismus an der Hamburger Oper: „Die (1876–1964) ein neues Bühnenhaus mit den mo- von den Nationalsozialisten erzwungenen Umstel- dernsten technischen Errungenschaften. Dabei wurde lungen konnten sich, auch wenn sie in den Büros die Bühne von 450 qm auf 605 qm plus 300 qm Un- und Konferenzräumen der Gauleitung von langer terbühne vergrößert. Das Bühnenhaus steht heute Hand vorbereitet worden waren, in praxi keineswegs noch. von einem Tage zum anderen vollziehen. Hierüber Text: Brita Reimers gibt der langjährige Verwaltungsdirektor und Opern- direktor Albert Ruch [1889–1965] eingehende Aus- künfte. Ruch hatte 1932 und 1933 nach dem durch „Hamburgische Staatsoper“ ärgerliche Meinungsverschiedenheiten mit dem in der NS-Zeit Aufsichtsrat veranlassten freiwilligen Rücktritt des „Die Herrschaft der Nationalsozialisten brachte auch Intendanten Leopold Sachse [1880–1961], der an- für das Stadt-Theater einschneidende Veränderun- schließend nur noch als Opernleiter weiterwirkte, gen. Das seit 1828 bestehende Philharmonische die Gesamtleitung der Hamburgischen Oper über- Or chester und das Orchester des ,Stadt–Theaters‘ nommen. wurden fusioniert, das „Stadt-Theater“ 1934 in [Ham- Durch sein Verhalten setzte sich Ruch wiederholt burgische] Staatsoper umbenannt. Eugen Jochum schärfster Kritik seitens des nationalsozialistischen [1902–1987] löste Karl Böhm [1894–1981] als Ersten ‚Hamburger Tageblattes‘ aus, das auch ihm jüdische Kapellmeister in Hamburg ab. Angehörige des Hau- Herkunft unterstellte und der hamburgischen Öffent-

84 Rüdiger Thomsen-Fürste: Ham- von der Johannes-Brahms-Gesellschaft burg musikalisch. Spurensuche in der Hamburg. Hamburg 2008, S. 151 und Neustadt. Hamburg 2000, S. 44. 155f. 85 Hermann Rauhe: Musikstadt Ham- burg. Eine klingende Chronik. Hrsg. DAMMTORSTRASSE 28 · „Hamburgische Staatsoper“ in der NS-Zeit 91 lichkeit die Kombination soufflierte, Ruch heiße ei- Macht gekommen waren, änderte sich an unserem gentlich Baruch. Spielplan zunächst nur wenig. Wenn überhaupt Ein- Unter dem Druck der politischen Situation waren fluss genommen wurde, dann geschah es schritt- schon vor der Machtergreifung Hitlers [1889–1945 weise. Gestrichen wurden bei uns: ‚Hoffmanns Er- Suizid] zwei Gäste vom Aufsichtsrat kooptiert worden zählungen‘, ‚Die Banditen‘ und ‚Die Großherzogin (…), der Rechtsanwalt Dr. [Walter] Raeke [1878–?], von Gerolstein‘. Die ‚Banditen‘ waren eine glän- Führer der nationalsozialistischen Anwälteorganisa- zende Gründgens-Inszenierung und erreichten die tion, und der führende Nationalsozialist Gruppe. höchste Aufführungszahl der Spielzeit, ‚Die Groß- Raeke, dessen Auftreten rüde war, bis er selber von herzogin von Gerolstein‘ war eine Militärparodie. den Nazis wegen früherer Zugehörigkeit zum Frei- Jacques Offenbach [1819–1880] war als jüdischer maurertum ausgestoßen wurde, richtete schon vor Komponist für die neuen Machthaber ‚untragbar‘; der Machtergreifung Hitlers die Frage an Ruch: ‚Wer dennoch setzten wir ‚Die Banditen‘ noch bis Juni ist an jüdischen Mitgliedern von der Staatsoper en- 1933 fort.‘ (…) gagiert?‘ Ruch antwortete: ‚Das kann ich Ihnen nicht ‚Wir hatten sieben jüdische Solomitglieder‘, erklärte sagen und das will ich Ihnen auch nicht sagen. Sie Ruch, ‚wenn ich den 1931 als Intendant zurückgetre - können diese Frage im Aufsichtsrat vortragen. Be- tenen Leopold Sachse mitrechne. Sabine Kalter, Jus- schließt der Aufsichtsrat die Auskunfterteilung, so tus Gutmann [1889–1960], der einer der schwarzen kann ich sie nicht verweigern.‘ Bässe gewesen ist. Rose Bock [1907–1995], die am (…) Nach diesen Verhandlungen erschienen, neben 31. Juli 1934 ausschied und über Prag an die Metro- dem Ruch-Baruch-Wortspiel, üble Karikaturen gegen politan Opera ging, Paul Schwarz, der Tenor-Buffo, Sabine Kalter [1889–1957], Egon Pollack [1879– Georg Singer [1906–?], Korrepetitor und Kapellmeis- 1933] und andere jüdische Mitglieder des Hauses im ter, und Hedi Guru [1893–1967], die Halbjüdin war. ‚Hamburger Tageblatt‘. (…) Der Leiter des künstlerischen Betriebsbüros, Ruch erzählt, dass ihm als dem für die Finanzen Gustav Witt, musste aus dem Ensemble ausscheiden, des Hauses Verantwortlichen schon bald nach 1930 weil seine Frau Volljüdin war. Doch gelang es, durch die Hölle heiß gemacht worden sei. Es wurden er- Verhandlungen mit der Reichstheaterkammer zu er- hebliche Abstriche vorgenommen. Der damals noch reichen, dass Witt, ein begabter Pianist, als Begleiter amtierende Staatsrat Lippmann (siehe S. 189) von von Solisten, wie Peter Anders [1908– 1954], kon- der Finanzdeputation suchte Ruchs Verzweiflung zertieren konnte. zu beschwichtigen, indem er ihm zu verstehen gab: Vier jüdische Chormitglieder konnten bis 1934 oder ‚Erklären Sie sich einverstanden. Vielleicht lässt sich 1935 gehalten werden. Drei von ihnen erhielten noch einiges über den Nachtragshaushalt machen.‘ Pen sionen. Auch ein Orchestermitglied wurde pen- ‚Damals‘, so erzählte Ruch, ‚war die Arbeitslosigkeit sioniert. Ein weiteres Orchestermitglied, das wir ge- groß. Der Theaterbesuch litt in unserem Falle nicht gen die judenfeindlichen Weisungen lange schützen zuletzt auch unter den fast täglichen turbulenten konnten, verübte 1937 in einem plötzlichen Anfall Versammlungen bei Sagebiel (siehe S. 70). Diese von Schwermut Selbstmord. (…)‘ Versammlungen und unsere Vorstellungen endeten Einer der unangenehmsten Burschen war ein Garde- etwa um die gleiche Zeit. Unter den Versammlungs- robier. Mit ihm wetteiferte ein fanatischer Fenster- teilnehmern gab es immer wieder Prügeleien der putzer. Auch ein dritter Hundertzehnprozentiger be- politischen Gegner. Oft suchten Unbeteiligte oder reitete uns Schwierigkeiten. In einem Falle gelang Unterlegene vor ihren Verfolgern Zuflucht in den es, den Senator [Wilhelm] von Allwörden [1892– Räumen der Staatsoper, in der Kassenhalle und in 1955] davon zu überzeugen, dass politischer Über- den Foyers. Das schreckte unser Publikum so stark eifer die Arbeit des Theaters gefährde. Ebner der ab, dass viele wegblieben. (…) Als die Nazis an die Fanatiker wurde versetzt, die anderen sahen sich in 92 DAMMTORSTRASSE 28 · „Hamburgische Staatsoper“ in der NS-Zeit · Stolpersteine vor der Staatsoper

die Schranken verwiesen’“,86) so Erich Lüth in sei- chanische Nuss- und Mandelknackerei und -sortier- ner Abhandlung „Hamburger Theater 1933–1945“. anstalt, wo Sonderverpflegung für die Truppen vor- In der NS-Zeit wurden in erster Linie Werke von Ri- bereitet wurde. (…) Die ‚Theaterfabrikbetriebe‘ hat- chard Wagner gespielt, „die gerade bei festlichen – ten den Vorteil, dass die meisten Mitglieder politischen – Gelegenheiten, herangezogen wurden. bei sammen blieben und auch noch ihrer gewohnten Vor allem aber auch die deutschen Spielopern von Berufsarbeit weiter nachgehen konnten. Schon nach [Karl Maria von] Weber [1786–1826] (Freischütz, wenigen Wochen fanden regelmäßig wieder Vorstel- Oberon) und [Albert] Lortzing [1801–1851], in denen lungen mittwochs, sonnabends und sonntags statt, die Kritiker Willen zum Deutschtum, Willen zur oft für Lazarette und geschlossene Aufführungen Volkstümlichkeit sowie nationalen Glauben zu finden für Betriebe, und an den übrigen Tagen gingen die glaubten, standen auf dem Programm. Neben den Künstlergruppen in die Kasernen zur Truppenbe- übrigen, auch heute am häufigsten gespielten Opern treuung, oder sie spielten und sangen vor den ver- von [Giuseppe] Verdi [1813–1901] über [Christoph wundeten Soldaten“,88) schreibt die Projektgruppe Willibald] Gluck [1714–1787] und [Wolfgang - „Musik und Nationalsozialismus“ in ihrem Buch deus] Mozart [1756–1791] bis zu [Georg Friedrich] „Zündende Lieder – verbrannte Musik“. Händel [1685–1759] waren die Opern von Richard 87) Strauss [1864–1949] gefragt.“ Stolpersteine vor der Staatsoper Während der Bombardierung Hamburgs wurden 1943 das Zuschauerhaus sowie einige Nebengebäude Seit April 2007 erinnern zwölf Stolpersteine in der der Oper zerstört, so dass man mit einigen Produk- Mitte des Säulenganges vor der Staatsoper an Künst- tionen in die Musikhalle (siehe S. 141) umzog. lerinnen, Künstler, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Am 25. August 1944 rief Propagandaminister Dr. der Oper, die während der Zeit des Nationalsozia- Joseph Goebbels (1897–1945) den „totalen Krieg“ lismus verfolgt und ermordet wurden. Die Steine aus und erklärte: „Alle Theater schließen. Alles für er innern an: den Chorsänger Kurt Abraham Salnik, den Sieg.“ die Sopranistin Camilla Fuchs, die Sängerin Ottilie „Das offizielle Musikleben war stillgelegt. Die Künst- Metzger-Lattermann, den Werkstättenleiter Jacob ler mussten sich der Kriegsmaschinerie zur Verfügung Kaufmann, den Theaterarzt Max Fraenkel (siehe halten. Da sie aber auf Anweisung der Reichsthea- S. 37), den Dirigenten und Komponisten Gustav Bre - terkammer nur unter Erhaltung ihrer künst lerischen cher, den Chorsänger Mauritz Kapper, Bruno Wolf, Fähigkeiten beschäftigt werden durften, erreichte der im Orchester spielte, die Altistin Magda Spiegel, Walter Unruh [1898–1973], der technische Direktor den Komponisten und Dirigenten Viktor Ullmann, der Staatsoper, das weitgehende Zusammenbleiben den Kapellmeister Hermann Frehse und den Tenor künstlerischer Gruppen: Nach einem Vorschlag der Joseph Schmidt. Staatsoper wurden in den Theatern selbst so ge- nannte kriegswichtige Eigenbetriebe aufgezogen und Stolperstein für Gustav Brecher die Künstler darin beschäftigt. Damit verblieb ihnen „Der Dirigent, Komponist und Kritiker Gustav Bre- der Gang zur gewohnten Arbeitsstätte und die Pro- cher wurde am 5. Februar 1879 in Eichwald geboren. bemöglichkeit, und es entstanden: eine Künstler- 1938 floh er nach Belgien und nahm sich im Mai schneiderei, die Uniformen für Lazarette und Wäsche 1940 in Ostende das Leben. für Krankenhäuser ausbesserte, mechanische Werk- Gustav Brecher entstammte einer jüdischen Familie, stätten zur Reinigung von Telefonen und zur Zu- die 1889 nach Leipzig emigriert war. 1896 debütierte sammensetzung leichter Metallteile, eine Werkstatt Brecher an der Leipziger Oper. Vier Jahre später di- zur Instandsetzung bombengeschädigter Wohnun- rigierte er neben Gustav Mahler an der Wiener Hof- gen und – als Glanzstück und Kuriosum – eine me- oper. Von 1903 bis 1911 war er dann Erster Kapell-

86 Erich Lüth: Hamburger Theater nen. Hrsg. von der Projektgruppe Mu- 1933–1945. Hamburg 1962, S. 63–66. sik und Nationalsozialismus. Hamburg 87 Zündende Lieder – verbrannte Mu- 1988, S. 114. sik. Folgen des Nationalsozialismus für 88 Zündende Lieder – verbrannte Mu- Hamburger Musiker und Musikerin - sik, a. a. O., S. 122. DAMMTORSTRASSE 28 · Stolpersteine vor der Staatsoper 93 meister am Stadttheater Hamburg. 1914 wurde er Beleidigung nach § 185 RStGB zu einer einmonati- Generalmusikdirektor an der Leipziger Oper. Dort gen Haftstrafe. Am 20. Januar 1936 erhielt er durch nahm er Ernst Kreneks [1900–1991] Jazzoper ‚Jonny das Landgericht Hamburg eine zehnmonatige Frei- spielt auf‘ und Brecht-Weills [Bertolt Brecht: 1898– heitsstrafe wegen Vergehens nach § 175 RStGB in 1956; Kurt Weill 1900–1950] ‚Aufstieg und Fall der drei Fällen. Noch während der Haft wurde er am Stadt Mahagonny‘ zur Uraufführung an. Im Frühjahr 5. Juni 1936 erneut vom Landgericht Hamburg wegen 1933 wurde Brecher auf Grund des Gesetzes zur Wie - eines versuchten Verbrechens nach § 175 a Ziffer 3 derherstellung des Berufsbeamtentums entlassen. zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Unmittelbar nach Seine letzte Aufführung war Kurt Weills ‚Silbersee – der Entlassung aus dem Gefängnis wurde er am Ein Wintermärchen‘. Noch während der Vor stellung 5. Mai 1937 in polizeiliche ‚Schutzhaft‘ genommen verließ er das Dirigentenpult, weil die anwesende und erst am 8. November 1937 aus dem KZ Fuhls- SA wegen seiner jüdischen Herkunft und anderer büttel entlassen. als Provokation empfundenen Eigenarten des ‚Sil- In der Nacht vom 14. auf den 15. Januar 1938 geriet bersees‘ fortlaufend randalierte und störte. Der Ober- Frehse erneut in die Fänge der Kriminalpolizei und bürgermeister Leipzigs Carl Friedrich Goerdeler war vom 17. bis 31. Januar 1938 im KZ Fuhlsbüttel [1884–1945, hingerichtet in Berlin-Plötzensee] be- inhaftiert. urlaubte ihn am 11. März 1933.“89) Er hatte einen Zwanzigjährigen auf der Reeperbahn Danach lebte Gustav Brecher in Berlin und Prag. angesprochen, angefasst und versucht, diesen durch 1934 leitete er fünf Konzerte des Leningrader Ra- ‚unzüchtige Redensarten‘ zum Sex zu überreden. dio-Orchesters. Zumal er auch kein Russisch sprach, Daraufhin erstattete der junge Mann Anzeige wegen fand er nicht mehr den Mut und die Kraft zu einem tätlicher Beleidigung, woraufhin Frehse festgenom- Neuanfang. 1938 floh er von Prag nach Belgien. men wurde. Dieses Ergebnis reichte dem Landge- Auf der Flucht vor den deutschen Truppen nahm er richtsdirektor Walter Detlefs und seinen Beisitzern sich im Mai 1940 zusammen mit seiner Frau Gertrud aus, um ihn wegen versuchten Verbrechens nach Deutsch in Ostende das Leben. § 175 a Ziffer 3 zu zwei Jahren Zuchthaus zu verur - teilen. Am 7. Mai 1940 wurde Frehse aus dem Zucht- Stolperstein für den Theaterarzt Max Fraenkel haus Bremen-Oslebshausen in das innerstädtische Siehe S. 37 Dammtorstraße 14, wo ebenfalls ein Polizeigefängnis Hütten in Hamburgs Neustadt über- Stolperstein für ihn verlegt wurde. führt. Dort verliert sich seine Spur. Vermutlich en- dete sein Leben in einem Konzentrationslager.“ Stolperstein für Hermann Frehse Text mit freundlicher Genehmigung der Autoren aus: „Über das Leben des am 26. Juli 1896 in Rendsburg Bernhard Rosenkranz, Ulf Bollmann, Gottfried geborenen Hermann Frehse sind nur spärliche In- Lorenz: Homosexuellen-Verfolgung in Hamburg formationen in den Strafjustizakten im Hamburger 1919–1969. Hamburg 2009, S. 93. Staatsarchiv erhalten geblieben. Fest steht, dass er ein Konservatorium besucht hat und als Kapellmeis- Stolperstein für die Sopranistin Camilla Fuchs ter engagiert war. Leider ist nicht überliefert, mit Am 24. Oktober 1941 erschien der Hauswart aus welchen Orchestern und an welchen Spielstätten er dem ehemaligen Hertz-Joseph-Levy-Stift, Joseph gearbeitet hat. Polak, auf dem Polizeirevier 34 und meldete den Hermann Frehse musste sich mehrmals wegen sei- Tod der Schwestern Camilla Fuchs (1.2.1886, Freitod ner sexuellen Neigungen vor Gericht verantworten. am 24.10.1941) und Thekla Daltrop, geb. Fuchs, Zwischen 1926 und 1937 kam es zu zehn Eintragun- (28.5.1883, Freitod am 24.10.1941) in ihrer Wohnung gen wegen ‚homosexueller Vorgänge‘. Am 6. Januar in der zweiten Etage des Hauses Großneumarkt 56. 1933 erfolgte seine erste Verurteilung wegen tätlicher In den Tagen zuvor hatte er die Schwestern vermisst,

89 Gustav Brecher, in: http://de.wiki- pedia.org/wiki/gustav-brecher (Stand: 7.11.2009). 94 DAMMTORSTRASSE 28 · Stolpersteine vor der Staatsoper

und da sie sich auf sein Klingeln hin auch nicht an Gemeinde am 25. November 1940 vermerkt ist, war der Wohnungstür gemeldet hatten, ließ er die Tür sie später völlig mittellos. von einem benachbarten Schlosser öffnen. In der Aus dem Hertz-Joseph-Levy-Stift, in dem die beiden Küche fand er die beiden Frauen in Korbsesseln sit- Schwestern lebten, war mittlerweile ein so genann- zend tot auf. Sie hatten die Fenster und Türen mit tes Judenhaus geworden, das vom Jüdischen Reli- Lappen verstopft und vom Herd den Gasschlauch gionsverband zwangsverwaltet wurde. Hier erhielten entfernt. Der Grund ihres Freitods war neben mehre- die Schwestern am 21. Oktober 1941 ihre „Evakuie- ren Urkunden am Küchenbüfett befestigt: die „Eva - rungsbefehle“ und sollten mit dem ersten Hambur- kuierungsbefehle“ Nr. 416 und Nr. 1205. ger Transport am 25. Oktober 1941 nach Lodz de- Camilla und Thekla waren in Prag geboren. Ihre portiert werden. Die bevorstehende Deportation und Mutter Helene Klemperer war mit Samuel Fuchs die Aussicht auf ein Leben im Getto mochten sich verheiratet und betrieb eine Geflügelhandlung. Die die Schwestern wohl nicht zumuten. Sie zogen es Schwestern besaßen die österreichische Staatsbür- vor, gemeinsam ihrem Leben ein Ende zu setzen. gerschaft und ließen sich etwa um 1912 in Hamburg Ein handgeschriebener Zettel ohne Unterschrift ent- einbürgern. hielt knapp ihren Letzten Willen: „Unser letzter Camilla Fuchs wohnte 1925 im Durchschnitt 13, Wunsch: Wir bitten, dass Frau Simon nicht unsere zog dann vom Grindelviertel in den Bernerweg 92 Leichen bewacht. Dann bitte die blaue Tasche, brau- und lebte zuletzt am Hammer Berg 44 in Hamburg- nen Hut Herrn Harriel Elias für unsere Schwester Hamm. Vermutlich bezog sie schon Anfang 1930 Pauline Eckhard zu überreichen. Das Geld für die eine 1½-Zimmer-Wohnung im Hertz-Joseph-Levy- Beerdigung (ist) nach Ohlsdorf überwiesen. Dann Stift. Dieses Stift, 1854 gegründet, vergab Wohnun- möchte ich meinen Trauring anbehalten.“ gen gegen eine geringe Miete an mittellose Familien Thekla Daltrops letzter Wunsch wurde nicht erfüllt. und alleinstehende Personen. Ihr Ehering wurde mit dem noch verbliebenen Besitz Camilla Fuchs blieb unverheiratet und sang bis zu der beiden Schwestern beschlagnahmt. Ihre Wert- ihrer Entlassung im Sommer 1931 als Sopranistin gegenstände hatten sie bereits lange vorher bei den im Chor des Hamburger „Stadt-Theaters“. Nach der staatlichen Stellen abgeben müssen. deutschen Besetzung der Gebiete Böhmen und Mäh- Die erwähnte Schwester Pauline Eckhard wurde am ren am 15. März 1939 verlor sie ihre deutsche Staats- 18. Mai 1867 ebenfalls in Prag geboren. Sie studierte bürgerschaft und galt aufgrund ihrer Prager Geburt nach Beendigung der Volksschule Gesang und war nun als „Protektoratsangehörige“. anschließend im Deutschen Theater in Prag als Ihre Schwester Thekla lebte vor ihrer Ehe in der Ham- Chor sängerin beschäftigt. Am 12. Dezember 1897 burger Altstadt am Brandsende 21. Am 27. Oktober heiratete sie den Dolmetscher Karl Eckhard. Die 1927 heiratete sie den Hamburger Makler Hermann Ehe wurde früh geschieden. Ihr einziger Sohn Egon, Daltrop, geboren 1879, der im „Guatemala-Haus“ in geboren 1899, starb 1935 an einem Lungenleiden, der Gerhofstraße 3–5 ein Büro für Finanzierungen, das er sich im Ersten Weltkrieg zugezogen hatte. Geschäftsverkäufe und Teilhaberbeschaffungen be- Von 1912 bis 1918 sang auch Pauline Eckhard im trieb. Das Ehepaar wohnte in einer gutbürgerlich Hamburger „Stadt-Theater“ und wohnte im Laza- eingerichteten 3-Zimmer-Wohnung im Rungestieg 3 rus-Gumpel-Stift in der Schlachterstraße 47 (heute in Hamburg-Barmbek. Als am 12. März 1938 Her- Großneumarkt 38), in unmittelbarer Nähe des Hertz- mann Daltrop verstarb, lebte das kinderlose Ehepaar Joseph-Levy-Stift. Hier erhielt Pauline Eckhard ihren mittlerweile in der Kaiser-Wilhelm-Straße 23–31. Von „Evakuierungsbefehl“ und musste sich im Sammel- dort zog Thekla in das Hertz-Joseph-Levy-Stift. Bis lager der Volksschule in der Schanzenstraße 105 zu ihrer Pensionierung war sie als Verkäuferin tätig, einfinden. Am 19. Juli 1942 wurde sie in das Getto aber, wie auf ihrer Kultussteuerkarte der Jüdischen Theresienstadt deportiert. Dort wurde sie von der DAMMTORSTRASSE 28 · Stolpersteine vor der Staatsoper 95 russischen Armee am 8. Mai 1945 befreit und kehrte die Dresdner Oper und machte von 1922 bis 1924 nach Hamburg zurück. Pauline Eckhard starb im eine große Amerika-Tournee. Danach lebte sie in Alter von 91 Jahren am 31. Dezember 1958 im jüdi- Berlin und gab noch verschiedene Gastspiele und schen Altersheim in der Schäferkampsallee 27. Konzerte. 1935 musste sie als Jüdin Deutschland Der Hauswart aus dem Hertz-Joseph-Levy-Stift Josef verlassen. Sie ging nach Brüssel und arbeitete dort Polak, geboren 1899, wurde am 8. November 1941 als Gesangspädagogin, bis sie 1942 nach der Beset- nach Minsk deportiert und von dort weiter nach zung Belgiens durch die deutschen Nationalsozia- Auschwitz. Josef Polak überlebte Auschwitz nicht. listen verhaftet und nach Auschwitz deportiert Ein weiterer Stolperstein für Camilla Fuchs und ihre wurde. 1943 wurde sie dort ermordet. Schwester Thekla Daltrop liegt vor dem Haus Groß- Text: Brita Reimers neumarkt 56 (Hertz-Joseph-Levy-Stift).90) Text: Susanne Rosendahl Stolperstein für Kurt Abraham Salnik Seit 1921 war Kurt Abraham Salnik (geb. am 1.7.1894 Stolperstein für den Chorsänger Mauritz Kapper in Riga) als Chorsänger (Tenor) am „Stadt-Theater“ Der in der Marktstraße 28 wohnende Chortenor des beschäftigt. 1934 wurde ihm wegen seiner jüdischen Hamburger „Stadt-Theaters“ Mauritz Kapper wurde Herkunft gekündigt. Vergeblich bemühte er sich 1939 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft aus dem um eine Einreise in die USA. So floh er mit seiner „Stadt-Theater“ entlassen. Ein Jahr später ging er Familie nach Riga, um dort ein Visum zu bekommen. ins Exil nach Zandvoort in den Niederlanden. Seit Seiner Frau und seiner Tochter gelang rechtzeitig 1940 gilt er als verschollen. die Flucht nach Baltimore. Kurt Salnik hingegen wurde von dem Einmarsch der Deutschen im Juli Stolperstein für den Werkstättenleiter 1941 überrascht. Vermutlich starb Salnik 1941 im Jacob Kaufmann Rigaer Getto. Der mit seiner Frau und den beiden Töchtern im Bendixenweg 11 wohnende Jacob Kaufmann (geb. Stolperstein für Joseph Schmidt 1870) war seit 1920 Werkstättenleiter am „Stadt- Anlässlich seines 100. Geburtstages wurde 2004 für Thea ter“. 1942 wurde er ins KZ Theresienstadt de- den Sänger und Schauspieler Joseph Schmidt (4.3. portiert, wo er am 8.2.1943 ermordet wurde. 1904 in Dawideny/Bukowina/Österreich-Ungarn- Seine Frau Franziska Kaufmann, geb. Cohn (geb. 16.11.1942 im Internierungslager Girenbad/Kanton 1872), nahm sich am 23. Juni 1942 das Leben. Seine Zürich) eine Sondermarke vergeben. Töchter Margarethe Meyer, geb. Kaufmann (geb. Joseph Schmidt wuchs in einer orthodox-jüdischen 1905), und Käthe Kaufmann (geb. 1902) wurden Familie auf. Bereits als Jugendlicher sang er in der 1942 im KZ Auschwitz ermordet. Synagoge. Durch Förderung von Freunden bekam er in Berlin eine fundierte Gesangsausbildung. Nach Stolperstein für Ottilie Metzger-Lattermann einer Unterbrechung des Studiums durch die Ab- Ottilie Metzger-Lattermann, geb. Metzger (15.6.1878 leistung des Militärdienstes hatte er 1929 sein Rund- Frankfurt a. M.–Februar 1943 Auschwitz), debütierte funkdebüt mit einer schwierigen Partie für Tenöre. 1898 in und kam über Köln 1903 als Erste Al- Er sang die Rolle des Vasco da Gama in einer Über- tistin nach Hamburg ans „Stadt-Theater“. Hier be- tragung von Giacomo Meyerbeers (1791–1864) „Afri- gann ihre große Karriere, und hier heiratete sie den kanerin“. Im selben Jahr hatte er auch seinen ersten Schriftsteller Clemens Froitzheim und 1910 in zweiter Auftritt in einer Oper. Ehe den Bariton Theodor Lattermann (1880–1926). Seine internationale Karriere machte er aber mit Zwischen 1901 und 1904 und im Jahr 1912 sang sie Schallplattenaufnahmen und Rundfunkkauftritten. in Bayreuth. 1915 ging sie für acht Spielzeiten an So war er jeden Monat mit einer großen Funkopern-

90 Quellen: Staatsarchiv Hamburg natürliche Sterbefälle, 3 Akten und Sozialfürsorge, Abl. 1999/2 Eck- 522-1 Jüdische Gemeinden, 992 b, Kul- 1942/331, und 3 Akten 1941/1899; hard, Pauline; Hamburger Adressbuch tussteuerkartei der Deutsch-Israeliti- Staatsarchiv Hamburg 351-11 AfW, Abl. 1927; Irmgart Stein, Lazerus Gumpel schen Gemeinde Hamburg; Staatsarchiv 2008/1, 180567 Eckhard, Pauline; und seine Stiftung für Freiwohnungen Hamburg 331-5, Polizeibehörde-Un- Staatsarchiv Hamburg 351-14 Arbeits- in Hamburg. 96 DAMMTORSTRASSE 28 · Stolpersteine vor der Staatsoper

produktion im Berliner Rundfunk zu hören. Mit der kam in ein Krankenhaus, wurde kurz darauf aber Machtübernahme durch die Nationalsozialisten als „Simulant“ und „lagerfähig“ entlassen. Bei einem brach Joseph Schmidts Karriere im Rundfunk ab. Spaziergang am 16. November 1942 starb Joseph Doch konnte er seine Fähigkeiten noch in einem an- Schmidt an Herzversagen. Er wurde auf dem Israe- deren Medium beweisen: dem Film. So spielte er litischen Friedhof Friesenberg in Zürich bestattet. mit in dem Film „Ein Lied geht um die Welt“, wel- cher im Mai 1933 uraufgeführt wurde. Joseph Stolperstein für Magda Spiegel Schmidts weitere Filme wurden in Österreich gedreht Magda Spiegel (3.11.1887 Prag, 1942 ins KZ There- und kamen in Deutschland nicht mehr zur Auffüh- sienstadt deportiert und wahrscheinlich am 20.10. rung. Doch seine Schallplatten, die ab 1933 in Wien 1944 im KZ Auschwitz ermordet) trat im Alter von und London aufgenommen wurden, konnten noch knapp zwanzig Jahren zum ersten Mal in ihrer Hei- bis 1938 in Deutschland erworben werden. matstadt Prag als Altistin auf. In Deutschland wirkte Zwangsweise verlagerte sich Joseph Schmidts Kar- sie 1911 am Düsseldorfer Stadttheater. In Frank- riere auf das Ausland. Regelmäßig gastierte er in furt a. M. erhielt sie 1917 ihr erstes festes Engage- den Niederlanden, drehte in Wien seine Filme, sang ment. Aber sie spielte weiterhin auch in anderen 1935 erstmals in den USA und wurde im damaligen deutschen Städten, so auch in Hamburg und im Palästina gefeiert. Ausland. Nach der Machtübernahme durch die Na- Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche tionalsozialisten erhielt Magda Spiegel wegen ihrer Reich musste sich Joseph Schmidt wieder auf die jüdischen Herkunft immer weniger Angebote. 1935 Flucht begeben. In die USA emigrieren wollte er sang sie zuletzt. Sie zog sich zurück und lebte in nicht, da er in der Nähe seiner Familie, die in Ru- Frankfurt a. M. bis sie am 1. September 1942 ins mänien lebte, bleiben wollte. In dieser Zeit gastierte KZ Theresienstadt deportiert wurde. Dort trat sie er erfolgreich 1939 im Brüsseler Opernhaus. Als noch bei Lagerkonzerten auf. Am 19. Oktober 1944 1940 die deutschen Truppen in die Benelux-Länder kam sie ins Vernichtungslager Auschwitz und wurde eindrangen, floh Joseph Schmidt mit einem befreun- dort ermordet. deten Ehepaar nach Nizza. Über eine amerikanische Künstleragentur erhielt er ein Ausreisevisum nach Stolperstein für Viktor Uhlmann Kuba, das er jedoch nicht mehr nutzen konnte. „In- Der Komponist, Dirigent und Pianist Viktor Uhlmann folge des amerikanischen Kriegseintritts wurde der wurde am 1.1.1898 in Teschen (Österreich/Un garn) Schiffsverkehr kurz vor Schmidts Ausreise einge- geboren. Am 8.9.1942 wurde er ins KZ Theresien- stellt. Der portugiesische Konsul erteilte Schmidt stadt deportiert und von dort am 16.10.1944 ins im März 1942 ein Transitvisum nach Kuba, doch in Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau abtranspor- diesem Fall verweigerten wiederum die französi- tiert, wo er am 18.10.1944 ermordet wurde. schen Behörden die Reise und annullierten gleich- Viktor Uhlmann entstammte einer jüdischen Familie, zeitig seine Aufenthaltsgenehmigung für Nizza. die bereits vor der Geburt ihres Kindes zum katho- Zwei mal wurde er an der Schweizer Grenze zurück- lischen Glauben übergetreten war. gewiesen, dann gelang ihm zusammen mit einigen Schon auf dem Gymnasium zeigte sich Viktor Uhl- anderen Verzweifelten die illegale Einreise über die manns musikalische Begabung. Er erhielt Zugang grüne Grenze. Am 9. Oktober 1942 meldete sich Jo- zu Arnold Schönberg (1874–1951) und seinen Schü- seph Schmidt in Zürich polizeilich an.“91) Doch hier lern. Nach dem Schulabschluss 1916 absolvierte er erhielt er keine Arbeitsgenehmigung. Schmidt wurde zwei Jahre lang freiwillig den Militärdienst. Ab 1918 in das Internierungslager Girenbad bei Zürich ein- studierte er an der Wiener Universität Jura und be- gewiesen. Dort wartete er mit 350 anderen Juden suchte Arnold Schönbergs „Seminar für Komposi- auf den Asylentscheid. Joseph Schmidt erkrankte, tion“. 1919 brach er beide Studien ab und ging nach

91 Joseph Schmidt: www.exil-archiv.de DAMMTORSTRASSE 28 · Stolpersteine vor der Staatsoper · Elsa Bernstein 97

Prag, um sich dort ganz der Musik zu widmen. Im Elsa Bernstein, Librettistin und ein überleben- Herbst 1920 wurde Viktor Uhlmann Chordirektor des Opfer des Nationalsozialismus und Korrepetitor unter Alexander Zemlinsky (1871– Ein verfolgtes Opfer des Nationalsozialismus war 1942) am Neuen Deutschen Theater in Prag, wo er auch Elsa Bernstein alias Ernst Rosmer (28.10.1866 von 1922 bis 1927 als Kapellmeister beschäftigt war. Wien–12.7.1949 Hamburg), die Librettistin der Oper 1925 machte er mit der Komposition der „Schön- „Königskinder“ von Engelbert Humperdinck (1854– berg-Variationen“ für Klavier Furore. Von 1929 bis 1921). Diese Oper wurde auch im Hamburger „Stadt- 1931 war er dann Kapellmeister und Bühnenmusik- Theater“ aufgeführt, so zur Einstimmung auf die Komponist am Schauspielhaus in Zürich. Weih nachtszeit am 9. Dezember 1932. Heute taucht Da Viktor Uhlmann auch an der Philosophie Rudolf die Oper kaum noch auf den Spielplänen auf. Steiners (1861–1925) Gefallen gefunden hatte, be- Elsa Bernsteins damals neun- oder zehnjährige En- trieb er von 1931 bis 1933 eine anthroposophische kelin Barbara Siegmann saß auch in dieser Vorstel- Buchhandlung in . Mitte 1933 zog er zurück lung und erinnerte sich später: „Die Königskinder – nach Prag, wo er als Musiklehrer und Journalist ar- das war für mich ein etwas unverständliches Mär- beitete. Von 1935 bis 1937 nahm er Kompositions- chen. Ich habe es mir nicht mit meiner Mutter in unterricht bei Alois Haba (1893–1973). 1936 bekam der Oper angesehen, sondern mit einer netten Be- er den Hertzka-Preis für die Oper „Der Sturz des kannten, die ihr einen Gefallen tun wollte. Was Anti christ“. meine Großmutter mit dem Stück aussagen wollte, Bis zu seiner Deportation am 8. September 1942 ist mir damals nicht klar geworden." ins Getto Theresienstadt hatte Viktor Uhlmann 41 Barbara Siegmanns Mutter war die berühmte Gei- Werke komponiert. Der größte Teil dieser Werke ist gerin und Professorin an der Hamburger Musik- verschollen. Erhalten blieben fünfzehn Drucke sei- hochschule Eva Hauptmann (1894–1986), und dieser ner zwischen 1936 und 1942 entstandenen Kompo- Nachname verweist auf eine kaum mehr bekannte sitionen, die er einem Freund zur Aufbewahrung verwandtschaftliche Bindung – und auf eine Drama - gegeben hatte. ti kerin, deren Schaffen mittlerweile vergessen ist. Im Getto Theresienstadt war Uhlmann in der so ge- Elsa Bernstein war mit Gerhart Hauptmann (1862– nannten Freizeitgestaltung tätig. Er wirkte dort als 1946) zunächst gut bekannt und dann verwandt. Klavierbegleiter, organisierte Konzerte und kompo- In den 1890er Jahren wurden ihre und seine Stücke nierte. Sein Theresienstädter Nachlass blieb erhal- von der „Freien Bühne“ in Berlin aufgeführt. Elsa ten, so die Kammeroper „Der Kaiser von Atlantis Bernstein publizierte unter dem Pseudonym Ernst oder die Tod-Verweigerung“. Zur Aufführung kam Rosmer, als Reverenz an Henrik Ibsen (1828–1906) dieses Werk erst 1975 als bearbeitete Fassung in und sein Stück „Rosmersholm“ um den Pfarrer Jo- Amsterdam. hannes Rosmer, der „alle Menschen im Lande zu Adelsmenschen“ machen wollte. In ihren Stücken, Stolperstein für Bruno Wolf mit Titeln wie „Dämmerung“, „Wir Drei“, „Maria Der in der Blücherstraße 42 wohnende Musiker Arndt“, griff Elsa Bernstein heikle Themen auf, zu Bruno Wolf (geb. 25.5.1872) spielte im Orchester denen Ehekrisen, Dreiecksverhältnisse und Sexua- des Hamburger „Stadt-Theaters“ das Waldhorn. We- lität zählten. Dies sorgte für heftige Diskussionen, gen seiner jüdischen Herkunft wurde er 1932 zwangs- denn ihr Werk wurde auch immer im Hinblick auf pensioniert und erhielt eine kleine Rente. Am 7. Ok - die Frage beurteilt: Darf eine „Frauenseele“ das? tober 1937 erlitt Bruno Wolf in seiner Wohnung Einschränkungen, mit denen sich Gerhart Haupt- einen Schlaganfall und starb im Israelitischen Kran- mann nicht zu plagen brauchte, und so war auch kenhaus. Auf seinem Stolperstein steht: „Entrechtet er es, für den die „Freie Bühne“ zum Karrieresprung- gedemütigt, Schlaganfall tot 7.10.1937.“ brett wurde. Die Verbindungen zwischen den Fami- 98 DAMMTORSTRASSE 28 · Elsa Bernstein

lien blieben freundschaftlich, 1919 heiratete dann unterwegs war, las das Buch in der Bahn und war sein Sohn Klaus aus der ersten Ehe mit Marie Thie- sehr angetan. Als Melodram mit gesprochenen Tex- nemann die Geigerin Eva Bernstein, Tochter von ten wurden die „Königskinder“ 1897 im Münchner Elsa und Max Bernstein (1854–1925). Hoftheater mit Erfolg uraufgeführt, es folgten darauf Am 28.10.1866 war Elsa in Wien geboren worden, Aufführungen an rund 130 Bühnen. Als durchkom- als Tochter des aus Prag stammenden Paares Hein- ponierte Oper gingen die „Königskinder“ am 28.12. rich Porges (1837–1900), Dirigent, Musikschriftsteller 1910 in der Metropolitan Opera in New York über und Wagner-Mitarbeiter, und Wilhelmine Merores die Bühne und wurden gefeiert als „die Krone des (1842–1915). 1867 waren sie nach München gezo- nachwagnerianischen Opernschaffens“. 92) gen, wo Heinrich Porges als Kapellmeister und Di- Das Operntextbuch „Königskinder“ war ein großer rektor der königlichen Musikschule wirkte. Später buchhändlerischer Erfolg. Doch mit Beginn der Herr- hatte sich das Ehepaar jüdischer Herkunft und Toch- schaft der Nationalsozialisten geriet die betagte und ter Elsa protestantisch taufen lassen. Tochter Elsa erblindete Dichterin Elsa Bernstein in den Fokus hatte in München eine Schauspielausbildung absol- der Verfolger. Ihr Pseudonym Ernst Rosmer schützte viert, nach einigen Abstechern nach Magdeburg das Büchlein, 1941 war das 191000ste Exemplar er- und hatte sie diesen Beruf jedoch schienen, bis 1943 sind noch Opernaufführungen wegen eines Augenleidens aufgeben müssen. nachweisbar. Ab den 1890er Jahren lebte Elsa Bernstein mit ihrem Nach der Machtübernahme durch die Nationalso- Mann, dem Rechtsanwalt und späteren Justizrat Max zialisten wurde Elsa Bernstein zusammen mit ihrer Bernstein, in der Münchener Briennerstraße 8 a. Er Schwester Gabriele Porges (1868–1942 KZ There- verteidigte Sozialisten, bekämpfte das Sozialisten- sienstadt) aus der Wohnung in der Briennerstraße gesetz, engagierte sich für die Demokratie, den vertrieben. Sie kamen in kleineren Wohnungen un- Rechtsstaat und soziale Gerechtigkeit und gegen den ter und wurden schließlich 1942 in das KZ Dachau „Völkerwahnsinn genannt Krieg“. In den letzten Le- verschleppt, und von da aus in die Prominenten- bensjahren war er Sozialdemokrat, aber kein Partei- häuser im KZ Theresienstadt. Gerhart Hauptmann, mitglied. in dessen Arbeitszimmer eine Adolf-Hitler-Büste Das Ehepaar Bernstein veranstaltete einen „kulti- stand, wie etliche Zeitzeuginnen und Zeitzeugen vierten, intellektuellen Salon“, wie sich Katia Mann berichten, sah sich nicht veranlasst, sich für sie ein- (1883–1980) erinnert, die dort ihre Bekanntschaft zusetzen. mit Thomas Mann (1875–1955) festigte. Außerdem Über diese Jahre des Schreckens hat die Zeit ihres trafen sich hier Prominente wie Rainer Maria Rilke Lebens augenleidende Elsa Bernstein Erinnerungen (1875–1926), Ricarda Huch (1864–1947), Ludwig verfasst – auf einer Blindenschreibmaschine in Ham- Ganghofer (1855–1920), Franz von Stuck (1863– burg, wo sie nach ihrer Befreiung aus dem KZ von 1928) etc. Das Haus wurde 1959 abgerissen, nach ihrer Tochter Eva Hauptmann aufgenommen wurde. der Umnummerierung der Straße befindet sich dort Elsa Bernstein verstarb am 12.7.1949 im Alter von die Nr. 11 – eine Gedenktafel fehlt bis heute. 83 Jahren. Durch einen Zufall konnte das in Matrizen Märchenhaft waren die Entstehungsbedingungen der vervielfältigte Manuskript von der „Landeszentrale „Königskinder“ nur bedingt. Heinrich Porges hatte für politische Bildung“ Hamburg 1999 erstmals publi- seinem Freund Engelbert Humperdinck, mit dem ziert werden. Maria Holst, eine in Hamburg lebende zusammen er etliche Wagner-Opern auf die Bühne Freundin von Barbara Siegmann, der Enkelin Elsa gebracht hatte, das neueste Märchendrama von Elsa Bernsteins, gab damals den Tipp an Rita Bake. Zu- zum Lesen gegeben, mit der Frage, ob er dazu nicht sammen mit Birgit Kiupel gab diese dann 1999 das Musik komponieren wolle. Humperdinck, der gerade Manuskript als Buch heraus, unter dem Titel: „Elsa zu einer Opernaufführung von „Hänsel und Gretel“ Bernstein: Das Leben als Drama. Erinnerungen an

92 Das Märchendrama „Königskin- siehe: Eva Hauptmann (Hrsg.): Königs- der“ von Ernst Rosmer (Elsa Bernstein) kinder, Briefe und Dokumente zur Ent- erschien erstmals 1894 im Verlag stehungs- und Wirkungsgeschichte der Samuel Fischer. Zur Entstehungs- und Märchenoper. Koblenz 1993. Wirkungsgeschichte der Märchenoper DAMMTORSTRASSE 28 · Elsa Bernstein · Die „Hamburgische Staatsoper“ nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute 99

Theresienstadt“.93) Zur Buchpräsentation lud damals „Das Bespielen eines Opernhauses war in den Jahren die „Landeszentrale für politische Bildung“ ins Café nach der Kriegskatastrophe, als die Städte wieder Liebermann in der „Hamburgischen Staatsoper“ ein. aufgebaut wurden, keine Selbstverständlichkeit. Es Text: Birgit Kiupel bedurfte klarer politischer Entscheidungen für die Kultur. Obwohl viele Politiker nach dem Krieg der Meinung waren, dass eine Oper nicht das dringlichste Die „Hamburgische Staatsoper“ nach dem sei, was die Stadt in dieser Zeit brauche, sorgte der Zweiten Weltkrieg bis heute sozialdemokratische Bürgermeister Max Brauer [1887–1973] dafür, dass der Betrieb wieder aufge- Nach Kriegsende wurde sofort mit den Räumarbeiten nommen wurde. Er stellte kategorisch fest, dass die und dem Wiederaufbau der „Hamburgischen Staats- Oper ebenso wichtig sei wie sozialer Wohnungsbau. oper“ begonnen. Währenddessen behalf man sich Als die Besucher im Winter 1946/47 trotz Decken zunächst mit dem „Thalia-Theater“ und der „Mu- und heißer Getränke froren, weil es keine Kohle gab, sikhalle“ (siehe auch S. 141) als Aufführungsorte. hatte Brauer die Idee: Kohle gegen Kunst. Bergarbeiter Bereits 1946 war mit einem provisorischen Theater im Ruhrpott legten Sonderschichten ein. Dafür gaben mit 606 Plätzen in dem von der Bombardierung ver- die Philharmoniker im Pott Konzerte. Aus dieser aus schont gebliebenen Bühnenhaus in der Dammtor- der Not heraus geborenen Idee entwickelten sich straße eine Interimslösung geschaffen worden. dann die Ruhrfestspiele Recklinghausen.“94) Dem Bühnenhaus wurde 1953 ein Vorderhaus-Neu- bau mit Foyer und Zuschauerraum von dem Archi- tekten Gerhard Weber (1909–1986) vorgesetzt. Am 13. Oktober 1955 wurde die „Hamburgische Staats oper“ mit 1679 Plätzen wiedereröffnet. In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde „im Zuge der politisch unruhigen 1960er Jahre (...) die Existenzberechtigung der Oper von vielen überhaupt infrage gestellt. Der französische Komponist Pierre

Seiteneingang fürs Publikum in das von 1946 bis 1955 existierende Opern-Provisorium. 1943 waren das Zu- schauerhaus und einige Nebengebäude der Staatsoper Opernprovisorium 1946: Zuschauerraum mit Bühne im durch Bomben zerstört worden. ehemaligen Bühnenhaus. Photo: P. F. Schmidt. Staatsar- Photo: Erich Andres. Staatsarchiv Hamburg chiv Hamburg

93 Rita Bake, Birgit Kiupel (Hrsg.): Elsa Bernstein. Das Leben als Drama. Erinnerungen an Theresienstadt. Dort- mund 1999. 94 Hermann Rauhe, a. a. O., S. 155f. 100 DAMMTORSTRASSE 28 · Die „Hamburgische Staatsoper“ nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute

Außenansicht der heutigen Staatsoper: Neubau des Vorderhauses mit Foyer und Zuschauerraum, erbaut 1953. Photo: Marina Bruse

Boulez [geb. 1925] forderte sogar, man solle alle punkt der Saison die von ihm ins Leben gerufenen Opernhäuser niederbrennen. [Rolf] Liebermann [von „Hamburger Ballett-Tage“. 1959 bis 1973 Opernintendant] sah sich bald zwi- August Everding holte als Chefregisseur Götz Fried- schen den Stühlen. Dem konservativen Opernpubli- rich (1930–2000) nach Hamburg und installierte die kum war er zu radikal, anderen galt er als Lenker „Opera Stabile“ (siehe S. 86). „Und mit Werkstatt- einer überkommenen Musikinstitution. veranstaltungen in der Reihe ‚Musiktheater in der Neben der Förderung des modernen Musiktheaters Diskussion‘, Gesprächen mit dem Publikum und en- sorgte Liebermann [1910–1999] dafür, dass die qua- gen Kontakten zu den Schulen setzt Everding in sei- litative Kluft zwischen Premiere und den herkömm- ner erfolgreichen Arbeit einige neue Akzente. Ein lichen Vorstellungen von Repertoirestücken ge- Gastspiel in Israel mit Schönbergs ‚Moses und Aron‘ schlossen wurde. Er bildete ein Ensemble heran, und einige Ballettaufführungen waren in der Spielzeit das fest am Haus engagiert war und hohe Qualitäts - 1974/75 ein Höhepunkt in Everdings Wirken.“96) ansprüche gewährte. Auf diese Weise wirkte er dem 1997/98 übernahm dann Dr. Albin Hänseroth (1939– Starsystem mit seinen negativen Auswirkungen auf 2004) die Intendanz der Oper und Ingo Metzmacher den Musiktheater-Betrieb entgegen.“95) (geb. 1957) den Posten des Generalmusikdirektors. Liebermanns Nachfolger August Everding (1928– „Auch in dieser Zeit gab es hohe musikalische Aus- 1999) engagierte 1973 John Neumeier (geb. 1942) zeichnungen für die Inszenierung von Opern. Unter für die Leitung des Ballettfaches. John Neumeier dem Opernintendanten Louwrens Langevoort [geb. wurde Ballettdirektor und Chefchoreograph. Ab 1996 1957], der im Jahre 2000 Albin Hänseroth ablöste, erhielt er zusätzlich den Status eines Ballettinten- wurde die Kinderopernreihe ‚Opera piccola‘ ge- danten. Mit Neumeier, Träger des Bundesverdienst- gründet. Nach dem Prinzip ‚Kinder machen Oper kreuzes, erlangte das Hamburger Ballett Weltruhm. für Kinder‘ wird hier der Nachwuchs im künstleri- Seit 1975 veranstaltet er als Abschluss und Höhe- schen Bereich ebenso gefördert wie das junge Publi-

95 Hermann Rauhe, a. a. O., S. 159. 96 www. hamburgische-staatsoper.de DAMMTORSTRASSE 28 · Die „Hamburgische Staatsoper“ nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute · Geschlechterrollen auf der Opernbühne 101 kum,“97) heißt es auf der Website der „Hamburgi- führte Werke in konzertanter Form zeigt (…). Auch schen Staatsoper“. Nachwuchsförderung wird an der Staatsoper Ham- 2001 beschloss die Hamburgische Bürgerschaft den burg weiterhin groß geschrieben. Die jungen Sän- Neubau eines Betriebsgebäudes. „Mit einem Volu- gerinnen und Sänger des internationalen Opernstu- men von 37 Millionen Euro stellte das neue Be- dios stellen jede Saison eine eigene Produktion vor, triebsgebäude die umfangreichste Investition der und bei der Kinderopernreihe ‚Opera piccola‘ sitzen Freien und Hansestadt Hamburg im Kulturbereich die Kinder nicht nur im Publikum, sondern wirken in den letzten Jahren dar.“98) Noch im selben Jahr auch als Sänger mit. ‚Oper ist Drama und Leiden- wurde das alte Betriebsgebäude abgerissen und mit schaft, ausgedrückt durch Gesang, Musik und dem Neubau begonnen. Am 3. Januar 2005 konnte Szene‘, sagt Simone Young. ‚Sie berührt Herz und das neue Betriebsgebäude eingeweiht werden. Der Verstand mit einer Unmittelbarkeit, die es heute Entwurf des Hauses kam von dem Hamburger Ar- nicht mehr oft zu erleben gibt.‘“100) chitektenbüro Konstantin Kleffel (geb. 1943), Uwe Köhnholdt (geb. 1940) und Partner. „Auf einer Geschlechterrollen auf der Grundfläche von 8500 qm entstanden drei große Opernbühne Probebühnen, ein Orchesterprobensaal für das Phil- harmonische Staatsorchester, ein Chor- und ein Bal- Besser als Simone Young kann man nicht ausdrü- lettprobensaal sowie zahlreiche Büro- und Aufent- cken, was die Oper bewirken kann. Die Oper ist haltsräume. In den oberen Geschossen sind die also nicht nur ein musikalisches Kraftwerk, sie be- Werkstätten eingezogen, darunter die Kostümschnei- rührt, wie Simone Young sagt, auch den Verstand – derei, die Maskenbildnerei, die Rüstmeisterei und und damit werden Opernaufführungen für die poli- die Hutmacherei. In den Untergeschossen ist Platz tische Bildung interessant, denn die Opernlibretti für Lager- und Magazinräume, zudem konnten im behandeln oft Themen der Zeitgeschichte, beschäf- Bereich des zentralen Lastenaufzugs kleinere Tisch- tigen sich mit Krieg und Frieden, mit Armut und ler- und Schlosserwerkstätten für Reparaturen im Reichtum und mit Geschlechterrollen. „Oh wie so laufenden Betrieb eingerichtet werden. Viele Trans- trügerisch: Ideale Geschlechterrollen auf der Opern- porte werden durch den Neubau überflüssig, denn bühne und die gesellschaftliche Realität“ hieß des- Dekorationen für 10 bis 14 Spieltage können nun halb auch eine 1998 von der „Landeszentrale für im fertigen Tagesmagazin gelagert werden. Der neue politische Bildung“ in der „Hamburgischen Staats- komplett versenkbare Drehscheibenwagen ent- oper“ durchgeführte Veranstaltung. spricht dem höchsten technischen Standard und Im vollbesetzten Foyer des 4. Ranges der „Hambur- bietet noch vielfältigere Möglichkeiten bei der Rea- gischen Staatsoper“ präsentierten die Historikerin- lisierung von Bühnenbildern sowie schnellere Um- nen Birgit Kiupel und Rita Bake mit den Sängerinnen bauten.“99) Maria Freudenthal-Kleina und Karin Kunde sowie Mit der Spielzeit 2005/2006 übernahm dann zum der Musikerin Marie-Luise Bolte verschiedene stadt- ersten Mal in der Geschichte der „Hamburgischen bekannte Opern, leuchteten deren sozial-geschicht- Staatsoper“ eine Frau die künstlerische Leitung: die lichen Hintergründe aus und verglichen die in diesen australische Dirigentin Simone Young (geb. 1961). phantastischen Opernwelten gelebten Geschlechter- Als Opernintendantin und Hamburgische General- rollen mit den gesellschaftlichen Realitäten. musikdirektorin „verbindet Simone Young die Tra- Opernwerke sind Dokumente, die die Atmosphäre dition des Hamburger Opernhauses mit modernem der Zeit, den Seelenzustand der Völker und die Er- Musiktheater. (…) Künstlerische Akzente setzt Si- eignisse der Tagespolitik sehr genau widerspiegeln. mone Young mit einem 2006 begonnenen Britten- Sie sind ein klingendes zeitgeschichtliches Doku- Zyklus, mit der Reihe ‚Opera rara‘, die selten aufge- ment.

97 ebenda. 98 ebenda. 99 ebenda. 100 ebenda. 102 DAMMTORSTRASSE 28 · Geschlechterrollen auf der Opernbühne DAMMTORSTRASSE 27 · „Schwan-Apotheke“

Mit Musik, einem Medium, das alle menschlichen auch auf diese die Botschaften, eingebettet und da- Sinne erreicht, werden Botschaften oft einprägsamer mit gut verdaulich in ergreifender Musik? Und wenn und nachhaltiger aufgenommen, als es oft irgendein sie wirken: Wirken diese in Musik vertonten Ge- wissenschaftlicher oder politischer Text vermag. schlechterrollenmuster etwa nur in den nächtlichen Und so ist die Oper seit Jahrhunderten eine nicht Träumen der Opernbesucherinnen und -besucher zu unterschätzende Übermittlerin von Geschlechter - nach? Nehmen diese die Botschaften nicht auch mit rollenmustern. Die Musik erzählt von Gewaltver- in ihre eigene Realität, an ihren Arbeitsplatz, wo hältnissen, von sozialen Konflikten und von oftmals sie verantwortungsvolle Positionen bekleiden? tödlichen Kämpfen zwischen Mann und Frau. Was Die Oper ist in vielfältiger Hinsicht ein Politikum – sich auf der Bühne beim Spiel zwischen den Ge- so gilt sie als Standortfaktor, als sozialer Treffpunkt schlechtern abspielt, beinhaltet klare Botschaften und Erlebnisraum. Auch das Bühnengeschehen fun- in puncto Übermittlung gesellschaftlich sanktionier- giert als gesellschaftlicher Spiegel – und damit auch ter Geschlechterrollenmuster. als Ort der Geschlechterpolitik, denn die Oper lebt Früher war die Oper zwar als Bildungsträgerin weit- von der Konstruktion der Liebe – und damit in un- aus wichtiger als heute. Aber nach wie vor geht serer Gesellschaft von der Konstruktion zweier Ge- das Bildungsbürgertum in die Oper. Wirken nicht schlechter.

Immer wieder zu Silvester: neue Jahr mit althergebrachten Geschlechterrollen- Die Operette „Die Fledermaus“ mustern eingeläutet. Denn in der „Fledermaus“ ent- wirrt sich das Geschlechterverwirrspiel, bei dem Immer wieder, zu fast jedem Silvester, schwirrt die zwar gesellschaftlich nicht sanktionierte, tabubre- „Fledermaus“ durch Opernhäuser. Und wenn dann chende Rollenmuster ausprobiert werden dürfen, – die „Fledermaus“ um 24 Uhr das neue Jahr mit ei- am Ende jedoch müssen jeder Mann und jede Frau nem Walzer begrüßt und das Publikum sich aus sei- wieder in die Geschlechterrollen schlüpfen, die sie nen Theatersesseln erhebt, mit dem Glaserl Sekt an- in dem seit einigen Jahrtausenden bestehenden pa- stößt, ja, dann wurde das alte Jahr mit einem seit triarchalen Gesellschaftssystem zu spielen haben. Jahrhunderten immer wieder gern gespielten und Und das jedes Jahr immer wieder neu. gesehenen Geschlechterverwirrspiel beendet und das

20. STATION „Schwan-Apotheke“ korrekter Firmenname seit 1896 Dammtorstraße 27 „W. Mielck Schwan Apotheke“ „Schwan-Apotheke“ (Standort: seit 1842) Gegründet wurde die „Schwan-Apotheke“ wahr- scheinlich 1765 von dem aus Sonneburg/Branden- burg stammenden Christoph Gottfried Bergmann. Das Haus Dammtorstraße 27 wurde 1911/12 nach Zuerst befand sich die Apotheke in der Mattentwiete, Plänen der Architekten Jacob und Otto Ameis (1881– wurde dann 1798 verlegt durch Johann Hartwig 1958) erbaut. „Der Backsteinbau verbindet Heimat- Krohne in ein Haus Beim Neuen Krahn 39. 1827 er- schutzbewegung und großstädtisches Kontorhaus.“101) warb Eduard Nahrmann die Apotheke und verlegte

101 Volkwin Marg, Reiner Schröder: Architektur in Hamburg seit 1900. Hamburg 1993, S. 51. DAMMTORSTRASSE 27 · „Schwan-Apotheke“ 103

er bedeutsame Untersuchungen durch. Er beschäf- tigte sich mit der Feststellung der Konstitution der Piperinsäure und des Piperidins. Seine wertvollste Entdeckung gelang ihm mit der ersten Darstellung eines künstlichen Riechstoffes, des Heliotropins (Pi- peronal), das in der Natur in geringen Mengen in den Blütenölen von Spiraea ulmaria und Robinia pseudacacia vorkommt. Mit seinem Bruder Bertram Mielck verfasste er eine Kryptogamen-Flora für Ham - burg und Umgebung. (…) Als Apotheker verwirk- lichte er viele neuen Idee, z. T. in Zusammenarbeit mit dem bedeutenden Dermatologen Professor Paul Gerson Unna [1850–1929]. So stellte er als erster Sal- benmull her. Er erfand einen besonders imprägnier- ten, hochprozentigen Jodoformmull, der vor allem von dem Chirurgen Leichsrink benutzt wurde, und empfahl die Verwendung des Torfmooses (Sphag - num) an Stelle von Watte wegen dessen größerer Saugfähigkeit für Verbandszwecke,“102) schreibt Ru- dolf Schmitz in seiner „Geschichte der Hamburger Apotheken“. 1895 übergab Mielck die Apotheke an Dr. Paul Runge (1869–1953) und Max Levy (1867–1942?), ein Jahr später verstarb Mielck. Weitere Besitzer der Apotheke folgten, so auch der Dammtorstraße 27: Gebäude der 1911/12 erbauten älteste Sohn von Dr. Wilhelm Hildemar Mielck: Dr. „Schwan“-Apotheke. Photo: Marina Bruse Wilhelm Albrecht Mielck (1880–1957), der zusam- men mit Dr. Paul Conrad August Runge die Apo- sie 1832 an den Gänsemarkt 55. Dort führte er die theke kaufte, die beide ab 1909 gemeinsam führten. Apotheke unter dem Namen „Alte französische Apo- theke“. 1841 wurde Johann Hildemar Friedrich Wilhelm Mielck (1805–1895) Teilhaber der Apotheke, die 1842 in die Dammtorstraße 27 verlegt wurde und dort in „Schwan-Apotheke“ umbenannt wurde. „1875 über- nahm sein ältester Sohn Dr. Wilhelm Hildemar Mielck [1840–1896] die Apotheke. Auch er war [wie sein Vater] eine außerordentliche Persönlichkeit, nicht nur Apotheker, sondern nebeneinander auch Naturwissenschaftler, Sprach-, Geschichts- und Al- tertumsforscher. Als junger Apotheker hatte er einige Jahre in Russland zugebracht und auch in der be- kannten Ferrein’schen Apotheke in Moskau gear- Treppenhaus des Gebäudes „Schwan“-Apotheke. beitet. Mit Professor Rudolf Fittig [1835–1910] führte Photo: Marina Bruse

102 Rudolf Schmitz: Geschichte der Hamburger Apotheken 1818–1965. Frankfurt a. M. 1966, S. 257f. 104 DAMMTORSTRASSE 27 · „Schwan-Apotheke“ DAMMTORSTRASSE 25 · Oberschulbehörde · Aspekte der Schulpolitik · Erna Halbe

1954 wurde dann Dr. Paul-Anton Runge (1915–2006) bei den alten Gebäude ein Neubau errichtet. Dieses Teilhaber von Dr. Wilhelm Albrecht Mielck. Von Haus steht heute noch. Im amtlichen Besichtigungs- 1965 bis zu seinem Tod am 5.7.2006 war Dr. Paul- protokoll heißt es, „dass sämtliche Betriebsräume Anton Runge alleiniger Inhaber der Apotheke. derart zweckmäßig und großzügig angelegt und ein- Nachdem bereits vor 1911 die Witwe von Dr. W. H. gerichtet sind, dass es wohl kaum eine zweite Apo- Mielck das neben der Apotheke liegende Grundstück theke im deutschen Reich geben dürfte, die etwas in der Großen Theaterstraße erworben hatte, wurde Ähnliches aufweisen kann“.103) Die heutige Einrich- hier, um den Anforderungen der florierenden Apo- tung der Apotheke besteht seit 1912. theke gerecht zu werden, anstelle der bisherigen

21. STATION Dammtorstraße 25 Ehemaliges Verwaltungsgebäude der Oberschulbehörde (Standort: Ein besonderer „Hingucker“ ist in der 1913–1970); einige Aspekte der Schulpolitik von 1914 bis 1970: Dammtorstraße das nach dem Entwurf Einheitsschule, Standesschule, Schulgeldzahlungen, Lehrmittel- von Fritz Schumacher (1869–1947) 1913 freiheit, Religionsunterricht, Selbstverwaltung der Schulen, Auf- erbaute, mit Ziegelstein verblendete ehe- bauschulen, sechsjährige Grundschule, Gesamtschule, Prügelstrafe; malige Verwaltungsgebäude der Ober- Erna Halbe, einziges weibliches Mitglied der Exekutive des Arbei- schulbehörde. Mit seinem Erker und dem ter- und Soldatenrats (1918/19) Zwillingsgiebel hebt es sich von den an- deren Gebäuden in dieser Straße ab.

Dammtorstraße 25: Gebäude der ehemaligen Oberschulbe- hörde, errichtet 1913. Als Ham- burg nach dem Zweiten Welt- krieg unter britischer Mili- tärregierung stand, hatte im Gebäude der Oberschulbe- hörde auch die Auskunfts- und Verbindungs- stelle zur Mili- tärregierung ihren Sitz. Photo: Marina Bruse

103 Zit. nach: ebenda. DAMMTORSTRASSE 25 · Oberschulbehörde · Aspekte der Schulpolitik 105

Einige Aspekte der Schulpolitik von 1914 Oppens in ihrem Buch über „Hamburg zu Kaisers bis 1970 Zeiten“. Und der Historiker Volker Ulrich erklärt: „Tatsächlich Ein Jahr nach ihrem Einzug in die Dammtorstraße hatten Senat und konservative Bürgerschaftsmehr- 25 entschloss sich die Oberschulbehörde 1914 die heit sich vor 1914 konsequent gegen alle schulpoli- Schulgeldzahlung an Volksschulen zu erleichtern. tischen Neuerungen gesperrt. Erst als sich im Laufe Eltern, die weniger als 1000 Mark im Jahr verdien- des Krieges die innenpolitischen Spannungen ver- ten, sollten für ihre Schulkinder kein Schulgeld mehr schärften, als das Wetterleuchten der russischen Re- zahlen. Für alle anderen Schulformen (Realschulen, volution deutliche Warnzeichen setzte, entschlossen Oberrealschulen, Gymnasien) sollte weiterhin ein- sich die Regierenden in der Hansestadt, nicht nur kommensunabhängig Schulgeld entrichtet werden. die Reform des Klassenwahlrechts in Angriff zu neh- „Die Sozialdemokratie forderte die völlige Abschaf- men, sondern auch auf schulpolitischem Gebiet ei- fung des Schulgeldes. Damit kam sie [damals] je- nige Konzessionen zu machen. Deutlich erkennbar doch nicht durch. Immerhin führte der Anstoß dazu, stand dahinter die Absicht, das sich radikalisierende die Abstufung nach dem Einkommen der Eltern aus- Protestpotenzial in der Bevölkerung rechtzeitig zu zuweiten. kanalisieren, um eine revolutionäre Zuspitzung nach In der Schulpolitik gingen die Sozialdemokraten russischem Muster zu verhindern. Im März 1918 häufig auf die Barrikaden. Der Kampf galt dem Sys- legte der Senat der Bürgerschaft ein neues Unter- tem der Standesschule, das in Hamburg unleugbar richtsgesetz vor, das einige schulorganisatorische sehr ausgeprägt war. Innerhalb dieses Systems er- Verbesserungen vorsah, am Prinzip der ‚Standes- regten besonders die Vorschulen den Zorn der schule‘ indes nicht rüttelte. Erst Ende Oktober 1918 Kämpfer. Fast jedes Jahr wurde eine neue Realschule erklärte der Senat in einer Mitteilung an die Bürger- eingerichtet, der die Vorschule als Grundstufe diente. schaft seine Bereitschaft, die staatlichen Vorschulen Nur in den Arbeitervierteln Rothenburgsort und für das höhere Schulwesen aufzuheben und an den Hammerbrook verzichtete man darauf. Nun stand Volksschulen Schulgeld- und Lernmittelfreiheit ein- zwar die Realschule im Prinzip auch begabten Volks- zuführen. Doch war diese Ankündigung allzu deut- schülern offen, aber diese waren beim Übertritt den lich durch den Zwang der – wie der Senat selbst Vorschülern gegenüber im Nachteil. sagte – ‚veränderten Zeitverhältnisse‘ diktiert, als In der dreijährigen Vorschule lernten die Jungen dass sie noch größeren Eindruck hätte machen kön- aus gut situierten Familien schneller und gründlicher nen.“105) als die kleinen Volksschüler in vier Jahren. Allein Als 1918 die Novemberrevolution ausbrach, berief das Sprachniveau machte einen bedeutenden Un- der Arbeiter- und Soldatenrat einen „Aktionsaus- terschied aus. Der Volksschüler schleppte noch lange schuss“ der Lehrer, der in Verbindung mit dem Ar- an der Last ungenügender Vorbildung in jeder wei- beiter- und Soldatenrat die Schulreform verwirkli- terführenden Schule, wenn er nicht überhaupt ver- chen sollte. Am 23. November lagen die Beschlüsse sagte. Erbittert behaupteten die Sozialdemokraten, des Lehrerrats zur Schulreform vor und umfassten dass der Staat die Standesschulen fördere. Wer ge- die Punkte: „1. ‚Maßnahmen für den Übergang zur nug Geld habe, könne sein Kind in die Vorschule Einheitsschule‘; 2. ‚Selbstverwaltung‘ und 3. ‚Reli- schicken und ihm den Start erleichtern. gionsunterricht‘“.106) Abschaffung der Vorschulen und Zwang zum allge- In der Zwischenzeit hatte der Arbeiter- und Solda- meinen Besuch der Volksschulen auf der Unterstufe tenrat nach Verhandlungen mit Rats- und Senatsver - stand also auf dem Programm der Sozialdemokra- tretern entschieden, dass „‚unbeschadet der Ausübung ten. Dieses später in Hamburg eingeführte System der politischen Gewalt durch den Arbeiter- und Sol- galt damals als krasse Utopie“,104) schreibt Edith datenrat‘ Senat und Bürgerschaft in ihre Funktionen

104 Edith Oppens: Hamburg zu Kai- Traum von der freien Schule“: Schule sers Zeiten. Hamburg 1976, S. 95. und Schulpolitik in der Weimarer Re- 105 Volker Ulrich: Arbeiter- und Sol- publik. Hamburg 1988, S. 11. datenrat und Schulreform 1918/19. In: 106 Volker Ulrich, a. a. O.; S. 15. Hans-Peter de Lorent (Hrsg.): „Der 106 DAMMTORSTRASSE 25 · Oberschulbehörde · Aspekte der Schulpolitik · Erna Halbe

als kommunale Verwaltungskörperschaften wie- entziehen. Dazu wandte sie folgende Taktik an: For- dereingesetzt [werden]. Gegen ihre Beschlüs se stand derungen des Arbeiter- und Soldatenrates, die der dem Arbeiter- und Soldatenrat ein Vetorecht zu. Au- Behörde nicht wichtig erschienen und die das beste- ßerdem entsandte er Vertreter als ‚Beigeordne te‘ in hende Schulsystem in seinen „Grundfesten“ nicht Senat und Finanzdeputation, die dort eine Kontroll- antasteten, wurden befolgt, tief greifende Verände- tätigkeit ausüben sollten. Dieses Arrangement stellte rungen dagegen verzögert, hinausgeschoben oder faktisch eine Machtverschiebung zugunsten der Träger nicht bearbeitet. Das sah im Folgen den so aus: „Was des alten Regimes dar. Da der Arbeiter- und Solda- die Frage der Einheitsschule betraf, beschloss die Be- tenrat von seinem Vetorecht kaum Gebrauch machte, hörde, sich ‚grundsätzlich auf den Boden der zur Be- konnten Senat und Bürgerschaft ihre bisherige Arbeit ratung stehenden Forderungen‘ zu stellen und das ohne größere Störung weiterführen.“107) Schulratskollegium zu beauftragen, den Übergang Um die Verwaltungsbehörden wirksam zu kontrol- vorzubereiten und zu prüfen, welche Maßnahmen lieren, hätten die Vertreterinnen und Vertreter, die in bereits zum neuen Schuljahr in Kraft treten könnten. den vom Arbeiter- und Soldatenrat ins Leben gerufe- Auch der ‚Forderung der Selbstverwaltung‘ stimmte nen Kommissionen saßen, über Fachkompetenz ver- die Behörde grundsätzlich zu. So erklärte sie sich fügen müssen. Doch der Arbeiter- und Soldatenrat sofort damit einverstanden, bis zum 15. Dezember hatte kaum fachkompetente Mitstreiterinnen und Mit- 1918 an allen staatlichen Schulen Ham burgs Eltern- streiter. In die Kommission für Unterrichts- und Bil- räte zu bilden, die sich aus jeweils neun Vertretern dungswesen mit Sitz in der Oberschulbehörde in der der Eltern und drei Mitgliedern des Lehrerkollegiums Dammtorstraße wurden zwei Vertreter der Linksra- zusammensetzen sollten. Eine entsprechende An- dikalen, Dr. Carl Eulert und Erna Halbe, sowie Jacob weisung – allerdings mit dem Zusatz des Schulrats Rieper (USPD) gewählt. Alle drei hatten wenig Kennt- Umlauf, dass der Schulleiter befinden müsse – erging nis von Verwaltungsabläufen und auch keine prakti- bereits am 29. November an alle Schulleitungen. sche Erfahrungen in der Schulpolitik. Und so gelang Derjenige Teil der Lehrerrats-Beschlüsse zur Selbst- es der Oberschulbehörde, sich weitgehend den vom verwaltung, der nach Ansicht der Behörde tief grei- Arbeiter- und Soldatenrat geforderten Reformen zu fend in den ‚Schulorganismus‘ einschnitt – etwa die

Erna Halbe, geb. Demuth, in zweiter Ehe verheira- Hamburg. Vorsitzender war Heinrich Laufenberg tete Lang, (30.6.1892–1983), war das einzige weib- [1872–1932], der zu uns Linksradikalen gehörte. (...) liche Mitglied der Exekutive des Arbeiter- und Sol- Wir haben zwar die Bürgerschaft abgesetzt, aber datenrats und wurde in die Kommission gewählt, letztlich mußten wir deren Verwaltungstätigkeit zu- deren Aufgabe es war, die Arbeit der Verwaltungs- lassen. Wir mußten ja dafür sorgen, daß alles weiter behörden zu kontrollieren. Erna Halbe äußerte sich lief. Das Hauptproblem war die Nahrungsmittelver- in späteren Jahren zu den damaligen Handlungs- sorgung. (...) Wir haben Tag und Nacht gesessen möglichkeiten des Arbeiter- und Soldatenrates: „Der und beraten, was machen wir (...). Wir hofften auf Exe kutive des Arbeiterrates gehörten achtzehn Be- eine richtige Revolution. Alles sollte anders, gerech- triebsdelegierte und jeweils drei Vertreter der SPD, ter werden. (...) Ich habe vor allem sozialpolitische USPD, der Linksradikalen und des Gewerkschafts- Fragen beantwortet.“108) kartells an. Ich war die einzige Frau. Wir arbeiteten Den Weg zur Politik hatte Erna Halbe über ihr El- eng mit dem Soldatenrat zusammen. Unser Präsi- ternhaus gefunden. Ihr Vater, ein Kürschner, und dium und deren so genannter ‚Siebener Ausschuß‘ ihre beiden älteren Brüder gehörten der SPD an, bildeten den Arbeiter- und Soldatenrat von Groß- und so trat Erna Halbe 1910 ebenfalls dieser Partei

107 Volker Ulrich, a. a. O., S. 14. 108 Zit. nach: Karen Hagemann, Jan Kolossa: Gleiche Rechte, gleiche Pflich- ten. Hamburg 1990, S. 48. DAMMTORSTRASSE 25 · Oberschulbehörde · Aspekte der Schulpolitik · Erna Halbe 107

Frage der Kompetenzen des neu zu bildenden Schul- nach Abschaffung des Religionsunterrichts. Obwohl vorstands oder die Vorschläge zur Schulleiter- die Schulbehörde am 28. November 1918 beschlos- Wahl –, wurden zur Beratung einer Kommission sen hatte, den Religionsunterricht nicht abzuschaf- überwiesen (…).“109) fen und dies in einem Rundschreiben den Schul - Mit diesem Vorgehen hatte die Schulbehörde Zeit leitungen mitteilen wollte, untersagte Eulert am gewonnen. Hinzu kam, dass die Beschlüsse des 7. De zember „die Absendung des Schreibens“110) Lehrerrates inzwischen innerhalb der Lehrerschaft und brachte am selben Tag einen Antrag in die Sit- auf Kritik stießen, besonders in den Punkten, in de- zung der Ratsexekutive zur Abschaffung des Religi- nen es um die Machtbeschneidung der Gymnasial- onsunterrichtes zum 1. Januar 1919 ein, der einstim - direktoren ging, denn diese sollten nur noch auf mig angenommen wurde. Zeit (drei Jahre) gewählt werden und nicht mehr Von Seiten der Kirchen und vieler Elternräte der Vorgesetzte sein, sondern primus inter pares. höheren Schulen folgten heftige Proteste. Die Schul- Die Schulkommission des Arbeiter- und Soldatenrats behörde aber leitete den Beschluss des Arbeiter- unternahm nichts gegen die Verzögerungstaktik der und Soldatenrates an die Schulleitungen weiter. Schulbehörde, und auch den Arbeiter- und Soldaten - „Dem Verlangen der Elternräte, beim Arbeiter- und rat interessierten kaum die Fragen der Selbstver- Soldatenrat für die Wiedereinführung des Religions- waltung in den Schulen. Er hatte ganz andere Sor- unterrichts einzutreten, widersetzte sich die Ober- gen, denn zwischen den drei Arbeiterparteien im schulbehörde, zugleich aber befürwortete sie, dass Arbeiter- und Soldatenrat kam es zu kontroversen Schulräume für privaten Religionsunterricht zur Ver- Vorstellungen über den Fortgang der Revolution. fügung gestellt und Lehrkräfte auf freiwilliger Basis Dass der Lehrerrat dennoch Durchsetzungskraft ha- dafür angeworben wurden. Im Ergebnis lief diese ben konnte und seine Forderungen auch gegen den Politik darauf hinaus, zwar die Position des Arbei- Willen der Schulbehörde durchsetzbar waren, vor- ter- und Soldatenrats formell anzuerkennen, sie aber ausgesetzt alle Ratsfraktionen des Arbeiter- und Sol- faktisch zu unterlaufen.“111) datenrates waren sich einig und sahen die Sache Der Machtverlust des Arbeiter- und Soldatenrates als wichtig an, zeigt die Forderung des Lehrerrates zeichnete sich immer mehr ab. Der Reichsrätekon-

bei. 1913 heiratete die Kindergärtnerin einen Hand- als Soldat gefallen war, aus der Haft entlassen. Sofort lungsgehilfen, der auch SPD-Mitglied war. Drei Jahre beteiligte sie sich an der Revolution, trat 1919 der später, Erna Halbe war nun Hausfrau und Mutter KPD bei und wurde 1921 hauptamtliche Frauense- einer zweijährigen Tochter, wurde sie aus der Partei kretärin der KPD und Abgeordnete der Hamburgi- ausgeschlossen, weil sie sich gegen die Bewilligung schen Bürgerschaft. 1922 übernahm sie die politi- der Kriegskredite ausgesprochen hatte. Sofort schloss sche Leitung des KDP-Bezirks Magdeburg, wurde sie sich den Hamburger Linksradikalen an und ge- 1924 Reichsfrauenleiterin der KPD und 1929 aus hörte zu deren Gründungsmitgliedern. Zusammen der KPD ausgeschlossen. Sie trat zur SAP (Sozialis- mit anderen Gesinnungsgenossinnen und -genossen tische Arbeiterpartei) über, ging nach der Macht- druckte und verteilte Erna Halbe Antikriegs-Flug- übernahme durch die Nationalsozialisten in die Ille- blätter. 1917 wurde sie deshalb wegen „staatsge fähr - galität und emigrierte 1934. 1950 kehrte Erna Halbe dender Tätigkeit“ und 1918 wegen „Landesverrats“ nach Deutschland zurück und war von nun an für verhaftet und zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus ver- die SPD politisch tätig. urteilt. Mit Beginn der Novemberrevolution im Jahre 1918 wurde Erna Halbe, deren Mann im selben Jahr

109 Volker Ulrich, a. a. O., S. 16. 110 Volker Ulrich, a. a. O., S. 17. 111 Volker Ulrich, a. a. O., S. 18. 108 DAMMTORSTRASSE 25 · Oberschulbehörde · Aspekte der Schulpolitik

gress in Berlin am 18. Dezember 1918 entmachtete samten Stadtgebiet vereinheitlicht, konnten nun alle schließlich durch seinen Beschluss, im Januar 1919 befähigten VolksschülerInnen auf die höheren Schu- Wahlen für die Nationalversammlung einzuberufen, len wechseln. Das Schulgeld wurde nach dem Ein- die Arbeiter- und Soldatenräte. Auch in Hamburg kommen der Eltern gestaffelt.“115) forderte die SPD-Parteileitung den Arbeiter- und Sol- 1920 wurde „als Fördermaßnahme für begabte datenrat zu Neuwahlen auf. Volksschülerinnen und -schüler (...) als Erste im Kurz vor den Neuwahlen zur Hamburgischen Bür- Reich eine Aufbauschule in Hamburg eingerichtet. gerschaft gab es noch einmal Bewegung in Sachen Nach der 8. Volksschulklasse konnte man hier, und „Selbstverwaltung in den Schulen“: So gab es eine zwar Jungen wie Mädchen, in sechs Schuljahren Reform in Bezug auf die Schulleiterwahlen. Volker das Abitur machen.“116) Ulrich beschreibt diesen Vorgang ausführlich in sei- Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozia- nem Aufsatz über den „Arbeiter- und Soldatenrat listen wurde auch die Hamburger Schulbehörde NS- und die Schulreform 1918/19“. geführt. Sie hatte durch Erlasse und Verordnungen „Nach der Beendigung der Räterepublik und der zu erreichen, dass die „gesamte Schularbeit mit der Übernahme des Senats durch eine sozialdemokra- nationalsozialistischen Weltanschauung“ durch- tisch-linksliberale Mehrheit wurden am 16.5.1919 drungen werde.117) das Einheitsschulgesetz und am 12.4.1920 das Ge- Die jüdischen Lehrerinnen und Lehrer sowie „große setz über die Selbstverwaltung der Schulen beschlos- Teile des demokratisch und sozialistisch eingestell- sen“,112) schreibt Reiner Lehberger in seinem Buch ten Flügels der Hamburger Lehrerschaft“ wurden „Schule in Hamburg“. entlassen.118) In diesem Gesetz über die Selbstverwaltung der Schu- Die Schulverwaltung in der Schulbehörde an der len wurde die Reform vom April 1919 im Wesent- Dammtorstraße „beseitigte die demokratischen Er- lichen übernommen. „Ein anderer Beschluss des rungenschaften der Weimarer Republik wie Selbst- Arbeiter- und Soldatenrats – die Aufhebung des Re- verwaltung und Elternmitsprache. Die nun von der ligionsunterrichts – wurde durch Entscheidung des Schulbehörde eingesetzten Schulleiter hatten gegen- Reichsgerichts vom November 1920 als mit Art. 149 über dem Kollegium uneingeschränkte Verfügungs- der Reichsverfassung nicht im Einklang stehend er- gewalt und wurden damit zu sogenannten ‚Führern‘ kannt. Auf Anweisung des Senats ordnete die Ober- ihrer Schulen.“119) schulbehörde am 16. Dezember 1920 die Wiederein - Nicht nur „unliebsame“ Lehrerinnen und Lehrer führung des Religionsunterrichts an den öffentlichen waren der NS-geführten Schulbehörde ein Dorn im Schulen Hamburgs an.“113) Auge, auch die noch zur Schule gehenden Swing „Das neue Einheitsschulgesetz ordnete die sukzes- Kids hatten von der Schulbehörde viel zu befürch- sive Aufhebung der staatlichen Vorschulen (die pri- ten. Während sich z. B. Swing Kids schräg gegen- vaten Vorschulen wurden endgültig erst 1937 auf- über der Schulbehörde im „Waterloo-Theater“ (siehe gelöst) und den Fortfall des Schulgeldes für die S. 32) amerikanische Filme ansahen, saß in der Volksschulen an. Eine Fortführung und Bestätigung Schulbehörde ein Oberschulrat für das Höhere fand das Einheitsschulgesetz durch das Reichsgrund- Schulwesen mit Namen Albert Henze (1900–1994), schulgesetz vom 28.4.1920. Im Kern wurde durch der eine wichtige Rolle in der Bekämpfung der diese Gesetze zum ersten Mal in der deutschen Bil- Swing Kids in Hamburg spielte. „Henze sorgte für dungsgeschichte eine für alle verbindliche allge- die reibungslose Zusammenarbeit zwischen Schule, meine vierjährige Grundschule eingeführt.“114) Schulverwaltung und Gestapo. Swing Kids mussten Eine Errungenschaft der Schulverwaltung in der von ihren Schulleitern gemeldet werden, die dann, Weimarer Republik war das Ausleseverfahren. für sie überraschend, von der Gestapo abgeholt wur- „Durch Ausleseausschüsse ausgewählt und im ge- den. (…) Ab Dezember 1941 begannen Hamburger

112 Reiner Lehberger: Schule in Ham- 114 Reiner Lehberger, a. a. O., S. 111. 119 Reiner Lehberger, a. a. O., S. 120f. burg. Ein Führer durch Aufbau und 115 Reiner Lehberger, a. a. O., S. 113. Geschichte des Hamburger Schulwe- 116 Reiner Lehberger, a. a. O., S. 114. sens. Hamburg 2006, S. 111. 117 Reiner Lehberger, a. a. O., S. 119. 113 Volker Ulrich, a. a. O., S. 23. 118 Reiner Lehberger, a. a. O., S. 120. DAMMTORSTRASSE 25 · Oberschulbehörde · Aspekte der Schulpolitik 109

Schulleiter, Schüler als Swing Kids bei der Schul- schaftliche Oberschule (mit mathematischem, neu- verwaltung zu melden, was die sofortige Verhaftung und altsprachlichem Zweig) mit sieben Jahrgängen. durch die Gestapo zur Folge hatte.“120) Die allgemeine Schulpflicht war auf neun Klassen Die ersten Verhaftungen der Swing Kids begannen erweitert, bis zum Abitur führten 13 Schuljahre. 1940. Rund 400 Jugendliche kamen per „Schutz- Für alle Schüler bestand Lehrmittelfreiheit, bis 1957 haftbefehl“ ins Gestapogefängnis Hamburg-Fuhls- sollte Schulgeldfreiheit auch für höhere Schulen ein- büttel. „Nach dem Gesetz musste nach drei Wochen geführt werden. Auch wurde die Einführung der entschieden werden, ob der betreffende Jugendliche Koedukation als Ziel genannt.“123) entlassen oder ins KZ überführt wird. (…) Ungefähr Dieses neue Schulgesetz wurde am 16. Oktober 1949 70 Swing Kids kamen in Konzentrationslager.“121) mit den Stimmen von SPD und KPD verabschiedet, Die Swing Kids kamen in die „Jugendschutzlager“ „dessen Kernpunkt die Einführung der sechsjährigen Moringen (männliche Jugendliche) und Uckermark statt der bislang vierjährigen Grundschule war. Vor (weibliche Jugendliche). der Abstimmung verließen die Fraktionen der CDU „Gegen Albert Henze fand nach dem Zweiten Welt- und der FDP demonstrativ den Plenarsaal, um gegen krieg ein Spruchgerichtsverfahren ‚wegen Zugehö- die neuen Regelungen zu protestieren. Schulsenator rigkeit zum politischen Führerkorps‘ statt. Jedoch Heinrich Landahl (SPD) [1895–1971] hatte die ver- nicht zur Sprache kam darin Henzes führende Rolle längerte Grundschule mit dem Argument begründet, bei der Verhaftung von Swing Kids durch die Gesta- Lehrer und Eltern könnten erst am Ende des sechs- po. Das Verfahren fand in Bielefeld statt, die Richter ten Grundschuljahres verlässlich darüber entschei- hatten Informationen zu Henzes Tätigkeit in der den, ob und welcher Oberschultyp für das jeweilige Schulverwaltung angefordert, doch keine Hinweise Kind der richtige sei. Viele Eltern sahen darin jedoch auf die schlimme Rolle, die dieser Mann spielte, er- eine staatliche Bevormundung und befürchteten halten oder erhalten sollen. (…) Henze wurde 1948 schwerwiegende schulische Nachteile für ihr Kind, zu einer Geldstrafe von 1200,– Mark verurteilt, die wenn zwei Oberschuljahre auf diesem Wege verloren durch die Untersuchungshaft als verbüßt galt.“122) gingen“, schreiben Uwe Bahnsen und Kerstin von Von 1952 bis 1975 arbeitete er dann als Lehrer für Stürmer in ihrem Buch „Die Stadt, die auferstand. Deutsch, Geschichte und Sport an der Lübecker Hamburgs Wiederaufbau 1948–1960“.124) Auch die Ober schule am Dom. Vertreter der „Universität sahen in der sechsjährigen Nach dem Zweiten Weltkrieg führte die britische Grundschule eine Minderung schulischer Leistung Militärregierung die „Re-education“ ein, das heißt und eine grundlegende Gefährdung der Qualität von die Umerziehung zu Demokraten. Ausdruck der De- Gymnasium und Universität“.125) mokratisierung war die Schulreform von 1949. Rei- Als 1953 der Hamburg-Block (Zusammenschluss ner Lehberger fasst sie in seinem Buch zusammen: von CDU, FDP, DP, BHE) die Wahl gewann, „wurde „Zunächst einmal wurde das Hamburger Schulwe- die Schulreform in den folgenden Jahren zurückge- sen in einem einheitlichen System der sogenannten nommen. ‚Allgemeinen Volksschule‘ zusammengeführt. Die Die in Hamburg durch die Wahl von 1953 bewirkte nominelle Aufteilung in Volks- und höhere Schul- Rückkehr zum alten dreigliedrigen Schulsystem bildung war damit aufgehoben. wurde bundesweit 1955 durch das Düsseldorfer Ab- Als Unterbau der Volksschule galt die sechsjährige kommen der ständigen Konferenz der Kultusminister Grundschule. Danach schloss sich ein nach drei Be- der Länder (KMK) bestätigt. Festgeschrieben wurde gabungsrichtungen und nach Schulzeitdauer diffe- das dreigliedrige System mit Volks-, Mittelschule und renziertes Oberstufensystem an. Die ,Praktische Gymnasium. (…) Als nach den Bürgerschaftswahlen Oberschule‘ mit drei Jahrgängen, die Technische von 1957 die SPD erneut den Senat stellen konnte, Oberschule mit vier Jahrgängen und die Wissen- blieb die Struktur des Schulsystem unangetastet.“126)

120 Jörg Ueberall: Swing Kids. Berlin 124 Uwe Bahnsen, Kerstin von Stür- 126 Reiner Lehberger, a. a. O., S. 130. 2004, S. 70ff. mer: Die Stadt, die auferstand. Ham- 121 Jörg Ueberall, a. a .O., S. 77. burgs Wiederaufbau 1948–1960. Ham- 122 Jörg Ueberall, a. a .O., S. 101. burg 2005, S. 44. 123 Reiner Lehberger, a. a. O., S. 129. 125 Reiner Lehberger, a. a. O., S. 129. 110 DAMMTORSTRASSE 25 · Oberschulbehörde · Aspekte der Schulpolitik DAMMTORSTRASSE 20 · Stolperstein für Hans Westermann

1968/69 wurde die Gesamtschule eingeführt. „Als körperliche oder seelische Gesundheit schädigen Begründungen wurden die bessere Ausschöpfung konnten oder das Anstandsgefühl verletzten.“128) der Bildungsreserven (‚Demokratische Leistungs- Zehn Jahre zuvor hatte Drexelius’ Amtsvorgänger schule‘) sowie der Abbau von Bildungsbarrieren Schulsenator Heinrich Landahl, eine Dienstanwei- (‚Chancengleichheit‘) benannt.“127) sung erlassen, in der die körperliche Züchtigung er- Ein Jahr bevor die Schulbehörde ihre Räumlichkei- laubt sei, wenn alle anderen Bemühungen nicht ten in der Dammtorstraße verließ, um in der Ham- fruchten würden. Verboten waren auch damals: ge- burger Straße ihr neues Domizil aufzuschlagen, sundheitsschädigende Prügel, Züchtigung von Mäd- wurde an Hamburgs Schulen die Prügelstrafe abge- chen, Schläge für Jungen im 1. und 2. Schuljahr schafft. Der Journalist Uwe Bahnsen schrieb dazu und nach Vollendung des 15. Lebensjahres, Ohrfei- in einem Artikel in der „Welt am Sonntag“ vom gen und Schläge an den Kopf. Für die Züchtigung 15. März 2009: „Zum 1. April 1969 sorgte der dama- standen den Lehrerinnen und Lehrern amtlich ge- lige Hamburger Schulsenator Wilhelm Drexelius (SPD) nehmigte und von der Schulbehörde gelieferte Rohr- [1906–1974] mit einer Dienstanweisung zum Verbot stöcke zur Verfügung, gegen deren Anwendung der Prügelstrafe für Klarheit und damit auch für Ärzte keine Bedenken hatten. Rechtssicherheit in den Schulen. Immer wieder hat- Diese Dienstanweisung hatte damals in der Bevöl- ten sich Pädagogen vor Gericht verantworten müs- kerung und sogar in der Auslandspresse heftige Wel- sen, weil sie gegen renitente Schüler handgreiflich len geschlagen. Uwe Bahnsen schreibt dazu weiter: vorgegangen waren. Ab sofort waren körperliche „Als Schulsenator Wilhelm Drexelius (…) das Ende Züchtigungen grundsätzlich tabu, der Rohrstock der Züchtigung verkündete, entsprach er damit nicht wurde aus den Klassenzimmern verbannt. Es waren nur seiner eigenen Überzeugung. Er trug auch dem im Wesentlichen drei Grundsätze, die nun gelten Zeitgeist Rechnung, denn die 68er-Bewegung hatte sollten: Die Aufrechterhaltung der Ordnung in der sich der ‚Demokratisierung‘ der Schulen verschrie- Schule war eine pädagogische Aufgabe. Auf die kör- ben, und natürlich war die Prügelstrafe damit gänz- perliche Züchtigung sollte jeder Lehrer verzichten. lich unvereinbar.“129) Verboten waren überdies alle Maßnahmen, die die

in dem Hamburger Bekleidungsgeschäft Ladage & 22. STATION Oelke arbeitete, fühlte sich der USPD und dem Spar- Dammtorstraße 20 takusbund verbunden. 1919 trat er der KPD bei und Stolperstein für Hans Wester- wurde 1921 in Hamburg hauptamtlicher Parteisekre- mann (NS-Zeit) tär. Sein Tätigkeitsschwerpunkt lag in der Betriebs- rätearbeit. „1925 wurde Westermann kurzfristig aus In diesem Haus wohnte in den 20er Jahren des 20. der Partei ausgeschlossen, weil er sich aus taktischen Jahrhunderts der in der NS-Zeit mehrmals verhaftete Gründen (der Verhinderung der Wahl des Reichs - und im KZ Fuhlsbüttel erschlagene Hans Wester- kandidaten Hindenburgs [1847–1934]) bei der mann (17.7.1890–16.3.1935 KZ Fuhlsbüttel). 1910 Reichspräsidentenwahl 1925 im zweiten Wahlgang in die SPD eingetreten, gehörte er zu deren linken für den Verzicht auf die Kandidatur Ernst Thälmanns Flügel. 1914 wurde Hans Westermann zur Marine [1886–1944 KZ Buchenwald] zugunsten des Sozial- eingezogen. Zwei Jahre später lernte er die damals demokraten Otto Braun [1872–1955] ausgesprochen siebzehnjährige Stenotypistin Käthe Latzke (1899– hatte. Nach der Absetzung der ultralinken Führung 1945 KZ Ravensbrück) kennen. Sie wurden Lebens- um Ruth Fischer [1895–1961] und Arkadi Maslow gefährten. Der Kriegsgegner Hans Westermann, der [1891–1941] wurde er wieder in die Partei aufge-

127 Reiner Lehberger, a. a. O., S. 131. 128 Uwe Bahnsen in einem Artikel in der „Welt am Sonntag“ vom 15.3.2009. 129 ebenda. DAMMTORSTRASSE 20 · Stolperstein für Hans Westermann 111 DAMMTORSTRASSE/RIEMANNS PLATZ · „Taubstummenanstalt für Hamburg und das Hamburger Gebiet“

Nach der Machtübernahme durch die Nationalso- zialisten ging diese Gruppe in die Illegalität und be- trieb besonders in der Betriebsarbeit unter Hafen- und Werftarbeitern sowie bei Angestellten Wider- standstätigkeit. Von Juni 1933 bis August 1934 war Hans Westermann inhaftiert. Danach „hielt er Kon- takt zu anderen ‚Versöhnlergruppen‘ innerhalb und außerhalb der KPD, so zum Komitee für Proletari- sche Einheit um Eduard Wald [1905–1978]. Gleich- zeitig verbesserten sich seine Beziehungen zur KPD, in welche er und seine Gruppe Anfang 1935 wieder aufgenommen wurde. Nachdem er mit der Reorga- nisation der durch Repressionsschläge seitens der Gestapo geschwächten Hamburger Parteiorganisa- tion begonnen hatte, wurde er nach kurzer Zeit ge- meinsam mit mehreren Gruppenmitgliedern in der Nacht vom 5. zum 6. März verhaftet“131) und ins KZ Fuhlsbüttel gebracht. Hans Westermann hatte schwerste Folterungen zu ertragen. Zehn Tage nach seiner Einlieferung ins KZ Fuhlsbüttel starb er an Vor dem Haus Dammtorstraße 20 liegt ein Stolper- den Folgen der ihm zugefügten Misshandlungen. stein für Hans Westermann. Photo: Marina Bruse Sein Leichnam wurde eingeäschert und 1935 auf dem Ohlsdorfer Friedhof beigesetzt. Anfang der 50er nommen und 1927 in die Bezirksleitung der KPD Jahre des 20. Jahrhunderts wurde seine Urne in und wenig später in die Hamburger Bürgerschaft den „Ehrenhain Hamburger Widerstandskämpfer“ gewählt. Der in der KPD als Gewerkschaftsexperte auf dem Ohlsdorfer Friedhof umgebettet. geltende Westermann zählte innerparteilich zur Strö- Käthe Latzke wurde 1944 ins KZ Ravensbrück ver- mung der Versöhnler und nahm gegen die Verschär- bracht und kam dort am 31. März 1945 ums Leben. fung des erneuten ultralinken und verbalradikalen Kurses der Parteiführung um Ernst Thälmann vor allem in Bezug auf die Gewerkschaftspolitik und 23. STATION die damit verknüpfte Forcierung der RGO-Politik Stellung. Auch zählte Westermann parteiintern zu Dammtorstraße/Riemanns denjenigen, welche sich für eine engere und solida- Platz rischere Zusammenarbeit mit der SPD einsetzten. (alte Standortbezeichnung) Aus diesen Gründen wurde er gemeinsam mit seinen „Taubstummenanstalt für Hamburg und das Ham- Fraktionskollegen Heinrich Stahmer [1897–1958] burger Gebiet“ (Standort: 1827–1829) und Albert Sanneck [1901–1988] 1930 aus der KPD ausgeschlossen.“130) Dicht am Haus Dammtorstraße 20 führte im 19. Jahr- Westermann legte sein Abgeordnetenmandat nieder hundert ein Durchgang zum Riemanns Platz, eine und gründete mit seiner Lebensgefährtin Käthe rechteckige von einer Hinterhausbebauung um- Latzke eine unabhängige Gruppe, die keinen Namen säumte Fläche. Hier befand sich die „Taubstum- erhielt, aber allgemein „Versöhnlerorganisation“ menanstalt für Hamburg und das Hamburger Ge- bzw. „Westermann-Gruppe“ genannt wurde. biet“.

130 htttp://de.wikipedia.org/wiki/ Hans-Westermann (Stand: 7.11.2009.) 131 ebenda. 112 DAMMTORSTRASSE/RIEMANNS PLATZ · „Taubstummenanstalt für Hamburg und das Hamburger Gebiet“

stüt zungskreis zur Errichtung einer Taubstummen- schule auf, so dass am 28. Mai 1827 die Taubstum- menanstalt an der Dammtorstraße auf dem Rie - manns Platz eröffnet werden konnte. Die gemieteten Räume zogen sich über zwei Stock- werke. In der oberen Etage befanden sich die Küche und die Kammer für die Lehrerin, in der unteren Etage waren zwei Unterrichtsräume. Diese als milde Stiftung geführte Einrichtung be- schäftigte für die anfangs dreizehn Mädchen und neun Jungen den gehörlosen Lehrer Daniel Heinrich Senß (1800–1865) und die Witwe Henriette Röhl An der Dammtorstraße/Ecke Esplanade befand sich im als Handarbeitslehrerin und Hausmutter. Schulgeld 19. Jh. im rückwärtigen Teil „Riemanns Platz“ (Kasten). brauchten nur diejenigen zahlen, die es sich finan- Kartenausschnitt von 1819, aus: Grundriss der Freien ziell leisten konnten. Der Unterricht dauerte täglich Stadt Hamburg, entworfen 1819 von E. F. Bernhardt. Hamburg 1939. Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg – außer sonntags – von 9 bis 15 Uhr, wobei zwi- Kt H142 schen 12 und 13 Uhr eine Erholungsstunde eingelegt wurde. „Menschen, die als taubstumm galten, wurden jahr- Ein Jahr nach der Schuleröffnung wurde ein zweiter hundertelang für dumm gehalten“, schreibt die His- Lehrer eingestellt, der fünfzehnjährige Friedrich Jo- torikerin Iris Groschek in ihrer Dissertation über die hann H. Gitza (1813–1897). Er unterrichtete die Fä- Hamburger Gehörlosenbildung132) und zitiert dazu cher Schönschrift, Zeichnen und Rechnen. den griechischen Philosophen Aristoteles (384–322 Als immer mehr Kostgänger hinzukamen, so dass v. Chr.): „Wer nicht hören und nicht sprechen kann, bald kein Platz mehr für deren Unterbringung zur kann auch nicht denken.“ Verfügung stand, wurde die Schule 1829 nach St. Erst im Zuge der Aufklärung und des Aufbaus von Georg verlegt. Schulsystemen kam es auch zur Gründung von Schu- Heute, so schreibt Iris Groschek, sind „junge Gehör - len für Gehörlose. Die erste Schule solcher Art in lose (...) selbstbewusst geworden, kein Vergleich Deutschland rief 1769 der Kantor und Lehrer Samuel zum traditionellen Bild des Gehörlosen als dankba- Heinicke (1721–1790) im Küsterhaus der Ep pendor - res Objekt der Fürsorge hörender Mitmenschen. fer Johanniskirche ins Leben. Heute wollen Gehörlose nicht als Behinderte gese- Nach seinem Weggang aus Hamburg im Jahre 1778 hen werden, sondern als Menschen mit einer ande- „ruhte die institutionalisierte Taubstummenbildung ren Sprache, der Gebärdensprache, die ebenso voll in Hamburg fast 50 Jahre lang, bis im Mai 1823 entwickelt und fähig ist, komplizierte Gedanken- eine Schrift mit dem Titel ‚Wünsche und Vorschläge gänge zu umschreiben wie jede andere als vollwertig zur Errichtung einer Taubstummenlehranstalt für anerkannte Sprache.“134) Hamburg betreffend‘ erschien“.133) Der Verfasser war der Mediziner Dr. Heinrich Wilhelm Buek (1796– 1879). Buek gewann für seine Idee Spender, so den Ham- burger Kaufmann Johann Heinrich Christian Behr- mann (1775–1856), der auf seinen vielen Geschäfts- reisen die Pariser Taubstummenanstalt kennen gelernt hatte. Im Laufe der Zeit baute sich ein Unter-

132 Iris Groschek: Unterwegs in eine sophie des Fachbereiches Geschichts- Welt des Verstehens. Die Geschichte wissenschaft der Universität Hamburg. der Hamburger Gehörlosenbildung von Hamburg 2004. 1769 bis 2000. Dissertation zur Erlan- 133 Iris Groschek, a. a. O., S. 48. gung der Würde des Doktors der Philo- 134 Iris Groschek, a. a. O., S. 15. STEPHANSPLATZ · Erste Ampel · Öffentliche Toiletten: Die Hamburger Spiegelaffäre 113

24. STATION Stephansplatz Benannt 1887 nach Heinrich von Stephan (1831–1897), dem Organisator des deut- schen Postwesens. Erste Ampel Deutschlands (1922); Öffentliche Toilette: Die Hamburger Spiegelaffäre (1973)

Die erste Ampel

1922 wurde am Stephansplatz die erste Ampel in Deutsch- land installiert. Stephansplatz 1926/27. Staatsarchiv Hamburg Öffentliche Toilette: Die Hamburger Spiegel- affäre den festgenommen und wegen Sachbeschädigung 1973 wurden auf der Männertoilette der Öffentlichen angezeigt. Noch in der Nacht schrieben wir ein Toilette am Stephansplatz Einwegspiegel eingebaut. Flugblatt, um die Szene zu informieren und unsere Sieben Jahre später, am 30. Juni 1980, griff „eine Fragen an Politiker und Behörden zu stellen.‘135) Grup pe von sechs Schwulen und zwei Lesben (...) Die ‚taz‘ und ‚Die Neue‘ berichteten zwei Tage spä- die Frage nach den Spiegeln in öffentlichen Toiletten ter [am 2. Juli 1980] über die nächtliche Aktion. Da- auf. Seit Jahren kursierten Gerüchte, dass dahinter mit war das Geheimnis um die Einwegspiegel ge- Polizisten säßen, um Männer bei der Anbahnung lüftet. In Anwesenheit von Fotografen nahm die sexueller Handlungen an der Pissrinne zu beobach- Gruppe einen zweiten Anlauf am Jungfernstieg, um ten. Personen, die in den Augen der Polizisten durch entsprechendes auffälliges Verhalten auffielen, er- hielten eine schriftliche Verwarnung. Bei erneutem Betreten der Toilette drohte ihnen Hausverbot, und beim Verstoß würden sie wegen Hausfriedensbruchs angezeigt. Corny Littmann [geb. 1951]: ‚Davon hatte niemand etwas gehört. Wir gingen auf Besichti- gungstour, am Stephansplatz und am Spielbuden- platz wurden wir fündig. Wir setzten uns in Pauline Courages Kneipe in der Kastanienallee zusammen, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Pauline gab uns einen Hammer, mit dem wir reihum ver- suchten, das dicke Sicherheitsglas in der Klappe am Spielbudenplatz einzuschlagen. Es ging nicht. Dann kamen die Bullen, und zwei oder drei von uns wur- Stephansplatz heute. Photo: Marina Bruse

135 Gespräch zwischen Bernhard Rosenkranz und Corny Littmann am 26.10.2004. 114 STEPHANSPLATZ · Öffentliche Toiletten: Die Hamburger Spiegelaffäre

‚Bewegungsschwestern‘ aus. Auch zahlreiche äl- tere Homosexuelle bra- chen ihr Schweigen und erzählten von Toiletten- verbotsscheinen, Razzien und demütigenden Poli- zeiverhören. Unter öffentlichem Druck bemühten sich die Po- litiker um Schadensbe- grenzung. Hamburgs Ers- ter Bürgermeister Hans- Ulrich Klose [geb. 1937] erklärte, dass er von den Spiegeln nichts gewusst habe und sich dafür schä- me. Innensenator Wer ner Staack [1933–2006] ord- nete die sofortige Entfer- Die erste Stonewall-Demonstration in Hamburg 1980. „Bis 1969 war der von den Na - nung der Ein wegspiegel tionalsozialisten verschärfte § 175, der gleichgeschlechtliche Handlungen unter Strafe an. Er bezeichnete die stellte, gültig. Erst 1998 wurde der Paragraph endgültig aus dem Strafgesetzbuch Einwegspiegel als ‚Relikte gestrichen.“ Bernhard Rosenkranz, Gottfried Lorenz: Hamburg auf anderen Wegen. Die Ge- schichte des schwulen Lebens der Hansestadt. Hamburg 2005, S. 160. Photo: Chris Lambertsen aus der Zeit der schärfs- ten Strafandrohungen für homosexuelle Handlun- den Spiegel zu zerschlagen. Dieses Mal klappte es gen‘. Polizeisprecher Peter Kelling gestand die Exis- auf Anhieb. Hinter dem Spiegel kam ein rund vier tenz von Rosa Listen ein, welche zwei Tage vor her bis fünf Quadratmeter großer Raum zum Vorschein. für ihn ‚längst abgehakt‘ waren. Das Fazit der Aktion: Corny Littmann: ‚Im Vorfeld waren wir uns einig, Die Freie und Hansestadt Hamburg hatte Homose- dass ich den Spiegel einschlagen sollte, weil ich als xuelle auch noch nach der zweiten Reform des § 175 Bundestagskandidat der Grünen zwar keine Immu- im Jahre 1973 bespitzelt! Im September 1979 hatte nität, aber Popularität genoss, die mich vor einer der Eingabeausschuss der Bürgerschaft eine Petition Anzeige wegen Sachbeschädigung schützen konnte. zur Beseitigung der Spiegel abgelehnt, und einen Ich schlug also den Spiegel in Anwesenheit von ge- Monat später hatte die Bürgerschaft diese Entschei- ladenen Journalisten ein.‘136) dung als ‚nicht abhilfefähig‘ gebilligt.138) In den nächsten Tagen überschlugen sich die Medien Von 224 öffentlichen Toiletten im Hamburger Stadt- mit Schlagzeilen über die Hamburger Spiegelaffäre. gebiet waren zwischen 1964 und 1974 zehn mit Wie drei Tage zuvor beim Polizeiüberfall137) war Einwegspiegeln ausgestattet worden.“ die öffentliche Meinung auf Seiten der Homosexu- Text mit freundlicher Genehmigung der Autoren aus: ellen. Selbst in überregionalen und ausländischen Bernhard Rosenkranz, Gottfried Lorenz: Hamburg Zeitungen wurde über die Hamburger ‚Peepshow auf anderen Wegen. Die Geschichte des schwulen der Bullen‘ berichtet. In der Szene löste die Affäre Lebens in der Hansestadt. 2. überarb. Aufl., Hamburg 2006, S. 163–164. eine Welle der Empörung und Solidarität mit den

136 ebenda. Drucksache 9/2379. 137 auf der ersten Stonewall-Demons- tration 138 Bürgerschaft der Freien und Han- sestadt Hamburg, 9. Wahlperiode. STEPHANSPLATZ/DAMMTORDAMM · Das 3. Dammtor 115

25. STATION Stephansplatz/ Dammtordamm Das 3. Dammtor (Standort: 1632–1817 abgebrochen; durch Eisenpforten ersetzt bis zur Aufhebung der Torsperre 1861)

Anfang des 17. Jahrhunderts wurde das Dammtor (siehe dazu S. 227) im Zuge des Baus von Basti- onsbefestigungen vom Alsterdamm nach Westen in den Bereich des heutigen Stephansplatzes verlegt. Der Grundstein für den Bau des dritten Dammtores wurde 1622 gelegt, die Fertigstellung erfolgte 1632. Das Tor wurde mit einer Zugbrücke geschlossen. Zwischen 1798 und 1861 waren die Hamburgerinnen und Hamburger durch die in dieser Zeit geltende Torsperre sehr eingeschränkt in ihrer Bewegungs- freiheit. Die Gründe für die Einrichtung einer Tor- Das Dammtor im 17. Jh. Kartenausschnitt aus: Ham- sperre waren nach Ansicht des Rates: die verschärfte burg/Urbi Inclytae Felicia Quaeque Precatur Civis Qui Editit Samuel König. [Hamburg] [ca. 1675]. Staats- und soziale Lage „nicht nur der armen, sondern auch Universitäts bibliothek Hamburg Ks 189/960: 2,3,321 der mittleren Bevölkerungsschichten“, die „Schutz- maßnahmen nunmehr dringend erforderlich“ machte. Aber auch der große Wohnungsmangel und Verkehrs an den Stadtgrenzen – z. B. beim Zugang die steigenden Mieten machten eine Kontrolle des von Auswärtigen – dringend notwendig. Ein weiterer Grund für die Einrich- tung einer Torsperre war, dass an den Toren nicht nur der Perso- nenverkehr kontrol- liert, sondern gleich auch eine Abgabe (Ak- zise) auf Handelswa- ren erhoben werden konnte, wobei der Rat die „Höhe der Abgabe (…) dank einer ent- sprechenden Vollmacht der Bürgerschaft selber festsetzen“ konnte.139) Bis 1836 gab es des 1800: Das Dammtor von der Stadtseite mit Bürgerwache, morgens vom Walle abzie- hend. Litho. von Peter Suhr, aus: Hamburgs Vergangenheit in bildlichen Darstellungen. Nachts eine vollkom- Hamburg 1965. Staats- und Universitätsbibliothek KSs 1025/17:15 mene Torsperre, das

139 Ernst Christian Schütt unter Mit- arbeit von Norbert Fischer und Hanna Vollmer-Heitmann sowie Erik Verg: Chronik Hamburg. 2. aktual. Aufl. Gü- tersloh, München 1997, S. 177. 116 STEPHANSPLATZ/DAMMTORDAMM · Das 3. Dammtor

heißt, vom Einbruch der Dunkelheit (je nach Jah- Stadttoren zu entrichtende Akzise, eine Art Ver- reszeit zwischen 16.00 und 21.30 Uhr) bis zum Mor- brauchssteuer, wurde jedoch weiterhin verlangt. Al- gengrauen (zwischen 5.00 und 7.00 Uhr) konnte lerdings war deren Eintreibung bedingt durch die niemand weder nach Hamburg herein noch aus Öffnung der Tore nun schwieriger zu handhaben. Hamburg hinaus. Erst nach 1836 wurde die Tor- Drei Jahre nach Aufhebung der Torsperre wurde die sperre des Nachts ein wenig gelockert, und man „innerstädtische Verbrauchssteuer in eine indirekte konnte nun das Dammtor gegen die Entrichtung ei- Steuer umgewandelt und der Warenzoll zum 1. Ja- nes Sperrgeldes auch nachts passieren. nuar 1865 auf 0,25% herabgesetzt. Trotz der Auf- 1817 wurde das Dammtor abgebrochen und durch hebung der Torsperre, wo die Akzise kassiert wurde, Eisenpforten ersetzt, die flankiert waren durch je- wollte der Senat die Abgabe eigentlich beibehalten, weils ein Wach- und Akzisehäuschen. Endgültig auf- um eine Erhöhung der direkten Steuern zu vermei- gehoben wurde die Torsperre, die „den Verkehr mit den. Jetzt wird neben der Umwandlung der Akzise den Vororten stark behindert“(e), erst 1861 „im Zuge auch die Erhebungsgrenze bis jenseits der Vororte einer allgemein liberaleren Politik“.140) Die an den verschoben“,141) heißt es in der Chronik Hamburg.

Auszüge aus der „Wach-Ordnung für das Bürger-Militär der freyen Hansestadt Hamburg vom 15. März 1840“ § 15. Thorsperre Die Schildwache, welche am § 17. Wall-Passage Die Wallpassage ist eine Fuße des Walles im Dammthore steht, wird bei Ein- Stunde nach Eintritt der Thorsperre bis zum Aufhö- tritt der Sperre nach der diesseitigen Sperrbude ge- ren am Morgen auf dem Wall vom Millernthore bis führt. (…) zum Dammthore und auf dem Wege hinter der Es- § 16. Anpflanzungen Es liegt den Schildwachen planade verboten. Personen, welche nach der ge- ob, in ihrem Bereiche das Fischen im Stadtgraben setzmäßigen Zeit den Wall zu passiren beabsichti- nicht zu dulden, jeder Beschädigung der Stadt- gen, müssen auf der zunächst belegenen Treppe leuchten und Anpflanzungen zu wehren, sie zu ver- vom Walle sich hinunterbegeben. hüten und die Uebertreter, zur weiteren Ueberliefe- Von der Esplanade bis zum Steinthore ist die Passage rung an die Polizey-Behörde zu arretiren; jedoch in den Sommermonaten überall bis Mitternacht ge- dürfen in einem solchen besonderen Falle, die Schil- stattet, von Ende September bis zum 1. April jedoch derwachen sich nur höchstens 50 Schritte von ihrem nur auf den Fahrwegen und auf den neben densel- Posten entfernen. ben führenden Fußwegen erlaubt. (…) Grasen des Viehes Das Grasen des Viehes auf dem § 19. Unglückfälle Bei sich ereignenden Unglück- Wall darf nicht gestattet werden; es muß dasselbe fällen, darf man wohl mit Recht voraussetzen, daß im Vertretungsfalle angehalten und darüber der Poli- die Mitglieder einer Wache sich der ihnen zu Gebote zey-Behörde berichtet werden. (…) stehenden Hülfeleistungen nicht entziehen, und bei Baden Im Bezirke der Wachen und Schildwachen vorkommenden Fällen ihren hülfsbedürftigen ist das Baden durchaus untersagt. Nächsten mit dem an der Wache sich befindenden Schwäne Die zum allgemeinen Vergnügen in den Tragkorb, in so fern der Transport zulässig, fort- verschiedenen Bassins sich befindenden Schwäne schaffen werden. In jedem Fall muß der nächste sind möglichst vor jeder Beunruhigung zu sichern. Arzt oder Chirurgus herbeigerufen und dem Raths- Chirurgus Nachricht gegeben werden. (…)“

140 ebenda. 141 Ernst Christian Schütt, a. a. O., S. 255. STEPHANSPLATZ · Ehemalige Oberpostdirektion 117

Das gesamte Gebäude hat eine Länge von rund 300 26. STATION Metern und galt damals mit diesen Maßen als das Stephansplatz 1 größte Postgebäude des Deutschen Reiches. Gebäude der ehemaligen Oberpostdirektion/ Hauptpostamt (Postamt 36) und des ehemaligen Telegraphenamtes (Standort seit 1887)

Noch heute steht am Stephansplatz das markante zwischen 1883 und 1887 unter Vereinfachung von Entwürfen von Julius Raschdorff (1823–1914) für die Reichspostverwaltung erbaute und bis 1929 entlang des Dammtorwalles mehrfach erweiterte Gebäude der ehemaligen Oberpostdirektion. Das am 5. Februar 1887 eröffnete Gebäude besteht aus einem Komplex von drei hufeisenförmig an - einandergereihten Flügeln, die einen nach dem Dammtorwall offenen Hof umschließen. Die kaiserliche Oberpostdirektion befand sich an der Dammtorstraße, das kaiserliche Telegraphenamt am Gorch-Fock-Wall (früher Ringstraße genannt). Einer der Türme des Gebäudes der ehemaligen Ober- Zum Dammtorwall war die Fassade einfacher ge- postdirektion, erbaut 1883/1887. Photo: Andrea Orth halten als an der Dammtorstraße und am Gorch- Fock-Wall. „Bekrönt ist [das Gebäude] mit allegori- Zum Bau war es gekommen, weil „die Begründung schen Gruppen, die Telegraphie und Telephonwesen des Norddeutschen Bundes 1867, die Begründung sowie den Nutzen der Post für den Handel zu Lande des Deutschen Reiches 1871 und der Anschluss des und zur See feiern; der Eckturm trägt einen fliegen- Stadtstaates Hamburg an das Zollgebiet des Deut- den Merkur (…)“, schreibt der Professor für Kunst- schen Reiches mit der Einrichtung eines Freihafens geschichte Hermann Hipp in seinem DuMont Reise- (Zollanschluss 1888) (...) für die Förderung der Kunstführer über Hamburg.142) Hamburger Wirtschaft die allergünstigsten Wirkun- gen [gehabt hatte: So war es] (...) zu einer starken Zunahme der Einwohnerzahl von Hamburg und des Post- und Fernmeldeverkehrs [gekommen]. Die Post- verwaltung suchte durch raschen Ausbau und durch Verbesserung der Post- und Fernmeldedienste den Forderungen des Verkehrs gerecht zu werden.“143) Dies sollte durch eine Vereinheitlichung des deut- schen Postwesens geschehen, was bis zur Gründung des Deutschen Reichs im Jahre 1871 nicht gegeben war. So hatte Hamburg damals sieben nebeneinan- der bestehende Postverwaltungen. „Diejenigen ham- burgischen Geschäftshäuser und Privatpersonen, Straßenfront des Gebäudes der ehemaligen Oberpostdi- die einen ausgedehnten Briefwechsel unterhielten, rektion vom Dammtorwall gesehen. Photo: Marina Bruse waren (…) genötigt, ihre Sendungen bei 7 verschie-

142 Hermann Hipp: Freie und Hanse- Postgeschichtliche Blätter Hamburg, stadt Hamburg. DuMont Reise-Kunst- Otto von Bismarck-Erinnerungsheft. führer. 2. Aufl. Köln 1990, S. 210. Hamburg 1965, S. 27. 143 Otto von Bismarck und das Ham- burger Post- und Fernmeldewesen. In: 118 STEPHANSPLATZ · Ehemalige Oberpostdirektion

denen Postämtern aufzuliefern; 7 verschiedene Brief- werden. Und so wurde zwischen 1883 und 1886 träger brachten ihnen täglich die Briefe, 7 andere die Oberpostdirektion auf einem Grundstück zwi- die Pakete und Geldsendungen. Jedes Postamt ver- schen Gorch-Fock-Wall und dem Dammtorwall er- fuhr nach den bei seiner heimatlichen Verwaltung richtet. Der Platz vor dem Gebäude wurde nach gültigen Gesetzen, Taxen und Dienstvorschriften. dem Begründer der Deutschen Reichspost Heinrich Unter diesen Verhältnissen war es von größter Trag- von Stephan (1831–1897, wirklicher Geheimer Rat weite für die Förderung der Verkehrsbelange, dass und Staatsekretär im kaiserlichen Reichspostamt), die Verfassung des Norddeutschen Bundes das Post- benannt. und Telegraphenwesen der dem Bunde angehören- Damals waren bei der Post in Hamburg 1250 Beamte den Staaten zu einheitlichen Verkehrseinrichtungen und 1400 Unterbeamte, 66 Postillione und 102 machte. (…) Mit der Einführung des Gesetzes über Pferde beschäftigt. das Postwesen des Norddeutschen Bundes kamen In den Räumlichkeiten zur Dammtorstraße residier- die politischen Schranken für den Verkehr in Weg- ten die Oberpostdirektion, das Briefpostamt und die fall: Der Norddeutsche Bund wurde ein einziges Ober-Postkasse. Außerdem gab es hier je eine Woh- großes Post- und Telegraphengebiet, das einige Jahre nung für den Oberpostdirektor und den Vorsteher später mit der Gründung des Deutschen Reiches des Fahrtpostamtes. Das Briefpostamt nahm fast noch an Ausdehnung gewann.“144) das gesamte Erdgeschoss ein, dessen Mittelpunkt Diese Vereinheitlichung bedeutete auch eine Zen- die in den vorderen Lichthof eingebaute Schalter- tralisierung (Zusammenlegung) von Verwaltungs- halle war. Zu dieser gelangte man durch ein großes und Hauptbetriebsstellen. So sollten die Oberpost- Portal an der Dammtorstraße und durch ein Festibül, direktion (gegründet 1873) und die Hauptbetriebs- in dem Bildnisse vom damaligen Reichskanzler Otto stellen (Postamt 1, Paketpostamt und Telegraphen- von Bismarck (1815–1898) und von Heinrich von amt) zusammen in einem Gebäude untergebracht Stephan in Terrakotta zu bewundern waren. Eine

Der Telegraphensaal, aus: 100 Jahre Oberpostdirektion. Hamburg 1973, S. 94

144 Otto von Bismarck und das Ham- burger Post- und Fernmeldewesen, a. a. O., S. 28. STEPHANSPLATZ · Ehemalige Oberpostdirektion 119 dreiarmige Treppe führte vom Festibül in die Schal- terhalle, die mit einem Glasdach überdacht war. Zwischen den gusseisernen Säulen, die das Dach hielten, waren die Schalter eingebaut. Links befan- den sich die Annahmestellen für Briefe, Postanwei- sungen und Briefeinwürfe. Rechts waren die Aus- gabestellen für Briefe, Postanweisungen und die Annahme von Telegrammen. Im Gebäudeflügel am Dammtorwall lag die Abferti- gungshalle für angelieferte Sendungen. Von dort ge- langte man in die den Mittelflügel zwischen den zwei Lichthöfen einnehmende Entkartungsstelle für ange- kommene Postsendungen. An Letztere schloss sich in dem am Gorch-Fock-Wall gelegenen Flügel der Saal für das Sortiergeschäft, die so genannte Haupt- Stadtpost (Dienst stelle zur Bearbeitung und Ver- teilung der angekommenen Sendungen) nebst Brief- trägerabfertigung und die Briefkastenentleerung an. In der zweiten Etage lagen die Diensträume der Ober postdirektion und der Ober-Postkasse sowie ein großer Briefträgersaal. Die Oberpostkasse hatte ihre Räume nach der Seite Dammtorwall. Den Zugang dazu bildete die Treppe Hof des Paketpostamtes, aus: 100 Jahre Oberpostdirek- im Eckturm an der Einfahrt zum Posthof. In der drit- tion. Hamburg 1973, S. 53. ten Etage befanden sich die Dienstwohnungen und noch mehr Räume der Oberpostdirektion. Im Mittel- Dammtorwall gelegenen Zollrevisionssaal, der an bau des Hauses war das Fahrtpostamt. Im Erdge- dieser Seite einen eigenen Zugang hatte, bearbeitet schoss befand sich die Postkammer, in der zweiten wurde. In der zweiten Etage lagen die Telegraphen- Etage Büroräume. Dort, wo der Bau an den östlichen Apparatesäle, das Zimmer für die Rohrpoststation, Flügel anstößt, lag im Erdgeschoss die Paketausgabe, das Fernsprechzimmer und weitere zum Telegraphen- die sowohl vom Gorch-Fock-Wall als auch vom Post- amt gehörende Räume. In der dritten Etage war die hof aus zugänglich war. Ähnlich dem Ostbau grup- Dienstwohnung des Telegraphendirektors. pierten sich auch die Räume des westlichen recht- „Die dem Hauptgebäude auf der mit Privathäusern eckigen Flügels an zwei Lichthöfen, die allerdings bestandenen Seite der Dammthorwallstraße gegen- hier im Keller und in der ersten Etage in die bebaute überliegenden beiden Remisengebäude [waren] zur Fläche miteinbezogen waren. Im Kellergeschoss be- Unterstellung des Postwagenparks bestimmt. Es war fand sich die Packkammer für abgehende Pakete. notwendig, für diesen Zweck ein Grundstück zu ge- Den Hauptzugang zum Erdgeschoss bildete das große winnen, welches in möglichster Nähe sowohl des Portal am Gorch-Fock-Wall. Durch ihn kam man über Postgebäudes wie der Posthalterei lag. Diesen An- die Haupttreppe auf einen Flur, der nach links zur forderungen entspricht der nun angelegte Postwa- Geldannahme und -ausgabe, nach rechts zur Tele- genhof (…), da er einerseits mit dem Posthofe über graphenannahme führte. Geradeaus lagen die Zahl- die Dammthorwallstraße hin, andererseits mit der stellen für die Paketanlieferung, die zu beiden Seiten Posthalterei in unmittelbarer Verbindung steht. Die der Zahlstellen an Tischbanden und in dem am Posthaltereigebäude, welche früher Teil des jetzigen 120 STEPHANSPLATZ · Ehemalige Oberpostdirektion

Postillione, die sich gut führten, erhielten nach län- gerer Beschäftigungsdauer von der Reichspost Aus- zeichnungen (goldene Tressenstreifen, Ehrenpost- horn, Ehrenpeitsche) und Belohnungen in barem Geld. Bei besonderer Bewährung konnten sie sogar ins Beamtenverhältnis übernommen werden.“146) Während des Ersten Weltkriegs waren viele Postil- lione zum Heeresdienst und die Pferde an die Hee- resverwaltung abbestellt worden. Deshalb wurden 1916 erstmals auch Frauen als Postillione zugelassen. Um die Beförderung innerstädtischer Telegramme und anderer eiliger Korrespondenzen zu beschleu- nigen, wurde eine Rohrpostanlage im neuen Post- gebäude eingerichtet. Sie befand sich im Telegra- Stadtrohrpost, aus: 100 Jahre Oberpostdirektion. phenamt am Gorch-Fock-Wall. Die Anlage wurde Hamburg 1973, S. 65. bis 1914 zu einem Netz ausgebaut und verband das Telegraphenamt mit seinem Ableger, dem Zweigte- Wagenhofes einnahmen, sind nach der Großen legraphenamt an der Börse. Außerdem waren das Drehbahn hin zurückgelegt worden. Die unmittel- Postamt 8 im Dovenhof, das Postamt 14 im Freiha- bare Verbindung zwischen den Pferdeställen des fen, das Postamt 11 am Alten Wall, das Postamt 18 Posthalters und den Wagenremisen macht es mög- am Pferdemarkt (heute: Gerhard Hauptmann Platz), lich, dass die für den Postbetrieb erforderlichen das Postamt 1 am Hühnerposten, das Postamt 12 in Fuhrwerke jederzeit zur Hand sein können.“145) der Poststraße, das Postamt Altona (Elbe 1), das Über die Posthalterei heißt es in dem Buch „100 Postamt 4 in der Seilerstraße und die Eilbriefum- Jahre Oberpostdirektion 1873 bis 1973“: „Damals schlagstelle am Hauptbahnhof mit der Rohrpost ver- war die Posthalterei auf dem Staatsgrundstück bunden. Die Tiefe des Rohrpoststranges unter der Dammtorwall-Drehbahn untergebracht. Die Postwa- Oberkante des Straßenpflasters betrug 1,25 Meter. gen (Güter- und Karriolpostwagen sowie Paketzu- Es wurde mit Druckluft für die vom Telegraphenamt stellwagen) waren in der Regel Eigentum der Deut- abgehenden Sendungen und mit Saugluft für die schen Reichspost. In Hamburg wurden sie jedoch ankommenden Stränge gearbeitet. Die Luftkraft von der Wagenbaufirma Gebrüder Kruse gegen Ver- wurde in einer zentralen Anlage im Maschinenhaus gütung gestellt und unterhalten. Der Posthalter [da- am Dammtorwall erzeugt. mals der Reitschulbesitzer Max Puls] hatte also nur Zwischen 1989 und 1994 kam es zu einer Umstruk- die Postillione, die Pferde und das Geschirr bereit- turierung des Staatsbetriebes Post. Die Deutsche zuhalten. Er zahlte den Postillionen den Lohn und Post AG verkaufte das Post- und Telegraphenge- gab ihnen ihre vorschriftsmäßige Dienstkleidung. bäude am Stephansplatz an den Hamburger Kauf- Der Postillion stand in einem doppelten Dienstver- mann Johann Max Böttcher, was zu einer verän- hältnis. Dem Posthalter gegenüber galt er als ver- derten Nutzung des Gebäudes führte. 2007 wurde traglich verdingter Arbeiter, der zu jeder Zeit ent- das Gebäude, das mittlerweile im Grundbesitz der lassen werden konnte, in seiner Tätigkeit aber wurde DWI GmbH war, wieder verkauft. er zu den beamteten Personen gerechnet. Er hatte In Zukunft soll hier eine Mischung aus Büros und deshalb bei Amtsvergehen mit härteren Strafen als einem medizinischen Zentrum entstehen. Jetzt schon Privatpersonen zu rechnen und stand unter der hat sich im ehemaligen Gebäude der Oberpostdirek- Strafgewalt der Reichspost. tion eine private Hautklinik niedergelassen.

145 Josef Ronge: Die Post und Tele- 146 ebenda. graphie in Hamburg: Denkschrift zur Einweihung des neuen Reichs-Post- und Telegraphen-Gebäudes am Stephansplatz. Hamburg 1887, S. 52. DAMMTORWALL 1 121

27. STATION Dammtorwall 1 Dammtorwall: Benannt um 1800 als Straße hinter dem vom Dammtor ausgehenden Stadt- wall. Diese Gegend wurde im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts bebaut. Der Wall war damals so hoch, dass die Dächer der Häuser am Dammtorwall kaum über die Wallkrone hinausragten. Kleine Treppenwege führten schräg zur Böschung auf die Höhe des Walles. Ab 1879 erfolgte die Abtragung des Walles zwischen Dammtor (siehe S. 115) und Hol - stentor (Lage ungefähr bei der Laeizhalle). Das gewonnene Material wurde dazu benutzt, um einen Damm zum Botanischen Garten (siehe S. 298) hinüberzuführen. Über dem Wall wurde eine neue Straße – die Ringstraße (heute: Gorch-Fock-Wall, siehe S. 294) – angelegt und die Häuser an der Nordseite Dammtorwall abgebrochen. Der Dammtorwall war eine Wohnstraße, in der viele Familien aus der Unterschicht wohn- ten und kleine Läden angesiedelt waren. Aus dem Adressbuch von 1907 ist zu entneh- men: Im Haus Nr. 7 gab es eine Gastwirtschaft; in Nr. 15 eine Kohlen- und eine Milch - handlung. Hier wohnten z. B. ein Postbote, ein Maschinist und ein Buchbinder; im Haus Nr. 21 befand sich ebenfalls eine Gastwirtschaft. In diesem Haus lebten u. a. ein Post - beamter, eine Chorsängerin und ein Schumacher; im Haus Nr. 63 gab es einen Mittags- tisch, hier wohnten ein Badewärter, ein Postschaffner, ein Gärtner, ein Reisender, ein Goldschmied, ein Schriftsetzer, eine Witwe, ein Kellner, ein Arbeiter, ein Commis, eine Schneiderin und ein Maurer; im Haus Nr. 127 war eine Zigarrenhandlung. In den Wohnungen lebten ein Maler, ein Klempner, ein Spiegelbeleger, ein Buchhalter, ein Kürsch- ner, ein Fuhrmann, eine Wärterin, ein Koch, eine Weißnäherin und ein Hausknecht. Infoladen der „Landeszentrale für politische Bildung“ und des „Jugendinformationszentrums“ (Standort: seit 2010)

Von der Damm- torstraße aus gesehen: der Dammtorwall im 19. Jh. zwi- schen dem links liegenden Fach- werkhaus und dem im Bild rechts sich be- findenden Eta- genhaus. Ganz links im Bild das Waterloo- Hotel, Damm- torstraße 14. Staatsarchiv Hamburg 122 DAMMTORWALL 1 · Infoladen der „Landeszentrale“ und des „Jugendinformationszentrums“

Der Infoladen der „Landeszentrale Senat funktionieren. Viele Schriften werden kosten- für politische Bildung“ und los abgegeben, andere gegen eine geringe Bereit- des „Jugendinformationszentrums“ stellungspauschale. Ebenfalls im Infoladen liegen Einladungen zu Ver- Seit Januar 2010 befindet sich der Infoladen der anstaltungen der „Landeszentrale für politische Bil- „Landeszentrale für politische Bildung“ und des dung“ aus. „Jugendinformationszentrums“ im Dammtorwall 1. Das „Jugendinformationszentrum“ (JIZ) als Ser- Er ist täglich von montags bis donnerstags zwischen viceagentur für junge Leute präsentiert im Infoladen 13.30 Uhr und 18.00 Uhr und freitags bis 16.30 Uhr ein breites Spektrum an Broschüren und Flyern zu geöffnet. Themen, die für Kinder und Jugendliche von Inte- Im Infoladen bietet die „Landeszentrale für politi- resse und Relevanz sind. Ausbildung, Schule, Stu- sche Bildung“ ein breites Sortiment an Publikatio- dium, Wohnen, Gesundheit, Reisen und Ferienan- nen, DVDs, CDs und Karten zu den unterschied- gebote, Freizeit und Kultur und viele weitere lichsten politischen Themen an. So gibt es Bücher Themen finden sich im ständig aktualisierten An- zur Geschichte Hamburgs und Deutschlands, zu so- gebot. Das JIZ hat die richtigen Adressen und An- zialen und wirtschaftlichen Belangen, zu Themen sprechpartnerinnen und -partner zu den unter- wie Migration und Integration, Umwelt, Geschlech- schiedlichsten Themen und bietet zudem auf dem terdemokratie, Extremismus, Europa, politische Sys- Jugendserver www.jugendserver-hamburg.de, der teme, Außenpolitik, zu einzelnen Ländern etc. Auch über das Computerterminal auch im Laden zu er- werden im Infoladen bereitgehalten: die Zeitschrift reichen ist, eine Fülle an nützlichen Kontakten. Ein „Das Parlament“ und deren Beilage „APUZ“, die Veranstaltungskalender sowie interaktive Angebote seit Jahrzehnten bewährten Hefte „Informationen runden das Serviceangebot ab. zur politischen Bildung“ und natürlich das Grund- Einen Schwerpunkt bilden umfassende Informationen gesetz, die Hamburgische Verfassung und Material, zur Medienerziehung und zum gesetzlichen Jugend- aus dem die Kundinnen und Kunden erfahren, wie medienschutz. Broschüren zu den Themen Internet, der Stadtstaat Hamburg, die Bürgerschaft und der Handy, Computerspiele, soziale Netzwerke, Film und Fernsehen stehen Jugendlichen, Eltern und Multiplika torinnen und Multiplikato- ren zur Verfügung. Der „Kulturring der Jugend“ hält aktuelle Programme über Kultur- und Veranstaltungsangebote in Hamburg bereit, berät über Theater und Oper und verkauft Karten an Schulklassen und Jugendgruppen. Seit Neuestem gibt es im Infoladen auch Schriften anderer Behörden kostenlos zum Mitnehmen. Kollegen der Abteilung „Allgemeine Weiterbildung“ besorgen diese Schriften, die sich mit den unter- schiedlichsten Themen befassen. Damit liegt nun in Hamburg an einem zentralen, gut erreichbaren Ort in der Hamburger Innenansicht vom Infoladen der „Landeszentrale für politische Bil- Innenstadt das vielfältige Angebot der dung“ und des „Jugendinformationszentrums“. Photo: Fr. Ropertz Hamburger Behörden aus. DAMMTORWALL 7 · Freimaurerkrankenhaus 123

„1.) Der gänzliche Mangel einer solchen Einrich- 28. STATION tung. 2.) Die Nothwendigkeit derselben, bey unsern Dammtorwall 7 vielen fremden Dienstboten. 3.) Der Mangel an Freimaurerkrankenhaus Pflege und Aufsicht für krankes Gesinde, haupt- (Standort: 1795–1885) sächlich durch den beschränkten Raum in unsern Wohnungen; die damit verknüpfte Gefahr der An- Das Freimaurerkrankenhaus lag wenige Schritte ent- steckung in vielen Krankheiten, die auch die besten fernt vom heutigen Infoladen der „Landeszentrale menschenfreundlichsten Herrschaften nöthigt, die für politische Bildung“ und des „Jugendinformations- Dienstboten aus dem Hause zu schaffen; die also zentrums“, ungefähr dort, wo heute ein Parkhaus eine solche Einrichtung wünschen, müssen, um ihr steht. Wie sah das Gesundheitswesen um jene Zeit Ende des 18. Jahrhunderts in Hamburg aus, als das Frei- maurerkrankenhaus am Dammtorwall errichtet wurde? Da gab es nur das Heiligengeisthospital, das lediglich der Aufnahme von Siechen diente und von Barfüßer-Mönchen betreut wurde. Dann gab es das Hiobshospital, das nur für die Aufnahme von Po- cken- und Syphiliskranken zur Verfügung stand. Endlich war da noch der Pesthof. Die sozial nicht abgesicherten Dienstboten wurden im Krankheitsfall von ihren Herrschaften entlassen und eben diesem Pesthof zugewiesen. Es heißt, dass die Erkrankten jedes Mal mit Gewalt in diese Anstalt gebracht wer- den mussten, weil die dortigen Verhältnisse schreck- Dammtorwall von der Dammtorstraße aus gesehen, lich gewesen sein müssen: Zwei Kranke mussten 1879. Staatsarchiv Hamburg sich ein Bett teilen. Zu den Insassen zählten Pest- kranke und „Tobsüchtige“, die an Ketten befestigt krankes Gesinde für wenige Kosten curiren und ver- wurden, und um den Pesthof war ein Graben gezo- pflegen zu lassen.“147) gen, in den die Fäkalien flossen. Es ist zu verstehen, Und über die Aufnahme der Erkrankten hieß es: „Die wenn die erkrankten Dienstmädchen sich mit Hän- Art der Aufnahme ist folgende: Erkrankt das Mädchen den und Füßen wehrten, in diese „dreckige Anstalt“ einer Herrschaft, welche jährlich drey Mark zur Er- eingewiesen zu werden. haltung des Instituts bezahlt, so fordert die Herr- Der weit über die Stadtgrenzen bekannte Schau- schaft, durch ein zu diesem Zwecke gedrucktes Billet, spieldirektor Friedrich Ludwig Schröder (1744–1816, einen der unterzeichneten Aerzte auf, die Kranke zu siehe S. 218), war dem Freimaurerbund (siehe S. 58) besuchen. Der Arzt kommt, untersucht, und gehört in Hamburg beigetreten. Er war berufen, rettende die Krankheit nicht zu den ausgenommenen, so er - Taten für seine Mitmenschen anzuregen und durch- theilt er die Erlaubniß zur Aufnahme: doch lässt er zuführen, und so rief er seine Logenbrüder am sich vorher von der Herrschaft einen gedruckten Re- 28. Januar 1793 zusammen. Der Plan war, in Ham- vers unterzeichnen, nach welchem sie sich verpflich- burg ein menschenwürdiges Krankenhaus zu errich- tet, die Medicin nach der obenbenannten sehr wohl- ten, in dem zunächst die weiblichen erkrankten feilen Taxe, und fünf bis sechs Schillinge tägliches Dienstboten Aufnahme finden sollten. Die Gründe Kostgeld zu bezahlen; auch im Sterbefalle für die für die Errichtung solch eines Krankenhauses waren: Beerdigung zu sorgen. Die Art, wie die Administration

147 175 Jahre Dienst am Menschen. – Freimaurer Krankenhaus. Hamburg Das Freimaurer-Krankenhaus in Ham- 1970, S. 11f. burg von 1795–1970. Hrsg. vom Vor- stand des „Elisabeth-Krankenhaus e.V.“ 124 DAMMTORWALL 7 · Freimaurerkrankenhaus

sich mit der Herrschaft berechnet, ist leicht, weil Jahren den Plan zu einem weiblichen Krankenhaus jedes Recept mit dem Namen der Kranken bezeich- entwarfen und durch die Ausführung einem drin- net, und der Tag der Aufnahme in dem von der Herr- genden Bedürfnisse der Einwohner Hamburgs ab- schaft ausgestellten Reverse bemerkt ist.“148) zuhelfen hofften, entging es ihnen nicht, dass ein Für den Bau des Krankenhauses wurde ein Kosten- männliches Krankenhaus gleichfalls gänzlich fehle, voranschlag erstellt. Zunächst sollte ein Haus mit dass der Mangel eines solchen Instituts nicht minder 20 Bettenplätzen errichtet werden. Man brachte die gefühlt werden, und der Wunsch allgemein sey, Mittel auf, wobei Friedrich Ludwig Schröder mit ei- auch diesem Mangel abgeholfen zu sehen. ner großen Spende beispielgebend voranging. Welcher Hausvater kennt nicht das Unangenehme, Am 1. Oktober 1795 konnte der Betrieb aufgenom- seinen kranken männlichen Hausgenossen, selbst men werden. Es war das erste private Krankenhaus bei dem besten Willen, nicht die nöthige Pflege und in Hamburg, dessen hervorragende sanitäre Ein- Wartung ertheilen zu können? richtungen gepriesen wurden. Ist nun überdies noch die Gefahr der Ansteckung Diese Krankenstation musste schon bald erweitert bei der Krankheit, und wird es Pflicht, sie aus dem werden. So sagt ein Protokoll vom 6. Mai 1799, Hause zu entfernen – wo findet er einen Ort, sie für dass inzwischen bereits 227 „kranke weibliche Per- wenige Kosten heilen zu verpflegen zu lassen? sonen“ aufgenommen wurden, von denen nur vier Aber damals konnten die Logen an die Errichtung verstorben seien. eines zweiten Instituts nicht gleich denken; denn die Errichtung eines weiblichen Krankenhauses über- stieg schon ihre Kräfte weit; schon dazu mußten sie edeldenkende Mitbürger ausser ihrem Zirkel um Mit- würkung und Unterstützung ansuchen, und – Dank sey der Wohlthätigkeit Hamburgs – sie fanden Hülfe, wo sie suchten.“ Der Gesamttext war wesentlich länger, aber die en- gagierten Freimaurer Hamburgs hatten Erfolg, nicht zuletzt durch den persönlichen Einsatz ihres Fried- rich Ludwig Schröder, der sich persönlich an den Kaufmann und Sozialreformer Caspar Voght (1752– 1839) und Senator Johann Arnold Günther (1755– Lage des Freimaurerkrankenhauses (Kasten). Kartenaus- 1805) wandte, die jeder 7000 Mark Courant spende- schnitt aus: Plan von Hamburg, Altona und Umgebung, entworfen von F. E. Schuback nach den besten Quellen ten. Es liefen viele Spenden ein, und die Hamburger und Vermessungen erg. bis August 1867. Hamburg 1867. Admiralität spendete ganze 15 000 Mark Courant. Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Kt H15 Am 13. April 1804 konnte dann das „Krankenhaus für männliche Kranke“ eröffnet werden. Es war das Die hervorragende Einrichtung wurde in der Stadt einzige Privatkrankenhaus zu jener Zeit und besaß bekannt, und der Wunsch wurde laut, auch ein Kran- einen vorzüglichen Ruf. kenhaus für männliche Bedienstete zu errichten. Die Bald kam es dann dazu, dass auch Nichthausange- zu erwartenden Kosten konnten aber von den Logen- stellte um Aufnahme in dieses Krankenhaus baten, brüdern allein nicht aufgebracht werden, um „ihr und nach einer gewissen Zeitspanne wurde dann Krankenhaus hinten am Wall“ ausreichend zu erwei- 1885 das Freimaurer-Krankenhaus am Kleinen Schä- tern. So richtete man ein Rundschreiben an die Bür- ferkamp 43 errichtet, weil die bisher gebotenen Mög- ger der Stadt: „An das Publikum im Juni 1802!“ lichkeiten den Ansprüchen nicht mehr genügten. „Wie die vereinigten Freymaurerlogen vor einigen Text: Rolf Appel

148 ebenda. DAMMTORWALL 9–13/CAFFAMACHERREIHE · Verwaltungsgebäude der Justizbehörde 125

ger Fremdenblatt“ schrieb dazu am 14. Juni 1914: „Gleich nach der Niederlegung der alten Häuser be- gann man mit der Fundamentierung des etwa 93 Meter langen Hauptgebäudes am Dammtorwall und des Seitenflügels. (…) Der gesamte Bau wird nach den Plänen des Baudirektors Prof. Schumacher [1869–1947] in schlichter Form solide ausgeführt. Auf künstlerisches Beiwerk ist weniger Wert gelegt worden als vielmehr auf Zweckmäßigkeit der Raum- gliederung. Nur die Straßenfront des Hauptgebäudes am Dammtorwall wird monumentaler gestaltet wer- den. Das Untergeschoß und Erdgeschoß sind in Mu- schelkalkstein ausgeführt; für die übrigen Geschosse werden Oehnhausener Verblendsteine verwandt. Von den drei Eingängen ist der Haupteingang mit einem gewaltigen Bogen besonders machtvoll gehalten und wird dadurch später in harmonischem Einklang zu dem hochragenden Gebäude stehen, das außer dem Unter- und Erdgeschoß vier Obergeschosse haben und das durch vier Giebel und drei dazwischen ge- lagerte, mit Kupfer bedachte Türmchen geziert sein wird. Architektonisch schöne Gestaltung erfährt fer- ner die Haupttreppenhalle, in die man vom Haupt- Blick vom Dammtorwall in die Caffamacherreihe, 19. Jh. eingang aus gelangt. Sie wird getragen von acht in Anstelle des auf der linken Bildseite abgebildeten Wohnhauses steht hier heute das Verwaltungsgebäude Muschelkalkstein ausgeführten Säulen, die durch der Justizbehörde. Postkarte Rundbogen miteinander verbunden sind. Die Decke der Halle wird in Kassettenform ausgeführt. Eine Zierde der Haupthalle wird ferner ein Brunnen bil- 29. STATION Dammtorwall 9–13/Ecke Caffamacherreihe Verwaltungsgebäude für: die Postzollabfertigung, das Gerichtsvollzieheramt, die Vormundschafts- behörde und das Jugendgericht (errichtet 1913/ 1916, siehe dazu auch Drehbahn 36 S. 72). Heute hier: Amts gericht Hamburg (in Nr. 13)

48 Fachwerkhäuser mit 135 Wohnungen des Gänge - viertels an der Drehbahn 36–45 und am Dammtor- wall Nr. 57–95 wurden um 1913 abgerissen, um dort Verwaltungsgebäude für die Postzollabfertigung, das Das 1913/16 erbaute Verwaltungsgebäude der Justiz - Gerichtsvollzieheramt, die Vormundschaftsbehörde behörde am Dammtorwall 9–13 im Jahre 2010. und das Jugendgericht zu bauen. Das „Hambur- Photo: Marina Bruse 126 DAMMTORWALL 9–13/CAFFAMACHERREIHE · Verwaltungsgebäude der Justizbehörde DAMMTORWALL 11 · „Arbeitsstelle Vielfalt“

den. Zu beiden Seiten der Haupthalle werden zwei Paternoster-Fahrstühle eingebaut. (…) Im Hauptgebäude sind tiefe Keller für die Hei- zungsanlagen und die Motoren eingebaut, die die Pakete in die oberen Etagen befördern sollen. Das Unter- und Erdgeschoß sind für die Postzollabfer- tigung bestimmt, und zwar befindet sich im Unter- geschoß der Lagerraum und im Erdgeschoß der Ausgaberaum. Im Seitenflügel, dessen Keller für Koh - lenlagerung und Wasseranlagen besonders praktisch angelegt sind und der mit dem später zu errichten- den Versteigerungsgebäude [siehe S. 73] durch einen Heute: Dammtorwall 13, Eingangsbereich des Amts - unterirdischen Gang verbunden sein wird, sind im gerichts. Photo: Marina Bruse Untergeschoß zwei Wohnungen für Beamte und im Erdgeschoß Bureauräume für die Postzollabferti- Einzelne Räume werden besonders sorgfältig ausge- gungsstelle. Im Hauptgebäude werden ferner das führt, wie z. B. der Raum für die Wertpakete, der Gerichtsvollzieheramt und die Vormundschaftsbe- gegen Feuers- und Einbruchsgefahr durch starke hörde, im Seitenflügel das Jugendgericht Unterkunft Wände und Tresortüren gesichert wird. Die Fenster finden. Ueberall wird durch sehr breite hohe Fenster am Dammtorwall werden mit starker Vergitterung für reiche Lichtzufuhr Sorge getragen. Breite Korri- versehen. Die Zufuhr der Postpakete erfolgt durch dore deuten auf den späteren lebhaften Verkehr hin. zwei Eingänge von der Drehbahn aus.“

30. STATION direkt der Behördenleitung für Justiz unterstellt. Ihre Dammtorwall 11 Ziele sind die Förderung der Geschlechtergerechtig- „Arbeitsstelle Vielfalt“ keit und einer Kultur der Wertschätzung von Vielfalt (Standort: seit 2009) sowie der Schutz vor Diskriminierung. Einerseits wird sie Politik und Verwaltung beim Ab- bau struktureller Diskriminierung beraten und an Die „Arbeitsstelle Vielfalt“ wurde zum 1. August 2009 der Entwicklung von Gesetzen und Verwaltungsleit- in der Justizbehörde eingerichtet. Sie ist als Stabsstelle linien mitwirken. Andererseits bietet sie Bürgerinnen und Bürgern Informationen zur Gleichstellung und zum Schutz vor Diskriminierung nach dem Allge- meinen Gleichbehandlungsgesetz an. Öffentlichkeits- arbeit und Sensibilisierung für den Wert der sozialen und kulturellen Vielfalt in Hamburg zählen zu ihrem Aufgabengebiet. Schließlich soll sie an der Weiter- entwicklung einer netzwerkorientierten Selbsthilfe- und Beratungsinfrastruktur mit staatlichen und nicht- staatlichen Akteuren mitwirken. Ein zentrales rechtliches Fundament der „Arbeits- stelle Vielfalt“ ist neben dem Grundgesetz (GG) das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), durch Dammtorwall im Jahre 1877. Staatsarchiv Hamburg welches die in internationalen und europäischen DAMMTORWALL 41 · „Notgemeinschaft der durch die Nürnberger Gesetz Betroffenen“/„Beratungsstelle für Wiedergutmachung“ 127

Verträgen und im Grundgesetz normierten staatli- Maßnahmen allerdings sehr unterschiedlich. Dabei chen Aufträge zu individuellen Rechten konkretisiert sind die jeweiligen Interessen und Bedürfnisse der werden. Ziel des AGG ist es, rassistische Diskrimi- Akteurinnen und Akteure von hoher Wichtigkeit. nierungen oder jene aufgrund der ethnischen Her- Die „Arbeitsstelle Vielfalt“ widmet sich der Ge- kunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltan- schlechtergerechtigkeit, der Anerkennung unter- schauung, einer Behinderung, des Lebensalters oder schiedlicher sexueller Identitäten, der Generationen- der sexuellen Identität zu verhindern oder zu be- gerechtigkeit und den Auswirkungen des demogra - seitigen. fischen Wandels, der Entfaltung und gegenseitigen Die Umsetzung einer auf Gleichberechtigung und Anerkennung verschiedener Kulturen und Religio- Gleichstellung ausgerichteten Geschlechterpolitik nen, der Umsetzung des Allgemeinen Gleichbehand- stellt ein wichtiges Arbeitsfeld im Rahmen des Viel- lungsgesetzes, der Koordination der Bekämpfung faltansatzes dar. von Rassismus und Rechtsextremismus. Die europäischen Richtlinien gegen Diskriminierung Im Dammtorwall 11 werden für die Information und betonen ebenfalls das Zusammenspiel zwischen der Beratung zum AGG folgende Sprechzeiten angebo- Geschlechtergerechtigkeit und den anderen sozialen ten: Dienstag 14.00–17.00 Uhr; Mittwoch 14.00– und kulturellen Diskriminierungsgründen. 17.00 Uhr; Donnerstag 10.00–13.00 Uhr; Email: Die verschiedenen Ursachen für Diskriminierung wer- [email protected], Telefon: den gleichwertig in der „Arbeitsstelle Vielfalt“ be - 040/4 28 43-2175. arbeitet. Je nach Zielgruppe sind die Strategien und Text: Angela Bähr

gehörte. Dort logierte auch die amtliche „Beratungs- 31. STATION stelle für Wiedergutmachung“. Die räumliche Nähe Dammtorwall 41 war kein Zufall: Die „Notgemeinschaft“ hatte sich (alte Nummerierung) zum Ziel gesetzt, sich für die Wiedergutmachungs- „Notgemeinschaft der durch interessen aller Personen einzusetzen, die aufgrund die Nürnberger Gesetze Betrof- der NS-Rassegesetze „besondere Verfolgung erlitten“ fenen“ (Standort: 1945–1954); hatten und nicht von der wiedergegründeten Jüdi- „Beratungsstelle für Wieder- schen Gemeinde betreut wurden. Die „Notgemein- gutmachung“ (Standort: Juli schaft“ fühlte sich zuständig für „Angehörige des 1945–März 1946) gleichen Erlebniskreises“, nämlich „Juden, die Stern- träger waren, Juden aus privilegierten Mischehen, Arier aus Mischehen und Mischlinge ersten Grades“, Von der Dammtorstraße kommend, befand sich das wie es Konrad Hoffmann (1904–1989), einer ihrer Haus Dammtorwall 41 auf der linken Seite zwischen Gründer, formulierte. Caffamacherreihe und der damals noch vorhande- Die Idee, eine solche Organisation zu schaffen, war nen Ulricusstraße. bereits in der Endphase des „Dritten Reiches“ ent- standen, als die mit Jüdinnen verheirateten nicht- „Notgemeinschaft der durch die Nürnberger jüdischen Ehemänner und die „Mischlinge ersten Gesetze Betroffenen“ Grades“ ab Oktober 1944 Zwangsarbeit leisteten. Hatten sie zuvor Diskriminierung und Verfolgung Im September 1945 bezog die „Notgemeinschaft der als Einzelne erlitten, so entwickelten sie in den Ar- durch die Nürnberger Gesetze Betroffenen“ Räume beitskolonnen erstmals ein Gruppengefühl, tausch- im Gebäude Dammtorwall 41, das der Justizbehörde ten Informationen aus und entwarfen Pläne für die 128 DAMMTORWALL 41 · „Notgemeinschaft der durch die Nürnberger Gesetz Betroffenen“/„Beratungsstelle für Wiedergutmachung“

Zukunft. Konrad Hoffmann, ein ehemaliger kauf- männischer Angestellter, sprach Interessierte an, stellte Namenslisten auf und sammelte Dokumente. So vorbereitet, eröffnete die „Notgemeinschaft“ be- reits im Mai 1945 eine erste behelfsmäßige Geschäfts- stelle im Frauenthal 20, bis sie in den Dammtorwall umziehen konnte, wo sie bis Mai 1954 arbeitete, um dann in die Kaiser-Wilhelm-Str. 85 und später in die Große Bleichen 23 zu wechseln. Im 1945 ausschließlich männlich besetzten Vorstand und Beirat engagierten sich unter anderem der er- wähnte Konrad Hoffmann, Walter Koppel (1906– 1982, später gemeinsam mit Gyula Trebitsch Grün- der einer der ersten Nachkriegsfilmgesellschaften: der „REAL-Film“), Erik Blumenfeld (1915–1997, Dammtorwall vom Dragonerstall aus gesehen im Jahre später Bundestags- und Europaparlamentsabgeord- 1879. Staatsarchiv Hamburg neter), Gerhard Bucerius (1906–1995, später Heraus - geber der „DIE ZEIT“) und Georg Wilhelm Claussen den dürfen. Auch Scheidungen konnten dadurch (geb. 1912, später Direktor der Firma Beyersdorf). rückwirkend annulliert werden. Mit Emilie Glaser und Elisabeth Winter rückten mehr Die „Notgemeinschaft“ und Schwesterorganisatio- als zehn Jahre nach der Gründung auch erstmals nen, die sich in anderen Städten gebildet hatten, er- vereinzelt Frauen in die Gremien der Notgemein- reichten auch, dass auf Bundesebene ein Hilfsfonds schaft ein. für nichtjüdische „rassisch“ Verfolgte eingerichtet Die Organisation versuchte zunächst, die akute Not wurde. Während ähnliche Interessengruppen ande- zu lindern: Sie gab insgesamt ca. 8000 Ausweise renorts bereits aufgelöst worden sind, arbeitet die für Hamburger Verfolgte aus, verteilte Lebensmittel Hamburger „Notgemeinschaft“ weiter und engagiert an Einzelne und Familien, bemühte sich um Brenn- sich auch in der „Hamburger Stiftung für NS-Ver- material und Bezugsscheine, sie regelte Wohnungs- folgte“.149) und Berufsangelegenheiten und organisierte die Text: Beate Meyer Rückführung von ca. 600 in Theresienstadt Inhaf- tierten nach Hamburg. Sie erreichte bei der briti- schen Besatzungsmacht, dass jugendliche „Misch- „Beratungsstelle für Wiedergutmachung“ linge“ in Förderkursen Schulabschlüsse nachholen konnten, die ihnen während der NS-Zeit verwehrt Ein knappes Jahr logierte im Dammtorwall die „Be- worden waren. Später unterstützte sie Ratsuchende ratungsstelle für Wiedergutmachung“. Bereits im vor allem durch individuelle Rechtsberatung und Juni 1945 eingerichtet, stellte sie eine der ersten setzte sich für die Berücksichtigung von deren Inte- Anlaufstellen für NS-Verfolgte in Hamburg dar. Sie ressen in der Wiedergutmachungsgesetzgebung der gehörte zum Rechtsamt der Freien und Hansestadt Bundesrepublik ein. So bewirkte sie unter anderem, Hamburg. Der erste Nachkriegsbürgermeister, Ru- dass die Zwangsarbeit als haftgleich entschädigt dolf Petersen (1878–1962), hatte Wert darauf gelegt, wurde, und brachte das „Gesetz zur Anerkennung sie nicht in die Finanzbehörde einzugliedern. Die freier Ehen für rassisch und politisch Verfolgte“ ein, ehemals Verfolgten sollten eine unparteiische An- das eine Rückdatierung von Ehen ermöglichte, die laufstelle aufsuchen können, die ihnen bei der Be- während der NS-Zeit nicht hatten geschlossen wer- wältigung akuter Not half: bei der Suche nach Ar-

149 Literatur, vgl. dazu: Konrad Hoff- gungserfahrung 1933–1945. Hamburg mann: Der Weg einer Notgemeinschaft. 1999. In: Neues Hamburg Bd. XII, Hamburg 1958, S. 37–43. Beate Meyer: „Jüdische Mischlinge“. Rassenpolitik und Verfol- DAMMTORWALL 41 · „Beratungsstelle für Wiedergutmachung“ 129 ULRICUSSTRASSE · Prostitution

beitsstellen, Wohnmöglichkeiten oder im Bemühen, Emigrantinnen und Emigranten und „in Hamburg ihr enteignetes Vermögen rückerstattet zu bekom- ansässigen Ausländern“ (Displaced Persons). Als men. Sie sollte auch bevorzugte Zulassungen zum hinderlich erwiesen sich allerdings strikte Verbote Handel und Gewerbe für solche Antragsteller er- der britischen Besatzungsmacht, größere Summen wirken, die einschlägig qualifiziert waren, und diese für eine vorgezogene Wiedergutmachung bereitzu- dann mit Benzinscheinen, Genehmigungen usw. stellen oder das blockierte Nazi-Vermögen dafür ausstatten, damit sie selbstständig arbeiten konnten. freizugeben. Darüber hinaus gehörte es zu ihren Aufgaben, Ma- Parallel zur „Beratungsstelle“ arbeitete der „Sonder- terial für spätere Regelungen einer umfassenden hilfsausschuss“, der bis 1949 14 200 Verfolgten (3440 Wiedergutmachungsgesetzgebung zu sammeln. Um Anträge wurden abgelehnt) Unterstützungszahlun- die verschiedenen Aufgaben erfüllen zu können, gen zubilligte, um akute Not abzuwenden und me- stellte die Stadt Sachbearbeiterinnen und Sachbe- dizinische Behandlungen oder Kuraufenthalte der arbeiter aller zuständigen Behörden zur „Beratungs- Betroffenen oder ihrer Familien zu ermöglichen. stelle“ ab. Diese nahm nun am 9. Juli 1945 ihre Im ersten halben Jahr ihrer Tätigkeit bearbeitete die Tätigkeit auf. Im August ermutigte sie per Presse- „Beratungsstelle“ immerhin 51000 Anträge. Sie ver- mitteilung Verfolgte, ihre Ansprüche anzumelden. suchte, den Bedürftigen trotz Lebensmittel-, Koh- Es ging in erster Linie um Maßnahmen, die der lenknappheit und Wohnraumnot zu helfen und da- Wiedereingliederung dienten, doch wenn Antrag- bei auch zu überprüfen, ob diese ihre Anträge steller und Antragstellerinnen als mittellos galten, berechtigt gestellt hatten. Mit Erlass vom 18. März konnten sie auch finanzielle Unterstützung über die 1946 wurde die „Beratungsstelle“ in das „Amt für „Beratungsstelle“ beantragen. Als die britische Be- Wiedergutmachung und Flüchtlingshilfe“ eingeglie- satzungsmacht Anweisungen gab, entlassene KZ- dert und gab die Räume im Dammtorwall 41 auf.150) Häftlinge zu unterstützen, übernahm die „Beratungs- Text: Beate Meyer stelle“ die Aufgabe ebenso wie die Betreuung von

32. STATION Prostitution in der Ulricusstraße

Ulricusstraße Bis zu ihrem Abriss im Jahre 1959 Entstanden im 17. Jahrhundert aus einem Garten. Benannt im Zuge des Baus des Unilevergebäu- um 1800 nach der nahen Bastion Ulricus am Wall, die wie- des (siehe S. 135) war die Ulricus- derum benannt wurde nach dem Vornamen des ehemaligen straße mit alten schiefwinkeligen Senators und späteren Bürgermeisters Ulrich Winckel (1575– Fachwerkhäusern bebaut. Schon seit 1649). 1922 Umbenennung der Straße in Winckelstraße. Langem gab es in der Straße viele Im Zuge des Abrisses des Gängeviertels in den 50er Jahren des Bordelle. 20. Jahrhunderts wurden auch die Fachwerkhäuser in der Im 19. Jahrhundert arbeiteten in den Ulricusstraße abgetragen. meist kleinen Bordellen nicht mehr Prostitution in der Ulricusstraße (19. bis 20. Jh.); Ulricusstraße 17: als zwei, höchstens fünf Prostituierte. Obdachlosenheim für Frauen (1927– 1934); „Evangelisch-Sozialer Obwohl sie polizeilich überwacht und Hilfsverein e. V.“ (ab 1929 mehrere Jahre); Bertha Keyser, der registriert wurden, waren sie meist „Engel von St. Pauli“ (19./20. Jh.); Ulricusstraße 91: Christiane verbrecherischen Arbeitsverhältnis- Nissen, Mutter von Johannes Brahms (19. Jh.) sen ausgesetzt. So war die Verschul- dung der Prostituierten an die Bor- dellwirte eine übliche Praxis, um die

150 Literatur, vgl. dazu: Die Wieder- 1960). Nils Asmussen: Der kurze schädigung von NS-Unrecht. Regelun- gutmachung für die Opfer der national- Traum von der Gerechtigkeit. „Wieder- gen zur Wiedergutmachung. Berlin sozialistischen Verfolgung in Hamburg. gutmachung“ und NS-Verfolgte in 2009. Die Wiedergutmachung in Hamburg Hamburg nach 1945. Hamburg 1987. von 1945 bis 1959. Hamburg (vermutl. Bundesministerium der Finanzen, Ent- 130 ULRICUSSTRASSE · Prostitution

befriedigt werden“, hieß es unter Zeit genossen. Auch Matrosen war der Gang ins Bordell erlaubt. „Hätte die Obrigkeit hierin nicht für ihn gesorgt, so würde kein unschuldiges Mädchen, keine ehrliche Frau, auf offener Straße vor ihm sicher seyn.“ Dennoch waren Bordelle stets ein Ärgernis, und bürgerliche Kreise forderten immer wieder ihr Verbot. 1876 wurden des- halb die Schankkonzessionen für Bordellwirtschaften einkassiert und der Beruf des Bordellwirtes verboten. Damit waren aber die Bordelle noch lange nicht auf- gelöst. Die Bordell wirte nannten ihre Bordelle nun „Beherbergerhäuser“ und machten sich selbst zu le- galen Zimmerver mietern. Solche Praktiken wurden durch entsprechen de polizeiliche Vorschriften legiti- Lage der in den 50er Jahren des 20. Jh. abgebrochenen Ulricusstraße. Kartenausschnitt aus: Illustrirter Plan miert, die es erlaub ten, dass Prostituierte weiterhin von Hamburg [Vogelschau], Hamburg 1854. in von der Sittenpolizei genehmigten Häusern arbei- Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Kt H43 ten durften. Zwischen 1873 und 1922 regelten Kontrollvorschrif- Frauen an das Gewerbe und die Häuser zu fesseln. ten das „öffentliche“ Verhalten der Prostituierten: In der Regel berechneten die Bordellwirte viel zu Sie durften nicht „im ersten und zweiten Range und hohe Preise für Kost und Logis, meist die Hälfte der im Parquet des Stadt-Theaters [siehe S. 87] und im Einnahmen der Prostituierten. Hinzu kamen Wu- ersten Range, dem Parquet und den Parquetlogen cherzinsen für Leihmöbel oder Schmuck. Da die des Thalia Theaters, sowie in den ersten Plätzen an- Frauen über kein eigenes Geld verfügten und nur derer Theater und öffentlicher Darstellungen resp. selten die Bordelle verlassen durften, übernahmen Belustigungen, ferner in der Kunsthalle, im zoologi- die Wirte auch die Einkäufe für die Frauen und ver- schen und botanischen Garten [siehe S. 298] erschei - langten dafür oft überhöhte Preise. nen“. Auch hatten sie in „hiesigen Badeanstalten Prostitution galt in den Augen des Bürgertums als [nicht] andere als für einzeln Badende ein gerichtete moralisch verwerflich. Dennoch akzeptierte es, dass Kabinette, namentlich die Schwimmbassins zu be- bestimmte Kundenkreise Bordelle aufsuchten, so z. B. nutzen“. Während der Monate März bis September ledige Männer. „Allen denjenigen, welchen es versagt durften Prostituierte nachmittags zwischen 14 und ist, sich eines rechtmäßigen Beyschlafes zu bedienen, 17 Uhr ohne besondere polizeiliche Erlaubnis nicht bleibt gleichwohl der Trieb der Natur, und dieser will ihre Wohnung verlassen. Auch war ihnen verboten, „sich bei der Börse und in deren Umgebung, auf den Wall-, Alsterufer- und Hafenpromenaden, sowie überhaupt abends nach 11 Uhr ohne männliche Be- gleitung außerhalb ihrer Wohnung blicken zu las- sen“,152) schrieb Alfred Urban in seinem grundle- genden Werk über die Prostitution in Hamburg. Prostituierten war es verboten, in ihren eigenen Wohnungen Dienstmädchen, die jünger als fünfzehn Jahre alt waren, zu beschäftigen. Auch durften keine Aus: „Hamburger Nachrichten“ vom 19.5.1909.151) eigenen oder fremde Kinder vom schulpflichtigen Staatsarchiv Hamburg Alter an bei ihnen wohnen, und Männern unter

151 Offener Brief an die Hamburger zu wollen, daß die Ulricusstraße unver- ordnungen der hiesigen Polizeibehörde Bürgerschaft. Die hochgeehrten Herren züglich von den reichsgesetzlich verbo- entstandenen Vermögensverluste und Mitglieder der Hamburger Bürgerschaft tenen Bordellbetrieben gesäubert und Eigentumsschädigungen voll und ganz hierdurch in höflichster Weise aufge- die uns seit 1881 trotz aller unserer vom Hamburger Staat ersetzt werden. fordert und ersucht, dafür Sorge tragen Proteste und Einsprüche durch die An- Hochachtungsvoll Die auf 28 Jahren ULRICUSSTRASSE · Prostitution 131 zwan zig Jahren mussten die Frauen den Zutritt zu bung der Bordelle in die Bürgerschaft. Am 17. Juni ihren Räumen verwehren. 1921 beschloss die Hamburgische Bürgerschaft die Der „Hamburgisch-Altonaer Zweigverein der inter- Aufhebung der Kasernierung für Prostituierte. Die nationalen Föderation“, der zum radikalen Zweig staatlich kontrollierten Bordelle wurden geschlossen. der bürgerlichen Frauenbewegung gehörte, setzte Die Prostituierten wohnten nun meist zur Untermiete, sich für die Abschaffung der Bordelle und der Pros- durften aber weiterhin ihrem Gewerbe nachgehen. titution ein. In seiner Satzung von 1899 hieß es: Die gesundheitliche Überwachung der Prostituierten „Der Zweigverein der Internationalen Föderation wurde 1927 mit Inkrafttreten des „Reichsgesetzes mit dem Sitze Hamburg verfolgt den Zweck, die zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“ auf Prostitution als gesetzliche oder geduldete Institution die Gesundheitsbehörde übertragen. abzuschaffen. In Anbetracht, dass die gesetzliche Seit dieser Zeit wurden nur noch diejenigen Prosti- Regelung der Prostitution als ein sanitärer Irrtum, tuierten bestraft, die „öffentlich in einer Sitte oder als eine soziale Ungerechtigkeit, als eine moralische Anstand verletzenden oder andere belästigenden Ungeheuerlichkeit und als ein förmliches Verbrechen Weise“ zur „Unzucht“ aufforderten oder sich dazu gegen die persönliche Freiheit zu gelten hat, sucht anboten. Hierfür gab es eine Haftstrafe bis zu sechs der Hamburgisch-Altonaer Zweigverein diese Insti- Wochen, gleichzeitig konnte das Gericht die Einwei - tution der allgemeinen Verurteilung zu überantwor- sung der Verurteilten nach der Haftentlassung in ein ten. Er verwirft sowohl jede unter dem Vorwande Arbeitshaus für die Dauer bis zu zwei Jahren be- der Sittenpolizei angewendete Ausnahmemaßregel schließen. Diese Frauen kamen dann in ein Lager für das weibliche Geschlecht, wie er behauptet, dass auf dem Gelände des Versorgungsamtes in Farmsen. der Staat den Begriff der Verantwortlichkeit, der die In der NS-Zeit wurde es üblich, die Justiz dabei Grundlage aller Sittlichkeit ist, umstürzt, indem er überhaupt nicht mehr zu beteiligen, sondern die Maßregeln einführt, welche dem Manne Sicherheit „Aufgegriffenen“, nachdem sie amtsärztlich unter- und Unverantwortlichkeit in der Unsittlichkeit zu sucht worden waren – Geschlechtskranke kamen ins verschaffen suchen. Indem der Staat mit den ge- Krankenhaus –, auf Grund eines polizeilichen Aus- setzlichen Konsequenzen eines gemeinsamen Aktes leseprinzips gleich „nach Farmsen“ zu bringen. einzig die Frau belastet, verbreitet er die unheilvolle 1934 ließ das nationalsozialistische Regime vor dem Idee, als ob es für jedes Geschlecht eine besondere Ein- und Ausgang der Ulricusstraße – zum Valentins- Moral gäbe.“ In Flugblättern forderte „die Födera- kamp und zum Dammtorwall hin – Sperrtore er- tion“ um 1900: „Wir fordern gleiche Moral für Mann richten, eiserne Kulissen, aus denen die Freier he- und Frau (...). Wir treten ein für eine intellektuelle rein- und hinausschlüpfen konnten. In großer Schrift und gewerbliche Ausbildung der Frau, um ihre Er- war an die Tore „Für Jugendliche verboten!“ ge- werbsfähigkeit zu erhöhen, damit sie nicht mehr schrieben. Durch die Sperrtore war die Ulricusstraße ge zwungen ist, sich aus Not der Prostitution in die nun vom alltäglichen Durch gangsverkehr abgeschot- Arme zu werfen. Wir verurteilen die gesetzliche Re- tet, es gab in dieser Straße keine spielenden Kinder gelung der Prostitution, diese soziale Ungerechtig- mehr, und die Freier konnten sich sicher wähnen, keit, welche die Frau zur Ware herabstempelt und nicht entdeckt zu werden. den Männern eine Sittlichkeit vorspiegelt, welche Nachdem die Sperrtore errichtet worden waren, tatsächlich nicht vorhanden ist.“ wurden die Erdgeschossfenster verbreitert und die Als nach dem Ersten Weltkrieg zum ersten Mal auch so genannten Koberfenster eingebaut, an denen Pros- Frauen Mitglieder der Bürgerschaft werden durften, tituierte saßen und sich den vorübergehenden Män- stand auch das Thema „Prostitution“ auf der Tages- nern anboten. Den Bordellwirten wurde zur Pflicht ordnung. 1920 trug die Abgeordnete Frieda Radel gemacht, im Hausflur an auffallender Stelle ein (1869–1958) (DDP) die Diskussion über die Aufhe- Blechschild, 25 mal 36 cm groß, mit der Aufschrift

schwer geschädigten achtbaren Grund- 1927. Und Alfred Urban: Die Prostitu- eigentümer. tion in Hamburg. Teil IV: 1922–1945. Hamburg, den 19. Mai 1909. Unveröffentliches Manuskript, o. J. 152 Zitate aus: Alfred Urban: Staat und Prostitution in Hamburg. Hamburg 132 ULRICUSSTRASSE · Prostitution ULRICUSSTRASSE · Obdachlosenheim für Frauen · „Evangelisch-Sozialer Hilfsverein e. V.“ · Bertha Keyser

„Juden ist der Besuch dieses Hauses verboten“, an- schen Dammtorwall, Valentinskamp und Caffama- zubringen. cherreihe durchgeführt. Auf das nun leer stehen de Nachdem die Nationalsozialisten die Bordelle wieder Gelände baute Anfang der 60er Jahre des 20. Jahr- erlaubten, war nun auch der Hamburger Staat Bor- hunderts der Unileverkonzern sein Verwaltungsge- dellbesitzer geworden, denn er hatte vor der Zeit bäude in Form eines Y (siehe S. 135). des Nationalsozialismus, als die Bordelle aufgeho- Von den damals in der Ulricusstraße arbeitenden ben worden waren, in der Ulricusstraße eine größere 196 Prostituierten (124 ledige, 21 verheiratete, 48 ge- Anzahl nicht mehr „aktiver“ Bordellhäuser für eine schiedene, drei verwitwete Frauen) zogen viele in später geplante Sanierung erworben. Dem Hambur- andere Bordellstraßen Hamburgs (so in die Herbert- ger Staat gehörten siebzehn der 25 Häuser. Diese straße und Kleine Marienstraße). Andere meldeten ließ er durch eine seiner in privatrechtlicher Form sich in eine andere Stadt ab und begannen dort betriebenen Grundstücksgesellschaften vermieten meis tens wieder in einem Bordell zu arbeiten. und verwalten wie bisher, als die Häuser noch aus kleinen selbstständigen Wohnungen bestanden hat- Ulricusstraße 17: Obdachlosenheim ten. Die von der Finanzbehörde beauftragte Gesell- für Frauen und der „Evangelisch-Soziale schaft vermietete nun nicht mehr wohnungs-, son- Hilfsverein e. V.“ dern hausweise an Reflektanten, die in dem Haus ein Bordell betreiben wollten. Als die Ulricusstraße noch Winckelstraße hieß, ließ Noch 1957 erzielte der Hamburger Staat für diese Schwester Bertha Keyser (24.6.1868–21.12.1964) staats eigenen Häuser monatlich 3771 DM Mietein- 1927 im Haus Nr. 17 Hamburgs erstes Obdachlosen - heim für Frauen einrichten. Das Heim erhielt den Namen „Fels des Heils“. Zwei Jahre später gründete Bertha Keyser den „Evangelisch-Sozialen Hilfsverein e. V.“, der seinen Sitz ebenfalls im Haus Nr. 17 be- kam. Die Beiträge der Mitglieder dienten zur Unter- stützung der Mission. Nachdem jedoch 1934 die Sperrtore an der Straße angebracht worden waren, musste auch das Mäd- chenheim aufgegeben werden. Das Haus wurde von einer Bordellwirtin gekauft und als Bordell einge- richtet. Bertha Keyser fand für ihre obdachlosen Frauen eine neue Bleibe in der Rothesoodstraße. Bevor Bertha Keyser eine eigene Mission gegründet hatte, war sie in verschiedenen Einrichtungen, wie z. B. in einem Diakonissenhaus, als Aufseherin in einem Frauengefängnis und Erzieherin in einem Valentinskamp/Ulricusstraße mit Sperrtor im Hinter- Mädchenheim, tätig gewesen. Doch auf all ihren grund in den 50er Jahren des 20. Jh., aus: Hans Harbeck: Arbeitsstellen stieß sie mit ihren Vorstellungen von Hamburg, so wie es war. Hamburg 1966. sozialer Hilfe auf Unverständnis. Auch von der Heilsarmee distanzierte sie sich, nachdem sie deren nahmen. Im Herbst 1959 wurden die Häuser abge- Kadettenschule kennengelernt hatte. rissen und die Ulricusstraße aufgehoben. Damit So baute Bertha Keyser im Nürnberger Armenviertel wurde der bebauungsplanmäßig schon seit Jahr- eine eigene Missionsarbeit auf. Dreieinhalb Jahre zehnten vorgesehene Abbruch des Gängeviertels zwi- später ging sie 1913 auf Bitten des damaligen Leiters ULRICUSSTRASSE · Bertha Keyser 133 der Strandmission nach Hamburg. Doch auch hier wurde Bertha Keysers ehrenamtliche Arbeit im Mis- sionshaus in der Richardstraße neidisch und miss- günstig beäugt. Bertha Keyser lag es sehr am Herzen, ihre Schützlinge alle gleich zu behandeln, was in den Missionshäusern, in denen sie gearbeitet hatte, nicht die übliche Praxis gewesen war. Um ihre Vor- stellungen von Nächstenliebe zu verwirklichen, gründete sie deshalb ein eigenes Missionswerk. Die ersten Räume für ihre Mission fand sie am Alten Steinweg 25. Hier gründete sie die Mission unter der Straßenjugend. Außerdem betreute sie Obdach- lose. Im Laufe der Jahre kamen Armenspeisungen, Straßengottesdienste, Gefängnis- und Krankenbesu- che sowie die Betreuung von Prostituierten hinzu. Finanziert wurde ihre Arbeit ausschließlich durch Spenden reicher Kaufleute, Firmen oder Privatper- sonen, die sie persönlich aufsuchte. In den Jahren der Wirtschaftskrise bekamen Bertha Keysers Feldküchenspeisungen großen Zulauf. 1924 schaffte sie deshalb drei Feldküchen an. Damit fuh- ren sie und ihre Mitarbeiter täglich zum Großneu- markt, zur Reeperbahn und zum Rathausmarkt. 600 Portionen warmer Mittagskost wurden zeitweilig täglich verteilt. 1925 musste Bertha Keyser auf Drän- gen des Hauswirtes auch die Räume in der Böhm- kenstraße verlassen, in die sie mit ihren obdachlosen Ulricusstraße, 1929. Staatsarchiv Hamburg Schützlingen gezogen war, nachdem sie die Ob- dachlosenunterkunft im Alten Steinweg hatte auf- geben müssen, weil sich die Nachbarn über die Ob- der Langen Reihe Nr. 93 mieten. Dort wohnte sie dachlosen beschwert hatten. Bertha Keyser fand mit Schwester Anna Bandow, die Bertha Keyser un- eine neue Bleibe in der Winckelstraße/Ulricusstraße, terstützte und die zahlreichen „Essensgäste“ bekös- wo die Mission nun ein ganzes Haus besaß. tigte. Außerdem erklärten sich mehrere Großküchen Wer bei ihr wohnte, musste arbeiten, so z. B. Sach- bereit, für Bertha Keysers Missionswerk mitzuko- spenden abholen oder Gelegenheitsarbeiten auf dem chen. In verschiedenen Schulen konnte die Mission von der Mission gepachteten Holzhof ausführen. Feierstunden mit anschließender Speisung abhalten. Auch während des Zweiten Weltkriegs setzte Bertha Bei Hamburger Firmen und Kaufleuten erwarb sich Keyser ihr Werk der Nächstenliebe fort. Trotz der Bertha Keyser viele Freunde, Gönner und Spender, schwierigen Umstände konnten Armenspeisungen die sie regelmäßig mit Sach- und Geldspenden unter- in Kellern und Bunkern durchgeführt werden. Als stützten. Eine große Hamburger Kaffeefirma zahlte 1943 ihr dreistöckiges Heim „Fels des Heils“ den die Miete ihrer kleinen Ladenwohnung im Bäcker- Bomben zum Opfer fiel, suchte sie, nun bereits 75 breitergang Nr. 7, die sie bewohnte, nachdem sie Jahre alt, sofort wieder nach einem geeigneten Haus. auf Grund von Beschwerden aus der Nachbarschaft 1945 konnte sie schließlich ein kleines Zimmer in auch aus der Langen Reihe hatte ausziehen müssen. 134 ULRICUSSTRASSE · Bertha Keyser · Christiane Nissen FÜRSTENPLATZ

Bertha Keyser stieß mit ihrer Tätigkeit bei vielen 1872). Er verdiente damals seinen Lebensunterhalt An wohnerinnen und Anwohnern und auch bei Be- als Straßenmusikant. Am 9. Juni 1830 heiratete die hörden nicht immer auf freundliche Zustimmung. 41-jährige Johanna Christiane Nissen den 24-jähri- Aber sie ließ sich nicht beirren. Sie verstand sich gen Johann Jakob Brahms, der im selben Jahr in als Mutter der Heimatlosen. das Hornistenkorps der Bürgerwehr aufgenommen Der Hamburger Pastor Lüders schrieb in einem wurde. Das Paar bekam drei Kinder. Ihr zweites Kind Nachwort zu Bertha Keysers Lebenserinnerungen: Johannes (1833–1897) wurde später ein berühm ter „Mag sein, dass die Sozialbehörde, das Arbeitsamt Komponist. oder auch die Kriminalpolizei zürnend auf dies Sam- In den ersten Jahren ihrer Ehe war das finanzielle melbecken Obdachloser sehen. Asoziale Elemente Auskommen der Familie nicht gesichert, denn die würden durch ihre Speisungen nach Hamburg ge- Einkünfte von Johann Jakob Brahms waren sehr zogen oder in Hamburg gehalten, Arbeitsscheue in unregelmäßig. Außerdem soll er zum Leidwesen ihrer Faulheit bestärkt, weil sie bei ihr unentgeltliche seiner Frau nicht sehr sparsam gewesen sein. Wegen Hilfe und Beköstigung finden. Gewiss, sie will das der finanziell unsicheren Lage musste die Familie Gute, aber ihre Gutmütigkeit wirkt sich zuweilen mehrmals umziehen. So wohnte sie eine Zeit lang als Schade aus. So wird von manchen geurteilt.“153) in der Speckstraße 60, dort im Schlüterhof, wo Jo- Aber: „Schwester Bertha ist für viele Herunterge- hannes Brahms geboren wurde. Von 1842 bis 1850 kommene die letzte Chance zu einem neuen Lebens - lebte die Familie am Dammtorwall. anfang. (...) Diese für manche letzte Auffangstation hat aber doch Ungezählten im Laufe der Jahre einen neuen und guten Lebensanfang gegeben. Dass die 33. STATION Arbeit eben nicht nur Menschlichkeit zum Motiv hat, sondern die Liebe Christi, die Menschen mit Fürstenplatz Christus verbinden und dadurch retten möchte, gibt Standort: von ca. 1799 bis Ende der 50er Jahre ihr den besonderen Charakter. Welche Behörde kann des 20. Jahrhunderts sich so seelsorgerlich um die Bedürftigen küm- mern?“154) Bertha Keysers Grabstein steht heute im Garten der Die Straße „Fürstenplatz“ existiert heute nicht mehr. Frauen auf dem Ohlsdorfer Friedhof. Sie befand sich dort, wo heute das Unilever-Haus steht, und wurde im Zuge der Bauarbeiten und des Ulricusstraße 91: Christiane Nissen, damit verbundenen Abrisses des dortigen Viertels Mutter von Johannes Brahms abgetragen. Der Fürstenplatz soll 1799 „auf dem Grunde eines In der Ulricusstraße 91 betrieb die gehbehinderte großen Erbes am Valentinskamp Nr. 148 entstanden“ Johanna Henrika Christiane Nissen (1789–1865) mit sein. „Dieses seit 1834 hier mit den Nummern 57– ihrer Schwester ein Warengeschäft, in dem sie 59 a bezeichnete Grundstück hatte 1708 oder 1710 Knöpfe, Zwirn und Weißzeug verkaufte. Christiane Christian August, Bischof von Lübeck und Herzog Nissen war Näherin und hatte schon seit ihrem drei- von Holstein-Gottorp [1673–1726], erworben.“155) zehnten Lebensjahr zum Lebensunterhalt ihrer Fa- Nach seinem Tod blieb dort seine Witwe, die Fürstin milie beitragen müssen. Albertina Friederike, geborene Prinzessin von Ba- Neben ihrem Geschäft verdiente sie sich durch die den-Durlach (1682–1755), bis zu ihrem Tod woh- Vermietung eines Zimmers ihrer Wohnung etwas nen. „Erbe des Grundstücks wurde der jüngste Sohn hinzu. Einer ihrer Untermieter war der 1826 nach Georg Ludwig [1719–1763], bekannt als preußischer Hamburg gezogene Johann Jakob Brahms (1806– General und späterer russischer Generalfeldmar-

153 Bertha Keyser: Mutter der Hei- 155 Wilhelm Melhop: Historische To- matlosen. Nach der Lebensbeschrei- pographie der Freien und Hansestadt bung von Schwester Bertha Keyser, be- Hamburg, Hamburg 1923, S. 111f. arb. von Barbara Lüders. Hamburg o. J. 154 ebenda. FÜRSTENPLATZ 135 DAMMTORWALL 15 · „Liliencron-Filmtheater“

schall. Nach seinem Tode ging das Erbe durch Kauf in andere Hände über. Es wurde infolge dieser Ei- gentumsverhältnisse einst im Volksmunde der Bi- schofshof und dann (…) der Fürstenhof genannt. Die Bezeichnung ‚Fürstenhof‘ war der Anlass für den Namen der Straße ‚Fürstenplatz‘, die angelegt wurde, um den am Dammtorwall belegenen Teil des Grundstückes der Bebauung zu erschließen.“156)

Fürstenplatz, 1883. Staatsarchiv Hamburg

„Unilever-Haus“ entfernt liegenden legendären 34. STATION Kneipe „Palette“ (siehe S. 202) der Kalauer: „Bor- Dammtorwall 15 della pufft nicht in der Pfanne.“ Und auch der „Unilever-Haus“ (Standort: seit Schriftsteller Hubert Fichte (1935–1986), der damals 1961); seit 2009 wird das „Uni- in Frankreich weilte, erkundigte sich nach dem Ab- lever-Haus“, jetzt „Emporio“ riss dieses Teils des Gängeviertels. Im Januar 1960 genannt, restauriert und moder- schrieb er „an seinen Freund Herbert Jäger: ‚Gibt nisiert; „Liliencron-Filmtheater“ es noch ein paar interessante Bars oder ist alles in 157) (Standort: 1968–1972) Margarine umgeschmolzen?‘“

„Liliencron-Filmtheater“ Zwischen 1958 und 1964 wurde zugunsten des Baus des „Unilever-Hauses“ (Margarine-Union) ein Teil Von außen unbemerkt liegt im Kellergeschoss des des Gängeviertels der Neustadt abgerissen: Die Fach- „Unilever-Hauses“ ein großer sechseckiger, über werkhäuser, Höfe und Gänge an der Caffamacher- zwei Geschosshöhen errichteter wunderbarer Vor- reihe, die Bordellstraße Ulricusstraße (siehe S. 129) trags-, Veranstaltungs- und Kinosaal mit einem ein- und die Straße Fürstenplatz (siehe S. 134) wurden drucksvoll künstlerisch gestalteten, intimen Foyer. dem Erdboden gleichgemacht, und rund 1500 Be- Die künstlerischen Arbeiten an den Säulen von Gott- wohnerinnen und Bewohner zwischen Valentins- fried Kappen (1906–1981) und Alfred Satisch sowie kamp, Caffamacherreihe und Dammtorwall mussten großzügige Spiegelflächen, Natursteinverkleidungen in andere Gegenden ziehen. und Holzfurniere aus Sapeli, einer Edelholzart, das Zum Abriss der Bordellstraße Ulricusstraße „zu- in Qualität und Aussehen an Mahagoni erinnert, gunsten“ eines Hauses der Margarine-Union kursier - bestimmen den Raum. Der Saal selbst ist mit te damals unter den Gästen der nicht weit vom Eschenfurnier vertäfelt und mit akustisch wirksa-

156 ebenda. 157 Jan-Frederik Bandel, Lasse Ole Hempel, Theo Janßen: Palette revisi- ted. Eine Kneipe und ein Roman. Ham- burg 2005, S. 13. 136 DAMMTORWALL 15 · „Liliencron-Filmtheater“ · „Unilever-Haus“

men, für die sechziger Jahre hochmodernen Gips- Biskin, Unox etc.) sollte zum Ende der fünfziger Jah- plattenverkleidungen an der Decke ausgestattet. re in Hamburg ein zentrales Verwaltungsgebäude ge- „Tote schlafen fest“ mit Humphrey Bogart (1899– schaffen werden. 1957) und Lauren Bacall (geb. 1924) war der erste Nach einem Architekturwettbewerb 1958 wurde kein Film, der am 5. September 1968 im „Liliencron-Film- Preisträger realisiert, sondern aus technischen Grün- theater“ im „Unilever-Haus“ gezeigt wurde. Doch den der Entwurf des Düsseldorfer Architekturbüros schon am 30. Dezember 1972 schloss das Kino wie- Helmut Hentrich (1905–2001) & Hubert Petschnigg der, mit den Filmen „Das Mädchen Irma La Douce“ (1913–1997) genommen. Für den „supermodernen und „Fluchtpunkt San Francisco“. Vom Sommer Wolkenkratzer“, wie das „Hamburger Abendblatt“ 1969 bis zum Herbst hatte es auch keine Filme im am 30. August 1958 titelte, war zwei Wochen zuvor „Liliencron“ gegeben, weil die Demonstrationen ge- ein Luftballon aufgestiegen, um eine ungewöhnliche gen den benachbarten Springer-Verlag für zu viel Höhenmessung vorzunehmen. Etwa zwanzig Stock- Unruhe gesorgt hatten. werke und eine Höhe von ungefähr fünfundsieb- zig Metern schien kein Problem. So wurde dann „Unilever-Haus“ auf dem Grundstück, das von den Straßen Damm- torwall, Valentinskamp und Caffamacherreihe um- Für die Deutschlandzentrale des Unilever-Konzerns schlossen wird, nachdem die letzten Fachwerkhäuser (Produkte wie: Rama, Sunil und Omo, Langnese, Iglo, des alten Gängeviertels abgebrochen worden waren, am 10. Oktober 1961 in Anwesenheit des damaligen Bürgermeisters Paul Nevermann (1902–1979), des ehemaligen Bürgermeisters Max Brauer (1887–1973) und des damaligen Oberbaudirektors Werner Hebe- brand (1899–1966) der Grundstein gelegt. Technisch aufwendig wuchs der zentrale Versor- gungs- und Erschließungskern aus Stahlbeton auf dem Grundriss eines gleichseitigen Dreiecks rasant in die Höhe. Tag und Nacht wurde gearbeitet. Durch die mittige Anordnung der gesamten Versorgung und Erschließung wurde viel Raum für die Verkehrsflä- chen eingespart; ein besonders interessantes Beispiel für ökonomisches Bauen. Das Stahlskelettgerüst für die Etagen ist im Erschließungskern verankert, und drei schlanke zweibündige Hochhausscheiben grup- pieren sich wie Flügel um das Zentrum. Die Y- Form der Büroanordnung ist ein spannender architekto- nischer Ansatz, der jedoch dann nicht weiter ver- folgt wurde, da die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts im Zeichen der Großraumbüroideologie standen. In der elegant detaillierten Curtain-Wall-Fassade ver- schmilzt optisch der Horizontalriegel aus Alumi- nium im Naturton mit den weiß hinterlegten Brüs- tungsflächen. Umbauarbeiten im Jahre 2010 am 1961 erbauten „Unile- Immer wenn sich die Beleuchtung im Tages- und ver-Haus“, heutiger Name „Emporio“. Photo: Marina Bruse Jahreszeitenverlauf ändert, spiegelt das Licht unter- DAMMTORWALL 15 · „Unilever-Haus“ 137 schiedliche faszinierende Farben auf die Fassade und und ästhetisch gestaltete Behaglichkeit. Für den gro- setzt funkelnde Akzente in die City. Die Vertikal- ßen Konferenzsaal in der achtzehnten Etage hatte sprossen zwischen Brüstungsflächen und Curtain- der Hamburger Maler Eduard Bargheer (1901–1979), Wall werden durch schwarze Kappen abgedeckt, die der entscheidend die Hamburger Kunstszene mitge- spitz zulaufen und sich deshalb nur als feine, prägt hat, auf einer fünfzehn Meter langen Intarsien- schwarze Linien abzeichnen; dies bewirkt, dass die wand den Weg des Kokosöls dargestellt. Fassade wie eine entmineralisierte Membran wirke, In der Außenanlage korrespondierte die Bronze von wie ein früher Architekturkritiker bemerkte. Carl Hartung (1908–1967) namens „Flügelstern“ auf Mit dem „Unilever-Haus“ war in Hamburg das Ideal einem Natursteinsockel aus rotem Tuff wie ein Echo der Nachkriegsmoderne, ein frei stehendes Solitär- mit seinen vier Flügeln mit dem dreiflügligen Hoch- hochhaus auf dreistrahligem Grundriss entstanden. haus. Auch beim Innenausbau waren die Bauherren im- Schon damals erkannten die Verantwortlichen bei mer auf Wirtschaftlichkeit bedacht, aber dennoch Uni lever, dass das Büro nicht mehr nur ein Ort ist, nicht sparsam: Ein Möbelsystem, eigens für dieses an dem jeder und jede acht Stunden am Tag seine/ Haus entwickelt, um die Variabilität der Arbeits- ihre administrative Arbeit ausübt, sondern dass es plätze sicher zu stellen, die komfortablen Stahlmö- notwendig ist, sich wohl zu fühlen, ästhetische An- bel mit kunststoffbeschichteten Platten, ergänzten regungen zu erhalten, kreative Ablenkung und Ent- die harmonische, klare Materialverwendung. Im Ein- spannung im Arbeitsalltag zu erfahren und insgesamt gangsbereich sorgte eine grüne Natursteinverklei- eine charmante Atmosphäre für das Arbeitsumfeld dung aus skandinavischem Marmor an den Wänden zu schaffen. und der Fußboden aus rauem Quarzit für ein an- Die Bundesrepublik hatte noch am Ende der fünfzi- sprechendes, gediegenes Entree und steht im span- ger Jahre des 20. Jahrhunderts in der Architektur nungsreichen Kontrast zu der übrigen Ausstattung: einen riesigen Nachholbedarf an modernen Gebäu- eine Metalldecke in grauem Farbton mit schwarzen, den im sog. „international style“. Hochhaussolitäre linienförmigen Beleuchtungskörpern, Palisanderfur- demonstrierten Modernität und auch das Angekom- niere, Aluminium an den Stützverkleidungen. Möb- mensein in der neuen demokratischen Gesellschaft. liert war die Eingangshalle mit Sitzgarnituren aus Für Hamburg galten u. a. das Polizeihochhaus Beim Leder, Teppichen und schweren Glastischen. Strohause von Hans Atmer (1893–1982) und Jürgen Die künstlerische Gestaltung der Aufzugstüren aus Marlow (geb. 1922), das BAT-Haus und das Finn- Stahlemaille von Stefan Knapp (1921–1996), London, land- Haus an der Esplanade, ebenfalls von Helmut strukturierte das vertikale Hauptverkehrsmittel farbig Hentrich & Hubert Petschnigg, oder die Spiegelinsel und ermöglichte zugleich die Orientierung, wenn man von Werner Kallmorgen (1902–1979) & Partner an wusste, welche Farbe zu welchem Flügel führt. der Ost-West-Straße als klare stilistisch-städtebauli- Mit großem Engagement hatte eine hochkarätig zu- che Entscheidung gegen die Blockrandbebauung, sammengesetzte Kunstkommission unter der Lei- wie sie noch in Vorkriegszeiten üblich war. tung von Professor Dr. Jungnickel, dem Chefarchi- Im Zuge der Kommerzialisierung der Innenstädte tekten der Margarine-Union, eine große Anzahl von entwickelte sich das Hochhaus in erster Linie durch Kunstwerken für die Gestaltung insbesondere der wirtschaftliche und organisatorische Anforderungen Räume, in denen die Mitarbeiterinnen und Mitar- von Großunternehmen, aber auch als Landmarken beiter zusammenkamen, erworben oder in Auftrag im städtischen Raum. Nur wenige Städte widersetz- gegeben: In der Cafeteria, im Kasino, in Speisesälen, ten sich stolz und bestanden auf dem Erhalt der Empfangszimmern und auch in über neunzig Ar- historischen Substanz; in vielen deutschen Städten beitszimmern sorgten Kunstwerke von modernen, waren durch kriegsbedingte Zerstörungen jedoch zeitgenössischen Künstlern für abwechslungsreiche viele historische Gebäude zerstört worden. Dennoch 138 DAMMTORWALL 15 · „Unilever-Haus“

hatte Hamburg immer das Credo: keine Hochhäuser Im selben Jahr, nach Räumung der Büros, begann in der Innenstadt. Die Silhouette mit den fünf Kirch- die Totalrestaurierung und Sanierung des alten „Uni- türmen musste erhalten bleiben, und dennoch sollte lever-Hauses“ unter den strengen Anforderungen Hamburg zu einer modernen Stadt werden. So finden der „Deutschen Gesellschaft für nachhaltiges Bauen“ wir Hochhäuser als Landmarken im innerstädtischen in Zusammenarbeit mit dem Denkmalschutzamt zu Raum, und die Öffentlichkeit, auch die publizistische, einem modernen Multi-Tenant-Gebäude mit Miet- begleitete den Bau des „Unilever-Hauses“ mit Sym- einheiten ab 500 qm. Das Haus hat einen neuen pathie – nur als es um die Höhe ging, neunzehn Namen: „Emporio“ – ein spanischer Begriff, für einen oder 22 Etagen, wurden die Töne etwas rauer, klassischen, großen Handelsplatz – und ist ein ge- schließlich überzeugte das Ergebnis. fragter Standort. Als das Haus fertig war, überschlugen sich die Zei- Zusätzlich wird auf dem jetzigen Parkplatz und der tungen mit ihrem Lob. Die Tageszeitung „Die Welt“: Zufahrt zur Tiefgarage ein neues Gebäude entstehen: „Der höchste Profanbau Hamburgs mit modernsten der moderne Büro-, Geschäfts- und Wohntriangel mit Baumethoden errichtet in unglaublicher Schnellig- einem Hotel des Architektenbüros Mirjana Markovic keit“; „Ein neuer Akzent in der Stadtsilhouette“; (geb. 1941), Aleksandar Ronai (geb. 1940), Willi Lüt- „Neon-Pracht in der City“. Ein Klassiker der Reprä- jen (geb. 1942), Manfred Voss (geb. 1959) (MRLV), sentationsarchitektur des Wirtschaftswunders hatte das für Häuser mit polygonalen Grundflächen, aus- die Öffentlichkeit in Hamburg überzeugt. Schon zum gefallenen und abwechslungsreichen Lösungen in Richtfest am 6. Juli 1962 lobte die Presse: „Erst wenn Hamburg berühmt ist, so z. B. das „Zentrum für Ma- das Gebäude mit Leichtmetall verkleidet ist, wird rine und Atmosphärische Wissenschaften“ in Eims- man die Schönheit der Konstruktion erkennen.“ büttel oder den „Ost-West-Hof“ an der Martin-Lu- 1989 erwarb die „Union Investment“ das Haus. Von ther-Straße/Ecke Ost-West-Straße. diesem Zeitpunkt an war die Unilever Mieter im Die neuen Quartiere und Nachbarschaften, die sich ehemals eigenen Haus. 2001 wurde das „Unilever- in der Neustadt um den Valentinskamp, Caffama- Haus“ unter Denkmalschutz gestellt. cherreihe und Dammtorwall entwickeln, sind nicht 2006 lobte Unilever einen Wettbewerb für den Bau nur der Versuch, ehemals lebendige innerstädtische eines neuen Verwaltungsgebäudes in der HafenCity Bezirke mit Leben zu erfüllen, hier entsteht zugleich aus. Mit der Ankündigung, dass Unilever mit seiner qualitativ hochwertige, moderne Architektur in ei- Verwaltung in die HafenCity umziehen würde, ergab nem attraktiven Umfeld, die mit Sicherheit gesell- sich für „Union Investment“ die große Chance, an schaftsfähig ist. Wenn dann die Restaurierung des der Revitalisierung und Neugestaltung des Stadt- alten „Unilever-Hauses“ abgeschlossen und der poly - areals aktiv teilzunehmen. gone Neubau fertig gestellt sein wird, kehrt das Le- Behnisch-Architekten haben ein polygonales Ge- ben in das ehemalige Gängeviertel zurück. bäude am Strandkai in der HafenCity mit einem Die neue Stadtsituation erschließt den verlorenen weitläufigen, lichtdurchfluteten Atrium als Zentrum Raum für Stadt und Öffentlichkeit neu und eröffnet des neuen Gebäudes für Unilever entworfen, mit abwechslungs- und spannungsreiche Perspektiven; Büros und öffentlichen Flächen. Henning Rehder, auch die Öffnung zur Caffamacherreihe hin mit ei- Vorsitzender der Geschäftsleitung Unilever: „Das Ge- ner großzügigen Treppenanlage, wo heute noch eine bäude spiegelt auf gelungene Weise die Veränderun- schulterhohe Betonwand das „Unilever-Haus“ vom gen innerhalb unseres Unternehmens wider. Diese öffentlichen Straßenraum trennt (Stand: Sommer beinhalten flache Hierarchien, das Arbeiten in inter- 2010), ist eine landschaftsplanerisch gelungene Ant- funktionalen Teams sowie eine offene und transpa- wort auf die Blockrandbebauung des Wohn-, Gewer- rente Kommunikation.“ Im Frühsommer 2009 zog be- und Bürokomplexes, den Jan Störmer an der Unilever dann in die HafenCity. Drehbahn/Ecke Caffamacherreihe errichtet. DAMMTORWALL 15 · „Unilever-Haus“ 139

Das neue Konzept der Durchwegung des heute der ern, dass die Blickbeziehung von der Laeiszhalle Öffentlichkeit entzogenen Grundstücks verbindet sich verändert, aber muss das von Nachteil sein? Grün- und Freizeitflächen des „Emporio“ und stellt Stadtbauliche Konzepte korrespondieren immer mit den alten Stadtraum und die traditionellen Verbin- den jeweiligen zeitgeschichtlichen Interpretationen dungen zumindest in Ansätzen wieder her. von Lebensraum. „Dort, wo wir neu bauen, müssen Nachdem die Pläne von der Ergänzungsbebauung wir in der Sprache unserer Zeit bauen und nach bekannt gemacht worden waren, entbrannte wieder den Bedürfnissen der Zeit“, sagte der Hamburger einmal eine Grundsatzdebatte um städtebauliche Oberbaudirektor Jörn Walter (geb. 1957) in einem Konzepte: Soll der Solitär in seiner Freistellung er- Interview. halten bleiben oder kann er stadträumlich integriert In einem Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“ werden? schrieb der Hamburger Architekturkritiker Gerd Mit dem neuen Baukörper von MRLV Architekten Kähler (geb. 1942): „Die Frage, wie unsere Städte soll die städtebauliche Klammer zu den neuen En- gebaut werden, ist viel zu wichtig, als das man sie sembles und dem Solitär gebildet werden. Die Frage, nur den Fachleuten überlassen könnte. Denn Risiken ob hier eine Stadtreparatur erfolgt oder eine neue und Nebenwirkungen der gebauten Sensationen qualitative Nutzung öffentlicher Räume gestaltet sind ebenfalls beachtlich. Schließlich soll Architektur wird, hat unter Architekten und Stadtplanern zu 50, 100 oder noch mehr Jahre lang nicht nur formal kon troversen Auseinandersetzungen geführt. Letzt- auffällig, sondern vor allem gesellschaftsfähig sein.“ lich schafft die Platzierung des Triangels eindeutige Zukunftsfähig ist das „Emporio“ allemal, denn die Straßen- und Platzräume, er nimmt Bezug auf die Sanierung des Gebäudes geschieht nicht nur unter Flügel bauten des Solitärs und bindet ihn ein. ökonomischen Aspekten: Die Betriebs- und Heiz- Dass das „Emporio“ eine architektonische Perle ist, kosten werden um ca. 64 % gesenkt; das sind nach- die zur Stadtsilhouette Hamburgs gehört und neue haltige ökologische Perspektiven. Akzente setzt, bleibt unbestritten. Stadträumlich ist Allerdings wird für viele Hamburgerinnen und Ham- es eine Bausünde der Vergangenheit und zugleich burger mit dem Gebäude wohl noch länger der Name ein Baudenkmal besonderer Qualität. „Unilever-Haus“ verbunden sein. Wenn der Name Eine attraktive von fünf auf zehn Geschosse anstei- „Emporio“ vertraut geworden ist, dann sind auch die gende dynamische Skulptur auf dem Grundriss eines Diskussionen über städtebauliche Konzepte für diesen Triangels wird entstehen, mit einer lichten Fassade, Ort zum Klassiker geworden, und vielleicht kann ja einem öffentlich nutzbaren Innenhof, Durchwegun- das Ergebnis für andere Regionen Vor bild sein. gen, die mit der Laeiszhalle (siehe S. 141), dem Gän- Ein Quartier wird restauriert, erneuert, ergänzt und geviertel, dem Brahmsquartier und den Wallanlagen den Bewohnerinnen und Bewohnern zurückgegeben. kommunizieren, zum Verweilen einladen und den Neues setzt sich in spannungsreiche Beziehungen innerstädtischen Raum beleben und anbinden. Das zum Alten, überholte Konzepte werden reflektiert, offene, über zwei Etagen sich erstreckende Sockel- erfahren Ergänzungen, ohne sie in ihrem Bestand zu geschoss nimmt das Thema vom alten „Unilever- vernichten. Ein besonderes, vertrautes Baudenkmal Haus“ auf, antwortet mit einer aktuellen Ausgestal- wie das „Unilever-Haus“ wird erhalten und moder- tung und setzt maßstäbliche Beziehungen vom nisiert, es bietet für viele Menschen hervorragende historischen Gängeviertel zum Hochhaus. Arbeitsplätze in einer attraktiven Citylage, in einem Modernste Büronutzungen, Wohnungen zum Va- arrondierten erneuerten Stadtraum. Will man mehr? lentinskamp, Geschäfte, das Scandic-Hotel, Restau- Ja, vielleicht wird in dem Festsaal die Eröffnung rants und Bars entstehen und interpretieren das mit einem Filmklassiker gefeiert: „Metropolis“ von Areal mit dem „Unilever-Haus“ als „Emporio“ neu Fritz Lang (1890–1976)? zum lebendigen „Handelsplatz“. Man mag bedau- Text: Bernd Allenstein 140 DAMMTORWALL VOR HAUSNUMMER 46 · Brahms-Monument · Dragonerstall

35. STATION Dammtorwall vor Hausnummer 46 Brahms-Monument (Standort: seit 1981); Dragonerstall (Standort: 1709/11 – Mitte des 19. Jh.)

Brahms-Monument

Vor dem Seiteneingang in die „Laeiszhalle“ steht auf einem kleinen Platz seit 1981 das von dem Bild- hauer Thomas Darboven (geb. 1936) geschaffene Brahms-Monument. Auf dem Granitkubus werden Standort des Dragonerstalls (Kasten). Kartenaus- vier Bildnisse von Brahms von seiner Jugendzeit schnitt. aus: Plan von Hamburg. Hamburg [ca. 1880]. Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Kt H42 bis zum Alter, gezeigt. Vor dem Monument ist in den Bodenplatten der Spruch zu lesen: Weil der Valentinskamp damals eine militärische „Es ist gekommen – ein junges Blut – Straße zu einem Ausfallstor am heutigen Johannes- Es heißt Johannes Brahms Brahms-Platz war und Hamburg zur Verstärkung Und kam von Hamburg her – der Stadtmiliz die Vermehrung der im Dienste der Dort in dunkler Stille schaffend Stadt stehenden Dragoner von einem auf zwei Kom- Und er ist ein Berufener.“ (Robert Schumann) panien von je 75 Mann benötigte, wurde 1709/1711 am Ende der Straße Valentinskamp ein Stall für Dra- gonerpferde errichtet. Der Dragonerstall war 194 Fuß lang und 40 Fuß breit und hatte Platz für die 70 Pferde der Dragoner der städtischen Garnison. 1740 sollen die Stallungen „von den damals berühmten Brüdern Mingotti (Pietro: um 1702–1759; Angelo: um 1700 bis nach 1767), die bis 1754 oft in Hamburg gastierten, zum Theater umgebaut“ worden sein.158) „1811 wurden die Unterkünfte von französischen Gendarmen requiriert und nach Abzug der Franzo- sen 1814 wieder hamburgischen Ulanen zur Verfü- Vor dem Seiteneingang der Laeiszhalle am Dammtor- gung gestellt.“159) wall 46 steht das Brahms-Monument, 1981 geschaffen Neben dem Dragonerstall standen noch einige klei- von Thomas Darboven. Photo: Marina Bruse nere Gebäude, so eine Wachstube und später noch ein kleines Haus für die Schlangenspritze, denn hin- Dragonerstall ter dem Dragonerstall hatte die Elbwasserkunst 1832 einen Wasserbehälter für Löschwasser erbauen las- Ungefähr dort, wo sich der Platz mit dem Brahms- sen. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Gebäude Monument befindet, stand zwischen dem 18. und wegen Baufälligkeit abgerissen. 19. Jahrhundert der Dragonerstall.

158 Werner Hugo Dabbelstein: Der Aufl. Hamburg 2009, S. 45. Hamburger Engelsaal und seine Nach- 159 Reinhold Pabel: Alte Hamburger barn. Gängeviertel, Valentinskamp und Straßennamen. Bremen 2001, S. 37f. Dragonerstall – ein Spaziergang durch das Hamburg von gestern. 2. überarb. JOHANNES-BRAHMS-PLATZ · Laeiszhalle 141

Der 1709/11 errichtete Dragonerstall. Mitte des 19. Jh. wurde er abge - brochen. Staatsarchiv Hamburg

niekonzerte ständig mit Tanzveranstaltungen oder 36. STATION Vereinsversammlungen um Termine kämpfen muss- Johannes-Brahms-Platz ten. Doch die Pläne scheiterten, weil der Senat sich Benannt 1997. Von 1934–1997 hieß der Platz für kulturelle Förderung nicht zuständig sah. Erst Karl-Muck-Platz, nach dem Dirigenten Karl 45 Jahre später konnte sich der Traum der Comité- Muck (1859–1940, der zwischen 1922 und Mitglieder erfüllen: Der Reeder Carl Heinrich Laeisz 1933 Leiter des Philharmonischen Orchesters [1828–1901] und seine Frau Sophie [1831–1912] ver- gewesen war). Davor hieß der Platz „Holsten- fügten testamentarisch, dass eine Spende aus dem 160) platz“, weil dort in früheren Jahrhunderten Geschäft ‚E. Laeisz gezahlt werde‘.“ das Holstentor stand. Carl Heinrich Laeisz vermachte der Stadt 1 200 000 „Laeiszhalle“ (früher: „Musikhalle“, Standort: seit Mark zum Bau einer neuen „Musikhalle“. Die Stadt Hamburg stellte ihm hierfür das 5000 qm große 1908); „Musikhalle“ während der NS-Zeit; Stol- Grundstück am damaligen Holstenplatz, dem spä- perstein für Jacob Sakom (NS-Zeit); Armeesender teren Karl-Muck/Johannes-Brahms-Platz, zur Verfü- BFN (Standort: 1945–1953); das „Klingende gung. Nach den Entwürfen der Architekten Martin Muse um“ (Standort: seit 1989) Haller (1835–1925) und Wilhelm Meerwein (1844– 1927) wurde das Haus zwischen 1904 und 1908 im neubarocken Stil gebaut. Das Gebäude hatte einen Die „Laeiszhalle“ großen Saal mit 1897 Sitzen und einen kleinen Saal Der Johannes-Brahms-Platz ist seit 1908 eine wohl- mit 500 Plätzen, dazu viele Übungsräume und Künst- klingende Adresse für Musikliebhaberinnen und lerzimmer. -haber, denn hier steht ein Flaggschiff der Musik- Am 4. Juni 1908 eröffnete Senator Max Predöhl szene: die Laeiszhalle. (1854–1923) um 19.30 Uhr vor 1800 Gästen die Ham - Eigens zur Realisierung des Baues war „1863 von burger „Musikhalle“. In seiner Festrede dankte er einflussreichen Hamburger Kaufleuten ein ‚Comité dem Ehepaar Laeisz: „Carl Laeisz und Sophie Laeisz zum Bau einer Musikhalle‘ gegründet worden. Man aus der Familie Knöhr – diese Namen sollen die war es Leid, dass selbst in akustisch vortrefflichen ersten sein, die bei der feierlichen Weihung dieses Hallen wie derjenigen des Conventgartens Sympho- Baues in diesem Saale laut werden.“ Das Ehepaar

160 100 Jahre Laeiszhalle – Musik- burg 2008, S. 12. halle Hamburg. Geschichte, Menschen, Sternstunden. Hrsg. Laeiszhalle – Mu- sikhalle Hamburg Landesbetrieb der Freien und Hansestadt Hamburg. Ham- 142 JOHANNES-BRAHMS-PLATZ · Laeiszhalle · „Musikhalle“ während der NS-Zeit

nung zeigte, erschien ihr die dort eingezeichnete Anzahl der Türen als zu gering. Sie erinnerte sich an den von ihr miterlebten Gro- ßen Brand von 1842 in Hamburg und verlangte deshalb für das Ge- bäude rundherum Türen und breite Flure. Neben ihrer Mäzenatinnentätigkeit war Sophie Laeisz auch im „Frau- enhilfsverein“ tätig und erhielt da- für 1871 das Eiserne Kreuz für Frauen. Nach dem Tod ihres Man- nes zog sie ihre beiden Enkel auf, deren Eltern gestorben waren. Ihr Schwiegervater benannte so- Johannes-Brahms-Platz: „Laeiszhalle“, errichtet 1908. Photo: Marina Bruse gar sein erstes Segelschiff, das 1856 in der Hamburger Stülcken- Werft vom Stapel lief, nach ihr. Laeisz konnte diese Worte nicht hören: Carl Heinrich Und da seine Schwiegertochter wegen ihrer krausen Laeisz war damals bereits verstorben, und seine Haare „Pudel“ genannt wurde, ließ er auf einem Witwe Sophie hatte wegen einer Erkrankung an der Giebel seines 1897/98 erbauten Kontorhauses, des Eröffnung nicht teilnehmen können. „Laeiszhofes“ an der Trost brücke 1, einen Pudel aus Nach Laeisz’ Tod „führte der testamentarisch mit Stein setzen. Dieser sitzt heute noch dort und schaut dem Musikhallenbau verbundene ‚Kulturauftrag‘ zu in die Ferne. Später begannen die Namen aller 84 einer ausgiebigen Diskussion im Senat. Die meisten Laeisz-Segler mit dem Buchstaben „P“ und waren Abgeordneten waren der Überzeugung, Laeisz habe auf allen Meeren berühmt als Flying-P-Liners. das Haus nur für ‚edle und ernste‘ Musik bzw. ‚Ver- anstaltungen vornehmsten Stils‘ gedacht. Der letzte „Musikhalle“ während der NS-Zeit Satz des Testaments, ‚dass das Gebäude auch für andere künstlerische und wissenschaftliche Zwecke, In der NS-Zeit wehten die Hakenkreuzfahnen vor das heißt: für Vorträge etc. Verwendung finden der „Musikhalle“. „Drinnen hingen (...) Hakenkreuz- kann‘, ließ dies allerdings offen. Die Volkskonzerte, fahnen im Foyer und von den Rängen, oftmals bil- in deren Programmen von Anfang an neben der deten riesige Hakenkreuze den Hintergrund des fest- ‚ernsten‘ Musik auch die leichte Muse vertreten war lich blumengeschmückten Podiums. Das Publikum (Serenaden, Ballettmusik, Operettenarien etc.), än- erschien zu weiten Teilen in brauner Uniform. Das derten dieses Konzept auch nach ihrem ‚Einzug‘ in Signal war überdeutlich: Die Musik stand hier im die Laeiszhalle nicht.“161) Dienste des Regimes. (…) Nahezu auf jeder Foto- Der Bau der „Musikhalle“ erforderte allerdings eine grafie damaliger Veranstaltungen in der Laeiszhalle weitaus höhere Summe, die Sophie Laeisz nach dem ist zusätzlich zum Konzertaufbau ein Rednerpult zu Tode ihres Mannes großzügig aus ihrem eigenen sehen. Die häufige Kombination von Musikdar- Erbe nachbewilligte. Einer der Gründe für die höhe - bietung und markiger setzte auf die ren Kosten waren die fehlenden Türen. Als der Ar- wechselseitige Steigerung von Klang und Rede. Da - chitekt Martin Haller Sophie Laeisz die Bauzeich- bei sollte sowohl die Wahrnehmung der Musik ideo-

161 ebenda. JOHANNES-BRAHMS-PLATZ · „Musikhalle“ während der NS-Zeit · 143 Stolperstein für Jacob Sakom · Armeesender BFN logisch gelenkt als auch die Ideologie durch die Armeesender BFN emotionale Wirkung der Klänge feierlich überhöht werden“,162) schreibt Friedrich Geiger in seinem Auf - Am 4. Mai 1945 prangte an der Eingangstür der satz „Die Laeiszhalle als Schauplatz nationalsozia- „Musikhalle“ kein Konzertzettel, sondern ein Armee - listischer Musikpolitik“. formular mit der Aufschrift: „Requestioned for Army Nach der Machtübernahme durch die Nationalso- Broadcasting“ – beschlagnahmt für den Armeerund- zialisten verfügte im April 1933 die Senatskommis- funk. Vom Mai 1945 bis Januar 1953 nutzte die bri- sion für die Kunstpflege, dass „Vereinen oder Orga- tische Militärregierung das unbeschädigte Gebäude nisationen marxistischer Richtung (…) Räume der als Sitz ihres Rundfunksenders, als „Broadcasting Musikhalle künftig weder für Übungs- noch für Kon- House“. Sein Hauptzugang war der Eingang zum zertzwecke (...) überlassen“ werden dürfen. „Auch Kleinen Saal der „Musikhalle“. Dort, im Kleinen für Veranstaltungen, deren Träger an sich nicht mar- Saal, hatten während des Zweiten Weltkriegs sonn- xistisch sind, bei denen aber marxistisch eingestellte tags ab 11 Uhr die Morgenfeiern stattgefunden, die Vereine usw. irgendwie mitwirken, sind Räume der mit musikalischen Lesungen ein Kriegs- und Durch- Musikhalle in Zukunft nicht mehr zu vermieten.“163) halteprogramm präsentierten. Nun, einige Jahre Die „Philharmonische Gesellschaft“ lud jüdische nach Kriegsende, erklang hier Swing und Jazz. Künstlerinnen und Künstler aus, ließ sie nicht mehr Das Hörfunkprogramm wurde in den ehemaligen auftreten und nahm 1936 in ihre Satzung auf, dass Konzertsälen, Garderoben und Proberäumen ge- „Juden (…) nicht Mitglieder der Philharmonischen macht, die nun zu Studios und Redaktionsbüros um- Gesellschaft werden“164) können. Auch Stücke von gebaut waren. Deutschlandweit ausgestrahlt wurde in der NS-Sprache als nichtarisch bezeichneten Kom- das Programm von der Stadt Norden aus, wo ent- ponisten wurden nicht mehr aufgeführt. sprechend starke Sendemasten standen, die schon In seinem Aufsatz über die nationalsozialistische von den Nationalsozialisten genutzt worden waren, Musikpolitik macht Friedrich Geiger darauf auf- um deren Propagandasendungen über den Äther merksam, dass 1937 die im Eingang zum Kleinen nach England zu schicken. Nun wurden die Masten Saal der „Laeiszhalle“ aufgestellte Büste von Felix dazu gebraucht, um die Programme des BFN und Mendelssohn Bartholdy (1809–1847) entfernt wurde der BBC sowohl flächendeckend in Deutschland zu und gegen einen Händel-Kopf (Georg Friedrich, senden, als auch die Sendungen der BFN in England 1685–1759) ausgetauscht wurde, der dort heute noch zu verbreiten. seinen Platz hat. „Am 29. Juli 1945 nahm in der Hamburger Musik- halle der Sender unter dem Namen British Stolperstein für Jacob Sakom Network (BFN) seinen Betrieb auf. Um 7 Uhr mor- gens verkündete Sergeant Gordon Crier: ‚This is the Zur Erinnerung an die ermordeten Künstlerinnen British Forces Network in ‘. Es folgten die und Künstler liegt vor der „Laeiszhalle“ der Stol- Nachrichten und die erste Ausgabe der ‚Sunrise Sere- perstein für Dr. Jacob Sakom. 1877 in Panvezys/ nade‘, eine Musik- und Nachrichtensendung, benannt Litauen geboren, lebte der Cellist seit 1905 in Ham- nach einem Stück von Glenn Miller [1904–1944].“165) burg. Er war Mitglied im Orchester der „Philharmo- Radioprogramm auf hohem Niveau, mit Reportagen nischen Gesellschaft“, in dem er auch als Solocellist und Hörspielen, begeisterte Besatzungssoldaten – auftrat. 1934 wurde er zwangspensioniert. Nun durfte aber auch viele deutsche Musikfans, die endlich er nur noch in Konzerten des Jüdischen Kulturbun- ohne Angst den lange verbotenen Swing oder Jazz des in Hamburg auftreten. 1938 emigrierte er mit hören konnten. Außerdem bot dieser Sender ein einem sowjetischen Pass in seine Heimat Litauen. Karrieresprungbrett für junge britische Soldaten mit 1941 wurde er von SS-Einsatztruppen ermordet. guter Allgemeinbildung und deutlicher und prägnan -

162 Ludwig Geiger: Die Laeiszhalle Senatskommission für die Kunstpflege, 165 Alan Grace: Beschlagnahmt für als Schauplatz nationalsozialistischer C3: Angelegenheiten der Musikhalle, den Armeerundfunk. Übersetzung: Musikpolitik. In: 100 Jahre Laeiszhalle Blatt 31. Zit. nach: Friedrich Geiger, Eike Böttcher. In: 100 Jahre Laeiszhalle – Musikhalle Hamburg, a. a. O., S. 87f. a. a. O., S. 88. – Musikhalle Hamburg, a. a. O.; S. 33. 163 Staatsarchiv Hamburg, 363-2: 164 Zit. nach: Friedrich Geiger, ebenda. 144 JOHANNES-BRAHMS-PLATZ · Armeesender BFN · Das „klingende Museum“

ter Radiostimme. Chris Howland (geb. 1928) wurde geräte ihre O-Töne und Berichte lieferten. Doch die eingestellt, der später als Radio- und Fernsehmode- Zeit dieses experimentierfreudigen und niveauvollen rator, als legendärer „Mr. Pumpernickel", für neue Radios währte nur kurz. Der BFN schaltete jeden Musikstile die Gehörgänge freimachte und selbst Nachmittag um 17.15 Uhr zum Programm der BBC, auch als Schlagersänger in den Hitparaden platziert eine Folge der Beschlüsse der Internationalen Kopen- war, u. a. mit „Fraulein". hagener Radiokonferenz von 1949. Das BFN-Orches - „Im Brahms-Foyer, fortan ‚Brahmatorium‘ genannt, ter wurde aufgelöst, viele junge Mitarbeiter wurden lagerten an die 60 000 Schellackplatten, eine riesige in andere Armeesender versetzt. Sammlung klassischer und moderner Musik.“166) Aus dem Studio B, in dem BFN-Mitarbeiter ein Mal Und in der „Musikhalle“ wurden wieder Konzerte in der Woche tanzten, wurde wieder der „Kleine gegeben, die vom BFN live übertragen wurden, mit Saal“. Und wer die Gelegenheit hat, sich die Innen- Stars wie Duke Ellington (1899–1974), Lale Ander- welt der „Laeiszhalle“ zeigen zu lassen, wird zwi- sen (1905–1972), Beniamino Gigli (1890–1957) und schen den Rohren der Klimaanlage noch Wandma- exquisiten Orchestern, wie dem NWDR Sinfonieor- lereien beschwingt tanzender Menschen auf den chester unter Hans Schmidt-Isserstedt (1900–1973). Umrisslinien Europas entdecken. Sie zierten die ehe- Außerdem hatte der Sender ein eigenes Orchester, malige BFN-Kantine. das BFN Theatre Orchestra. „Im Januar 1954 zog BFN von Hamburg nach Köln- Als 1948 die russischen Besatzer begannen, Berlin Marienburg in die Villa Tietz, nannte sich ab 1964 zu isolieren, war der BFN die Kommunikationszen- BFBS Germany und wechselte in den UKW-Be- trale für die britischen Streitkräfte: „Es war Aufgabe reich.168) des damaligen Chefsprechers der BFN-Nachrichten Text: Birgit Kiupel Corporal Nigel Davenport, den Start der Luftbrücke zu verkünden. Die ursprünglich unter dem Code- namen ‚Operation Knicker‘ laufende Aktion hatte Das „Klingende Museum“ in der Berichterstattung des BFN Hamburg erste Prio rität.“167) Vom Künstlereingang der „Laeiszhalle“ am Damm- Die Hamburger „Musikhalle“ wurde zum Tor zur torwall 46 geht es ins Souterrain, wo das „Klingende Welt, in das die Reporter mittels tragbarer Tonband- Museum“ zu finden ist. Gegründet wurde es 1989 von dem Dirigenten Gerd Albrecht (geb. 1935). In die sem Museum können Schulklassen, Familien mit Kindern oder auch Einzelpersonen erfahren, wie Musikinstrumente gebaut sind und wie man sie spielt. Dabei bekommen die Besucherinnen und Be- sucher die Gelegenheit, selbst die Instrumente aus- zuprobieren. Zur Auswahl stehen Streich-, Holz- blas-, Blechblasinstrumente und Schlagwerk.

Seiteneingang in die „Laeiszhalle“ vom Dammtorwall 46. Photo: Marina Bruse

166 Alan Grace, a. a. O., S. 34. 167 Alan Grace, a. a.O., S. 35. 168 BFN, in: Wikipedia, http://de.wi- kipedia.org/wiki/British-Forces-Broad- casting-Service (Stand: 17.12.2009.) JOHANNES-BRAHMS-PLATZ · Brahms-Denkmal · Maria Pirwitz 145

ber-Stiftung im Zusammenwirken mit der Freien 37. STATION und Hansestadt Hamburg ausgeschriebenen Wett- Johannes-Brahms- bewerbs gewonnen. Man wollte dem ganz in der Platz Nähe, in der Speckstraße im Gängeviertel, gebore- Brahms-Denkmal (Standort: nen Johannes Brahms [siehe auch S. 134] ein Denk- seit 1981); Maria Pirwitz, Bild- mal setzen, da sein Geburtshaus im Krieg zerstört hauerin (20. Jh.) worden war. In einer Gemeinschaftsarbeit mit den Trägern des dritten Preises, dem Bildhauer Thomas

Das Brahms-Denkmal, eine von der Bildhauerin Ma- ria Pirwitz (29.4.1926–19.12.1984) 1981 geschaffene Bronze, „zeigt einen strömenden Fluss von Linien, die sich durchdringen, sich dynamisch verbreitern und verengen und wieder sanft ausklingen, die zu vollem dunklen Ton in die Tiefe gehen – wie die Gefühlsschwere in der Musik von Johannes Brahms [1833–1897] – und in den senkrecht aufragenden ge - bündelten Formen und ihrer räumlichen Dimension die ganze Fülle eines Orchesterklanges darstellen. Die senkrechte Gliederung, die den Fluss der Linien durchdringt, taucht als rhythmisch skandierende Gegenbewegung im Ablauf der Plastik wieder auf. Und aus der ganzen Fülle löst sich eine gleichsam schwebende, sanfte Melodienlinie. Durch die Musik Brahms-Denkmal am Johannes-Brahms-Platz, geschaf- von Johannes Brahms inspiriert, wurde nach den fen von Maria Pirwitz 1981. Photo: Marina Bruse Raumgesetzen der Skulptur eine Umsetzung von Musik in plastische Form gestaltet, die sich im Darboven (geb. 1936), und dem Architekten Rainer Grunde nicht beschreiben, sondern nur sehend er- Steffen (geb. 1958) gestalteten Maria Pirwitz und fahren lässt. Wie auch Musiker – zum Beispiel [Pe- Jörn Rau die Anlage Johannes-Brahms-Platz/Dra - trowitsch] Mussorgski [1839–1881] in ‚Bilder einer gonerstall neu. Ausstellung‘ – Werke der bildenden Kunst und der Auch wenn Maria Pirwitz als Schülerin von Edwin Literatur in Musik transportiert haben. Hier frei vor Scharff (1887–1955) an der Landeskunstschule aus der Musikhalle auf dem neuen ruhigen, offenen der Tradition der figürlichen Plastik kam und immer Platz, aber auch dicht an dem eilig vorbeifließenden wieder dorthin zurück fand, schuf sie auch abstrakte Verkehr, möge die Plastik ein Wahrzeichen für die Werke und beschäftigte sich mit Problemen der ab - symphonische Musik sein, die in diesem Haus auf- strakten Gestaltung. Zwei Jahre vor ihrem Tod for- geführt wird: Hommage à Johannes Brahms, einen mulierte sie: „Die gestaltete Form ist wichtig, sie ist ihrer größten Komponisten.“169) So beschrieb Maria das Primäre bei der Idee und Durchführung meiner Pirwitz den Abschluss und Höhepunkt ihres Schaf- Plastiken. Form und Inhalt müssen eine Einheit bil- fens, die breitgelagerte, wogenförmige Bronzeplastik den. Durch die Form ergibt sich der Ausdruck, der auf dem 1981 zur Brahms-Gedenkstätte neu gestal- Gehalt eines Werkes. Bei den abstrakten Plastiken teten oktogonalen Platz vor der „Laeiszhalle“. Mit wird das am deutlichsten. Das Zueinander der Form, dem Architekten Jörn Rau (1922–2007) zusammen ihre Bewegung, ihre Linien, die Spannkraft des Vo- hatte sie den ersten Preis eines 1979 von der Kör- lumens geben die Einheit und schaffen den geistigen

169 Zit. nach: Hanns-Theodor Flem- ming: Maria Pierwitz mit bisher unver- öffentlichten Gedichten der Künstlerin und einem Beitrag von Tatiana Ahlers- Hestermann. Hamburg 1987. 146 JOHANNES-BRAHMS-PLATZ · Maria Pirwitz JOHANNES-BRAHMS-PLATZ · Verbandshaus des „Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbands“

Bezug, die Aussage. Anregungen dazu gaben oft wandfrei handhabte, dass ein Tischler-Innungsmeis- Naturformen, Felsen, Pflanzen, Mondsichel. Dane- ter seinen Lehrlingen ihre Arbeiten als vorbildlich ben interessiert mich der Mensch in seiner einfachen pries. Ihre Sehnsucht aber galt der Bearbeitung eines Daseinsweise, als Stehender, Sitzender, Liegender anderen Materials: „Ich wollte / daß meine Hände oder in Beziehung zu einem anderen, ‚im Gespräch‘.“ stark wären / einen Niethammer zu halten / Zei- Damit hat Maria Pirwitz ihren Themenkreis selbst chen zu hämmern / in Stahlplatten. Aber meine benannt. Bei Aufträgen für Kunst am Bau waren Kraft / ist nicht von dieser Art / hin und wieder / ihre Werkstoffe Ton und Wachs statt Bronze. Bei gelingt es mir / einen schwarzen Stein zu wandeln kirchlichen Aufträgen verwendete sie Holz, ein Ma- / in einen Vogel / der fliegt.“170) terial, das sie sehr faszinierte und das sie so ein- Text: Brita Reimers

38. STATION Im Jahre 1904 hatten Werner Lundt Johannes-Brahms-Platz 1 (1859– nach 1929) und Georg Kallmorgen Verbandshaus des „Deutsch nationalen Handlungsgehilfen-Ver- (1882–1924) das erste Bürohaus für den bands“, heutiger Gebäudename: „Brahms Kontor“ (errichtet 1904 „Deutschnationalen Handlungsgehilfen- am Holstenwall; umgebaut und erweitert 1921–1922; 1929–1931 Verband“ am Holstenwall als reich deko- Bau des Hochhauses am Johannes-Brahms-Platz; modernisiert und rierte Ritterburg, mit Zinnen, Erkern, restauriert: 1987–1991; Entkernung: Anfang des 21. Jh.); Annie schweren Portalen und Türmchen fertig Kienast, Gewerkschaftspolitikerin (20. Jh.); „Weibliche Schutzpoli- gestellt, als es schon acht Jahre später zei“ (Nachkriegszeit); „Kellertheater“ (Standort: seit 1966) an seine Kapazitätsgrenze stieß. 1913 schrieb der Verband einen Wettbewerb für einen Neu bau aus, bei dem zwar eine Verbandshaus des „Deutschnationalen enge Verbindung zum alten Verbandshaus ge- Handlungsgehilfen-Verbands“ wünscht, aber „Anklänge an die alte Architektur“ nicht gefordert waren. Zumindest stand eine formale Erneuerung des Verbandes an. Ferdinand Sckopp (1875–1967) und Wilhelm Vortmann (1875–1936) entschieden den Wettbewerb mit dem Entwurf eines Klinkerbaus mit starker Stützengliederung für sich. Hier wurde bereits vor dem Ersten Weltkrieg und abseits der Planungen zum Kontorhausviertel das Kontorhaus des neuen Typs der 20er Jahre entwor- fen. Bei laufendem Betrieb wurde das alte Verbands- haus in den Jahren 1921 bis 1922 umgebaut und er- weitert; es entstand eine klar gegliederte, mit Klinkern verkleidete Pfeilerfassade, mit aufgesetzten Staffelgeschossen und einem einfachen Sockelge- schoss. Zwischen 1929 und 1931 wurde dann als erster ge- nieteter Stahlskelettbau das Hoch haus mit fünfzehn Verbandshaus des „Deutschnationalen Handlungs- Geschossen am Karl-Muck-Platz – dem heutigen Jo- gehilfen-Verbands“ am Johannes-Brahms-Platz, errich- tet 1929–1931. Heutiger Name „Brahms Kontor“. hannes-Brahms-Platz – realisiert. Ein besonderer Photo: Marina Bruse Beitrag zur Hochhausdebatte im Deutschland der

170 ebenda. JOHANNES-BRAHMS-PLATZ · Verbandshaus des „Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbands“ 147

matt geschliffener Granit be- deckt nun den Boden und setzt zur Farbigkeit einen ru- higen Akzent. Der Eingangstür gegenüber belichten vertikale, schmale Fenster die Halle. Rechts und links neben einer die Wand- breite einnehmenden Treppe schwingen terrakottageflieste Wände in den Raum, hinter denen die Treppen zur ersten Etage aufsteigen. Hier beginnt die Inszenierung der Haupt- treppe. Durch einen Rundbo- gen mit breiter, gelb gefliester Die Eingangshalle ins „Brahms Kontor“ am Johannes-Brahms-Platz ist in Art Laibung gelangt man zu einer déco gehalten. Photo: Marina Bruse Halbtreppe, die am Ende von zwei quadratischen Pfeilern 20er Jahre des 20. Jahrhunderts. Steil aufragende flankiert wird, auf denen Lampensäulen bis unter Pfeiler betonen die vertikale Gliederung des Turmes. die Decke emporragen. Die Treppenhalle greift mit Sckopp sah seine Aufgabe darin, „keine gegebenen ihrer Rundung in den Innenhof; über alle Etagen Räume, sondern möglichst nur freie Flächen“ zu steigen ohne horizontale Unterbrechung schmale bauen, „beliebig ausfüllbar, für Neuaufteilung ge- Fensterstreifen empor und erzeugen ein Bild von eignet und möglichst bis in alle Ecken hinein aus- Leichtigkeit. Über zehn Etagen schlingt sich die nützbar“, um damit die „Idee des vervollkommne- kreisförmige Treppe um einen offenen Innenraum. ten, in Hamburg alteingebürgerten Kontorhauses“ Das dynamisch verwirrende Panorama des Treppen- zu verwirklichen. Um die Flexibilität der Grundrisse auges offenbart die gelungene Komposition. Fili- zu ermöglichen, musste ein mächtiger Pfeilerkranz grane, einfache Treppenstäbe tragen den Handlauf die Lasten abtragen; bei einer Höhe von 55 Metern aus einer besonderen matten Bronzelegierung, die erreicht die Fassadengestaltung des Hauses monu- nicht mehr verwendet wird. mentale Dimensionen. Dennoch: Die klare Struktur Aus Freude über den gewonnenen Wettbewerb ließ der schmucklosen Pfeilerfassade verleiht dem Ge- damals Ferdinand Sckopp bei seinem Freund Ludwig bäude unübersehbare Modernität. Kunstmann (1877–1961) eine kleine Wandskulptur Das Foyer und die Treppenhalle des Kopfbaus sind fertigen, die überdacht auf einem Sockel über der die wohl eindrucksvollsten Zeugnisse der Art déco- Tür am Holstenwall angebracht ist: Zwei Esel fressen Kunst der späten 20er und frühen 30er Jahre des aus einer Krippe, sie heißen Sckopp und Vortmann. 20. Jahrhunderts in Hamburg. Die Wände der fast Zum ersten Mal haben Sckopp und Vortmann mit quadratischen Halle sind mit gewölkten rot-schwar- dem Bau des Hauses am Johannes-Brahms-Platz zen Keramikplatten und goldenen Riemchen belegt, eine Architektur in Hamburg geschaffen, die in Kon- die Decken mit einem goldenem Mosaik; der Fuß- struktion und Ästhetik Aspekte amerikanischer boden bestand aus einem Belag von Spaltklinker- Wolkenkratzer-Architektur adaptiert: monumentale Ornamenten. Dies war später in den 80er Jahren verklinkerte Pfeilerfassaden außen, die das Konstruk- des 20. Jahrhunderts nicht restaurierbar. Schwarzer, tionsprinzip offenlegt und die Art déco-Gestaltung 148 JOHANNES-BRAHMS-PLATZ · Verbandshaus des „Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbands“

Zwei Esel fressen aus einer Krippe, Skulpturen von Lud- wig Kunstmann über der Eingangstür des „Brahms Kontors“ am Holstenwall. Photo: Marina Bruse

Elephantenskulptur mit Reiter von Ludwig Kunstmann der Eingangshalle innen, die die Verbindung zur am „Brahms Kontor“ am Pilatuspool. Photo: Marina Bruse Straße und die Beziehung zwischen Stadt und Ge- bäude herstellt. Mit ihrem Gebäude markierten sie den Höhepunkt Dass der „Deutschnationale Handlungsgehilfen-Ver- und zugleich den Endpunkt in der hamburgischen band“ von nationaler, reaktionärer und antisemiti- Kontorhaus-Architektur: Die neuen Machthaber ka- scher Gesinnung gewesen ist, war schon vor Siegfried prizierten sich auf biedermeierliche Heimatarchitek- Kracauers (1889–1966) Roman „Die Ange stellten“ tur oder utopischen Monumentalismus. Die Archi- unverkennbar. Den Zeitgeist seiner Entstehung spie- tektur des Neuen Bauens und des Internationalen gelt das Gebäude überdies an der geklinkerten Decke Stils in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts knüpfte der Arkaden zum Johannes-Brahms-Platz: Farbige nicht an die Traditionen des Kontorhauses an. Reliefs mit Stadtwappen von Straßburg, Eupen, Mal- In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts erhielt das medy, Danzig, Memel, Metz und viele mehr erinnern Haus ein Dachcafé. Eine auf dem höchsten Punkt nicht nur die deutschnationalen Handlungsgehilfen aufgestellte Lichtsäule musste im Zweiten Weltkrieg an die nach dem Ersten Weltkrieg abgetretenen ehe- wegen der Bombengefahr abgebaut werden. maligen deutschen Gebiete, die Arkaden überbauen Sechs überlebensgroße nackte, grün patinierte Jüng- einen Teil der öffentlichen Straße. linge, die sich an der Holstenwallfront auskragend Der „Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband“ emporstufen, sind von Karl Opfermann (1891–1960) war vor 1933 die zentrale Interessenvertretung der geschaffen. Die beiden Figuren am Kopfbau zum im Groß- und Außenhandel tätigen kaufmännischen Johannes-Brahms-Platz und die mächtige Plastik Angestellten. Der Verband hatte rund eine Viertel- „Jugend und Kraft“, ein Elefantenreiter, am Pilatus- million Mitglieder, zeigte starke antisemitische Ten- pool, von Ludwig Kunstmann, dekorieren das Haus denzen und war durch seine national-konservative auf ungewöhnliche Weise und gaben Anlass zu In- Haltung einer der Wegbereiter des Nationalsozia - terpretationen: Der Elefantenreiter gilt als Symbol lismus. Der 1893 in Hamburg gegründete Verband für imperialistische Ambitionen, die Jünglinge für schloss von Anfang an „Abstammungsjuden“ von ein deutsch-nationales Menschenbild. Auch in einem der Mitgliedschaft aus. Ein Architekturkritiker fasste anderen Hamburger Kontorhaus findet sich das mo- den Widerspruch zwischen der Architektur und der numentale Elefantensymbol: im Afrikahaus von Gesinnung treffend zusammen: „Insofern war alles Adolf Woermann (1847–1911) in der Reichenstraße; modern, nur nicht die Ideologie der Bauherren.“ hier sind die Ambitionen richtig gedeutet. JOHANNES-BRAHMS-PLATZ · Neue Besitzer seit 1934 · Annie Kienast, Gewerkschaftspolitikerin 149

Der heutige Besitzer, die Dienstleistungsgewerkschaft „ver.di“, ließ in den Anfängen des 21. Jahrhunderts das Gebäude vollkommen entkernen. Hierfür wurde das Architektenbüro Konstantin Kleffel (geb. 1943), Uwe Köhnholdt (geb. 1940), Björn Papay (geb. 1963), (Finn) Warncke (geb. 1968) beauftragt. Im Rah men dieser Umbaumaßnahmen wurde das ehemalige DAG-Haus in „Brahms Kontor“ umbenannt. Text: Bernd Allenstein

Den Zeitgeist seiner Entstehung spiegelt das Gebäu- de an der geklinkerten Decke der Arkaden zum Johan- Annie Kienast, Gewerkschaftspolitikerin nes-Brahms-Platz: farbige Reliefs mit Stadtwappen von Städten wie Metz, Danzig, Memel etc. sollen an die Als die „Deutsche Angestellten-Gewerkschaft“ in nach dem Ersten Weltkrieg abgetretenen ehemaligen diesem Gebäude ihren Sitz hatte, ging hier auch die deutschen Gebiete erinnern. Photo: Marina Bruse Gewerkschaftspolitikerin Annie Kienast (15.9.1897– 3.9.1984) ein und aus. Sie stammte aus einer Arbei- Neue Besitzer seit 1934 terfamilie und wirkte während der Weimarer Zeit entscheidend daran mit, dass Frauen erstmals in Nachdem 1934 der „Deutschnationale Handlungsge- Tarifverträgen des Einzelhandels den Männern hilfen-Verband“ ohne nennenswerte Bedenken gleich- gleichgestellt wurden. Annie Kienast arbeitete als geschaltet worden war, mieteten nacheinander der Textilverkäuferin, war seit 1918 Gewerkschaftsmit- „Deutsche Ring“, dann die Hamburger Innenbehör- glied und seit 1919 Mitglied der SPD. Sie gehörte zu de/das Polizeipräsidium bis zur Fertigstellung des Po- den Organisatorinnen des ersten Streiks der Ham- lizeihochhauses am Berliner Tor im Jahre 1962, die burger Warenhausangestellten im Februar 1919. „Deutsche Angestellten-Gewerkschaft“ bis zu ihrem Auch war sie in den 20er Jahren des 20. Jahrhun- Umzug nach Berlin und das Justizprüfungsamt des derts eine der wenigen Betriebsrätinnen in der Han- Hanseatischen Oberlandesgerichtes das Gebäude. sestadt. Zwischen 1922 und 1933 kümmerte sie sich Ernst-Günter Voges (geb. 1947) vom Architektenbüro als Mitglied des Gesamtbetriebsrates des Konsum-, Possehn (geb. 1954) und Voges hatte 1987 von den Bau- und Sparvereins „Produktion“ besonders um Besitzern, der „Deutschen Angestellten Gewerk- die Probleme der berufstätigen Frauen. 1934 wurde schaft“, den pragmatischen Auftrag erhalten, die Bü- sie von den Nationalsozialisten aus politischen ros zu modernisieren, neue Technik in das Gebäude Gründen aus der „Produktion“ entlassen. Nach ein- einzubauen und die Sicherheitsauflagen nach heu- jähriger Arbeitslosigkeit fand sie wieder Arbeit als tigem Standard zu erfüllen. In dieser Bauphase von Verkäuferin. 1987 bis 1991 gelang es Voges, die Bauherren davon Nach Kriegsende beteiligte sie sich am Wiederaufbau zu überzeugen, „möglichst wenig von der histori- der Gewerkschaften und wurde 1945 Gründungsmit- schen Substanz zu zerstören“. In zweieinhalbjähri- glied der „Deutschen Angestellten-Gewerkschaft“ ger Bauzeit und nach anderthalbjähriger Planung (DAG) und deren hauptamtliches Vorstandsmitglied. gelang es dem Architekten, in akribischer Arbeit Später war sie als Betriebsrätin und von 1948 bis nicht nur zu erhalten, sondern auch behutsam, weit- 1957 ehrenamtlich im Vorstand der DAG tätig. Zwi- gehend originalgetreu, das Innere des Hauses zu schen 1946 und 1949 war sie Abgeordnete der Ham- restaurieren. Ein denkmalpflegerischer Verdienst, der burgischen Bürgerschaft. Im Alter engagierte sie nicht hoch genug zu schätzen ist. sich in der gewerkschaftlichen Seniorenarbeit und 150 JOHANNES-BRAHMS-PLATZ · Mieterin: Innenbehörde, Abteilung „Weibliche Schutzpolizeit“ · „Kellertheater“

trotzte dem Hamburger Senat ein neues Alten- und wirkte einen Antrag auf gleichberechtigte Ausbil- Pflegeheim ab. dung aller Polizistinnen an der Waffe. Doch nicht alle waren mit dieser Neuerung einverstanden. Viele männliche Kollegen diskriminierten die an der Waffe Mieterin: Innenbehörde, Abteilung ausgebildeten Polizistinnen als „Flintenweiber“. „Weibliche Schutzpolizei“ Eine der ersten Polizistinnen war Rosamunde Pietsch (geb. 1915). Als 1945 der erste Lehrgang für die neu Nach dem Zweiten Weltkrieg diente das Gebäude einzurichtende Abteilung der uniformierten weib- auch als Sitz des Polizeipräsidiums. Im 9. Stock des lichen Polizei einberufen wurde, gehörte sie dazu. DAG-Hauses wurde 1945 auf Intervention der briti- Zuvor hatte die Tochter eines Polizisten, der 1933 schen Militärregierung die Abteilung „Weibliche als Widerstandskämpfer von den Nationalsozialisten Schutzpolizei“ eingerichtet. Die Leitung übernahm aus dem Polizeidienst entlassen und in ein KZ ver- Miss Sofie Alloway. Die nach dem Vorbild von Scot- bracht worden war, als Kindermädchen und später land Yard geführte „Weibliche Schutzpolizei“ hatte als Arbeiterin in einer Keks- und Strickwarenfabrik ihre Aufgabengebiete im Jugendschutz, in der Ge- gearbeitet. 1948 war sie die einzige Frau unter rund fahrenabwehr für Minderjährige, in der Ahndung 40 Männern, die sich für den Oberbeamtenanwär- von Sittlichkeitsdelikten und in der Verfolgung von terlehrgang qualifiziert hatte. Und 1953 war Rosa- Straftaten Jugendlicher unter vierzehn Jahren sowie munde Pietsch abermals die einzige Frau, als sie Straftaten von Frauen. zur Polizeikommissarin ausgebildet wurde. 1954 Im Nachkriegs-Hamburg hatten die Polizistinnen avancierte sie zur Leiterin der 45 Frauen starken u. a. den Auftrag, bettelnde Kinder von den briti- „Weiblichen Schutzpolizei“ und gründete 1961 die schen Besatzungssoldaten fernzuhalten und Kinder, so genannte Jugendschutztruppe. Mit jeweils einem die von den Zügen Kohlen „klauten“, „einzufangen“. Erzieher brachten sie „Ausreißer“ nach Hause und „Tante Polizei“, riefen die Kinder hinter den Polizis - durchsuchten Lokale auf dem Kiez nach Jugend - tinnen her. In einem Fall hatten die Polizistinnen lichen. sogar 97 Mädchen mit auf die Wache genommen, 1975 schied Polizeihauptkommissarin Rosamunde nachdem diese versucht hatten, auf ein englisches Pietsch aus dem Polizeidienst aus. Dreizehn Jahre Kriegsschiff zu den Marinesoldaten zu gelangen. später löste sich die „Weibliche Schutzpolizei“ als Der „Weiblichen Schutzpolizei“ waren Streifengänge eigene Dienststelle auf. mit männlichen Kollegen der Revierwachen verbo- ten. Auch durften die Polizistinnen weder den Stra- „Kellertheater“ ßenverkehr regeln noch einen Streifenwagen fahren. Sie mussten ihren Dienst zu Fuß versehen, und es Unter den Arkaden des „Brahms Kontor“ mit Ein- war ihnen nicht erlaubt, eine Waffe zu tragen, weil gang zum Johannes-Brahms-Platz liegt ein wenig sie daran nicht ausgebildet wurden. Eine Änderung versteckt das „Kellertheater“. 1954 als Tourneethea- trat erst 1976 ein, nachdem sich eine Beamtin der ter unter dem Namen „Optimisten“ gegründet, zog Wache St. Pauli über die Vorschriften hinweggesetzt es 1966 ins heutige „Brahms Kontor“. Nach der hatte: Bei einem Streifengang mit ihrem Kollegen 1970 erfolgten Fusion mit der „Jungen Spielbühne“ hatte sie einen Streit zwischen drei – wie es damals heißt das Theater „Kellertheater“. Ein Jahr später hieß – „Südländern“ und einem Taxifahrer beobach- gründete sich das Theater als gemeinnütziger Verein. tet. Als ihr Kollege eingreifen wollte, zog einer der Nach einer Auslagerung des Theaters zwischen 2004 „Ausländer“ eine Pistole. Erst der lautstarke Einsatz und 2008 wegen Umbauarbeiten, ist das Theater seiner Gummiknüppel schwingenden Kollegin ret- nun wieder an den Johannes-Brahms-Platz zurück- tete den Polizisten aus seiner Bedrängnis und be- gekehrt. Ergänzend zum ca. 90 Personen fassenden JOHANNES-BRAHMS-PLATZ · „Kellertheater“ 151 DRAGONERSTALL 14 · Geselligkeitsverein „Erholung“

Theatersaal gibt es nun auch eine Probebühne im Erdgeschoss, auf der auch kleinere Darbietungen gezeigt werden. Das Theaterensemble besteht aus rund 80 Mitglie- dern, von denen 60 aktiv auf, vor oder hinter der Bühne tätig sind. Das Repertoire besteht aus ca. zehn bis fünfzehn Stücken. Gespielt wird in der Hauptsache modernes Literatur-Theater, aber auch Klassiker, Musicals und Kindertheater. Es werden auch Lesungen angeboten. Die Leitung des Theaters hat der aus sechs Mitglie- dern bestehende, jährlich neu zu wählende Vor- „Kellertheater“ im „Brahms Kontor“ am Johannes- stand. Brahms-Platz . Photo: Marina Bruse

Ungefähr dort, wo heute am Dragonerstall 15 ein 39. STATION modernes Bürogebäude steht, stand einst das für den Dragonerstall 14 Geselligkeitsverein „Erholung“ erbaute Versamm- (alte Nummerierung: heute ungefähr bei Nr. lungs- und Gesellschaftshaus desselben Namens. 15) Benannt im 18. Jahrhundert als „Beim Der vermögende Schlachter (sein Beruf wird auch Dragonerstall“ nach dem Dragonerstall (siehe als Leinwandmakler angegeben) Rittmeister Johann S. 140). Joachim Hanfft (1780–1827) hatte, nachdem er 1813 Geselligkeitsverein „Erholung“: Etablissement zum auf eigene Kosten eine Eskadron gegen Napoleon Zwecke der Erholung (Standort: 1815–1885, neu er- beritten und dafür als Dank vom Senat einen richtetes Gebäude: 1886/87 bis zum Abriss 1957); 8000 qm großen Garten beim Dragonerstall ge- das so genannte Gängeviertel: Vergangenheit, Ge- schenkt bekommen hatte, dort ein Gesellschafts- genwart und Entwicklung haus für die von seinen Freunden und Kampfgenos- sen 1815 gegründete Gesellschaft „Erholung“ bau - en lassen. Die Gesellschaft, deren Zweck die „gesellige Unterhaltung der Mitglieder durch wissen- schaftliche Vorträge, Musik, Tanz, mündlichen Verkehr und Spiel“171) war, mietete das Haus. Es sollte als „angenehmer und anständiger Versammlungs-Ort“ dienen, der besonders „dem Familien-Vater Gelegenheit verschaffen [soll], mit den Seinigen ohne bedeutenden Kosten-Aufwand zu jeder Zeit die gesellige Unterhaltung zu genießen. Tanz und alle an- ständigen Spiele sind verstattet. Hazardspiele Lage des Hauses des Geselligkeitsvereins „Erholung“. Karten- werden durchaus nicht geduldet“, hieß es ausschnitt aus: Plan von Hamburg und Altona. Nach den vor- da mals im „Hamburger Adressbuch“. handenen Materialien mit Hinzufügung der neuprojectirten Bauten und Anlagen, entworfen von F. E. Schuback. Hamburg Betrat man das Gebäude, gelangte man zuerst 1856. Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Kt H8a in einen mit Blumen dekorierten Vorsaal, in

171 Wilhelm Melhop: Historische To- pographie der Freien und Hansestadt Hamburg. Bd. 1. Hamburg 1923, S. 104. 152 DRAGONERSTALL 14 · Geselligkeitsverein „Erholung“

Das Eingangstor zur „Erholung“ 1815–1836. Staatsarchiv Hamburg

dem sich auch eine Orangerie befand. Es folgten im Erdgeschoss: Lese- und Gesellschaftszimmer, Billard- und Kegelstuben und eine Garderobenkammer. Im oberen Stock war der 120 Fuß lange, 42 Fuß brei te und 50 Fuß hohe Hauptsaal, dessen Gewölbe auf sich gegenüber stehenden Säulen ruhte. Daneben gab es hier noch diverse Nebensäle. Am Haus lag ein großer Garten, in dem im Sommer zweimal wöchent- lich große illuminierte Konzerte stattfanden. Hinterhof der Häuser Dragonerstall 13 und 11. Unge- „Nach dem Tod des Stifters 1827 verringerte sich fähr hier lag einst ein Teil des großen Gartens der „Er- holung“, in dem Freiluftkonzerte abgehalten wurden. die Mitgliederzahl; die Gesellschaft war 1835 nicht Photo: Marina Bruse mehr imstande, das abgelaufene Mietverhältnis zu erneuern.“172) So wurde die „Erholung“ ab 1836 an einen Ökonomen verpachtet. In dem großen Garten, Als jedoch 1884 die Kaiser-Wilhelm-Straße angelegt der bis zur Poolstraße reichte, fanden weiterhin Gar- wurde und die „Erholung“ hierfür einen beträchtli- tenkonzerte statt, bei denen der Chor und das Or- chen Teil ihres Gartens abgeben musste, hatte sie chester des Hamburger „Stadt-Theaters“ auftraten. fortan nur noch einen 2000 qm großen Hofplatz mit einigen alten Bäumen, so dass die Freiluftkonzerte nicht mehr stattfinden konnten. 1885 wurde das alte Gesellschaftshaus Raub der Flammen; nur der rechte Seitenflügel mit zwei klei- neren Sälen und die Wirtschaftsräume blieben er- halten. 1886–1887 wurde der Hauptbau im Stil des Grün- derjahren-Klassizismus mit einem großen Saal für 500 Personen im Obergeschoss und einem kleinen Saal für 100 Personen sowie einem Schankzimmer im Erdgeschoss neu erbaut. Die Ausstattung der Gesellschaftsräume war vornehm, so dass es für Abonnementkarte zum täglichen Besuch der „Erho- die bürgerlichen Kreise Hamburgs Tradition wurde, lung“ aus dem Jahre 1830. Staatsarchiv Hamburg dort große Hochzeiten zu feiern.

172 ebenda. DRAGONERSTALL 14 · „Erholung“ · Das so genannte Gängeviertel 153

1906 wurden einige vor dem Haus „Erholung“ stehende kleine Häu- ser abgerissen und der Zugang zur „Erholung“ verbreitert. Ab 1923 erhielt das Haus eine an- dere Nutzung, so zog hier eine Autofirma ein. Das Grundstück ging dann an den Hamburger Staat über, der es für Bürozwecke nutzte. 1945 beschlagnahmte die britische Militärregierung das Ge- bäude und richtete dort ein See- mannsheim ein. Später übernahm die Firma „Sagebiel’s Etablisse- ment“ das Haus, um dort die Tradition seines an der Drehbahn gelegenen und 1943 zerstörten Hau ses „Sagebiel’s Etablissement“ (siehe S. 67) im kleineren Format fortzuführen. Doch 1957 wurde Saal mit Platz für 500 Personen im 1. Stock des 1886 neu errichteten Ge- das Haus schließlich abgerissen. bäudes „Erholung“, welches 1957 abgerissen wurde. Staatsarchiv Hamburg

Das so genannte Gängeviertel: Vergangen- schiedene innerstädtische Gebiete, die durch eine be- heit, Gegenwart und Entwicklung sonders kleinteilige und labyrinthartige Altbebauung mit Fachwerkhäusern gekennzeichnet waren. So gab Auf dem Spaziergang rund um den Infoladen der es im damaligen Sprachgebrauch auch ein Gänge - „Landeszentrale für politische Bildung“ und des viertel in der südlichen Altstadt – es war jenes Quar- „Jugendinformationszentrums“ kommt man in der tier, das dann komplett für das heutige Kontorhaus- Gegend zwischen Valentinskamp, Caffamacherreihe, viertel abgeräumt wurde. Das eigentliche und Speckstraße und Bäckerbreitergang zum so genann- ursprüngliche Gängeviertel befand sich indessen in ten Gängeviertel. Seit Herbst 2009 erfährt es eine der Neustadt, nordöstlich vom Großneumarkt. Die besondere politische Brisanz. Diese, aber auch die dortigen Gänge waren, so schreibt Jonas Ludwig von Entwicklung dorthin, wird im Folgenden von dem Heß (1756–1823) 1810, aus alten Fußpfaden hervor - Leiter des Bezirksamtes Hamburg-Mitte, Markus gegangene „Schlupfgässchen, worin Leute von ge- Schreiber, und von Hans Walden vom „Fachamt ringer Hantierung wohnen“, und „gemeiniglich sehr Stadt- und Landschaftsplanung“ des Bezirksamtes enge, ungrade und holpricht“. Auf alten Stadtplänen Ham burg-Mitte dargestellt. findet man noch Namen wie Ebräer- oder Ehebre- chergang, Amidammachergang, Schulgang, Langer- Zur Geschichte des „Gängeviertels“ gang und Specksgang. Während diese längst aus dem „Gängeviertel“ ist eine alte Hamburger Quartiersbe - Stadtbild verschwunden sind, wird an fünf andere zeichnung, deren räumlicher Bezug nicht konstant Gänge heute immerhin noch durch Straßenschilder geblieben ist. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhun- erinnert: Rademachergang, Kornträgergang, Großer dert benutzte man den Begriff „Gängeviertel“ für ver- Trampgang, Breitergang und Bäckerbreitergang. 154 DRAGONERSTALL 14 · Das so genannte Gängeviertel

Als Heinrich Asher (1838–1904) 1865 seine Druck- dieses Gebiet wenig mit dem früheren Gängeviertel schrift „Das Gängeviertel und die Möglichkeit, das- gemein. Hier dominieren eher Bauten aus dem 19. selbe zu durchbrechen“ veröffentlichte, befasste er Jahr hundert und nicht so sehr ältere Fachwerkhäu- sich mit dem Gebiet zwischen Großneumarkt, Altem ser, wie sie für das Gängeviertel typisch waren. Steinweg und Neustädter Straße, in dem ca. 10 000 Die Wiederbelebung des Begriffs „Gängeviertel“ geht Menschen aufs Engste zusammengepfercht lebten. auf eine in diesem Punkt erfolgreiche Marketingidee Als nach der Cholera-Epidemie von 1892 erste „Sa- zurück: Das Modernisierungs- und Umbauprojekt nierungsgebiete“ in der Alt- und Neustadt festgelegt für den Bereich am Valentinskamp wurde 2003 der wurden, ging das hierfür ausgewählte Gängeviertel Öffentlichkeit unter dem Lokalkolorit verheißenden der Neustadt im Norden auch nicht über die Neu- Namen „Hamburger Gängeviertel“ präsentiert. städter Straße hinaus. Ein räumlich erweitertes Ver- ständnis des Gängeviertels kam 1910 in Paul Brö- Bebauungspläne und Sanierungsgebiet ckers Schrift „Was uns das Gängeviertel erzählt“ Der Planungs- und Diskussionsprozess zur Zukunft zum Ausdruck: Dem beigefügten Plan zufolge reichte des Blocks zwischen Valentinskamp, Caffamacher- das Gängeviertel, nun den Bäckerbreitergang ein- reihe, Speckstraße und Bäckerbreitergang hat in den beziehend, im Norden bis zum Valentinskamp. letzten Jahrzehnten verschiedene Phasen durchlau- 1934 wurde es als Erfolg nationalsozialistischer Tat- fen. kraft gefeiert, dass das „krankhaft aufgeschwemmte Wäre der 1964 festgestellte Bebauungsplan Neustadt Gängeviertel“ gefallen sei und dass die Stadt sich 8 mit allen Festsetzungen umgesetzt worden, wäre „von der Last dieser Vergangenheit“ befreit habe. von den dortigen Altbauten rein gar nichts übrig Ab 1933 hatte man den überwiegenden Teil der Alt- ge blieben. Er sah nämlich vor, die Straßenfläche bebauung im Neustadt-Gängeviertel, das auch als des Valentinskamps und der Caffamacherreihe auf sozialer und politischer Unruheherd galt, abbrechen Kosten der Bebauung erheblich zu erweitern. Ein lassen, um sie durch Wohnneubauten zu ersetzen. vom Straßenrand zurückgesetzter rechteckiger Bau- Bei dieser radikalsten Form von Stadterneuerung block war für eine Kerngebietsnutzung vorgesehen. bildete die Kaiser-Wilhelm-Straße die nordöstliche Es wurde dort also Platz für neue Geschäfts- und Grenze – der Bereich zwischen Valentinskamp, Caffa- Verwaltungsbauten reserviert. macherreihe, Speckstraße und Bäckerbreitergang, Zu einer Änderung des Planungsrechts für dieses um den es im Folgenden gehen soll, war von ihr Ge biet kam es durch den Bebauungsplan Neustadt also nicht betroffen. Nach NS-Lesart war das Gänge - 32, der 1988 förmlich festgestellt wurde. Die Zurück- viertel nun gar nicht mehr existent. nahme der Straßenverbreiterungspläne führte dazu, Nach dem Zweiten Weltkrieg fand man, dass es dass der Abbruch der Bestandsbauten nicht mehr doch noch ein „letztes Überbleibsel“ des Gängevier- vorprogrammiert war. Der neue Plan wies den ge- tels gab, nämlich in seinem nördlichsten Ausläufer, samten bebauten Block zwischen Valentinskamp am Bäckerbreitergang. Die an der Westseite des Bä- und Speckstraße nun als „besonderes Wohngebiet“ ckerbreitergangs (Nr. 49–58) erhaltene zwei- bis mit zwei- bis sechsgeschossiger Bebauung aus. Ein dreigeschossige Fachwerkzeile wurde bereits 1953 Erhaltungsbereich wurde allerdings nicht festgelegt. unter Schutz gestellt (siehe dazu auch S. 161). Im Zuge des 1977 begonnenen Bebauungsplanver- Wenn also heute ein relativ überschaubarer Teil der fahrens wurde aber deutlich, dass bei der Beurteilung Bebauung zwischen Valentinskamp, Caffamacher- des vorhandenen Bestands Denkmalschutzbelange reihe, Speckstraße und Bäckerbreitergang als „das“ einen immer höheren Stellenwert erhielten. 1981 Gängeviertel bezeichnet wird, so ist das, stadtge- stufte das Denkmalschutzamt in einem Erhaltens- schichtlich gesehen, eigentlich irreführend. Auch in konzept für die Innenstadt den gesamten Bereich der Beschaffenheit der historischen Bausubstanz hat auf der Südseite des Valentinskamps als erhaltens- DRAGONERSTALL 14 · Das so genannte Gängeviertel 155 würdig ein. Im April 1984 sprach sich die Bezirksver- AG vom Büro Pattberg, Raumschüssel und Partner sammlung Hamburg-Mitte einstimmig für Instandset - umfassend saniert. zungsmaßnahmen zum Erhalt der Häuser aus. Sowohl an der West- als auch an der Ostseite des 1985 arbeitete der Architekt Stefan Conrad im Auf- Sanierungsgebiets entstanden, dem Erneuerungs- trag der Stadtplanungsabteilung Hamburg-Mitte ein konzept von 1988 folgend, während der 90er Jahre städtebauliches Gutachten aus, das neben einer Be- Neubauten. Für den Eckbereich Valentinskamp/Bä- standsaufnahme aller Gebäude auch einige Empfeh- ckerbreitergang entwickelte das Architekturbüro lungen für die Neugestaltung enthielt. Nicht unum- Prof. B. Winking Entwürfe für einen Wohn- und Ge- stritten war der Vorschlag, die Bebauungsdichte schäftshauskomplex, die bis 1997 umgesetzt wurden. durch den Abbruch des ehemaligen Ball- und Ver- Die bisher an diesem Standort in einem Vorgän- anstaltungssaals im Hintergebäude Valentinskamp gerbau befindliche stadtbekannte Diskothek „Mad- 40–42 zu verringern (siehe auch S. 164). house“ (siehe S. 163) erhielt im Keller des Neubaus 1986 beschloss der Senat, prüfen zu lassen, ob das ein neues Domizil. Im Ostteil wurde dem Eckbereich Gebiet zu einem Sanierungsgebiet erklärt werden Valentinskamp/Caffamacherreihe durch das sieben- sollte. Das mit vorbereitenden Untersuchungen be- geschossige Bürogebäude des Archi tektur büros auftragte Architekturbüro Ferdinand Streb empfahl Schweger + Partner ein neues städtebauliches Ge- dies als zweckmäßigen Schritt, um den Verfalls- sicht gegeben (Valentinskamp Nr. 30). prozess zu stoppen und „eine langfristige Sicherung Lange ungeklärt blieb die – für die Entwicklung des dieses in der Neustadt einmaligen Ensem bles“ zu Gesamtgebiets wichtige – Frage, was mit dem gro- er reichen. 1988 wurde ein vorläufiges Erneuerungs- ßen Gebäudekomplex Valentinskamp 40–42 gesche- konzept veröffentlicht, dem Interessierte entnehmen hen sollte. Das erwähnte Conrad-Gutachten von konnten, wo Gebäude erhalten bzw. Neubauten er- 1985 sah den Erhalt des Vorderhauses und des richtet werden sollten. Allerdings vergingen noch Zwischenbaus mit einem kleineren Saal, aber den mehrere Jahre, bis der Bereich tatsächlich Sanie- Abbruch des Hintergebäudes mit dem großen Saal- rungsgebiet wurde. Am 26. März 1991 war es so trakt vor. An seiner Stelle sollte im Blockinneren weit, dass der Senat die förmliche Festlegung des ein begrünter Innenhof angelegt und hierdurch die Sa nierungsgebiets „Neustadt S 3 Valen- tinskamp“ beschloss. Die Aufgabe eines Sanierungsträgers wurde dem Büro Feld- mann/Peters übertragen, und es wurde ein Sanierungsbeirat gebildet.

Projekte und Bauten in den 1990er Jahren Der erste Altbau im neu geschaffenen Sanierungsgebiet, dessen Erhalt dauer- haft gesichert wurde, war das Fachwerk- haus Valentinskamp Nr. 34 (siehe S. 169). Es wird meistens einer Entstehungszeit um 1650 zugeordnet; und es gilt als das älteste Gebäude im Stadtteil Neustadt überhaupt. 1987 war es unter Denkmal- schutz ge stellt worden, und nun wurde es 1991–93 im Auftrag der Sprinkenhof Sanierungsgebiet beim Valentinskamp, 2010. Photo: Marina Bruse 156 DRAGONERSTALL 14 · Das so genannte Gängeviertel

benachbarten terrassenartigen Hinterhäuser freige- Das Investorenprojekt stellt werden. 1989 kam eine andere Idee auf: Ge- „Hamburger Gängeviertel“ neralmusikdirektor Gerd Albrecht (geb. 1935) schlug In der Stadtentwicklungsbehörde war man 1994 lei- vor, am Valentinskamp 40–42 ein „Klingendes Mu- der zu der Auffassung gelangt, dass das Sanierungs- seum“ (siehe S. 144) einzurichten, in dem die In- verfahren Neustadt S 3 Valentinskamp aufgrund an- strumentensammlungen von ihm selbst und ande- derer Prioritätensetzung bereits wieder beendet ren Sammlern öffentlich zu gänglich gemacht werden werden sollte; im April 1995 fasste der Senat den sollten. Das Vorhaben wurde allgemein, auch vom entsprechenden Aufhebungsbeschluss. In der den Senat, sehr positiv aufgenommen. Für die Herrich- Beschluss vorbereitenden Senatsdrucksache wurde tung des „Instrumentenhauses“ stellte die Greve- dargelegt, dass man weiterhin gute Gestaltungslö- Stif tung eine Spende in Höhe von 7,5 Mio. DM in sungen für diejenigen Teile des Gebiets am Valen- Aussicht. 1993 wurde der Komplex mit allen drei tinskamp finden wolle, für die noch keine Neubau- Teilen – Vorderhaus, Zwischenbau mit kleinem Saal oder Instandsetzungsmaßnahmen eingeleitet wor- und rückwärtigem großen Saaltrakt – in die Denkmal - den waren. Der Senat verpflichtete sich, dafür zu liste eingetragen. Doch in demselben Jahr zerschlug sorgen, dass bei einer Sanierung durch private In- sich das Projekt „Instrumentenhaus“. Begründet vestoren die gleichen Grundsätze gelten sollten wie wurde das Scheitern u. a. mit Kürzungen der Bun- bei einem formellen Sanierungsverfahren gemäß desfinanzhilfen in der Städtebauförderung. Baugesetzbuch (z. B. im Hinblick auf einen mögli- Die Finanzbehörde schrieb daraufhin 1994 den Ge- chen Sozialplan). Die Vertreterin der Stadtentwick- bäudekomplex Valentinskamp 40–42 zum Höchst- lungsbehörde erklärte im September 1995 vor dem gebot aus. Dabei wurde von den potenziellen Käu- Stadtplanungsausschuss Hamburg-Mitte, es gehe fern neben einem Preisgebot auch ein Nutzungs- darum, im ehemaligen Sanierungsgebiet so viel wie und Sanierungskonzept gefordert. Die Bewerbung möglich von der ursprünglichen Bausubstanz zu von Hans-Peter Werner führte schließlich zum Er- er halten. Tatsächlich konnte der Denkmalschutz folg. Für 3,85 Mio. DM verkaufte Hamburg den weitere Erfolge verbuchen: 1996 wurde das mehr- Komplex 1996 an die „Grundstücksgesellschaft teilige Ensemble „Schier’s Passage“ (siehe S. 169), Valentinskamp 40–42“ von Hans-Peter Werner und eine Wohnpassage aus der Mitte des 19. Jahrhun- Thorsten Fuchs. Anfangs wollten die Käufer im derts am Valentinskamp 35–39, in die Denkmalliste rückwärtigen großen Saal ein „Erstes Hamburger eingetragen. 2001 folgte die Unterschutzstellung des Werbungsmuseum“ etablieren, das durch Wirt- um 1899 errichteten Fabrikgebäudes Valentinskamp schaftsunternehmen gesponsert werden sollte. Am 34a und der beiden spätgründerzeitlichen Etagen- Ende wurde ein anderes Nutzungskonzept umge- häuser Caffamacherreihe 37/39 und 43–49. setzt. Bei den 1997 bis 1999 durchgeführten Sanie- Doch der Zustand der von der SAGA und der Sprin- rungs- und Umbaumaßnahmen entstanden neben kenhof AG im ehemaligen Sanierungsgebiet verwal- Büros, Wohnungen und möblierten Apartments teten Altbauten verschlechterte sich zusehends. auch zwei Säle, ein Restaurant und ein Nachtklub. 1999 standen mittlerweile von insgesamt 73 Woh- Als Theater der leichten Muse wurde 2005 dort der nungen und neunzehn gewerblichen Einheiten 28 neue „Engelsaal“ eröffnet. Wohnungen und fünf Gewerbeeinheiten leer. Grund für den Leerstand waren Durchfeuchtungen und Schimmelpilzbildungen. Die städtischen Wohnungs- unternehmen und die Liegenschaftsverwaltung be- fassten sich verstärkt mit der Frage, in welchem Maß öffentliche Investitionen in die Wiederherrich- tung der Wohnungen und Gewerberäume wirtschaft- DRAGONERSTALL 14 · Das so genannte Gängeviertel 157 lich zu rechtfertigen wären. Gutachten und Studien In der Folge wurde über verschiedene Teilaspekte empfahlen den Abbruch der Gebäude Speck straße und Planmodifizierungen (z. B. Aufstockung statt 83–87 und Valentinskamp 28a/28b. Hiergegen bezog Ab bruch des Gebäudes Valentinskamp 32) gespro- allerdings 2001 der Stadtplanungsausschuss Ham- chen, aber der Beginn der Projektrealisierung ver- burg-Mitte Stellung. zögerte sich immer weiter – ganz offensichtlich, Im Jahr 2002 schrieb die Finanzbehörde ein aus weil der Investor mit großen finanziellen Schwierig - sechs Flurstücken bestehendes, 2899 qm großes keiten zu kämpfen hatte. Noch Mitte 2005 versprach Areal zwischen Valentinskamp, Caffamacherreihe Investor Hans-Peter Werner gegenüber dem „Ham- und Speckstraße als Ganzes zum Verkauf aus. Am burger Abendblatt“: „2008 wird das Gängeviertel Ende des Auswahlverfahrens, an dem sich dreizehn fer tig sein“, aber faktisch kam das Vorhaben nicht Bewerber beteiligt hatten, wurde es Anfang 2003 voran. Seit 2005 beteiligte sich der niederländische der Unternehmensgruppe Fuchs & Werner anhand Investor Hanzevast Capital an dem Großvorhaben. gegeben, die sich zuvor schon beim Projekt Valen- Zwar blieb Werner, nun zusammen mit einem an- tinskamp 40–42 profiliert hatten. Die Investoren deren Geschäftspartner, über die „implan Unterneh- kündigten an, hier unter der Projektbezeichnung mensgruppe“ an dem Projekt beteiligt, doch in der „Hamburger Gängeviertel“ ein Künstlerviertel schaf- neu gegründeten „HGV Hamburger Gängeviertel fen zu wollen. Hamburg werde eine neue touristische GmbH & Co. KG“ übte Hanzevast bald den entschei- Attraktion wie z. B. das Schnoorviertel in Bremen denden Einfluss aus. oder die Hackeschen Höfe in Berlin bekommen. Das 2008 wandte sich Hanzevast gegen die bisherige Ab- Nutzungskonzept sah einen hohen Wohnungsanteil sicht, das Gesamtprojekt nacheinander in zwei Bau- von über 70 Prozent vor. Während die unter Denk- abschnitten – zuerst den westlichen Teil, danach den malschutz gestellte Bausubstanz weitgehend erhalten östlichen Bereich an der Caffamacherreihe – zu rea- und instand gesetzt werden sollte, sollten andere lisieren. Dadurch würde sich das Projekt unzumutbar Altbauten – so Valentinskamp 32, Valentinskamp verzögern und verteuern. Das Bezirksamt und die 28/28b, das zu Schier’s Passage gehörende Hinter- Bezirkspolitik wollten Mitte 2008 einen Ausstieg aus hofgebäude Valentinskamp 38c und das Gebäude dem Vertragsverhältnis mit Hanzevast, um das Pro- Speckstraße 83–87 – einer Neubebauung Platz ma- jekt im städtischen Besitz zu halten und eventuell chen. Die Erdgeschosszone sollte gewerblicher Nut- mit dem städtischen Wohnungsunternehmen SAGA zung vorbehalten sein, und alle Flächen zwischen das Gängeviertel zu entwickeln. Da die Finanzbe- den Gebäuden sollten eine Glasbedachung erhalten. hörde das Risiko von Schadensersatzforderungen ge- Dies sollte dazu beitragen, ein „ganzjährlich attrak- nauso wie das von Kaufpreisverlusten vermeiden tives pulsierendes Leben im historischen Gängevier- wollte, stimmte sie diesem Ausstieg nicht zu. tel“ zu entwickeln, wie es in dem Exposé von Fuchs Vor diesem Hintergrund machten Bezirksamt und & Werner hieß. Dass eine hohe Bebauungsdichte Bezirkspolitik die Fortführung des Projekts von dem angestrebt wurde, äußerte sich darin, dass die dem Abschluss eines städtebaulichen Vertrags abhängig, Konzept zugrunde liegende Geschossflächenzahl (ca. in dem u. a. Herstellungsfristen festgelegt und Ver- 3,8) nicht unwesentlich über dem laut Bebauungs- tragsstrafen bei Bauverzögerungen festgesetzt wer- plan zulässigen Wert (2,8) lag. In einem Workshop- den sollten. Nach Überwindung einiger Meinungs- verfahren entwickelten vier Architekturbüros kon- verschiedenheiten und Widerstände wurde der krete Entwürfe für die Neugestaltung. Insgesamt städ tebauliche Vertrag zwischen dem Bezirksamt sollten hier, wie im August 2003 mitgeteilt wurde, Ham burg-Mitte und Hanzevast schließlich im Sep- 75 Loft-Wohnungen samt Dachterrassen, zwölf Lä- tember 2008 abgeschlossen. Die Finanzbehörde ei- den mit einem Markt und Galerien, drei Restaurants nigte sich ihrerseits mit Hanzevast auf einen Kauf- und zehn Künstlerwerkstätten entstehen. vertrag für das „Gängeviertel“. Im Januar 2009 158 DRAGONERSTALL 14 · Das so genannte Gängeviertel

reichte der Investor beim Bezirksamt den Bauantrag Hanzevast-Kapitel am 15. Dezember 2009: Der Ham- ein. Allerdings ließ im Juli 2009 ein Schreiben von burger Senat und die Investorengruppe verständig- Hanzevast an das Bezirksamt und die Finanzbe- ten sich auf die Aufhebung der Verträge gegen eine hörde deutlich werden, dass das Unternehmen im Zahlung in Höhe von 2,8 Mil lionen € für die Pla- Zeichen der Wirtschaftskrise selbst Probleme bei nungskosten und die Rückerstattung der bereits für der Finanzierung hatte und bei der Suche nach ka- den Kauf geleisteten Zahlungen. pitalkräftigen Partnern noch nicht erfolgreich gewe- sen war. Wie geht’s weiter? Eine neue wesentliche Wendung nahm die Pla- Bis Ende März 2010 sollte es ein abgestimmtes Kon- nungsgeschichte, als am 22. August 2009 fast 200 zept zum weiteren Vorgehen hinsichtlich des Gänge- Künsterlerinnen und Künstler Gebäude im Projekt- viertels geben. Deshalb sind zu diesem Zeitpunkt gebiet „besetzten“ und dort provisorische Ateliers stadtseitig Eckpunkte und Überlegungen zur Nut- und Galerien einrichteten. Mit ihrer Kritik an der zung des Gängeviertels aufgestellt worden. Darin Hanzevast-Planung und der Forderung nach einem sind der weitestgehende Erhalt der Gebäude festge- weitergehenden Erhalt der Altbauten erreichte die schrieben worden. Das Gängeviertel soll erneut als Künstlerinitiative „Komm in die Gänge“ ein über Sanierungsgebiet nach Baugesetzbuch ausgewiesen Hamburg hinausreichendes Echo und löste in der werden. Es soll neben einer gewerblichen Nutzung Stadt eine intensive öffentliche Diskussion aus. im kunstnahen Bereich, in der Gastronomie und Um vertragsgemäß zu handeln, erteilte das Bezirks- Ateliers ausschließlich geförderte Wohnungen zu amt am 2. September dem Investor eine Baugeneh- moderaten Mieten geben. Das Gängeviertel soll migung. Nach den festgelegten Fristen sollte nun Wohnquartier nicht nur für Künstlerinnen und bis spätestens zum 3. Februar 2010 mit dem Bau Künstler, sondern auch für „Normalos“ werden und be gonnen werden. Und 27 Monate nach dem Bau- ist insofern nicht auf bestimmte Personenkreise be- beginn sollte das Gesamtbauvorhaben abgeschlos- schränkt. Für das Sanierungsgebiet soll ein profes- sen sein, also spätestens am 3. Mai 2012. Doch im- sioneller Sanierungsträger beauftragt werden, der mer lauter wurden die Stimmen derer, die eine das Gängeviertel treuhänderisch verwaltet. Insofern Aufhe bung der Verträge forderten. Nach einigem wird gegenwärtig das weitere Vorgehen im Zusam- medienseitig intensiv begleiteten Hin und Her in menspiel zwischen Initiative und Sanierungsträger den Mona ten Oktober und November endete das besprochen und hoffentlich konstruktiv geregelt. Es bleibt spannend, ob diese gute Lösung für das Gängeviertel am Ende tragfähig ist. Es bleibt wichtig, dieses Stück historisches Hamburg zu erhalten. Und es bleibt beeindruckend, wie das Gängeviertel die Diskussion in Hamburg und darüber hinaus über Denkmalschutz, Wohnen in der Innenstadt und Ent- wicklung kreativer Milieus positiv beeinflusst hat. Text: Markus Schreiber und Hans Walden

Die Künstlerinitiative „Komm in die Gänge“ besetzte im Sommer 2009 das „Gängeviertel“ und forderte den weitgehenden Erhalt der Altbauten. Photo: Marina Bruse DRAGONERSTALL 13 · „Stiftung Denkmalpflege Hamburg“ 159

Fach werkbau im Barockstil, dient jetzt als Frauen- 40. STATION kulturhaus, Beratungszentrum und Galerie. Die Dragonerstall 13 Bergedorfer Mühle ist an einen Betreiberverein ver- „Stiftung Denkmalpflege Hamburg“ (Stiftung pachtet, der sie vorbildlich erhält und der Öffent- zur Erhaltung von Kulturdenkmälern der Freien lichkeit präsentiert. Die Fontenay’sche Land- und und Hansestadt Hamburg) (Standort: aktuell) Gartenhäuser Mittelweg 183 und 185 konnten nach Verfall und Brandstiftung als letztes Ensemble des

Im Dragonerstall 13 hat die „Stiftung Denkmalpflege Hamburg“ stilgerecht ihren Sitz. Im bürgerlichen Kopfbau des letzten Gangs des berüchtigten Ham- burger Gängeviertels wird für die Restaurierung und Erhaltung der Hamburger Denkmäler gearbeitet. Zur Erhaltung der Häuserzeile Bäckerbreitergang/ Dragonerstall wurde die Stiftung 1978 mit Senats- beschluss und Bürgerschaftszustimmung ins Leben gerufen. Damit stand der staatlichen Denkmalpflege erstmals eine private Institution zur Seite. Die Stif- tung restaurierte in der Folge die original erhaltenen Häuser (siehe S. 161 Bäckerbreitergang), an denen sich erleben lässt, wie große Teile der arbeitenden Bevölkerung in der Hamburger Innenstadt leben mussten. Die Enge des Gangs lässt sich noch am erhaltenen Kopfsteinpflaster ermessen. In der klassi - Im Dragonerstall 13 hat die Stiftung Denkmalpflege schen Buden- und Sahl-Architektur zeigen sich die ihren Sitz. Photo: Marina Bruse Haustüren in Dreiergruppen, wobei die äußeren Tü- ren in die Erdgeschosswohnungen, die Buden, füh- ersten Siedlungsprojekts außerhalb der Stadttore er- ren. Die mittlere Tür geht auf eine Treppe, die die halten werden. Sahl-Wohnungen im Obergeschoss erschließt. Oft Auch ein modernes Bauwerk hat die Stiftung Denk- musste sich eine Familie ein Zimmer teilen, das malpflege errichtet. Das Eduard-Duckesz-Haus dient zweite Zimmer wurde vermietet, teilweise sogar in als Besucherzentrum und Seminargebäude auf dem Tag- und Nachtschicht. Spätestens seit dem Aus- jüdischen Friedhof Altona und beherbergt einen bruch der Cholera wurden diese ungesunden Wohn - schönen Besprechungsraum, durch dessen Fenster verhältnisse erkannt, und die Gängeviertel fielen man den Friedhof fast vollständig erfahren kann, nacheinander dem Abriss zum Opfer. eine Bibliothek mit über 1000 Werken zur jüdischen Die Stiftung Denkmalpflege sanierte die Häuser und Kultur und Geschichte, die rituell vorgesehene baute sie zu erschwinglichem Wohnraum mit zeit- Waschgelegenheit und einen Raum für die Restau- gemäßem Komfort um, wobei die Mieterstruktur ratoren. Seit 1999 koordiniert die Stiftung auf dem weitgehend erhalten bleiben konnte. Im Kopfbau jüdischen Friedhof Altona die Forschungs- und Res- am Dragonerstall residiert seit 1994 das Frauenhotel taurierungsarbeiten und ermöglicht den Besuch mit „Die Hanseatin“ (siehe S. 160). qualifizierten Führungen. Die Stiftung Denkmalpflege besitzt eine Anzahl wei- Im Laufe ihres Bestehens erweitert die Stiftung terer Bauwerke, die sie vor dem Verfall retten konnte. Denkmalpflege ihren Aufgabenbereich kontinuier- Das Kanzlerhaus in Harburg, ein repräsentativer lich. Das Bewusstsein von der Bedeutung des Ham- 160 DRAGONERSTALL 13 · „Stiftung Denkmalpflege Hamburg“ · DRAGONERSTALL 11 · Frauencafé „endlich“ · Frauenhotel „Die Hanseatin“

burger Stadtbildes und einzelner Kulturdenkmäler dellprojekt restauriert und 1999 in der Hamburger wurde durch PR-Maßnahmen für die Denkmalpfle- Kunsthalle ausgestellt wurden. ge, bewusstseinsbildende Veranstaltungen, Vorträge Der riesige, 1900 von Paul Türpe [1859–1944] in sowie durch Publikationen geweckt. Kupfer getriebene Stuhlmannbrunnen in Altona Seit 1992 organisiert die Stiftung jedes Jahr den Tag wurde zu seinem hundertjährigen Bestehen aus sei- des offenen Denkmals am zweiten Sonntag im Sep- nem versteckten Aufstellungsplatz in einer Unter- tember, und zwar gemeinsam mit dem Denkmal- führung wieder auf den Platz der Republik gebracht. schutzamt. Die Auswahl der denkmalwürdigen Bau- Die immensen Zentauren, Triton und Nixe speien ten, zu denen an diesem Tag eine interessierte nun wieder Wasser und geben ein grandioses Schau- Öffentlichkeit Zugang erhält, ist jeweils eine andere. spiel ab. Aus Hamburg holte sich die bundesweit koordinie- Im Jahr 2007 konnte das Schillerdenkmal am Damm- rende Deutsche Stiftung Denkmalschutz die Anre- tordamm (siehe S. 287) mit Hilfe der Stiftung Denk- gung, die Denkmaltage unter ein Motto zu stellen, malpflege restauriert werden. Das 1866 erbaute was seit einigen Jahren bundesweit geschieht. Die Denkmal ist das Hauptwerk des jung verstorbenen stetig steigenden Teilnehmendenzahlen belegen ein Künstlers Julius Lippelt [1829–1864] und wurde be- wachsendes Interesse. reits 1923 in die Denkmalliste aufgenommen. Die Den Internationalen Denkmaltag, die der interna- unangefochten schönste der zahlreichen Schiller- tionale Denkmalrat ICOMOS ausgerufen hat, wird darstellungen in ganz Deutschland, der vergeistigte jährlich um den 18. April herum mit einer Vortrags- Dichter im Kreise seiner allegorischen Assistenzfi- veranstaltung zum Jahresthema begangen. Die Stif- guren, die seine vier Haupttätigkeitsfelder symboli- tung Denkmalpflege ist auch in die Vorbereitungen sieren, erstrahlen nach der umfassenden Restaurie- zur Aufnahme des jüdischen Friedhofs Altona in rung wieder in neuem Glanz. die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes eingebunden. Text: Irina von Jagow und Dirk Petrat Zahlreiche Publikationen belegen zudem die För- derung der wissenschaftlichen und künstlerischen Auseinandersetzung mit der Denkmalpflege. 41. STATION Es gibt in Hamburg immer wieder Projekte, die drin- gend der Restaurierung bedürfen, ohne dass dafür Dragonerstall 11 die finanziellen Mittel vorhanden sind. Die Stiftung Frauencafé „endlich“; Frauen- koordiniert hier immer häufiger den Einsatz privater hotel „Die Hanseatin“ (Stand- Spender und Mäzene. So beteiligte sie sich an der ort: seit 1995) Einwerbung von Spenden für die Restaurierung der so genannten „Rathauskaiser“ an der Außenfassade des Hamburger Rathauses bei den Vorbereitungen 1995 eröffneten im Gebäude Dragonerstall 11 das für das hundertjährige Bestehen des Rathauses. Frau encafé „endlich“ und das Frauenhotel „Die Han- Als hinter dem Barockgemälde von Joh. Moritz Rie- seatin“, beide Errungenschaften der „neuen Frauen - senberger [1673/7–1740] im Herrensaal der St. Ja co- bewegung“. Diese gesellschafts-politisch notwendige bi Hauptkirche Wandfresken aus dem 15. Jahrhundert Bewegung hatte sich in Folge der „Studentenbewe- entdeckt wurden, sprang die Stiftung Denkmalpflege gung“ der 68er Jahre des 20. Jahrhunderts (siehe ein und gewährte die zusätzlich benötigten Mittel. dazu auch S. 20) entwickelt, weil nach wie vor die Als Jahrtausendprojekt konnte die Stiftung ermög- Notwendigkeit bestand – und immer noch besteht –, lichen, dass die Tafeln des ehemaligen Hauptaltars die Gleichberechtigung der Geschlechter voranzu- des abgerissenen Doms, die nach Polen gelangt wa- treiben (siehe dazu auch S. 126 „Arbeitstelle Viel- ren, in Hamburg in einem deutsch-polnischen Mo- falt“). Dazu gehört es auch, Räume zu schaffen, die DRAGONERSTALL 11 · Frauencafé „endlich“/Frauenhotel „Hanseatin“ 161 BÄCKERBREITERGANG 49–58 · Budenbebauung · Fiktive Lebensgeschichte einer Budenbewohnerin

nur von Frauen besucht werden können und in de- ihren Alltag vergessen. Freiräume, in denen Frauen nen sie z. B. einen Ort für sich haben. frei von patriarchalen Zwängen sind“, so der Wunsch Das Frauencafé „endlich“ hatte sein erstes Domizil der beiden Hotel- und Cafébesitzerinnen. 1988 in der Peterstraße 36 eröffnet. 1995 zog es an den Dragonerstall 11, wo die der autonomen „neuen Frauenbewegung“ angehörenden Cafébetreiberinnen Linda Schlüter und Karin Wilsdorf 1995 auch Ham- burgs erstes und einziges Frauenhotel eröffneten, mit dreizehn sehr individuell eingerichteten Zimmern. Im Café, zu dem ein kleiner ruhiger Garten gehört, treffen sich heute regelmäßig Frauengruppen, so die Internet-FUN-Sisters, der Motorradstammtisch, die FiNut (Frauen in Naturwissenschaft und Tech- nik), eine Frauengruppe mit Photographie-Leiden- schaft, die Gruppe Lesben über 40, die Städtegruppe von Terres Des Femmes und der Femmetisch. Au- ßerdem finden im Café Vorträge, Lesungen und Musik veranstaltungen statt. „Das Café und das Hotel nur für Frauen will Frauen- orte schaffen, in denen sich alle Frauen wohlfühlen, Im Dragonerstall 11 befinden sich Hamburgs einziges in denen Frauen sich verwöhnen lassen, in denen Frauenhotel und das Frauencafé „endlich“. Frauen sie selbst sein können und wenn sie möchten, Photo: Jürgen Brömme

ser Nr. 49/50 wurden um 1750 errichtet, Nr. 51/58 42. STATION zu Beginn des 19. Jahrhunderts (siehe auch S. 159). Bäckerbreitergang 49–58 Fiktive Lebensgeschichte einer Buden - Benannt im 18. Jahrhundert. bewohnerin aus dem 18. Jahrhundert Fortsetzung des Breiten Ganges. Im Bäckerbreitergang In solchen für Familien der Hamburger Unterschicht standen die Schweinekoben gebauten Buden lebten oft auch alleinerziehende der Bäcker. Mütter und „alleinstehende“ Frauen. Zu diesen Frau en zählte auch Anna Maria Meyern. Sie hatte Budenbebauung (18. und 19. in ihrem Leben schon viele Lebenskrisen bewältigen Jh.); fiktive Lebensgeschichte müssen. Besonders hart traf sie immer noch die vor einer Budenbewohnerin aus Jahren vollzogene Trennung von ihrem Ehemann. dem 18. Jahrhundert Weil sie allein die Miete nicht hatte zahlen können, war sie wohnungslos geworden und hatte erst nach langem Suchen eine Unterkunft zur Untermiete ge- Budenbebauung funden. Wohnraum war damals knapp. Um den Die restaurierten Fachwerkhäuser im Bäckerbreiter- vielen Menschen in Hamburg eine Bleibe zu geben, gang sind die letzten noch erhaltenen Budenbebau- wurde bereits im 16. Jahrhundert mit dem Bau von ungen aus dem Gängeviertel der Neustadt. Die Häu- Mehrfamilienhäusern begonnen und ab Mitte des 162 BÄCKERBREITERGANG 49–58 · Budenbebauung · Fiktive Lebensgeschichte einer Budenbewohnerin

17. Jahrhunderts eine intensive Bebauung der Höfe mit Buden vorgenommen. Die anfangs eingeschos- sigen, bald 2- und auch 3-geschossigen Buden be- fanden sich oft an den Längsseiten der tiefen schma- len Grundstücke und hatten deshalb auch nur eine geringe Tiefe. Tageslicht konnte nur durch die Fens- ter der Vorderfront in die Buden eindringen, denn zwischen der Hinterfront und den angrenzenden Buden des Nachbargrundstückes gab es nur einen schmalen Spalt. So wie auch Anna Maria Meyern, lebten im 18. Jahr - hundert zur Ersparung der Miete oft mehrere Fami- lien in einer Wohnung. Besonders Frauen schlossen sich zu Wohngemeinschaften zusammen. Damals, gegen Ende des 18. Jahrhunderts, hatte Hamburg rund 100 000 Einwohnerinnen und Einwohner. Ein Drittel von ihnen gehörte zur Schicht der Armen. Den größten Teil davon machten „alleinstehende“ Frau en und Mütter aus. Obwohl Anna Maria Meyern zwölf Stunden täglich in einer Kattundruckerei arbeitete, konnte sie von dem Lohn nicht leben. Frauenerwerbsarbeit wurde so niedrig bezahlt, dass erwerbstätige Unterschichts- frauen ständig von Armut bedroht waren. Sie erhiel- ten für gleichwertige Arbeit 40 bis 50% weniger Lohn als Männer. So waren diese Frauen häufig von der Bäckerbreitergang in der ersten Hälfte des 20. Jh., aus: „Allgemeinen Armenanstalt“ abhängig. Allein im Hans Harbeck: Hamburg, so wie es war. Hamburg 1966. Winter 1788/1789 unterstützte die Anstalt 11109 Arme. Die zu unterstützenden Frau en und Mädchen machten 46%, Männer und Jungen 19% und Familien 35% aus. Eine neue Eheschließung mit einem erwerbstätigen Arbeiter wäre für Anna Maria Meyern die Lösung gewesen, um der völligen Verarmung zu entge-

Die aus dem 18./19. Jh. stam- mende restaurierte Buden- zeile im Bäckerbreitergang. Photo: Marina Bruse BÄCKERBREITERGANG 49–58 · Fiktive Lebensgeschichte einer Budenbewohnerin 163 VALENTINSKAMP 47 · Stolperstein für John Schickler · „Madhouse“

hen. Mit zwei Löhnen wäre das Paar über die Run- ten, war aber nur mit gerichtlicher Entscheidung den gekommen. Doch eine erneute Heirat war ihr gültig, und dafür hätten beide vor Gericht erscheinen nicht vergönnt, denn die Trennung von ihrem Ehe- müssen. Anna Maria Meyern und ihrem neuen mann hatte ohne richterlichen Beschluss stattge- Liebsten blieb also nur der Traum von sanktionierter funden. Ihr Mann war einfach gegangen und hatte Zweisamkeit in einer kleinen Hütte des Glücks. auf dem nächstbesten Schiff angeheuert. Seitdem hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Eine rechts- gültige Trennung von Tisch und Bett, so wie der Rat und die Bürgerschaft es 1640 beschlossen hat-

Großneumarkt. Er wurde seit 1932 43. STATION von der jüdischen Gemeinde als er- Valentinskamp 47 werbslos geführt. Der Transport vom (alte Nummerierung: Nr. 46) 19. Juli 1942 brachte ihn nach The- Valentinskamp, benannt im 17. Jahrhundert nach dem Grund- resienstadt. Dort starb er am 13. Ja- eigentümer, dem Chirurgen Valentin Rußwurm, der hier nuar 1943.“173) 1591 ein Grundstück, den Kamp, mit einem Garten besaß. Mit „Kamp“ wurden eingefriedigte Felder bezeichnet. Als Valentin „Madhouse“ Rußwurm ein Stück dieses Kampes erwarb, wurde der alte Flurname „Kamp“ durch den Vornamen des neuen Besitzers Am 11. November 1969 eröffnete näher bestimmt. Die Bebauung der Straße erfolgte ab dem Manfred „Manni“ Knop die Keller- 17. Jahrhundert. disco „Madhouse“ am Valentinskamp Stolperstein für John Schickler (NS-Zeit); „Madhouse“; (1969–ins 46 (heute 47). Hier wurden amerika- 21. Jh.) nische Rockplatten gespielt, die es da- mals in Deutschland noch nicht zu kaufen gab. Die rot gestrichenen Stolperstein für John Schickler Räume des „Madhouse“ – über der Tanzfläche schwebte die silberfarbene Karosserie eines VW Käfer Der Alteisenhändler John Schickler (geb. 1875, 1942 – waren ein Treffpunkt der Rocker, Biker und Har- deportiert nach Theresienstadt, ermordet am 13.1. leyfahrer. In den 70er und 80er Jahren des 20. Jahr- 1943) und seine Frau Bertha, geb. Janova, hatten hunderts wurde das „Madhouse“ weltberühmt. Auch drei Töchter: Edith (geb. 1911, deportiert am 12.2. , David Bowie, Beasty Boys, Prince und 1943 nach Auschwitz, Todesdatum unbekannt), Fanny Talking Heads kamen auf einen Drink in den Klub. (geb. 1913, deportiert am 12.2.1943 nach Ausch witz, In den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts fanden Todesdatum unbekannt) und Margot (1919–1938). mehrere Betreiberwechsel statt, und die Musikrich- „Die Steuerkarte der jüdischen Gemeinde für John tung wurde geändert. 1996 wurde das Gebäude ab- Schickler weist verschiedene Adressen in ‚beschei- gerissen. denen‘ Wohnvierteln auf, überwiegend im Bereich Im Keller des wenige Jahre später errichteten Neu- der Hamburger Alt- und Neustadt, z. B. Burchard- baus gab es dann Ende 2003 die Neueröffnung des straße, Brüderstraße, Valentinskamp. Die Mutter „Madhouse Rock Clubs“. Als 2005 ein neuer Betrei- [Bertha Schickler] verstarb 1927. Der Vater [John ber die Leitung des „Madhouse“ übernahm, kam Schickler] lebte zuletzt in einem ‚Judenhaus‘ in der es abermals zu einer Konzeptänderung. Heute be- heute nicht mehr existierenden Schlachterstraße am findet sich hier eine „Vodka Lounge“.

173 Ulrike Sparr: Stolpersteine in ler, für die vor dem Haus Krogmann- Hamburg-Winterhude. Biographische straße 70 ein Stolperstein verlegt Spurensuche. Hamburg 2008, S. 232. wurde. Hier auch Biographisches zu den bei- den Töchtern Edith und Fanny Schick- 164 VALENTINSKAMP 40–42 · „Hotel de Rom“ · Witwe Handje

44. STATION „Hotel de Rom“ und Witwe Handje

Valentinskamp 40–42 und In diesem Gebäudekomplex aus Vorder- Valentinskamp 43 haus, Saal und Zwischenhaus, dessen äl- Valentinskamp 40–42: „Hotel de Rom“ (Standort: 1800–1814); teste Teile aus dem 17. Jahrhundert stam- Witwe Handje (gest. 1842); „Tütge’s Etablissement“ (Standort: men, befand sich im Hinterflügel des 1866 bis ca. 1920, zwischen 1892 und 1899 unter dem Namen Hau ses seit Anfang des 19. Jahrhunderts „Neustädter Gesellschaftssäle“, danach wieder „Tütge’s Etablisse- der Gasthof „Hotel de Rom“. Dieser Tanz- ment“); „Hamburger Volkszeitung“ (Standort: 1923–1933); KPD- saal gehörte damals dem Wirt Handje. Bezirksleitung „Wasserkante“ (Standort: 1923–1933); Sitz des Seite Witwe ließ dort im „Engelsaal“, des- HJ-Bann 424 (NS-Zeit); Stolperstein für Gustav Bruno Endrejat (NS- sen Name sich von den goldenen Engeln Zeit); heutige Nutzung des „Engelsaals“ seit 2005; Valentinskamp an der Balustrade des Hauses ableitete, 43: „Otto Steins Verkehrslokal der Arbeiter“ (20. Jh.) seit 1804 Theateraufführungen, Lieder, Possen und Schwänke aufführen. 1809 schaffte es die Witwe Handje, als erste Frau und dazu auch noch als einzige Privatperson, vom Hamburger Senat eine reguläre Theaterkonzes- sion zu erhalten. Damit war die Gefahr gebannt, dass ihre illegal veranstalteten Theaterabende verbo- ten wurden, denn bis zur Einführung der Gewerbe- freiheit im Jahre 1869 durften Privatpersonen keine „theatralischen Darbietungen“ durchführen. Um Konkurrenz auszuschalten, hatten die Direktoren des „Stadt-Theaters“ (siehe S. 87) diese Verordnung beim Hamburger Senat durchgesetzt. Selbst Seiltän- zer oder Kunstreiter-Darbietungen waren verboten. Dennoch kümmerten sich viele Gaststättenbetreiber und -betreiberinnen nicht um das Verbot – so auch nicht Witwe Handje – und richteten in ihren Gast- stätten Bühnen für durchreisende Laientheater ein. 1814 zog Witwe Handje mit ihrem Theater in das „Apollo Theater“ an die Drehbahn (siehe S. 62). Vier Jahre später eröffnete sie ein 600 Zuschaue - rinnen und Zuschauer fassendes Theater in der Steinstraße, in dessen Direktion der spätere „Thalia Theater“-Direktor Chéri Maurice (Charles Maurice

Valentinskamp 40–42, erbaut im 19. Jh. Hier befand sich der Gasthof „Hotel de Rom“, hier fanden im „Engel- saal“ unter der Witwe Handje seit 1804 Theaterauffüh- rungen statt, hier war „Tütge’s Etablissement“, hier hatten die „Hamburger Volkszeitung“ und die KPD Be- zirksleitung „Wasserkante“ ihren Sitz und hier residiert seit 2005 das Theater „Engelsaal“. Photo: Marina Bruse VALENTINSKAMP 40–42 · Witwe Handje · „Tütge’s Etablissement“/„Neustädter Gesellschaftsräume“ 165

Schwartzen berger 1805–1896) arbeitete. Nach dem schützen. Bei weiteren Versammlungen entfernte Tod der Witwe Handje im Jahre 1842 bewarb er sich man dann vorsichtshalber die Stühle aus dem Saal. um die Theaterkonzession der Verstorbenen. Er er- Während des Sozialistengesetzes (1878–1890) konn- hielt sie mit der Auflage, ein neues Theater zu grün- ten natürlich Veranstaltungen der Sozialdemokrati- den. Damit wurde 34 Jahre nach der Vergabe der schen Partei nicht stattfinden, aber das Ende des Theaterkonzession an die Witwe Handje die Grün- Verbots wurde am 30. September 1890 bei Tütge dung des „Thalia Theaters“ möglich. mit einem großen Fest gefeiert. ‚Die Veranstaltung In einem szenischen Rundgang durch die Neustadt sollte um zehn Uhr abends beginnen. Aber schon mit den Schauspielerinnen Herma Koehn und Beate geraume Zeit vorher füllten sich die geräumigen Kiupel vom Ohnsorg Theater präsentiert Rita Bake Hallen der Festsäle. Konzert und Gesang sorgten von der „Landeszentrale für politische Bildung“ für Unterhaltung (…). Kurz vor Mitternacht wurde auch eine Szene zu Witwe Handje. in dem großen Saale eine Gasse nach der Bühne frei gemacht und unter den rauschenden Klängen „Tütge’s Etablissement“, „Neustädter der Arbeitermarseillaise und donnernden Hochrufen Gesellschaftsräume“ betrat der Zug der Ausgewiesenen, die zum Teil von ihren Angehörigen begleitet waren, den Saal. Ihnen Später erwarb Tütge aus Braunschweig das Grund- voran trug [Otto] Reimer [1841–1892] die rote Fahne stück, der das Haus am 20. Januar 1866 als „Tütge’s der Hamburger Partei, die er aus Amerika zurück- Etablissement“ eröffnete. Zwischen 1892 und ca. gebracht hatte.‘174) 1899 hieß das Haus „Neustädter Gesellschaftsräu - Die Sozialdemokratische Partei hatte in der Zeit des me“, dann wieder „Tütge’s Etablissement“. Sozialistengesetztes in Hamburg-Altona kontinuier- „Tütge’s Etablissement“ gehörte um 1900 zu den lich an Stimmen gewonnen und konnte 1890 alle führenden Ball- und Konzertlokalen. Aber hier wurde drei Hamburger und auch den Altonaer Reichstags- nicht nur getanzt und gefeiert, hier tagten auch die wahlkreis erobern,“ erklärt Helga Kutz-Bauer. Arbeitervereine. „1863 konstituierte sich hier der Vom 3. bis 9. Oktober 1897 wurde im Saal von „Tüt- Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV). Viele ge’s Etablissement“ der SPD-Parteitag abgehalten. Arbeiter, die bis dahin im ‚Arbeiterbildungsverein‘, 186 Delegierte aus ganz Deutschland tagten in dem gegründet 1848, Mitglied waren, schlossen sich ihm mit Fahnen der Hamburger Gewerkschaften und Kul- an, was zur Folge hatte, dass sie aus dem Bildungs- turorganisationen geschmückten „Unionssaal“. „An verein ausgeschlossen wurden – mit Politik sollten der Stirnseite des Unionssaales prangte damals ein die Arbeiter sich nicht befassen. Im Jahre 1867 klagte großes Spruchband mit dem berühmten Schlusssatz August Bebel (1840–1913): ‚Ich protestierte dagegen, aus dem Kommunistischen Manifest: ‚Proletarier aller dass immer noch Versuche gemacht werden, die Ar- Länder, vereinigt Euch!‘ Dieser klassenkämpferische, beitervereine von der Politik fern zu halten.‘ marxistische Geist prägte die Verhandlungen des Par- Die Unruhe unter den Arbeitern stieg, die Gründung teitages. Die Tagesordnung war umfangreich. Der des Norddeutschen Bundes, die Vorstufe des Bis- wichtigste Punkt war die Wahl einer neu en Führung. marckreiches, führte auch unter ihnen zu heftigen Sie wurde zu einem überwältigenden Vertrauensbe- Debatten über eine kleindeutsche Lösung oder ein weis für einen Mann: August Bebel. Er erhielt 184 gesamtdeutsches Reich, die deutschsprachigen Teile der abgegebenen 185 Stimmen. [August Bebel, der Österreichs umfassend. Da blieb ‚Tütge’s Etablisse- seit 1883 den Wahlkreis Hamburg I im Reichstag ver - ment‘ nicht verschont. Im Januar 1867 hatte der trat, wurde dort zum Vorsitzenden gewählt – beide ADAV dort eine Volksversammlung einberufen, es Ämter nahm er bis zu seinem Tod 1913 wahr.] gab Tumulte, Auseinandersetzungen, und der Wirt (…) Neben den Personalentscheidungen ging es auf hatte Mühe, einen Gast vor Misshandlungen zu diesem Parteitag auch um andere, für die SPD sehr

174 Heinrich Laufenberg: Geschichte der Arbeiterbewegung in Hamburg, Altona und Umgebung. Hamburg 1931, S. 740. 166 VALENTINSKAMP 40–42 · „Tütge’s Etablissement“ · „Hamburger Volkszeitung“ und KPD-Bezirksleitung „Wasserkante“

Uwe Bahnsen am 30. September 2007 in einem Artikel in der „Die Welt“.175)

„Hamburger Volkszeitung“ und KPD-Bezirksleitung „Wasserkante“

Im Mai 1923 zog die Druckerei der „Hamburger Volkszeitung“ aus dem Parteibüro der KPD an der Börsen- brücke in das neue Parteihaus am Valentinskamp 40–42, das die Ge- nossenschaft (Rechtsform der Zei- tung) ein Jahr zuvor erworben hatte. In der Druckerei wurde nicht nur die KPD-Zeitung „Hamburger Volkszei- Saal von „Tütge’s Etablissement“ am Valentinskamp tung“ gedruckt, sondern auch Visi- 40–42. Postkarte tenkarten und Geschäftsbögen. Neben der Redaktion und Druckerei der Volkszeitung hatte auch die KPD- Bezirksleitung „Wasserkante“ hier ihren Sitz. Die wichtige Themen. Zum Beispiel war die Frage zu Re daktionsräume der „Hamburger Volkszeitung“ klären, ob die Partei sich an den preußischen Land- be fanden sich im „Engelsaal“. tagswahlen beteiligen solle. Vier Jahre zuvor hatten Von November 1923 bis März 1924 war, wie alle die Sozialdemokraten beschlossen, wegen des dis- kommunistischen Tageszeitungen, auch die „Ham- kriminierenden Dreiklassen-Wahlrechts keine Kan- burger Volkszeitung“ verboten worden, und „die Ge- didaten für diese Wahlen aufzustellen. Nun kassier- schäftsräume der Genossenschaft und des Verlages ten sie diese Verweigerung. sowie die Druckerei waren behördlich versiegelt, Für die Hamburger Sozialdemokraten war der Partei- ihre Geschäftsbücher vom kommandierenden Gene - tag von 1897 eine wichtige Demonstration des poli- ral in Stettin beschlagnahmt worden. Außerdem war tischen Selbstbewusstseins. Anfang Februar 1897 das gesamte Vermögen der Genossenschaft einge- hatte die Arbeiterbewegung in der Hansestadt eine zogen worden. Erst ab dem 7.4.1924 lagen der Ge- schwere, auch psychologische Niederlage erlitten, nossenschaft ihre Geschäftsbücher wieder vollstän- als der Hafenarbeiterstreik nach elf Wochen erfolglos dig vor. (…)“176) zu Ende gegangen war. Dieser Aufstand war nicht „Während der Illegalität, am 21.1.1924, wurde die nur ein Tarifkonflikt, sondern eine Kraftprobe zwi- Genossenschaft, offensichtlich wirtschaftlichen wie schen Arbeit und Kapital gewesen. (…) politischen Faktoren gleichermaßen Rechnung tra- Für die Arbeiter war das eine einschneidende Erfah - gend, in ‚Graphische Industrie eGmbG‘ umbe- rung gewesen. Ohnehin wurde ihnen immer wieder nannt.“177) vor Augen geführt, dass sie immer noch Bürger Chefredakteur der „Hamburger Volkszeitung“ war zwei ter Klasse waren. Der mit dem Wahlrecht ver- 1924 der damalige Bürgerschaftsabgeordnete Paul bundene Steuersatz lag so hoch, dass die große Dietrich (1889–1937 in einem Lager umgekommen) Masse der SPD-Anhänger weiterhin von der Bürger - und von 1929 bis 1931 der von 1931 bis 1932 als schaft ferngehalten wurde“, schrieb der Journalist Bürgerschaftsabgeordnete tätige Heinrich Meyer

175 Uwe Bahnsen: Als August Bebel 176 Christa Hempel-Küter: Die kom- Frankfurt a. M. 1989, S. 96. an die Spitze der Genossen trat. In: munistische Presse und die Arbeiter- 177 Christa Hempel, a. a. O., S. 266. „Die Welt“ vom 30.9.2007. korrespondentenbewegung in der Wei- www.welt.de/wams_print/article12237 marer Republik. Das Beispiel 74/Abs_August_ „Hamburger Volkszeitung“. Diss. VALENTINSKAMP 40–42 · „Hamburger Volkszeitung“ · Stolperstein für Gustav Bruno Endrejat 167

(1904–1938, erschossen in Butowo bei Moskau). Ebenso sind auch hier ab gestern [1.3.1933] sämtli- 1930 hatte die „Hamburger Volkszeitung“ eine täg- che kommunistische Versammlungen und Aufzüge liche Auf lage von ca. 40 000 Exemplaren. auch in geschlossenen Räumen verboten. Auf Grund Eine der Hauptwerbeformen der Zeitung war die Agi- § 22 der Verordnung zum Schutze des deutschen tation der Parteimitglieder, damit diese neue Leserin- Volkes vom 4. d. M. sind hier heute etwa 75 bekannte nen und Leser für die Zeitung werben. Deshalb warnte Funktionäre der KPD bis auf weiteres in polizeiliche sie ihre Mitglieder vor der „Schlammflut der bürger- Haft genommen.‘“180) lichen Presse“ und insistierte: „Die herrschende Klasse Bis Ende März 1933 konnte die Bezirksleitung der lenke durch ihre Zeitungsschreiber die Hirne der Mas- KPD „Wasserkante“ noch legal agieren. Ab Mitte sen nach welcher Richtung sie wolle. Nur die kom- März bis 1935 „erschienen illegale Ausgaben der munistische Presse setze sich rückhaltlos für die In- ‚Ham burger Volkszeitung‘ wöchentlich bis monat- teressen der Werktätigen ein. (…) ‚Darum heraus aus lich in einer Auflage von 1000 Exemplaren“.181) Euren Wohnungen mit den Zeitungen Eu rer Feinde! „Auf Druck der Reichsregierung ließ der sozialde- Sie bringen nicht Euch, sondern ihren kapitalistischen mokratisch-bürgerliche Senat am 1. Mai 1933 75 bis Besitzern Gewinn. Ihr dürft sie durch Eure Abonne- 100 Hamburger KPD-Funktionäre festnehmen und ments nicht noch in Nahrung setzen. (…) Willst Du das Parteihaus am Valentinskamp versiegeln. Nach- Deinen Gegnern gewachsen sein, so musst Du die folger der KPD in dem Gebäude wurde der HJ-Bann ‚Hamburger Volkszeitung’ bestellen.‘“178) 424.“182) „1926 wurden Verlags- und Druckereileitung der Zei- tung formal getrennt; fortan erschien die ‚Hamburger Stolperstein für Gustav Bruno Endrejat Volkszeitung‘ in der ‚Norddeutschen Verlagsgesell- schaft‘ (ab 5.1.1927); die vermehrten Zeitungsver- Vor dem Haus Valentinskamp 42–43 liegt ein Stol- bote um 1930 brachten aber die ‚Norddeutsche Ver- perstein für Gustav Bruno Endrejat (19.5.1908– lagsgesellschaft‘ in eine ‚schwierige Finanzlage‘, wie 23.4.1945, hingerichtet im KZ Neuengamme). die Politische Polizei Hamburgs beobachtete, so dass Bruno Endrejat wurde als Sohn des Gutskämmerers die Gesellschaft 1931 aufgelöst wurde (…). Verlag Heinrich Endrejat und seiner Ehefrau Maria Bertha, und Redaktion der Hamburger Volkszeitung wurden geb. Lenuweit, in Friedrichswalde geboren. Etwa um nun nach Altona verlagert. (…) Die Politische Polizei 1929 kam er nach Hamburg und heiratete am 26. Hamburg vermutete als Motor für die Umsiedlung Mai 1934 die 1910 in Groß Engelau/Ostpreußen ge- des Verlages nach Preußen [Altona gehörte damals borene Schneiderin Grete Erna Liedtke (1910–1991). zu Preußen] den Versuch von Redaktion und Verlag, Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ‚dem in Hamburg vielleicht mehr als in Preußen 1933 wurden politische Gegner und Gegnerinnen drohenden Verbotes‘ zu entgehen.“179) mit einer massiven Verfolgung konfrontiert. Mitglie- „Anfang März“ 1933, schreibt Christa Hempel in ih- der einzelner Organisationen versuchten, ihre Wider- rer Dissertation über die „Hamburger Volkszeitung“ standsarbeit nach 1933 im Verborgenen fortzusetzen, weiter, „meldete das Hamburger Staatsamt für aus- so auch Bruno Endrejat. Er bildete mit dem Heizungs- wärtige Angelegenheiten an den Reichsminister des monteur Heinrich „Hein“ Matz (1908–1945 KZ Neu- Innern: ‚dass bereits vor Eingang des Funkspruchs engamme), dem Chemigraphen Kurt Schill (1911– die Beschlagnahme sämtlicher kommunistischer 1944 KZ Neuengamme), dessen Frau Hilde (Hilda) Flugblätter und Plakate sowie aller kommunistischer (1912–1988), dem Schlosser William Dabelstein periodischer Druckschriften vom Senat angeordnet (1898–1943 verstorben im Universitätskrankenhaus ist. Die Polizeibehörde ist ferner angewiesen, eine Hamburg Eppendorf, nach Verlegung dorthin aus verstärkte Streifentätigkeit auszuüben und die ge- dem KZ Fuhls büttel) und anderen eine so genannte samte Beamtenschaft in Alarmzustand zu halten. Fünfergruppe. Ihre Aktivitäten konzentrierten sich

178 Zit. nach: Christa Hempel, an den Reichsminister über Maßnah- durch Hamburg. 21 Stadtteilrundgänge a. a. O., S. 146. men gegen die KPD, 2. 3. 1933. Zit. durch Geschichte und Gegenwart. 179 Christa Hempel, a. a. O., S. 267. nach: Christa Hempel, a. a. O., S. 297. Hamburg 2006, S. 62. 180 Mitteilung des Hamburger Staats- 181 Christa Hempel, a. a. O., S. 297f. amtes für auswärtige Angelegenheiten 182 Werner Skrentny (Hrsg.): Zu Fuß 168 VALENTINSKAMP 40–42 · Stolperstein für Gustav Bruno Endrejat · „Engelsaal“ seit der Nachkriegszeit

auf die Wohngebiete rund um den Großneumarkt. Zwangsarbeiter, in das KZ Neuengamme. Bruno En- Dort sammelten sie Geld für verfolgte Freunde und drejat und der ebenfalls verhaftete Heinrich Matz Genossen. Sie besaßen einen kleinen Vervielfälti- gehörten mit zu den 71 Männern und Frauen, die gungsapparat und stellten für bestimmte Anlässe dort auf Befehl des Höheren SS- und Polizeiführers Flugzettel her. So auch zur bevorstehenden Hinrich- Georg Henning Graf von Bassewitz-Behr (1900–1949) tung des populären Arbeiterführers der KPD Etkar ohne Urteil am 21. und 23. April 1945 hingerichtet André (1894–1936). Dieser wurde wegen „Vorbe - werden sollten. Die Frauen waren die ersten Opfer. reitung zum Hochverrat“ am 4. November 1936 im Sie wurden in zwei Gruppen an Schlachterhaken im Untersuchungsgefängnis Hamburg enthauptet. Bunker nebeneinander aufgehängt. Von 1942 bis 1944 arbeitete Bruno Endrejat in der Einige der Männer ahnten, was ihnen bevorstand, Werkzeugausgabe der Firma August H. Lehnhoff in und verbarrikadierten sich in ihren Zellen. Darauf- Hamburg-Eimsbüttel. Zuvor hatte er in den Otten- hin wurden Handgranaten durch die Bunkerfenster sener Eisenwerken gearbeitet und dort den Schiffs- geworfen, die einen Teil der Männer töteten. Die zimmerer Walter Bohne (1903–1944 erschossen) ken- noch Lebenden wurden anschließend erschossen nengelernt. Im Juli 1943 nahm er ihn für kurze Zeit oder gehängt. illegal bei sich auf. Ein gefährliches Unterfangen, da Kurt Schill hatte man dort bereits am 14. Februar sich mittlerweile das Hitler-Jugend-Heim im Erdge- 1944 ohne Gerichtsurteil gehängt. Grete Endrejat schoss des Hauses befand. Walter Bohne, Mitglied verblieb nach ihrer Festnahme sechzehn Monate in der Widerstandsorganisation Bästlein-Jacob-Abs ha- Haft und wurde nach der Räumung des KZ Fuhls- gen, war nach einem Hafturlaub nach den schweren büttel zusammen mit anderen Gefangenen in das Bombenangriffen der britischen und amerikanischen Arbeitslager Kiel-Hassee gebracht. Dort zog sie sich Luftwaffe auf Hamburg nicht in die Untersuchungs- eine schwere Ohrenentzündung zu, die zur rechts- haft zurückgekehrt und untergetaucht. Als Walter seitigen Ertaubung führte. Grete Endrejat starb am Bohne am 5. Januar 1944 bei seiner Verhaftung am 5. August 1991 in Hamburg. Georg Henning Graf Bahnhof Klosterstern von dem Gestaposekretär von Bassewitz-Behr, verantwortlich für die Ermor- Helms erschossen wurde, fand man eine „Milch- dung der 71 Gefangenen, starb im Januar 1949 in karte“ bei ihm, die zu Kurt Schill führte. Er hatte sowjetischer Haft.183) Walter Bohne mit Lebensmittelkarten versorgt. Be- Text: Susanne Rosendahl reits einen Tag nach der Tötung Walter Bohnes wur- den Kurt Schill und auch das Ehepaar Endrejat ver- haftet. Ein ehemaliger Mithäftling aus Fuhlsbüttel „Engelsaal“ seit der Nachkriegszeit berichtete nach dem Krieg, dass Bruno Endrejat sich in Einzelhaft befunden, aber die Möglichkeit auf Das Haus Valentinskamp 42–43 wurde während des Freilassung bekommen hatte, würde er bereit sein, Krieges stark zerstört und 1950 provisorisch wieder sich im Hafen als Spitzel zu betätigen. Da er sich aufgebaut und der „Engelsaal“ als Versteigerungs- weigerte, blieb er in Haft. saal eines Auktionshauses genutzt. 1997 wurde das Als das Polizeigefängnis Fuhlsbüttel angesichts der Gebäude durch private Investitionen saniert (siehe bevorstehenden Besetzung Hamburgs durch die alli- dazu auch S. 153 das so genannte Gängeviertel). ierten Streitkräfte am 20. April 1945 geräumt wurde, 1999 eröffnete dort ein Bar- und Restaurantbetrieb. sollten die Häftlinge in das Arbeitslager Kiel-Hassee Der „Engelsaal“ wurde als Kulturraum genutzt bis gebracht werden. Da dieses Lager ungenügend gesi- 2005 Karl-Heinz Wellerdiek den „Engelsaal“ als chert war, kamen die „schweren Fälle“, vorwiegend Theater wiederbelebte. Seitdem finden dort in dem politische Gefangene verschiedener Widerstands- „wunderschön umgestalteten Saal“184) Theaterauf- kreise, sowjetische Kriegsgefangene und französische führungen statt.

183 benutzte Quellen: Literatur, vgl. dazu: Herbert Diercks: Hans-Robert Buck: Der kommunisti- Staatsarchiv Hamburg, 351-11 AfW Gedenkbuch Kola-Fu. Für die Opfer sche Widerstand gegen den National- (Amt für Wiedergutmachung Ham- aus dem Konzentrationslager, Gestapo- sozialismus in Hamburg 1933 bis 1945. burg), Abl. 2008/1, 05071910 Endrejat, gefängnis und KZ-Außenlager Fuhls- München 1969, S. 170–172. Grete. büttel. Hamburg 1987, S. 51. Gertrud Meyer: Nacht über Hamburg, VALENTINSKAMP 43 · „Otto Steins Verkehrslokal der Arbeiter“ 169 VALENTINSKAMP 38/34 · historische Häsuer

Valentinskamp 43: „Otto Steins Volks zeitung“. Solche Arbeiterlokale gab es vielfach Verkehrslokal der Arbeiter“ im „roten“ Gängeviertel. Besucht wurden sie u. a. von Kommunisten, Sozialisten, Anarchisten, Gewerk- Diese Kneipe lag neben dem Parteibüro der KPD schaftern. Hier wurde diskutiert, gestritten und agi- und dem Büro der der KPD-Zeitung „Hamburger tiert. Nach 1933 wurde das Haus abgerissen.

45. STATION Valentinskamp 38 und Valentinskamp 34 historische Häuser

Valentinskamp 38

Der Putzbau aus der zweiten Hälfte des 19. Jahr- hunderts mit der Schier’s Passage als Durchgang wurde zwischen 1860 und 1870 erbaut (siehe auch S. XXX Stiftung Denkmalpflege). Die Hofbebauung ist mit einer einfachen Wohnterrasse mit Backstein- fassaden versehen. Von dort gibt es einen Durchgang zur Speckstraße, wo das Geburtshaus des Kompo- nisten Johannes Brahms (1833–1897) (siehe auch S. 134) stand. Das Haus wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Heute befindet sich an dieser Stelle ein Ge- denkstein für Johannes Brahms.

Valentinskamp 34 Valentinskamp 38 mit Schier’s Passage, erbaut zweite Das dreigeschossige Fachwerkhaus ist eines der ältes - Hälfte 19. Jh. Photo: Marina Bruse ten erhaltenen profanen Baudenkmale in Hamburg. Erbaut 1634/1650 als zweigeschossiges Wohnhaus, folgten im Laufe des 18. Jahrhunderts verschiedene Erneuerungen und Umbauten zu modernen Miet- wohnungen. Im 19. Jahrhundert kamen eine Aufsto - ckung um ein drittes Geschoss, Ladenfenster im Erd- geschoss und eine neue Treppe hinzu. 1987 wurde das Haus unter Denkmalschutz gestellt. Die Instand- setzung des Hauses begann 1991. Unter abgehängten Decken wurden Renaissance-Deckenmalereien aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit biblischen Motiven in gemalten Kartuschen und Rokoko-Stu- Das Fachwerkhaus Valentinskamp 34 ist eines der äl- ckaturen entdeckt, die auf bürgerliche Wohnkultur testen erhaltenen profanen Baudenkmale in Hamburg, in diesem Haus hinweisen. erbaut 1634/1650. Photo: Jürgen Brömme

Berichte und Dokumente 1933–1945. Hamburg und an der Wasserkante barn. Gängeviertel, Valentinskamp und Frankfurt/Main 1971. S. 103–109. während des Zweiten Weltkrieges. Ber- Dragonerstall – ein Spaziergang durch Ursula Puls: Die Bästlein-Jacob-Absha- lin 1959. das Hamburg von gestern. 2. überarb. gen-Gruppe. Berichte über den antifa- 184 Werner Hugo Dabbelstein: Der Aufl. Hamburg 2009, S. 14. schistischen Widerstandskampf in Hamburger Engelsaal und seine Nach- 170 CAFFAMACHERREIHE · Gastwirtschaften/Arbeiterkneipen

Eine weitere Hilfseinrichtung für Arbeiter - 46. STATION frauen befand sich nicht weit davon, in Caffamacherreihe der Dammtorstraße, dort residierte in der Benannt nach den dort wohnenden und arbeitenden Webern, 1. Etage vom Haus Nr. 13 ein Rechtsschutz die „Caffa“, einen halb seidenen und samtenen Damaststoff für Frauen und eine Stellenvermittlung des auf Atlasgrund, mit Blumenmustern durchwirkten. Erstmals „Allgemeinen Deutschen Frauenvereins“ bebaut wurde die Straße zwischen 1618 und 1630. für weibliches Hilfspersonal e. V. Gastwirtschaften/Kellerkneipen in der Caffamacherreihe. Arbeiter- Wirft man einen Blick in das Branchen- kneipen in der Caffamacherreihe im Jahre 1906: links Nr. 1, 3, 21, Adressbuch von Hamburg im Jahre 1897, 67, 75–77, 117. Auf der rechten Seite von der Fuhlentwiete her: Nr. so kann man feststellen, dass es in Ham- 12, 14/16 (Hinterhaus), Nr. 60/62, 94. Restaurants: links Nr. 13, 15 burg etwa 4000 Kneipen, Gastwirtschaf- (v. Salzen), Nr. 27, 18/20, 78/80; „Verschleppt nach Marokko“: ten, Bierhallen und Restaurants gab – und Mädchenhandel (50er Jahre des 20. Jh.) das bei knapp 700 000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Man muss sich die un- terschiedlichsten Formen vorstellen: Die Arbeiterkneipen: „Ohne Wirtshaus giebt so genannten Detailhandlungen, die es früher an je- es für den deutschen Proletarier nicht der Ecke gab, waren weniger geworden, dort konnte blos kein geselliges, sondern auch kein man dies und das kaufen und im Stehen mal einen politisches Leben“ Schnaps trinken. Die Kellerkneipen wurden oft von einer Witwe geführt, meistens waren es Hungerexis- 1906 gab es in der Caffamacherreihe mehr als sech- tenzen, das Mobiliar bestand häufig nur aus ein, zehn Wirtschaften und Restaurants, dies auch des- zwei Bänken, einem Tresen. Doch nach dem wirt- halb, weil nicht wenig Arbeiter diese Straße auf- schaftlichen Aufschwung in den 80er Jahren des 19. suchten – war doch eine Ecke weiter seit Jahrzehnten Jahrhunderts durch die Freihafenbauten stellte sogar in Nr. 15 [heute Ecke Specksplatz zum Specksgang der Senat fest, dass die Arbeiter nunmehr anspruchs- führend] das große Lokal von Salzen, das schon voller in Bezug auf ihre Stammlokale und Gastwirt- Ende der 1870er Jahre dem Hamburger Senat als schaften geworden seien, jetzt, in den 90er Jahren, Treffpunkt der Sozialdemokraten bekannt war. Im gab es Wirtschaften mit Klubräumen, meistens im Jahre 1906 befanden sich im gleichen Hause der Ar- Parterre, manchmal mit Räumen im 1. Stock, außer- beitsnachweis (Selbsthilfe-Arbeitsamt) der Sattler, dem mehrere große Restaurants, Bier-, Musik- und der Textilarbeiter, ebenso der Gewerkschaftsnachweis Festhallen, die von Arbeitern und ihren Vereinen (Gewerkschaftsbüro) der Maler/Lackierer und der genutzt wurden. Die Klubräume dienten auch als Sattler. Und in der Nr. 3 [heute Gelände des Axel- Zahl stelle für Beiträge zu den Gewerkschafts- und Springer-Verlags] residierte im Hinterhof die Poli- Unterstützungskassen, als Sammelstelle für Solida- klinik des „Vaterländischen Frauen-Hülfsvereins“, in ritätsspenden, zur Aufbewahrung von Büchern, Nr. 100 die „Allgemeine Kranken- und Sterbekasse“ Noten heften der Gesangsvereine und des Eigentums und die „Weibliche Kranken- und Sterbekasse“, sei- sonstiger dort regelmäßig tagender Gruppen. nerzeit waren das in der Regel Selbsthilfeeinrich- Kneipen hatten damals eine andere Funktion als tungen. Passenderweise residierte im gleichen Hause heute, besonders für Arbeiter. Wenn die Bürger über der „Zahnbehandler Hirsch“, der gleichzeitig ein Be- die „Trunksucht“ der Arbeiter sprachen, so betraf erdigungsunternehmen hatte! In dieser Straße lebten das nicht die Mehrheit, denn die meisten Arbeiter in den engen und bis zu vierstöckigen Häusern „klei- hatten gar nicht das nötige Geld. Auf die „Alkohol- ne Leute“ aller Berufe, vom kleinen Angestellten bis frage“, die von besorgten Sozialreformern und Ab- zum Schumacher, vom Postillion bis zur Wärterin. stinenzlern immer wieder erörtert wurde, antwortete CAFFAMACHERREIHE · Gastwirtschaften/Arbeiterkneipen 171 der Politiker Karl Kautsky (1854–1938), „dass das fest: „Es ist nicht verwunderlich, dass sich die beson- Wirtshaus das einzige Lokal ist, in dem die niederen ders Interessierten dadurch erstaunliche Kenntnisse Volksklassen frei zusammenkommen und ihre ge- aneigneten und im Diskutieren sehr gewandt wa- meinsamen Angelegenheiten besprechen können. ren.“ Ohne Wirtshaus giebt es für den deutschen Prole- In der Zeit der Jahrhundertwende waren Tausende tarier nicht blos kein geselliges, sondern auch kein Mitglieder der Gewerkschaften oder der sozialdemo- politisches Leben.“185) kratischen Partei, und natürlich waren ihre Stamm- Anders Hermann Molkenbuhr (1851–1927), später lokale diejenigen, in denen das sozialdemokratische Mitglied des Reichstags und im Vorstand der SPD. „Hamburger Echo“ (siehe S. 259) auslag. Er hielt das Trinken für problematisch: „Mancher Es gab auch Restaurants oder Wirtschaften, in denen Agitator trank mehr Schnaps, als es im Interesse sich die Anhänger anderer politischer Parteien tra- unserer Sache lag.“186) Aber er trat weder dem Gut- fen, aber für den Senat der Freien und Hansestadt templer-Verein noch dem Altonaer „Tugendbund“ Hamburg waren die Gespräche in Kneipen, in denen bei, der alle Schnapstrinker von Ehrenämtern der die Arbeiter über sozialdemokratische und gewerk- Par tei ausschließen wollte. schaftliche Angelegenheiten sprachen, von beson- Die meisten Arbeiter lebten in überfüllten, kleinen derem Interesse. Fürchtete man doch die revolutio- Wohnungen, und nach einem zehn- bis zwölfstün- nären und gleichmacherischen Tendenzen dieser digen Arbeitstag besuchte man oft – aber nicht im- „Umsturzpartei“. mer – sein Stammlokal, blieb eine knappe Stunde, Von 1878 bis 1890 war auf Bestreben Otto von Bis- trank einen Branntwein oder ein Bier und besprach marcks (1815–1898) das so genannte „Gesetz gegen die Ereignisse des Tages. So trafen sich abends, meis- die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialde- tens samstags, nachdem der Lohn ausgezahlt worden mokratie“ in Kraft gewesen, die Partei war verboten, war, Hunderte von Arbeitern in den Wirtshäusern ihre Führer und Funktionäre wurden aus Hamburg und Kneipen – und politisierten. Oder sie kamen in und Umgebung ausgewiesen. Treibende Kraft war der Woche zu Vereinsversammlungen, sei es der Ge- Preußen gewesen, denn der Preußischen Regierung werkschaften, der Partei, des Skat- oder Sparklubs, war die Gelassenheit, mit der der Hamburger Senat übten mit ihrem Chor. Das Politisieren gehörte dazu. einen von Preußen „für gefährlich erachteten Ver- Der Historiker Johannes Schult (1884–1965) stellt ein“ gewähren ließ, stets ein Dorn im Auge gewesen.

Caffamacherreihe 15/17: Lokal von Salzen, Anfang des 20. Jh. ein Treffpunkt der Sozialdemokraten. Postkarte

185 Ulrich Wyrwa: Branntwein und suchung zu dem Thema sein. „echtes“ Bier. Die Trinkkultur der 186 Ulrich Wyrwa, a. a. O., S. 132. Hamburger Arbeiter im 19. Jahrhun- dert. Hamburg 1990, S. 205. Die Arbeit Wyrwas dürfte die gründlichste Unter- 172 CAFFAMACHERREIHE · Gastwirtschaften/Arbeiterkneipen

Dennoch stärkte der wirtschaftliche Aufschwung Wahlrecht zur Bürgerschaft, keinen Vertreter im Rat- während der Zollanschlussbauten die gewerkschaft- haus hatten. Erst 1901 kam mit Otto Stolten (1853– lichen Zusammenschlüsse, Fachvereine genannt. 1828), der 1919 Zweiter Bürgermeister wurde, ein Über die Arbeit der Fachvereine konnte die SPD So zialdemokrat in die Bürgerschaft. So wurde im auch in der Verbotszeit neue Anhänger gewinnen Rahmen einer Polizeiorganisation eine „Vigilanz- und über nicht unbeträchtliche finanzielle Mittel truppe“ von Polizisten, die extra dafür geschult wur- für Wahlkämpfe verfügen. Tatsächlich überstanden den, aufgestellt, die, verkleidet als Arbeiter, turnus- Partei und Gewerkschaften die Verbotszeit gestärkt mäßig Kneipen und Wirtschaften besuchten, die – das sollte 1933 zu Illusionen über Dauer und Bru- Gespräche belauschten und darüber Berichte anfer- talität des NS-Systems führen. tigten. So schrieb der als Arbeiter verkleidete Polizist Als Zentrum der SPD-nahen Gewerkschaften war Erxleben über seinen Besuch in der Wirtschaft der Hamburg Sitz der 1890 gegründeten Generalkom- Witwe Günzlein, Caffamacherreihe 1 [Heute ist hier mission, des Zusammenschlusses der freigewerk- der Eingang in die Axel-Springer-Passage.] im Jahre schaftlichen Verbände. Nach dem Fall des Sozialis- 1897: „Mehrere Gäste sprachen über die Stadthagen- tengesetzes im Jahre 1890 wurden, wie schon vor sche Zeitung und die heutigen Kriege. Der eine: Der der Verbotszeit, die Versammlungen der SPD – und Krieg würde zurzeit weit mörderischer sein als in andere politische Veranstaltungen auch – von Poli- den früheren Jahren, weil die Waffen schon dazu zisten in Uniform überwacht. Versammlungen fanden hergerichtet sind, mehrere Menschen auf einmal zu in Klubzimmern größerer Wirtschaften – deren Wirte vernichten. Der andere: Dies sei nicht der Fall. Weil natürlich Parteimitglieder waren – oder auch in gro- die Geschosse heute eine weit größere Durchschlags- ßen Festhallen statt (siehe dazu S. 67 „Sagebiel“ und kraft besitzen, gehen sie durch mehrere Menschen- S. 165 „Tütge’s Etablissement“). körper hindurch, ohne steckenzubleiben und ge- Seit 1892 begnügte sich die Hamburger Polizeibe- fährlich zu verletzen, wenn nicht gerade die edelsten hörde jedoch nicht mehr nur mit der Überwachung Teile getroffen werden. Der Krieg von 1870/71 sei der Versammlungen. Zu groß war die Angst vor lange nicht so mörderisch gewesen als der Sieben- Aufruhr, und man wollte mehr wissen über die jährige Krieg und der Dreißigjährige Krieg.“187) „Hetze gegen die Obrigkeit und die besitzenden In der Wirtschaft Meyer, Holstenplatz (heute: Johan- Klas sen“. Nahm doch die Unruhe unter den Arbei- nes-Brahms-Platz) Nr. 2 notierte der Spitzel ein 1893 tern zu, da sie noch immer, benachteiligt durch das geführtes Gespräch über die ein Jahr zuvor ausge-

Blick vom Valentins- kamp in die Caffa - machereihe in Richtung Axel-Springer-Passa- ge. So sieht heute der Teil der Caffamacher- reihe aus, in dem es zu Beginn des 20. Jh. viele Arbeiterkneipen gab, in denen über Politik und das Weltge- schehen diskutiert wurde. Photo: Marina Bruse

187 Richard J. Evens (Hrsg.): Knei- pengespräche im Kaiserreich. Stimmungsberichte der Hamburger Po- litischen Polizei 1892–1914. Reinbek 1989. CAFFAMACHERREIHE · Gastwirtschaften/Arbeiterkneipen · Mädchenhandel 173 brochene Choleraepedemie: „(…) dass schon vor „Mille fleurs“, Otto Hörnkes, u. a. Hamburger Ballett- mehreren Jahren eine andere Einrichtung von Trink- tänzerinnen aus der Nachwuchsschule der „Ham- wasser geschafft werden sollte, jedoch sei es in burgischen Staatsoper“, darunter auch eine junge Hamburg immer sehr langwierig, ehe solches in Balletteuse, die bei ihren Eltern in der Caffamacher- Angriff genommen würde. Hieran könne man wie- reihe wohnte und deren Wohnung ein Treffpunkt der sehen, dass zu viele Köpfe in der Hamburger von „Hamburgs kümmerndem klassischem Ballett- Regierung seien, die etwas zu befehlen haben, (…) nachwuchs“ war, unter „Vorspiegelung eines lang- die Cholera sei jetzt so ziemlich vorbei und folglich fristigen honorigen Auslands-Engagements in die sagt die Bürgerschaft: ‚Nun trinkt man das Wasser Sackgasse des internationalen Mädchenhandels ruhig weiter.‘ (…) Ebenso langwierig würde von Sei- führen wollte“.190) Versprochen hatte der Herr den ten des Staates mit dem Bauen von Arbeiterwohnun- jungen Damen Auftritte im exklusiven Mailänder gen vorgegangen (…).“188) Edel-Varieté „Odeon“. In Wirklichkeit sollten die Noch interessanter fanden die „Offizianten“, wie sie Bal letteusen „nach Marokko in die Fremdenlegio- genannt wurden, die Äußerungen einiger Arbeiter närsbordelle von Meknes und Sidi-bel-Abbés ge- anlässlich der Einweihung des Neuen Rathauses schleust werden“.191) Zuvor mussten sie aber noch 1897. Da sei doch gesagt worden, dass bei der Ein- im Mailänder Embassy-Nachtklub auftreten. Um sie weihung hauptsächlich das Fressen und Saufen eine für die Prostitution gefügig zu machen, wurden die ganz hervorragende Rolle spiele, dass dies die be- Frauen geschlagen. Glücklicherweise konnten die treffenden Herren ja kein Geld koste, sondern auf jungen Frauen flüchten und Hilfe beim deutschen die Taschen der Steuerzahler gehe. Außerdem: „(…) Generalkonsulat suchen (siehe zum Thema Prosti- damit die Herren mit ihren versoffenen Bierschädeln tution auch S. 129). ausschlafen können, würde doch auf alle Fälle die Nach diesem Vorfall war der Präsident der „Inter- Bürgerschaftssitzung am Mittwoch ausfallen. Triebe nationalen Artistenloge“, deren Sitz in Hamburg am sich ein Arbeiter in eben dem angetrunkenen Zu- Besenbinderhof 56 war und die sich um die arbeits- stand in den Straßen umher, dann würde ein Wesen rechtlichen und gewerkschaftlichen Interessen von gemacht, wer weiß nicht wie.“189) Artisten, Tänzerinnen etc. kümmerte, alarmiert und Vor allem interessierte die Polizeiführung sich jedoch erklärte: „Das Schönheitstanzen [barbusiges Tan- für alle Äußerungen über das Bürgerschaftswahl- zen] von Jugendlichen ist eine Nachkriegsseuche, recht, die innere Verfassung und die Aktivitäten die vor allem in Deutschland grassiert. Ich kenne in bzw. zukünftigen Absichten der Sozialdemokrati- Hamburg Nachtkabaretts, in denen sich fünfzehn- schen Partei. Insgesamt rund 20 000 solcher Spit- jährige Mädchen mit Einwilligung ihrer Eltern halb- zelberichte wurden zwischen 1892 und dem Ersten nackt zur Schau stellen dürfen.“192) Jugendlichen Weltkrieg angefertigt. war zwar der Besuch von Varietés nicht erlaubt, je- Text: Helga Kutz-Bauer doch mit Einwilligung der Eltern durften Jugendliche aktiv an Nuditätsveranstaltungen teilnehmen. Im Fall des Herrn Hörnkes hatte auch die „Interna- „Verschleppt nach Marokko“: tionale Artistenloge“ versagt, denn gutgläubig hatte Mädchenhandel sie die von Hörnkes vorgelegten Verträge mit Nacht- klubs abgezeichnet, so dass Otto Hörnkes sich von Ein auch heute aktuelles Thema machte das Maga- nun an „Ballettmeister“ nennen und als seriöser zin „Der Spiegel“ in seiner 44. Ausgabe vom 31. Ok - Ma nager auftreten konnte. Dies wiederum veran- tober 1951 zur Schlagzeile. Unter dem Titel: „Mäd- lasste die Eltern der Mädchen, ihren Töchtern die chenhandel. Blonde Ware für Marokko“ war zu Erlaubnis zum Auftritt in Nachtklubs zu geben. lesen, dass der Impresario des Jungmädchenballetts

188 Richard J. Evens, a. a. O., S. 86f. 191 ebenda. 189 Staatsarchiv Hamburg, Akte S 192 ebenda. 3930-23, 26.10.1897. 190 www.spiegel.de/spiegel/printd- 29195003.html 8.5.2010. 174 VALENTINSKAMP/ECKE CAFFAMACHERREIHE · „Concertsaal Auf dem Kamp“

Entrée, oder auch vorgängig bey Herrn Hartmann 47. STATION Graff [1727–1795], wohnhaft bey dem Goldschmie- Valentinskamp/ de Imstock in der großen Johannisstraße zu bekom- Ecke Caffamacher- men.“194) reihe Bei solchen Großereignissen waren auch damals (alte Adresse: Auf dem schon Verkehrsstaus vorprogrammiert. Um dem vor- Kamp Nr. 4) zubeugen, vermerkte der „Hamburger Correspon- „Concertsaal Auf dem Kamp“ dent“: „Weil es auch zur Bequemlichkeit der Herr- (Standort: 1761–1804) schaften, damit dieselben mit ihren Kutschen nicht aufgehalten werden, wegen des ermangelnden Plat- zes, ganz notwendig erforderlich ist, daß die Einfahrt Um 1760 hatte der Baumeister und Bodenspekulant der Kutschen sowohl beym Anfange, als bey Endi- Jochen Nicolassen unbebaute Gärten auf dem Kamp gung des Concertes nur allein von der Seite des erworben, mit ca. 30 kleinen Häusern bebaut und Kampes, die Ausfahrt nur allein von der Seite der inmitten des neubebauten Gartenlandes den ersten großen Dreybahn genommen werde; so wird die ausdrücklich für öffentliche Konzerte gebauten Saal, Verfügung gemacht werden, daß bey den Einfahrten den „Concertsaal Auf dem Kamp“, wie damals der die Kutschen dazu gehörig angewiesen werden; und Valentinskamp hieß, errichtet. Heute steht an der werden demnach alle und jede Herrschaften nach Ecke Caffamacherreihe/Valentinskamp auf der Stra- Standes-Gebühr hiermit ganz gehorsamst ersuchet, ßenseite zum „Unilever/Emporio-Haus“ das 1980/ ihren Domestiquen anzubefehlen, daß sie in Anse- 83 erbaute Berolina-Backsteinbürohaus. hung des Ein= und Ausfahrens sich nach obge- Auf diesem Areal, von der Straße „Drehbahn“ be- dachter Anweisung richten mögen.“195) grenzt, führte der Eingang zum Saal über den Kon- „Nicht [Georg Philipp] Telemann [1681–1767] als zerthof, der über zwei Eingänge verfügte. Mitten amtierender Musikdirektor [eröffnete] den Saal, son- im Konzerthof stand das Konzerthaus/der „Concert - dern der zum damaligen Zeitpunkt noch unbekannte saal“. Mit diesem Gebäude hatte Hamburg „einen Friedrich Hartmann Graf. (…) Graf war sowohl Kom- modernen, beheizbaren Ort für Musikaufführungen, ponist als auch Flötist und Sänger und hielt sich seit der von Anfang an als Konzertstätte konzipiert wor- 1759 in der Hansestadt auf. Er hatte nicht nur die den war. Die Akustik des Saals wurde gerühmt und musikalische Leitung dieses Eröffnungskonzerts es hieß, dass dort 20 Instrumentalisten mehr bewir - inne, sondern organisierte auch den gesamten Ablauf ken konnten als andernorts 30.“193) sowie den Vorverkauf der Einrittskarten. Es darf ver- Zur Eröffnung des „Concertsaals“ am 14. Januar mutet werden, dass Graf beabsichtigte, durch dieses 1761 hieß es im „Hamburger Correspondenten“: Eröffnungskonzert die Möglichkeit zu erlangen, eine „Den Liebhabern der Tonkunst wird hierdurch be- eigene Konzertreihe ein zurichten. Er benötigte dazu kannt gemacht, daß am bevorstehenden Mittewo- die Zustimmung des Rates (…). chen, als am 14ten dieses Monates, in einem zur Nachdem Graf zunächst die Erlaubnis bekommen Musik neuerbauten, auch zur erforderlichen Wärme hatte, vom 14. Januar 1761 bis zur ersten Fastnacht- bequem eingerichteten geräumigen Saale, belegen woche Konzerte zu veranstalten, wurde ihm am auf dem Kampe, in der Mitte der daselbst neuer- 25. Februar 1761 die Frist um die Fastenzeit verlän- bauten Häuser, ein vollstimmiges Concert in Instru- gert. Seine Konzertreihe dauerte bis 1764 an, dann mental- und Vocal-Musik aufgeführet werden, und je doch verließ Graf die Stadt wieder. der Anfang des Nachmittags praecise um 6 Uhr ge- Dass Friedrich Hartmann Graf die Erlaubnis erteilt macht werden soll. Für den Eingang wird eine Mark worden war, auch in der Fastenzeit Konzerte zu 8 Sl. gezahlt und sind die Billets entweder bey der veranstalten, missfiel dem Oberhaupt der Hambur-

193 Sonja Esmyer: Hamburger Kon- Magisterarbeit. Lüneburg 1996, S. 23. zertstätten von der Mitte des 18. bis 194 „Hamburger Correspondent“, Nr. Anfang des 20. Jahrhunderts vor dem 6. Am Sonnabend, den 10. Januar Hintergrund der Entwicklung des öf- 1761. fentlichen Hamburger Konzertwesens. 195 ebenda. VALENTINSKAMP/ECKE CAFFAMACHERREIHE · „Concertsaal Auf dem Kamp“ 175 gischen Kirche Johann Melchior Goeze [1717–1786]. Künstlern zu rathen, kein Concert zu geben, ehe (…) Es heißt, der konservative Pastor hätte alles durch Sub scription oder vorläufige Unterbringung ver sucht, um die Erlaubnis des Senats, dem das Geist- von Billeten, die Kosten gedeckt seien. Viele aus- liche Ministerium unterstellt war, in Frage zu stellen. wärtige Künstler versuchen daher, zunächst in So wollte er in einem Schreiben an den Ratssyndicus Privatconcerten sich hören zu lassen, um Stimmung Jacob Schuback [1728–1784] seine Abneigung gegen zu machen, das heißt die Gemüther und besonders so genannte weltliche Lustbarkeiten deutlich ma- die Abnahme einer das Concert pekuniär sichernden chen und zumindest eine ausführliche Ankündigung Anzahl von Billeten zu gewinnen. Diese von Priva- der Konzerte unter Verwendung der Betitelung ten in ihren Wohnungen veranstalteten Concerte Passionsstück fordern. Doch er stieß bei Schuback, florierten besonders in den neunziger Jahren; sie der selbst komponierte, dirigierte und Klavier spielte, begannen erst nach Schluß des Theaters und en- auf Widerstand. Schuback verteidigte sogar die Auf- digten selten vor Mitternacht.“198) führung anderer Musikgattungen. Er hielt es nicht Am 17. Dezember 1794 eröffnete die aus Brüssel für nötig, ausschließlich Passionsstücke aufzufüh- geflüchtete französische Hofschauspielergesellschaft ren“,196) schreibt Sonja Esmyer in ihrer Magisterar- hier ihre Bühne. 1797 zog die Truppe in das „Fran- beit über die Hamburger Konzertstätten von der zösische Theater“ an der Drehbahn (siehe S. 62). Mitte des 18. bis Anfang des 20. Jahrhunderts. Nach dem Bau des „Apollo Saals“ (siehe S. 64) wur- Im „Concertsaal auf dem Kamp“ war die Vielfalt da - de das „Concerthaus“ geschlossen. Das Gebäude maligen Musiklebens zu erleben. Passionsoratorien und auch die Wohnungen im Konzerthof dienten („Tod Jesu“), Kantaten („Ino“, „Die Tageszeiten“), 1813/1814 während der Napoleonischen Herrschaft Opernauszüge und Instrumentalmusik-Konzerte wur- als Militärlazarett und ebenso als Kaserne für die den von Hamburger und reisenden Virtuosen und Kavallerie und Artillerie, deren Pferde im Dragoner- Virtuosinnen, Sängerinnen und Sängern und Ensem- stall (siehe S. 140) standen. 1914 wurde der Kon- bles dargeboten, die auch außergewöhnliche Instru- zerthof als Garage und Werkstatt der Hamburger mente wie Carillons und Glockenspiele vorführten. Elektrischen Droschken-Automobilgesellschaft ge- Doch das Konzertleben wurde nicht öffentlich ge- nutzt und ist dann später abgerissen worden. fördert, die Künstlerinnen und Künstler mussten Text: Birgit Kiupel meist auf eigene Rechnung reisen und auftreten. Sie hatten nicht nur die Klaviatur der Kunst, sondern auch die der Selbstvermarktung zu beherrschen. „Die Concerte ver - ursachten bedeutende Auslagen; so führt der Hamburger Referent der Leipziger Allgemeinen Musi- kalischen Zeitung im zweiten Jahr- gang von 1799 aus, dass das Or- chester allein schon, wenn es auch nur mäßig besetzt werde, einige hundert Mark koste“, schreibt Jo- sef Sittard 1890 in seiner „Ge- schichte des Musik = und Con- 197) certwesens“. Und weiter heißt Das 1761 erbaute Concerthaus auf dem Kamp. Zeichnung aus einem es bei ihm: „Es sey deshalb den Zeitungsartikel. Staatsarchiv Hamburg

196 Sonja Esmyer a. a. O., S. 24f. 197 Josef Sittard: Geschichte des Mu- sik=und Concertwesens. Hamburg 1890, S. 83. 198 Josef Sittard, a. a. O., S. 83f. 176 VALENTINSKAMP 57 beim GÄNSEMARKT · Bar „Bohème“/ Das Tanzverbot

Obwohl jahrelang geduldet, wenngleich nicht unbe- 48. STATION dingt gern gesehen, wurde Männern 1961 auch in Valentinskamp 57 Hamburg das Tanzen mit einem gleichgeschlechtli- beim Gänsemarkt chen Partner verboten. Ältere Zeitzeugen beschuldi- (alte Nummerierung) gen bisweilen sehr heftig den damaligen Innensenator Bar „Bohème“ (Standort bis Helmut Schmidt [geb. 1918], den Homosexuellen das 1964/65): Das Tanzverbot (1961) Tanz-Vergnügen genommen zu haben. Diesen Ge- rüchten steht andererseits die Tatsache gegenüber, dass das Tanzverbot im Oktober 1961 gerichtlich be - In einer Anzeige aus dem Jahre 1958 präsentierte stätigt wurde und Helmut Schmidt erst nach der die intime Bar „Bohème“ ihre Öffnungszeiten: täg- Bürgerschaftswahl am 12. November 1961 Innense- lich zwi schen 17 und 4 Uhr nachts, sonnabends nator wurde. Insofern hat er mit der Einführung des von 17 bis 6 Uhr morgens und sonntags ab 16 Uhr Tanzverbotes nichts zu tun. Andererseits hat er nach Tanztee. Amtsantritt allem Anschein nach auch nichts unter- „Rüdiger Trautsch erinnert sich an das Lokal: ‚Erst nommen, um diese Art der Diskriminierung von Ho- nach dem Klingelzeichen öffnete sich die dunkle mosexuellen rückgängig zu machen. Als oberster Tür. Zwischen den schweren Portieren stand sie da Dienstherr der Innenbehörde unterstand ihm auch – sumpfdottergelbe Löckchen umrahmten ein rosa die Polizei, und hier hätte er durchaus seinen Ein- gepudertes, altersloses Gesicht. Eine kleine, schnee- fluss geltend machen können. weiße Kellnerinnen-Schürze auf schwarzem Kleid Wie kam es zu diesem Tanzverbot? 1961 stellten Po- löste sie von dem diffusen Hintergrund. Unbekannte lizeibeamte der Abteilung KK II D 4 bei einer routi- Besucher hatten ihre kritischen Blicke aus kleinen nemäßigen Überprüfung von 34 Freundschaftslokalen blauen Augen zu bestehen, ehe ein weiteres Ein- fest, dass ‚in geradezu widerwärtiger Weise die Män- dringen in den nur spärlich beleuchteten Klubraum ner in diesen Lokalen miteinander tanzen.‘200) möglich wurde. Ja, man musste erst einmal an die- Auf Grund des Berichtes erteilte das Wirtschafts- ser Institution vorbei, die heute durch Guckloch und Ordnungsamt Hamburg-Mitte in einem Präze- und Kamera Ersatz findet, denn schließlich soll hier denzfall den Inhabern des Lokals ‚Bohème‘ am Va- Gustaf Gründgens [1899–1963] verkehrt haben. Ver- lentinskamp die Auflage, das Tanzen zukünftig nicht einzelt saßen rosige Herren, meist mittleren oder mehr zu dulden. Wie von der Behörde erwartet, höheren Alters, in behäbige Sessel gesunken; auf klagten die Wirte gegen diese Reglementierung. Da- jedem der beigestellten zierlichen Tischchen ein raufhin kam es zum Prozess beim Verwaltungsge- Telefon. Die Szenerie war seltsam nett und welt - richt, das in einem Urteil vom 26. Oktober 1961 fest- entrückt. Wir haben noch nicht September 1969. stellte, ‚daß der Tanz unter Männern, wie er in den Man hörte nicht selten von Prozessen gegen Homo- Homo-Lokalen zelebriert wurde, gegen die guten sexuelle, die bei Liebe im Grünen erwischt oder Sitten verstoße‘.201) später erpresst wurden. Bei Sahnetorte und Kaffee, Damit wurde die Auffassung des Wirtschafts- und Klatsch über Opernpremieren, das ewige Wer-mit- Ordnungsamtes bestätigt. Seitdem durften Männer wem, wur den solche Vorkommnisse als Neuigkeit in der Freien und Hansestadt Hamburg nicht mehr mit Schauer und erhobenem Zeigefinger angese- miteinander tanzen! Viele Bars und Lokale kamen hen.‘199) dadurch in finanzielle Schwierigkeiten, weil die Gäste Zu traurigem Ruhm gelangte das ‚Bohème‘ 1961: fortblieben. Das berühmte und immer sehr gut be- Das Wirtschafts- und Ordnungsamt Hamburg-Mitte suchte Stadtcasino [am Großneumarkt 1/Ecke Alter untersagte den Homosexuellen dieses Lokals als Ers - Steinweg] schloss Anfang 1962 für immer seine Tü- ten das Tanzen. ren. Einige Lokale versuchten das Tanzverbot zu um-

199 W. Voigt/K. Weinrich: Hamburg Band 2 (Chronik der Kriminalinspek- ahoi! Der schwule Lotse durch die tion Sitte) vom 26.1.2005. Hansestadt. Berlin 1982. 201 ebenda. 200 Staatsarchiv Hamburg, Auskunft aus 331-1 III Polizeibehörde III 15 VALENTINSKAMP 57 beim GÄNSEMARKT · Bar „Bohème“/ Das Tanzverbot 177 VALENTINSKAMP 274 · Erste lithographische Anstalt

gehen, indem sie einen Türsteher anstellten, der im Männern aus Hamburg, Kassel, Braunschweig, Han- Falle einer Razzia die Gäste warnte. Diese konnten nover, Göttingen und aus dem Umland. Bei der Rück- dann getrennt voneinander weitertanzen. Das Verbot fahrt um 22 Uhr waren die Busse meistens halb leer, bezog sich nämlich nur auf beim Tanzen sich be- weil viele dort Freunde kennen gelernt und sich da- rührende Männer. Obwohl die Polizisten ahnten, für entschieden hatten, erst am nächsten Tag zu- was sich tatsächlich abspielte, konnten sie nichts rückzufahren. Die Hannover-Touren waren eine auf- unternehmen. wändige, aber lohnende Werbung für das neu-Stadt- Werner Landers (genannt Therese) und seine Mutter, Casino. die das neu-Stadt-Casino im Oktober 1963 eröffnet Allmählich wurde das Tanzverbot durch neue Musik hatten,202) bezahlten 1800 Mark Strafe, weil sie ge- und neue Tanzstile uninteressant, da sich die jungen gen das Tanzverbot verstoßen hatten. Die beiden Leute beim Shake etc. ohnehin nicht anfassten. fanden eine clevere, aber nicht ganz einfache Lö- Wann – und ob – das Tanzverbot abgeschafft wurde, sung: Einmal im Monat organisierten sie eine Fahrt kann nicht festgestellt werden, da die Gerichtsent- mit zwei oder drei Bussen à 60 bis 70 Personen nach scheidungen nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist Hannover ins Wielandseck, wo das Tanzen zwischen vernichtet wurden und Behördenakten entweder Männern nach wie vor erlaubt war. Die Hin- und ebenfalls dem Reißwolf zum Opfer gefallen sind Rückfahrt kostete 10 Mark, kein hoher Preis für die oder wegen der einzuhaltenden Schutzfristen noch Entfernung. Unterwegs wurde auf einem Autobahn- nicht eingesehen werden können.“ parkplatz eine Pause eingelegt. Auf mitgebrachten Text mit freundlicher Genehmigung der Autoren aus: Klappstühlen und an weiß gedeckten Camping - Bernhard Rosenkranz, Gottfried Lorenz: Hamburg tischen saßen die Gäste und bekamen Getränke ser- auf anderen Wegen. Die Geschichte des schwulen viert. In Hannover boten die Bars Kaffee und Kuchen Lebens in der Hansestadt. 2. überarb. Aufl., Hamburg 2006, S. 99–100, und S. 104. kostenlos an. Die Lokale waren brechend voll mit

deutschland: „Hamburger Steindruckerei Speckter & 49. STATION Herterich“. Ab 1829 firmierte die Firma unter dem Valentinskamp Namen „Speckter & Co.“. 1830 zog die Firma in die 274 Carolinenstraße. (alte Nummerierung) Johann Michael Speckter war auch Sammler und Erste lithographische Anstalt Händler von Kupferstichen, die später den Grund- in Norddeutschland: Johann stock für das Kupferstichkabinett der Hamburger Michael Speckter (18. Jh.) Kunsthalle bildeten. In der Steindruckerei waren auch Speckters Söhne Erwin (1806–1835) und Otto (1807–1871) als Zeich- 1818 gründete der Kaufmann Johann Michael Speck- ner und Illustratoren beschäftigt. Letzterer über- ter (1764–1845) zusammen mit dem Maler Heinrich nahm 1834 den Betrieb seines Vaters und wurde Herterich (1772–1852) in seinem Haus am Valentins - durch seine Lithographien in Hamburg sehr be- kamp eine Steindruckerei. Heinrich Herterich hatte kannt. die neue Kunst des Steindrucks in München erlernt, und Speckter hatte sich beim Hamburger Senat ein „ausschließliches Privilegium“ für zehn Jahre be- sorgt. So ausgerüstet gründeten beide am Valentins - kamp 274 die erste lithographische Anstalt in Nord-

202 Staatsarchiv Hamburg, Zentralge- werbekartei. 178 ST. ANSCHARPLATZ 1 und 2 · Deutsch-reformierte Kirche

ner in seinem Buch „Zum Wilhelminischen Ham- 50. STATION burg zwischen Gänsemarkt und Justizforum“. St. Anscharplatz Die Anfänge der Deutsch-reformierten Kirche am 1 und 2 St. Anscharplatz finden sich im 18. Jahrhundert. (alte Nummerierung) Als 1713 in Altona die Pest ausbrach, wurden Ham- Um 1859 benannt nach Ansgar (801–865), burgs Tore versperrt. So konnten die Hamburger Re- dem christlichen Missionar des Nordens. formierten nicht mehr zum Gottesdienst in das libe- Deutsch-reformierte Kirche (Standort: Anfang rale Altona gehen, wo sie an der Kleinen Freiheit 18. Jh.–1857); St. Anschar-Kapelle (Standort: ihre Kirche hatten. „Sie begaben sich deshalb unter 1860–Ende der 60er Jahre des 20. Jh.); Atelier- den Schutz des holländischen Gesandten in Ham- haus-Projekt (Standort: 1932–zur Zerstörung im burg, kauften ein schon 1610 erbautes Haus am Va- 2. Weltkrieg, Wiederherrichtung, Abriss Ende der lentinskamp und ließen dieses zur Wohnung des 90er Jahre des 20. Jh.) Gesandten mit einer Kapelle einrichten, in der an- fänglich abwechselnd in holländischer und in deut- scher Sprache gepredigt wurde (…).“204) Deutsch-reformierte Kirche Das Haus war so beschaffen, dass man das Unter- geschoss in den Garten hinein ausbauen konnte. Vom Valentinskamp in Höhe des Hauses Nr. 20 führt Die übrigen Räume standen dem holländischen Ge- ein Durchgang zum St. Anscharplatz. „Ende der 60er sandten zur Verfügung, der hier gegen eine gerin ge Jahre des 20. Jahrhunderts wurde das Gelände, wel- Miete lebte. Die Gottesdienste galten als Privat gottes - ches durch den Zweiten Weltkrieg kaum zerstört diens te des Residenten in seinem Haus am Valen- worden war, saniert: Die aus dem neunzehnten tinskamp. Jahrhundert stammende St. Anschar-Kapelle wurde Wie missliebig Hamburgs Lutheraner auf die Refor- abgerissen, „(…) der 1986 wichtige Teile des dazu- mierten sahen, zeigt ihr Unmut, den sie 1714 gegen- gehörenden neugotischen, zuletzt von einer Hoch- über der Erweiterung des Kirchensaals, in dem nun schule genutzten Krankenhauses folgten. Dieses Ge- 500 Personen dem Gottesdienst beiwohnen konnten, bäude umschloss einen Hof mit einigen hohen alten bekundeten. Auf ähnliche Weise äußerten sie sich Bäumen und hatte ein ruhiges idyllisches Fleckchen auch gegenüber einer 1719 durchgeführten Vergrö - inmitten der Stadt gebildet,“203) schreibt Ralf Weg- ßerung einer katholischen Kapelle am Krayenkamp und erinnerten dabei an den Erweiterungsbau der reformierten Gemeinde am Valentinskamp. Man hielt den Reformierten vor, „dass das große Gebäude in dem Garten zu einer recht formalen Kirche mit allen Stücken, so bei und in den Kirchen aller Orte, wo Calvinisten öffentliche Kirchsversammlung haben, adaptiert worden, [sei] desgleichen auch beim hol- ländischen Residenten anzutreffen und halten sich (...) zu derselben nicht nur 100, son dern 1000 Per- sonen, welche mit etlichen 40 bis 50 Kutschen Sonn- tags und Donnerstags zusammenkommen, die in dieser Stadt angesetzten, in evangelischen Kirchen Lage der Deutsch Reformierten Kirche am St. Anschar- zu celebrierenden Buß-, Bet- und Fast tage eben zu platz. Kartenausschnitt aus: Hamburg gezeichnet und gestochen von Leo Müller. Hamburg [ca. 1830]. der Zeit und Stunde, da die Evangelischen in ihren Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Kt H 22 Kirchen versammelt sind (…).“205)

203 Ralf Wegner: Zum Straßennamen. Bremen 2001, S. 248. wilhelminischen Hamburg zwischen 205 Zit. nach: Rudolf Hermes: Aus Gänsemarkt und Justizforum. der Geschichte der Deutschen evange- Hamburg 1990, S. 21. lisch-reformierten Gemeinde in Ham- 204 Reinhold Pagel: Alte Hamburger burg. Hamburg 1934, S. 135. ST. ANSCHARPLATZ 1 und 2 · Deutsch-reformierte Kirche · St. Anschar-Kapelle 179

„Schließlich kam es sogar zu einem Ratsbeschluss, de die St. Anschar-Kapelle erbaut, deren Einweihung der ‚fremden Religionen‘ die Religionsausübung un- am 27. März 1860 erfolgte. In der Kapelle wurden ter dem Schutz von Residenten bei Strafe verbot. evangelisch-lutherische Gottesdienste und Versamm- Die Reaktionen der betroffenen Staaten, nämlich lungen der Inneren Mission abgehalten. Eine Tren- Preu ßen (für die Französisch-reformierte Gemeinde) nung der Ge schlechter auf den Kirchenbänken fand und der Generalstaaten, war schnell und eindeutig. nicht statt, denn die Familien sollten zusammensit- Beide wiesen auch auf die Duldung von Lutheranern zen können. in reformierten Gebieten hin. Der Status quo blieb Einer der exponiertesten Prediger an der St. An- erhalten“,206) heißt es in dem Buch „Evangelisch- schar-Kapelle war der Pastor und Schriftsteller reformierte Kirche in Hamburg 1588–1988“. Carl Wilhelm Theodor Ninck (1834–1887). Er „Erst als 1785 die öffentliche Anerkennung der Ge- wurde im Dezember 1872 an St. Anschar zum meinde mit Erteilung der Konzession kam, (…) er- Prediger gewählt und trat sein Amt im März 1873 hielt [die Gemeinde] die freie Verfügung über ihr an. Zuvor hatte er eine Arbeiterkolonie gegründet Ei gentum [das Haus am Valentinskamp]. Als ein und die diakonische Anstalt Scheurern bei Nassau neuer Pastor Scheiffler gewählt war, zog er als erster zu einer Behinderteneinrichtung ausgebaut. Mit Prediger in das Haus am Valentinskamp ein, das Theodor Ninck, der neben seiner Tätigkeit als Pas- nun Pfarrhaus geworden war.“207) tor auch die Herausgabe des Blattes „Der Nachbar Am 18. Januar 1857 fand der letzte Gottesdienst Hamburg. Ein christliches Volksblatt für Stadt und am Valentinskamp statt. Wegen Baufälligkeit musste Land“, durch das die Ideen der Inneren Mission die Kirche abgerissen werden. Die reformierte Ge- verbreitet werden sollten, übernommen hatte, meinde ließ eine neue Kirche an der Ferdinandstraße wurde die Anschar-Kapelle „ein Mittelpunkt der errichten. Inneren Mission (…). Den Grund hierzu hatte schon Nincks Vorgänger, der Pastor Wil helm Baur St. Anschar-Kapelle [1826–1897], (…) durch die Gründung eines An- schar-Armenvereins gelegt; eine Volksschule be- Im selben Jahr kaufte der „Verein für Innere Mission“ stand in dem Erdgeschoss der Capelle, eine Sonn- der Deutschen-reformierten Gemeinde den Garten tagsschule und eine Kleinkinderschule hatten sich auf dem Valentins- kamp plus Haus und den früher als Kirche benutzten Gebäuden ab. Auf dem angekauf- ten Platz wollte die In- nere Mission eine Ka- pelle und eine Schule nebst Lehrerwohnung errichten. Und so wur-

„Gruss“ vom Anschar- platz mit St. Anschar Kapelle, St. Anschar Schule und Diakonis- senheim Bethlehem. Postkarte Anfang 20. Jh.

206 Evangelisch-reformierte Kirche in Hamburg 1588–1988. Hamburg 1988, S. 33. 207 Rudolf Hermes, a. a. O., S. 134. 180 ST. ANSCHARPLATZ 1 und 2 · St. Anschar-Kapelle · Atelierhaus-Projekt

gebildet; ein Asyl für gefährdete junge Mädchen war errichtet. In diese Arbeit trat N. ein. (…) Um Helferinnen für die Pflege der Kranken und Ar- men zu gewinnen, wurde die weibliche Diakonie weiter ausgebildet. Auf dem Anscharplatz wurde ein Diakonissenhaus, Bethlehem genannt, für zehn

Gottesdienste in der St. Anschar-Kapelle

„Die Kirchenbesucher werden freundlich und drin- gend gebeten, sich doch pünktlich beim Beginn des Gottesdienstes, und nicht erst während des Gesan- ges in der Kapelle einzufinden. 1. Der Morgengottesdienst beginnt um 9 ½ Uhr. 2. Der Kindergottesdienst beginnt um 2 Uhr Mittags. (…) 3. Der Abendgottesdienst beginnt jeden Sonn- und Feiertag abends um 7 Uhr. Es wird freundlich gebeten, die Sonntagstexte vorher durchzulesen und womöglich die Bibel mit in die St. Anschar Kapelle. Staatsarchiv Hamburg Kirche zu bringen. Tageskalender: Sonntagabend 8 Uhr: Versammlung des Männerver- Pflegerinnen errichtet, das 1881 für 40 Diakonissen eins im Kirchensaal der Anscharkapelle, des Jüng- und auf vier Krankenzimmer für weibliche Kranke lingsvereins Valentinskamp 16, des Jungfrauenver- und Kinder erweitert wurde. Die ‚Bethlehem-Schwes- eins im Diakonissenhause. tern‘ wurden aber außer zur Krankenpflege auch Dienstagabend 7 Uhr: Bibelstunde (Am 1. Dienstag zur Beaufsichtigung der Kinder in der ‚Krippe’ und im Monat immer Missionsstunde). Es werden in im ‚Kinderheim’ und mehrere nach bestandenem den Missionsstunden auch Gaben für die Norddeut- Examen als Lehrerinnen in der Mädchenschule von sche-, Leipziger und Hermannsburger Mission ent- St. Anschar verwandt.“209) gegengenommen, doch wolle man dieselben in Pa- Als das Grundstück am St. Anscharplatz mit den pier einschlagen (…). Gebäuden der Inneren Mission bebaut war und es Donnerstagabend 8 1/2 Uhr: Bibelbesprechung für hier keine Erweiterungsmöglichkeiten mehr gab, Männer und Jünglinge im Kirchensaal. Alle Männer konnte durch eine Spende von Emilie Jenisch (1838– und Jünglinge sind herzlich willkommen und wollen 1899), die damals am Neuen Jungfernstieg, also dazu ihre Bibel mitbringen. in der Nähe des St. Anscharplatzes, wohnte (siehe Freitagabend 8 Uhr: Vorbereitung auf den Kinder- S. 264), eine Fläche von achtzehn Morgen Land an gottesdienst im Kirchensaal. der Anscharhöhe in der Tarpenbekstraße (heute in Sonnabendabends 8 Uhr: Gebetsstunde im Saale Hamburg-Eppendorf) gekauft werden, um hier ein des Diakonissenhauses. Altenheim, eine Kirche, eine Erholungsstätte für Dia- Pastor Ninck hat jeden Tag mit Ausnahme des Sonn- konissen etc. zu erbauen. abends von 12–1 Uhr Sprechstunde, am Sonntag und Dienstagabend von 8 Uhr ab ‚offenen Abend‘.“208)

208 Carl Ninck: Ein Gruß an die Ge- Stand: 5.6.2010. meinde. Hamburg 1886. 209 Ninck, Karl Wilhelm Theodor. Aus: http://de.wikisource.org/wiki/ ADB:Ninck, _Karl_Wilhelm_Theodor ST. ANSCHARPLATZ 1 und 2 · Atelierhaus-Projekt 181

Atelierhaus-Projekt Kunststudentin Hilde Martin, Otto Wild [1898– 1971], Michael Komorowski [1905–1970] und Peter 1932 wurden in einer mit fünf Zimmern, zwei Kam- Ahrweiler. Als bekanntes ‚Kommunistennest‘ wurde mern und einer Küche ausgestatteten Wohnung im das Atelierhaus regelmäßig von der Gestapo über- 2. Stock des Wohnhauses St. Anscharplatz 1 und in prüft. (…) Ende 1935 verließen die Freunde nach einer Erdgeschosswohnung des Hauses St. Anschar - zunehmender Bespitzelung und Denunziation we- platz 2 Atelierräume für Künstler bereitgestellt. Um gen ihrer systemkritischen Äußerungen und nach diese Räumlichkeiten hatte der damalige Staatsrat vermehrtem Zuzug von Regime-nahen Künstlern Alexander Zinn (1880–1941) den Präses der Finanz- die Gemeinschaft am Anscharplatz. Auch Walter deputation Dr. Walter Matthaei (1874–1953) gebe- Kaiser [1899–1973] lebte hier. Er arbeitete zeitweilig ten. In den stark sanierungsbedürftigen Wohnungen im Hafen, war KPD-Anhänger und Bohème. Ab 1933 zog als einer der Ersten der Maler Hermann Junker malte er freiberuflich in einem großen Wohn-Atelier (1903–1985) ein: „Er begrüßt für seine Kollegen die am St. Anscharplatz, vermietete einige Zimmer an Möglichkeit, auf diese Weise mit den Volkskreisen Gustav Tolle, Otto Schierup und andere. (…) Bei ei- in Fühlung zu kommen und bittet, die Räume nicht ner der häufigen Kontrollen des Künstlerhauses kam als ‚Vergünstigung‘ zu vergeben, sondern den Künst- die Gestapo auf einen anonymen Hinweis auch zu lern aufzuerlegen, sie künstlerisch instandzusetzen Kaiser, der gerade an einem Bild zu seinem Gene- und die Instandsetzung von ihnen als Entgelt zu ralthema, dem Arbeiteraufstand in Hamburg, malte. fordern.“210) Kaiser besaß die Geistesgegenwart, eine rote Fahne Die Kunsthistorikerin und Autorin fundierter Publi- auf dem Bild als Untermalung für die schwarze kationen über Hamburger Künstlerinnen und Künst- Bundschuhfahne im Bauernaufstand auszugeben. ler in der Zeit des Nationalsozialismus, Maike Bruhns, Danach zeigte er seine politischen Bilder nur noch schreibt dazu weiter: „Die erwähnten ‚Volkskreise‘ engsten Freunden und zog sich zurück. Das Künst- waren die vorwiegend kommunistisch gesinnte Ar- lerhaus wurde im Krieg ausgebombt, später wieder beiterschaft der so genannten Gängeviertel. Im De- hergerichtet. (…) Der Abriss erfolgte in den 90er zember 1932 gab die Finanzdeputation Wohnungen Jahren“,213) schreibt die Kunsthistorikerin Maike in den Häusern Anscharplatz 1 und 2 für ein Jahr Bruhns. mietfrei an notleidende Künstler, die anschließend eine angemessene Miete in halber Höhe zu entrich- ten hatten. Sie sollten die stark verwohnten Woh- nungen und das Treppenhaus renovieren. Für die Belegung einigte man sich nach einigem Hin und Her auf ‚ganz junge opferfähige enthusiastische Leute …, die sich nicht scheuten, zunächst mit dem unbehaglichen Zustand vorliebzunehmen‘.“211) In die Ateliers zogen „Bohemiens und links geson- nene Künstler“ ein, wie z. B. Reinhold Zulkowski (1899–1966), Walter Siebelist (1904–1978), Felix Wal - ner (1906–1981) und der Bildhauer Richard Steffen (1903–1964).212) Die Ateliergemeinschaft war eine Einrichtung des Heute am St. Anscharplatz. Einige alte Gebäude stehen gemeinnützigen Vereins Künstlernothilfe. „Eine Ex- noch. Siehe auch die Postkarte aus der Zeit Anfang des 20. Jh., Seite 179. Photo: Marina Bruse tragruppe innerhalb des bunten Haufens bildeten Gustav Tolle [1902–1987] und seine Freundin, die

210 Zit. nach Maike Bruhns: Kunst in 213 Maike Bruhns, a. a. O., S. 133f. der Krise. Bd. 1: Hamburger Kunst im „Dritten Reich“. Hamburg 2001, S. 45. 211 ebenda. 212 vgl. ebenda. 182 VALENTINSKAMP 1 und 2/ECKE DAMMTORSTRASSE · Schlegel’s Weltrestaurant

‚Stahl helmer’ und ängstigte seine Kellner, wenn er 51. STATION die schwarz-weiß-rote Fahne draußen aufsteckte, Valentinskamp 1 die ihm jedes Mal Kommunisten abrissen. So kam und 2/Ecke aus Wut und Wahn die Selbstbezeichnung ‚Welt- Dammtorstraße Restaurant‘ zustande: um die Ecke tagten die Kom- Schlegel’s Weltrestaurant munisten in ‚Sagebiel’s Etablissement‘ [siehe S. 67] (Standort: 1901–1928); das und lauschten [Ernst] Thälmann [1886–1944 KZ Gänsemarktviertel Buchenwald]. 1928 wich Schlegel der Gewalt des Staa tes, der hier das ‚Deutschlandhaus‘ [siehe S. 78] errichtete, und führte seine ‚Deutsche Bierstube‘ bis Dort, wo heute das „Deutschlandhaus“ steht, eröff- 1941 in den Colonnaden 49 weiter, ehe eine Hotel- nete 1901 der deutschnational gesinnte Paul Schle - pension daraus wurde.“214) gel seine „Deutsche Bierstube“. „Nach 1917 war er

Das Gänsemarktviertel gleichzeitig wurde die Kleine Theaterstraße angelegt. Ebenfalls der inneren Erschließung dieses Gebietes Das Viertel um den Gänsemarkt, die Dammtor- dienten die Schwiegerstraße 1829 [siehe S. 205], die straße, die Esplanade und den Neuen Jungfernstieg erste und zweite Fehlandtstraße 1828–1830 [siehe „unterschied sich (…) in seiner Bebauung bis ins S. 255] und schließlich die Büschstraße 1841–1842 19. Jahrhundert hinein stark von der übrigen Neu- [siehe S. 210]. Sie alle wurden auf Privatgrund von stadt: Gegenüber der dortigen dichten Wohnbebau- privaten Unternehmern angelegt; die durch Neupar - ung blieb es nur dünn besiedelt. (…) Die Wohnbe- zellierungen gewonnenen Baugrundstücke wurden bauung beschränkte sich auf den südlichen und meistbietend verkauft oder durch die Unternehmer westlichen Rand des Viertels. Sein Inneres wurde selbst einheitlich bebaut (…). Insgesamt hatte die wie die Ost- und Nordseite erst durch die Anlage Bebauung des Viertels um 1850 entlang den ge- neuer Straßen im 19. Jahrhundert erschlossen, näm- nannten Straßen eine gleichmäßige Dichte erreicht, lich durch den 1826 angelegten neuen Jungfernstieg die freilich noch immer nicht mit der der übrigen [siehe S. 228] mit seiner großbürgerlichen Bebauung Neustadt verglichen werden konnte: Statt der dort (…) und durch die 1829 angelegte Esplanade [siehe üblichen schmalen Straßen und hohen, dicht ge- S. 270] an der Nordseite (…). Mit der Aufgabe des stellten Fachwerkbauten fanden sich hier vor allem Kalkhofkanals und der Errichtung des Stadt-Theaters ‚moderne‘, das heißt klassizistische – wenn auch 1827 wurde der Kalkhofkanal überflüssig. Er wurde meist schlichte – Putzbauten mit Gärten, darunter 1825/26 zugeschüttet und in seinem Verlauf ent- auch die ersten neuzeitlichen Mietshäuser Ham- stand die Große Theaterstraße 1827 [siehe S. 245], burgs. (…)“215)

214 Udo Pini: Zu Gast im alten Ham- burg. 2. Aufl. München 1995, S. 69. 215 Hermann Hipp: Colonnaden. Arbeitshefte zur Denkmalpflege Nr. 2. Hamburg 1975, S. 9ff. GÄNSEMARKT · Hamburgs Bürgermilitär 183

52. STATION Gänsemarkt Benannt im 17. Jahrhundert. Kein Marktplatz im üblichen Sinne. Es wurden hier auch keine Gänse gehandelt. Der Name ist vielleicht abgeleitet von dem Nachnamen „Gosen“, einem dort wohnenden Grundbesitzer, und der Begriff „Markt“ von „Gemarkung“. Um 1300 war der spätere Gänsemarkt ein von Wiesen und Weiden umgebener Platz vor den Mau- ern der Stadt Hamburg. Im 15. Jahrhundert wurde in Richtung der heutigen Gerhofstraße eine Ger- berei auf dem Platz eingerichtet, und nach 1600 begann die Bebauung des Platzes. Im 17. Jahrhundert hatte Hamburg hundert bewaffnete Nachtwächter zur Erhaltung der nächtli- chen Ordnung und Sicherheit. Sie werden auch auf dem Gänsemarkt ihre Runden gedreht haben. Trafen sie des Nachts auf der Straße eine Frau in Begleitung an, die ihnen als „Courtisane“ ver- dächtig erschien, konnten sie die Frau festnehmen. Gab die Frau beim Verhör an, wer ihr Begleiter gewesen war, wurde auch dieser festgenommen. Der Mann wurde zu einer Geldstrafe verurteilt, die Frau hingegen wurde als liederliche Person bezeichnet und der Öffentlichkeit zur Schau gestellt, indem sie auf dem Pferdemarkt (heute: Gerhart-Hauptmann-Platz) an den Pranger gestellt, ausge- peitscht, gebrandmarkt und der Stadt verwiesen wurde. Bürgermilitär (Standort: 1814–1868); Hamburger Dom (Standort: 1804–1892); Europamarkt (Standort: seit 2005); Kundgebungsplatz bei Demonstrationen (20. und 21. Jh.)

Hamburgs Bürgerwache und Bürgermilitär Kapitän der jeweiligen Kompanie das ‚Wachgeld‘ zu zahlen, der damit (zumeist niedrig besoldete) Stell- Seit dem Mittelalter mussten die männlichen Bürger vertreter anmietete. Hamburgs als Gardisten ihren Dienst in der Bürger- Die militärische Qualität der wenig disziplinierten wache leisten. „Die Ausnahme der ‚Wachfreiheit‘ galt Truppe war schon im 17. Jahrhundert so gering, nur für Inhaber bestimmter öffentlicher Ämter oder dass sie nur zur nächtlichen Bewachung des Befes- für besonders privilegierte Personen. Von Anfang an tigungsareals und zu Schanzenarbeiten eingesetzt war es jedoch für Wohlhaben de möglich, sich dem werden konnte. Mit Beginn der Franzosenzeit wurde unpopulären Dienst zu ent ziehen. Dazu war dem die Bürgerwache abgeschafft. An ihre Stelle trat 1814

Gänsemarkt mit Wachtparade des Bürgermilitärs, 1841. Staatsarchiv Hamburg 184 GÄNSEMARKT · Hamburgs Bürgermilitär · Vom weihnachtlichen Budenzauber zu politischen Aktionen und zum Europamarkt

in völlig neuer Organi sation das Bürgermilitär“,216) Der Gänsemarkt: Vom weihnachtlichen Bu - schreibt Daniel Tilgner im „Hamburg Lexikon“. denzauber zu politischen Aktionen und zum Auch zum Bürgermilitär waren alle Bürger und Ein- Europamarkt wohner sowie deren Söhne dienstverpflichtet, konn- ten sich aber – wie zu Zeiten der Bürgerwache auch Neben militärischen Wachtparaden fand nach dem – durch Finanzierung eines Stellvertreters von ihrer Abriss des Hamburger Mariendoms im Jahre 1804, Pflicht befreien. in dessen Kreuzgängen seit dem 14. Jahrhundert all- „Jeder Gardist besaß Uniform und Gewehr. Mit dieser jährlich zur Weihnachtszeit der „Hamburger Dom“ teuren und selbst zu beschaffenden Ausrüstung (Weihnachtsmarkt) durchgeführt worden war, auf musste er durchschnittlich vier Wachen pro Jahr ab- dem Gänsemarkt bis 1881 auch der „Hamburger leisten und noch einmal so viele Tage mit militäri- Dom“ statt. 1892 zog er dann zum Heiligengeistfeld. schen Übungen und Manövern verbringen – zu we- Doch zur Weihnachtszeit duftet es auch heute noch nig, um soldatische Fähigkeiten zu erlernen.“217) auf dem Gänsemarkt nach gebrannten Mandeln und Lebkuchen, wenn dort einer der Hamburger Weih- nachtsmärkte veranstaltet wird. Aber auch Märkte mit politischem Angebot finden hier statt: „Seit 2005 ruft die Senatskanzlei vor dem Europatag am 9. Mai Schülerinnen und Schüler, Aus- zubildende und Studierende auf, am Europamarkt teilzunehmen und diesen selbst zu gestalten. Der Europamarkt ist ein Markt von jungen Menschen für junge Menschen, der die Vielfalt Europas illustriert. An rund 25 Informations- und Aktionsständen bieten Experten, Vereine und Organisationen den Jugendli- chen Antworten auf ihre Fragen und jede Menge Ak- tionen rund um das Leben in der EU. Es werden Gänsemarkt um 1910. Staatsarchiv Hamburg vielfältige Informationen, wie zum Beispiel zu den Themen Austausch oder Freiwilliges Jahr im euro- päischen Ausland, geboten. Auf dem Europamarkt Für einen Kriegseinsatz war das Bürgermilitär nicht können sich aktive Jugendliche und junge Erwach- geeignet. Es gab aber sein Bestes bei Ordnungs ein- sene versammeln, um sich gemeinsam mit anderen sätzen, bei der Aufrechterhaltung von Ruhe und mit Europa auseinanderzusetzen und ihr Engagement Ordnung in der Stadt und bei Wachdiensten. „Mit für die europäische Integration zu zeigen. Für Spaß Aufhebung der Torsperre (1861) (siehe S. 115) und und Unterhaltung sorgen neben den Aktionsständen der Akzisekontrolle zwischen Hamburg und St. Ge- ein kreatives Bühnenprogramm, die EU-Kletterpyra- org (1863) fielen wichtige Aufgabenfelder der 1858 mide, die Europarallye und vieles mehr. So wie sich ca. 8500 Mann starken Truppe fort. 1867 lehnte die die Europäische Union stetig verändert, wird sich Bürgerschaft die Reorganisation des Bürgermilitärs auch die europapolitische Öffentlichkeitsarbeit wei- ab, und nach dem Ende der Hamburger Wehrhoheit terentwickeln und das Konzept des Europamarktes im selben Jahr erfolgte 1868 seine Auflösung“,218) weiter an die europäischen Gegebenheiten anpas- so Daniel Tilgner weiter zum Thema „Bürgermili- sen,“ so Jaqueline Gerhard von der Senatkanzlei. tär“. Auch als Stätte politischer Proteste wird der Gänse- markt seit Jahrzehnten häufig genutzt. An dieser Stelle sollen nur zwei Beispiele genannt werden:

216 Franklin Kopitzsch, Daniel 218 ebenda. Tilgner (Hrsg.): Hamburg Lexikon. Hamburg 1998, S. 96. 217 Franklin Kopitzsch, Daniel Tilgner, a. a. O., S. 92. GÄNSEMARKT · Vom weihnachtlichen Budenzauber zu politischen Aktionen und zum Europamarkt 185 GÄNSEMARKT · Lessing-Denkmal · Nationaltheater

• Nachdem am 28. September 1985 der damals 36-jährige Maschinenschlosser Günther Sare (1949– 1985) bei einer Demonstration von NPD-Gegnerin- nen und -Gegnern gegen eine Versammlung der NPD im Bürgerhaus des Frankfurter Stadtteils Gallus vom Strahl eines Wasserwerfers getroffen zu Boden ge- fallen und dann von einem Wasserwerfer tödlich überrollt worden war, kam es in anderen Städten, so auch auf dem Hamburger Gänsemarkt, zu De- monstrationen und teilweise zu Straßenschlachten. • Am 5. Februar 2009 hatte die Vereinigte Dienst- leistungsgewerkschaft „ver.di“ alle Arbeitnehmerin- nen und Arbeitnehmer, Auszubildende und Prakti- kantinnen und Praktikanten der Freien und Hansestadt Hamburg aufgerufen, für eine Erhöhung der Löhne auf die Straße zu gehen. Der Demonstra- Demonstration auf dem Gänsemarkt 1985 anlässlich des Todes von Günther Sare, der bei einer Demonstra- tionszug führte vom Gewerkschaftshaus am Besen- tion von NPD-Gegnerinnen und -gegnern in Frankfurt binderhof zum Gänsemarkt, wo auch die Abschluss- a. M. von einem Wasserwerfer tödlich überrollt worden kundgebung stattfand. war. Photo: Günter Zint

Wir kungsstätte – und später das „Comödienhaus“ 53. STATION (siehe S. 216) beheimatet waren. Als der Gänsemarkt Gänsemarkt 1985/86 neu gestaltet wurde, „erhielt auch das Les- Lessing Denkmal (Standort: seit sing-Denkmal einen neuen Standort vor der Ein- 1881); Nationaltheater (Stand- mündung der Gerhofstraße (…).“220) Dort sitzt er ort: 1767–1769); Gotthold noch heute und blickt in eine andere Richtung. Ephraim Lessing und Eva König (18. Jh.) Das Nationaltheater

Das Lessing-Denkmal Lessing war während seiner Hamburger Zeit Dra- maturg am Hamburger Nationaltheater gewesen, Seit 1881 steht auf dem Gänsemarkt ein von Fritz welches am 22. April 1767 unter dem Namen „En- Schaper (1841–1919) entworfenes Bronze-Denkmal treprise“ eröffnet worden war und seine Spielstätte für den bedeutenden Aufklärer, Schriftsteller und im „Comödienhaus“ am Gänsemarkt gefunden hat - Kritiker (1729–1781). te. Das Nationaltheater wurde deshalb „Entreprise“ „Das liberal gesonnene bürgerliche Denkmalkomitee genannt, weil es privat finanziert war. Der Kauf- wollte mit dem Denkmal auf dem Gänsemarkt die mann Abel Seyler (1730–1800), zweiter Ehemann aufklärerischen Ideen demonstrativ ‚unters Volk‘ der im Comödienhaus engagierten Schauspielerin bringen.“219) Sophie Friederike Hensel (1738–1789), hatte mit Ursprünglich war das Denkmal so ausgerichtet ge- zwei weiteren Kaufleuten die Bühne gepachtet. Um wesen, dass Lessing in die Richtung blickte, wo von die Idee eines deutschen Nationaltheaters zu ver- 1677 bis 1827 die Gänsemarktoper (siehe S. 211), wirklichen, wurden der Schriftsteller Johann Fried- von 1767 bis 1769 das Nationaltheater – Lessings rich Löwen (1727–1771) als Direktor und Gotthold

219 Hermann Hipp: Freie und Hanse- stadt Hamburg. DuMont Kunst-Reise- führer. 2. Aufl. Köln 1990, S. 191. 220 ebenda. 186 GÄNSEMARKT · Nationaltheater · Lessing und Eva König

Ephraim Lessing als Dramaturg engagiert. Lessing Kunst, sowohl des Dichters, als des Schauspielers, hatte 1755 das bürgerliche Trauerspiel „Miss Sara hier tun wird‘ kommentieren. (…) Sampson“ geschrieben, welches der erste große Er- Seine ursprüngliche Absicht einer kritischen Wür- folg des deutschen Dramas war. digung der aktuellen Theaterarbeit am Nationalthea - Ziel des Nationaltheaters war es, „‚eine National- ter muss Lessing dabei jedoch schon bald ändern. bühne dem ganzen Volke zu verschaffen‘. Die Idee Allein die Besprechung der ersten Aufführung erfor- eines Nationaltheaters geht zurück auf die 1680 in dert sieben Hefte; die späteren Texte erscheinen mit Frankreich gegründete Comédie francaise. erheblichen Verzögerungen, zeitweise werden gar keine neuen Hefte herausgebracht. Früh- zeitig hat Lessing seine eigentliche Ab- sicht aufgegeben, auch die Leistungen der Schauspieler in seine Reflexionen zur Schauspielkunst einzubeziehen. Unter diesen Umständen entwickelt sich die ‚Hamburgische Dramaturgie‘ zu all- gemeinen Urteilen über die Ästhetik des Dramas und zu einer Auseinander set - zung mit der aristotelischen Poetik.“222) Als das Unternehmen Nationaltheater 1769 auf Grund interner Querelen und der Diskrepanz zwischen Anspruch und Rea- lisierung scheiterte, führte Abel Seyler seine Gesellschaft zu einem Engagement nach Hannover, und Lessing nahm eine Das Lessing-Denkmal auf dem Gänsemarkt heute. Berufung zum Bibliothekar an die Wol- Photo: Marina Bruse fenbütteler Bibliothek an.

Lessing und Eva König In Deutschland steht sie im Zusammenhang mit Be- mühungen um ein Drama, das gegen das dominie- Lessing, der der Nachwelt viele bedeutende Dramen rende französische Vorbild ‚deutsche Eigenarten‘ und Schriften hinterließ, musste viel Schmerz und und ‚deutsches Wesen‘ widerspiegeln soll. Trauer erfahren. Nach dem Tod seiner Frau Eva Kö- Allerdings enthält das Programm des Hamburger nig, geb. Hahn (22.3.1736-10.1.1778, verheiratet in Nationaltheaters nur einen geringen Anteil von Stü- zweiter Ehe mit Gotthold Ephraim Lessing), schrieb cken neuerer deutscher Autoren (…), französische er aus Wolfenbüttel an die in der Hamburger Fuhlen- Dramatiker überwiegen auch hier. Immerhin wird twiete 122 wohnende Elise Reimarus (1735–1805): Gotthold Ephraim Lessings ‚Minna von Barnhelm‘ „Ich muß ein einziges Jahr, das ich mit einer ver- mit 16 Aufführungen zum erfolgreichsten Stück der nünftigen Frau gelebt habe, theuer bezahlen (...). Bühne am Gänsemarkt.“221) Wie oft möchte ich es verwünschen, daß ich auch Für das Nationaltheater entwarf Lessing eine „Ham- einmal so glücklich seyn wollen, als andere Men- burgische Dramaturgie“. In der „Chronik Hamburg“ schen!“223) Eva König, mit der Lessing knapp ein- steht dazu: „In Form einer Theaterzeitschrift will einhalb Jahre verheiratet war, starb am 10.1.1778 Lessing ‚ein kritisches Register von allen aufzufüh- im Kindbett, nachdem ihr neugeborenes Kind bereits renden Stücken‘ bieten und ‚jeden Schritt, den die einige Tage zuvor verstorben war.

221 Ernst Christian Schütt: Chronik sämtliche Schriften. Hrsg. von Karl Hamburg. 2. aktualisierte Aufl. Mün- Lachmann. Bd. 12. Leipzig 1897. chen 1997, S. 160. 222 ebenda. 223 Brief vom 9.8.1778. In: Lessings GÄNSEMARKT · Lessing und Eva König 187

Die beiden hatten sich kennengelernt, als Eva König tens nie finden. Aber nun im Ernste. Wenn kommen noch in erster Ehe mit dem Hamburger Seidenhänd- Sie denn? Sie müssen es mir wirklich schreiben. Ich ler Engelbert König verheiratet gewesen war, mit verspreche Ihnen nicht entgegen zu kommen, wenn dem sie vier Kinder hatte. Das Paar führte ein gast- Sie es nicht haben wollen, und es auch keinem Men- freundliches Haus, in das es regelmäßig Künstlerin- schen zu sagen. Ich wollte es nur wissen, um mich nen und Künstler, Dichter, Schauspielerinnen und auf den gewissen Tag recht freuen zu können – Ob Schauspieler einlud, so auch Lessing. Zwischen ihm Sie bei mir logiren wollen, stelle ich in Ihren Willen. und dem Hausherrn entwickelte sich eine enge Sie können Ursache haben, warum Sie es nicht tun Freundschaft. Als Engelbert König unerwartet im wollen. Ich habe keine, die mich abhält, es zu wün- Alter von 41 Jahren während einer Geschäftsreise schen. (...) Leben Sie recht wohl! Ich bin Dero auf- in Italien starb, kümmerte sich Lessing um Eva Kö- richtigste Freundin E. C. König.“ nig. In geschäftlichen Angelegenheiten vermochte Die Historikerin Eva Horvath charakterisierte den er ihr jedoch nicht zu helfen. Briefwechsel zwischen Lessing und Eva König in Eva König übernahm die Geschäfte ihres Mannes, ihrem Aufsatz über die drei Frauen Meta Klopstock reiste auf Messen, führte die Seiden- und Tapeten- (1728–1758), Eva König und Elise Reimarus, die sie lager und leitete die Wiener Samt- und Tapetenma- in Beziehung zueinander setzte: „Hinter dem schein- nufaktur ihres verstorbenen Mannes. Damit war bar sachlichen, fast nüchternen und gefassten Ton sie eine der wenigen Manufakturbesitzerinnen des der Briefe verbergen sich unermessliche Sehnsucht, 18. Jahrhunderts. Liebe und gegenseitiger Respekt. Unverborgen ist Lessing und Eva König verliebten sich ineinander. dagegen die fast den ganzen Briefwechsel beherr- 1771, als sie sich auf einer Rückreise von Wien nach schende gegenseitige Sorge wegen der häufig ange- Hamburg bei Lessing in Braunschweig aufhielt, griffenen Gesundheit der Partner. Bedrückend sind machte er ihr einen Heiratsantrag. Doch weil beide die Berichte über die verschiedenen Unternehmun- in finanziell ungesicherten Verhältnissen lebten, lehn- gen, um die finanziellen Sorgen zu lösen. In den ge- te sie zuerst einmal ab. Dennoch blieben sie weiter- wandt formulierten Briefen Evas widerspiegeln sich hin ein Liebespaar, doch sahen sie sich wegen der die Gedanken einer reifen, verantwortungsbewussten vielen Geschäfte, denen Eva König in Wien nachge- und an praktischen Dingen orientierten Frau. Ihr ist hen musste, nur sehr selten. Den Kontakt zueinander die Schwärmerei der Meta Moller [verh. Kloppstock] hielten sie in erster Linie über Briefe. Am 10. August völlig fremd. Güte, Wärme und Zurückhaltung be- 1771 schrieb Eva König aus Hamburg an den in Wol- stimmen ihren Charakter. Trotzdem kommt in den fenbüttel weilenden Lessing: „Mein lieber Freund! spärlichen Worten ihre Zuneigung und Liebe Lessing (...) Machen Sie, daß Sie bald kommen, sonst kommt gegenüber stets zum Ausdruck.“224) eine ganze Ladung Frauenzimmer, um Sie abzuho- Lessing hielt das Getrenntsein nicht aus. Er verfiel len. Ich denke, dies ist die härteste Drohung, die ich immer mehr in seine schon lange währende Melan- Ihnen machen kann. Denn eben lege ich Ihre Sinn- cholie, bekam Schreibblockaden und ging noch lust- gedichte aus den Händen, und bin in meiner längst loser seiner Arbeit als Bibliothekar in Wolfenbüttel gehegten Meinung – Sie seyen ein Erzweiberfeind, nach. 1775 setzte er sich kurzentschlossen in eine nun völlig bestärket. Ist es aber nicht recht gottlos, Postkutsche und reiste zu Eva König nach Wien. daß Sie uns bei allen Gelegenheiten so herunter ma- Ein Jahr später heirateten sie endlich. Die Hochzeit chen! Sie müssen an verzweifelt böse Wei ber gera- fand in York im Haus ihres Freundes Johann Schu - then sein. Ist dieses, so verzeihe ich Ihnen, sonst back (1732–1817) statt. Danach zog das Paar mit aber müssen Sie wahrhaftig! für alle die Bosheit, so Eva Königs Kindern aus erster Ehe nach Wolfenbüt - Sie an uns ausüben, noch gestrafet werden. Das tel, wo es eine glückliche Ehe führte, die durch den Mädchen, das Sie sich wünschen, sollen Sie wenigs- Tod Eva Königs jäh beendet wurde.

224 Eva Horvath: Die Frau im gesell- schaftlichen Leben Hamburgs. Meta Klopstock, Eva König, Elise Reimarus. In: Wolfenbütteler Studien zur Aufklä- rung. Bd. III. Wolfenbüttel 1976. 188 GÄNSEMARKT 36 · Privatgarten · Preußisches Oberpostamt

haus (Gartenpavillon) erbauen. 1838 erwarb der preu - 54. STATION ßische Vizekonsul William O’Swald (1798–1859) das Gänsemarkt 36 Grundstück für die preußische Post. Ab 1841 wurde Privatgarten (17. Jh.); preußisches Oberpostamt das Haus dann als preußisches Oberpostamt genutzt. (Standort: 1841–1888); Finanzbehörde (Standort: Nun befanden sich im Gebäude die Dienstwohnun- seit 1918); Leo Lippmann (NS-Zeit); Leo-Lipp- gen der Postbediensteten. Die Geschäftsräume lagen mann-Saal (Standort seit den 80er Jahren des 20. am Valentinskamp. 1876 kam das Grundstück ans Jh.); Berthold Walter (NS-Zeit); die Rolle der Fi- Deutsche Reich, das das Gelände später an den Ham- nanzbehörden in der Judenverfolgung (NS-Zeit) burger Staat gegen das Gelände der neuen Post am Stephansplatz eintauschte (siehe S. 117). Ab 1888 waren am Gänsemarkt 36 verschiedene Das heutige Gebäude am Gänsemarkt 36 wurde behördliche Ämter untergebracht: so etwa die Kasse zwischen 1918 und 1926 von dem damaligen Ober- des Amtsgerichts (1888–1903), das Hauptzollamt baudirektor Fritz Schumacher (1869–1947) als Kehr wieder (1907–1919), die Staatslotterie (1891– Dienstgebäude der Finanzdeputation erbaut. Der 1919) und die Postzollabfertigungsstelle (1888– Stahl betonskelettbau mit seinen 490 Zimmern ver- 1919). Auch die Straßenreinigung, die Feuerwehr bindet in seiner Architektur Merkmale der Hamburger und das Gartenwesen besaßen 1914 hier Räume. Kontorhäuser mit Schumachers hamburgischer Back- „Nachdem bereits zwischen 1866 und 1876 die Re- steinbauweise. Die keramische Bauplastik schuf misen abgerissen und ein neuer Bau für das Paket- Richard Kuöhl (1880–1961). postamt an der Neuen ABC-Straße sowie größere Wagenunterstände errichtet worden waren, trug Wie ein privater Garten zum Sitz von man 1894 die Häuser Gänsemarkt 40 (Apotheke) Ämtern und Behörden wurde und Valentinskamp 1 ab, um den Zugang zum Valen- tinskamp zu verbreitern. An ihrer Stelle besetzten In 17. Jahrhundert befand sich auf dem Areal des eine Trinkhalle und ein Pissoir die markante Ecke heutigen Gänsemarktes 36 ein großer Garten, den von Gänsemarkt und Valentinskamp.“225) 1616 Hans Kellinghusen erworben hatte. 1803 kaufte 1918 wurde das Haus für den Bau der Finanzbe- der Kaufmann Georg Wortmann (1748–1816) das hörde abgerissen. Dem war eine acht Jahre andau- Grundstück und ließ nach den Entwürfen des däni- ernde zähe Standortsuche vorausgegangen. Neben schen Architekten Friedrich Hansen (1756–1845) dort den von der Finanzdeputation „vorgetragenen Moti - ein Haus im klassizistischen Stil mit Stall und Lust- ven, dem Bemühen um möglichst geringe Ausgaben für den Grunderwerb und der Suche nach einem funktional geeigneten Gebäude, dürften allerdings auch politische Gründe für die zögerliche Haltung verantwortlich gewesen sein. Immerhin bedeutete der Auszug aus dem Rathaus nicht nur wegen der vermehrten Wege eine gewisse Arbeitserschwernis auf der Leitungsebene, sondern auch die tatsächli- che Entfernung aus dem Zentrum staatlicher Macht,

Wo heute das Gebäude der Finanzbehörde steht, hatte Georg Wortmann 1803 ein Haus im klassizistischen Stil erbauen lassen, das ab 1841 als preußisches Oberpost- amt genutzt wurde. 1918 wurde das Haus abgerissen. Staatsarchiv Hamburg

225 Stefan Kleineschulte: Fritz Schu- macher – Das Gebäude der Finanzbe- hörde am Gänsemarkt. Hamburg 2001, S. 17f. GÄNSEMARKT 36 · preußisches Oberpostamt · Leo-Lippmann-Saal 189 wo kurze Wege, mehr oder weniger zufällige Be- sich die Finanzdeputation sehr um die Vermeidung gegnungen und regelmäßige Kontakte eine direkte von Ausgaben bemüht und blockierte den Bau. Kommunikation und leichtere Einflussnahme er- Der lange Baustopp von 1920 bis 1923 jedenfalls laubten. Darüber hinaus war die Unterbringung im geht nicht auf die Inflation zurück. Neben der pre- Rathaus mit einem Ansehen verbunden, das ein kären wirtschaftlichen Lage dürfte auch die Neuor- Neubau nicht ersetzen konnte. Bei der (Mindest-) ganisation des Steuerwesens unter Reichsfinanzmi- Forderung nach einem Neubau (statt des Umbaus nister Matthias Erzberger [1875–1921] eine gewisse eines bestehenden Gebäudes) im Zentrum der Stadt Unsicherheit geschaffen haben, die der Errichtung ging es daher nicht nur um praktische Erwägungen eines Neubaus nicht förderlich war. Am 1. April wie die größtmögliche Anpassung des Baus an die 1920 ging die Steuerhoheit, die sich das Reich (für Anforderungen und die beste Erreichbarkeit für das die indirekten Steuern) und die Länder (für die di- Publikum, sondern auch um eine politische Scha- rekten) vorher geteilt hatten, fast vollständig auf densbegrenzung, bei der die Prestigeverluste so ge- das Reich über, so dass die frühere Abhängigkeit ring wie möglich gehalten werden sollten.“226) des Reichs von Zuweisungen der Länder nun auf- Das Gebäude wurde damals – in Zeiten hoher Ar- gehoben wurde. Da das Reich eine eigene, dreiglied- beitslosigkeit – als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme rige Steuerverwaltung etablierte, wurden die beiden begonnen. Die Bauarbeiten mussten aber 1914 we- hamburgischen Steuerbehörden, die Steuerdeputa- gen des beginnenden Ersten Weltkriegs unterbro- tion und die Deputation für indirekte Steuern und chen werden. „Dass die Errichtung des Gebäudes Abgaben, mit diesem Tage aufgelöst, und die Fi- durch den Weltkrieg verzögert wurde, erscheint we- nanzdeputation erhob die dem Hamburger Staat nig überraschend. Dagegen erstaunt die Aufnahme verbliebenen Steuern“,227) führt Stefan Kleine- der Bauarbeiten jeweils in wirtschaftlichen und po- schulte in seinem Buch „Fritz Schumacher – Das litischen Krisenzeiten: Den ersten Anlauf unternahm Gebäude der Finanzbehörde am Gänsemarkt“ aus. man direkt nach Kriegsende, als die Novemberre- 1923 wurden dann zur Bekämpfung der Arbeits- volution gerade eineinhalb Monate zurücklag, den losigkeit zwei Milliarden Mark zum Weiterbau be- zweiten während einer sich immer weiter beschleu- willigt. Doch wegen der Inflation wurden die nigenden Inflation, die zunächst durchaus in staat- Bauarbei ten im Dezember desselben Jahres wieder lichem Interesse lag. Senat und Bürgerschaft verfolg- eingestellt. Zwei Jahre später, 1925, wurde mit der ten damit zumindest in diesem Fall eine Politik, die, Fortsetzung der Arbeiten begonnen, die schließlich aus der praktischen Erfahrung abgeleitet, dem später 1926 abgeschlossen waren. von [dem Ökonomen] John Maynard Keynes [1883– 1946] propagierten antizyklischen Eingreifen des Leo-Lippmann-Saal; Staatsrat Dr. Leo Staates entsprach. Diese Haltung spricht auch aus Lippmann: Opfer des Nationalsozialismus den Begründungen für das Projekt, das in erster Li- nie als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme dargestellt Vom Haupteingang, durch die Drehtür kommend, wurde, wenn auch weniger der soziale Aspekt als liegt direkt der Tür gegenüber der Leo-Lippmann- vielmehr die Möglichkeiten zur Einsparung von Saal, ein im Innenhof der Finanzbehörde erbauter Arbeitslosenunterstützung bzw. ihre sinnvolle In- Saal mit einem verglasten Dach, der heute für Aus- vestition in eine Immobilie im Mittelpunkt standen. stellungen und Vortragsveranstaltungen genutzt Indessen blieb das ‚klassische‘ Argument der Ver- wird. Früher diente dieser Saal als Kassenhalle. Doch waltungsvereinfachung und Effizienzsteigerung nachdem seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts durch Zentralisierung nachrangig. Während die Bür- die Steuern kaum noch bar eingezahlt wurden und gerschaft, wenn sie denn mit dem Vorhaben befasst deshalb die große architektonisch schöne Kassen- war, den Neubau überwiegend befürwortete, zeigte halle nicht mehr benötigt wurde, wurde die Halle in

226 Stefan Kleineschulte, a. a. O, S. 15. 227 Stefan Kleineschulte, a. a. O., S. 24f. 190 GÄNSEMARKT 36 · Leo-Lippmann-Saal

einen Lagerraum umgewandelt. Erst bei Renovie- Leo Lippmann: „Um so größer war Lippmanns Er - rungsarbeiten in den 80er Jahren des 20. Jahrhun- schrecken, als die neuen Herrscher ihn aus der derts entdeckte man die Halle neu und richtete sie Finanzdeputation vertrieben und in der Presse wieder her. Der Saal erhielt den Namen des von Korruptionsvorwürfe verbreitet wurden. Zunächst den Nationalsozialisten verfolgten jüdischen Staats- kämpfte er noch um ein ehrenhaftes Ausscheiden rats der Finanzdeputation, Dr. Leo Lippmann (26.5. aus dem Amt, wohl auch in der Hoffnung, er könne 1881–11.6.1943 Suizid). bald wieder in seine Behörde zurückkehren. Als Nach der Machtübernahme durch die Nationalso- das abgelehnt wurde und sich das Unrechtssystem zialisten im März 1933 wurde Leo Lippmann aus immer mehr etablierte, geriet Lippmann in eine dem Staatsdienst entlassen. „Auch von meinen frü- Krise. Eine Auswanderung aus der geliebten Heimat heren Mitarbeitern, Kollegen und Untergebenen ha- kam für seine Frau Anna-Josephine und ihn nicht ben nur wenige gewagt, mir ein Wort der Teilnahme in Frage. So stellte er sich im November 1935 der zu übermitteln.“228) Deutsch-Israelitischen Gemeinde als Vorstandsmit- Der aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie stam- glied zur Verfügung. Das Nazi-Regime hatte ihn zu- mende Jurist war seit 1906 in der Finanzdeputation rück zum Judentum geführt.“230) tätig gewesen. Zuerst als Regierungsrat, später ab In der Gemeinde übernahm Leo Lippmann die Fi- 1921 als Staatsrat. Leo Lippmann hatte während nanzen, die durch die Auswanderung reicher jüdi- des Ersten Weltkriegs die Kriegsversorgung organi- scher Familien und der notwendig gewordenen Un- siert, wurde mit dem „Eisernen Kreuz am schwarz- terstützung von Gemeindemitgliedern in Unordnung geraten waren. Auch half er Gemeindemitgliedern bei ihren Auswanderungsvorbereitungen und führte Verhandlungen mit der Gestapo und den Behörden um die Weiterführung von Alten- und Pflegeheimen und den Verkauf von Grundstücken etc. Als das Ehepaar Lippmann den Deportationsbefehl bekam, nahm es sich in der Nacht vom 10. auf den 11. Juni 1943 das Leben.

Berthold Walter: Opfer des Nationalsozialismus

Acht Jahre zuvor war Berthold Walter (19.3.1877– Leo-Lippmann-Saal im Gebäude der Finanzbehörde. 7.8.1935 Suizid) wegen der ihm durch die National- Photo: Marina Bruse sozialisten zugefügten Repressalien und Schikanen aus dem siebten Stock des Finanzbehördengebäudes weißen Bande“ ausgezeichnet und war der erste in den Tod gesprungen. jüdische Mitbürger Hamburgs gewesen, der die Po- Berthold Walter wurde am 19. März 1877 in Mün- sition eines Staatsrates erreichte. Der Beamte Leo chen als sechstes Kind von Jakob und Amalie Walter Lippmann schrieb in seinen Aufzeichnungen: „Ich (geb. Oestreicher) geboren. Nach dem Besuch der habe stets die Auffassung vertreten, dass ein Ver- Königlichen Ludwig-Kreisrealschule in München waltungsbeamter sein Amt nicht nur unparteiisch, widmete er sich der Kaufmannslaufbahn und war sondern auch unpolitisch führen soll.“229) 24 Jahre lang Inhaber eines gut gehenden Getreide- Frank Kürschner-Pelkmann schreibt in seinem Buch und Futtermittelgroßhandels. Am 19.1.1922 heira- „Jüdisches Leben in Hamburg. Ein Stadtführer“ über tete er in München Herta Block, geboren am 4.10.

228 Zit. nach: Frank Kürschner-Pelk- 230 ebenda. mann: Jüdisches Leben in Hamburg. Ein Stadtführer. Hamburg 1997, S. 53. 229 Zit. nach: Frank Kürschner-Pelk- mann, a. a. O., S. 54. GÄNSEMARKT 36 · Berthold Walter 191

Nur wenige Monate lebte er in der Heinrich-Barth- Straße 8 im Grindelviertel zur Untermiete. Man ver- weigerte dem äußerlich sehr „jüdisch“ aussehenden Mann die Handelserlaubnis und die Vermittlung ei- ner angemessenen Arbeit, so dass er versuchte, als Hausierer zu überleben. Mehr als einmal wurde er von Nationalsozialisten mit Schlägen bedroht, ein- mal wurde ein großer Hund auf ihn gehetzt, der ihm die Hose zerriss, ein anderes Mal wurde er die Treppe hinuntergeworfen. Diese entwürdigende Behandlung brach seine Wider- standskraft. Am 7. August 1935 nahm sich Berthold Walter das Leben, indem er vom siebten Stock des Finanzgebäudes am Gänsemarkt in die Tiefe sprang. Er wurde 58 Jahre alt. Seine Witwe überlebte die Nazizeit unter schwieri- gen Bedingungen in Frankreich und später in der Schweiz, die Töchter in Dänemark, wo sie ein Land- schulheim besuchten, und später in England. Nach Lichthof der Finanzbehörde, in den sich am 7. August dem Zweiten Weltkrieg kehrten sie nach Deutsch- 1935 Berthold Walter in den Tod stürzte. land zurück. Photo: Marina Bruse Von Bertholds Geschwistern starben drei schon weit vor 1933, drei weitere überlebten das „Dritte Reich“: 1893 in Bochum. Die Töchter Nora und Elisabeth Die Zwillingsschwestern Betty und Ida waren recht- kamen 1923 und 1926 in München zur Welt. zeitig in die Schweiz ausgewandert, der Bruder Die in Bayern schon früh einsetzende antisemitische Hein rich Walter wurde aus München nach There- Hetze führte mehr und mehr dazu, dass von der sienstadt deportiert und von dort 1945 mit dem ein- NSDAP aufgehetzte Bauern Getreide „vom Juden“ zigen Transport, der in die Freiheit führte, in die weder kauften noch verkauften und sich weigerten, Schweiz gebracht.231) schon gelieferte Waggonsendungen Getreide und Die 1914 geborene jüdische Widerstandskämpferin Futtermittel zu bezahlen. 1929 musste Berthold Wal- Hilde Meisel (Deckname Hilda Monte, 1914–April ter sein Geschäft aufgeben. 1945 erschossen) schrieb aus Betroffenheit über den Mit der Familie zog er zunächst nach Berlin und Tod Berthold Walters das nachstehende Gedicht. dann nach Hamm, wo er jeweils die Vertretung für eine Seifenfabrik innehatte. Mit deren Arisierung Hamburg 1935 wurde er entlassen und emigrierte am 1. Mai 1934 Von dieser Brüstung werde ich gleich springen. mit der Familie nach Paris. Dort versuchte er ver- Gleich wird mein Körper auf dem Hof zerschellen. geblich, mit einem Lebensmittelgeschäft eine neue Ich höre noch den Bettler drüben singen, Existenz zu gründen. Bedrückt und tief entmutigt Ich höre einen Hund ein Pferd anbellen. entschloss er sich, allein nach Deutschland zurück- Bleich werde ich gestorben sein. zukehren, um zumindest seinen Unterhalt zu ver- dienen. Ich sterbe mitten im Gewühl der Stadt, Er hoffte, in der Großstadt Hamburg dafür günstigere und nicht im Kämmerlein mit Veronal, Bedingungen zu finden, doch er hoffte vergebens. denn wer den Todessprung verschuldet hat,

231 Quellen: Walter, Versorgungsamt Hamburg. Hamburger jüdische Opfer des Natio- Zit. aus: „Hamburger Tageblatt“ vom nalsozialismus, Gedenkbuch. Hamburg 7.8.1935. 1995. Wiedergutmachungsakten Berthold 192 GÄNSEMARKT 36 · Berthold Walter · Die Rolle der Finanzbehörden in der Judenverfolgung

wer schuldig ist an meiner Lebensqual, so sehr sie sich bemüht, nicht teilnahmslos erscheinen – soll ihren schreckensvollen Ausgang sehn. Barsch forderst du zum Weitergehen auf.

Zwei Jahre lebte ich als Emigrant Man geht. Man wendet sich noch einmal um - Und konnte Frau und Kinder nicht ernähren, ein letzter Blick – birgt er nicht ein Verstehen? und sehnte mich nach meinem Heimatland. Birgt er die Frage nicht an diese Zeit: Warum Schließlich entschloss ich mich, zurückzukehren, müssen wir über dieses Juden Leiche gehen? verzweifelt, und verängstigt, und verzagt. Und das Geständnis: Unser ist die Schuld?

Ein alter Jude, schwach und hoffnungslos, Ich bin ein Jude. Und ich sterbe hier, Kehrt' ich zurück ins Deutschland der Barbaren. damit ihr denken möget an das Leben Ich wollte arbeiten. Ich wollte bloß der Abertausend, über die, gleich mir, den Kindern, die so lange hungrig waren, ihr euer Todesurteil abgegeben. ein wenig Brot und Kleidung noch verschaffen. Wer seid ihr, dass ihr unsere Richter seid?

Ihr ließet es nicht zu. Ihr seid so roh! Hilda Monte wurde im Frühjahr 1945, kurz vor Ach, wüsstet ihr, wie meine Kinder froren, Kriegs ende, bei der illegalen Arbeit gegen das „Dritte als ich von ihnen ging. Sie weinten so . . . Reich“ von einer SS-Patrouille an der österreichisch- Doch ihr habt eure Seelen längst verloren, schweizerischen Grenze erschossen. In Berlin erin- seit euch das Hitlerreich die Freiheit nahm. nert ein Stolperstein an sie. Text: Thomas Nowotny (Der Autor ist ein Enkel von Er ist so mächtig! Kann ich meine Kinder schützen Berthold Walter und lebt heute in Süddeutschland.) vor Banden, die sich frech Regierung nennen? Was kann ich alter Jud den Kleinen nützen? Vielleicht wenn sie mich nicht mehr kennen, Die Rolle der Finanzbehörden in wird ihnen irgendwo ein Tor zur Welt. der Judenverfolgung

Drum geh ich fort. Doch geh ich nicht im Stillen. Als sich der jüdische Kaufmann Berthold Walter im SA-Mann dort: in einem Augenblick August 1935 vom siebten Stock des Finanzgebäudes hörst du die aufgeschreckte Masse brüllen: am Gänsemarkt in den Lichthof zu Tode stürzte, „Ein Mann fiel, und er brach sich das Genick. wies er mit seinem Suizid symbolisch auf die be- Und dieser Mann – es war ein armer Jude.“ sondere Rolle der Finanzbehörden in der Judenver- folgung hin. J U D E Von Anfang an legten die nationalsozialistischen Machthaber großen Wert darauf, das Vermögen der Man drängt um seinen Leichnam. Zieht den Hut. Juden schrittweise zu konfiszieren und den – wie Doch wenn du kommst, weicht angstvoll man zurück. sie es nannten – „Abfluss von Judenkapital“ ins Aus- Dein braunes Hemd, es riecht so stark nach Blut – land zu verhindern. Bei diesem handelte es sich nach und aus dem toten Körper saugt ein Blick nationalsozialistischer Definition nämlich nicht um anklagend sich an deinem Auge fest. Privatbesitz, sondern um „Volksvermögen“. Deshalb entwickelte der NS-Staat ein ausgeklügeltes System Beklommen starrst du auf den toten Mann, von Steuern und Zwangsabgaben, um Juden vor al- siehst Kinder um den alten Juden weinen, lem bei der Emigration weitgehend auszuplündern. und selbst die arischdeutsche Marktfrau kann, Eine besondere Rolle spielte dabei die „Reichsflucht- GÄNSEMARKT 36 · Die Rolle der Finanzbehörden in der Judenverfolgung 193 steuer“, die ab Mai 1934 schon bei einem Vermögen befand und von Oberregierungsrat Josef Krebs [1891– über 50000 erhoben wurde. Im Haus- 1966] geleitet wurde. Durch Reichsgesetz wurden haltsjahr 1938/39 spielte die Reichsfluchtsteuer 342 sie in die Lage versetzt, so genannte „Sicherungsan - Millionen RM in die Staatskasse. Noch im Februar ordnungen“ zu erlassen, die den jüdischen Eigen- 1938 erfassten die Listen der bei den Hamburger tümern jegliche Verfügungsgewalt über ihr Vermö- Finanzämtern registrierten „reichsfluchtsteuerfähi- gen raubten, das auf „Sicherungskonten“ eingezahlt gen Nichtarier“ insgesamt 877 Personen. wurde, über die nur mit Genehmigung der Devi- Tauschten Juden bei der Auswanderung ihre Reichs- senstelle verfügt werden konnte. Bis November 1939 mark in ausländische Devisen, mussten sie eine Ab- erließ allein die Hamburger Devisenstelle insgesamt schlagszahlung an die „Deutsche Golddiskontbank“ 1372 dieser „Sicherungsanordnungen“. (Dego) leisten, die bereits im August 1934 insgesamt Wie sich diese zahlreichen Einzelmaßnahmen zu 65% der transferierten Gesamtsumme betrug und bis einem lückenlosen finanziellen Ausplünderungsnetz September 1939 auf 96% stieg. Wer zu diesem Zeit- verknüpften, wird am Beispiel des Hamburger Kauf- punkt auswanderte und 100 000 RM in Devisen umtauschen wollte, konnte also nur 4000 RM tatsächlich transferieren. Im April 1938 wurden alle deutschen Jü- dinnen und Juden gezwungen, deren Ver- mögen 5000 RM überstieg, ihren Besitz in umfangreichen Vermögenslisten aufzufüh- ren und den zuständigen Finanzämtern einzureichen, so dass die Finanzverwal- tung über den Gesamtbesitz der deutschen Jüdinnen und Juden genauestens infor- miert war. Nach dem Novemberpogrom 1938 erho- ben die Finanzämter die so genannte „Ju- Gebäude der Finanzbehörde, erbaut 1918/1926. denvermögensabgabe“, die den damals noch im Photo: Marina Bruse Deutschen Reich lebenden Jüdinnen und Juden als Zwangskontribution auferlegt wurde, um u. a. die Pogromschäden zu beseitigen. Sie erbrachte mehr manns Albert Aronson deutlich, der im Juli 1938 als 1,25 Milliarden RM und wurde vielerorts – auch noch zu den wohlhabendsten Geschäftsleuten Ham- in Hamburg – noch durch „Auswandererabgaben“ burgs gehörte. Er war Alleininhaber der Schokola- ergänzt, die von der Gestapo erhoben wurden. denfabrik „Reese & Wichmann GmbH“, der Zigaret- Seit November 1941 wurde schließlich nicht nur tenimportfirma „Havana-Import-Compagnie“ und das in Deutschland verbliebene Vermögen der jüdi- von 36 Grundstücken, darunter einige in exponierter schen Emigranten, sondern auch der Besitz der jü- Lage. Der Gesamtwert seines Besitzes betrug über dischen Deportierten zugunsten des Deutschen Rei- 4 Millionen RM. Als Aronson sechs Wochen später ches konfisziert. Für die „Verwertung“ des Besitzes nach London auswanderte, konnte er nur 1,7% sei- der Deportierten wurde eigens eine „Vermögensver - nes Vermögens ins Ausland retten. Um Geld für die wertungsstelle“ eingerichtet. Auswanderung zu erhalten, hatte er bei seiner Bank Eine besonders aktive Rolle in der Judenverfolgung M. M. Warburg & Co. einen Kredit von 800 000 RM spielte die Devisenstelle der jeweiligen Oberfinanz- aufgenommen, von denen nur 66 000 RM (=5413 £) direktion, die sich in Hamburg am Großen Burstah transferiert wurden, während 734 000 RM als Ab- 194 GÄNSEMARKT 36 · Die Rolle der Finanzbehörden in der Judenverfolgung GÄNSEMARKT 35 · „Lessinghaus“

schlagszahlung an die Deutsche Golddiskontbank heimfonds des Hamburger NSDAP-Gauleiters zahlen, flossen. Zur Tilgung des Kredits hatte Aronson den um die Freigabe seines Passes zu erreichen. Das ver- größeren Teil seiner Grundstücke zum Schleuderpreis bleibende Geldvermögen und die restlichen Grund- verkaufen müssen, während seine beiden Firmen stücke wurden aufgrund der 11. Durchführungsver- „arisiert“ wurden. Der Erlös der Firmenverkäufe ordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November von 800 000 RM, der dem tatsächlichen Firmenwert 1941 zugunsten des Deutschen Reiches konfisziert, nicht entsprach, wurde auf ein Sicherungskonto das sich damit 98,3% seines Besitzes angeeignet überwiesen, über das Aronson nicht frei verfügen hatte. konnte. Die Hamburger Oberfinanzdirektion hatte Keiner der Hamburger Finanzbeamten wurde nach am 12. Juli 1938 nämlich eine Sicherungsanordnung 1945 für seine Beteiligung an der Judenverfolgung gegen ihn erlassen. An Abgaben musste Aronson zur Rechenschaft gezogen. 613 713 RM „Reichsfluchtsteuer“, 245 410 RM „Ju- Text: Frank Bajohr denvermögensabgabe“ und 100 000 RM an einen Ge -

gründet und ein provisorischer Vorstand und Auf- 55. STATION sichtsrat gewählt. Diese Selbsthilfeeinrichtung hatte Gänsemarkt 35 bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts Bestand. „Lessinghaus“ (Standort: seit Die „Lessinghalle“ war faktisch das Haus der Ham- 1908/09); „Lessinghalle“: burger Gewerkschaften. Als 1906 das Gewerkschafts- zentraler Ort der Gewerk- haus am Besenbinderhof in Hamburg fertiggestellt schaftsbewegung (Standort: wurde, dürften viele Wirte in den Straßen um den 2. Hälfte des 19. Jh.) Gänsemarkt schlechtere Geschäfte gemacht haben. Text: Helga Kutz-Bauer

Bevor das heute noch stehende „Lessinghaus“ am Gänsemarkt 35 von den Architekten Albert Lind- horst (1874–1938) und Emil Schaudt (1871–1957) erbaut wurde, befand sich hier in einem älteren Ge- bäude die „Lessinghalle“. Die „Lessinghalle“ war der zentrale Ort der Ham- burger Gewerkschaftsbewegung gewesen. Die Räume im Parterre sowie im II., III. und IV. Stock waren für ein Restaurant reserviert. In der ersten Etage befand sich der „Central-Verein der Maurer Deutschland“ – die wohl reichste Gewerkschaft Deutschlands in jener Zeit –, weiterhin die Arbeitsnachweise mehrerer Ge- werke, z. B. der Klempner und Transportarbeiter, die Arbeiter-Bibliothek und die Bibliothek des Gewerk- schaftskartells. In der „Lessinghalle“ wurde am 28. Juli 1898 die Hamburger „PRO“ oder, wie sie damals hieß, der „Konsum-, Bau- und Sparverein ,Produktion‘ auf Beschluss des Hamburger Gewerkschaftskartells ge- „Lessinghaus“, erbaut 1908/09. Photo: M. Bruse GÄNSEMARKT 21/23 · „General-Anzeiger für Hamburg-Altona“ · Hans W. Fischer 195

56. STATION Gänsemarkt 21/23 Girardet-Haus (Standort: seit 1896, erbaut von Puttfarcken & Emil Rudolf Janda (1855–1915) als Zeitungsverlagsgebäude); „General-Anzeiger für Hamburg-Altona“ (19. Jh., ab 1921: „Hambur- ger An zeiger“ (1921–1944 und 1952–1957)); „Neue Hamburger Zeitung“ (1896–1921); Hans W. Fischer, Leiter des Feuilletons der „Neuen Hamburger Zeitung“ (20. Jh.); der „Hamburger Anzeiger“ in der NS-Zeit; Erich Lüth, Journalist, später Chef der Senatspressestelle (20. Jh.); Hugo Sieker, Redaktionschef des Feuilletons am „Hamburger Anzeiger“ (20. Jh.); Wolf Schramm, Feuilleton-Chef und Theaterkritiker am „Ham- burger Anzeiger“ (20. Jh.); Vilma Mönckeberg- Kollmar, Märchenerzählerin (20. Jh.); Harry Reuß-Löwenstein, Kunstkritiker beim „Hambur- ger Anzeiger“ (20. Jh.); Zeitungswesen im Girar- det-Haus während der Nachkriegszeit

Girardet-Haus Gänsemarkt 21/23, erbaut 1896 als Zei- tungsverlagsgebäude. Photo aus: Hans W. Fischer: Hambur- „General-Anzeiger für Hamburg-Altona“ ger Kulturbilderbogen. Hamburg 1998, S. 164

Der Essener Zeitungsverleger Wilhelm Girardet (1838–1918) hatte im letzten Drittel des 19. Jahrhun - ßerdem ließ er ein repräsentatives Verlagsgebäude derts die Presse mit einem neuen Zeitungstyp, der am Gänsemarkt 21–23 bauen, das über eine öffent- Generalanzeigerpresse revolutioniert. Die Zeitung liche ‚Generalanzeiger Anleihe‘ in Höhe von 500 000 war unparteilich und hatte eine lebendige Aufma- Mark finanziert und im Herbst 1897 bezogen wurde. chung mit kurzen und aktuellen Texten. Auf der Von der ersten Verlagsadresse an der Dammtorstraße Titelseite gab es nicht nur Politik-, sondern auch 32 hierher war es nur ein Katzensprung.“232) Lokalnachrichten, Sportberichte und bunte Meldun- gen. Die Zeitung sollte nicht nur eine Lektüre für Hans W. Fischer das Bildungsbürgertum sein, sondern auch den In- dustriearbeiter ansprechen. „Das Blatt wollte bei Die „Neue Hamburger Zeitung“ war eine liberale linksliberaler Einstellung ‚eine unentbehrliche Haus- Tageszeitung. Zwischen 1909 und 1922 leitete Hans freundin jeder Familie‘ werden. (…) W. Fischer (1876–1945) das Feuilleton dieser Zei- Durch den schnellen Erfolg seines General-Anzeigers tung. Geboren am 18. Dezember 1876 in Schweidnitz animiert, expandierte der von Hugenotten abstam- hatte der promovierte Philologe und Historiker zuvor mende Rheinländer mit einem zweiten Blatt, der als freier Schriftsteller in Berlin und Thüringen ge- ‚Neuen Hamburger Zeitung‘, die vom 17. April 1896 lebt. Nach seinem Weggang aus Hamburg arbeitete an den gebildeten Mittelstand erreichen sollte. Au- er in Berlin als Kritiker, Schriftsteller und Heraus ge-

232 Presseschau! 400 Jahre Zeitungen behörde vom 11. bis 25. Januar 2006. in Hamburg. Dokumentation der gleich- Hamburg 2006, S. 65. namigen Ausstellung des Vereins Deut- sches Pressemuseum Hamburg im Leo- Lippmann-Saal der Hamburger Finanz- 196 GÄNSEMARKT 21/23 · Hans W. Fischer · „Hamburger Anzeiger“

Hände, und er hatte Charme. Und er war klug. Er war einer der fähigsten Journalisten jener Zeit, ein unnachsichtiger Beobachter, dem ein unwahrschein- liches Gedächtnisarchiv zur Verfügung stand, und er war ein Meister in raschen und trefflichen Wen- dungen und Anwendungen des Wortes.“233)

„Hamburger Anzeiger“

Ab 1921 hieß der „General-Anzeiger für Hamburg- Altona“ nur noch „Hamburger Anzeiger“. In ihm ging die „Neue Hamburger Zeitung“ auf. In der Zeit der Weimarer Republik versammelten Das Girardet-Haus heute. Photo: Marina Bruse sich an Wahltagen vor dem Zeitungshaus spontan Tausende von Menschen, die die neuesten Wahler- gebnisse, die fortlaufend auf großen Tafeln an der ber der „Lesestunde“ (Zeitschrift der deutschen Buch- Fassade des Verlagshauses „im Lichtbild“ präsentiert Gemeinschaft). Hans W. Fischer starb am 18. Juli wurden, verfolgten. Damals gab es noch keine 1945 in seinem Heim in Berlin-Zehlendorf. Hochrechungen und repräsentativen Meinungsum- Der Schriftsteller Hans Leip (1893– 1983), der zwi- fragen, und so dauerte ein Wahlabend recht lange, schen 1918 und 1920 für das Feuilleton der „Neuen bis endlich das Endergebnis feststand. Ham burger Zeitung“ Kunstbespre- chungen und Erzählungen schrieb, zeichnete in seiner Erzählung „Trunkene Litanei“ ein Portrait Hans W. Fischers und beschrieb die Situation in der Feuilleton-Re- daktion: „Als ich Hans W. Fischer kennenlernte, saß er in seinem en- gen Büro am Schreibtisch, kurz- halsig, untersetzt, ducknackig, die runde Schädelwölbung spärlich rötlich bedeckt, die Nase witzig spitzig, den Mund sarkastisch mit hochgezogenen Winkeln, die kurz- sichtig quellenden Augen mit ‚Sil- berblick‘, blitzend bebrillt, die Stimme belegt; wer hätte wohl als- bald sein Inneres zu ahnen ver- mocht und auch, dass der große Mädchenräuber, Herr Halewyn, Am Tag der Reichstagswahl am 16. Juni 1903 abends um 20.30 Uhr: Das sein heimliches Idol sei. Er war Publikum vor dem Girardet-Haus, wo die „Neue Hamburger Zeitung“ und der „Generalanzeiger“ ihre Räumlichkeiten hatten, wartet auf die neues- nicht groß, er war nur selten gut ten Wahlergebnisse, die auf großen Tafeln an der Fassade des Verlags- angezogen, aber er hatte feine hauses präsentiert wurden. Staatsarchiv Hamburg

233 Hans Leip: Trunkene Litanei. In: Hugo Sieker (Hrsg.): Hans W. Fischer. Ein Buch des Gedenkens. Hamburg o. J., S. 123. GÄNSEMARKT 21/23 · „Hamburger Anzeiger“ in der NS-Zeit 197

Der „Hamburger Anzeiger“ in der NS-Zeit ergaben sich bis auf die Auswechslung des Verlegers Justus Hendel [1875–1946] durch den Parteigenos- In seiner Dissertation über „Medienkarrieren. Biogra- sen Hans Gisbert Krümmer [1890–1965] erst mit phische Studien über Hamburger Nachkriegsjourna- der Amann-Anordnung vom April 1935 ‚Zur Wah- listen 1946–1949“ schreibt Christian Sonntag: „In der rung der Unabhängigkeit des Zeitungsverlagswe- zweiten Hälfte der 20er Jahre stieg der Anzeiger zur sens‘, die Verlegern den Besitz oder die Beteiligung auflagenstärksten Zeitung Hamburgs auf, was ihn für an mehreren Pub likationen untersagte. Verleger Wil- die Nationalsozialisten nach ihrer Machtergreifung helm Girardet verfügte über vier große Zeitungen, zum Objekt der Begierde machte, zumal die Redak- die den Nationalsozialisten wegen ihrer hohen Auf- tion Hitler [1889–1945 Suizid] als ‚eine ungeheure lage ein Dorn im Auge waren. Über die von [Alfred] Gefahr für den Frieden unseres Volkes‘ [Hamburger Hugenberg [1865–1951] übernommenen Holding- Anzeiger vom 30. Januar 1933] ablehnte (…). gesellschaft Vera übernahm der Eher-Verlag im Auf- Als die Redaktion ein angeblich aus dem Ausland trag Max Amanns [1891–1957] den größten Teil des stammendes, zum Widerstand aufrufendes Flugblatt Düsseldorfer Girar det-Verlages, indem er 57 Prozent abdruckte und sich in ironischem Unterton davon zu des Hamburger Anzeigers und 50 Prozent des distanzieren suchte (…), griffen die Machthaber unter Stamm-Verlages in Essen aufkaufte. Girardets Protest Führung von Gauleiter Karl Kaufmann [1900– 1969] gegen diese Enteignung blieben wirkungslos. Sein durch: Sie verboten die Zeitung für 14 Tage, ersetzten Blatt aber prosperierte, erreichte 1944 eine Auflage den Chefredakteur Alois Winbauer [geb. 1896?–?] von 181596 und erschien bis zur kriegsbedingten durch den Parteigenossen und bisherigen Chefredak- Zusammenlegung mit dem Hamburger Tageblatt am teur des Hamburger Tageblatts Hans Jacobi [1900–?] 1. August 1944 selbstständig.“234) und erteilten ihm den Auftrag, ‚die notwendigen per- Die Stürmung des „Hamburger Anzeigers“ Ende Ja- sonellen Veränderungen im Redaktions stab (…) nuar 1933 durch die Nationalsozialisten beschrieb durchzuführen‘. Am 22. April 1933 teilte die Staatliche der Journalist und nach dem Zweiten Weltkrieg als Pressestelle mit, dass sich ‚auf Grund der Vereinba- Pressesprecher des Senats amtierende Erich Lüth rungen zwischen dem Hamburger Senat, der hiesigen (1902–1989) in seinem Essay „Heimkehr“: „Dem Gauleitung der NSDAP und dem Verlag des Hambur- Pförtner, der das eiserne Tor zu schließen suchte, fuhr ger Anzeigers’ letztgenannte Zeitung ‚rückhaltlos in eine Faust ins Gesicht. Sein Mund blutete, und als er den Dienst der Reichs- und hamburgischen Regierung‘ ausspie, schwammen Zähne in der kleinen Blutlache. stelle. 15 Monate später konnte Jacobi auf einer Be- Die Braunhemden suchten den Chef der Zeitung. Auf triebsversammlung stolz verkünden: ‚Die Betriebs- der Straße brüllten sie seinen Namen. Er war die Hin - zelle des Hamburger Anzei gers steht auf nationalso- tertreppe hinuntergegangen, hatte den Hof überquert zialistischer Grundlage und bildet ein treues, zuver- und gelangte durch einen Torweg auf den Markt platz. lässiges und geachtetes Glied in der Gemeinschafts- Nun stand er inmitten der Entfesselten, die nach ihm front, die freudig dem Rufe des Führers folgt.‘ schrien. Aber sie erkannten ihn nicht. Der Pförtner Die Redaktion des Anzeigers erlebte den größten lehnte blass und geschunden in seiner Loge. personellen Bruch der Hamburger Zeitungen. Den- Der Chef dachte: ‚Hier bin ich! Mitten unter Euch! noch konnte eine Studie über den Kulturteil der Seht Ihr mich nicht? Ihr könntet mich greifen! Wes- Zeitung während des Krieges zwar keinen Wider- halb greift Ihr mich nicht?‘ stand, aber doch eine ‚konsequente und kontinu- Dann ging er. Unerkannt. ierliche Distanzierung‘ vom NS-Regime ausmachen Am Tage danach standen wir auf dem Marktplatz vor sowie eine Nichtanpassung an den ideologischen dem gleichen Gebäude. Man hatte uns vor die Tür Tenor des Hamburger Parteiorgans. Konsequenzen gesetzt. Unser Herz war schwer. Wir begriffen, was für die Besitzverhältnisse des Hamburger Anzeigers geschehen war. ‚Unsere Welt‘ war in Scherben ge-

234 Christian Sonntag: Medienkarrie- ren. Biografische Studien über Ham- burger Nachkriegsjournalisten 1946–1949. Dissertation. Hamburg 2005, S. 44f. 198 GÄNSEMARKT 21/23 · „Hamburger Anzeiger“ in der NS-Zeit · Erich Lüth, Hugo Sieker und Wolf Schramm

gangen, und wir ahnten, einer wie der andere, was zu lachen. Nun fürchteten wir die Resonanz unseres kommen würde. Das war mit den Händen wohl nicht Lachens und flüsterten nur noch.“235) zu fassen, doch wir fühlten die Finsternis, die hervor- kroch. Erich Lüth, Hugo Sieker und Wolf Schramm Wir zogen zu viert in den Keller von ‚Tante Clara‘ am Valentinskamp. Der niedrige Raum roch nach Erich Lüth war nach der „Gleichschaltung“ des „Ham- schweren südlichen Weinen. Wir saßen auf einem burger Anzeigers“ von aller Mitarbeit an dieser Zei- Sofa, das mit weißen Knöpfen umsäumt war. tung ausgeschlossen worden. Dennoch hielt er wei- Noch hatten wir Geld, und Tante Clara schenkte terhin Kontakt zu Hugo Sieker (1903–1979), der von dickflüssigen fahlglänzenden alten Malaga aus. 1939 bis zum Einstellen der Zeitung am 30. Sep - Das Dritte Reich war angebrochen, lastete auf uns, tember 1944 Redaktionschef des Feuilletons des drückte uns zu Boden. „Ham burger Anzeigers“ war. In dieser Zeit trat die Wir tranken an seiner Schwelle auf das Vierte Reich. kleine Gruppe von Journalisten der Kulturredaktion Man suchte bereits einige von uns. Man fand uns des „Hamburger Anzeigers“ in den „stillen Wider- nicht in unserer Traurigkeit. Wir grübelten: Wo sollen stand“. Obwohl nicht mehr beim „Anzeiger“ beschäf- wir Widerstand leisten? Wie ihn führen? Alles schien tigt, gehörte auch Erich Lüth zu dieser Gruppe. Hugo paralysiert. Wir waren besiegt, beschämt und verlo- Sieker ließ Lüths Texte anonym veröffentlichen. Damit ren, unfruchtbar auf Wochen, Monate, Jahre hinaus. blieb Erich Lüth illegal Mitarbeiter im Sinne der Am Abend strich ich über den Jungfernstieg. Es Schramm’schen Feuilleton-Politik (s.: Wolf Schramm). schien nicht zweckmäßig, heimzugehen. Die Am- Hugo Sieker publizierte 1958 erstmals einen Bericht peln über der Lombardsbrücke brannten wie immer, über die „Kulturarbeit im Widerstandsgeist 1933– gelb und kugelrund wie hundert milde Monde. 1944“236): „Man hat die Männer, die während der Mein Gott, es war immer noch die gleiche, alte Stadt. ‚zwölf Jahre‘ auf ihren Posten als Journalisten und Die Fassaden schienen unberührt, die Türme unzer- Redakteu re ausharrten, oft zu Unrecht der ‚Gesin- brochen, die Alster war noch vorhanden; ihre Fluten nungslumperei‘ verdächtigt. Dass jemand imstande bedeckten den moorigen Grund. Niemand hatte die war, im Dritten Reich überhaupt journalistisch tätig Schleusen geöffnet, niemand ließ den See zerrinnen, zu sein, war vielfach Grund genug, die Lauterkeit auf dass der Sumpf über den sinkenden Spiegel em- sei ner Haltung anzuzweifeln, sein Tun zu verurtei- porstieg. len. (…) Aber ein großer Abschied hatte begonnen. Die Glo- Es gab damals auch einen ‚inneren Widerstand‘. (…) cken von Sankt Michael läuteten ihn ein. Jedenfalls hatten sich mit mir mehrere andere Kolle- Viele tauchten unter, verschwanden, sanken hin, gen (…) entschlossen, nach anfänglichem Boykott flohen, wurden ergriffen, in Kerker geworfen, gepei - wieder in der Presse mitzumachen. Wir waren schon nigt, starben, ohne dass wir näheres um ihren Tod vorher derselben Meinung gewesen, dass für die Kul- erfuhren. turarbeit ein Standpunkt einzunehmen sei, der jen- Wie sicher hatten wir zuvor in dieser Stadt gelebt, seits von Parteihader und zeitgebundenen Ten denzen waren verwurzelt in ihr, und diese Wurzel wollte lag. Jetzt waren wir erst recht überzeugt, dass es uns festhalten. Es roch nun auch hier nach Elend, durch ‚heimliche Beeinflussung der Leser von der Jammer, Fäulnis, Grausamkeit, Schande und Barba - Zeitung aus möglich sein müsse, das Spiel der neuen rei. Nun war für die meisten von uns kein Wachsen Machthaber zu durchkreuzen und den Fanatikern mehr, nur noch ein Vegetieren. der NSDAP ein Schnippchen zu schlagen‘. Wir waren gewohnt zu sprechen und hatten niemals Wolf Schramm [(1896–1965], der gerade [1933] ei- Furcht empfunden. Nun fürchteten wir plötzlich nem Ruf von Dr. Justus Hendel aus seiner Magde- das Echo unserer Stimmen. Wir waren es gewöhnt, burger Position nach Hamburg gefolgt war, nahm

235 Erich Lüth: Heimkehr. Aus: Bern- Wi derstandsgeist 1933–1944“. Ham- hard Meyer-Marwitz, Conrad Kayser burg 1958. Nachdruck Hamburg 1973, (Hrsg.): Unter Hamburgs Türmen. Ein S. 7f. Almanach. Hamburg 1948, S. 15–17. 236 Hugo Sieker: „Kulturarbeit im GÄNSEMARKT 21/23 · Erich Lüth, Hugo Sieker und Wolf Schramm 199 mich im Sommer 1933 in seinen Mitarbeiterstab auf. Texte, die eine zeitlose Sache der Kunst meinten. Schramm machte keinen Hehl aus seiner Einstellung (…) Schwerhörig stellten wir uns (...), wenn die zu dem fragwürdigen Zeitgeschehen und stellte ganz Propagierung von Rassetheorien oder imperialisti- bewusst seine engeren Mitarbeiter als eine Kolonne schen Zielsetzungen von uns gefordert wurde. In des heimlichen Widerstandes gegen die zum Siege diesen heiklen Fragen bekundeten wir eine Dickfel- gekommene Ära der Diktatur zusammen. (…) Wir ligkeit, die natürlich nicht immer verheimlicht wer- waren Verschworene, die sich stark genug fühlten, den konnte. Spitzel wirkten innerhalb und außer- in bedachtsamer und zäher Bemühung nach und halb des Hauses, und da sie leider auch aus den nach den wild anrollenden Strom der nationalsozia- Reihen der Intelligenz stammten, gab es mehrfach listischen Verfügungen aufzufangen und in geistiger Verwarnungen vom Propagandaamt oder gar seitens Verantwortung eigene Wege zu gehen. (…) der Reichspressekammer. Das heimliche Programm, nach dem wir verfuhren, 1939 verlor Wolf Schramm wegen einer Theater- hielt sich etwa an folgende Richtlinien: besprechung, die den nationalsozialistischen Macht- 1. Möglichst internationale Haltung des Feuilletons, habern nicht genehm gewesen war, seine Position trotz des Krieges, bis zur Stilllegung der Zeitung am „Hamburger Anzeiger“. Er hatte in einem von 1944. Veröffentlicht wurden zahlreiche Übertragun- ihm verfassten Artikel über eine im Schauspielhaus gen aus dem Französischen, Englischen, Russischen, aufgeführte Shakespeare-Inszenierung geschrieben: Dänischen, Schwedischen, Bulgarischen. eine alte Dame habe als Letzte das Haus verlassen: 2. Keine Beteiligung am Kampf gegen die Juden. „die Phantasie!“ Diese Äußerung bedeutete das Trotz schließlicher direkter Anweisungen der Reichs- Ende seiner Tätigkeit. kulturkammer Berlin kein Beitrag zum Propagan- Wolf Schramm war schon vorher wiederholt mit dafeldzug gegen die Juden. „Schutzhaft“ gedroht worden. Doch nach dieser 3. Festhalten an geächteten Künstlernamen wie Theaterbesprechung riet ihm der damalige Oberre- Mary Wigman [1886–1973], Käthe Kollwitz [1867– gierungsrat Stephan vom Propagandaministerium, 1945], Ernst Barlach [1870–1938]. Ständige aufmerk- der als Liberaler galt, sich in Sicherheit zu bringen. same Berichterstattung über zeitgenössische, so ge- Dies bedeutete: Wehrmacht. nannte ‚entartete‘ Künstler und ihre Ausstellungen. Hugo Sieker übernahm Wolf Schramms Stelle und Unmittelbare Zusammenarbeit für die Illustration führte die von ihm begonnene Arbeit bis zur Still - der Zeitung mit solchen Künstlern, z. B. [Eduard] legung des „Hamburger Anzeigers“ am 30. Septem- Bargheer [1901–1979], [Heinrich] Stegemann [1888– ber 1944 fort. Wolf Schramm überlebte den Krieg. 1945], [Karl] Kluth [1898–1972], [Karl] Opfermann Nach 1945 schrieb er für die „Hamburger Morgen- [1891–1960] u. a. m. post“ Theater-Kritiken. Und auch in dieser Zeit blieb 4. Eintritt für eine freie, objektive, tendenzlose Wis- er ein kritischer Betrachter des Zeitgeschehens. senschaft, z. B. im Feuilleton, zum anderen Teil auf groß aufgezogenen Sonderseiten. 5. Trotz des Goebbel’schen Verbotes Weiterpflege Vielfältig waren die Methoden, die wir in der Redak- der Kritik. tionspraxis anwandten. Es gab offene und versteckte 6. Vorsichtige, jedoch deutliche Opposition gegen Mittel in elastischem Wechsel – und diese Elastizität gewisse kulturpolitische Parolen der Partei. Z. B. im bedeutete keineswegs Verrat an den Grundgedanken Zusammenhang mit der Beurteilung der Münchner der Kulturarbeit. Kunstausstellung direkt angesprochene oppositio- Wir benutzten die Schlagworte des Braundeutschen nelle Forderungen, wie etwa die stärkere Berück- und die Parolen des Propagandaministeriums gewis- sichtigung der norddeutschen Kunst im Rahmen der sermaßen nur in der Aufmachung und tarnten damit parteioffiziellen Kunst. 200 GÄNSEMARKT 21/23 · Erich Lüth, Hugo Sieker und Wolf Schramm · Vilma Mönckeberg-Kollmar

7. Schaffung einer Art Insel für alle freiheitlich Vilma Mönckeberg-Kollmar, geb. Pratl (29.7.1892– denkenden Künstler und Schriftsteller in der Re- 4.4.1985), war die Tochter eines österreichischen Be- daktionsstube. (…) amten. Ihre schulische Ausbildung erhielt sie in In dem Netz, das in den ‚zwölf Jahren‘ immer fein- Deutschland, wo sie von 1909 bis 1910 in Berlin die maschiger von eifrigen Mitläufern, Spitzeln und NS- Schauspielschule besuchte. Zwischen 1910 und 1913 Sektierern gesponnen wurde, erwies sich manchmal hatte sie Engagements in Lüneburg und am Hambur- das offene Bekenntnis zu den gefährdeten alten Kul- ger Schauspielhaus. Doch ihr wurde kein Talent be- turgütern als sehr nützlich. Oftmals waren es die scheinigt. So heiratete sie 1913 den Juristen Dr. Dr. Frauen, die den Mut zum freimütigen Bekenntnis Adolf Mönckeberg, den Sohn des Bürgermeisters Jo- aufbrachten – zu ihnen gehörte besonders Vilma hann Georg Mönckeberg (1839–1908), und entdeckte Mönckeberg. Von ihr erhielten gelegentlich auch das Märchenerzählen. Ihr Mann wurde als Soldat im wir Artikel oder Briefe von einer Unverblümtheit, Ersten Weltkrieg getötet. Sieben Monate nach dem dass dem Redakteur der Atem stocken konnte. Ein Tod ihres Ehemannes kam der Sohn Jasper Adolf auf Beispiel: ‚Ich habe viel über die Weihnachtsbräuche die Welt. Von 1917 bis 1919 studierte Vilma Möncke- gelesen – alte gediegene wissenschaftliche Arbeiten berg-Kollmar an den Universitäten Berlin und Ham- von objektiven Gelehrten – und wildes, oberflächli- burg Phonetik, Sprecherziehung und Literatur. 1918 ches, verantwortungsloses Gewäsch von hasserfüll- heiratete sie den holsteinischen Kaufmann Kollmar. ten Demagogen. Ich war gleichermaßen erschüttert Ein Jahr später erhielt sie an der Universität Hamburg vom Reichtum, der Fülle, der Gestaltungskraft, die eine Anstellung als Lektorin für Sprecherziehung und das christliche Weihnachten im Volke und im Künst- Vortragskunst. Im selben Jahr begannen ihre Vor- ler bewirkt. (…) Und ebenso erschüttert von der tragsabende mit Volksmärchen der Weltliteratur, die Skrupellosigkeit, mit der das alles geleugnet und sie in viele europäische Länder führten. Zwischen ge schmäht wird als undeutsch und artfremd. 1923 und 1924 arbeitete sie mit Rudolf von Laban Ich nannte meine Veranstaltung ‚Deutsche Weih- (1879–1958) in dessen Sprech- und Bewe gungschören nacht‘. Die Wirkung war, dass dem Betriebsführer mit und von 1924 bis 1932 in der Jugendmusikbewe- der Angstschweiß ausbrach wegen der anwesenden gung, führte in dieser Zeit Lehrgänge am Zentral-In- Parteibonzen. Dann aber ergab sich, dass vom Pfört- stitut für Erziehung und Unterricht in Berlin mit Jung- ner – einem strammen SA-Mann – bis zum General- lehrerinnen und -lehrern und Erzieherinnen durch direktor – der einer der Adjutanten von Himmler und war von 1925 bis 1933 für verschiedene Rund- [1900–1945 Suizid] ist – alles schwer begeistert war. funksender tätig. Von 1924 bis 1932 arbeitete sie mit Mich hat es bestärkt, unbeirrt weiter nur das zu tun, der freideutschen, sozialistischen, christlichen Jugend - was in meinen Augen und vor meinem Gewissen bewegung und führte von 1929 bis 1932 Lehrgänge echt, gut und deutsch ist. Ganz anders sah die offi- am Hamburger Institut für Lehrerfortbildung durch. zielle Weihnachtsfeier eines benachbarten Werkes 1933 wurde ihr an der Hamburger Universität ge- aus: vierzehnmal wiederholt und vom KdF mit einer kündigt. 1939 erfolgte die endgültige Kündigung. silbernen Medaille als Musterveranstaltung ausge- Im selben Jahr zog sie zu ihrem in der Niederlausitz zeichnet. Die Lehrlinge boxten, die Stenotypistinnen tätigen Mann und widmete sich der Schriftstellerei. exerzierten eingedrillte Operettentänze (‚Es war in Vilma Mönckeberg-Kollmars Sohn fiel im Zweiten Schöneberg, im Monat Mai‘), ein aus Meistern be- Weltkrieg. 1945 flüchtete sie nach Hamburg zurück. stehendes Männerquartett sang in Fracks (…), Ihren Besitz musste sie zurücklassen. 1946 erhielt ‚Wohlauf noch getrunken …‘ und den Beschluss sie einen Lehrauftrag für Sprecherziehung an der machte eine ‚Sauf- und Raufszene‘. Von der Weih- Universität Hamburg, jedoch ohne Vergütung. Zwei nachtsbotschaft kein Wort, vom Ernst der Zeit kein Jahre später widmete sie all ihre Kraft dem Aufbau Wort, von den Opfern des Krieges kein Wort.‘ der Deutschen Sektion der W.O.M.A.N. (Weltorgani- GÄNSEMARKT 21/23 · Erich Lüth, Hugo Sieker und Wolf Schramm · Vilma Mönckeberg-Kollmar · Harry Reuß-Löwenstein 201 sation der Mütter aller Nationen), deren Bundesvor- Diese Tarnkappe hatten wir für manchen anderen sitzende sie von 1948 bis 1958 war. Der Landesver- wertvollen Mitarbeiter bereit, der vom Schreibverbot band der W.O.M.A.N. hatte in der ABC-Straße 46/47 betroffen war. Unter dem Decknamen ‚Paul Willis‘ seine Geschäftsstelle. Nach ihrem Rücktritt als Vor- verbarg sich kein anderer als Wilhelm Lamszus sitzende wurde sie in den internationalen Mütterrat [1881–1965], der mit zahlreichen Beiträgen im Kultur- der W.O.M.A.N. gewählt und übernahm 1961 als teil des ‚Hamburger Anzeigers‘ erschien. Der Verfas- Bundesvorsitzende erneut die Deutschlandzentrale ser des ‚Menschenschlachthauses‘ (1912) hatte mit der W.O.M.A.N. leidenschaftlicher Sprachgewalt den modernen Ma- Insgesamt dürfte sie in den folgenden Jahren in sieb- schinen- und Materialkrieg vorausgesagt, was natür - zehn Ländern Erwachsene und Kinder mit ihrer au- lich den zum Krieg rüstenden Nazis keineswegs ßergewöhnlichen Rezitationskunst für das Märchen passte. (…) fasziniert haben. Spricht es gegen uns, dass uns die gemeinschaftliche Arbeit in unserem kleinen Widerstandsnest am Gänse- Im Februar 1944 mussten wir in einem Gedenkarti- markt viel Freude bereitete, vielleicht gerade weil kel von Kurt Ritter Abschied nehmen, um den mit sie ein Spiel mit der gefährlichen Sturheit und der uns die vielen Freunde unserer Jugendbeilage ‚Für sturen Gefährlichkeit unserer nationalsozialistischen Jungs und Deerns‘ trauerten. (…) Kurt Ritter war Umwelt war? der vielseitig talentierte Bruder von Else Reuß [1903– Spricht es gegen uns, dass wir nicht recht behielten 1989] – und Else Reuß hatte schon mehrere Jahre mit unserer Überzeugung, wir könnten manche hindurch die redaktionelle Arbeit ihres Mannes – schäd liche Absicht ins gute Gegenteil umdirigieren? Harry Reuß-Löwenstein [1880–1966] – gedeckt. Er Spricht es gegen uns, dass schließlich jegliche Teil- war der eigentliche Begründer der Jugendbeilage arbeit, auch die von echtem Idealismus getragene, und vielgeliebter ‚Onkel Jan‘ der Kinder. Seit 1934 einmündete in die verhängnisvolle Aggressionspoli - war es ihm, als ‚Nichtarier‘ verboten, sich journalis - tik der Machthaber? tisch zu betätigen. Wir führten trotzdem seine Arbeit Kein Leser konnte und durfte herausfinden, wo in für die Kinder in ihrer Originalität fort und veröf- den Spalten der Zeitung Pseudonyme verwandt wur- fentlichten auch literarische Beiträge von ihm, sogar den, obwohl ihm vielfach gerade diese ‚getarnten‘ den Roman ‚Die Maaten von der Pensacola‘. Ein al- Autoren mit ihren Beiträgen viel Spaß bereiteten. ter Seekamerad von Harry Reuß-Löwenstein gab Wir setzten auf diese Weise eine Kulturarbeit fort, seinen Namen als Verfasser her, um den tatsächli- wie wir sie seit jeher verstanden – mussten allerdings chen Autor abzuschirmen. durch besondere Tricks Sorge tragen, dass die NS- Kontrolleure nicht dahinterkamen. Zu jeder Stunde Harry Reuß-Löwenstein waren wir uns bewusst, dass uns Abgründe vom Der Maler und Schriftsteller Harry Reuß-Löwenstein jahrmarktmäßigen Kulturrummel Goebbel’scher Prä- (27.1.1880–15.4.1966), der als Kunstkritiker beim gung trennten. (…) „Hamburger Anzeiger“ arbeitete, wurde 1935, nach- Die Leser erkannten vielleicht, dass der Kulturteil des dem er einen Nachruf auf Max Liebermann (1847– ‚H. A.‘ ‚anders‘ gemacht wurde als in anderen Ga- 1935) veröffentlicht hatte, entlassen und bekam zetten. Sie spürten, dass dauernd Mitarbeiter beschäf- Schreibverbot. Zehn Jahre lebte er als Verbannter. tigt wurden, die keine Parteigenossen waren, ja die Nach 1945 wurde er Erster Vorsitzender des nach nicht einmal der Vorschrift genügten, im PDP (Presse) dem Kriege von Adolph Wittmaack (1878–1957) ge- oder PDS (Schrifttum) organisiert zu sein. Sie sahen, gründeten „Schutzverbandes Deutscher Autoren“ dass immer noch Künstlernamen auftauchten, die und Ehrenpräsident der Vereinigung Deutscher Goebbels [1897–1945 Suizid] schon längst auf die Schrift stellerverbände. ‚Schwar ze Liste‘ gesetzt hatte – während auf der an- 202 GÄNSEMARKT 21/23 · Erich Lüth, Hugo Sieker und Wolf Schramm · Zeitungswesen im Girardet-Haus während der Nachkriegszeit ABC-STRASSE 55 · Kellerkneipe „Palette“

deren Seite die Namen von Arrivierten fehlten, die in tung gestellten Firma am Gänsemarkt ihr Presse- der Hitlerzeit hochgelobt worden waren. Unsere Leser hauptquartier ein, weil Setzerei und Druckerei kaum sahen es und fühlten es, dass viel ‚zwischen den Zei- gelitten hatten. (…) len‘ stand, aber sie konnten nicht ahnen, wie viel Die ersten publizistischen Schritte unternahm die alle diese ‚Kleinigkeiten‘ uns gekostet hätten, wenn britische Militärregierung in ihrem Pressehauptquar- unser Geheimnis gelüftet worden wäre. Mehr als ein- tier im Girardet-Haus am Gänsemarkt mit dem täg- mal ist uns von eingeweihten Besuchern aus Berlin lich erscheinenden ‚Hamburger Nachrichten-Blatt‘, gesagt worden, sie wunderten sich, dass es mit dem das zum ersten Mal am 9. Mai 1945 herauskam. Kulturteil des ‚H. A.‘ immer noch ‚gut ginge‘.“237) Zur besseren Information der Bevölkerung legte sie Im August 1944 verlor der „Hamburger Anzeiger“ einen Monat später die ‚Neue Hamburger Presse‘ seine Selbstständigkeit. Das „Hamburger Fremden- nach. (…) Ende März 1946 stellten die Briten ihre blatt“, das NS-Organ „Hamburger Tageblatt“ und Blätter ein, da sie inzwischen deutsche Zeitungen der „Hamburger Anzeiger“ wurden zusammenge- lizenziert hatten.“238) fasst unter dem Titel „Hamburger Zeitung“. 1952 versuchte der „Hamburger Anzeiger“ einen Neuanfang und übernahm zwischenzeitlich die der Zeitungswesen im Girardet-Haus während CDU nahestehende „Hamburger Allgemeine Zei- der Nachkriegszeit tung“. Doch gegen die Springer-Zeitungen wie „Ham- burger Abendblatt“ und „DIE WELT“ konnte sich „Nach dem Krieg richteten die Engländer in dem die Zeitung nicht behaupten. Im März 1957 erschien requirierten Betrieb und der unter Zwangsverwal- die letzte Ausgabe des „Hamburger Anzeigers“.

so viel Aufregung auslöste. Autor und Verlag muss- 57. STATION ten sich gegen etliche Strafanzeigen wehren. Gewiss, ABC-Straße 55 Jäcki [Hauptfigur des Romans] und seine Kumpane Benannt im 17. Jahrhundert nach der Be- – Gammler, Gauner, Nutten, Strichjungen, entlas- zeichnung der Häuser, die nach den Buch- sene Häftlinge und andere Vertreter aus Gottes gro- staben des Alphabets nummeriert waren. ßem Zoo – nennen Dinge beim Namen, die bis da- Kellerkneipe: „Palette“ (Standort: 50er Jahre – hin allenfalls im Flüsterton benannt wurden. ‚Die 1964) Palette‘ (…) war seinerzeit Treffpunkt für allerlei unangepasste junge Zeitgenossen, die später das nichts sagende Etikett ‚Beatgeneration‘ aufgepappt be kamen.“239) Vom Gänsemarkt waren es in den 50er und frühen Einige Auszüge aus Hubert Fichtes Buch mögen die 60er Jahren des 20. Jahrhunderts nur we nige Schritte Stimmung und auch die politische Auffassung dieser bis zur legendären Kellerkneipe „Palette“ in der ABC- jungen Kneipengängerinnen und -gänger verdeutli- Straße 55, direkt gegenüber der Abzweigung Post- chen: „Am Freitag ist viel los in der Palette. Das ist straße und Hohe Bleichen. Heute steht hier der Ho- der Tag der Fetenanfänge. Die tippenden Zähne und telkomplex des Mariott-Hotels. die Cocacolafahrer im festen Angestelltenverhältnis Der Schriftsteller Hubert Fichte (1935–1986) war in können ausschlafen am Sonnabend. Am Sonnabend der „Palette“ Stammgast und schrieb über die Gäste ist noch mehr los in der Palette. Die meisten haben ein Buch. Im Klappentext zu diesem Buch heißt es: bis Mittag gepoft und können noch einmal am Sonn- „Im Rückblick ist gar nicht mehr vorstellbar, dass tag auspofen. Auch der Sonnabend ist der Tag der dieses Buch bei seiner Erstveröffentlichung (1968) Feten. (…) Am Sonntag ist gar nichts los. (…) Am

237 Hugo Sieker, a. a. O., S. 9–10, 239 Hubert Fichte: Die Palette. Frank- 14–15, 29, 30–32. furt a. M. 1981. 238 Presseschau! a. a. O., S. 67 und S. 79. ABC-STRASSE 55 · Kellerkneipe „Palette“ 203

Montag ist schon wieder viel los, denn die meisten der und tingelt auf Westerland. Was sie da tingelt, sind über Sonntag ungeduldig geworden.“240) sagt sie nicht. (…) Die „Palette“ war damals auch „ein Zufluchtort, Hieselber besteht seine Gesellenprüfung als Patis- wenn zu Hause die ‚Nazi-Parents‘ ihr Programm ab- sier. spulen, wie Cäsar flucht, wenn daheim in Lokstedt Dr. Rosenkreutzer entbindet das Jahr 1000 Säug- die Glogauer Gläser aus dem Buffet geholt werden, linge. wie Jäcki beobachtet, wenn unterm Strohdach Kon- Das Jahr werden in Deutschland 90 Kinder von zertkerzen angezündet werden und ‚was Seltenes ihren Eltern umgebracht.“242) auf dem Cembalo gespielt‘ wird, wie Liane Pozzi, 2005 erschien das Buch „Palette revisited“, in dem die alterslose Schriftstellerwitwe, Jäckis Begleiterin der Sprachwissenschaftler Jan-Frederik Bandel, der aus Jugendtagen, fürchtet.“241) Journalist Lasse Ole Hempel und der Filmemacher 1964 wurde die „Palette“ wegen Drogenhandels und Musiker Theo Janßen einige der damaligen und Kleinkriminalität geschlossen. „Als die Palette Kneipenbesucherinnen und -besucher in Interviews geschlossen wird, heiratet Schudl Elke, die ein Kind über die damalige Zeit zu Wort kommen lassen. In mit in die Ehe bringt. Schudl ist bei der Bundeswehr einer Rezension im „Textem“ vom 19. Oktober 2005 und kriegt nun dufte Lobi, weil er verheiratet ist heißt es: „In dieser Zeit schwappte der Lebensstil und ein Kind hat. Fein raus. Immer Messerschnitt. der Beatniks über den Atlantik, ‚Gammler‘ mutierten Sanitäter. zum Schrecken des Nachkriegs-Bürgertums, Exis- Enoch heiratet Trippersusi. tenzialisten übten sich im Ausharren. Für diese un- Hammed heiratet Uschi. klare Formation von Widerständlern war die Palette Albert heiratet, als die Palette geschlossen wird. eine Art Sammelbecken. (…) Hamburg war rough Bernhardt ist schon verheiratet und holt sich was damals. Nicht so edel wie heute, nicht so abgeklärt. bei Lausi, das ärgert ihn. (…) Man spürte den Hafen viel stärker in der City. Alles Der Gebrauchsgrafiker heiratet. Beide arbeiten wegen hätte sich anders entwickeln können. Aber der Groß- der vielen Abzahlungen. Das Kind geben sie zur teil der Bevölkerung sehnte sich wohl nach Sicher- Großmutter und nehmen es übers Wochenende zu heit, Knechtschaft und Ruhe und nicht nach Aben- sich. teuern, Revolte und Wildwuchs.“243) Ziffra war mit einem Schauspieler verhei- ratet, der hat sich dann umgebracht; als die Palet te geschlossen wird, heiratet sie wie-

Die Kneipe „Palette“ in der ABC-Straße/Ecke Hohe Bleichen. Staats - archiv Hamburg

240 Hubert Fichte, a. a. O., S. 255. 242 Hubert Fichte, a. a. O., S. 315f. 241 Jan-Frederik Bandel, Lasse Ole 243 Rezension in: „Textem“ vom Hempel, Theo Janßen: Palette revisi- 19.10.2005. ted. Eine Kneipe und ein Roman. Ham- burg 2005, S. 9. 204 GÄNSEMARKT 44 · „Stadtbäckerei“ · Kontorhaus „Stadtbäckerei“

58. STATION Gänsemarkt 44 „Stadtbäckerei“ (seit: 17. Jh.); Kontorhaus „Stadtbäckerei“ (Standort: seit 1913)

Kontorhaus „Stadtbäckerei“, erbaut 1913. Photo: Marina Bruse Seit 1913 steht am Gänsemarkt 44 das von Heinrich Theodor Speckbötel (1861–1938) erbaute Kontorhaus „Stadtbäckerei“, das Elemente alt-hamburgischer Bür- gerhausmotive aufnimmt: Giebel, Backstein mit Werk- steinzierrat. Das 1979 bis 1981 errichtete Nachbar- haus, das die Straße Kalkhof überbaut, hat die Fas sade vom Kontorhaus „Stadtbäckerei“ übernommen. Der früheste Besitzer des Grundstückes Gänsemarkt 44 war 1630 Andreas Heineke. 1672 vererbte er das Grundstück an seine Tochter Margaretha, verw. Mol- ler. Diese zweigte 1681 ein Erbe mit dem Recht der Fast-, Los- und Grobbäckerei an Peter Flohr ab. Seit- dem gibt es am Gänsemarkt eine Bäckerei. Damals hatte die Bäckerei das Privileg sowohl der Weiß- und Fastbäckerei, der Los- und Kuchenbäckerei und der Grobbäckerei. Dies war eine Besonderheit, denn die Bäckereien hatten in der Regel jeweils nur eines dieser Privilegien. Die „Stadtbäckerei“ erlebte in den folgenden Jahrhun- derten verschiedene Besitzer. 1913 wurde das kleine Bäckereigebäude abgebrochen und das heute noch stehende Haus mit einem Vorderhaus, in dem Kontore untergebracht wurden, und einem sechsstöckigen Hinterhaus ausgestattet, in dem die damals moderns- Treppenhaus des Kontorhauses „Stadtbäckerei“. Auf ten Bäckereieinrichtungen eingebaut wurden. Seit- Buntglasscheiben werden der Anbau und die Ernte des dem heißt die Bäckerei „Stadtbäckerei“. Korns dargestellt. Photo: Marina Bruse KALKHOF · Schwiegerstraße 205 GÄNSEMARKT 45 · „Lessing-Theater“

59. STATION Kalkhof (Benennung seit 1922; von 1829–1922 Benen- nung: Schwiegerstraße) Benannt 1829 als Schwiegerstraße nach dem Vor- besitzer des Geländes Christian Diedrich Schwie- ger. Dieser hatte durch Abriss der dortigen Häuser am Gänsemarkt einen Durchgang zum „Stadt- Theater“ (siehe S. 87) erbauen lassen. 1922 wur - de die Straße in „Kalkhof“ umbenannt, da sie zum ehemaligen Kalkhof (siehe S. 86) führte. Im Kalkhof entstand ein geschlossener Bordellbezirk, der zum Gänsemarkt von Sperrtoren begrenzt wurde. Bei den Bombenangriffen 1943 wurden die Häuser im Kalkhof zerstört.

Schwiegerstraße 1901, später benannt als Kalkhof. Postkarte

Die Straße Kalkhof heute. Photo: Marina Bruse

„Lessing-Theaters“ am 14. November 1913 hatte der 60. STATION Kintopp in Hamburg sein Schmuddel-Image über- Gänsemarkt 45 wunden und wurde auch fürs Bürgertum akzepta- „Lessing-Theater“ (Standort: 1913–ca. 1955); Der bel. Der Architekt Claus Meyer entwarf ein Rangkino neue „Ufa-Palast“ (Standort: 1958–2006); Skan- mit 928 Plätzen, dessen prächtige Ausstattung sich dal im „Lessing-Theater“: „Anders als die der Formensprache des Theaters bediente: Dieses Andern“ (1919) Kino war ein Filmtheater. Als besonderen Luxus gab es einen Fahrstuhl mit Liftboy, der die Besucherin- nen und Besucher in die oberen Ränge beförderte. „Lessing-Theater“ Vor der Eröffnung des neuen Lichtspieltheaters gab es prompt Protest von der „Literarischen Gesell- Zwischen Kalkhof und Büschstraße wurde 1913 das schaft“: „Wir empfinden es als entwürdigend, wenn „Lessing-Theater“ eröffnet, ein Betrieb für lebende an der Stelle, wo die ‚Hamburgische Dramatur- Photographie. Spätestens mit der Eröffnung des gie‘ [siehe S. 186] entstand, ein Kino den Namen 206 GÄNSEMARKT 45 · „Lessing-Theater“

‚Lessing-Theater‘ tragen darf.“ Albert Bozenhard schel machte sein letztes Geschäft: Er überließ seine (1860–1939), ein beliebter Schauspieler am heimi- Kinos, darunter auch das „Lessing-Theater“, der Ufa. schen „Thalia Theater“, sprach in seinem Einwei- Der mächtige Ufa-Konzern hatte alle drei Bereiche hungsprolog das Thema an: Lessing, der vom Denk- der Filmindustrie: Produktion, Verleih und Kinos in mal herüberschaute, werde darüber wachen, dass einer Hand und konnte entsprechend effektiv seine das Kino nicht das Schauspiel vernichte. Filme auswerten. Das „Lessing-Theater“ war für die Der erste Betreiber hieß Adolf Tiedemann; vier Jahre Ufa der Ort, wo man die Vorzeigefilme zur Ham- später verleibte James Henschel (1863–1939) das burger Erstaufführung brachte. Im März 1924 ver- „Lessing-Theater“ seinem Imperium ein. Die Nieder- schickte man Einladungskarten zur Premiere von lage im Ersten Weltkrieg und die Revolution gingen Fritz Langs (1890–1976) zweiteiligem Film-Epos „Die an dem Kino nicht vorüber: Am 18. November 1918 Nibelungen“. „Gesellschaftsanzug erbeten“ stand da, außerdem: „Nach Beginn der Ou- vertüre bleiben die Saaltüren ge- schlossen.“ Angeführt von Bürger- meister Carl Petersen (1868–1933) kam eine illustre Gesellschaft aus Po- litik, Wissenschaft und Kunst, um sich „Siegfried“ anzusehen. Neun Wochen lief Teil eins des „Nibelun- gen“-Films am Gänsemarkt und wan- derte dann in die Ufa-Kinos in Barm- bek, Eppendorf und Eilbek, während nun im „Lessing-Theater“ „Kriem- hilds Rache“ Einzug hielt. Auch nachdem die Ufa, ein paar Hundert Meter weiter im Valentins- kamp, im Dezember 1929 mit dem weitaus größerem „Ufa-Palast“ sich Das „Lessing-Theater“ am Gänsemarkt, eröffnet 1913. selbst Konkurrenz machte (siehe Staatsarchiv Hamburg S. 78), blieb das „Lessing-Theater“ das Erstauffüh- rungskino für anspruchsvolle Filmkunst. Auch Filme – an diesem Tag wurde das allgemeine Wahlrecht zur nationalen Erbauung wie „Yorck“ oder „Das Flö- vom Arbeiter- und Soldatenrat verkündet, das Kai- tenkonzert von Sanssouci“, die unterschwellig sich serreich war Vergangenheit – inserierte das „Les- gegen die nicht gefestigte Weimarer Republik rich- sing-Theater“ erstmals in der „Roten Fahne“: Das teten, überließ man lieber dem Traditionshaus am Kino zeigte aus aktuellem Anlass den Film „Ferdi- Gänsemarkt. In der NS-Zeit stellte sich das „Les- nand Lasalle“. Doch die Revolution war ein Stroh- sing-Theater“ in den Dienst der Propaganda, so gab feuer, und dass der Krieg verloren ging, dafür mach- es am 15. September 1933 eine Festvorstellung von te man auch das Kino verantwortlich: Deutschland „Hitlerjunge Quex“, als Vorprogramm sangen 80 Hit- hätte der ausländischen Propaganda nichts entge- lerjungen in Uniform Marsch- und Kampflieder. Als gensetzen können. Das sollte sich nun ändern dank die Stadt gegen Kriegsende in Schutt und Asche ver- eines neu gegründeten nationalen Filmkonzerns: sank, zeigte man am 8. Dezem ber 1944 „Opfergang“, Mit 25 Millionen Mark wurde die Universum Film- anschließend Premierenfeier mit dem Regisseur Veit AG, kurz Ufa, ins Leben gerufen. Der Patriot Hen- Harlan (1899–1964), seiner Darstellerin Kristina Sö- GÄNSEMARKT 45 · Der neue „Ufa-Palast“ 207 derbaum (1912–2001) und den Direktoren der Ufa auch mussten aus statischen Gründen schon einmal im Atlantic Hotel. Betonsäulen mitten in den Sälen stehen bleiben. Das im Krieg unzerstört gebliebene „Lessing-Thea- Nach dem Umbau bestand der „Ufa-Palast“ aus vie- ter“ nutzten die Briten zehn Jahre lang, von 1945 len kleinen, so genannten „Schachtelkinos“. Zwi- bis 1955, als Truppenkino. Als die Besatzer das be- schen Tiefparterre (Ufa 5, 6 und 7) übers Erdge- schlagnahmte „Lessing-Theater“ als letztes Kino schoss (Ufa 1 und 2) bis hinauf in den ersten (Ufa 3 wieder freigaben, entschied sich die Ufa – der ge- und 8) und zweiten Stock (Ufa 4) irrten verwirrte samte Gebäudekomplex von der Büschstraße (siehe Zuschauerinnen und Zuschauer durch das Haus, um S. 210) bis zum Kalkhof (siehe S. 86) gehörte dem ihren Film zu finden. Es wurde noch schlimmer: Filmkonzern –, das Haus abzureißen und einen 1983 fand noch einmal eine Unterteilung in dreizehn Neubau zu errichten. und 1990 in insgesamt sechzehn Kinosäle statt. Min- derwertige Projektion, grauenhafter Ton-, wahrlich Der neue „Ufa-Palast“ eine trostlose „Abspielstätte“ für Filme. Das war das vorletzte Kapitel. Angesichts der Be- 1958 hatte Hamburg wieder einen „Ufa-Palast“. drohung durch die CinemaxX-Konkurrenz (siehe Nicht am alten Platz, aber doch an ebenfalls tradi- S. 290), die am Dammtorbahnhof gerade ihr erstes tionsreicher Stätte. Die Eröffnung am 26. Februar Hamburger Multiplex-Kino plante, beschloss die brachte trotz Eis und Schneegestöber 8000 Fans auf Ufa-Theater-AG, den inzwischen bizarr verschach- die Beine, die auf ihren Star warteten: Romy Schnei- der (1938–1982). Der „Abendblatt“-Reporter berich- tete vom „Belagerungszustand“ auf dem Gänse- markt. „Autoauffahrt wie noch nie. Premiere nach Hollywood-Muster. Lautsprecher verkünden die Pro- minenz. 20.45 Uhr: Romy fährt vor mit Regisseur [Alfred] Weidenmann [1918–2000]. Der Trubel wird frenetisch. Romy in hellblauer, paillettenglitzernder Robe (ohne Mantel!) im Blitzlichtfeuer. Lächelnd, winkend. Fast drei Minuten lang.“ Die Begeisterung über den „Ufa-Palast“ dagegen hielt sich in Grenzen. „Das neue Haus? Eine riesige ovale Muschel. Sehr warm wirkend durch die Teakholz-Verkleidung. Tür- kisblaue und lindgrüne Sessel. Modern. Anspre- chend.“ Von dem Film, der an diesem Abend Pre- miere hatte, war kaum die Rede. „Scampolo“ war – wie die gesamte Ufa der 1950er Jahre – ein Remake, eine Imitation, die das Original nie vergessen ließ. Nach der Übernahme der Ufa-Kinos durch Heinz Riech (1923–1992) 1971 wurde der einstige Filmpa- last zerlegt: Radikal unterteilte man den großen Saal – der ursprünglich knapp 1000 Sitzplätze und eine sechzehn Meter breite und sieben Meter hohe Lein- wand hatte – durch den Einzug von Zwischendecken Blick auf den „UFA-Filmpalast“ am Gänsemarkt, der in mehrere kleine Säle, wobei Teile der ursprüngli- 1958 an der Stelle des „Lessing-Theaters“ errichtet chen Wanddekoration einfach belassen wurden, wurde. Abriss 2006. Staatsarchiv Hamburg 208 GÄNSEMARKT 45 · Der neue „Ufa-Palast“ · Skandal im „Lessing-Theater“

telten Kino-Palast abzureißen und durch ein eigenes schuldlos leiden, wie sie von Erpressern ausgesogen Multiplex zu ersetzen. Am 27. Februar 1997 wurde und durch den unseligen § 175 und die auf dem – nun zum dritten Mal – ein „Ufa-Palast“ in Ham- Homosexuellen ruhende Ächtung in Verzweiflung burg eröffnet. Auf acht Etagen gab es in zehn Sälen und in den Tod getrieben werden.‘244) nunmehr 3200 Plätze. Komfort und Technik waren Oswald gelang es, die aufklärerischen Filmpassagen, auf dem neuesten Stand, doch ein Filmpalast, der in denen Hirschfeld selbst auftritt, mit einer melo- an die goldenen Zeiten der Kinokultur erinnert, war dramatischen Handlung zu verknüpfen. Mit dem das neue Haus nicht. Es habe den Charme eines Star Conrad Veidt (Paul Körner) [1893–1943] und Einkaufszentrums, bemerkte die „taz“ zur Eröff- der lesbischen Tänzerin Anita Berber (Else) [1899– nung: „Keine schönen Materialien, kein architek- 1928] standen ihm hochkarätige Schauspieler zur tonischer Einfall, keine großzügige Geste stört die Verfügung. plumpe Stapelung von Kinoraum.“ Zum Inhalt dieses ‚sozialpsychologischen Filmwer- Der Multiplex-Boom fiel bald in sich zusammen, kes‘: Der berühmte homosexuelle Violinspieler Paul das Kinosterben begann. Die Ufa gehörte dem Insol - Körner widmet sich der Förderung seines Schülers venzverwalter, Miete wurde schon seit Längerem Kurt Sieders. Zwischen den beiden Männern ent- nicht gezahlt; das Grundstück am Gänsemarkt war steht eine Zuneigung, die nur durch Blicke und ei- wertvoll, eine Shopping Mall versprach mehr Ren- nen Händedruck angedeutet wird. Als Körner seinen dite. Zum 31. Mai 2006 wurde der „Ufa-Palast“ ge- Schüler nach einem Faschingsball mit zu sich nach schlossen, zwei Monate später, im August 2006, Hause nimmt, gerät er in die Hände des Erpressers begann bereits der Abriss. Der „Ufa-Palast“ war Ge- Franz Bollek. Nachdem er zunächst auf dessen For- schichte. Seit 1913 hatte es an diesem Ort ein Kino derungen eingeht, ist er es nach einiger Zeit leid, gegeben, das Multiplex stand jedoch keine zehn Geldzahlungen zu leisten. Er zeigt sich selbst nach Jahre. Ein unrühmliches Ende. § 175 und seinen Erpresser an. Bollek wird zwar Text: Michael Töteberg; Volker Reißmann verurteilt, doch der Richter muss auch – gegen seine Überzeugung – Körner zu zehn Tagen Gefängnis verurteilen. Bevor er die Strafe antritt, bringt er sich Skandal im „Lessing-Theater“: mit Gift um. „Anders als die Andern“ Nachdem Hirschfeld bereits in seinem Filmbeitrag auf das Unrecht durch den § 175 hingewiesen hatte, Am 14. August 1919 zeigte das „Lessing-Theater“ erscheint zum Schluss das Strafgesetzbuch im Bild. erstmals den Film „Anders als die Andern“ und Der Film endet damit, dass § 175 mit großen Pinsel- löste damit einen „Skandal“ aus. Was war gesche- strichen durchgestrichen wird. hen? „Der Filmregisseur Richard Oswald [1880– Nach der Berliner Premiere am 24. Mai 1919 lief 1963] drehte ab 1917 verschiedene Aufklärungsfilme der Film im Deutschen Reich und im europäischen mit medizinischem oder sexuellem Inhalt, beispiels- Ausland. Trotz oder gerade wegen erheblicher Pro- weise ‚Es werde Licht‘, in dem er sich mit Ge- teste und Unruhen bei den Aufführungen war ‚An- schlechtskrankheiten auseinandersetzte. 1919 nahm ders als die Andern‘ ein Kassenschlager. In den er sich mit ‚Anders als die Andern‘ des Themas Ho- Zeitungen löste der Film eine Kontroverse über Ho- mosexualität an. Das Drehbuch hatte er gemeinsam mosexualität aus. In Wien, München und Stuttgart mit Dr. Magnus Hirschfeld [1868–1935] erarbeitet. wurde der Film verboten.245) Im Filmprogramm erläuterten die beiden ihre Ziele: In Hamburg war am 14. August 1919 Premiere im ‚Das vorliegende Filmwerk ‚Anders als die Andern‘ ‚Lessing-Theater‘ am Gänsemarkt. Dafür war bereits will alles Sensationelle vermeiden und schlicht an zwei Tage vorher geworben worden. In den ‚Ham- einem Einzelschicksal zeigen, wie die so Veranlagten burger Nachrichten‘ hatte das Lichtspieltheater eine

244 Best Male Stars: Conrad Veidt: schichte, Alltag und Kultur. Hrsg. vom Anders als die Andern. In: him applaus Berlin Museum. Berlin 1984. 2/1979. 245 Eldorado. Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 1850–1950. Ge- GÄNSEMARKT 45 · Skandal im „Lessing-Theater“ 209 GÄNSEMARKT/BÜSCHSTRASSE · Zahlenlotto

relativ große Anzeige geschaltet. Darin wurde der gen des Andantes aus Beethovens 5. Symphonie zu Filmtitel mit dem Schriftzug ‚§ 175‘ unterlegt.246) hören. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass Auch in Hamburg sorgten reaktionäre Kräfte bei der in diesem Film ein Problem weitesten Kreisen vor- Aufführung für Störungen. Das DDP-nahe [Deutsche geführt wird, das bisher ängstlich und scheu, aber Demokratische Partei] ‚Hamburger Fremdenblatt‘, in noch schlimmster Weise heimlich beredet wurde das im ganzen Deutschen Reich erschien, lobte den und gerade dadurch nur Unwohl stiftete. Derartige Film wegen seiner Sachlichkeit und seines Einfüh- Aufklärung kann man sich nicht nur gefallen lassen, lungsvermögens: ‚Im Lessing-Theater am Gänse- sondern muss sie auch begrüßen; denn es handelt markt wird gegenwärtig ein Film unter dem Titel sich ja nicht darum, dass die ‚Andern‘ nun Gegen- ‚Anders als die Andern‘ gezeigt, bei dessen Erstauf- stand unserer Begeisterung (vieles an ihrem Gehabe führung es zu lärmenden Kundgebungen gekommen wird stets unsympathisch wirken), sondern lediglich war. Auch uns war schon vor der Aufführung eine unseres Mitleids werden sollen.‘247) Protestkundgebung zugegangen. Wir beschlossen Der erste homosexuelle Emanzipationsfilm war in daher, uns den Gegenstand des Aergernisses erst kon servativen Kreisen, zumindest hinter vorgehal- selbst einmal anzusehen. Das ist inzwischen gesche- tener Hand, ein wichtiges Argument, um 1920 die hen, und wir müssen gestehen, dass für ein Pub- Filmzensur wieder einzuführen. Am 18. August likum, das nicht von vornherein gewillt ist, hier Pro- 1920 wurde der Film verboten. Nach wie vor ge- test zu erheben, kein Grund zu irgendwelcher stattet waren Aufführungen vor ‚bestimmten Perso- Entrüstung besteht. Gerade wer der Mehrzahl unserer nenkreisen, nämlich Ärzten und Medizinalbeflisse- Filme scharf ablehnend gegenübersteht, auch den nen, in Lehranstalten und wissenschaftlichen meisten, die im Lessing-Theater vorgeführt wurden, Instituten‘. Dr. Magnus Hirschfeld nutzte diese Mög- muss feststellen, dass hier eine ernste Sache ernst, lichkeit in seinem Berliner ‚Institut für Sexualfor- ohne eine Spur von Spekulation auf niedere Instinkte, schung‘.“248) behandelt wird. Das gilt selbstverständlich nur von Text mit freundlicher Genehmigung der Autoren der moralischen Seite der Angelegenheit; das Aes- aus dem Buch Bernhard Rosenkranz, Gottfried thetische steht auf einem anderen Blatt. Es ist gewiss Lorenz: Hamburg auf anderen Wegen. Die Geschichte nicht jedermanns Sache, einen Vortrag des bekannten des schwulen Lebens in der Hansestadt. 2. überarb. Aufl., Hamburg 2006, S. 37–38. Sexualforschers Dr. Magnus Hirschfeld bei den Klän-

von Senatsvertretern. Zwei Waisenjungen zogen die 61. STATION Lose. Gänsemarkt/ Der aus Frankreich stammende Bankier Franz Peter Büschstraße Hiß hatte vom Rat der Stadt Hamburg gegen Zah- Zahlenlotto des Herrn lung einer hohen Pachtgebühr ein zehnjähriges Pri- Franz Peter Hiß (1770–1774) vileg erhalten, diese Zahlenlotterie abzuhalten. „Der Ort der Ausspielung sollte Lossaus Haus am Gänse- markt sein. Dieses Haus aber war das vierstöckige Am 17. Juni 1770 fand die erste Ziehung des Zah- Gebäude, das Ernst Georg Sonnin [1713–1794] ge- lenlottos auf dem Gänsemarkt statt. Die Hamburgi- schaffen hatte. Es stand an der Stelle des palastarti- sche Bürgerschaft hatte die Idee dazu, um „der Aus- gen, auch vierstöckigen Bauwerkes, das als Schott’ schleppung des Geldes (…) durch fremde Collec teurs sches Haus bekannt ist, das von der Straße so weit (…) entgegenzuwirken“. Die Ziehung „5 aus 90“ zurücklag, dass an jeder Seite noch ein Platz für be gann um 15 Uhr und stand unter der Aufsicht ein zweistöckiges Haus mit Dachzimmern, bis an

246 Anzeige zum Film § 175 – ‚An- vom 20.8.1919 (Abendausgabe). ders als die Andern’. In: Hamburger 248 Eldorado, a. a. O., S. 28ff. Nachrichten vom 14.8.1919. 247 Rezension von ‚Anders als die Andern‘. In: Hamburger Fremdenblatt 210 GÄNSEMARKT/BÜSCHSTRASSE · Zahlenlotto BÜSCHSTRASSE

1170: Lottoziehung auf dem Gänsemarkt vor dem vierstöckigen Lossau’schen Haus, das von der Straße stark zurückgesetzt stand, so dass zwischen den bei- den Vorderhäusern ein zwei- stöckiger Aufbau errich- tet wurde, der eigentliche Ort der Lotterie. Staatsarchiv Hamburg

die Straße reichend, [war]. (…) Zum Zwecke der Konkurrenz für Hiß so stark – zumal er selbst, im Ausspielung wurde zwischen den beiden Vorder - Gegensatz zu Wandsbek und Altona, wo der däni- gebäuden ein zweistöckiger Aufbau angebracht, sche Staat dieses finanzielle Risiko übernahm, das der eigentliche Ort der Lotterie, den das auf dem Risiko einer Gewinnauszahlung trug –, dass er be- Gänsemarkt gedrängt stehende Publikum einsehen reits nach vier Jahren sein Privileg zurückgab. konnte.“249) Da auch die umliegenden dänischen Städte Altona und Wandsbek das Zahlenlotto einführten, war die

62. STATION

Büschstraße plant waren 16 Plätze, acht an jeder Stelle einer Benannt nach „Antrag des Grundeigentümers Straße (…).“251) Wilhelm Sillem nach der Familie seiner Mut- Die Büschstraße erhielt eine einheitliche klassizisti- ter Wilhelmine (1722–1852), einer Tochter sche Bebauung. Hiervon ist heute nur noch die Fas- des Professors am Akademischen Gymnasium sade des Hauses Nr. 9 erhalten, das 1841/42 von Johann Georg Büsch (1728–1800)“.250) Diese Eduard Averdieck (1810–1882) erbaut wurde. kleine Straße geht vom Gänsemarkt ab und führt zur Großen Theaterstraße

Der Kaufmann Wilhelm Sillem (1804–1885) hatte den Grund und Boden gekauft, um dort eine mit vornehmen Häusern bebaute Straße anzulegen, „die, als Parallele zu Böckmanns Neuem Jungfern- stieg [siehe S. 228] angesehenen Bürgern der Stadt ein Domizil gehobenen Geschmacks bieten sollte. Er war kaum ein halbes Jahr Besitzer, als er schon im Oktober 1841 dem Hypothekenamt einen Auftei - Büschstraße, 1841/42, aus: Hermann Hipp: Colonnaden. lungsplan zur Parzellierung vorlegen konnte. Ge- Arbeitshefte zur Denkmalpflege Nr. 2. Hamburg 1975.

249 Armin Clasen: Der Gänsemarkt. Hamburgische Geschichte. Hamburg S. 67. Zur Bau- und Grundstücksgeschichte 1979, S. 60. 251 Armin Clasen: Der Gänsemarkt. seiner Nordseite. Hrsg. von der Ham- 250 Horst Beckershaus: Die Hambur- a. a. O., S. 61. burg-Mannheimer Versicherungs-AG ger Straßennamen. Woher sie kommen in Zusammenarbeit mit dem Verein für und was sie bedeuten. Hamburg 1997, GÄNSEMARKT 66–69 · Gänsemarktoper/„Opernhof“ 211

Im „Opernhof“ standen auch kleine Wohnbuden, 63. STATION überragt vom Opernhaus. Gänsemarkt 66–69 Die erste stehende und kommerziell betriebene (alte Nummerierung, heute: Colonnaden Opernbühne in Deutschland war kein Prunkbau, 17/19) wie etwa ein Hoftheater, sondern ein unscheinbares Gänsemarktoper/„Opernhof“ (Standort: 1677– Ziegelfachwerkhaus. 1757 Abriss); die Oper ein Wirtschafts-, Standort- Oft wird die Gänsemarktoper als „Bürgeroper“ be- und PR-Faktor (17.–18. Jh.); Inneneinrichtung, zeichnet. Zwar waren alle Operneigentümer bürger - Operntechnik und das Publikum (17.–18. Jh.); der lich und ein Großteil der Direktionen und Pächter, 252) Niedergang der Gänsemarktoper (18. Jh.); Opern- aber der Einfluss der Adelskultur blieb prägend. chefin mit Ausstrahlung: Margaretha Susanna „Der Anstoß zur Gründung eines ständigen Opern- Kayser, geb. Vogel (18. Jh.); „Comödienhaus“ unternehmens kam von außen und resultierte un- (Standort: 1765–1827, Abriss 1877); National- mittelbar aus der (...) Rolle Hamburgs als diplo- matisches Zentrum.“253) Gesandte und Mitglieder theater (siehe S. 185) verschiedener Höfe wollten auch in Hamburg auf den Genuss eines Opernbesuches, so wie es an den Gänsemarktoper/„Opernhof“ adligen Höfen üblich war, nicht verzichten. Einer, der besonderen Wert auf solch eine Freizeitgestal- Als die Colonnaden noch nicht erbaut waren, hieß tung legte, war Herzog Christian Albrecht von die Adresse des Opernhauses: Gänsemarkt 66–69. Schleswig-Holstein (1641–1695), der auf Grund poli - Sein Standort war östlich des Gänsemarktes, dort, tischer Auseinandersetzungen zwischen Dänemark wo sich heute in den Colonnaden 17/19 der Hinter- und Schweden in Hamburg Zuflucht gefunden hatte eingang zur Gänsemarktpassage befindet. und dort von 1676 bis 1679 und von 1684 bis 1689 Der „Opernhof“ war nur vom Gänsemarkt her zu- im Exil leb te. Zusammen mit ihm wurde zur Über- gänglich. An dessen Ende stand das 1677 gegrün dete nahme der finanziellen Risiken ein Konsortium zum Opernhaus, welches 1765 durch einen Neubau er- Bau einer Oper gegründet. Zu diesem Konsortium setzt wurde (siehe „Comödienhaus“ S. 216). Innerhalb zählten auch der Rechtsanwalt und spätere Ratsherr des Bereiches „Opernhof“ befanden sich der Böck- Gerhard Schott (1641–1702), der Jurist und spätere mann’sche Garten (siehe S. 228), der östlich und Bürgermeister Peter Lütkens (siehe auch S. 25) und nördlich an den „Opernhof“ anschloss und ursprüng- der Organist der Hauptkirche St. Katharinen Jan lich bis an die Alster reichte, und der Buek’sche Gar- Adam Reinken (1643–1722). ten, der im nördlichen Teil des Terrains lag.

Lage des „Opernhofes“/ Oper am Gänsemarkt/ „Comödienhaus“. Kar- tenausschnitt aus: Grundriss der Kaiserl. Freien Reichs-Stadt Hamburg im Jahr 1794, gestochen von T. A. Pin- geling, Hamburg 1794. Staats- und Universitätsbi- bliothek Hamburg Kt H144

252 Vgl.: Joachim R. M. Wendt: in die Neuzeit. Hamburger Jahrbuch rung und Organisationsstruktur der Neues zur Geschichte der Hamburger für Musikwissenschaft. Bd. 18. Frank- alten Hamburger Oper am Gänsemarkt. Gänsemarktoper. In: Hans Joachim furt/M., Berlin, Bern u. a. 2001, S. 190. In: Siegfried Schmalzriedt (Hrsg.): As- Marx (Hrsg.): Beiträge zur Musikge- 253 Hans-Dieter Loose: Kaufleute, pekte der Musik des Barock. Auffüh- schichte Hamburgs vom Mittelalter bis Mäzene und Diplomaten – Finanzie- rungspraxis und Stil. Bericht über die 212 GÄNSEMARKT 66–69 · Gänsemarktoper/„Opernhof“

Eröffnet wurde die Bühne 1678 mit einem biblischen ser [1628–1686], Pastor an St. Jacobi, in seiner ge- Stoff: einer Adam- und Eva-Oper: „Der erschaffene, druckten Schrift „Theatromania oder die Werke der gefallene und auffgerichtete Mensch“ (Musik: Jo- Finsterniß in den öffentlichen Schauspielen, von den hann Theile (1646–1724), dem Hofkapellmeister von alten Kirchenlehrern und etlichen heidnischen Scri- Herzog Christian Albrecht von Schleswig-Holstein; benten verdammet“ ein Verbot von Oper und Thea- Libretto: Christian Richter), „(…) doch war sie ver- ter. „Der Pietismus setzte sich in diesen Jahren in- mutlich nicht die offizielle Eröffnungsoper, sondern tensiv mit dem Einfluss der Künste auf die Menschen sollte als Vorausvorstellung die einflussreichen Ham- und ihr Seelenheil auseinander, da er begriffen hatte, burger Persönlichkeiten mit dem neuen musikali- dass die Künste – selbst in kirchlichem Zusammen- schen Medium vertraut machen und versöhnen, hang – eine ästhetische Eigenqualität entfalteten, denn in Hamburg gab es viele und heftige Vorbe- die die Sinne der Betrachter und Zuhörer von den halte gegen die Oper.“254) Die Hauptkritikpunkte dadurch vermittelten geistlichen und moralischen waren – ganz kaufmännisch gedacht – die hohen Wahrheiten ablenkte, und speziell die Musik mit ih- Kosten für Opernaufführungen, „zum zweiten wa- rem berauschenden Zauber galt als unheilig.“257) ren sie höfischer Herkunft, was die bürgerliche Skep- Gegen diese Schrift wurden mehrere Gegenschriften sis gegen alles Aristokratische heraufbeschwor, und veröffentlicht, so dass schließlich wieder Ruhe ein- zum dritten waren sie ungewohnt und seltsam, denn kehrte. Doch diese war nur von einiger Dauer. „Mit kein Mensch unterhielt sich im normalen Leben mit dem ersten Höhepunkt der innerpolitischen Ham- dem Gesprächspartner singend.“255) burger Auseinandersetzungen [siehe dazu auch Besonders heftig reagierte aber die Hamburger Geist- S. 26 Dammtorstraße 14, Garten von Peter Lütkens] lichkeit auf die Oper. Dabei gab es auch hier zwei 1685/86 geriet jedoch auch die Oper wieder zwi- Lager. „Die eine Seite ließ die Oper unter bestimm- schen die feindlichen Fronten und musste auf Be- ten Bedingungen gelten und verfasste sogar selbst schluss der Bürgerschaft für mehr als ein Jahr den manche Libretti, die Gegenseite verteufelte die Oper Betrieb einstellen. Als Gerhard Schott schließlich und verlangte vom Rat ein Verbot. Hier beruhigend auf Wunsch der Residenten der auswärtigen Mächte einzuwirken, war vermutlich der Sinn der ‚geistli- am 14. April 1687 die Opernaufführungen wieder chen‘ Voreröffnung mit Theiles Adam- und-Eva- aufnahm, brach der Sturm der Entrüstung seitens Oper (…).“256) der inzwischen verstärkten pietistischen Partei der Die Befriedung gelang, doch 1681 brach der Streit Geistlichkeit los. Schott versuchte, durch eine Un- erneut heftig auf. So verlangte der Pietist Anton Rei- terschriftenaktion an der Börse, den Opernbetrieb zu retten, doch der geringe Erfolg zwang ihn, die Oper erneut zu schließen, während der Rat beim Geistlichen Ministerium eine Entscheidung einholte, ob das Theater den Status der theologischen ‚Adia- phora‘, also der ‚geistlichen Mitteldinge‘, die weder von sich aus gut noch von sich aus schlecht wären, für sich beanspruchen könnte. Die Geistlichen wa- ren uneins, und Schott erreichte endlich beim Rat die Erlaubnis, wieder Opern spielen zu lassen, doch die Predigten gegen die Oper hörten nicht auf. Da- durch sah sich Schott veranlasst, sich in seinem Be- mühen um die Oper der Meinung auswärtiger Au- Das erste Opernhaus am Gänsemarkt (1677–1757), Ab- toritäten zu versichern, und holte gegen Ende des bildung von 1726. Staatsarchiv Hamburg Jahres 1687 Gutachten von den theologischen und

Symposien der internationalen Händel- nis zwischen Barock und Aufklärung Akademie Karlsruhe 2001 bis 2004. (1660–1760). Hamburg 1997, S. 80. Karlsruhe 2006, S. 324. 255 Gisela Jaacks, a. a. O., S. 81. 254 Gisela Jaacks: Hamburg zu Lust 256 ebenda. und Nutz. Bürgerliches Musikverständ- 257 ebenda. GÄNSEMARKT 66–69 · Die Oper ein Wirtschafts-, Standort- und PR-Faktor 213 juristischen Fakultäten der Universitäten Jena, Ros- mit Aufsässigkeit oder Unterordnung reagierte. Die tock und Wittenberg und von dem gelehrten, mu- Gänsemarkt-Bühne verdankte diese singuläre Posi- sikliebenden und pietistenfeindlichen neuen Ham- tion dem besonderen Status Hamburgs, das zum burger Jakobihauptpastor Johann Friedrich Mayer einen als zweitgrößte Stadt des Reiches und Zen- ein [1650–1712].“258) trum von Handel, Diplomatie und Geistesleben den Damit wurde dann wieder Ruhe erreicht. Doch es intellektuellen und finanziellen Nährboden für Ge- flammten in der Folgezeit immer wieder von Seiten samtkunstwerke wie etwa das Fest zur Kaiserkrö- der Kirche Proteste gegen die Oper auf, besonders nung von 1712 bot, zum andern durch seine expo- dann, wenn in ihren Augen die gesellschafts-politi- nierte Lage am Nordrand des Reiches und seine sche Situation solch ein Vergnügen nicht zuließ, so innen- und außenpolitisch labile Situation zum stän- in Zeiten von Unruhen, Kriegen und während des digen Lavieren zwischen verschiedenen Mächten Ausbruchs der Pest. gezwungen war. (…) So wie Deutschlands Territo- rialfürsten durch den Bau von einander übertrump- Die Oper, ein Wirtschafts-, Standort- fenden Residenzanlagen die ‚grandeur‘ ihres Hauses und PR-Faktor demonstrieren wollten, versuchte auch eine Stadt wie Hamburg ihre Rolle im Reich und ihre Ressour- In Hamburg, einem Zentrum der Diplomatie und cen plakativ dazustellen – und fand in diesem Fall des Nachrichtenwesens, wurde mit Festen, Musik, das Fest und die Oper als geeignetes Medium dafür. Tanz und Oper Politik gemacht – auch vom Rat der Wenn es zu Auseinandersetzungen um die Kosten Stadt. Und das nach dem Vorbild der Fürstenhöfe, für die Festopern kam, wurde ihre Berechtigung ja auch wenn die Stadtkämmerer immer wieder auf in etlichen Fällen damit begründet, dass sie Ham- die Sparbremsen traten. „Das Theater diente nicht burg zur Ehre gereichten und das Ansehen der Stadt nur zur Unterhaltung der Hamburger Bürger, die nicht nur im Reich, sondern auch in anderen Län- Aufführungen waren mitunter auch Teil von diplo- dern erhöhten. Man sah die Ausgaben also auch, matischen Bemühungen (…). Der Hamburger Rat modern gesprochen, als ‚Werbungskosten‘ an, die bezeugte z. B. seine Kaisertreue durch aufwendige auf keinen exakt bezifferten Gegenwert bezogen wa- Festopern zu Ehren des Habsburger Herrscherhau- ren, sondern indirekt (auch durch das Anlocken von ses, auswärtige Gesandte verherrlichten ihre Regie- ‚Kulturtouristen‘) zur Förderung der Wirtschaft bei- rungen mit ebensolchen Produktionen im Opern- tragen sollten. haus.“259) Welche Bedeutung den Festopern zugemessen wur - Die Oper war ein Wirtschafts-, Standort- und PR- de, belegt das Bemühen der Hamburger Textdichter, Faktor. „Es gab im deutschen Reich während des über die Standardmotive der Fürstenverherrlichung späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts kein zweites hinaus ihre Libretti den politischen oder dynasti- Opernhaus, das wie das Theater am Gänsemarkt im schen Gegebenheiten genauestens anzupassen. In Schnittpunkt unterschiedlicher Propagandarichtun- der bewundernswert geschickten Auswahl von neu - gen lag und von allen beteiligten Parteien (bis auf en, noch nie auf der Opernbühne gesehenen Sujets, eine) genutzt werden konnte: Politische Botschaften in der Loslösung von den vorherrschenden italieni- im musikalischen Gewand wurden vom Rat an den schen und französischen Modellen und im Streben Kaiser übermittelt, von Botschaften auswärtiger nach historischer Authentizität des Dargestellten Mächte an andere Botschafter und die Stadt Ham- liegt ein Teil der künstlerischen Qualität von vielen burg, vom Operndirektor als ‚Sprachrohr‘ des Rates dieser Werke“,260) schreibt Dorothea Schröder in an fremde Monarchen und Fürsten, und vom Rat an ihrem Buch „Zeitgeschichte auf der Opernbühne“. die eigene Bevölkerung, die als einzige Partei nur 1745 wurde die letzte politisch motivierte Hambur- rezipierte und nicht mit Bühnenwerken, sondern ger Festoper aufgeführt.

258 Gisela Jaacks, a. a. O., S. 87. te auf der Opernbühne. Barockes Mu- 259 Rüdiger Thomsen-Fürst: Ham- siktheater in Hamburg im Dienst von burg musikalisch. Spurensuche in der Politik und Diplomatie (1690–1745). Neustadt. Hamburg 2000, S. 30. Göttingen 1998, S. 297f. 260 Dorothea Schröder: Zeitgeschich - 214 GÄNSEMARKT 66–69 · Inneneinrichtung, Operntechnik und das Publikum

Inneneinrichtung, Operntechnik und und vom Theater her hinlänglich durchhellt, damit das Publikum die Damen und Herren in ihren Opernbüchern (die zu jeder neuen Oper gedruckt erschienen und ver- Viele Quellen rund um die Oper sind durch man- kauft wurden) nachlesen konnten.“262) gelnde Wertschätzung, Brände und Kriegsverlust Über die Zusammensetzung und Sitzplätze der Be- verloren gegangen. So sind keine Zeichnungen der sucherinnen und Besucher lässt sich jedoch mangels alten Bühnentechnik und des Zuschauerraumes Quellen nichts Eindeutiges sagen, denn für Hamburg überl iefert. Aber es gibt Beschreibungen von Opern- sind keine Logen- oder Vermietungspläne der einzel - besuchern, literarische Texte und Bilder von Auffüh- nen Plätze überliefert, wie es sie beispielsweise aus rungen, die Pracht und ausgefeilte Bühnentechnik italienischen Barocktheatern gibt. Dadurch kann belegen. Die Bühne war eine sehr tiefe Bühne, mit nicht genau festgestellt werden, wie die einzelnen drei hintereinanderliegenden Spielflächen: einer Vor- sozialen Schichten auf das Theater verteilt ihre Plätze derbühne mit je sieben seitlichen Kulissenpaaren hatten – ob es Stammkunden gab oder ob zu jeder und zwei Hinterbühnen mit acht Kulissenpaaren. Saison neue Kunden hinzukamen –, aber man kann Diese vielen Kulissen waren für die damalige Zeit sich aus einigen Berichten ein gewisses Bild vom außergewöhnlich und imponierend.261) Publikum machen: Die rund 2000 Besucherinnen Die Anordnung der Kulissen entsprach der zentral- und Besucher werden kaum in andachtsvoller Stille perspektivischen barocken Bühnenanlage und er- dem Operngeschehen gelauscht haben. 1680 hatte möglichte rasante Szenenwechsel. Zur Trickkiste der Hamburger Rat ein Mandat gegen Tätlichkeiten gehörten auch Konstruktionen für Versenkungen im Opernhaus erlassen.263) und Flugmaschinen in den Ober- und Unterwelten. Farbig und aufschlussreich sind die Berichte von Tho- Dorothea Schröder berichtet von ausgeklügelter mas Lediard (1684–1743), einem vielseitigen Sekre - Lichtregie, mit deren Hilfe Sonnenaufgänge und Ge- tär der Britischen Gesandtschaft, Bühnenbildner und witterszenen inszeniert werden konnten. Es konnten Ausstatter prunkvoller Opernaufführungen, zur Feier sogar Feuerwerke, Feuerräder und Raketen auf der des englischen Königshauses. Lediard schrieb in der Bühne abgebrannt werden, was natürlich nicht un- Maskerade eines anonymen Kundschafters: „Ich bath gefährlich war. Deshalb wurde die Bühne mit Sand meinen Wirt mit mir zur Oper zu gehen, und hoffete, abgestreut und hinter den Kulissen von Mitgliedern mich mehr mit dem Anblick der Gesellschaft als mit der Bürgerwache mit gefüllten Wassereimern beob- dem Stück selbst zu ergötzen, weil ich hörte, daß achtet. Theaterbrände aus anderen Städten sind be- der Platz im Parterre nur einen halben Thaler, oder kannt, in Hamburg ist nie etwas wirklich Schlimmes ungefähr zwey englische Schilling kostete. Allein ich passiert. Nur in einer Quelle hat Dorothea Schröder betrog mich hierin und fand, dass die Oper meine den Hinweis gefunden, dass das Theater beinahe ab - Erwartungen weit übertraf. Das Haus ist groß und gebrannt wäre. Danach wurden die Feuerwerke ab - hübsch. (Die Schaubühne ist sehr lang, und wie ich geschafft und so genannte Illuminationen aufgebaut. glaube, bey der weitesten Öffnung nicht viel weniger Das waren transparente Bühnenbilder, die von hinten als hundert Fuß tief, und verhält nismäßig breit, aber beleuchtet wurden – etwa wie Beamer- oder Diapro- zu niedrig für seine Länge und zu abhängig.) Das jektionen, sicher ein überwältigender Anblick. Parterre ist sehr schön und bequem in Gestalt eines Auch wird in Quellen davon berichtet, dass in die- Amphitheaters mit einem Platz zwischen ihm und sem mit Logen, Parterre und Gallerien versehenen dem Orchester von ungefehr zehn Fuß breit, für die Gebäude keine Kosten gespart wurden: „Die Logen Herren, welche Spatzieren gehen und sich unterreden waren zu Sitzplätzen so eingerichtet, dass sie 9 bis wollen, welcher so viel tiefer als das Amphitheater 12 Personen bequem fassen konnten. Sie waren alle liegt, dass man daselbst immerhin stehen kann, ohne mit dünnem Bretterwerk voneinander geschieden den andern Zuschauern die Ansicht zu benehmen.

261 Vgl.: Joachim E. Wenzel: Die 1794. Zit. nach: Joachim E. Wenzel, Geschichte der Hamburger Oper 1678– a. a. O.; S. 11. 1978. Hamburg 1978, S. 10. 263 J. E. Wenzel, a. a. O., S. 18. 262 Friedrich Wilhelm Schütz: Ham- burgische Theatergeschichte. Hamburg GÄNSEMARKT 66–69 · Inneneinrichtung, Operntechnik und das Publikum 215 Der Niedergang der Gänsemarktoper · Opernchefin mit Ausstrahlung: Margaretha Susanna Kayser

An dem einen Ende dieses Ganges ist eine Bude, wo- Oper am Gänsemarkt nach Gerhard Schotts Tod 1702 rin Thee, Caffee, gebrannte Wasser und andere Erfri- angewiesen auf Zuschüsse aus Adels- und Diploma- schungen verkaufet werden.“264) tenkreisen. „Ausnahmslos arbeiteten die Operndi- Für acht Schillinge konnten die Besucherinnen und rektionen von 1722 bis 1734 und darüber hinaus bis Besucher ein Libretto kaufen und im erleuchteten April 1738 mit Verlust.“266) Zu schauerraum mit- und nachlesen, was auf der Die Operndirektionen wechselten, einzig Margaretha Bühne passierte. Doch blieben Missverständnisse Susanna Kayser, eine berühmte Sängerin, behaup- keines wegs ausgeschlossen, bei der Vielzahl von tete sich über einen längeren Zeitraum. Stoffen und Figuren. So wird 1724 in der satirischen Opernchefin mit Ausstrahlung: Margaretha Maskerade eines jungen Mannes und Opernneulings Susanna Kayser, geb. Vogel, (21.3.1690–8.3.1774) in der moralischen Wochenschrift „Der Patriot“ be- richtet: „Die wenigsten hatten Bücher und musten „Madame Kayserin“, wie sie respektvoll genannt entweder alles vorher auswendig gelernt haben oder wurde, war wohl die berühmteste Sängerin an der sich auch eine Ehre machen, dass sie durchaus nicht Hamburger Gänsemarktoper. Sie stammte aus einer zuhören wollten. Ich hatte dessen in der Loge neben Musikerfamilie und war nicht verwandt mit dem mir verschiedene Proben, die mich nicht wenig beun- Opernkomponisten Reinhard Keiser (1674–1739). ruhigten, wiewohl auch zugleich von der Einfalt Ihr Vater war der Opernsänger Johann Heinrich Vo- eines jungen wohl-brodirten, und, dem Ansehen gel, über die Mutter ist noch nichts bekannt. Marga- nach, sonst artigen Herren, der vielleicht eben wie retha Susanna Kayser verkörperte Kaiserinnen und ich, zu vor noch nie eine Oper gesehen hatte. Dieser, Zauberinnen ebenso wie Dienstbotinnen, sang in so noch am emsigsten zuhörte, fragte mich einst: Festmusiken und Konzerten, war Konzertunterneh- was itzund für eine Person sünge? Und ich antwortete merin und eine enge Mitarbeiterin des Hamburger ihm: Gensericus. Ey sagte er, und zeigte sein Buch, Musikdirektors Georg Philipp Telemann (1681–1767). hier steht ja: Aria. Ich hatte Mühe, meine Befremdung Sie sang in seinen Oratorien, Opern und Kapitäns- über diesen Handel nicht bloß zu geben; unter seiner musiken und wirkte als erste Frau mit Johann Gesellschaft hingegen, die es nothwendig hören Mattheson (1681–1764) bei Kirchenmusiken im muste, entstund darüber ein lautes Gelächter.“ Ham burger Dom mit. „Den 17. Sept. [1714] hielt er [Matt heson] Musik im Dom, und führte Madame Der Niedergang der Gänsemarktoper Kayser aufs Chor, welches, ausser obigem Exempel, zuvor in keiner hamburgischen Kirche geschehen Über 300 verschiedene Opern wurden in der Oper war, daß ein Frauenzimmer mit musiciret hätte; hin- am Gänsemarkt aufgeführt. Viele Opern waren führo aber im Dom allemahl, bey seiner Zeit, ge- deutschsprachige Bearbeitungen von italienischen schah.“267) oder französischen Vorlagen oder Neuschöpfun- Außerdem trat Madame Kayser in Brüssel, Kopen- gen, gelegentlich mit Hamburger Lokalkolorit und hagen und in Darmstadt auf, wo sie zwischen 1709 plattdeutschen Einlagen. Rund 50 Opern, also ein und 1717 als bestallte Hofsängerin wirkte. Ihr Opern- Sechstel, waren Festopern (Singballette, Serenaten, debüt in Hamburg als Mirtenia in Christoph Graup- Prolo ge, Epiloge). Gewidmet den gekrönten oder zu - ners (1683–1760) Oper „Antiochus“ (1708) war so mindest adligen Häuptern waren sie Spezialanferti- er folgreich, dass ihr Johann Ulrich König (1688– gungen für Krönungen, Fürstinnen- und Fürstenge- 1744) ein Lobgedicht widmete. Später verkörperte burtstage, Hochzeiten und militärische Erfolge, die sie fast alle weiblichen Hauptrollen des Repertoires von den in Hamburg residierenden Gesandten dieser – darunter so schillernde Figuren wie 1725 die Köni- Fürsten in Auftrag gegeben worden waren.265) gin Kleopatra in Georg Friedrich Händels (1685– Doch trotz künstlerischer Hochleistungen war die 1759) „Julius Caesar“.

264 Thomas Lediard: Der deutsche 266 J. R. M. Wendt, a. a. O., S. 186. Kundschafter. Aus der zweyten Londo- 267 Johann Mattheson: Grundlage ner Ausgabe von 1740 übersetzt. einer Ehren-Pforte, Hamburg 1740. Lemgo 1764, S. 120f. Nachdr. Berlin 1910, S. 203. 265 Vgl.: D. Schröder, a. a. O., S. 1. 216 GÄNSEMARKT 66–69 · Der Niedergang der Gänsemarktoper · Das „Comödienhaus“

Aber auch resolute Dienstbotinnen wie Gesche und sie die unverheirateten jungen Mädchen unter ihre Gretje in Opern mit Hamburger Lokalkolorit kreierte Aufsicht und drängte sie zur Ehe. Die unverheirate- sie. Zwischen 1729 und 1737 übernahm sie auch ten Männer nahm sie als Kostgänger, damit sie nicht noch die Leitung des Opernhauses. Einige ihrer ins Wirtshaus gingen. neun Kinder wirkten als Sängerinnen und Sänger Obwohl sie das erbetene Privileg, zwölf Jahre in und Musiker, wie Sophie Amalia verh. Verocai (vor Hamburg spielen zu dürfen, um Ruhe für eine kon- 1712–1747) und Gottfried Otto (1718–1796). Hohe tinuierliche Arbeit zu haben, nicht erhielt, pachtete Gagen erhielt die Kayserin für ihre Auftritte bei bür- sie 1738 das Opernhaus. Doch dem an Opernhaus gerlichen Hochzeiten, für die sie gelegentlich auch und Amüsement gewöhnten Publikum missfiel das Hochzeitskantaten-Texte beisteuerte. 1751 ging sie Neue. Selbst als die Neuberin im zweiten Jahr ge- nach Stockholm, ist dort spätestens ab 1754 als Hof- wisse Konzessionen an den Publikumsgeschmack sängerin nachgewiesen. Trotz ihres respektierten machte, konnte sie das Theater nicht halten und Wirkens in der Öffentlichkeit spiegelte ihre Ehe all- zog nach einer bitteren Abschiedsrede 1740 weiter tägliche patriarchale Gewaltverhältnisse wider: 1706 nach Petersburg. 1751 musste sie verarmt und ver- hatte sie in Hamburg den Violinisten und Holzbläser schuldet ihre Truppe aufgeben. Johann Kayser (1685?–1766) geheiratet, der sie ver- Ab Oktober 1751 stand das Haus leer und wurde prügelte und betrog.268) 1757 wegen Baufälligkeit abgerissen.270) Wegen der niedrigen Lage des Grundes hatte sich immer wieder Alsterwasser im Keller des Opernhauses gesammelt, Im April 1738 wurde das Hamburger „Theatro“ als so dass das unterste Gebälk verfault war. „selbständiges Unternehmen“ geschlossen.269) Text: Birgit Kiupel Fortan wurde das Haus vor allem von fahrenden italienischen Opernunternehmern besucht. In den Jahren von 1740 bis 1754 kamen die Brüder Mingotti Das „Comödienhaus“ (Pietro um 1702–1750; Angelo um 1700 bis nach 1767) regelmäßig mit den berühmten Primadonnen An Stelle des Opernhauses wurde das Ackermann’ Francesca Cuzzoni (1698–1770) und Marianne Pir- sche „Comödienhaus“ errichtet, das am 31. Juli 1765 ker (1717–1782) nach Hamburg. eröffnet wurde. Konrad Ernst Ackermann (1712– Mit dem Niedergang der Oper ging der langsame 1771) hatte auf eigene Rechnung das „Comödien- und mühsame Aufstieg des Sprechtheaters einher, haus“ bauen lassen. „Der Platz, auf dem das Haus der in Deutschland eng mit dem Namen einer Frau, [„Comö dienhaus“] stand, war nicht sehr geräumig, der Prinzipalin Friederike Caroline Neuber, geb. Wei- der Eingang zu dem selben wurde von zwei schma- ßenborn, gen. Die Neuberin (9.3.1697–30.11.1760), len, mit Buden besetzten Höfen gebildet, die schlecht verbunden ist, die eine Wandertruppe leitete. gepflastert waren, und bei schlechtem Wetter grund- Caroline Neuber, der begabten und gebildeten Toch- lose Pfützen aufwiesen, genau wie der Platz vor ter eines Advokaten aus Zwickau, ging es darum, dem Theater, was manchen vom Besuche abhielt. das Theater in den Rang einer anerkannten hohen Die Zugänge des Theaters, die zu den Sitzplätzen Kunst zu heben und zu professionalisieren. Sie ver- führten waren eng und unbequem angelegt“,271) warf Gaukelei und wildes Possenspiel und orientier - schrieb J. K Heckscher. te sich stattdessen in Repertoire und Darstellungs- Das Haus „war (...) nur ein schmuckloses, mit Bret- weise an der französischen Klassik mit ihrem Geist tern belegtes Gebäude, das versteckt im Hintergrund edler Gefasstheit, Würde und Pflicht. Um das gesell - eines engen Hofes lag. Vor dem Hause hingen stän- schaftliche Ansehen des als „Fahrendes Volk“ diskre- dig auf ausgespannten Leinen die den Hausbewoh- ditierten Schauspielerstandes zu verbessern, stellte nern gehörenden Hosen, Hemden und andere Wä-

268 Biographisches über Schauspiele- Ham burgs Alt- und Neustadt. Hamburg des Museums für Hamburgische Ge- rinnen und Sängerinnen der Hamburger 2003. schichte. In: Mitteilungen des Vereins Oper siehe auch die Publikation: Rita 269 J. R. M. Wendt, a. a. O., S. 188. für Hamburgische Geschichte. Bd. 11. Bake, Brita Reimers: So lebten sie! Spa- 270 J. R. M. Wendt, a. a. O., S. 190. H. 1. Nr. 1. 1911, S. 8. zieren auf den Wegen von Frauen in 271 J. K. Heckscher im Jahresbericht GÄNSEMARKT 66–69 · Das „Comödienhaus“ 217

Grundriss des Platzes vor dem Ackermann’schen „Comödienhaus“ am Gänsemarkt, Zeichnung von 1814. Staatsarchiv Hamburg schegegenstände, die dort trocknen sollten, und ga- Parterre gab es einen ersten und zweiten Rang und ben den Theatergängern Anlass zu allerlei Scherz- darüber eine Galerie, deren Besucher bei Regenwet- reden. Hatte man die auf der Straße stehende kleine ter ihre nass gewordenen Mäntel und Umhänge ein- Kasse passiert, so gelangte man über einen engen, fach über die Logenbrüstung zum Trocknen aus- schwach erhellten Korridor zu einer schmalen steilen hängten, so dass die Leute im Parterre zu ihrem Treppe, die man erklimmen musste, um ins Parterre größten Ärger stets betröpfelt wurden.“272) zu gelangen. Hier standen dann einige einfache, mit Nach zwei Jahren war Ackermann ruiniert. Die dunklem Tuch überzogene Bänke ohne Lehne, auf Bühne ging an Abel Seyler (1730–1800) und zwei denen nur wenige Zuschauer Platz fanden, während weitere Kaufleute über, die das erste deutsche Natio- die meis ten unmittelbar hinter dem Orchester oder naltheater gründeten (siehe dazu S. 185). Nach Sey- zu bei den Seiten der Sitzplätze standen. Außer dem lers Scheitern übernahm Ackermann 1769 die Bühne erneut auf eigene Rechnung. Ein halbes Jahr vor sei nem Tod übergab er sie 1771 offiziell an seine Frau Sophie Charlotte Schröder, geb. Biereichel, in zweiter Ehe verheiratete Ackermann (10.5.1714– 13.10.1792) und seinen Stiefsohn Friedrich Ludwig Schröder (1744–1816), der aus einer kurzzeitigen Wiedervereinigung Sophie Charlotte Schröders mit ihrem ersten Ehemann stammte. Sophie Charlotte Schröder, Tochter eines Goldstickers, hatte in Berlin den Organisten Schröder geheiratet, sich jedoch 1738 von ihm getrennt, weil der trunk- süchtige Mann sie nicht ernähren konnte. In Ham- Anstelle des Opernhauses wurde 1765 das Ackermann’ sche „Comödienhaus“ errichtet, das 1765 eröffnet wur - burg suchte sie mit Näharbeiten ihr Auskommen, de. Staatsarchiv Hamburg bis der berühmte Schauspieler (1720–

272 Max W. Busch und Peter Dannen- berg (Hrsg.): Die Hamburgische Staats- oper I. 1678–1945. Bürgeroper-Stadt- Theater-Staatsoper. Zürich 1988. 218 GÄNSEMARKT 66–69 · Das „Comödienhaus“

1778) sie 1740 mit zur Schönemann’schen Truppe Nachdem Sophie Charlotte Ackermann kurz vor nach Lüneburg nahm. Ob es um einen Rollenstreit dem Tod ihres Mann die Leitung des „Comödienhau- oder eine unerfüllte Geldforderung ging, 1741 packte ses“ übernommen hatte, trat sie 1772 zum letzten Madame Schröder kurz entschlossen ihre Habe zu- Mal als Schauspielerin auf die Bühne und kümmerte sammen und gründete eine eigene Truppe, wobei sich fortan um die Finanzverwaltung, um Überset- sie die Kollegen Konrad Ackermann, ihren späteren zungen und die Bearbeitungen von Theaterstücken. zweiten Ehemann, und das Ehepaar Starke mit sich Den Kostümen widmete sie eine bis dahin nicht da- nach Hamburg zog. Schönemann reiste ihr nach, gewesene Sorgfalt und zog auch ihre Töchter zum um seine Privilegien in Hamburg zu sichern. Nach Nähen, Sticken und Vergolden heran. Bei Gastspie- einem sechswöchigen Prozess erhielt jedoch Mada- len hielt sie mitreißende Begrüßungsreden über die me Schröder die Genehmigung, in Hamburg zu spie- Aufgabe des Theaters und die Würde des Schauspie- len. Wie die Neuberin versuchte sie, das Niveau des lerberufes. Vor allem aber war sie Repetitorin der Schauspiels auf der Bühne des Opernhauses zu he- Truppe und studierte nicht nur mit Frauen und Kin- ben. Aber wie diese hatte sie wenig Erfolg. Ihre dern, sondern häufig auch mit den Männern die Truppe war zu schwach, und das Publikum wollte Rollen ein. Ihr Sohn Friedrich Ludwig Schröder sich vor allem amüsieren. 1744 musste sie das Vor- (1744–1816) hatte die künstlerische Leitung der haben wieder aufgeben. So wanderte sie, nachdem Bühne inne bis er 1781 wegen interner Schwierig- sie an anderen Orten in der Stadt wie im „Hof von keiten die Direktion des Theaters niederlegte und Holland“ und in der „Fuhlentwietenbude“ an der ans Hoftheater nach Wien ging. Fuhlentwiete 10 ihr Glück versucht hatte, mit Konrad 1783 übernahm Abel Seyler erneut das „Comödien- Ernst Ackermann bis nach Moskau, wo sie ihn nach haus“. Doch als Friedrich Ludwig Schröder 1785 von dem Tode ihres ersten Mannes 1749 heiratete. Ihre Wien nach Hamburg zurückgekehrt war, übernahm Töchter Dorothea (1752–1821) und Charlotte (1757– dieser von 1786 bis 1797 vollständig die Leitung des 1775) Ackermann wurden berühmte Schauspielerin - „Comödienhauses“. Zwischenzeitlich war seine Mut- nen. ter Charlotte Ackermann 1792 gestorben. Von jetzt an hatte Konrad Ernst Ackermann die füh- Schröder, der mit der ebenfalls am „Comödienhaus“ rende Rolle inne. 1753 übernahm er eine reisende spielenden Schauspielerin Anna Christina Schröder, Gesellschaft, mit der er 1755 in Königsberg und von geb. Hart (1755–1829), verheiratet war, lebte mit sei- 1760 bis 1763 in spielte. Danach kehrte das ner Frau auf einem Landsitz in Rellingen. Dort hatte Paar mit der Truppe nach Hamburg zurück, wo es das Ehepaar Schröder für kranke und bedürftige das „Comödienhaus“ bauen ließ. alte Schauspielerinnen und Schauspieler bei freier Kost und Logis ein kleines Nebenhaus ein- gerichtet. Darüber hinaus hatte Schröder eine Pensions- und Sterbekasse für Bühnen- angehörige ins Leben gerufen. Anna Chris- tina Schröder stimmte als Erbin ihres Man- nes in den 1820er Jahren einem Neubau des Thea ters auf dem Kalkhof an der Dammtor- straße (siehe S. 87) nur zu, weil die Verein-

1827–1877: Das alte Theatergebäude am Opern- hof, in dem Wohnungen eingebaut wurden. Staatsarchiv Hamburg GÄNSEMARKT 66–69 · Das Comödienhaus 219 GÄNSEMARKT 71–74/COLONNADEN 17/19 · Englischer Reitstall/Reitinstitut

barungen den Fortbestand dieser Kasse garantier- Kokarde betreten solle. Wütend erschien sie mit einer ten. tellergroßen Kokarde – in einer stummen Rolle. Da- Eine Episode im Kriegsjahr 1813 zeigt, wie sehr die nach verließ sie Hamburg und ging nach Wien. Bühne damals als neben der Kanzel einziger öffent- Der französische Marschall Louis-Nicolas Davout licher Ort für Fragen von allgemeiner politischer und (1770–1823) war ein eifriger Besucher des „Comö- moralischer Bedeutung verstanden wurde, eine dienhauses“, doch nahm er „Anstoß an den be- Funktion, die insbesondere dort, wo eine Obrigkeit rüchtigten übelriechenden Zugängen, welche die die Freiheit im Denken einschränkt, immer wieder Auffahrt seiner Equipage behinderten, und ließ An- wahrgenommen wird. Am 18. März 1813 erwies So- fang 1814 alle Häuser und Buden des ,Opernhofes‘ phie Schröder (1781–1868) den in Hamburg einmar- abbrechen“.273) schierten Kosaken die Ehre, indem sie in August von Am 1. Mai 1827 gab es die letzte Vorstellung im Kotzebues (1761–1819) Schauspiel „Der Russe in „Co mödienhaus“. Zunächst wurden in dem Gebäude Deutschland“ mit der russischen Kokarde am Busen Wohnungen eingebaut, und schließlich wurde es erschien. Als einige Wochen später die Franzosen 1877 beim Bau der Colonnaden abgerissen. Hamburg wieder besetzten, befahl der Gouverneur, Text: Brita Reimers dass sie die Bühne nunmehr mit der französischen

64. STATION Gänsemarkt 71–74 (alte Nummerierung) und Colonnaden 17/19 Englischer Reitstall von Johann Teich (Standort: 1724–1885 Abriss); Colonnaden 17/19: Reitinstitut (Standort: 1885–1920, Abriss: 1977) Neben der Gänsemarktoper zur Büschstraße hin be- fand sich von 1724 bis zu seinem Abriss 1885 der Englische Reitstall von Johann Teich, Stallmeister der Englischen Court. Der Reitstall erlebte wechselnde Besitzer. Die letzten Besitzer Lau und Oppenheimer ließen den Reitstall 1885 abbrechen, um ein neues Reitinstitut an den Colonnaden 17/19 zu errichten. Dieser neue Reitstall war „ein Geschäftshaus eigener Art. Im Erdgeschoss war eine Stallung für 130 Pferde. Darüber befand sich eine Reithalle, die vom Stall aus über eine Rampe zugänglich war“.274) „Das obere Stockwerk hatte neben der 35x20 m großen Reithalle auch die Haferkammern, an der Nordseite erhöht die Logen für die Besucher und die Musikkapelle.“275) 1920 1724–1885: Lage des Englischen Reitstalls in den Co- schloss der Reitstall, und die Autofirma Raffey & Co. lonnaden am heutigen Hintereingang in die Gänse- zog ein. In den folgenden Jahren wurde der Reitstall marktpassage. Kartenausschnitt aus: C. L. B. Mirbeck, B. Baker Sculps. Hamburg 1827. als Autogarage und Autoreparaturwerkstatt genutzt Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Kt H35b und 1977 schließlich abgerissen.

273 Armin Clasen: Der Gänsemarkt. Hamburgische Geschichte. Hamburg 275 Armin Clasen: Der Gänsemarkt. Zur Bau- und Grundstücksgeschichte 1979, S. 36. a. a. O., S. 53. seiner Nordseite. Hrsg. von der Ham- 274 Hamburg und seine Bauten. Hrsg. burg-Mannheimer Versicherungs-AG in v. Architekten- u. Ingenieurverein zu Zusammenarbeit mit dem Verein für Hamburg. Hamburg 1890, S. 656f. 220 GÄNSEMARKT 53/55 · Hauptgeschäftsstelle „Hamburger Abendblatt“ · Nikolauspantoffel

fanden, konnten einen Tag später diesen in der 65. STATION „Abendblatt-Geschäftsstelle“ am Gänsemarkt abge- Gänsemarkt 53/55 ben und erhielten dafür zwei Weihnachtspakete: ei- (alte Nummerierung; heutiger Standort: nes für die Finderin oder den Finder und das andere, Gänsemarktpassage) „mit einer Adresse versehen, für einen armen und Hauptgeschäftsstelle des „Hamburger Abend- einsamen Nachbarn. Doch das war das Wichtigste: blattes“ (Standort: 1949–1977); Nikolauspantof- Der Finder wurde gebeten, das Paket selbst zu über- feln/Nikolauspakete: Hilfe für Arme (1957ff.) und bringen. Zeichen der Verbundenheit mit Berliner Familien Die Nikolauspantoffeln waren ein solcher Erfolg, dass (1959ff.) sie auch in den kommenden Jahren an jedem Niko- laustag ausgestreut wurden.“276) Zwei Jahre später, 1959, gab es drei Weihnachtspa- Am 12. Mai 1949 eröffnete die Hauptgeschäftsstelle kete für den Fund eines kleinen grünen Nikolaus- des „Hamburger Abendblattes“ auf einer ausge- pantoffels. Das dritte Paket war für „einen Berliner bombten Fläche am Gänsemarkt 53/55. 1977 wur- oder eine Berliner Familie: als Zeichen der Verbun- den die Behelfsbauten abgerissen und 1980 mit der denheit, als Brücke der Freude. Die Adressen stan- Gänsemarktpassage ein Neubau eines Büro- und den schon auf dem Paket. Der Finder wurde gebe- Ge schäftshauses errichtet. ten, einen persönlichen Gruß beizulegen.“277) Für die Vorweihnachtszeit 1957 dachte sich das Zur gleichen Zeit sammelten Senats- und Bürger- „Hamburger Abendblatt“ eine Aktion für diejenigen schaftsmitglieder unter dem Aufruf „Macht das Tor Menschen aus, „die im Schatten des allgemeinen auf!“ des „Kuratoriums Unteilbares Deutschland“ Wohlergehens stehen“. In der Nacht zum Nikolaus- auf dem Rathausmarkt Geld und verteilten das kleine tag ließ das Blatt in der Stadt 500 grüne Nikolaus- Abzeichen mit dem „Brandenburger Tor“. Der Ver- Pantoffeln an Ecken, Mauersimsen und Treppenstufen leger Axel Springer soll 3000 „Berlin-Abzeichen“ ge- verteilen. Alle, die am Nikolaustag einen Pantoffel kauft haben. Im „Hamburger Abendblatt“ forderte er, dass die Abzeichen „solange und jeden Tag getragen werden, bis der Ruf ,Macht das Tor auf‘ seine Erfül- lung gefunden habe“. Sarkastisch schrieb der „Spiegel“ dazu am 4. Februar 1959: „Das

Das Gebäude der Haupt - geschäftsstelle des „Hamburger Abendblat- tes“ am Gänsemarkt in den 50er Jah ren des 20. Jh. Heute befindet sich hier die Gänse- marktpassage. Staatsarchiv Hamburg

276 Zit. nach: Erik Verg: Vierzig Jahre Hamburger Abendblatt. Hamburg 1988, S. 100. 277 ebenda. GÄNSEMARKT 53/55 · Hauptgeschäftsstelle „Hamburger Abendblatt“ · Nikolauspantoffel 221 JUNGFERNSTIEG 50 · Buchhandlung der „Agentur des Rauhen Hauses“ und Widerstandskreis

Opfer, das den Bürgern diesmal abverlangt wird, ist mütig zurück, hielten am Vier-Mächte-Status für Ber- gering und hat infolgedessen auch nur symbolische lin fest und machten glaubhaft, dafür auch eine milit. Bedeutung. Die Zwanzig-Pfennig-Spenden, für die Auseinandersetzung in Kauf zu nehmen. Dieses Ri- der Bundesbürger seine Verbundenheit mit Berlin siko wollte die SU, die im Januar 1959 den Entwurf in Form einer Anstecknadel ,Brandenburger Tor‘ er- eines Friedensvertrages mit Dtl. nachgeschoben hatte, kaufen kann, werden (…) gerade ausreichen, die auch angesichts von Verhandlungsangeboten des Selbstkosten der Berlin-Propaganda zu decken.“278) Westens nicht eingehen. Nachdem sie im Frühjahr Dieser Aktion war die im November 1958 begonne - 1959 das Ultimatum zurückgezogen hatte, tagte vom ne „Zweite Berlin Krise“ vorausgegangen. Der Minis - 11. bis 20.7. und vom 13.7. bis 5.8. in Genf eine er- terpräsident der UDSSR, Nikita Chruschtschow gebnislose Außenministerkonferenz der Vier Mächte (1894–1971), hatte die Umwandlung West- in unter Teilnahme von Beraterdelegationen aus beiden eine „Freie Stadt“ gefordert hatte. „Sollte das nicht dt. Staaten. Dennoch setzte v. a. durch den Besuch binnen 6 Monaten geschehen, werde die SU ihre Ho- Chruschtschows beim US-Präsidenten D.D. Eisen- heitsrechte in und um Berlin an die Deutsche De- hower [1890–1969] eine Beruhigung der Lage ein mokratische Republik abtreten (Berlin-Ultimatum). (...) und es bestand Aussicht auf eine insb. von der Der sowjet. Ministerpräsident (…) spekulierte mit SU gewünschte Gipfelkonferenz. Als diese jedoch im dieser ,Kraftprobe‘ auf ein Nachgeben des Westens. Mai 1960 scheiterte, spitzte sich der Berlin-Konflikt Die 3 Westmächte wiesen das Ultimatum jedoch ein- wieder zu.“279)

derzeitlichen Etagenhaus die Buch- 66. STATION handlung „Agentur des Rauhen Hau- Jungfernstieg 50 ses“ (seit 1960 unter dem Namen Benannt 1684, davor hieß die Straße „Resendamm“ nach dem „Buchhandlung am Jungfernstieg An- dortigen Müller Heinrich Re(e)se. neliese Tuchel“), seit 1950 geführt Buchhandlung „Agentur des Rauhen Hauses“, ab 1960: „Buch- von Anneliese Tuchel. Heute hat in handlung am Jungfernstieg Anneliese Tuchel“ (Standort: 1926– diesen Räumen ein Frisör seinen La- 1998); Widerstandskreis „Hamburger Zweig der Weißen Rose“ (NS- den eingerichtet. Eine Gedenktafel an Zeit): Traute Lafrenz, Felix Jud, Hannelore Willbrandt, Marie-Luise der Fassade erinnert an den Wider- Jahn, Reinhold Meyer, Elisabeth Lange, Dr. rer. nat. Katharina standskreis: „In der Buchhandlung Leipelt, Hans Leipelt, Maria Leipelt, Margarethe Mrosek, Heinz Ku- dieses Hauses trafen sich während charski, Margaretha Rothe, Erna Stahl, Prof. Rudolf Degwitz, Albert des Zweiten Weltkrieges Gegner des Suhr, Frederik Geussenhainer, Dr. Kurt Ledien; Kunstausstellungen NS-Regimes bei dem Junior-Chef und Studenten Reinhold Meyer, dem Bru- in der Buchhandlung der „Agentur des Rauhen Hauses“ während der von Anneliese Tuchel. Als Wider- der NS-Zeit; Johannes P. Meyer (20. Jh.); Anneliese Tuchel (20. Jh.); standskreis verbreiteten sie u. a. die Klaus Tuchel: Kirche und Homosexualität (20. Jh.) Flugblätter der ‚Weißen Rose‘ aus München. Ende 1943 verhaftete die Die Buchhandlung „Agentur des Rauhen Gestapo etwa 30 Angehörige der Gruppe. Durch un- Hauses“ und der Widerstandskreis menschliche Haftbedingungen oder Hinrichtung fan- „Hamburger Zweig der Weißen Rose“ den den Tod: Frederik Geussenhainer, Elisabeth Lange, Dr. Kurt Ledien, Hans Leipelt, Dr. Katharina Bis vor wenigen Jahren befand sich in dem von Jo- Leipelt, Reinhold Meyer, Margarethe Mrosek und hannes Grotjan (1843–1922) 1879 erbauten grün- Margaretha Rothe.“

278 www.spiegel.de/spiegel/print/d- 42624033.html 279 Axel Schildt (Hrsg): Deutsche Ge- schichte im 20. Jahrhundert. Ein Lexikon. München 2005, S. 63f. 222 JUNGFERNSTIEG 50 · Buchhandlung der „Agentur des Rauhen Hauses“ und Widerstandskreis

Der Freundeskreis, der sich hier traf, nannte sich Meyer und Felix Jud und der Buchhändlerin Hanne- selbst nicht „Hamburger Zweig der Weißen Rose“. lore Willbrandt [geb. 1923. Sie arbeitete als Buch- So wurde er erst nach dem Zweiten Weltkrieg be- handelsgehilfin in der Buchhandlung Conrad Kloss zeichnet, weil die 1942/43 an der Münchner Uni- und schrieb mit Albert Suhr das dritte Flugblatt der versität studierenden Traute Lafrenz (geb. 1919, „Weißen Rose“ ab; verhaftet am 18.12.1943, Unter- Lichtwarkschülerin, Medizinstudentin in München, suchungshaftanstalt des Frauenzuchthauses Cottbus, Verbindungsglied zur „Weißen Rose“ in München; Frauengefängnis Meusdorf, verurteilt zu einer lang- März 1943 in München verhaftet, verurteilt zu einem jährigen Haftstrafe, von den Alliierten befreit] Treff- Jahr Gefängnis, entlassen März 1944, erneut festge- punkte oppositioneller Intellektueller – viele von nommen Ende März 1944 in München, von dort ins ihnen Studentinnen und Studenten der Universität Polizeigefängnis Fuhlsbüttel, ab November 1944 in Hamburg. (…) Ihre Mitglieder gehörten teils mehre- diversen Haftanstalten, April 1945 im Frauengefäng- ren dieser Kreise an oder waren mit anderen Kreisen nis Bayreuth befreit) und Hans Leipelt „die Ideen über Freundinnen und Freunde verbunden. (…) und Flugblätter der ‚Weißen Rose‘ in ihre Hamburger Über die Verhaftungen von Hans Leipelt und Marie- Freundeskreise brachten. Hier fand das Wirken der Luise Jahn [seiner Freundin, geb. 1918, als „Hoch- Münchner Widerstandsgruppe eine Fortsetzung. verräterin“ Zuchthausstrafe von zwölf Jahren wegen des Hörens ausländischer Rundfunksender, wegen „Wehrkraftzersetzung“ und „Feindbegünstigung“. 29.4.1945 Befreiung zum Kriegsende durch US-Sol- daten] im Oktober 1943 führten die Ermittlungen der Gestapo zu den Hamburger Freundeskreisen, in deren Reihen sich inzwischen auch ein Gestapospit- zel befand. (…) Am 6. November 1944 sandte der Generalstaatsan- walt beim Hanseatischen Oberlandesgericht die Er- mittlungsunterlagen an den Volksgerichtshof. Die Ge- fährlichkeit der Hamburger Gruppe begründete die Staatsanwaltschaft u. a. mit angeblichen Plänen, die Lombardsbrücke in die Luft sprengen oder das Ham- Jungfernstieg 50: Ehemalige „Buchhandlung am Jung- burger Trinkwasser vergiften zu wollen. Weiter warf fernstieg Anneliese Tuchel“. In der NS-Zeit war hier der sie der Gruppe vor: ‚Verbreitung jüdisch-bolschewis- Treffpunkt eines Widerstandskreises, der nach dem tischer Ideen durch Veranstaltung von Leseabenden, Zweiten Weltkrieg als „Hamburger Zweig der Weißen Rose“ bezeichnet wurde. Photo: Marina Bruse Verteilung von dafür geeigneten Büchern und Schrif- ten mit jüdisch-bolschewistischer oder sonst staats- feindlicher Tendenz, wie auch durch persönliche Un- Der Kreis, der als „Hamburger Zweig der Weißen terhaltung in diesem Sinne (…). Hervorzuheben ist, Rose“ bezeichnet wird, bestand aus verschiedenen, dass es sich bei den Beschuldigten mit wenigen Aus- voneinander unabhängigen Freundeskreisen. (…) In nahmen um Angehörige gebildeter Kreise (Studenten, der Hamburger Innenstadt waren die Buchhandlung Ärzte und Kaufleute), also um Intellektuelle mit ‚Agentur des Rauhen Hauses‘ am Jungfernstieg, staatsverneinender Einstellung han delt. Ihr zerset- die Hamburger Bücherstube Felix Jud [1899–1985, zender Einfluss geht über den Kreis der in diesen siehe S. 239] in den Colonnaden und die Buchhand- Verfahren erfassten Beschuldigten infolgedessen weit lung Conrad Kloss in der Dammtorstraße [dort im hinaus. Daraus ergibt sich die große Gefahr, die sie „Deutsch landhaus“] mit den Buchhändlern Reinhold bis zu ihrer Festnahme gebildet haben.‘“280)

280 Herbert Diercks: „Die Freiheit lebt!“ Widerstand und Verfolgung in Hamburg 1933–1945. Texte, Fotos, Do- kumente. Hrsg. von der KZ-Gedenkstät- te Neuengamme. Hamburg 2010, S. 45. JUNGFERNSTIEG 50 · Mitglieder des „Hamburger Zweigs der Weißen Rose“ 223

Mitglieder des „Hamburger Zweigs erhalten hatte. Während der Zeit des Nationalsozia- der Weißen Rose“ lismus bekam der Sohn Hans Leipelt in seinem Stu - dienort München Kontakt zu oppositionellen Grup - Reinhold Meyer (1920–12.11.1944 Polizeigefängnis pen, und die Wilhelmsburger Wohnung der Leipelts Fuhlsbüttel, angeblich an Diphtherie gestorben) wurde zu einem Treffpunkt von Gegnerinnen und hatte „in seinem Elternhaus eine religiöse, musische Gegnern des NS-Regimes. Im Oktober 1943 wurde und humanistische Erziehung erhalten. Nach dem Hans Leipelt wegen Beteiligung am Widerstandskreis Abitur (…) absolvierte er ab April 1940 eine zwei- der „Weißen Rose“ verhaftet. Seine Schwester Maria jährige Buchhändlerlehre und studierte anschließend Leipelt kam Anfang November und seine Mutter An- an der Universität Hamburg Germanistik. Durch sei- fang Dezember 1943 in Haft. In der Nacht vom 8. nen Schulfreund Albert Suhr sowie auf Ver an stal - zum 9.1.1944 starb Katharina Leipelt im KZ Ham- tungen seines Professors Wilhelm Flitner [1889– burg-Fuhlsbüttel. Angeblich soll sie sich erhängt 1990] lernte er regimekritische Studentinnen und haben. Hans Leipelt wurde 1945 in München ent- Stu denten kennen: Die Buchhandlung ‚Agentur des hauptet. Maria Leipelt wurde zu elf Monaten Haft Rauhen Hauses‘ entwickelte sich zu einem ihrer verurteilt und kam ins Frauenzuchthaus Cottbus. Treffpunkte. Von Albert Suhr (…) erfuhr er von den Von dort wurde sie, als die sowjetische Armee die Widerstandsaktivitäten in München. Die Gestapo Oder überquerte, gen Westen gebracht, wo sie im verhaftete Reinhold Meyer am 19. Dezember 1943. April 1945 in Bayreuth von den Amerikanern befreit Vernehmungen, Einzelhaft im Polizeigefängnis Fuhls- wurde. Am Wohnhaus der Familie Leipelt in der büttel und eine mehrmonatige Haft im KZ Neuen- Vogteistraße 23 in Rönneburg bei Hamburg befindet gamme zerstörten seine Gesundheit“,281) schreibt sich eine Gedenktafel. Herbert Diercks in seinem Buch über den Widerstand Die Hausfrau Margarethe Mrosek (25.12.1902, ge- und die Verfolgung in Hamburg 1933–1945. henkt am 21.4.1945 im KZ-Neuengamme) war mit Die katholische Hausfrau Elisabeth Lange (7.7. der jüdischen Familie Leipelt befreundet, die zum 1900–28.1.1944 Polizeigefängnis Fuhlsbüttel, angeb - Freundeskreis um Reinhold Meyer, Margaretha lich Suizid) wurde im Dezember 1943 mit ihrem Rothe und Heinz Kucharski (1919–2000, war vom Mann, dem Reisenden Alexander Lange (1903–?), Volksgerichtshof zum Tode verurteilt worden, als Mitglied der „Weißen Rose“ und wegen „Vorbe- konnte aber auf dem Weg zur Hinrichtungsstätte reitung zum Hochverrat, Wehrkraftzersetzung, Bützow-Dreibergen bei einem Luftangriff entkom- Feindbegünstigung und Abhörens und Verbreitens men) gehörte. Vermutlich wurde Margarethe Mrosek von Nachrichten ausländischer Sender“ verhaftet. am 7. Dezember 1943 von der Gestapo verhaftet. (A. Lange: 1944 Entlassung) Margarethe Mrosek gehörte zu den dreizehn Frau- Dr. rer. nat. Katharina Leipelt (28.5.1893–9.1.1944 en und 58 Männern, die am 18. April 1945 kurz vor KZ Fuhlsbüttel), ihre Kinder Hans Leipelt (18.7.1921– Ende des Zweiten Weltkrieges aus dem Polizeige- 29.1.1945 gehängt im Gefängnis München Stadel- fängnis Hamburg-Fuhlsbüttel ins KZ Neuengamme heim) und Maria Leipelt (1925–2008) gehörten auch überführt wurden. Da ihnen kein Prozess gemacht zum „Hamburger Widerstandskreis der Weißen Ro- worden war, ahnten sie nicht, was ihnen bevorstand. se“. Katharina Leipelt stammte aus einer jüdischen, Sie dachten, sie würden entlassen werden. In den dem evangelischen Glauben angehörenden Wiener Näch ten vom 21. bis zum 23. April 1945 wurden sie Familie und war mit Konrad Leipelt (?–1942 ? Herz- getötet. Sie waren in zwei Gruppen eingeteilt worden infarkt) verheiratet. Im selben Jahr, als Maria gebo- und mussten die Ermordung ihrer Kameradinnen ren wurde, zog die Familie Leipelt von Wien nach und Kameraden mit ansehen. Nacheinander wur- Ham burg, wo Konrad Leipelt eine Anstellung als den sie nackt nebeneinander an Schlachterhaken er- Hüt tendirektor in den Wilhelmsburger Zinnwerken hängt.

281 Herbert Diercks, a. a. O., S. 49. 224 JUNGFERNSTIEG 50 · Mitglieder des „Hamburger Zweigs der Weißen Rose“

Die Lichtwarkschülerin und Medizinstudentin Mar- ‚Widerstandskämpfer‘ ist hier sicher nicht ange- garetha Rothe (13.6.1919–15.4.1945) traf sich mit bracht, das ist besetzt durch Leute wie [Claus Schenk anderen ehemaligen Lichtwarkschülerinnen und Graf von] Stauffenberg [1907–1944 standrechtlich -schülern bei ihrer früheren Lehrerin Erna Stahl erschossen]. Diese jungen Menschen haben gekämpft (1900–1980, am 4.12.1943 verhaftet, beschuldigt des für die Freiheit des Geistes, indem sie Texte abschrie- „Hochverrates“, zehn Monate Einzelhaft bis Oktober ben, verbreiteten und auch über die Zeit nach dem 1944 im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel, dann in ver- ‚Dritten Reich‘ diskutierten. (...) Der Freun deskreis schiedenen Gefängnissen: Cottbus, Berlin, Leip zig, begann nach der Hinrichtung der Scholls [Geschwis- Bayreuth, Befreiung im April 1945 durch die Alliier- ter Scholl: Hans: 1918–1943; Sophie: 1921–1943] ak- ten), wo sie politische Themen diskutierten und die tiv zu werden“,282) so Anneliese Tuchel. von den Nationalsozialisten verbotene Literatur und Traute Lawrenz, Margaretha Rothe und Hans Leipelt Malerei kennenlernten. Margaretha Rothe schloss „brachten zumindest das letzte Flugblatt der Weißen sich dem antifaschistischen Kreis ihres Schulkame- Rose nach Hamburg. Das wurde gemeinsam gelesen raden Heinz Kucharski an. Zusammen mit ihm und solche Texte wie von Erich Kästner [1899–1974] verbreitete sie auf Flugblättern die Sendezeiten und ‚Ihr und die Dummheit zieht in Viererreihen in die die Wellenlänge des „Deutschen Freiheitssenders“. Kasernen der Vergangenheit‘ wurden abgeschrieben Durch ihr Studium lernte sie auch den Ordinarius mit der Maschine und weiterverteilt. (...) Sie haben für Kinderheilkunde Prof. Rudolf Degwitz (1889– ein Netz gesponnen. Und davor hatte die Gestapo 1973, verhaftet September 1943, Polizeigefängnis am meisten Angst. (...) Leider ließ man ihnen nicht Fuhls büt tel, später Strafanstalt Berlin Tegel, Haupt- viel Zeit. Ihre Treffen flogen auf durch Verrat.“283) verhandlung vor dem Volksgerichtshof Berlin, Ver- Am 9.11.1943 wurden Margaretha Rothe, Heinz Ku- urteilung zu sieben Jahren Zuchthaus, zur Verbrin- charski und Maria Leipelt verhaftet. Im November gung der Haftstrafe ins Zuchthaus Celle. Bei der 1944 wurde Margaretha Rothe aus dem Gestapo- Räumung der Haftanstalt am 8.4.1945 konnte er flie- Ge fängnis Fuhlsbüttel über Berlin nach Cottbus hen und bis Kriegsende untertauchen) kennen, der transportiert und kam schwer erkrankt am 10.2.1945 Mitglied der Gruppe „Candidates of Humanity“ war – ins Frauengefängnis Leipzig-Kleunmeusdorf. Am eine oppositionelle Gruppe von Ärzten des Univer- 18.2.1945 wurde sie ins Gefängnislazarett gebracht sitätskrankenhauses Hamburg-Eppendorf. Er teilte und von dort am 6.3.1945 ins Städtische Kranken- Margaretha Rothes politische Haltung und bestärkte haus St. Jacob. Dort starb sie am 15.4.1945 an den sie darin. 1941/42 erweiterte sich der Freundeskreis, Folgen einer Lungentuberkulose. Zur Todesursache zu ihm stieß nun auch der Chemiestudent Hans Lei- schrieb ihre Schwester Ingeborg Staudacher-Rothe pelt. Margaretha Rothe wurde durch Heinz Kucharski am 13. Juni 1989 in ihrem „In memoriam“, welches mit Reinhold Meyer bekannt und freundete sich mit sich im Staatsarchiv Hamburg befindet: Sie starb ihm an. Sie trafen sich nachts mit dem Assistenzarzt „an den Krankheiten, die sie sich während der Haft Albert Suhr (1920–1996, von der Gestapo im Sep- zugezogen hatte und für die sie zum Teil von klein tember 1943 verhaftet, freigelassen im April 1945 in auf eine Disposition zeigte. Gretha verbrachte die Stendal) im Keller der Buchhandlung, um, wie An- letzten 5 Wochen ihres kurzen Lebens als Privatpa- neliese Tuchel schrieb, „die verbotene Literatur zu tientin in dem o. g. Krankenhaus bei optimaler Pfle - lesen und zu diskutieren. Wir ahnten, dass Reinhold ge und erfuhr hier große menschliche Zuwendung etwas Gefährliches tat, aber keiner fragte danach. seitens des Personals und einer Mitpatientin. Alle Denn sein Freundeskreis setzte sich ja zusammen an deren Darstellungen ihres Todes und Sterbeortes, aus Leuten, von denen wir wussten, das sind alles wie sie erst kürzlich noch trotz vorherigen Hinwei- Nazigegner. Es verband diese ganze Gruppe vor al- ses auf die Unrichtigkeit publiziert wurden, entspre- lem der Zorn gegen die geistige Unfreiheit. Das Wort chen nicht der Wahrheit.“ Margaretha Rothe selbst

282 Anneliese Tuchel: Der braucht keine Blumen. Erinnerungen an Rein- hold Meyer. Hamburg 1994. 283 ebenda. JUNGFERNSTIEG 50 · Kunstausstellungen in der Buchhandlung der „Agentur des Rauhen Hauses“ 225 schrieb am 9. März 1945 aus dem Städtischen Kran- Sieker285) (1903–1979, siehe S. 198f.) stellte er dort kenhaus St. Jacob: „Ich liege als Privatperson!!!!! „ab 1939 Kunst“286) aus. Wie die Besucherbücher Abteilung BG. Kein Brief geht durch die Zensur, so- ersehen lassen, in die sich auch NS-Anhänger und lange ich hier bin! Ohne Alarme wäre es ein Para- Gegner moderner Kunst eintrugen, fanden die dies! Warum muss es nur so weit von Hamburg Ausstellungen in Hamburg und auch außerhalb entfernt sein?!“284) starke Beachtung. Die zweite Schau im Jahre 1942 Der Medizinstudent Frederik Geussenhainer (24.5. zeigte etwa den verfemten und als ‚entartet‘ gelten- 1912–April 1945 verhungert im KZ Mauthausen), der den Maler F. [Friedrich] K. [Karl] Gotsch [1900– sich 1942 mit Albert Suhr befreundet hatte, war eines 1984]. (…). der Bindeglieder zwischen „Candidates of Humanity“ Reinhold Meyer und ein Freund retteten während und dem Kreis von Reinhold Meyer. Im Juli 1943 der Bombenangriffe im Sommer 1943 hunderte von wurde Geussenhainer verhaftet und kam ins Poli- Aquarellen Eduard Bargheers [1901–1979], der seit zeigefängnis Fuhlsbüttel. Im Juni 1944 wurde er als 1940 in Italien lebte, aus dessen brennendem Atelier Schutzhäftling ins KZ Neuengamme gebracht und am Jungfernstieg. Sie trugen sie zunächst in den einige Wochen später ins KZ Mauthausen, wo er Keller der Buchhandlung und lagerten sie später im April 1945 verhungerte. nach Worpswede aus. Rückblickend äußerte Hugo Kurt Heinrich Ledien (5.6.1893–23.4.1945 gehängt Sieker über den Buchhändler Johannes P. Meyer: im KZ Neuengamme) war nach dem Jurastudium „(…) Es war ihm vergönnt, in den Räumen der Agen- Amtsgerichtsrat in Altona geworden, später dann tur des Rauhen Hauses am Jungfernstieg etwas von Landgerichtsrat in Dortmund. Wegen seiner jüdi- einer echten freien Kulturgesinnung über chaotische schen Herkunft entließen ihn die Nationalsozialisten Zeitläufte hinweg zu retten. Zustatten kam dem aus dem Dienst. Kurt Ledien schloss sich dem „Ham- schwäbischen Bauernsohn die von den Vätern er- burger Zweig der Weißen Rose“ an und wurde am erbte Zähigkeit und sein Standvermögen. Er verlor 17.12.1943 von der Gestapo verhaftet und ins KZ den Sohn Reinhold im ‚Widerstandskampf‘, war Fuhlsbüttel gebracht. Am 23.4.1945 wurde er im persönlich unaufhörlich von Bomben, geschäftlichen KZ Neuengamme gehängt. Widrigkeiten und Nazityrannei aufs schwerste be- Ein von Rita Bake von der „Landeszentrale für po- droht. Doch führte er das Ausstellungsprogramm in litische Bildung“ und Jens Michelsen (1952–2007) der Agentur fort und sprach das unvergessene Wort: von der „KZ-Gedenkstätte Neuengamme“ konzipier - ‚Solange diese einzige Ausstellungsstätte im Stadt- ter und erarbeiteter szenischer Rundgang unter dem zentrum von Bomben verschont bleibt, soll die Titel „Wege nach Neuengamme“ mit der Schau- Kunst nicht untergehen!‘“,287) schreibt die Kunst- spielerin Herma Koehn und dem Schauspieler Wolf- historikerin Maike Bruhns in ihrem Buch „Kunst in gang Hartmann setzt dieses oben beschriebene Ge- der Krise“. schehen in Szene. Johannes P. Meyers Tochter Anneliese Tuchel (5.4. 1926–27.2.2000) wurde ebenfalls Buchhändlerin Kunstausstellungen in der Buchhand- und „übernahm im Jahre 1950 die Buchhandlung. lung der „Agentur des Rauhen Hauses“ Sie setzte die Ausstellungen auch nach dem Krieg während der NS-Zeit fort, zeigte zum Beispiel 1946 den Zyklus ‚Aus Tagen der Not‘ des Malers Fritz Husmann [1896–1982].“288) Reinhold Meyers Vater, der Buchhändler Johannes Gleichzeitig hielt sie die Erinnerung an ihren Bru- P. Meyer (?–1950), führte bis zu seinem Tod die der und das Unrechtsgeschehen der NS-Zeit bis zu evangelische Buchhandlung der Agentur des Rauhen ihrem Tode wach. Hauses. Mit „Unterstützung des Architekten Bern- hard Hopp [1893–1962] und des Journalisten Hugo

284 Zit. nach: Angela Bottin: Enge 286 ebenda. Zeit. Berlin, Hamburg 1992. 287 ebenda. 285 Maike Bruhns: Kunst in der Krise. 288 ebenda. Bd. 1.: Hamburger Kunst im „Dritten Reich“. Hamburg 2001, S. 222f. 226 JUNGFERNSTIEG 50 · Klaus Tuchel: Kirche und Homosexualität

Klaus Tuchel: Kirche und Homosexualität den zu wollen, wie es in manchen Ländern schon ist: dass man dieses Übel nur noch wie eine Art an- Anneliese Tuchel war mit dem Pastor Klaus Tuchel geborener Natur ansieht und frei sich austoben lässt, (1927–1971) verheiratet. Von seinem Schicksal als solange nicht öffentliches Ärgernis erregt wird oder verfolgter Homosexueller war auch sie betroffen. Jugendliche verlockt und gefährdet werden. Dass „Das Wegsehen in der Öffentlichkeit von kirchlichen hier die Kirche nur ‚Nein‘ sagen kann, dürfte wohl Bekannten, ja das Ausradieren aus dem kirchlichen allgemein anerkannt sein. Jedenfalls möchte ich Gedächtnis ist Anneliese Tuchel als schlimmste Ver- heute feststellen, dass eine Kirche, die hier Kompro- letzung in Erinnerung geblieben.“289) misse schließt und von der so genannten Situation „Die Beziehungen zwischen Homosexuellen und her ihr Urteil fällen würde, anstatt von dem her zu Kir chen prägten ein historisch bedingtes Spannungs- urteilen, was Paulus im 1. Kapitel des Römerbriefes verhältnis, denn in der Geschichte stand die religiöse sagt, dass diese Kirche ihren Lohn dahin hätte. Wir Verfolgung Homosexueller der staatlichen in nichts haben in der letzten Zeit uns mit dieser Frage befas- nach. Eher im Gegenteil. Das Christentum – wie auch sen müssen.‘ Wolter warf Schöffel vor, zu verall - Judentum und Islam – sah Homosexualität üblicher - gemeinern, Röm. 1 nicht richtig ausgelegt und alle weise als schweren Verstoß gegen die göttliche Ord- Homosexuellen über einen Kamm geschoren zu ha- nung, der aus dogmatischen Gründen nicht toleriert ben, denn ‚wir sind die letzten, die die ‚Freiheit werden durfte. eines Christenmenschen‘ zum Deckmantel sittlicher Nun waren und sind nicht alle Homosexuellen Athe- Zügel losigkeit zu machen gedenken‘. isten oder kirchenfern – so mancher Homosexuelle In einer solchen Kirche war auch unter dem als li- litt und leidet an seiner Kirche, und die Kirchen beral eingeschätzten Landesbischof Volkmar Hernt - sind ihrerseits in der Auslegung der Heiligen Schrift rich [1908–1958] kein Platz für einen homosexuellen nicht so unbeweglich, dass in ihnen nicht auch Po- Geistlichen, wie der Fall Tuchel zeigt: Pastor Klaus sitionen vertreten werden, die Homosexuelle nicht Tuchel musste im Juli 1958 ‚unter Verzicht auf die ausgrenzen. Rechte des geistlichen Standes‘ aus der Hambur- In den Hamburger Homosexuellen-Zeitschriften ‚Die gischen Landeskirche ausscheiden, nachdem er zu- Insel/Der Weg‘ erschienen in den 50er Jahren immer sammen mit einem Strichjungen in einem Ham- wieder Artikel zum Thema Christentum und Homo- burger Park von einer Polizeistreife festgenommen sexualität, wobei hervorgehoben wurde, dass es in worden war.290) der Bibel nur sehr wenige Stellen gebe, die eindeutig Tuchel arbeitete nach seinem Ausscheiden aus dem auf Ablehnung der Homosexualität zielen. kirchlichen Dienst als Lektor bei einem Verlag und Im Maiheft 1954 der Zeitschrift ‚Der Weg‘ beschäf- ist später Philosophieprofessor in London gewesen. tigte sich Reinhard Wolter kritisch mit dem Bericht Laut Aussagen eines Zeitzeugen soll er dort ebenfalls über die Lage der Evangelischen Kirche in Hamburg wegen seiner Homosexualität mit dem Gesetz in von 1948 bis 1951, den Bischof Dr. Dr. Johann Simon Konflikt geraten sein.291) Schöffel [1880–1959] erstattet hatte. Schöffel, der 1971 beging er Selbstmord, dessen Motive offiziell den Nationalsozialismus begrüßt hatte, war von nie geklärt worden sind. Aus seinem Testament wird 1933 bis 1934 und von 1946 bis 1954 Landesbischof Tuchels tiefe Verbitterung über das Verhalten der in Hamburg. Kirche deutlich: ‚Was meine Beerdigung angeht, so In diesem Bericht hieß es im Abschnitt ‚Das sittliche verbitte ich mir die Mitwirkung eines kirchlichen Leben‘: ‚Ein Letztes, was mich bei dem Überblick Amtsträgers. In der Todesanzeige soll kein Kreuz über das sittliche Leben schwer belastet und was oder anderer Text als mein Name erscheinen.‘292) immer wieder auf uns zukommt, das ist die Not der Erst die gesellschaftliche Entwicklung seit Beginn Homosexualität. Es scheint in Deutschland so wer- der 70er Jahre schlug sich auch in der Kirche nieder:

289 Ortwin Löwa: Verschweigen und senkranz und Horst Hellmuth am abstrafen – Der Fall Tuchel erschütterte 5.8.2005. die Hamburger Kirche. In: Nordelbi- 291 Ortwin Löwa, a. a. O. sche Kirchenzeitung vom 27.2.2005. 292 ebenda. 290 Gespräch zwischen Bernhard Ro- JUNGFERNSTIEG 50 · Klaus Tuchel: Kirche und Homosexualität 227 ECKE JUNGFERNSTIEG/NEUER JUNGFERNSTIEG · Altes Dammtor · Befestigungsturm „Isern Hinnerk“

Im März 1996 bekannte sich die Nordelbische Syno- Text mit freundlicher Genehmigung der Autoren aus: de zur Schuld der Kirche an der Verfolgung Homo- Bernhard Rosenkranz, Gottfried Lorenz: Hamburg sexueller. Die ehemalige Präsidentin der Synode der auf anderen Wegen. Die Geschichte des schwulen Nordelbischen Kirche und Hamburger Senatsdirek- Lebens in der Hansestadt. 2. überarb. Aufl., Hamburg 2006, S. 74–75. torin Elisabeth Lingner [geb. 1939] setzte sich später vehement für die Einführung der gleichgeschlecht- lichen Lebenspartnerschaft durch den Staat ein.“293)

67. STATION Ecke Jungfernstieg/ Neuer Jungfernstieg Altes Dammtor/Befestigungsturm: „Isern Hinnerk“ (Standort: 16. Jh.–1728)

Das erste Dammtor stand am Ende der Bergstraße (heutige Kreuzung Hermannstraße/Bergstraße) und hieß das Alte Mühlentor. Als dann der Damm über die Alster gebaut wurde, und es am Anfang des 16. Jahrhunderts bis zu den Arkaden vorgerückt wurde, erhielt es den Namen Dammtor, weil es in einen Damm hineingebaut war, durch den man das Als- terflüsschen zu einem Mühlenteich aufgestaut hatte: den Resendamm [Jungfernstieg].“294) Gänse- markt Das Dammtor befand sich an der Ecke Jungfern-

stieg/Neuer Jungfernstieg an der Alster. „An der späterer Einmündung des Jungfernstieges in den Platz Neuer Jungfernstieg [Gänsemarkt] stand als vorgeschobenes Brücken - kopfboll werk noch bis 1728 ein mittelalterlicher Turm.“295) „Der Turm – Isern Hinnerk genannt – diente als Abschluss der Altstadt zur Neustadt. Er Ecke Jungfernstieg/Neuer Jungfernstieg: Der Befesti- war ein Befestigungsturm mit bläulich glänzenden gungsturm „Isern Hinnerk“, Standort vom 16. Jh. bis zu seinem Abbruch 1728. Kartenausschnitt aus: Hambur - Schieferdach und wurde deshalb auch Blauer Turm gumHam bvrgvm [Amsterdam] [1657]. Staats- und Univer- 296) genannt.“ „Von hier aus ging die Landstraße sitätsbibliothek Hamburg Kt H27 nach Norden, später durch das neue Dammtor im Wall des 17. Jh.“297) (siehe zum neuen Dammtor S. 115) Anfang des 17. Jahrhunderts wurde das Dammtor nach Westen in die Gegen des heutigen Stephans- platzes verlegt.

293 Vgl. Interview Elisabeth Lingners 295 Hermann Hipp: Freie und Hanse- im Deutschen Allgemeinen Sonntags- stadt Hamburg. DuMont Kunst-Reise- blatt Nr. 29/2000 vom 21.7.2000. führer. 2. Aufl. Köln 1990, S. 190. 294 Hamburger Fremdenblatt vom 296 Hamburger Fremdenblatt, a. a. O. 28.4.1928. 297 Hermann Hipp, a. a. O., S. 190. 228 NEUER JUNGFERNSTIEG 1 · Böckmann’scher Garten · Die „Alsterhalle“

Hamburgs als Zentrum des Gartenbaus 68. STATION beitrugen [zu finden]. Dabei verfügten Neuer Jungfernstieg 1 auch sie teils über größere Anwesen, um (alte Nummerierung) die gezogenen Pflanzen, Samen und Bäu- Benannt um 1825. 1825/27 als vornehme Wohnstraße mit me an die Besitzer von Liebhabergärten Bäumen zur Wasserseite angelegt. verkaufen zu können.“298) Im Zuge der Einebnung des Walles wurden die östlich des Der Böckmann’sche Garten lag zwischen Dammtores liegenden Bastionen „Petrus“ und „Didericus“ ab- der Ecke Jungferstieg/Neuer Jungfern- getragen und auf deren Grund die Esplanade angelegt. Aus stieg und der heutigen Großen Theater- dem übrig gebliebenen Erdmaterial wurde vor dem westlichen straße. 1796 beschrieb Jonas Ludwig von Ufer der Binnenalster, das damals nur aus wenig bebautem Hess (1756–1823) diesen für seine sel- Garten land bestand, ein Damm für eine Wohnstraße aufge- tenen Pflanzen bekannten und durch schüttet. Die Gärten, die meist zu den Häusern des Gänsemark- hohe Bäume und Laubbögen geschmück- tes und der Dammtorstraße gehörten, wurden parzelliert, in ten Garten: „Der Böckmann’sche Garten prangt mit den schönsten Blumenfluren Bauplätze umgewandelt und ab 1831 mit vornehmen dreige- die ganze schöne Jahreszeit durch. Er ist schossigen weißen Putzbauten in spätklassizistischen Formen immer an Menge voll von allen Blumen- bebaut. gewächsen, von der Schneeblume an bis Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden viele dieser Häuser zur Winterlevkoje, zwischen welchen ei- abgerissen und an ihrer Stelle Geschäftshäuser und Hotels er- nen jeden zu allen Stunden des Tages richtet. ein freier Spaziergang verstattet ist.“299) Eines der schönsten Häuser hatte sich 1832 Dr. August Abend- Schon Anfang des 18. Jahrhunderts hatte roth (1796–1867) von dem Architekten Alexis de Chateauneuf der Senat die Idee gehabt, entlang der (1799–1853) am Neuen Jungfernstieg 16/Ecke Große Thea- Gärten eine Straße anzulegen. Zu einem terstraße erbauen lassen. Dies Haus wurde 1905 abgebrochen. Senatsbeschluss kam es 1819, als begon- Von den spätklassizistischen Gebäuden stand damals schließ- nen wurde, die Festungswerke einzueb- lich nur noch das auch heute noch an dieser Stelle vorhandene nen. Als dann ab 1825 vor den Gärten Haus Neuer Jungfernstieg 18 – errichtet 1831–1833 (siehe zwischen Lombard und Jungfernstieg ein S. 262) und daneben das Haus 17a, welches um 1840 erbaut neuer Damm aufgeschüttet und am Ufer wurde und wesentlich schlichter ausgefallen war. der Alster eine Felswand errichtet wur- Böckmann’scher Garten (Standort: 18.–19. Jh.); „Alsterhalle“/ den, um eine Straße mit einer Promenade Konditorei A. Giovanoly (Standort: 1831–1866); Hep-Hep-Krawalle zu bauen, parzellierte der renommierte (1835); „Neuer Union-Club“ (Standort: 19. Jh.) Kunstgärtner Böckmann seine Garten- grundstücke und verkaufte diese. Nur die Grundstücke für sein Familienhaus und Böckmann’scher Garten das der „Alsterhalle“ behielt er.

Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war es nicht Die „Alsterhalle“ möglich, ganz um die Binnenalster zu flanieren, die Uferstraße „Neuer Jungfernstieg“ gab es noch nicht. An der Ecke Jungfernstieg/Neuer Jungfernstieg Zier- und Gemüsegärten erstreckten sich bis ans stand im 19. Jahrhundert die Konditorei der Herren Ufer. Mitte des 17. Jahrhunderts waren in der Ge- Perrini et Josty. Daneben wurde 1831 die dazugehö- gend des Gänsemarktes und in der Neustadt „eine rende „Alsterhalle“ erbaut. Wilhelm Melhop schreibt Reihe von Kunstgärtnereien, die mit zur Bedeutung in seinem Buch „Die Alster“: „Neben dieser Kondi-

298 Carsten Prange: Hamburg als Zen- Jahrhundert. Ostfildern-Ruit 2006, Hrsg. von der Hamburg-Mannheimer trum des Gartenhandels im 17. und 18. S. 81. Versicherungs-AG in Zusammenarbeit Jahrhundert. In: Claudia Horbas (Hrsg.): 299 Zit. nach: Armin Clasen: Der mit dem Verein für Hamburgische Ge- Gartenlust und Blumenliebe. Hamburgs Gänsemarkt. Zur Bau- und Grund- schichte. Hamburg 1979, S. 18. Gartenkultur vom Barock bis ins 20. stücks geschichte seiner Nordseite. NEUER JUNGFERNSTIEG 1 · Die „Alsterhalle“ 229

1726: Damals war der Neue Jungfernstieg (oberes Ufer der Binnenals- Der als vornehme Wohnstraße ange- ter) noch nicht angelegt. Im Hintergrund in der Bildmitte ist das Ge- legte Neue Jungfernstieg. Litho. Peter bäude der ersten Oper zu sehen. Rechts im Bild befinden sich die zwei Suhr von 1830. Staatsarchiv Hamburg Türme der Kalkbrennöfen auf dem Kalkhof. Staatsarchiv Hamburg

„Carte der Binnenalster nebst dem dazu gehö - rigen Inventarie über die darin befindlichen Bäume, Stege, Siele, Schlammkisten, Pfähle u.s.w. Aufgenommen im Jahre 1804.“ Oben im Bild der Böckmann’- sche Garten, dahinter der Kalkgraben, der zum Kalkhof führt. Staatsarchiv Hamburg 230 NEUER JUNGFERNSTIEG 1 · Die „Alsterhalle“

torei (später Giovanoly) stand am Neuen Jungfern- Dosen, Flaschen, sonder Ende, voll von köstlichem Liqueur, stieg die ‚Alsterhalle‘, eine auch von Frauen und Kuchenflächen, Tortenberge, stehen dort – parole d’honneur! Mädchen der Gesellschaft viel besuchte Gaststätte. Sie war 1831 von [Carl Ludwig] Wimmel [1786– Und geschäftig heiter regt sich’s und bei’m muntern Geldesklang: 1845] erbaut worden und bestand aus einem 20 m „Punsch!“ – „Wein!“ – „Butterbrot!“ – „Thee!“ – „Caffee!“ tönt’s me- langen einstöckigen Gebäude mit einer Veranda da- lodisch wie Gesang. vor. Im Innern war ein großer Saal, an jedem Ende Kaum bestellt, ist’s abgeliefert, und es tragen eilig fort mit Spiegelschei ben, so dass man nach beiden Sei- Grüngeschürzete Marqueure Jegliches an seinen Ort. ten eine unendliche Reihe von Sälen mit Kronleuch- tern von böhmischem Glas zu sehen glaubte. Links Setz’ dich an ein Mamortischchen, strecke dich behaglich aus, lag die Schenke, darüber eine größere Empore für Zünde (rauchst du) `ne Cigarr’ an, thu’ als wärest du zu Haus, Musikaufführungen. Im Hintergrund befanden sich Rufe dem Marqueur, bestelle – ist ein Abendbrot dein Wunsch – Billard- und Lese zimmer. Die Wandpfeiler zwischen Dir ein gutbelegtes Rundstück und ein Gläschen Arrackpunsch. den Fenstern und Zimmern waren mit Malereien ge- schmückt (…). Man bezahlte jährlich 2 Mark, wofür Jetzt dein Abendbrot genießend, schau dir an das Publicum; an einigen Wochentagen größere Orchesterauffüh- An den Tischen sitzt’s, vor ihnen, hinter ihnen steht’s herum. rungen stattfanden. Der Name jedes Zahlenden Dieser elegante Jüngling, lock’gen Haupts, mit steifem Col wurde in ein großes Buch geschrieben, und am Ein- [Kragen] gange stand zur Überwachung ein mit schönem Und frisirtem Backenbarte, weiß nicht, wie er dreh’n sich soll. Bart und einem grün-goldenen Anzug geschmückter Jener grünbebrillte Doctor mit dem abgetrag’nen Rock, mächtiger Pförtner, der aber jeden anständig Ge- Wichtiger Gelehrtenmiene und dem dicken Bambusstock, kleideten einließ (…).“300) Disputirt mit einem Dito, zwei Decennien wen’ger alt, Bis 1838 führten die Herren Perrini et Josty die Kon- Der in des Gespräches Hitze fast an jeden Kommer prallt. ditorei und „Alsterhalle“. Danach übernahm A. Gio- vanoly die Konditorei. Da, für seine Ehehälfte und die Kinderschaar, der Mann Keuchend schleppt ein halbes Dutzend Extrasessel sich heran, Gedicht über die Alsterhalle (um 1837) Und im murmelnden Gedibber, Wort an Wort sich reihend schnell, Sprechen hier sechs arrogante mod’sche Kinder Israel. Willst du recht pomadig laben dich an Schönheit und an Pracht, Welche Architekt und Maler einverständlich angebracht, Comfortable hingestrecket, in vollkomm’ner Seelenruh, Daß von solcher Augenweide fast geblendet wird der Sinn – In die West’ die Daumen häkelnd, siehet dort ein Brite zu, Rath’ ich dir, spazier’ des Abends nach der Alsterhalle hin. Wie dicht vor ihm mit Verlangen ein geschniegelter Friseur – Auf antiken Säulen ruhet schlank das zierlich leichte Dach; Hier als Petit-maitre glänzend – um sich blickt nach dem Marqueur. Gerne sitzt man unter ihnen, ist’s ein schöner Sommertag. In dem Saal blickst du zur Decke, einfach aber schön geziert, Liebst du etwa, dir mit Lesen zu vertreiben deine Zeit, Wo ein eleganter Lustre vor den andern all’ brillirt. Ist das stille Lesezimmer aufzunehmen dich bereit. Bei der Lampe hellem Scheine schließ’ dich dort dem Kreis nur an, Von den Wänden schau’n Gestalten aus vergangner Wunderzeit, Welchen, ganz vertieft in Blätter, scheinbar Nichts d’rin stören kann. Schlingend sich zu Arabesken mit genialer Leichtigkeit: In der Hinterwand gespiegelt, blickst du dich staunend an, So, Freund! Was an solchen Häusern dir besonders wohlgefällt, Wendest dich zur Billardstube und zum Lesezimmer dann. Find’st du, dass die Alsterhalle in dem schönsten Styl enthält. Doch du irrst dich, glaubst du, dass ich mit dem Besten fertig sey; Sieh’ und an der andern Seite hebt sich äusserst elegant, Jetzt erst sprech’ ich dir von ihrer glänzenden Conditorei! Das Buffet, so zierlich wie man’s nie vordem in Hamburg fand.

300 Wilhelm Melhop: Die Alster. Hamburg 1932, S. 484. NEUER JUNGFERNSTIEG 1 · Hep-Hep-Krawalle in der Alsterhalle 231

Trittst du ein, mein Freund, in dieses ausgeführte Ideal, cher Debatten geworden und stand für den An- Scheint vielleicht dir minder zierlich selbst der Alsterhallensaal, spruch der jüdischen Minderheit auf Zugehörigkeit Denn du findest hier vereinigt auf solch’ winzig kleinem Raum zur bürgerlichen Gesellschaft.“303) Solche Eleganz als vordem du dir ließest träumen kaum. 1835 kam es erneut zu „Hep-Hep-Krawallen“ in den Alsterpavillons. „Wieder wurden allabendlich jüdi- Spiegelsäulen – Marmortischchen, gleich dem Ort patent und klein –, sche Gäste unter Misshandlungen aus den Kaffee- Ottomane, ein Fontainchen – glaubst im Orient zu seyn. häusern vertrieben; die Behörden schritten äußerst Doch, es soll dir nicht verrathen All’ was dort ist mein Gedicht; zögerlich ein und ahndeten die ‚Ordnungswidrigkeit’ Sieh’ es selbst, und dann entscheide: log ich oder log ich nicht? 301) von Juden, die sich verteidigt hatten, härter als die Gewalttaten ihrer Angreifer. Der Ausbruch der Kra- Mit der Strophenzeile „Sprechen hier sechs arro- walle wurde als Reaktion auf eine damals in Aus- gante mod’sche Kinder Israel“ macht auch dieses sicht genommene Reform der Hamburger Judenge- Lobgedicht auf die Alsterhalle aus dem Jahre 1837 setzgebung aufgefasst, die allerdings nach den die damals in weiten Kreisen des Bürgertums vor- Krawallen wieder aufgegeben wurde, noch ehe sie herrschende antisemitische Einstellung deutlich. konkrete Gestalt angenommen hatte.“304)

Die Alsterhalle und Giovanolys Conditorei [Depper- Der alte und neue Jungfernstieg mit hinten rechts im mann und Ruschke] um 1845, Federlitho. Staats- und Uni- Bild der Alsterhalle. Staatsarchiv Hamburg versitätsbibliothek Hamburg AH A, 117

Hep-Hep-Krawalle in der Alsterhalle Über die Hep-Hep-Krawalle in der Alsterhalle schrieb der Schotte und Kunstkritiker John Strang 1835 kam es in der Alsterhalle zu „Hep-Hep-Kra - (1795–1863) in seinen Briefen über Hamburg: „Das wallen“. Solche antijüdische Manifestationen, die verbreitete und in Hamburg so lange herrschende ihren Anfang in Würzburg genommen hatten, wo Vorurteil gegen die Juden äußert sich in häufigen „im Anschluss an einen Studentenumzug, bei dem Streitigkeiten, die den Frieden der Stadt ernsthaft erstmals der Sprechchor ‚Hep-Hep, Jud’ verreck!‘ gefährden. So wird vor kurzem, im August 1835, in ertönt[e], (...) jüdische Läden verwüstet und meh- der Zeitung ein Aufruhr dieser Art beschrieben. rere Juden getötet“302) worden waren, hatten sich ‚Hamburg, 4. August. Am letzten Donnerstagabend, in Hamburg erstmals im August 1819 ereignet. So gegen 9 Uhr, griffen etwa fünfzig Personen vorsätz- waren aus den Hamburger Alsterpavillons allabend- lich sechs oder sieben Juden in der Alsterhalle ‚ei- lich jüdische Gäste gewaltsam vertrieben worden. nem öffentlichen Gasthaus‘, an, warfen sie gewalt- „Der Kaffeehausbesuch von Juden war in der Han- sam hinaus und behandelten jeden eintretenden sestadt mehrfach zum Gegenstand erregter öffentli- Juden in der gleichen Weise. Am folgenden Tag be-

301 Aus: Hamburg wie es ist und loh 1997, S. 194. schichte der deutschen Juden. Göttin- trinkt: Scenen aus dem Hamburger 303 Stefan Rohrbacher: Ausschreitun- gen 2006, S. 27. Volksleben. Hamburg 1837. gen, antijüdische. In: Das jüdische 304 ebenda. 302 Ernst Christian Schütt: Chronik Hamburg. Ein historisches Nachschla- Hamburg. 2. aktualisierte Aufl. Güters- gewerk. Hrsg. vom Institut für die Ge- 232 NEUER JUNGFERNSTIEG 1 · Hep-Hep-Krawalle in der Alsterhalle · „Neuer Union-Club“

schlossen vierzig junge Männer jüdischen Glaubens, kaufte das Grundstück und ließ dort sein Klubge- Gewalt mit Gewalt zu vergelten, und begaben sich bäude von dem Architekten Martin Haller (1835– am Abend zur Alsterhalle. Bis etwa 10 Uhr, als sie 1925) errichten. Dieser Klub war der Nachfolger des einen jungen Mann den Billardsaal zu verlassen 1838 ins Leben gerufenen „Union-Club“. Beide waren zwangen, blieb alles ruhig. Dies war das Signal zu „‚eine geschlossene Gesellschaft von Herren (…), einem allgemeinen Angriff, und es fand ein zerstö- die sich in ihren Mußestunden zu freundschaftlicher rerischer und mörderischer Kampf statt. Diese vier- Unterhaltung und Gedankenaustausch sowie durch zig jungen Leute hatten sich gegen 200 bis 250 Rauf- Lektüre von Zeitungen und Journalen sowie durch bolde zu verteidigen und blieben eine Zeitlang erlaubtes Spiel Erholung von ihren Geschäften su- Sieger. Nach einstündigem Kampf hatten sie ihre chen‘. (…) Allerdings war der Umgang mit ‚vorneh- Kräfte nahezu erschöpft und hätten unter einem men Frem den‘ nicht so ausgeprägt wie früher; auch von draußen hereingetragenen frischen Angriff zu- Senatoren fanden sich nicht mehr unter den Mitglie- sammenbrechen müssen, wenn nicht Militär und dern. ‚Der Kaufmann überwog, und eine gewisse Polizei eingetroffen und dem Tumult ein Ende ge- Rolle spielte (nach Einrichtung der neuen Garnisonen setzt hätten.‘ in Hamburg und Umgebung) der Offizier‘. Aber nach wie vor waren ‚Ent- spannung und Unter- haltung sowie geselli- ges Beisammensein die Hauptziele des Uni on- Club‘“.306) Zwischen den Welt- kriegen suchte sich der „Neue Union-Club“ ein anderes Domizil.

Alsterhalle 1842: Innen- ansicht des Privat- Vereins an der Alster. Staatsarchiv Hamburg

Der Polizeiherr legte den Ältesten der jüdischen Ge- meinde am nächsten Tag nahe, ihre Freunde vom Be - such öffentlicher Stätten abzuhalten, da er für die Fol gen nicht einstehen könnte. Gleichzeitig wurde den Ältesten gegenüber angedeutet, ein altes aus dem Jahre 1640 stammendes Gesetz, das den Juden den Aufenthalt an bestimmten Plätzen und auf bestimm- ten Straßen verbietet, sei noch immer in Kraft!“305) Am 11. Oktober 1866 wurde die „Alsterhalle“ ge- schlossen. Der 1867 gegründete „Neue Union-Club“

305 Gesine Espig, Rüdiger Wagner (Hrsg.): John Strang, Hamburg 1831. Hamburg 1981, S. 118. 306 Herbert Freudenthal: Vereine in Hamburg. Hamburg 1968, S. 91, S. 213. COLONNADEN 5 · Wohnung des Senators Schemmann · Wohnung des jüdischen Schriftstellers Heiz Liepman 233

zogen Ärzte ein, die dort wohnten 69. STATION und ihre Praxen hatten. Im Souterrain Colonnaden 5 gab es eine Portierswohnung und Direkte Straßenverbindung (heute Fußgängerzone) vom Jung- eine kleine Wäscherei mit Heißman- fernstieg zum Dammtor, angelegt 1876/77, Bebauung 1877– gel. 1880 und 1885. Benannt nach den Ladenarkaden am Süd- ende der Straße. Hier wohnte der jüdische Die Colonnaden sind ein Beispiel für den spekulativen Städte- Schriftsteller Heinz Liepman(n) bau der Gründerzeit. „Mit der Anlage der Diagonalstraße wurden die tiefen, aber teilweise völlig untergenutzten Blöcke Auch der Schriftsteller und Journalist zwischen Neuer Jungfernstieg und Esplanade erschlossen. Die Heinz Liepman(n) (27.8.1905–6.6. Grundstücke nördlich der Theaterstraße wurden von den Ge- 1966) wohnte in den Colonnaden 5. brüder Wex [Rechtsanwalt Dr. F. H. Wex; Architekt E. E. Wex Er „veröffentlichte mehrere erfolgrei- und Ingenieur F. B. Wex] eingebracht (…), diejenigen südlich che Romane und das Theaterstück ‚Columbus‘, das 1932 im Hamburger davon von Friedrich J. Leser und seinen Erben. Ein Vertrag Schauspielhaus uraufgeführt wurde. mit der Finanzdeputation sicherte den Spekulanten 1876 die In Artikeln für die ‚Weltbühne‘ und Realisierung der Immobilienwerte zu, während die Straße das sozialdemokratische ‚Hamburger selbst nach ihrer Fertigstellung in den Stadtbesitz übergehen Echo‘ [siehe S. 259] warnte L. früh sollte“,307) schreibt Ralf Lange in seinem „Architekturführer vor den Gefahren des immer virulenter Hamburg“. Und Hermann Hipp erläutert: „Im vollen Umfange werdenden Antisemitismus und vor erfüllten die Colonnaden wohl nie den Zweck einer besseren der erstarkenden NSDAP. Als stadt- Verbindung der Innenstadt mit den nordwestlichen Vororten, bekannter Feind der neuen Machtha- da ihre Einmündungen weder im Norden noch im Süden direkt ber musste L. 1933 emigrieren, seine auf die dort vorhandenen wichtigen Kreuzungen treffen. (…) Bücher fielen im Mai 1933 der Bü- Der besonders anspruchsvolle Charakter der Straße hängt aller- cherverbrennung zum Opfer.“309) dings wohl doch damit zusammen, dass sie‚ als ein wahres Heinz Liepman(n) emigrierte zu- Bedürfnis für den direkten Verkehr der vor dem Dammtor nächst nach Frankreich, später kam wohnenden Vornehmen Welt mit dem ‚Herzen der Stadt‘ emp- er über Holland, Belgien und England funden wurde.“308) in die USA. Im Exil schrieb er Romane Bauherr des Gebäudes: Senator Schemmann (19. Jh.); Heinz Liep- – wie z. B. „das Vaterland“, in dem man(n), Schriftsteller (20. Jh.); erste schwule Buchhandlung er die Machtübernahme der Natio- Hamburgs, Redaktion der Homosexuellen-Zeitschrift „Der Weg“ nalsozialisten beschrieb. (Standort: 1953–1957) 1947 kehrte er als Berichterstatter der „Times“ nach Deutschland zurück. 1949 nach der Hochzeit mit Ruth Li- Hier wohnte Senator Hermann Schemmann lienstein (1909–2001) „gründete das Paar zusammen die noch heute existierende und weltweit bekannte 1877 ließ der damalige Senator Conrad Hermann Literaturagentur Liepman. Als sich die Hoffnungen Schemmann (1842–1910) dieses heute noch vorhan - auf einen wirklichen, mit der NS-Vergangenheit bre- dene vornehme Etagenwohnhaus errichten und zog chenden gesellschaftlichen Neuanfang in der Bun- damals dort selbst in eine 300 qm große Wohnung. desrepublik nicht erfüllten und sich stattdessen ge- Die Zimmerdecken waren mehr als vier Meter hoch gen Ende der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts und mit Stuck geschmückt. In die Etagen über ihm neonazistische und vor allem antisemitische Vorfälle

307 Ralf Lange: Architekturführer 309 Stefanie Schüler-Springorum: gen 2006, S. 176f. Hamburg. Stuttgart 1995, S. 49. Heinz Liepman(n). In: Das jüdische 308 Hermann Hipp: Colonnaden. Ar- Hamburg. Ein historisches Nachschla- beitshefte zur Denkmalpflege Nr. 2. gewerk. Hrsg. vom Institut für die Ge- Hamburg 1975, S. 16f schichte der deutschen Juden. Göttin- 234 COLONNADEN 5 · Wohnung des jüdischen Schriftstellers Heinz Liepman(n) · Redaktion der Homosexuellen-Zeitschrift „Der Weg“ COLONNADEN 11 · Jazzklub „Barett“

Redaktion der Homosexuellen-Zeitschrift „Der Weg“

„Die erste ‚schwule Buchhandlung‘ in Hamburg war das Stadtbüro des Putziger-Verlages in den Colon- naden 5. Dort befand sich zwischen Oktober 1953 und März 1957 die Redaktion der Homosexuellen- zeitschrift ‚Der Weg‘. Literaturempfehlungen waren eine ständige Rubrik in dieser Zeitschrift. Im März 1954 wurde auf 27 Bücher hingewiesen, beispiels- weise auf [Roger] Peyrefittes [1907–2000] ‚Diplo- maten‘, Hermann Hesses [1877–1962] ‚Demian‘ (‚ein hohes Lied der Freundesliebe‘311)) oder auf den Roman ‚Der Wendepunkt‘ von Klaus Mann [1906–1949] (‚In großartiger nichts verschweigender Offenheit geschrieben, gehört es in die Bibliothek eines jeden WEG-Lesers‘).312) Die Bücher konnten entweder beim Verlag bestellt oder im Stadtbüro gekauft werden. An sechs Tagen in der Woche konn- ten Interessierte das Verlagsbüro aufsuchen. Neben Neuerscheinungen und älteren Titeln gab es auch Hausflur Colonnaden 5. Photo: Marina Bruse eine Auswahl englischsprachiger Zeitschriften wie ‚Man’s World‘ und ‚Art in Physique Photography‘. In den Verlagsräumen wurde darauf hingewiesen, häuften, setzte sich L. wieder mit mehreren großen dass die Mitarbeiter auch ‚unverbindlich und kos- Artikeln zur Wehr. 1961 entschloss er sich zusam- tenlos in allen auftretenden, uns interessierenden men mit seiner Frau, ein zweites Mal zu emigrieren Fragen‘ zur Verfügung stünden.“ und sich in Zürich niederzulassen, wo er bis zu sei- Text mit freundlicher Genehmigung aus: Bernhard nem Tod als freier Publizist tätig war“,310) schreibt Rosenkranz, Gottfried Lorenz: Hamburg auf anderen Stefanie Schüler-Springorum in dem Nachschlage- Wegen. Die Geschichte des schwulen Lebens der werk „Das jüdische Hamburg“. Hansestadt. Hamburg 2006, S. 245.

im „Barett“ im festen Engagement sechs Nächte pro 70. STATION Woche. Auch die sich in den 50er Jahren zusam- Colonnaden 11 mengefundene „Rubin Combo“ trat in der Kellerbar (alte Nummerierung) „Barrett“ auf. Jazzklub „Barett“ (1953–1966) Wie die „Palette“ (siehe S. 202) war auch das „Ba- rett“ „eine Art geheime Unterwelt, eine Treppenlän - Der Jazzkeller „Barett“ war in den 50er- und 60er ge unter Unscheinbarsten: ‚Das war eine ziemlich Jahren des 20. Jahrhunderts eine bekannte Institu- tiefgelegene, finstere Höhle, allerdings mit einer sehr tion in Hamburg. Dort traf sich die Bebop- und guten Akustik und einem Barkeeper, der wirklich Hard bop-Musikszene. 1956 gründete sich hier das wusste, was er verkaufte. (…) Es gab wunderbare, „Michael-Naura-Quintett“. Sieben Jahre spielte es geheimnisvoll dunkle Ecken, da konnte man zur

310 ebenda. 311 Rubrik: Das Buch für Sie. In: Der Weg, Nr. 3/1954. 312 ebenda. COLONNADEN 11 · Jazzklub „Barett“ 235 COLONNADEN 40a · Stolpersteine für Flora und Edgard Francke

Sache kommen. Das Publikum war eine Mischung Sohn Edgard konnte zum Lebensunterhalt nicht viel aus sehr begeisterten Jazzfans und Paaren, die sich beitragen. Er litt an epileptischen Anfällen und war mal richtig abgreifen wollten. (…) Gründer des in seiner Erwerbstätigkeit eingeschränkt. Eine Zeit Baretts ist Günther Suhrbier (…).“313) (siehe auch lang war er als Bote und Hausdiener beschäftigt, S. 271 Bauzentrum) später als „Fürsorgearbeiter“ auf einem Flugplatz und zuletzt als Erdarbeiter. Auf Veranlassung des 71. STATION Erb gesundheitsgerichtes wurde Edgard im Mai 1937 Colonnaden 40a wegen „Erblicher Fallsucht“ sterilisiert. Seine Mutter hatte sich schon seit geraumer Zeit Stolpersteine für Flora und um eine Unterbringung in einer Stifts-Wohnung be- Edgard Francke (NS-Zeit) müht. Nachdem ihr untersagt worden war, „arische“ Untermieter aufzunehmen, gab sie ihre Wohnung In den Arkaden bei der Durchfahrt zum Hinterein- in den Colonnaden auf und zog am 1. Dezember gang des Hotels „Vier Jahreszeiten“ (siehe S. 241) 1938 zusammen mit ihrem Sohn in das Lazarus- liegen vor dem Haus Nr. 40a die Stolpersteine für Gumpel-Stift in die ehemalige Schlachterstraße 47, Flora Francke (6.10.1862, deportiert am 18.11.1941 Haus 6. Später wurde dieses Stift zum „Judenhaus“ nach Minsk) und Edgard Wilhelm Francke (29.8. deklariert und von der Jüdischen Gemeinde zwangs- 1900, deportiert am 8.11.1941 nach Minsk). verwaltet. Von dort wurde Edgard Francke am 8. No- Flora war die Tochter von Eduard Francke und sei- vember 1941 nach Minsk deportiert. Flora folgte ih- ner Ehefrau Sara, geb. Dreyer. Nach ihren eigenen rem Sohn nur zehn Tage später. Ob sie sich dort An gaben war ihr Vater ein angesehener Kaufmann noch einmal trafen, ist ebenso wenig bekannt wie gewesen und stammte, wie ihre Mutter, aus einer der Umstand ihres Todes.314) „alten Hamburger Familie“. Er besaß in der Straße Text: Susanne Rosendahl Neuer Wall ein großes Herrenkonfektionsgeschäft (später Modehaus Gebr. Hirschfeld). Dort am Neuen Wall wurde Flora geboren. Ihr Bruder Benno war Bankangestellter und wohnte 1927 in der Gertruden- straße 8 in der Hamburger Altstadt. Ihren Sohn Ed- gard hatte sie in Hannover unehelich zur Welt ge- bracht, den Vater ihres Kindes, Siegfried Fürst, hei ratete sie nicht. Flora Francke betrieb in den Colonnaden 40a im Hinterhaus eine Zimmervermietung, in der haupt- sächlich Artisten aus dem „Trocadero“, Große Blei- chen 32, untergebracht waren. In diesem damals le - gendären Lokal fanden bis zum späteren Tanzverbot täglich Konzerte und Kabaretts statt. Im Zuge der Inflation geriet auch Flora Francke in finanzielle Nöte und sah sich 1928 zum ersten Mal gezwungen, Wohlfahrtsunterstützung zu beantra- gen. In einem späteren Antrag 1931 gab sie an, keine Verwandten mehr zu haben, die sie unter- stützen könnten. Vermutlich war ihr Bruder Benno Stolpersteine verlegt für Flora und Edgard Francke in Francke zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben. Ihr den Colonnaden 40a. Photo: Marina Bruse

313 Jan-Frederik Bandel, Lasse Ole Staatsarchiv Hamburg 522-1 Jüdische und Sozialfürsorge, Abl.1999/2 Fran - Hempel, Theo Janßen: Palette revisi- Gemeinden, 992 b, Kultussteuerkartei cke, Flora. ted. Eine Kneipe und ein Roman. Ham- der Deutsch-Israelitischen Gemeinde Hamburger Jüdische Opfer des Natio- burg 2005, S. 17. Hamburg. nalsozialismus. Gedenkbuch, Ver- 314 Quellen: Staatsarchiv Hamburg 351-14 Arbeits- öffentlichung aus dem Staatsarchiv 236 COLONNADEN 25/27 ECKE BÜSCHSTRASSE · Antiquitätengeschäft Hecht · Felix Hecht · Künstlergruppe „Hamburger Gruppe“

ihrem ideologisch wie literarisch breit gefächerten 72. STATION Spektrum standen sich Vertreter der damals in Ham- Colonnaden 25/27/ burg einflussreichen, die Ideale einer ‚Heimatkunst‘ Ecke Büschstraße propagierenden ‚Heimatschutzbewegung‘ und Ver- (alte Nummerierung) treter einer maßgeblich vom Expressionismus ge- prägten literarischen Avantgarde gegenüber. Antiquitätengeschäft Hecht Obwohl die daraus resultierenden Spannungen letzt- (Standort: 19. Jh. bis zur NS- lich zur Auflösung der Gruppe führten, wirkten sie Zeit); Felix Hecht (NS-Zeit); Aus- befruchtend und trugen zu einem lebendigen Aus- stellungen der Künstlergruppe tausch bei“,315) schreibt Rüdiger Schütt. „Hamburger Gruppe“ (20. Jh.) Felix Hecht veranstaltete z. B. im Dezember 1926 eine Ausstellung, in der Bilder von Eduard Hopf Jacob Hecht, der 1892 das Hamburgische Bürger- (1901–1973), Hans Leip, Paul Mechlen (1888–1961), recht erworben hatte, betrieb in den Colonnaden ein Rudolph Neugebauer (1892–1961) und Karl Opfer- renommiertes Antiquitätengeschäft, in dem es Stil- mann (1891–1960) gezeigt wurden. Auch lud er in möbel, Gemälde und andere Antiquitäten zu kaufen seine Firmenräume zu einer Lesung von Adolph gab. Nach seinem Tod übernahm sein Sohn Edgar Witt maack (1878–1957) und Ludwig Beil (1890– Hecht das Geschäft. Dessen Bruder Felix Hecht 1961) ein. 1927 trat Felix Hecht aus der „Hamburger (24.9.1883–1944/45 ermordet im KZ Auschwitz) Grup pe“ aus. veranstaltete in den Räumen des Geschäftes mit sei- 1933 wurde seine Ehe in beiderseitigem Einverneh- ner Frau Edith, geb. von Sillich (1900–1979), Aus- men geschieden. Dennoch wurde noch eine Zeit stellungen und Lesungen moderner Hamburger lang ein gemeinsamer Haushalt aufrechterhalten. Künstler und Künstlerinnen. Als Edgar Hecht 1940 Nach der Scheidung von seiner „arischen“ Ehefrau nach Shanghai auswanderte, „übernahm“ der Haus - verlor Felix Hecht den relativen Schutz einer „Misch- meister das Geschäft. ehe“. Im November 1938 wurde ihm die Zulassung Felix Hecht war seit ca. 1923/24 als Rechtsanwalt zur Rechtsanwaltschaft entzogen, und am 10. No- des Schriftstellers Hans Leip (1893–1983) tätig und vember wurde er verhaftet und ins KZ Oranienburg wurde auch der juristische Beistand und Förderer deportiert, aus dem er einen Monat später wieder der Künstlergruppe „Hamburger Gruppe“. 1925 hat- entlassen wurde. ten Hans Leip und Hans Much (1880–1932) die Nachdem Felix Hecht und seine geschiedene Frau „Ham burger Gruppe“ gegründet. Die Gruppe „setzte im Frühjahr 1940 denunziert worden waren, wurde sich in der zweiten Hälfte der 20er Jahre für die Be- das Paar wegen angeblicher „Rassenschande“ ver- lange Hamburger Künstler ein und versuchte, dem haftet. Edith Hecht kam für drei Wochen in „Schutz- Ruf Hamburgs als einer kunstfeindlichen Stadt ent- haft“ und musste sich verpflichten, ihren geschie- gegenzuwirken. Sie organisierte kulturelle Ereignisse denen Mann nie wiederzusehen. wie Lesungen und Künstlerfeste und wurde auch Am 22. Februar 1944 wurde Felix Hecht ins KZ The- kulturpolitisch aktiv, indem sie sich beim Senat für resienstadt und am 28. September 1944 ins KZ finanzielle Unterstützung notleidender Hamburger Auschwitz deportiert.316) Künstler einsetzte. Zu ihren Mitgliedern zählten noch heute bekannte Schriftsteller wie Hans Henny Jahnn [1894–1959] oder Hans Leip (…). Aber auch der Architekt des Chilehauses, Fritz Höger [1877– 1949], der zu seinem Privatvergnügen plattdeutsche Gedichte schrieb, war Mitglied der Gruppe. (…) In

Hamburg, Bd. XV, bearbeitet von Gruppe 1925 bis 1931. Hamburg 1996 deutsche Familie unter den Nürnberger Jürgen Sielemann unter Mitarbeit von (Einleitung). Rassegesetzen. Hamburg 2004. Paul Flamme, Hamburg 1995. 316 Mehr über die Familie Hecht in 315 Rüdiger Schütt u. a.: Bohemiens dem Buch der Tochter Ingeborg Hecht: und Biedermänner. Die Hamburger Als unsichtbare Mauern wuchsen. Eine COLONNADEN 47 · Stolpersteine für Alfred Jacobsohn und Günther Ehrich 237

Georgs Braut Anna Gustmann in den Colonnaden 73. STATION 47. Aber auch in Hamburg fand Alfred Jacobsohn Colonnaden 47 keine Beschäftigungsmöglichkeit, so beantragte er Stolpersteine für Alfred Jacob- im Juni 1931 Fürsorgeunterstützung. Sohn Horst sohn und Günther Ehrich beendete in Hamburg seine Schulzeit und begann (NS-Zeit) im Januar 1933 eine Lehre als Radiotechniker im Radiohaus Nordmark im Alten Steinweg 46. Schon im August musste ihn sein Chef aus „rassischen“ Vor dem Haus Colonnaden 47 liegen Stolpersteine Gründen entlassen. Horst besuchte daraufhin für ein für Günther Ehrich (5.6.1915–19.8.1938 Suizid) und Jahr eine Fachschule für Radiotechniker und arbeitete Alfred Jacobsohn (20.5.1869, deportiert von Berlin bis Februar 1937 im Radiohaus Carl Kessler, Große am 15.9.1942 nach Theresienstadt, dort gestorben Allee 33 in Hamburg-St. Georg. Weil aber Juden keine am 3.3.1943) Alfred Jacobsohn verbrachte die meiste Zeit seines Lebens in Breslau, wo er seit dem 1. April 1899 als selbstständiger Zahntechniker tätig war. Geboren wurde er in Bublitz als Sohn des Kaufmanns Sally und seiner Ehefrau Ernestine, geb. Heinsius. Alfred Jacobsohn heiratete am 30. März 1903 die aus einem evangelischen Elternhaus stammende Martha Melke. Sie wurde 1879 in Breslau geboren und war Näherin von Beruf. Ihr gemeinsamer Sohn Martin war bereits am 19. Dezember 1901 zur Welt gekommen. Georg folgte am 25. August 1903, Sohn Egon am 25. Novem - ber 1907 und Horst am 24. Oktober 1918. Martha Ja- cobsohn war bei ihrer Hochzeit zum jüdischen Glau- ben konvertiert; dass die Söhne in ihrer Heimatstadt die katholische Knabenschule besuchten, scheint da- zu in keinem Widerspruch gestanden zu haben. Zwei Jahre nach der Geburt des jüngsten Kindes Horst ver- starb Martha Jacobsohn am 8. November 1920. Nach dem Tod seiner Frau konnte Alfred Jacobsohn seine Praxis in Breslau noch bis Anfang 1931 betrei - ben, verlor dann aber seine Krankenkassenzulas- sung und zog zunächst mit seinem jüngsten Sohn Stolpersteine verlegt für Günther Ehrich und Horst zu seinem verheirateten Sohn Martin nach Alfred Jacobsohn in den Colonnaden 47. Photo: Jürgen Brömme . Dieser fuhr als Steward zwischen Bre- men und New York zur See und wohnte in der Ram- penstraße 40. In der Hoffnung, mit seinen bereits technischen Berufe mehr ausüben durften, konnte 60 Jahren schneller wieder eine Beschäftigung zu Horst seine Prüfung nicht mehr ablegen und ging fin den, zog Alfred Jacobsohn kurze Zeit später mit deshalb in Begleitung seiner Freundin Vera Kotzleva, Sohn Horst nach Hamburg, wo auch sein Sohn geboren 1916 in Moskau, nach Holland. Bei einer Georg, der seinen Lebensunterhalt als Pianist ver- Kontrolle durch die niederländische Polizei wurde diente, wohnte. Die beiden bezogen ein Zimmer bei er festgenommen und am 1. März 1937 als jüdischer 238 COLONNADEN 47 · Stolpersteine für Alfred Jacobsohn und Günther Ehrich

Emigrant nach Deutschland abgeschoben und an die Bekanntschaft deutschblütiger Mädchen gesucht die Gestapo übergeben. Obwohl Horst versicherte, zu haben, und diese mit der Aufforderung, keinem dass er in Holland lediglich seine Prüfung ablegen etwas zu sagen, in echt jüdischer Manier, in Angst und nicht illegal auswandern wollte, blieb er in versetzt zu haben, um zu erreichen, dass ihre rassen- Emmerich in Haft. Am 10. April 1937 erfolgte seine schänderische Tätigkeit nicht entdeckt wird“. Überführung ins KZ Dachau. Dort erhielt er die Am 19. November 1937 wurde Egon Jacobsohn zu Häftlings-Nr. 12037. Wegen Überfüllung des Lagers einem Jahr und drei Monaten Gefängnis verurteilt. wurde er im September 1938 ins KZ Buchenwald Nach seiner Strafverbüßung am 4. November 1938 verlegt, wo er die Häftlings-Nr. 1315 erhielt und in blieb er in Untersuchungshaft. Diesmal wurden ihm den Block 10 kam. Verhältnisse, die er 1936 mit einer Garderobenfrau Alfred Jacobsohn, der sich zwischenzeitlich um die des „Kaffee Laage“ und 1937 mit einem auf St. Pauli Auswanderung seines Sohnes bemüht hatte, konnte arbeitenden „Tanzmädchen“ gehabt haben sollte, am 15. April 1939 dessen Entlassung bewirken. Am unterstellt. Ging das Gericht im ersten Prozess noch 17. Juni 1939 verließ Horst zusammen mit seiner von einem Gelegenheitsfall aus, „in dem die Zeugin Freundin Vera auf dem Dampfer „Saarland“ über es dem Angeklagten außerordentlich leicht gemacht Triest Deutschland in Richtung Shanghai. Die Kosten hat“, wurde Egon Jacobsohn nun als „gewohnheits- dafür hatte die Jüdische Gemeinde übernommen. mäßiger Rassenschänder“ zu einer dreijährigen Auch der ältere Bruder Martin hatte mittlerweile Zuchthausstrafe verurteilt und am 18. August 1939 Deutschland verlassen und war nach Amerika emi- in das Zuchthaus Bremen-Oslebshausen überführt. griert. Zuvor hatte man ihn im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel Alfreds zweitjüngster Sohn Egon Jacobsohn, der in noch auf seine Wehrtauglichkeit gemustert. Egon Görlitz das Kellnergewerbe erlernt hatte, war am Jacobsohn befand sich nach Beendigung seiner 15. August 1931 seiner Familie nach Hamburg ge- zweiten Haftstrafe nur für kurze Zeit in Freiheit. folgt. Dort arbeitete er zuletzt als Kellner im Tanz- Am 18. November 1941 wurde er bereits nach Minsk lokal „Neu China“ in der Großen Freiheit 11 und deportiert und dort ermordet. Sein letzter Hambur- nebenbei als Bühnenarbeiter für den jüdischen Kul- ger Wohnort war in der heute nicht mehr existie- turbund. Am 4. August 1937 wurde Egon in seiner renden Schlachterstraße 40, im „Judenhaus“, ehe- Unterkunft in der Kleinen Seilerstraße 4 III verhaftet. mals Marcus-Nordheim-Stift. Man bezichtigte ihn der „Rassenschande“. Schein- Alfred Jacobsohn wechselte während der neun bar stand er unter Beobachtung oder wurde denun- Jahre, die er in Hamburg verlebte, viermal als Un- ziert, denn in den Ermittlungsakten heißt es: „Es termieter seinen Wohnraum. 1935 lebte er noch ein- wurde vertraulich in Erfahrung gebracht, dass der mal in der Neustadt, in der Poolstraße 12. Seine Egon Jacobsohn, damals wohnhaft Colonnaden, letzte Adresse war in der Rappstraße 11, bevor er der Jude sein soll, der ein Liebesverhältnis mit einer am 11. Juni 1940 zu seinem Sohn Georg nach Berlin ‚deutschblütigen‘ Frau gehabt hat.“ In der Anklage- in die Nollendorferstraße 35 zog. Von Berlin wurde schrift steht: „Der Angeklagte Jacobsohn ist ‚Misch- Alfred Jacobsohn am 15. September 1942 nach The- ling 1. Grades‘, gilt aber nach Absatz 2a des Reichs- resienstadt deportiert. Dort starb er im Alter von 74 bürgergesetzes vom 14. November 1935 als Jude, Jahren am 3. März 1943. da die Mutter, die zwar aus christlicher Familie Sein jüngster Sohn Horst und dessen Freundin Vera stammt, bei ihrer Heirat den mosaischen Glauben wurden nach ihrer Flucht in Shanghai als „feindliche angenommen hat.“ Egon Jacobsohn wurde vorge- Ausländer“ von der japanischen Besatzungsmacht worfen, „ohne tiefere seelische Bindung, nur seinen bis zum 15. August 1945 gettoisiert. Erst im April Trieben folgend, im vollen Bewusstsein der Straf- 1948 konnten beide in die USA einreisen.317) barkeit seiner Handlung in öffentlichen Tanzlokalen Text: Susanne Rosendahl

317 Quellen: Staatsarchiv Hamburg 351-11 AfW 4928. Staatsarchiv Hamburg 522-1 Jüdische (Amt für Wiedergutmachung Ham- Staatsarchiv Hamburg 213-11 Staatsan- Gemeinden, 992 b, Kultussteuerkartei burg), Abl. 2008/1, 241018 Jacobsohn, waltschaft Landgericht –Strafsachen, der Deutsch-Israelitischen Gemeinde Jake (Horst). 23/38. Hamburg. Staatsarchiv Hamburg 314-15 OFP, FVg Staatsarchiv Hamburg 351-14 Abl. COLONNADEN 47 · Stolpersteine für Alfred Jacobsohn und Günther Ehrich 239 COLONNADEN 104 · „Hamburger Bücherstube Felix Jud & Co.“

Max Günther Ehrich war „kaufmännischer Ange- Gnadengesuch der Mutter vom Reichsjustizminister stellter, zuletzt Verkäufer im Alsterhaus; ca. April abgelehnt, 19. August 1938 Hamburg, Flucht in den 1936 Kriegsgericht der 20. Division Hamburg 3 Mo- Tod durch Sturz aus dem Fenster.“ nate Gefängnis wegen ‚Fahnenflucht‘, Selbsttötungs- Text mit freundlicher Genehmigung der Autoren aus: versuch und Hinweis auf homosexuelle Veranla- Bernhard Rosenkranz, Ulf Bollmann, Gottfried gung, 12. November bis 14. Dezember 1936 KZ Lorenz: Homosexuellen-Verfolgung in Hamburg Fuhlsbüttel, Dezember 1936 AG Hamburg 1 Jahr Ge- 1919–1969. Hamburg 2009, S. 208f. fängnis nach § 175 alter und neuer Fassung. 1937

in Hamburg, und vier Jahre später“319) machte er 74. Station sich mit der „Bücherstube Felix Jud & Co.“ in den Colonnaden 104 Colonnaden selbstständig. „Hamburger Bücherstube Felix Mit den Nationalsozialisten verband Felix Jud nichts. Jud & Co.“ (Standort: 1923– Aus Opposition gegenüber dem NS-Regime stellte er 1943, Neugründung 1948 am ein Schild in sein Ladenschaufenster mit der Auf- Neuen Wall); Felix Jud (20. Jh.); schrift: „Bücher kauft man beim Jud“. „1935, als je- Treffpunkt verschiedener Wider- der Buchhändler per Erlass dazu verpflichtet wurde, standskreise (NS-Zeit) an Hitlers [1889–1945 Suizid] Geburtstag ein Son - derfenster in seinem Geschäft zu gestalten, platzierte Felix Jud ein eingerissenes Titelblatt mit dem Photo Als der 24jährige Felix Jud (7.3.1899–27.8.1985) des Führers in der Mitte der Scheibe und füllte das am 20. November 1923 seine Buchhandlung in den Fenster mit diversen Exemplaren des Südsee-Reise- Colonnaden eröffnete, hieß es in der Einladung: buches ‚Heitere Tage mit braunen Menschen‘ von „Allen Verhältnissen zum Trotz – im Glauben an Richard Katz [1888–1968].“320) eine bessere Zukunft Deutschlands und im Vertrau - en auf das literarisch gebildete Hamburger Publikum – haben wir uns entschlossen, eine neue Buchhand- lung zu eröffnen: Die HAMBURGER BÜCHERSTUBE FELIX JUD & CO soll eine Pflegestätte sein für das gute und schöne Buch, für Publikationen über alte und moderne Kunst und für Bücher über Philoso- phie. Darüber hinaus werden alle wesentlichen Er- scheinungen aller andern Wissensgebiete stets vor- rätig sein.“318) Bevor der aus dem niederschlesischen Klingenthal stammende „Bücherwurm“ Felix Jud seiner Beru- fung als Buchhändler nachgehen konnte, hatte er nach der Schulzeit zuerst einmal eine kaufmänni- sche Lehre im Eisenwarenhandel absolviert. Nach seiner Buchhändlerlehre „nahm er kurz nach Aus- In den Colonnaden 104 hatte in der NS-Zeit die bruch des Ersten Weltkrieges (da war er 15 Jahre „Hamburger Bücherstube Felix Jud & Co.“ ihren Sitz, alt) die volle Verantwortung für die Fromman’sche ein Treffpunkt verschiedener Widerstandskreise. Hofbuchhandlung in Jena. 1919 fand er eine Stelle Photo: Jürgen Brömme

1999/2 Arbeits- und Sozialfürsorge, fangenen. 319 ebenda. Jacobsohn, Alfred. Staatsarchiv Hamburg 218-1 Oberlandes- 320 ebenda. Staatsarchiv Hamburg 242-1 II Gefäng- gericht-Verwaltung, Abl. 8. 143E, L4b. nisverwaltung II, Abl. 16, ältere Kartei 318 www.felix-jud.de/pages/historie der männlichen Untersuchungshaftge- [15.5.2010.] 240 COLONNADEN 104 · „Hamburger Bücherstube Felix Jud & Co.“ NEUER JUNGFERNSTIEG 11 · Stadthaus der Familie Weber

„Natürlich erregte auch sein Name bei den Macht- Verfahren gegen Albert Suhr (siehe S. 224) und vier habern Anstoß und Verdacht. Wie kann ein Arier anderen, wurde Felix Jud in der Hauptverhandlung ‚Jud‘ heißen? Er reagierte mit einer Provokation. Er am 19.4.1945 vor dem Volksgerichtshof in Hamburg hängte einen großen Barockrahmen in sein Schau- zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Als im Mai 1945 fenster, oben unter der Bilderleiste war die Judenka- die britischen Streitkräfte in Hamburg eintrafen, wur- rikatur aus dem Stürmer ‚Jud bleibt Jud‘ – der de Felix Jud aus dem KZ Neuengam me befreit. krummbeinige, krummnasige, spitzbäuchige wö- Nach dem Zweiten Weltkrieg besaß er kaum Geld. chentliche Jude. Darunter Felix Jud, ein Foto als Seine Buchhandlung in den Colonnaden war 1943 Säugling auf dem Lammfell, dann ein Foto als Kon- durch Bomben zerstört worden. Mit finanzieller und firmand, ein weiteres aus der Gegenwart, darunter tatkräftiger Hilfe durch Freunde gelang es Felix Jud, ‚Jud bleibt Jud‘. Das war nicht zu bezweifeln. Aber eine Ruine am Neuen Wall auszubauen und dort quer zu dem ganzen ein Wäschebrett für ‚Persil bleibt 1948 seine Bücherstube neu zu eröffnen. Als das Persil‘“, schreiben Wilfried Weber und Marina Krauth Grundstück 1955 verkauft wurde, gab Axel Springer in ihrem Buch „Und wer besorgt das Spielzeug“? 75 ihm ein Darlehen, dessen Rückzahlung später auf Jahre Hamburger Bücherstube Felix Jud & Co.321) Axel Sprin gers Weisung hin einfach vergessen wurde. In der NS-Zeit versammelte sich in der Buchhandlung Dadurch war Felix Jud in die finanzielle Lage versetzt ein Kreis „Andersdenkender“ und diskutierte über worden, eine neue Bücherstube an einem anderen die andere Literatur und das andere Leben. Unter Standort eröffnen zu können. Dort am Neuen Wall ihnen war auch Axel Springer (1912–1985). 13 befindet sich die Buchhandlung noch heute. Am 19.12.1943 wurde Felix Jud wegen der Verbin- Felix Jud war nach dem Zweiten Weltkrieg kultur- dung zur „Weißen Rose“ (siehe auch S. 221) und politischer Berater der Alliierten; Gründungsmitglied weil er „verbotene Bücher“ unter dem Ladentisch des FDP-Landesverbandes, Mitglied im Verwaltungs- verkaufte, verhaftet und ins Polizeigefängnis Fuhls- rat der Hamburger Öffentlichen Bücherhallen sowie büttel gebracht. Am 6.6.1944 folgte die Verlegung ins Mitbegründer des Norddeutschen Verleger- und KZ Neuengamme. In der Anklage vom 23.2.1945 im Buchhändlerverbandes.

einem großen Fabrikgut in der Nähe von Bielefeld, 75. STATION verbracht hatte, hatte 1814 David Fr. Weber (1786– Neuer Jungfern- 1868) geheiratet, der zusammen mit seinem Cousin stieg 11 Gottlieb Woermann (1780–1839) das Leinenhaus Stadthaus der Familie Weber Woermann & Weber in Bielefeld gegründet hatte. Im (Standort: 19. Jh.): die Weber- Jahr seiner Heirat zog das Ehepaar nach Hamburg, Abende; Hotel „Vier Jahreszei- um hier unter der Firma D. F. Weber & Co. mit Bie- ten“ (Standort: seit 1904) lefelder Leinen Überseehandel zu betreiben. Das Ehepaar bekam acht Kinder. In ihrem Stadthaus am Neuen Jungfernstieg 11 und in ihrem Landhaus Die Weber-Abende in Oevelgönne pflegten die Webers große Gesell- schaften. Unter den zahlreichen Gästen des Hauses Im 19. Jahrhundert befand sich an der Stelle, wo befanden sich viele prominente Künstler, so z. B. heute das Hotel „Vier Jahreszeiten“ steht, das Stadt- der Maler Valentin Ruths (1825–1905) und Otto haus des Ehepaares Weber. Henriette Weber, geb. Speckter (1807–1871) (siehe auch S. 177). Nottebohm (22.10.1792–1.12.1886), die ihre Kindheit Im Winter waren die so genannten Weber-Abende, und Jugend auf dem Kupferhammer bei Brackwede, zu denen Henriette Weber jeden zweiten Mittwoch

321 Wilfried Weber, Marina Krauth (Hrsg.): „Und wer besorgt das Spiel- zeug“? 75 Jahre Hamburger Bücher- stube Felix Jud & Co. Hamburg 1998. NEUER JUNGFERNSTIEG 11 · Stadthaus der Familie Weber · Hotel „Vier Jahreszeiten“ 241 in ihr Haus am Neuen Jungfernstieg 11 einlud, von später „beschlagnahmte der ‚Oberste Marinerat der großer gesellschaftlicher Bedeutung. Junge wie älte- Unterelbe‘ das gesamte Hotel und machte es zu sei- re Menschen, oft bis zu 80 Personen, folgten der nem Hauptquartier. (…) Anfang Dezember war das Einladung zu Vorträgen aus den unterschiedlichsten Hotel ‚Vier Jahreszeiten‘ Schauplatz einer Verschwö- Themenbereichen. Danach lud die Dame des Hauses rung innerhalb der Soldatenräte. Am Abend des zu einem Imbiss ein, der an kleinen Tischen gereicht 4. Dezember tagten im Hotel unter der Leitung wurde, wo sich die illustre Gesellschaft bei Häpp- [Magnus] Zellers [1888–1972] mehrere als gemäßigt chen und Schnittchen angeregt über das Vorgetra- geltende Revolutionäre. Der Plan: [Heinrich] Lau- gene unterhielt. Ein von Rita Bake von der „Landeszentrale für po- litische Bildung“ konzipierter und geschriebener szenischer Rundgang durch die Hamburger Altstadt führt auch zum Hotel „Vier Jahreszeiten“. Die Schau- spielerin Herma Koehn spielt Henriette Weber, der Portier des Hotels begrüßt sie.

Das Hotel „Vier Jahreszeiten“

Leise Pianoklänge und im Winter prasselndes Ka- minfeuer erfüllen und erwärmen zum Five o’ Clock Tea das mit gediegenem Mobiliar und weichen Pols- termöbeln eingerichtete Kaminzimmer des Hotels Hotel „Vier Jahreszeiten“. Photo: Marina Bruse „Vier Jahreszeiten“. Das 1904 erbaute First-Class- Hotel ist ein würdiger Nachfolger des Weber’schen Domizils, das hier einst stand, bevor Friedrich Haer- fenberg [1872–1932], [Wilhelm] Heise [1893–?] und lin (1857–1941) 1897 dort sein kleines Elf-Zimmer- andere Mitglieder des Sol datenrates sollten in der Hotel errichtete, das durch den Kauf der Häuser Nr. Nacht vom Sonntag 5. Dezember auf Montag in 9 bis 14 am Neuen Jungfernstieg zum „Vier Jahres- ihren Wohnungen verhaftet und durch die Putschis- zeiten“ vergrößert wurde. ten ersetzt werden. Ein Teilnehmer verriet die ‚Vier Das Hotel kam nicht nur durch seine Gäste immer Jahreszeiten‘-Verschwörer. Am Sonntagmittag wur- wieder hautnah mit Politik in Berührung. Während den sie im Hotel verhaftet und im Rathaus verhört. des Ersten Weltkrieges zum Beispiel beschlagnahmte Zeller konnte kurz darauf fliehen, seine Vertrauten 1915 die Heeresverwaltung Hamburg das Haus Nr. saßen noch bis Ende Januar in Haft“,322) schreiben 14, damit dort im Parterre das Oberkommando der Sepp Ebelseder und Michael Seufert in ihrem Buch Küstenverteidigung einziehen konnte (heute befin- „Vier Jahreszeiten. Hinter den Kulissen eines Luxus- det sich dort das hoteleigene „Restaurant Haerlin“). hotels“. Dies wirkte sich 1918 während der Novemberrevo- 1932 übergab Friedrich Haerlin das Hotel seinem lution (siehe dazu auch S. 105) fatal aus, denn das Sohn Fritz (1897–1975). Dieser trat im Juni 1933 Oberkommando der Küstenverteidigung wurde von der SS-Reiterinspektion bei und wurde 1937 Mitglied den Revolutionären auf der Suche nach kaisertreuen der NSDAP. Sepp Ebelseder und Michael Seufert Offizieren vom Dach des Alsterpavillons aus be- schreiben dazu: „Fritz Haerlin reagierte auf den po- schossen. Auch das Hotel wurde von Marinesolda- litischen Umsturz im Lande auf zwiespältige Weise. ten gestürmt. Mit Mettwürsten soll Friedrich Haerlin In seinem Hotel blieb alles beim alten, so als ob die Revolutionäre besänftigt haben. Wenige Tage nichts geschehen wäre. Keine Hitler-Bilder, kein Hit-

322 Sepp Ebelseder, Michael Seufert: Vier Jahreszeiten. Hinter den Kulissen eines Luxushotels. Hamburg 2002, S. 117ff. 242 NEUER JUNGFERNSTIEG 11 · Hotel „Vier Jahreszeiten“ BINNENALSTER · Lustschüten

ler-Gruß, keine Parteiveranstaltungen. Das ‚Vier Jah- Offizieren genutzt, hier richteten sie sich auch den reszeiten‘ blieb eine politisch neutrale Insel im Meer legendären ‚Four Seasons Club‘ ein. Für die hohen der Hakenkreuzfahnen. Privat allerdings vollzog er Militärs des ‚Hauptquartiers der Britischen Rhein- einen Schritt, der nicht zum Bild des weltoffenen, armee‘ wie später für die Männer der ‚Kontrollkom- weitgereisten Hoteliers mit den internationalen Ver- mission für Deutschland (britisches Element)‘, früher bindungen passen will.“323) Militärregierung, wurde der Klub bevorzugter Treff- Im Februar 1935 fand im „Vier Jahreszeiten“ eine punkt. Ge heimkonferenz zwischen den Offizieren der Gar- Der rechte Teil des ‚Vier Jahreszeiten‘ wurde zum ni son Hamburg und dem Chef der SS, Heinrich so genannten ‚Transittrakt‘ erklärt. Dort logierten Himmler [1900–1945], statt. Auf diesem Treffen die einfachen Soldaten, die auch ihre eigenen Bars wur den bereits Themen zur Kriegsvorbereitung be- und Speiseräume bekamen.“325) Das Hauptquartier sprochen. konnte man nur nach strengen Kontrollen und mit Während der NS-Zeit beschäftigte Fritz Haerlin noch Pas sierschein betreten. Angestellte jüdischer Herkunft, als dies bereits nicht Im Juli 1945 wurde Fritz Haerlin, der in der NS-Zeit mehr erwünscht war. 1938 wurde dann aber, nach- SS-Hauptsturmführer gewesen war, verhaftet und dem die „Geheime Staatspolizei“ Druck gemacht in das „Zivilinternierungslager Neuengamme“ ver- hatte, dem seit 1924 im Hotel „Vier Jahrszeiten“ als bracht, aus dem er im August 1946 entlassen wurde. Nachtportier arbeitenden Harald Seligmann (1886– Im Entnazifizierungsverfahren kam man zu dem 1942 ermordet) gekündigt. Fritz Haerlin soll bemüht Er gebnis, dass Fritz Haerlins „Zugehörigkeit zur gewesen sein, „‚ihm eine Reise ins Ausland zu er- Reiter-SS (...) nur sportlich zu werten“326) sei. Fritz möglichen‘. Die ‚Gestapo‘ vereitelte alle Rettungsbe - Haer lin wurde daraufhin in die Kategorie V („Ent- mühungen.“324) Der mit seiner nichtjüdischen Frau lastete“) eingestuft. am Schwanenwik 29 wohnende Harald Seligmann Anfang 1952 zog die britische Besatzungsmacht aus kam wegen „Rassenschande“ vor Gericht und wurde dem Hotel aus, und Fritz Haerlin erhielt sein Hotel 1939 zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Am 26. zurück. Juni 1942 wurde er im KZ-Neuengamme ermordet. 1989 wurde das Hotel an die japanische Aoki Cor- Auch jüdischen Emigranten, die von Hamburg aus poration verkauft, die es 1997 an die Raffles Inter- in andere Länder auswandern wollten, soll Fritz national Limited weiterverkaufte. Zehn Jahre später Haerlin Unterkunft gegeben haben. wurde das Hotel an die nordamerikanische Hotel- Nach dem Zweiten Weltkrieg diente das Hotel von gruppe Faimont Hotels & Resorts veräußert. Das 1945 bis 1952 der britischen Besatzung als Haupt- Hotel gehört heute zu den „Leading Hotels of the quartier. „Der linke Teil des Hotels wurde von den World“.

76. STATION Lustschüten auf der Binnenalster

Binnenalster Vom 17. bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren Lustschüten auf der Binnenalster (17.–20. Jh.); Lustpartien mit Schüten (kleinen Booten) auf der die Binnenalster: ein Ort für politische Großereig- Binnenalster ein beliebtes Freizeitvergnügen, das nisse auf künstlichen Inseln (19. Jh.); rund um die auch gerne für Staatsgäste arrangiert wurde. Für die Binnenalster: politische Veranstaltungen, De- Passagiere gab es in den Schüten, die von starken monstrationen und Lichterketten (20.–21. Jh.) Männern gerudert wurden, Bänke und in der Mitte des Bootes einen Tisch, worauf das Picknick einge- nommen werden konnte. Bei Regen und Wind wur-

323 Sepp Ebelseder, Michael Seufert, a. a. O., S. 225. a. a. O., S. 153. 326 Sepp Ebelseder, Michael Seufert, 324 Sepp Ebelseder, Michael Seufert, a. a. O., S. 235. a. a. O., S. 176. 325 Sepp Ebelseder, Michael Seufert, BINNENALSTER · Ein Ort für politische Großereignisse auf künstlichen Inseln 243 den die Passagiere durch eine Plane ge- schützt. Oft wurden die Schüten begleitet von mit Musikern besetzten Booten.

Die Binnenalster: ein Ort für politische Großereignisse auf künstlichen Inseln

Im 19. Jahrhundert wurde die Binnen- alster gerne auch für politische Großer- eignisse genutzt. Hierfür wurden künst- liche Inseln in der Mitte der Binnenalster aufgebaut, um dort Kaisern und Königen ein opulentes Schauspiel zu bieten. Für Die Kaiserinsel auf der Binnenalster 1895, aus: Andreas Meyer: den Besuch des preußischen Königs Wil- Die Insel in der Binnenalster für das Kaiserfest am 19. Juni 1895. Berlin 1896. helm I. (1797–1888) im Jahre 1868 wurde die für die 15. Versammlung deutscher Architekten und Ingenieure gestaltete 1200 qm gro- wieder ausfallende Beleuchtung und ein klägliches ße künstliche Insel durch Verankerung von Flößen Feuerwerk. und Schuten erweitert und auf der Insel mittels Im Gegensatz zur Arbeiterpresse lobten die meisten Grassoden, Brettern und Büschen eine Nachbildung Senatoren das Fest zu Ehren des Kaisers. „Für [die des preußischen Schlosses Babelsberg errichtet. Ar beiterpresse] waren die Pannen und Unbilden des Gab es für den König nur eine Erweiterung einer Wetters willkommene Anlässe, ihre Ablehnung des bereits für eine andere Festivität errichtete künstliche Kaisertages mit zusätzlicher Schadenfreude zu wür- Insel, wurden knapp dreißig Jahre später keine Kos- zen. Der schroffe Gegensatz zur Hofberichterstattung ten und Mühen gescheut, um den Besuch Kaiser der bürgerlichen Presse bezeichnete den Riss durch Wil helm II. (1859–1941) so grandios zu gestalten die wilhelminische Gesellschaft auch in Hamburg wie nur möglich. So wurde eigens anlässlich seines zwischen konservativem und nationalliberalem Bür- Hamburg Besuchs am 18. Juni 1895, dem Vorabend gertum einerseits und sozialdemokratischer Arbei- der Eröffnung des Nord-Ostsee-Kanals, eine Insel auf terschaft andererseits. Der ganze Pomp habe wenigs- der Binnenalster errichtet. 750 Pfähle wurden dazu tens das eine Gute, bemerkt das Hamburger Echo ins Wasser der Binnenalster gerammt, darauf eine [siehe S. 259], dass er dem ‚vom patriotischen Deli- Plattform für rund 1500 Personen gebaut, worauf rium nicht Ergriffenen‘ klar mache, dass eine unüber- ein Turm, Zelte, Grotten, Felsen und Blumenbeete brückbare Kluft die herrschenden Kreise und ihren arrangiert und mit Tausenden Glühbirnen illuminiert Anhang vom Kern des Volkes trenne, dass diese herr- wurden. Die Eingänge der zwei Zelte (das große schenden Kreise jede Fühlung mit dem Volk verloren Gast zelt war 700 qm, das Kaiserzelt 75 qm groß) hätten, ,und dass das Volk nur zu seinem Rechte „zier ten die Wappen und Standarten des kaiserlichen kommen kann, wenn es danach strebt, den herr- Hauses, sowie Preußens und Deutschlands“.327) Eine schenden Kreisen die Zügel aus der Hand zu win- Kapelle spielte, und ein Feuerwerk bot den krönen- den.‘ [Hamburger Echo, Nr. 141, 20.6.1895.] (…) den Abschluss. Dass sich das Hamburger Bürgertum und der Senat Dem Fest war leider kein „Kaiserwetter“ vergönnt. nur allzu bereitwillig dem absolutistischen Gebaren Starke Stürme und viel Regen begleiteten die Festi- Wilhelm II. anpassten, war durch die aufwendigen vitäten. Die Folge waren: morastige Wege, immer Festvorbereitungen offenkundig geworden, und das

327 Andreas Meyer: Die Insel in der Binnenalster für das Kaiserfest in Ham- burg zur Eröffnung des Nord-Ostsee- Kanals am 19. Juni 1895. Berlin 1896. 244 BINNENALSTER · Ein Ort für politische Großereignisse auf künstlichen Inseln · Rund um die Binnenalster: politische Veranstaltungen, Demonstrationen und Lichterketten

‚bewies‘ für das Hamburger Echo diese Geschichte: Rund um die Binnenalster: politische ‚Des Kaisers Wille ist den Hamburger ‚Republika- Veranstaltungen, Demonstrationen und nern‘ Befehl. Männerstolz vor Königsthronen – pah! Lichterketten Unsinn!‘ [Hamburger Echo Nr. 137, 15.6.1895.]“,328) schreibt Tobias von Elsner in seiner Dissertation Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dient „Das Hamburger und Wilhelminische Deutschland die Binnenalster oft als beeindruckende Kulisse für im Spiegel öffentlicher Festkultur“. politische Veranstaltungen und „Lichterketten“. Trotz der scharfen Kritik des sozialdemokratischen Hier nur drei Beispiele: In den 80er und 90er Jahren „Hamburger Echo“ an diesem Pomp um den Kaiser, des 20. Jahrhunderts fand rund um die Binnenalster war an dem Festtag nicht nur das Bürgertum auf die Veranstaltung: „Um die Alster – gegen AIDS“ statt. den Beinen gewesen, um sich das Spektakel anzu- Am 13. Dezember 1992 bildeten ca. 45 000 Menschen sehen. Auch große Teile der Arbeiterschaft hatten rund um die Alsterbecken eine etwa 10 km lange als Zaungäste den Festivitäten vom Ufer der Binnen- Lichterkette, um unter dem Motto „Gegen Auslän- alster aus zugeschaut. derhass, für Toleranz“ gegen die zunehmende Mig- Die Insel blieb 45 Tage aufgebaut. In dieser Zeit rantenfeindlichkeit in Deutschland zu demonstrie- fuhren jeden Tag von morgens früh bis abends spät ren. 250 Kirchen läuteten dazu zweimal zu Beginn Boote zur Insel, dicht gefüllt mit neugierigen Men- der Aktion um 17 Uhr ihre Glocken. Anlass für diese schen, die die Insel besichtigen wollten. Demonstration waren die zunehmenden gewalttäti- Tobias von Elsner resümiert in seiner Dissertation: gen Übergriffe von Rechtsextremisten auf Migran- „Die Ersatzfunktion des wilhelminischen Feierstils, tinnen und Migranten. Am 25. Juni 2009 bekunde- der Beteiligten wie Zuschauern das Geborgenheits- ten ca. 3000 Menschen, meist Iranerinnen und gefühl der ‚‘ suggerierte, perso- Iraner, mit einer Lichterkette um die Binnenalster nifiziert vor allem der Kaiser selbst.“ Das Bürgertum ihre Solidarität mit den Menschen im Iran. Das dachte „nicht daran, sich den aufstauenden innen- Motto hieß: „Ein Licht zeigt Hoffnung. Tausend und außenpolitischen Problemen zu stellen, vom Lichter zeigen Gesicht“. Damit wollten die Teilneh- Kaiser berechenbares und zielgerichtetes Handeln menden an die Opfer bei den Demonstrationen nach zu verlangen, sondern es paarte unpolitisches Dul- den Präsidentschaftswahlen im Iran erinnern. den mit blindem Vertrauen in den Obrigkeitsstaat. Die Manifestationen kaisertreuer Gesinnung ersetzten solange die Auseinandersetzung um konkrete Interessen und Konflikte, bis man in der festgefahrenen Situation des Som- mers 1914 nur noch von einem Krieg die Lö- sung aller Probleme erwartete.“329) Heute gibt es keine künstlichen Inseln mehr auf der Binnenalster, dafür aber eine Fontäne, an der sich alle – ohne Unterschied des ge- sellschaftlichen Standes und der politischen „Wichtigkeit“ – vom Ufer der Binnenalster aus erfreuen können.

1994: Veranstaltung „Um die Alster – gegen AIDS“. Blick vom Neuen Jungfernstieg auf die Binnenalster. Photo: Chris Lambertsen

328 Tobias von Elsner: Kaisertage. Die 329 Tobias von Elsner, a. a. O. S., 556. Hamburger und das Wilhelminische Deutschland im Spiegel öffentlicher Festkultur. Diss. Frankfurt am Main 1991, S. 328ff. GROSSE THEATERSTRASSE 44/45 · SPD-Parteizentrale · Luise Zietz 245

77. STATION Luise Zietz und die sozialdemokratische Große Theaterstraße 44/45 Arbeiterbewegung (alte Nummerierung) Luise Zietz, geb. Körner (25.3.1865–27.1.1922), ge- Straße benannt 1827 nach dem in der Nähe hörte zu denjenigen, die damals in der Großen gelegenen „Stadt-Theater“ (siehe S. 87). Vor Theaterstraße 44/45 (das Haus steht nicht mehr) dessen Bau führte hier der Kalkgraben, von ein- und ausgingen. „Ehefrau Zietz aus Hamburg, der Alster kommend, entlang bis zum städti- ca. 44 Jahre alt, 165 cm groß, blind. Trug das Haar schen Kalkhof (siehe S. 86), der sich an der gescheitelt. Bekleidet war sie mit einem kleinen, Stelle des „Stadt-Theaters“, der heutigen runden Strohhut, roter Bluse und schwarzem Rock. „Hamburgischen Staatsoper“ (siehe S. 99), Hat gelblichen Teint und macht den Eindruck, als befand. Für den Bau der Großen Theaterstra- gehöre sie dem Arbeiterstande an“, schrieb ein Spit- ße wurde der Graben zugeschüttet. zel 1906, als die damals 41-Jährige sich gerade mal SPD-Parteizentrale (Standort: 1887–1933; 1945– wieder auf Agitationstour befand. Im selben Jahr 1957); Luise Zietz (19./20. Jh.); die SPD in der wurde sie zu mehreren Monaten Gefängnis verur- NS-Zeit teilt, weil sie bei einem Massenstreik der Hamburger Arbeiterschaft eine Rede gehalten hatte. Luise Zietz war die älteste Tochter eines Wollwir- kers. Wie ihre fünf Geschwister musste auch sie 1887, in der Zeit des Sozialistengesetzes, als die bereits als Kind in der Wollspinnerei ihres Vaters SPD verboten war, erwarb die Partei das Grundstück ar beiten. Bevor sie im Fröbelseminar eine Ausbil- Große Theaterstraße 44/45 für den Sitz ihrer Partei- dung zur Kindergärtnerin begann, arbeitete sie als zeitung und der Druckerei des „Hamburger Echos“ Dienstmädchen, Kaffeeleserin und Fabrikarbeiterin (siehe dazu S. 259 Fehlandtstraße 11–19) sowie für in der Zigarettenproduktion. die Geschäftsräume der Partei. Als 1890 das Sozia- listengesetz fiel, konnten die Räume nun auch für Parteigeschäfte genutzt werden.330) Nach der Novemberrevolution von 1918 wurde die Arbeit der Hamburger Parteizentrale immer vielfäl- tiger und die Mitgliederzahl stieg beständig, so dass eine räumliche Erweiterung des Parteisekretariats notwendig wurde. Deshalb zogen der „Arbeiterrat für Groß-Hamburg“, die Geschäftsstelle der „Volks- bühne“ und das Sekretariat des SPD-Bezirksverban- des Hamburg-Nordwest aus der Theaterstraße 44/45 aus und bezogen Räume in dem der SPD ebenfalls gehörenden Haus Große Theaterstraße 42/43.331)

Große Theaterstraße 39–48. In den Häusern Nr. 44 und Nr. 45 hatten die Druckerei des „Hamburger Echo“ (1887–1901) und die Parteizentrale der SPD ihren Sitz. Staatsarchiv Hamburg

330 Vgl.: „Siebzig Jahre Hamburger 331 Vgl.: ebenda. Parteigeschichte“. In: „Der Sozialist“ vom 1.7.1957. Hinweis und Kopie des Artikels wurde freundlicherweise von Angelika Voß-Louis gegeben. 246 GROSSE THEATERSTRASSE 44/45 · Luise Zietz · Die SPD in der NS-Zeit

Sie heiratete den Hafenarbeiter Karl Zietz. Doch die Die SPD in der NS-Zeit Ehe hielt nicht lange. Durch ihren Mann in Kontakt mit der Arbeiterbewegung gekommen, engagierte „1929 wurde Karl Meitmann [1891–1971] zum Vor- sie sich seit 1892 besonders in der sozialdemokra- sitzenden der SPD-Landesorganisation Hamburg tischen Frauenbewegung. Eines ihrer politischen gewählt. 1931 kandidierte er erfolgreich für die Bür - Zie le: „Her mit dem Frauenwahlrecht!“. ger schaft. [Damals – 1932 – hatte Hamburg 1,2 Mil- Luise Zietz war eine begnadete Rednerin. Während lio nen Einwohnerinnen und Einwohner und die des Hafenarbeiterstreiks 1896/97 sprach sie auf Hamburger SPD 57000 Mitglieder.] In diesen Funk- Frau enversammlungen und setzte sich für die Ziele tionen wurde er frühzeitig ein besonderes Ziel na- des Streiks ein. Von 1900 bis 1908 war sie Vertrau- tionalsozialistischer Verfolgung. So inhaftierten die ensfrau der sozialdemokratischen Frauen. Zwischen Nationalsozialisten Meitmann unter Bruch der Im- 1908 und 1917 arbeitete sie als Reichsfrauensekre- munität zusammen mit dem Reichstagsabgeordne- tärin der SPD. Und als 1908 das neue Reichsver- ten Gustav Dahrendorf [1901–1954] am 24. März einsgesetz den Frauen das Recht auf Mitgliedschaft 1933 und ließen beide erst nach drei Tagen wieder in politischen Parteien zugestand, wurde Luise Zietz frei. Zeitgleich mit der Besetzung der Gewerkschafts- als erste Frau Mitglied des SPD-Parteivorstandes. Au- häuser erfolgte am 2. Mai 1933 seine zweite Verhaf - gust Bebel (1840–1913) wurde ihr Förderer. Als er tung, die bis zum 15. Mai 1933 andauerte. 1912 an einer Lungenentzündung erkrankte, pflegte Die Erwartung weiterer Übergriffe veranlasste die sie ihn. Parteiführung zu Vorsichtsmaßnahmen. Da die Auf- Trotz ihrer exponierten Stellung innerhalb der SPD bewahrung von Parteiunterlagen sowohl in den Räu- musste sie erfahren, dass „Genossen in leitender Stel- men der Partei als auch in Meitmanns eigenem Haus lung“, neidisch und von patriarchalen Vorurteilen zu gefährlich war, verbrannte der SPD-Vorsitzende durchdrungen ihr immer wieder Steine in den Weg in seiner Waschküche am Maienweg zahlreiche Do- legten. Sie schrieb: „Immer und immer wieder erlebte kumente, darunter einmalige Originale aus der Par- ich, dass meine frauenpolitischen Anträge im Partei- teigeschichte von unersetzlichem Wert. Auch die vorstand aufgeschoben oder abgelehnt wurden.“ Besetzung des Parteibüros und die Beschlagnah- 1908 setzte Luise Zietz zum ersten Mal die Quotie- mung des Parteivermögens wurden befürchtet. Der rung durch. Es gelang ihr, dass folgender Passus in als Kassierer für die Partei hauptamtlich tätige Claus das Organisationsstatut der SPD aufgenommen Umland [1872–1957] setzte sich aus Furcht vor wurde: „Die weiblichen Mitglieder müssten im Ver- einer Verhaftung am 8. Mai 1933 nach Landskron hältnis zu ihrer Zahl im Vorstand vertreten sein.“ im Sudetenland ab. Tatsächlich erschien die Gestapo Wegen ihrer konträren Einstellung zur Kriegspolitik am 10. Mai in seiner Wohnung und wollte ihn ver- der SPD enthob sie 1917 der SPD-Parteivorstand ihres haften. Claus Umland kehrte am 25. Juni 1933 nach Amtes. Daraufhin gründete sie die USPD mit, für die Deutschland zurück. Er hatte vorsorglich einen sie 1919 in den Reichstag gewählt wurde, dem sie Großteil der Geldreserven mobilisiert, so dass den bis zu ihrem Tod im Jahre 1922 angehörte. Im Reichs- Nationalsozialisten von den Bankguthaben in Höhe tag war sie eine der profiliertesten Rednerinnen. We- von 59 000 Reichsmark nur 17000 in die Hände fie- gen ihrer zahlreichen Zwischenrufe, in denen sie len. Zuvor waren den Parteisekretären und -ange- z. B. Reichswehrminister Gustav Noske (1868–1946) stellten drei Monatsgehälter ausgezahlt worden. als „unverschämten Mörder“ bezeichnete, wurde Über die Hälfte des Geldes wurde treuhänderisch sie als „Furie“ tituliert. Die bürgerliche Presse be- einem Rechtsanwalt übergeben, der damit seine und schimpfte sie als „beschränkte Proletarierfrau“, die die Unkosten anderer für die Verteidigung von So- seitens der Natur eine „übergroße Menge männli- zialdemokraten decken sollte. Mehrere Distriktsvor- cher Moleküle“ bekommen habe.332) sitzende erhielten Geld für eine Existenzgründung.

332 Zitate aus: Karen Hagemann, Jan Verfolgung und sozialdemokratischem und Recherche Holger Martens. 2005, Kolossa: Gleiche Rechte, gleiche Pflich- Widerstand in Hamburg. Teil I: Die in- S. 35–36. ten? Hamburg 1990. S. 40. nere Stadt. Hamburg. Hrsg. von der 333 Mit freundlicher Genehmigung Arbeitsgemeinschaft ehemals verfolgter aus: Wegweiser zu den Stätten von Sozialdemokraten (AvS) Hamburg. Text GROSSE THEATERSTRASSE 44/45 · Die SPD in der NS-Zeit 247 GROSSE THEATERSTRASSE 41 · Homosexuellenlokal „Theaterklause“

Der Rest wurde an Verfolgte und deren Familienan- die SPD verboten. Der große Gebäudekomplex der gehörige verteilt. SPD: Große Theaterstraße/Fehlandtstraße (siehe Als am 10. Mai 1933 die erwartete Besetzung der auch S. 259 Fehlandtstraße) und die Betriebsein- Par teibüros und die Beschlagnahmung des Partei- richtungen wurden von den Nationalsozialisten be- vermögens erfolgte, waren Geld und Parteidokumen- schlagnahmt und an private Interessenten verkauft. te in Sicherheit gebracht. Verabredungsgemäß be- Nach Ende des Zweiten Weltkriegs konnte die Par- fand sich die Parteiangestellte Irma Schweder (später teileitung der SPD im Spätsommer 1945 das Gebäude Keilhack, [1908–2001]) allein im Parteibüro.“333) Große Theaterstraße 44 wieder beziehen – allerdings „Mit ‚Hände hoch‘ und gezücktem Revolver sollte nur als Mieterin, nicht mehr als Eigentümerin des ich die Parteidokumente und Geld herausgeben, das Hauses.335) Auch bekam die SPD nicht mehr die an- wir bis auf ein paar wertlose Papiere und ein paar deren, ihr ehemals gehörenden Häuser an der Gro- Mark natürlich bereits vorher in Sicherheit gebracht ßen Theaterstraße und Fehlandtstraße zurück. hatten. Die SA-Männer hausten aus Wut darüber Am 21. November 1945 wurde die SPD durch die wie Barbaren, zerfetzten und zerstörten, was ihnen britische Militärregierung wieder zugelassen. 1957 in den Weg geriet, und schlossen das Büro. (...)“,334) zog die Parteizentrale in das neu erbaute Kurt-Schu- berichtete Irma Keilhack. Am 22. Juni 1933 wurde macher-Haus in der Kurt-Schumacher-Allee 10.

78. STATION Große Theater- straße 41 Homosexuellenlokal „Theater- klause“ (Standort: 1934 gekauft von Else Gössel bis 50er Jahre des 20. Jh.)

„Zu den Homosexuellenlokalen, die während der gesamten NS-Zeit existierten, gehörte neben der David-Klause auf St. Pauli die ‚Theaterklause‘ hinter Große Theaterstraße 41. Hier befand sich von 1934 bis der Staatsoper. Sie befand sich von 1934 bis in die in die 50er Jahre des 20. Jh. das Homosexuellenlokal „Theaterklause“. Photo: Jürgen Brömme 50er Jahre in den Räumen des jetzigen Friseursa- lons. Ein Zeitzeuge, der damals häufig in der ‚Thea- terklause‘ verkehrte, erinnert sich: ‚Bevor man in dass das Lokal vorher ‚Bei Tante Lene‘ genannt eine schwule Kneipe eintrat, ging man dreimal vor- wurde, wahrscheinlich ein Spitzname für den Wirt. bei und guckte, ob einen jemand sehen würde. Die ‚Theaterklause‘ bestand aus einem kleinen lang Leichter war es bei der Theaterklause, weil die Thea- gestreckten Raum. Rechts neben der Tür fing der terstraße abends unbelebt war. Das Lokal lag nicht Tresen an, an dem acht bis zehn Personen auf Bar- in einer Wohngegend.‘336) hockern sitzen konnten. Hinter dem Schankraum Wann das Lokal eröffnet wurde, ist nicht bekannt. waren in einem kleinen Raum Tische aufgestellt. Auf jeden Fall hat die am 21. März 1900 in Neustadt Das Lokal konnte betreten werden, ohne dass vorher geborene Else Gössel, später verheiratete Aßhauer, geklingelt werden musste. In dem bürgerlichen Lo- es 1934 gekauft.337) Aus Polizeiakten geht hervor, kal wurden Strichjungen nicht geduldet.

334 Zit. nach: Frauen im Faschismus, Parteigeschichte“, a. a. O. 337 Staatsarchiv Hamburg, Zentralge- Frauen im Widerstand. Hamburger So- 336 Gespräch zwischen Bernhard Ro- werbekartei. zialdemokratinnen berichten. Hrsg. senkranz und dem Zeitzeugen C. am von der ASF Hamburg. Hamburg 1983. 24.9.2004. Name auf Wunsch des Zeit- 335 Vgl.: „Siebzig Jahre Hamburger zeugen geändert. 248 GROSSE THEATERSTRASSE 41 · Homosexuellenlokal „Theaterklause“

‚Else war eine eiskalte, resolute Geschäftsfrau. Sie draus machen können. Else war für Rudi interessant, war immer dann amüsant, wenn es sich für ihr Ge- weil sie ihm eine neue wirtschaftliche Grundlage schäft lohnte. Sie machte den Laden, weil sie anbot. Er war nicht nur ausgebombt, sondern auch schwule Männer liebte und sie mit einer Schwulen- ohne Arbeit.‘342) kneipe mehr Geld verdienen konnte als mit einer Im Gegensatz zu der berechnenden Geschäftsfrau x-beliebigen, von denen es damals genug gab. Sie Else war Rudi ein Charmeur, der wusste, wie man animierte zum Feiern. Am Heiligabend hatte sie ge- mit den Gästen umzugehen hatte. ‚Alle Tunten lieb- öffnet. Das war für alle Schwulen ohne Familie oder ten Rudi, er hatte sehr viel Charme, er war reizend Freund wichtig. Else machte es nicht nur aus Nächs- und entzückend.‘343) Er sorgte allabendlich für Stim- tenliebe, aber sie hat es getan‘, erinnert sich ein Zeit- mung, so dass die Gäste nach dem Krieg seinetwe- zeuge.338) gen in die ‚Theaterklause‘ kamen. Im Krieg spielte sie offensichtlich eine zwiespältige Über lange Zeit war die kleine Bar auch eine An- Rolle. Einerseits war sie für die Stammkunden so laufstelle für einen Teil der Ballettkompanie. Die etwas wie eine Kontaktbörse. Wurde jemand an die Zweckehe zwischen Rudi und Else war nicht von Front eingezogen, teilte er Else seine Feldpostnum- langer Dauer. Anfang der 50er Jahre kam die Schei- mer mit. Diese gab sie an die Freunde weiter, so dung, und die beiden gingen fortan auch geschäft- dass sich die Männer zumindest per Post nicht aus lich getrennte Wege. Else Aßhauer führte die ‚Thea- den Augen verloren. ‚Als die Verletzten aus dem terklause‘ bis zu ihrem Tode weiter. Rudi eröffnete Polenfeldzug nach Hamburg zurückkamen, war der in St. Georg das Lokal Koppelklause. erste Verletzte, der aus dem Zug getragen wurde, In der Adenauerära war das Lokal [Theaterklause] eine Tunte, Fred Kienbaum (‚Tante Frieda‘). Else Gös - auch wegen seiner versteckten Lage beliebt. Abends sel stand mit einem Blumenstrauß am Hauptbahn- begegnete man kaum Passanten, und seit Kriegsende hof und holte ihn ab.‘339) wohnten nur noch wenige Menschen in diesem Neben dieser fürsorglichen Art schien sie aber auch Viertel.“ mit der Polizei kooperiert zu haben. Dafür spricht, Text mit freundlicher Genehmigung der Autoren aus: dass sie von einigen Stammgästen ‚Nazi-Hexe mit Bernhard Rosenkranz, Gottfried Lorenz: Hamburg auf der Scholtz-Klink-Frisur‘ genannt wurde.340) anderen Wegen. Die Geschichte des schwulen Unter der Hand kursierten Gerüchte, dass sie im Lebens in der Hansestadt. 2. überarbeit. Auflage. Hamburg 2006, S. 52–53 und S. 319. Krieg Gäste denunziert haben soll. Aktenkundig ist, dass im Februar 1941 die Polizei von der Kellnerin Marie Schütt gerufen wurde, weil sich zwei Männer im Lokal küssten und sie trotz ihres Einschreitens damit nicht aufhören und das Lokal verlassen woll- ten. Etwas später wurden sie verhaftet. Vor Gericht gaben sie an, die ‚Theaterklause‘ seit Jahren als Treffpunkt für Homosexuelle gekannt zu haben. Deshalb hätten sie das Lokal aufgesucht und sich hier frei ihren Gefühlen hingegeben. Else Gössel sagte aus, dass sie ein derartiges Benehmen und Gespräche über Homosexualität in ihrem Lokal nicht dulde.341) Später heiratete sie den homosexuell veranlagten Rudolf (‚Rudi‘) Aßhauer nach seiner Rückkehr aus dem Krieg. ‚Er war so schwul, da hätte man ein Paar

338 Gespräch zwischen B. Rosen - und Fremdbilder der „Anderen“. Eine senschaft der Universität Hamburg. kranz und dem Zeitzeugen C., a. a. O. Geschichte der Männer begehrenden Hamburg 2005, S. 285ff. 339 ebenda. Männer in der Weimarer Republik und 342 Gespräch zwischen B. Rosen - 340 ebenda. der NS-Zeit. Dissertation im Fachbe- kranz und dem Zeitzeugen C., a. a. O. 341 Vgl.: Stefan Micheler: Selbstbilder reich Philosophie und Geschichtswis- 343 ebenda. GROSSE THEATERSTRASSE 10 · Frauenclub Hamburg 1909 249 GROSSE THEATERSTRASSE 22 · Stolpersteine für Ursula und Otto Westphal

schen Staatsoper“. Vor dem Eingang zum Ballett lie- 79. STATION gen die Stolpersteine für Ortrud Gerda Ursula West- Große Theater- phal, (25.6.1906–5.5.1944 in der Heil- und Pflege- straße 10 anstalt Wien, „Wagner von Jauregg“ (Steinhof)) und (alte Nummerierung) Otto Christian Friedrich Westphal, (28.5.1883–13.4. „Frauenklub Hamburg 1909 für 1946 an den Folgen der Inhaftierung). Hier stand erwerbstätige, gebildete früher das Wohnhaus Große Theaterstraße 22, in Frauen“ (Standort: 1909–1911) dem die Familie Westphal wohnte.

Ursula Westphal Gegenüber der Parteizentrale der SPD hatte von 1909 bis 1911 in der Großen Theaterstraße 10 der „Frau- Ursula Westphal kam im Sommer 1906 während ei- enklub Hamburg 1909 für erwerbstätige, gebildete nes Urlaubs des Ehepaares Otto (1876–1946) und Frauen“ seine Klubräume. Seine Initiatorin, die Zahn- Friederike (Frieda), geb. Bruns, auf der Nordseeinsel ärztin Dr. Thea Sutoris, wollte ein Netzwerk für ge- Spiekeroog zur Welt. Sie war das zweite Kind des bildete erwerbstätige Frauen schaffen. „Es lernen Ehepaares, welches 1904 in Mühlhausen im Elsass sich Frauen kennen, die einander nützen können geheiratet hatte. Ursulas Vater war Zahnarzt und im Leben, sie gewinnen hier Fühlung miteinander hatte die Praxis seines Vaters in der Großen Theater- und können ihre beruflichen Angelegenheiten be- straße in Hamburg übernommen sowie das dazu- sprechen und fördern, können sich gegenseitig emp- gehörige Etagenhaus, in dem die Familie lebte. Ursu- fehlen“,344) erklärte sie die Motive für die Vereins- las Großvater, Karl Bruns, war Schriftsteller und gründung. arbeitete für den „Hamburger Correspondenten“. In dem täglich zwischen 16 und 22 Uhr geöffneten 1919 starben zwei von Ursulas jüngeren Schwestern, Klub trafen sich die Mitglieder zum Tee, lasen die Ruth und Christa. Gleichzeitig erwartete ihre Mutter in den Klubräumen ausliegenden Zeitschriften und das achte Kind. Bücher und hörten wissenschaftliche und musika- Ursula Westphal besuchte die Klosterschule am lische Vorträge. Gleichzeitig gab es eine Rechtsaus- Holzdamm, ein Realgymnasium für Mädchen. Ihre kunftsstelle, die auch Nichtmitgliedern kostenlos Nichte Roswitha Klau-Westphal berichtete 1998 auf Auskunft in Rechtsfragen erteilte. 1911 wurde der einem Symposion „Zur Geschichte der NS-Eutha- Klub umbenannt in „Vereinigung gebildeter erwer- nasie in Wien“ über den Leidensweg ihrer Tante bender Frauen“. Ursula und beschrieb sie als eine schöne junge Frau mit vollen roten Haaren, die wie eine Löwin um Selbstbestimmung und persönliche Freiheit kämpfte. Zu Hause wurden Ursula viele Hausfrauenpflichten 80. STATION übertragen, so hatte sie mit ihren kleineren Ge- Große Theater- schwistern an der Alster spazieren zu gehen oder straße 22 ihrer Mutter bei der Hausarbeit zu helfen. Dagegen (alte Nummerierung) rebellierte Ursula. Sie sah es nicht ein, dass immer Stolpersteine für Ursula und nur sie und nicht etwa auch ihre Brüder im Haushalt Otto Westphal (NS-Zeit) mithelfen sollte. Warum sollte sie z. B. ihrem älteren Bruder, der im Hinterzimmer über seinen Büchern saß, einen Teller mit Butterbroten bringen, sie hatte An der Ecke Gustav Mahler Platz/Große Theaterstra - doch selber Schularbeiten zu machen. Für ihre Auf- ße steht das neue Betriebsgebäude der „Hamburgi- müpfigkeit wurde Ursula hart gezüchtigt.

344 Zit. nach Kirsten Heinsohn: Poli- tik und Geschlecht. Zur politischen Kultur bürgerlicher Frauenvereine in Hamburg. Hamburg 1997. 250 GROSSE THEATERSTRASSE 22 · Stolpersteine für Ursula und Otto Westphal

Nach der Mittleren Reife besuchte Ursula die Berufs - nichts, liegt immer unter der Decke, immer ruhig. schule und begann 1924 mit dem Studium an der Kurz vor ihrem Tod liest sich der Eintrag: reagiert Kunstgewerbeschule am Lerchenfeld. nicht auf Ansprache. Gewicht 33 Kilo.“ 1929 mietete der Maler und Graphiker Karl Kluth Die Tötungsmethode in der Wiener Anstalt war eine (1898–1972), einer der führenden Köpfe der Ham- rasche Entkräftung durch „Verhungernlassen“, ge- burgischen Sezession, das Atelier im Dachgeschoss zielte Unterkühlung und Verabreichung von Medika- von Ursulas Elternhaus. Hier malte er ein Bild von menten wie z. B. Luminal. Stets wurde ein „natür- ihr, als Akt, auf einem roten Sofa liegend. Dieses licher Tod“ wie Lungenentzündung als Todesursache Gemälde, Öl auf Leinwand, befindet sich heute in angegeben. der Hamburger Kunsthalle und galt nach national- Durch die Bemühungen ihrer Mutter konnte Ursulas sozialistischer Auffassung als „Entartete Kunst“. Es Urne im Familiengrab auf dem Friedhof in Ham- war mit einer der Gründe, warum die 12. Sezessi- burg-Bergedorf beigesetzt werden. Dort wurde am onsausstellung 1933 abgebrochen wurde. 8. Mai 2001 auf Initiative von Roswitha Klau-West- Vielleicht hat Ursula sich zum ersten Mal frei und phal und mit Unterstützung der „Evangelischen Stif- unabhängig gefühlt, als sie als junge Frau nach Düs- tung Alsterdorf“ sowie der „Geschwister-Scholl- seldorf ging, um zur Probe in einem graphischen Stiftung“ ein Gedenkstein aufgestellt, der an das Betrieb zu arbeiten, doch die Anstellung kam nicht Schicksal Ursula Westphals erinnert. zu stande. Sie geriet in finanzielle Not und wurde wegen einer psychischen Erkrankung in die Anstalt Otto Westphal Grafenberg eingewiesen und kam anschließend im Sommer 1932 in die Staatskrankenanstalt Friedrichs- Ursula Westphals Vater Otto Westphal, in Hamburg berg. Ihr eigentlicher Leidensweg aber begann in geboren, hatte nach seiner Ausbildung am Lehrin- der Silvesternacht 1932, in der sie nach einer erneu- stitut des RVB der Deutschen Dentisten in Berlin ei- ten Erkrankung in die Alsterdorfer Anstalten einge - nige Jahre in der Schweiz und Österreich als Assis- wiesen wurde. Von dort wurde sie zehn Jahre später, tent und Techniker gearbeitet, bevor er die Praxis am 16. August 1943, zusammen mit 228 Frauen und seines Vaters in der Großen Theaterstraße über- Mädchen mit Behinderung im Rahmen der „Aktion nahm. Schon vor seiner Teilnahme am Ersten Welt- Brand“ in die Wiener Euthanasieanstalt am Steinhof krieg als Landsturmmann gründete er im Herbst verbracht. Dieser letzte große Transport fand nach 1911 als Anthroposoph ein „Zentrum“ innerhalb der den schweren Luftangriffen auf Hamburg statt. Ca. deutschen Sektion der „Theosophischen Gesell- acht Monate später verstarb Ursula angeblich an ei- schaft“. Am 12. Juni 1912 wurde dieses „Zentrum“ ner Lungenentzündung. unter dem Namen „Christian-Rosenkreutz-Zweig“ Dr. Michael Wunder, Historiker und heute leitender eingeweiht. Die Anthroposophie, ihr Begründer war Mitarbeiter der „Evangelischen Stiftung Alsterdorf“, Rudolf Steiner (1861–1925), ist eine gnostische Welt- erwähnte in seinem Vortrag auf dem oben genann- anschauung, die an die christliche Theosophie des ten Symposion 1998 in Wien, nachzulesen in der Rosenkreuzertums und deren idealistische Philoso- Publikation „Spurensuche Irma“ von Antje Kose- phie anschließt, und war eine von den Nationalso- mund: „Sie [Ursula] galt in Alsterdorf immer als le- zialisten bekämpfte Weltanschauung. Nach ihrem benslustig, aber auch als wild und unruhig, was Verbot 1935 traf Otto Westphal sich weiterhin heim- wahrscheinlich auch der Grund ihres Abtransportes lich mit Gleichgesinnten in seiner Wohnung oder in war. Sie wog 45 Kilo, als sie in Alsterdorf selektiert extra dafür angemieteten Räumen. Nach einer ano- wurde. Wenige Monate später heißt es in der Wiener nymen Anzeige wegen Verstoßes gegen das „Heim- Akte: liegt im Bett, ängstlich, unrein, zupft Wäsche. tückegesetz“ stand er unter Beobachtung. Zwei in Ein halbes Jahr später: ganz pflegebedürftig, spricht seiner Praxis als Patienten getarnte Gestapoagenten

345 Quellen: Staatsarchiv Hamburg 352-817 Abl. Roswitha Klau-Westphal: Vortrag auf Staatsarchiv Hamburg 351-11 AfW 2/1995, 33722. dem Symposion zur Geschichte der (Amt für Wiedergutmachung Ham- Stiftung Alsterdorf, Patientenakten der NS-Euthanasie in Wien, gehalten am burg), Abl. 2008/1, 7676, Westphal, Alsterdorfer Anstalten, V214 Ursula 30.1.1998. Frieda. Westphal. Detlef Garbe, Jens Michelsen: Gedenk- GROSSE THEATERSTRASSE 22 · Stolpersteine für Ursula und Otto Westphal 251 GROSSE THEATERSTRASSE 23 · Neuer Frauenklub Hamburg

versuchten, an den „illegalen“ Zusammenkünften Befreiung durch die englischen Truppen wurde er teilzunehmen. Am 10. Juli 1944 wurde Otto West- dort von dem Lagerkommandanten aufgrund seines phal wegen verbotener anthroposophischer Betäti- Alters und seiner Erkrankung entlassen. Er kehrte gung festgenommen und in das Polizeigefängnis bis auf das Skelett abgemagert nach Hamburg zu- Fuhlsbüttel gebracht. Am 12. April 1945, kurz vor rück. Der Anthroposoph Otto Westphal starb am 13. Kriegsende, wurde das Gefängnis geräumt. Ein Teil April 1946 an den Spätfolgen der unmenschlichen der Gefangenen, unter ihnen Otto Westphal, wurde Inhaftierung. Friederike Westphal, die den „Zweig“ in mehrere Transporte eingeteilt und nach einem ihres Mannes als „Kaffeekränzchen“ getarnt weiter- Fußmarsch in das „Arbeitserziehungslager Nord- geführt hatte, verstarb am 22. November 1958.345) mark“ in Kiel-Hassee gebracht. Zwei Tage vor der Text: Susanne Rosendahl

81. STATION Große Theaterstraße 23 (alte Nummerierung) „Neuer Frauenklub Hamburg“ (Standort: 1910 für einige Jahre); Hedwig Weidemann (1864–?); Red- nerinnenschule (Standort: 1910 für einige Jahre)

Neben dem damaligen Haus Große Theaterstraße der, lebte mit ihrer Familie in der Parkallee 10 und 22 stand das Haus mit der Hausnummer 23, in dem ge hörte dem radikalen Flügel der bürgerlichen Frau- 1910 der „Neue Frauenklub Hamburg“ seine Pforten enbewegung an. Sie war Mitglied des „Vereins Frau- eröffnete. Heute befindet sich hier das neue Betriebs- enwohl“, der „Förderation“ und ab 1908 im Vor- gebäude der „Hamburgischen Staatsoper“. stand des „Vereins der Vereinigten Liberalen“. 1912 Der „Neue Frauenklub Hamburg“ war vom Kauf- gründete sie den „Fortschrittlichen Frauenverein männischen Verband für weibliche Angestellte ge- Hamburg“, eine Nachfolgeorganisation des „Vereins gründet worden und bot seinen Mitgliedern zwei Frauenwohl“. 1913 wurde sie zur Vorsitzenden des Klubzimmer mit Erfrischungsbüffett, Büchern, Zeit- „Hamburgischen Landesvereins für Frauenstimm- schriften und einem Klavier. Der Klub hatte 1912 recht“ gewählt. 150 Mitglieder, die hauptsächlich aus dem kaufmän - nischen Bereich kamen. Aber auch Telephonistinnen, Hausdamen und Kindergärtnerinnen waren ver- treten. Frauenklubs boten ihren Klubmitgliedern, die meistens alleinlebend waren, eine Alternative zum klassischen Familienleben. So hatte denn auch der „Neue Frauenklub Hamburg“ an den Weihnachtsta- gen geöffnet, um ledigen Klubschwestern die Gele- genheit zum gemeinsamen Feiern zu geben. Damit Frauen parlamentarische Regeln und Rhetorik erlernten, eröffnete Hedwig Weidemann, geb. Reis- haus, 1910 eine Rednerinnenschule in den Klubräu- men. Sie, Ehefrau eines Kapitäns, Mutter zweier Kin-

stätten in Hamburg, Ein Wegweiser zu gamme und der Landeszentrale für po- Anstalten im Nationalsozialismus. Stätten der Erinnerung an die Jahre litische Bildung, Hamburg 2003, S. 15. Hamburg 2002. 1933–1945. Hrsg. im Auftrag der Ham- Michael Wunder, Ingrid Genkel, Harald Spurensuche Irma, Berichte und Doku- burgischen Bürgerschaft und des Se- Jenner: Auf dieser schiefen Ebene gibt mente zur Geschichte der „Euthanasie- nats, von der KZ-Gedenkstätte Neuen- es kein Halten mehr. Die Alsterdorfer Morde“ an Pfleglinge der Alsterdorfer 252 GROSSE THEATERSTRASSE 32 · „Buchhandlung an der Staatsoper“ · Martin Reinecke

den 15 (‚v. Fromberg’sche Buchhandlung‘, nach dem 82. STATION Namen einer Ur-Ur-Großmutter benannt, später Große Theater- ‚Buchhandlung an der Staatsoper‘), weil er mehr straße 32 Laufkundschaft erreichen wollte, denn durch das (das Haus soll 2010/2011 ab- Ende der Zusammenarbeit mit der Buchgemeinschaft gerissen werden) fielen zahlreiche Stammkunden weg. 1970 folgte der Homosexuelle Literatur in der endgültige Umzug in die Colonnaden – dieses war „Buchhandlung an der Staats- fortan das Stammgeschäft. Parallel zu seiner Buch- oper“ (60er Jahre des 20. Jh.– handlung gründete er den Bücherstand im Foyer 1970); Martin Reinecke (20. Jh.) der Staatsoper, um das Nützliche mit seinem Hobby, der Oper, zu verbinden. Martin Reinecke wurde am 30. August 1930 in Ham- Gegenüber dem Betriebsgebäude der Staatsoper be- burg geboren. Aufgewachsen ist er zusammen mit fand sich im Haus Große Theaterstraße 32 „eine seinem Bruder in der elterlichen Villa Dryade in Buchklub-Buchhandlung, deren Leiter Martin Rein- Volksdorf. Hans-Jürgen John erinnert sich an seinen ecke (1930–2002) in den 60er Jahren zum Leidwe- langjährigen Freund: ‚Martin war mit seinen 1,90 m sen der Eigentümer das Sortiment eigenmächtig um für damalige Verhältnisse ein Riese. Schon sehr früh homosexuelle Belletristik erweiterte. bekam er wegen seiner effeminierten Art Probleme. Bald nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen wieder Die Schulzeit war für ihn ganz schrecklich, da er oft Zeitschriften und Literatur für Homosexuelle. Die von Mitschülern auf dem Nachhauseweg verprü gelt Schwierigkeit bestand darin, an diese Bücher heran- zukommen, ohne sich in einer ‚normalen‘ Buch- handlung als Homosexueller erkennen geben zu müssen. Im Vergleich zu anderen Städten war die Situation in Hamburg günstig. In der Hansestadt waren die Redaktionen der Szene-Zeitschriften an- sässig; und die ‚Buchhandlung an der Staatsoper‘ hatte homosexuelle Literatur im Sortiment. (...).“ Die Buchhandlung war Anfang der 60er Jahre „ein Geheimtipp für Freunde homosexueller Literatur. Der damalige Geschäftsführer Martin Reinecke nutzte seine Position, um immer mehr einschlägige Buch- titel anzubieten. Außerdem erweiterte er das Sorti- ment um die Rubriken Kunst, Photographie, Musik und Schallplatten. Durch Mundpropaganda und Ver- anstaltungen mit bekannten Sängern und Balletttän- zern der Staatsoper bekam er regen Zulauf. Als im- mer mehr Homosexuelle zu seinem Kundenkreis gehörten, wurde die Geschäftsleitung auf diese ‚merk- würdigen Männer‘ aufmerksam. Reinecke wurde zur Rede gestellt; er konnte sich mit dem Argument der Große Theaterstraße 32. In diesem Haus bot der Inha- ber der dortigen „Buchhandlung an der Staatsoper“ in Umsatzsteigerung herausreden. Bald darauf verkauf- den 60er Jahren des 20. Jh. ein Sortiment homosexuel- ten ihm die Eigentümer das Geschäft. ler Belletristik an. Das Haus soll 2010/2011 abgerissen Ende 1968 eröffnete er eine Filiale in den Colonna- werden (Stand: Oktober 2010). Photo: Marina Bruse

Anstalten. Zusammengestellt von Antje Band 2: Künstlerlexikon Hamburg Kosemund. Hrsg. Vereinigung der Ver- 1933–1945. Hamburg 2001, S. 235. folgten des Naziregimes. Hamburg www.rosenkreutz.de/Seiten/ 2005, S. 40. Geschichte_f.html Maike Bruhns: Kunst in der Krise. GROSSE THEATERSTRASSE 32 · „Buchhandlung an der Staatsoper“ · Martin Reinecke 253 wurde. Als Erwachsener wurde er in der U-Bahn we - Diese erstatteten Anzeige wegen des Vertriebs por- gen seines auffälligen Verhaltens überfallen.‘346) nografischer Literatur. Daraufhin organisierte Rein- Bereits als Jugendlicher organisierte er Filmmatineen ecke eine Veranstaltung zum Thema ‚Was ist obszön in dem Volksdorfer Stadtteilkino Koralle und veran- in der Kunst?‘ mit Prof. Hans Giese [1920–1970] vor staltete zu Hause gesellschaftliche Salons. ‚Er war einem Kreis von Stammkunden und dem zustän- kein schüchterner Mensch; gefiel ihm jemand, so digen Staatsanwalt. Giese hielt einen flammenden sprach er ihn an und lud ihn zu sich ein. In der Vortrag über den Stellenwert des Buches als Kunst- alten Villa gab es Konzerte, Filmvorführungen und objekt. Daraufhin stellte die Staatsanwaltschaft das kleine Theateraufführungen. Vor allem saßen dort Verfahren ein. ‚500‘ alte Damen, die großzügig waren und einen 1976 verkaufte Reinecke die Buchhandlung. Ramm: Flügel spendierten. Hinzu kamen natürlich die jun- ‚Er führte sein Geschäft nicht nach kaufmännischen, gen Leute, die Martin durch seine Veranstaltungen sondern nach privaten Interessen, diese Verbindung kennen gelernt hatte‘,347) so Dr. Hans Ramm über erwies sich auf Dauer als ungünstig. Sobald jemand den Freund. ihn auf eine Platte oder ein schwules Buch auf- Martin Reinecke lebte, mit Ausnahme der letzten merksam machte, kaufte er diese und blieb oft ge- Lebensjahre, ausschließlich bei seinen Eltern. Über nug darauf sitzen. Allmählich wurden die schwar- seine Homosexualität wurde nicht gesprochen. zen Zahlen rot.‘350) Ramm: ‚Seine Mutter mochte seine flamboyante Art, Martin Reinecke starb am 15. Januar 2002 im Alter während sein Bruder ihm empfahl, sich ärztlich be- von 71 Jahren. Er wurde auf dem Anatomiefeld des handeln zu lassen. Ihm war es offenbar unange- Öjendorfer Friedhofes beigesetzt, da er seinen Kör- nehm, dass Martin ein stadtbekannter Homosexuel- per der Wissenschaft zur Verfügung gestellt hatte. ler war. Wenn jemand in die schwule Ecke seiner Martin Reinecke kann mit seiner Buchhandlung als Buchhandlung kam und den Eindruck vermittelte, ein Vorreiter der ‚schwul-lesbischen Buchläden‘ an- er käme aus der höheren Gesellschaft, war Martin gesehen werden, die ab Ende 1978 in vielen Groß- Feuer und Flamme. Dort lernte er seine Männer ken- städten eröffnet wurden.“ nen, in schwule Lokale ist er nicht gegangen.‘348) Text mit freundlicher Genehmigung der Autoren aus: Wegen angeblicher Verführung eines Minderjährigen Bernhard Rosenkranz, Gottfried Lorenz: Hamburg musste er sich einmal vor Gericht verantworten. Da auf anderen Wegen. Die Geschichte des schwulen man ihm nichts nachweisen konnte, wurde das Ver- Lebens der Hansestadt. 2. überarb. Auflage. Hamburg 2006, S. 245–246, S. 319. fahren eingestellt. Ramm: ‚Martin setzte sich sehr für junge Männer ein, die noch nicht 21 Jahre alt waren. Damals war man dann noch minderjährig. Er sprach mit den Eltern, überwiegend mit den Müt- tern, die er durch seine freundliche und vornehme Art für sich gewinnen konnte. Ich bin sicher, dass er in den 60er und frühen 70er Jahren vielen schwulen Männern den Weg zum Coming-out geebnet hat. Durch ihn lernten sie, zu ihrer Homosexualität zu stehen, auch ich; so habe ich mich zu keinem Zeit- punkt diskriminiert gefühlt.‘349) In seiner Buchhandlung stellte Martin Reinecke nur Mädchen als Lehrlinge ein, um wegen seiner Homo- sexualität nicht in Verruf zu geraten. Trotzdem be- kam er Ärger mit den Eltern eines Lehrmädchens.

346 Gespräch zwischen Bernhard Ro- 349 ebenda. senkranz, Dr. Hans Ramm und Hans 350 ebenda. Jürgen John am 18.5.2005. 347 ebenda. 348 ebenda. 254 GROSSE THEATERSTRASSE 33 · Antonie Petersen, Kunstförderin und Wohltäterin GROSSE THEATERSTRASSE 34/35 · Alma del Banco, Malerin

junges Mädchen nach dem Tod der Mutter die Haus- 83. STATION frauenrolle übernommen. Später dann, nachdem Große Theaterstraße 33 ihr Bruder verwitwet war, übernahm sie auch in (alte Nummerierung) dessen Haushalt die Hausfrauenpflichten. Antonie (Toni) Petersen, Kunstförderin und Wohl- Da die Petersens kunst- und musikliebend waren, täterin (19. Jh.) richtete Toni Petersen oft Gesellschaften aus, zu de- nen z. B. Richard Wagner (1813–1883), Johannes Brahms (1833–1897) und Hans von Bülow (1830– Neben dem Haus Große Theaterstraße 32 stand das 1894) eingeladen wurden. Sie und Hans von Bülow Haus mit der Hausnummer 33. Hier lebte Antonie waren auch gern gesehene Gäste im Salon von Frau Petersen (23.3.1840–20.9.1909) zwischen 1876 und Lazarus, die gleich um die Ecke an der Esplanade 1892 mit ihrem Vater, dem Bürgermeister Dr. Carl 37 (siehe S. 283) wohnte. Friedrich Petersen (1809–1892). Ihrer Herkunft entsprechend war es selbstverständ- Toni Petersen war eine engagierte Kunstförderin und lich, dass Toni Petersen zusammen mit einem „Da- Wohltäterin. Sie leitete das Stadtteilbüro St. Pauli men-Comitee“, dessen erste Vorsitzende sie war, des 1899 gegründeten „Hauspflegevereins“ und hielt dem neuen Rathaus zu seiner Eröffnung im Jahre für Hilfesuchende Sprechstunden ab. Der Verein 1897 ein Geschenk überreichte: Das „Comitee“ stif- half besonders armen Familien, wenn die Hausfrau tete der Ratsstube einen mit dem großen Hamburger durch Wochenbett oder Krankheit ihren hausfrau - Wappen bestickten Wandbehang, der noch heute lichen Pflichten nicht nachkommen konnte. In sol- unter dem Baldachin hängt, unter dem der Erste chen Fällen schickte er eine Pflegerin – meist eine Bürgermeister und die Zweite Bürgermeisterin ihre älte re Frau „von gutem Ruf“ – ins Haus, die nach Plätze haben. Auch die Bürgerschaft wurde nicht dem Rechten sah. vergessen. Sie erhielt für den Bürgerschaftssaal ei- Toni Petersen war auch Mitglied der Ortsgruppe Ham- nen bestickten Panneau für die Wand hinter dem burg des 1900 gegründeten „Deutsch-Evangelischen Sitz des Bürgerschaftspräsidenten. Frauenbundes“ (DEF), der Teil der bürgerlichen Frau- Anlässlich des Todes von Toni Petersen würdigte die enbewegung war und in dem eher die konservativen Presse ihre karitative Tätigkeit und lobte ihre stille evangelischen Gesellschaftskreise Hamburgs vertre- und bescheidene Art – Eigenschaften, die einer Frau ten waren. Der DEF kümmerte sich um die Armen in der damaligen Zeit auch in ihrer karitativen Aus- und Schwachen. Ein Schwerpunkt war die Arbeite- übung gut zu Gesicht standen. Ein Jahr nach ihrem rinnenbetreuung. Hier verstand sich der DEF als Ge- Tod gründeten Damen und Herren der Hamburger genpol zu der von der Sozialdemokratie getragenen Gesellschaft die „Toni-Petersen-Freibettenstif tung“ Arbeiterinnenfürsorge. Die Helfenden legten großen im Bad Oldesloer Auguste-Viktoria-Pflegeheim. Wert auf die Konfessionszugehörigkeit. Auch hatte ihre Klientel den sittlichen und moralischen Vorstel- lungen des DEF zu entsprechen. 84. STATION Ob Toni Petersen sich aus gesellschaftlicher Oppor- Große Theaterstraße 34/35 tunität der Wohltätigkeit widmete oder ob es ihr (alte Nummerierung) ein Herzensbedürfnis war – zumal sie selbst an ei- Alma del Banco (Aline Henriette), Malerin, Gra- nem körperlichen Handicap litt, was ihr vielleicht phikerin, Modelliererin (20. Jh.) ein größeres Verständnis für Menschen, die am Rande der Gesellschaft standen, eröffnete –, ist nicht mehr zu ermitteln. Sie litt seit ihrer Kindheit an ei- Vor dem Zweiten Weltkrieg stand an der Stelle der nem schmerzhaften Hüftleiden und hatte schon als heutigen Großen Theaterstraße 34/35 ein Haus, in GROSSE THEATERSTRASSE 34/35 · Alma del Banco, Malerin 255 FEHLANDTSTRASSE 40 · „Urania“-Kino dem Alma del Bancos Halbbruder Sigmund, mit dem che Bedrängnis, zumal sie bald nicht mehr ausstel- sie seit 1919 in verschiedenen Wohnungen, am Neu - len durfte. 1933 wurde sie aus der Hamburgischen en Jungfernstieg 2, am Gänsemarkt 61 und am Jung- Künstlerschaft ausgeschlossen, vor Juni 1938 dann fernstieg 50, gewohnt hatte, der Malerin ein Atelier auch aus der Reichskulturkammer. Sechs Bilder und gemietet hatte, das bald ein beliebter Künstlertreff- acht Graphiken wurden bei der Aktion „Entartete punkt wurde. Ab 1934 wohnte Alma del Banco auch Kunst“ in der Hamburger Kunsthalle beschlagnahmt. in diesem Atelier. Weitere im Deutschen Reich. Aus einer alten jüdischen, zum Christentum konver- Nach dem Tod des Bruders musste Alma del Banco tierten Kaufmannsfamilie stammend, begann Alma Wohnung und Atelier aufgeben. Sie zog zu ihrem del Banco (24.12.1862–8.3.1943) ihre künstlerische Schwager Dr. Hans Lübbert nach Dockenhuden. Als Ausbildung erst um 1895, als gut Dreißigjährige. Richthofen-Flieger konnte er sie zunächst vor der Ernst Eitner (1867–1955) und Arthur Illies (1870– Deportation bewahren, nicht jedoch vor dem Haus- 1952) waren ihre Lehrer an der Malschule Valesca arrest. Als dann aber doch der Deportationsbescheid Röver (1849–1931); in Paris, kurz vor dem Ersten ins KZ Theresienstadt kam, nahm Alma del Banco Weltkrieg, war es dann u. a. Fernand Léger (1881– sich mit Morphium das Leben. Zur Auswanderung 1955). Nach der Auseinandersetzung mit ihnen fand hatte sie sich zu alt gefühlt. die Künstlerin um 1918 zu einem eigenständigen Text: Brita Reimers Malstil. 1919 wurde Alma del Banco Gründungsmitglied der 85. STATION „Hamburgischen Sezession“, die sich zum Ziel setz - te, in Hamburg ein geistig lebendiges Klima zu Fehlandtstraße 40 schaf fen, wie es in Paris, Berlin und München Benannt 1827 nach dem Bauunternehmer herrschte. Es ging nicht um ein neues künstlerisches und Grundeigner Christian Detlef Fehlandt, Programm, sondern um „Duldsamkeit gegenüber Bebauung zwischen 1830 und 1832 jeder Richtung“, Unduldsamkeit dagegen gegenüber „Urania“-Kino (Standort: 1927–1980) „leichtfertigem Schlendrian, (...) geistlos herabge- leiertem Handwerk, (...) gewissenlosem Sichgehen- lassen“. Dennoch entwickelte sich ein eigenständiger Ab 1910 nutzte der „Hamburger Verein für bildende Malstil mit expressionistischen, fauvistischen und Volksunterhaltung“ für seine Filmvorführungen zu- kubistischen Tendenzen. Mit den Sezessionskolle- nächst das Botanische Institut, den Hörsaal A der ginnen und -kollegen Kurt Löwengard (1895–1940), Uni versität und das Gewerbehaus. An einem Sonntag Karl Kluth (1898–1972, siehe zu ihm auch S. 250), im September 1920 präsentierte der Verein ein eigenes Erich Hartmann (1886–1974), Willem Grimm (1904– Programm im „Bahnhofs-Kino“ im Bieberhaus, einige 1986), Lore Feldberg-Eber (1895–1966), Gretchen Jahre war man mit Filmvorführungen zu Gast in der Wohl will (1878–1962), Friedrich Ahlers-Hestermann Universität, im Curiohaus oder auch in der Detaillis- (1883–1973) und Alexandra Povorina (1885–1963) tenkammer, später auch in den „Kammerlichtspielen“ verband Alma del Banco bald Freundschaft. Man an der Grindelallee. Im Februar 1924 gründete sich traf sich zum gemeinsamen Modellzeichnen und be - die „Deutsche Kulturfilm-Gesellschaft e. V.“, die mit teiligte sich an den Jahresausstellungen der Sezes- einem Kostenaufwand von 120 000 RM aus Mit - sion. Ihre Studienreisen führten die Künstlerin nach gliedsbeiträgen und Spenden 1926/27 eine von den Frankreich, Italien, Jugoslawien, Dalmatien und Ru- Architekten [Hermann] Geißler [1859–1939] & Wilke - mänien. ning konzipierte Kulturfilmbühne errichten ließ. Am 1929 bekam Alma del Banco eine schwere Lungen- 5. Ok tober 1927 eröffnete das „Urania“-Kino mit 638 entzündung und geriet zunehmend in wirtschaftli- Plätzen in der Fehlandtstraße: Die Kulturfilm-Freunde 256 FEHLANDTSTRASSE 40 · „Urania“-Kino

hatten nun endlich ihren eigenen Filmpalast – es verbanden. Angesichts der brutalen Realität des war das erste täglich spielende Kulturfilm-Kino Krieges war das Bedürfnis groß, für ein paar Stunden Deutschlands. Ein reich verzierter Turm schmückte sich in die Innerlichkeit deutscher Klassik und Kultur die Fassade in der Blickachse des nordsüdlichen Stra- zu flüchten. Das Programm „Einkehr bei Goethe“ ßenabschnittes. Das Erdgeschoss war sehr schlicht erlebte siebzehn ausverkaufte Häuser. Selbst am umgebaut (Schriftzug als einziges Dekor), während Ostersonntag 1943, in der Nacht zuvor hatte es ei- das erste Obergeschoss noch die historisierende nen schweren Luftangriff gegeben, waren alle 650 Pracht der Tanzsaalarchitektur zeigte. Der rechteckige Plätze in der Urania besetzt. Saal soll einen feierlich sakralen Charakter besessen Am 22. Juli 1943 inserierten im „Hamburger Anzei- haben; ein Rang umlief ihn an drei Seiten. Zur Eröff- ger“ noch 100 Kinos; als am 19. August, erstmals nung zeigte man den Film „Geheim nisse einer Seele“ nach den verheerenden Bombennächten Ende Juli, von G. W. Pabst [1885–1967], der mittels einer Spiel- wieder Kinoanzeigen erschienen, waren es nur noch handlung über die Psychoanalyse aufklärte. 21. In der Innenstadt waren ganze drei Filmtheater Auf rund 600 Veranstaltungen brachte man es im – „Ufa-Palast“ (siehe S. 78), „Passage“ und „Urania“ Jahr; „Freude, Unterhaltung, Bildung“ lautete das – übrig geblieben. Motto. „Der Zweck der Kulturfilmbewegung ist nicht Nach Kriegsende wurde die „ Urania“ zu einem das Geschäftemachen“, erklärte E. W. M. Licht- Trup penkino für die britischen Besatzer, deutschen warck, (1887–1962) der Gründer und Leiter der Zivilisten war der Zutritt streng verboten. Am 28. „Urania“, „sie muss nur so viel haben, dass sie sich September 1945 wurde das Kino mit dem Märchen- behaupten und ihre volksbildnerischen Ziele durch- film „Der kleine Muck“ wiedereröffnet, doch blieb führen kann.“ Er war die treibende Kraft des ge- es zunächst teilbeschlagnahmt: Vormittags liefen meinnützigen Vereins, und sein Credo lautete: „Be- Märchenfilme und Kulturfilm-Matineen, nachmittags geisterung ist alles!“ und abends war es für die britischen Soldaten re- Getragen von einem Verein mit immerhin 14 000 Mitgliedern (1934) blieb die „Urania“ auch in der NS-Zeit selbstständig – eine seltene Ausnahme, wur- den doch im „Dritten Reich“ nahezu alle kulturellen Institutionen in den „Kampfbund für deutsche Kultur“ eingegliedert. Dies war ein Verdienst des rüh- rigen, geschickt taktierenden Leiters Lichtwarck. Allerdings öffnete er die „Urania“ für Veranstaltun- gen des Kampfbundes (bzw. dessen Nachfolge-Or- ganisation, der NS-Kulturgemeinde), der in der Feh- landtstraße Premieren und Feierstunden durchführen konnte. Als nach einer Verordnung vom 12. Februar 1942 Filmtheater nicht mehr von Vereinen und Organi- sationen, nur noch von „natürlichen Personen“ be- trieben werden durften, wurde die Kulturfilmbühne im Oktober 1942 von der „Deutschen Kulturfilm- Gesellschaft e. V.“ auf den bisherigen Geschäftsfüh- rer Fritz Frisch übertragen. Besonders beliebt waren die Film-Konzerte, die Kulturfilme mit musikali- In der Fehlandtstraße 40 befand sich von 1927 bis 1980 schen Darbietungen oder literarischen Rezitationen das „Urania“-Kino. Staatsarchiv Hamburg FEHLANDTSTRASSE 40 · „Urania“-Kino 257 FEHLANDTSTRASSE 26–30 · Christliches Kellnerheim serviert. Dafür genoss das Kino bei seinen traditio- 86. STATION nellen Sonntagmorgen-Matineen ein besonderes Pri- vileg: Man durfte sich aus dem im Dammtor-Bunker Fehlandtstraße lagernden Kulturfilm-Material das Programm selbst 26–30 zusammenstellen, unabhängig davon, ob der Film (alte Nummerierung: heute den Prüfungsvermerk der englischen Zensur trug. bei Nr. 6) Die „Urania“ kooperierte mit der „Brücke“ (siehe Christliches Kellnerheim S. 272), am 5. Januar 1948 kam es zur Gründung (Standort: 1906–1920) der deutsch-englischen „Hamburg Film Society“. Zum 20. Dezember 1948 hob die Film Section die Beschlagnahme der „Urania“ ganz auf. Friedrich Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gründete der Frisch, der schon vor 1945 zeitweise Geschäftsführer Christliche Verein junger Männer (CVJM) die „Stif- gewesen war, betrieb das Kino, später seine Frau tung Christliches Kellnerheim zu Hamburg“, denn Ingrid Melzner. 1951 fand eine Sanierung durch den es hatte sich gezeigt, dass die Kellner, die zum größ- Architekten Carlos Dudek statt; 1956 erfolgte eine ten Teil im Sommer in den Seebädern saisonal be- Umstellung auf CinemaScope und eine Modernisie- schäftigt waren, im Winter in Hamburg wohnten, rung mit Verkürzung des Seitenranges durch den dort aber nur unzureichende Unterkünfte fanden. Architekten Helmut Fischer (geb. 1915) (danach hatte Durch eine Geldschenkung des Ehepaares Hermann das Kino noch 543 Plätze). 1967 wurde ein zweiter und Regina Fölsch (Hermann Fölsch: 1845–1920) Saal mit 122 Plätzen durch den Architekten Joachim und ihrer Schenkung von Grundstücken an der Feh- Glüer [1917–2001] geschaffen: das „Atelier im Ura- landtstraße konnte der CVJM dort ein Kellnerheim nia“. Zeitgleich fand eine umfassende Renovierung errichten lassen. des großen Saals mit neuer Bestuhlung statt – nun- Hermann Fölsch war durch Salpeterhandel (Salpeter mehr gab es nur 419 Plätze, mit einem wesentlich brauchte man für Kunstdünger und zur Herstellung erweiterten Reihenabstand. von Schießpulver) mit Chile zu Reichtum gelangt. Im Atelier lief vom Januar 1971 bis März 1973 genau In der Chronik zum hundertjährigen Bestehen des 114 Wochen lang Sergio Leones [1929–1989] Film Hotels „Baseler Hof“, das sich aus dem Kellnerheim „Spiel mir das Lied vom Tod“ – eine der längsten entwickelt hatte, heißt es dazu: „Über die Herkunft ununterbrochenen Spielzeiten eines Filmes in Ham- des Geldes machte der beim CVJM engagierte ehe- burg. Das Kino lag in der Innenecke der L-förmigen malige Oberkellner [und Gründungsmitglied der Fehlandtstraße; viele Jahre warb eine große Plakat- Stif tung Christliches Kellnerheim in Hamburg [Ri- wand für das Filmprogramm, das sich ab den 1960er chard] Schilde [gestorben um 1910] sich wenig Ge- Jahren kaum noch von dem anderer Kinos unter- danken.“351) Im Gegensatz zum Oberkellner Schilde schied: In der einstigen Kulturfilm-Bühne liefen setzte sich später der Urenkel Hermann Fölschs kri- James-Bond-Filme ebenso wie Softpornos („Tropi- tisch mit den geschäftlichen Aktivitäten seines Ur- sche Sinnlichkeit“). In den letzten Jahren wurde das groß vaters auseinander. Der ehemalige Leiter der Kino durch Robert Billerbeck betrieben. Zerstört „Evangelischen Akademie Hamburg“ (siehe S. 276) wurde es durch einen spektakulären Großbrand am und heutige Leiter der „Christlichen Akademie des 6. Juni 1980 – vermutlich durch einen Defekt der Vereins Christlicher Hoteliers e. V.“ (VCH) Wolfgang Neon-Außenreklame verursacht. „Gegen dieses Feuer Teichert lässt in seiner Chronik über das Hotel „Ba- hatte James Bond keine Chance“, berichtete das seler Hof“ den Urenkel dazu zu Wort kommen: „Hamburger Abendblatt“ am 7. Juni 1980. „Mein Urgroßvater, der keinen Anstoß daran nahm, Text: Michael Töteberg/Volker Reißmann dass in seinen Minen Kinder arbeiteten, war Calvi- nist. Nachdem er mit seiner Familie von Hamburg

351 Wolfgang Teichert: Hotel Baseler Hof, Esplanade Hamburg: 100 Jahre Hotelgeschichte, 1907–2007. Hamburg 2007, S. 17. 258 FEHLANDTSTRASSE 26–30 · Christliches Kellnerheim

auf das Gut Moholz bei Görlitz in Schlesien umge- Verhalten und der Erfolg des Einzelnen in dem Maß zogen war, schloss er sich dort der Herrenhuter Brü- von Gott vorherbestimmt ist, in dem er den Guten dergemeinde an, die sich zu einem tätigen Christen- wohlgesonnen ist. In der Familie wird erzählt, dass tum bekannte. Als Freund von Johannes Wichern H. C. Fölsch davon überzeugt war, in den Himmel [1808–1881] unterstützte er ihn finanziell beim Auf- zu kommen. (…) Ich frage mich, ob ein Zusammen- bau der Inneren Mission [siehe zur Inneren Mission hang besteht zwischen der großen Selbstgewissheit, auch S. 179] und des ‚Rauhen Hauses‘ (…). Er grün - zu den Auserwählten Gottes zu gehören, und dem dete das Christliche Kellnerheim ‚Baseler Hospiz‘ Verhalten der Europäer bei ihren Eroberungsfeld- und die ‚Schrippenküche‘ in Berlin, die Missionie- zügen im 19. Jahrhundert, als die verbliebene Welt rung und Speisung verarmter Menschen verband. nahezu vollständig unter den Kolonialmächten auf- Unter Calvinisten findet man viele sehr tüchtige, geteilt wurde.“352) aber auch harte Geschäftsleute. Sie glauben an die Das christlich-soziale Engagement des CVJM für das Gna denwahl und vertreten die Ansicht, dass das Kellnerheim zeigte sich u. a. in der Zahlung fester Gehälter für die Mitarbeiter des Kellner- heims. „Feste Gehälter für Mitarbeiter im Hotelfach hieß die Devise dieser From- men. Denn bis dahin lebten Kellner nur von Trinkgeldern. Bereits 1904 wurden im gesamten christlichen Hotelverband – der Verein Christ liche Hoteliers e. V. ist der älteste deutsche Hotelverband – die notwendigen Gelder für die Gehälter der Kellner auf die Rechnung aufgeschlagen. (…) Erst 31 Jahre später wurde dies zur allgemeinen Regel gemacht“,353) so Wolf- gang Teichert weiter. Als durch den Ersten Weltkrieg das Kell- nerheim in finanzielle Bedrängnis geriet, wurde versucht, durch Vermietung von Hotelzimmern an der Esplanade das be- nötigte Geld für das Kellnerwohnheim an der Fehlandtstraße zu verdienen. An der Esplanade 12 baute der CVJM ei- nen Neubau, der 1905 eingeweiht wurde. „Der ‚große Saal‘ wurde später das ‚Ura- nia Kino‘ [siehe S. 255] (…). Vorne zur Esplanade hin, wurde das Hotel ‚Alster- hof‘ gebaut und im März 1930 eröffnet (…). Es besaß außer seinen 85 Zimmern mit 120 Betten im Neubau (…) im An- hang Esplanade 16 Zimmer (…).“354) Da- mit begann die Epoche des „Hospizes Fehlandtstraße 26–30: Christliches Kellnerheim. Zeichnung aus: Wolfgang Teichert: Hotel Baseler Hof, Esplanade Hamburg: 100 Baseler Hof“ an der Esplande 11 (siehe Jahre Hotelgeschichte, 1907–2007 Hamburg 2007. dazu S. 273).

352 ebenda. 353 Wolfgang Teichert, a. a. O., S. 23. 354 Wolfgang Teichert, a. a. O., S. 24. FEHLANDTSTRASSE 11–19 · „Auer-Druckerei“ · „Hamburger Echo“ 259

zes ging man im November 1887 das Wagnis eines 87. STATION neuen Druckhauses in der Großen Theaterstraße ein Fehlandtstraße 11–19 [siehe S. 245]. Nach dem Außerkraftsetzen des Ge- (alte Hausnummerierung) setzes (30.9.1890) löste Dietz ‚seine‘ Firma auf und Gebäude der „Auer-Druckerei“; Redaktionsräume überschrieb alles Auer & Co (1891). Kompagnons des „Hamburger Echo“, der Zeitung der Hamburger waren August Bebel [1840–1913], Dietz, P[aul] Sin- Sozialdemokratie (Standort: um 1900–1933); Louise ger [1844–1911] und der Parteisekretär und Reichs- Wegbrod (19. Jh.), Redakteurin des „Hamburger tagsabgeordnete I[gnaz] Auer [1846– 1907].“355) Die Echo“ (vor 1933); letzte Sitzung der SPD-Parteifunk- Firma war eine der größten Druckereien in Nord- tionäre vor dem Verbot der SPD (1933); Buchhand- deutschland. lung Auer & Co. (Standort: ca. 1900–1933) Einer der Autoren des „Hamburger Echo“ war der sozialdemokratische Politiker und Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft Gustav Stengele (1861– Gegenüber dem Christlichen Kellnerheim, wo heute 1917). Jeden Sonntag zwischen 1898 und 1914 er- moderne Bürogebäude stehen, befand sich das Ge- schienen im „Hamburger Echo“ seine „Sonntags - bäude der „Auer-Druckerei“, das im Besitz der Sozi- plaudereien“. „Sein Zweck war, die Zeit zu schildern aldemokratischen Partei war. In dem Haus waren und die Zustände dieser Zeit. Er sprach zu den Frauen auch die Redaktionsräume des „Hamburger Echos“ und Männern des Arbeitsvolkes, wollte ihre Augen (siehe auch S. 245). Die beiden Gebäude, Parteizen- öffnen, damit sie sich sehen in ihren Beziehungen trale der SPD in der Großen Theaterstraße (siehe zum Staat und zum Wirtschaftsleben und wollte in S. 245) und die Redaktionsgebäude, grenzten rück- ihre Herzen die Sehnsucht säen, eine neue Zeit her- wärtig aneinander und waren miteinander verbun- aufführen zu helfen, in der die Proletarier nicht nur den. in ‚gottgewollter Abhängigkeit‘ Objekte von Politik und Wirtschaft wären, sondern freie, allen andern Das „Hamburger Echo“ gleichgeachtete Staatsbürger und gleichberechtigte Faktoren im Wirtschaftskörper (…)“, hieß es in ei- Die „Auer-Druckerei“ war 1875 gegründet worden und hatte damals ihren Sitz in der Amelungstraße gehabt. In der „Genossenschafts-Buchdruckerei zu Hamburg“, wie die „Auer-Druckerei“ vor 1891 hieß, erschien ab 1875 das „Hamburg-Altonaer-Volksblatt“. Drei Jahre später war die Druckerei vom Sozialisten- gesetz betroffen. „J[ohann] H[einrich] W[ilhelm] Dietz [1843–1922], ihr Leiter, meldete den Betrieb da raufhin als eigene Druckerei an, die als Privat- besitz nicht beschlagnahmt werden konnte. Vom 10.11.1878 an druckte er die bald verbotene ‚Ge- richtszeitung‘. Mit dem Schriftsteller J[ohannes] Wedde [1843–1890] fand sich erneut ein Sozialde- mokrat, der die ‚rote‘ Presselücke mit dem verharm- In der Fehlandtstraße 11–19 stand das Gebäude der losenden Titel ‚Bürgerzeitung‘ schloss. Auch sie be- Auer-Druckerei, in der von ca. 1901 bis 1933 die Zeitung der Sozialdemokratie – das „Hamburger Echo“ – ge- stand nicht lange. Schon am 2.10.1887 wagte sich druckt wurde. Das Gebäude steht nicht mehr. Heute be- Wedde mit dem ‚Hamburger Echo‘ erneut an die findet sich hier der begrünte Hof der Berenberg Bank. Öffentlichkeit. Noch während des Sozialistengeset- Photo: Marina Bruse

355 Klaus Tornier: Auer-Druck. In: Franklin Kopitzsch, Daniel Tilgner (Hrsg.): Hamburg Lexikon. Hamburg 1998, S. 41. 260 FEHLANDTSTRASSE 11–19 · „Auer-Druckerei“ · „Hamburger Echo“

nem 1924 von dem Sozialdemokraten, Schulsenator delsschule hatte sie den Beruf der Kontoristin ergrif- und Reformpädagogen Emil Krause (1870–1943) fen. Louise Wegbrod hatte enge Kontakte zu den herausgegebenen Büchlein über Gustav Stengeles „Hamburger Linksradikalen“ und wurde 1918 mit Satiren und andere Zeitgedichte. dem Vorwurf des „Landesverrats” verhaftet. 1919 Ein Beispiel aus den „Plaudereien“ und anderen Ge- avancierte sie als erste Frau zur Redakteurin des dichten, die in den Jahren 1898–1914 im „Hambur- „Hamburger Echo“ und betreute bis 1933 den Kultur- ger Echo“ erschienen: teil und die Frauen- und Arbeiterjugend-Beilage.

Patriotenlied Redakteure des „Hamburger Echos“ waren auch Wir haben gepanzerte Schiffe Theodor Haubach (1896–1945 gehängt in Berlin-Plöt- Und haben auch Kreuzer zum Spaß, zensee), Gustav Dahrendorf (1901–1954) und Herbert Wir haben Kanonen in Menge – Wehner (1906–1990). Die Mittel erlauben uns das! 1928 kaufte die SPD drei weitere Grundstücke in der Fehlandtstraße und Große Theaterstraße für ihre Wir haben ein Heer von Soldaten, Druckerei.357) Wie nie noch ein Reich es besaß, Wir haben viel Mausergewehre – Nach Machtantritt der Nationalsozialisten diente „der Die Mittel erlauben uns das! Reichstagsbrand am 28. Februar 1933 (...) als Vor- wand zur Aufhebung der Pressefreiheit. Nach einem Auch haben wir schon Kolonien, kritischen Bericht über die offiziellen Verlautbarungen Da wächst zwar kein Strauch und kein Gras, zu den Hintergründen des Brandanschlags verlangte Doch gibt es dort Galgen und Peitschen – die Reichsregierung vom Hamburger Senat das Verbot Die Mittel erlauben uns das! des „Hamburger Echos“. Wohl wissend, dieser For- Und gibt irgendwo es zu grabsen, derung nicht widerstehen zu können, traten die SPD- zu kaufen, zu pachten etwas, Senatoren am 3. März 1933 zurück. An diesem Tag Dann werden wir sicherlich eilen – erschien die letzte Ausgabe des Echos. Von der Be- Die Mittel erlauben uns das! schlagnahme des Parteivermögens durch die Natio- Und setzt es mal irgendwo Händel, nalsozialisten am 10. Mai 1933 [siehe dazu S. 246 Gefundenes Fressen ist das! Große Theaterstraße 44/45] waren auch die parteiei- Dann schicken wir Schiffe, Soldaten – genen Druckereien und Zeitungen betroffen.“358) Die Mittel erlauben uns das! Nachdem das „Hamburger Echo“ von den National- Den Schnurrbart gesträubt à la Haby, sozialisten verboten worden war, ließen die Natio- den tragen wir unter der Nas, nalsozialisten die Rotationsmaschinen in das von Den Koller der Weltmacht im Hirne – ihnen erbaute Pressehaus an der Steinstraße trans- 356) Die Mittel erlauben uns das! portieren, um darauf ihr „Hamburger Tageblatt“ dru- cken zu lassen. 1946 erhielt Auer-Druck die „Zulassung für das Ge- Louise Wegbrod: Redakteurin des biet der brit. Besatzungszone. Lizenznehmer für die „Hamburger Echo“ SPD war P[aul] Bugdahn [1890–1948], Sitz der Re- daktion das Pressehaus“.359) Die erste Nummer des Vor der Machtübernahme durch die Nationalsozia- „Hamburger Echo“ erschien am 3. April 1946. Doch listen arbeitete im „Hamburger Echo“ das SPD-Mit- „wie fast alle Parteizeitungen vermochte sich das glied Louise Wegbrod (7.12.1884–29.11.1966) als Hamburger Echo im Pressewettbewerb nicht zu be- Redaktionssekretärin. Nach dem Besuch der Volks- haupten und wurde 1966 im 91. Jahrgang einge- schule und einer Ausbildung auf einer privaten Han- stellt“.360)

356 Gustav Stengele: Satiren und an- gung des Redaktionsteams: Dr. Helga Hamburg. Teil I: Die innere Stadt. Hrsg. dere Zeitgedichte. Hrsg. von Emil Kutz-Bauer und Dr. Holger Martens, von der Arbeitsgemeinschaft ehemals Krause. Hamburg 1924. entnommen aus der Schrift: Wegweiser verfolgter Sozialdemokraten (AvS). 357 Hinweis von Angelika Voß-Louis. zu den Stätten von Verfolgung und so- Texte und Recherche: Dr. Holger Mar- 358 Text mit freundlicher Genehmi- zialdemokratischem Widerstand in tens. Hamburg 2005, S. 37f. FEHLANDTSTRASSE 11–19 · Letzte Sitzung vor dem Verbot der SPD 261

Letzte Sitzung der SPD-Parteifunktionäre vor und Wider der Bildung des Prager Exilvorstandes dem Verbot der SPD stattgefunden hatte. Von Karl Meitmann war ein vier seitiges Papier zur Diskussion gestellt worden, Wenige Tage vor dem allgemeinen Verbot der SPD das er zusammen mit seinem Freund, Professor Dr. am 22. Juni 1933 hatten sich am 15. und 16. Juni Paul Hermberg [1888–1969], in Jena entworfen hatte. 1933 im Redaktionsgebäude des „Hamburger Echo“ Die allein für die Hamburger Vorstandsmitglieder noch einmal alle Hamburger Spitzenfunktionäre der verfasste ‚Situations-Analyse‘ war in Berlin noch SPD zusammengefunden. Anlass der Zusammen- einmal mit Staudinger durchgesprochen worden. kunft war „ein Angebot von NS-Gauleiter [Karl] Der in der Hauptstadt verbliebene Teil des SPD-Vor- Kaufmann [1900–1969], das Echo unter nationalso- stands war jedoch nicht beteiligt. Hans Staudinger zialistischer Führung wieder erscheinen zu lassen. bezeichnete das Papier rückblickend als Aktionspro - Dafür sollte der Reichstagsabgeordnete und Echo- gramm. Redakteur Gustav Dahrendorf gewonnen werden. Um 22.30 Uhr drangen Polizei und SA in das Redak- Dahrendorf ließ Kaufmann wissen, dass ein solches tionsgebäude ein und verhafteten 30 Anwesende. Angebot in einem größeren Kreis diskutiert werden Dr. Alfred Mette [1898–1985] konnte sich verstecken, müsse und erhielt dazu die Genehmigung. Die Ham- Walter Schmedemann hatte die Sitzung vorzeitig burger SPD-Führung nutzte die Gelegenheit, um verlassen, so dass insgesamt 32 Personen an der zum letzten Mal in einem größeren Kreis die politi- Versammlung teilgenommen hatten. Die Polizei be- sche Lage zu diskutieren. Nachdem am 15. Juni bis schlag nahmte zahlreiche Exemplare des Diskussi- Mitternacht beraten worden war, vertagte sich die onspapiers, von dem nach Angaben von Meitmann Versammlung auf den nächsten Tag. 40 bis 50 im Hektografierverfahren hergestellt wor- Am 16. Juni waren neben den beiden Hamburger den waren. Die 26 Männer und vier Frauen wurden SPD-Reichstagsabgeordneten Dr. Hans Staudinger in die Kellerräume des Stadthauses (Polizeipräsi- [1889–1980] und Gustav Dahrendorf die Bürger- dium) gebracht. Bei den anschließenden Verhören schaftsmitglieder Adolph Schönfelder [1875–1966], wurden insbesondere die Männer schikaniert und Heinrich Eisenbarth [1884–1950], Karl Meitmann misshandelt. [1891–1971], Hans Podeyn [1894–1965], Grete Zabe Der renommierte Rechtsanwalt Dr. Herbert Rusche- [1877–1963] und Walter Schmedemann [1901–1976] weyh [1892–1965], ehemaliger Bürger schafts prä - anwesend. Mit dem Landesvorsitzenden Meitmann, sident, übernahm die Vertretung der Sozialdemo- dem Fraktionsvorsitzenden Podeyn und den Ex-Se- kraten. Am 27. Juni 1933 wurde er bei dem NS- natoren Schönfelder und Eisenbarth nahmen lang- Polizeisenator persönlich in der Angelegenheit vor- jährige Spitzenfunktionäre der Hamburger SPD an stellig. Dabei gelang es ihm offensichtlich, die Frei- den Beratungen teil. Darüber hinaus waren außer lassung von Paula Karpinski [1897–2005], Irma einigen Parteiangestellten und Echo-Mitarbeitern Schwe der (später Keilhack) [1908–2001], Hedwig etwa 15 Distriktsvorsitzende oder deren Stellvertre- Günther [1896–1966] und Grete Zabe [1877–1963] ter anwesend. Damit war ein Großteil der Parteiglie - zu erreichen. Alle vier wurden jedenfalls noch am derungen vertreten. Die Anwesenheit von Vertretern gleichen Tag aus der Haft entlassen. An die übrigen zahlreicher Stadtteile kann als Beleg dafür gewertet Versammlungsteilnehmer richtete Ruscheweyh den werden, dass die SPD immer noch über eine funk- dringenden Apell, dass derjenige, der das Papier mit- tionierende Organisationstruktur verfügte. gebracht hatte, sich melden möge. Karl Meitmann Die Versammlung wurde von Adolph Schönfelder schwieg jedoch, weil er Maßnahmen gegen die jüdi - geleitet. Aus den Notizen, die bei den Teilnehmern sche Ehefrau von Hans Staudinger fürchtete, auf später sichergestellt wurden, zog die Polizei den deren Schreibmaschine der Text geschrieben worden Schluss, dass eine eingehende Debatte über das Für war. Dennoch kam nach Ruscheweyhs Angaben am

359 Angela Graf: Hamburger Echo. In: Franklin Kopitzsch, Daniel Tilgner (Hrsg.), S. 203. 360 ebenda. 262 FEHLANDTSTRASSE 11–19 · Letzte Sitzung vor dem Verbot der SPD · Buchhandlung Auer & Co. NEUER JUNGFERNSTIEG 19 · „Jenisch-Haus“

7. Juli Bewegung in die Angelegenheit. Der als Autor schuss für Jugendschriften, eine Einrichtung des verdächtigte Hermberg gab das Papier als Seminar- Lehrervereins, verteilte jährlich vor Weihnachten vortrag über modernen Sozialismus aus. Tatsächlich an alle Volksschüler ein Verzeichnis guter Jugendli- wurden in der zweiten Juli-Hälfte die meisten Teil- teratur. Das belebte das Geschäft der Buchhändler. nehmer aus der Haft entlassen. Gustav Dahrendorf Schon bald nach 1900 trat der Verein für Kunstpflege blieb bis Anfang August im Gefängnis. Karl Meit- und auch der Jugendschriften-Ausschuß an die mann wurde bis Ende Oktober inhaftiert und als Firma Auer & Co. mit der Anregung heran, sich an letzter frei gelassen. Er war besonders verdächtigt, den Weihnachtsausstellungen zu beteiligen. Die weil ein aufgefundenes Exemplar mit Randnotizen Buchhandlung erhielt im Neubau an der Fehlandt- seine Handschrift trug. Als Ergebnis der Bespre- straße große und schöne Räume und erzielte durch chung mit dem Generalstaatsanwalt am 29. Novem- eine eifrige Werbearbeit beträchtliche Umsätze. ber 1933 konnte Ruscheweyh seinem Klienten dann An ihrer Spitze stand viele Jahre Karl Heinrich, der mitteilen, dass die Angelegenheit nicht weiter ver- zwar kein gelernter Buchhändler war, aber zu einem folgt und die Ermittlungen eingestellt wurden. der Tüchtigsten in diesem Fach wurde. Auf Reichsebene hatten die Vorgänge im Juni 1933 Er entwickelte mit der Zeit aus kleinen Anfängen weitreichende Folgen. In seinem Bericht an den eine Abteilung für Kunstgegenstände, so dass sich Reichsinnenminister vermutete NS-Polizeisenator die Firma mit Recht ‚Buch- und Kunsthandlung‘ [Alfred] Richter [1895–1981] als Urheber den in Ber - nennen durfte. Bilder, Bildermappen und Bilderrah- lin verbliebenen Teil des Parteivorstands, insbeson- men, Vasen und kleine Gebrauchsgegenstände für dere Paul Löbe [1875–1967]. Staudinger und Dah- die Wohnung verkaufte die Firma in großen Men- rendorf wurden verdächtigt, das Papier mitgebracht gen. Nach 1919 errichtete sie in verschiedenen Stadt- zu haben. Dass sich Staudinger zunächst als Urhe- teilen Zweiggeschäfte.“362) ber ausgab, interpretierte Richter als Schutzbehaup- tung, um Maßnahmen gegen die Gesamtpartei ab- zuwenden. Den neuen Machthabern in Berlin diente 88. STATION die Hamburger Versammlung jedenfalls als weiterer Vorwand, um die SPD am 22. Juni 1933 endgültig Neuer Jungfernstieg 19 zu verbieten.“361) (früher: Nr. 18) „Jenisch-Haus“ (Standort: 1833–1900); Emilie Buchhandlung Auer & Co. Jenisch, Wohltäterin (19. Jh.); „Amsinck-Haus“ (Standort: 1900–1925); „Frauenklub Hamburg“ Im Neubau des Gebäudes der „Auer-Druckerei“ be- (Standort: 1910 für einige Jahre); „Übersee- fand sich auch die Buchhandlung Auer & Co. Johan - Club“ (Standort: seit 1970) nes Schult schreibt in seinem Buch „Die Hamburger Arbeiterbewegung als Kulturfaktor“ über die Buch- handlung Auer & Co.: „Weit in die Zeit vor 1914 Das „Jenisch-Haus“ geht die Buchhandlung Auer & Co. zurück. Sie hatte ursprünglich nur die Aufgabe, Arbeiter mit sozialis- Noch heute steht hier das von Franz Gustav Fors- tischer Literatur zu versorgen. Die Hamburger Buch- mann (1795–1879) für den Hamburger Bankier Gott- handlungen wagten es nicht, ihren Käufern solche lieb Jenisch (1797–1875) zwischen 1831 und 1833 Schriften anzubieten. Sie befürchteten den stillen errichtete Patriziergebäude. Auf einer am Haus an- Boykott des Bürgertums (…). Um die Jahrhundert- gebrachten blauen Denkmaltafel ist nachzulesen, wende wuchs die Nachfrage nach Büchern unter dass es das einzige erhaltene Patrizierhaus aus die- der Arbeiterschaft. Der Hamburger Prüfungsaus- ser Zeit in der Hamburger Innenstadt ist und von

361 Wegweiser zu den Stätten von Arbeiterbewegung als Kulturfaktor. Verfolgung und sozialdemokratischem Hamburg o. J. S. 116f. Widerstand in Hamburg, a. a. O., S. 38–40. 362 Johannes Schult: Die Hamburger NEUER JUNGFERNSTIEG 19 · „Jenisch-Haus“ 263

ner doppelflügeligen geschnitzten Tür geschlossen (…). Von hier aus konnten die einfahrenden Wagen rückwärts durch den Garten und die Fehlandtstraße das Haus wieder verlassen. (…) Im Parterre befan- den sich die Kontorräume, ein ‚Cabinet‘, sowie ein feuerfestes ‚Gewölbe‘ mit dem Safe, außerdem zwei Küchen und die Räume für das zahlreiche Dienst- personal. Ein verhältnismäßig schmaler Flur führte zu dem groß zügigen, von einem Oberlicht erhellten Trep- penhaus in der Mitte des Hauses. (…) Ein zweiter Treppenaufgang für das Personal befand sich im Neuer Jungfernstieg 19: „Jenisch-Haus“, erbaut 1831/33 rückwärtigen Teil des Hauses. – das einzige erhaltene Patrizierhaus aus dieser Zeit Die Aufteilung der 1. Etage mit den Salons, deren in der Hamburger Innenstadt. Heute residiert hier der Fenstertüren den Blick auf die Binnenalster freige- „Über see-Club“. Photo: Marina Bruse ben, und dem seitlich zur Durchfahrt gelegenen großen Saal ist noch heute die gleiche, während die 1899 bis 1925 im Besitz von Gustav Amsinck (1837– übrigen Räume durch Umbauten völlig verändert 1909) war. wurden. Decken und Wände waren mit ornamenta- Bevor dieser der Besitzer des Hauses wurde, hatte len Stukkaturen nach Entwürfen von Forsmann ge - Gottlieb Jenisch das Grundstück 1829 erworben und schmückt (…)“,363) schreibt Renata Klée Gobert in einen palaisartigen kubischen Bau errichten lassen. ihrem Aufsatz über die Geschichte des Hauses Neuer „Der Eingang befand sich (...) seitlich von einer Jungfernstieg 18. Durch fahrt aus; die Toröffnung [war] früher mit ei-

Grundriss des für Gottlieb Jenisch errichteten Hauses am Neuen Jungfernstieg Nr. 18 (heute Nr. 19), aus: Kommerz und Kultur im Amsinck-Haus am Neuen Jungfernstieg. Der Übersee-Club 1922–1972 Hamburg 1972, S. 63.

363 Renata Klée Gobert: Geschichte des Hauses Neuer Jungfernstieg 18. In: Kommerz und Kultur im Amsinck-Haus am Neuen Jungfernstieg. Der Übersee- Club 1922–1972. Hamburg 1972, S. 64. 264 NEUER JUNGFERNSTIEG 19 · Emilie Jenisch, Wohltäterin · „Frauenklub Hamburg“

Emilie Jenisch, Wohltäterin Haus nur während seiner gelegentlichen Besuche in Hamburg. Nach seinem Tod 1909 zog seine Witwe Nach dem Tod von Gottlieb Jenisch (gest. 1875) und von Hamburg fort. „Das Haus blieb in ihrem Besitz seiner Frau Caroline, geb. Freiin von Lützow (1804– (…).“365) 1882), bewohnte die älteste der drei Töchter des Ehepaares Jenisch, die ledige Emilie Jenisch (1838– „Frauenklub Hamburg“ 1899), bis zu ihrem Tode das große Haus. Sie lebte dort aber nur im Winter. Im Sommer bevorzugte sie Ab 1910 wurde das Haus für einige Jahre zur Adresse das elterliche „Weiße Haus“ an der Elbchaussee. des exklusiven „Frauenklub Hamburg“, der 1906 Emilie Jenisch, die krank, verwachsen und taub war, vom Allgemeinen Deutschen Frauenverein (ADF), widmete sich ganz der Wohltätigkeit. 1883 gründete Ortsgruppe Hamburg zum geselligen Beisammensein sie das Emilienstift, das zunächst in einer Wohnung unter Gleichgesinnten gegründet worden war. in der Eppendorfer Landstraße untergebracht war. Für die Mitglieder des Frauenklubs, die hauptsäch- Das Stift bot sittlich gefährdeten – aber noch nicht lich aus der oberen, der „tonangebenden“ Gesell- „ge fallenen“ – konfirmierten, 14- bis 21-jährigen Mäd- schaftsschicht kamen, stand die Verfolgung der eige- chen Unterstützung durch die Ausbildung zur Dienst- nen Interessen im Mittelpunkt des Klublebens und botin. 1886 gründete Emilie Jenisch den Stiftskomplex nicht – wie es bei den vielen Frauen-Wohltätigkeits- St. Anscharhöhe an der Tarpenbekstraße in Ham- vereinen der Fall war – die Hilfe für andere. So hieß burg-Eppendorf (Stiftung St. Anscharhöhe) (siehe es in der Klubsatzung: „Der Frauenklub Hamburg auch S. 178 St. Anschar Platz), in den das Emilienstift bezweckt, die geistigen, sozialen und materiellen einzog und der heute als Seniorensitz genutzt wird. Interessen seiner Mitglieder zu fördern.“ Hierfür gab Einige alte Stiftsgebäude sind noch erhalten, so es: „Lese- und Schreibzimmer, Gesellschaftsräume, z. B. das Haus Emmaus (heute Seniorensitz), das Er frischungsräume, Schlafzimmer für Mitglieder oder ehemalige Waschhaus, das Haus Bethanien und die von diesen eingeführte Gäste; Ausstellungsräume für „Kirche zum Guten Hirten“. schriftstellerische, künstlerische und kunstgewerbli - Da es keine direkten Erben gab, wurde das Haus am che Erzeugnisse seiner Mitglieder.“366) Drei- bis vier- Neuen Jungfernstieg 18 verkauft. Der Käufer war mal die Woche bot der Klub nachmittags und abends der Hamburger Kaufmann Gustav Amsinck, der Mit- kulturelle Veranstaltungen, Diskussionsabende und begründer der „Bank of New York“. Er ließ das Haus Bildungskurse an. Die Lese- und Schreibzimmer wur- von den Hamburger Architekten Martin Haller den rege genutzt, hauptsächlich von denjenigen (1835–1925) und Hermann Geißler (1859–1939) um - Frauen, die außerhalb Hamburgs wohnten und den bau en und neu ausstatten. Das Mezzaningeschoss Klub in der Innenstadt als standesgemäße Auf- wurde erhöht, ein zweigeschossiger Bibliothekssaal enthaltsmöglichkeit nutzten. Wer Mitglied werden mit Galerie eingebaut. „Im Erdgeschoss verschwan- wollte, musste von zwei Mitgliedern schriftlich emp- den die Kontorräume, die Halle wurde mit Säulen fohlen werden. Männer hatten als Gäste nur zu be- aus Stuckmarmor repräsentativ gestaltet (…). In der stimmten Veranstaltungen Zutritt, und dann auch 1. Etage wurden die Salons zum größten Teil mit nur zu den Erfrischungsräumen. neuen Stukkaturen dekoriert. (…) Nach der Garten- Vorsitzende des Klubs war Bertha Rohlsen (1852– seite wurde das Haus durch neue Räume erweitert. 1928), Ehefrau des Konsuls Gustav Rohlsen und Der umfangreiche Umbau war 1901 beendet. Das Schwester von Martha Rauert (1869–1958), die mit Am sinck’sche Wappen schmückte nun das Oberlicht dem Juristen Paul Rauert (1863–1938) verheiratet des Einfahrtstores.“364) und passives Mitglied der Künstlervereinigung „Brü- Gustav Amsinck, der 1904 im Alter von 67 Jahren cke“ war (gegr. 1905 in Dresden von Malern des Ex - eine Amerikanerin geheiratet hatte, bewohnte das pressionismus). Martha und Paul Rauert besaßen

364 R. Klée Gobert, a. a. O., S. 66. Hamburg. Hamburg 1997. 365 R. Klée Gobert, a. a. O., S. 67. 366 Zit. nach: Kirsten Heinsohn: Poli- tik und Geschlecht. Zur politischen Kultur bürgerlicher Frauenvereine in NEUER JUNGFERNSTIEG 19 · „Frauenklub Hamburg“ · „Übersee-Club“ 265 eine große Kunstsammlung und luden zu Musik- 1970 mietete der von dem Bankier Max M. Warburg abenden und Lesungen in ihr Haus ein. Auch Bertha (1867–1946) initiierte und mit weiteren Hamburger Rohlsen war seit 1908 Mitglied der „Brücke“, und Kaufleuten, Industriellen und leitenden Männern so wurde der Frauenklub Treffpunkt für Kunstlieb- der Verwaltung am 27. Juni 1922 gegründete exklu- haberinnen. Luise Schiefler (1865–1967), eine der sive „Übersee-Club“ das „Amsinck-Haus“ von der Gründerinnen des Frauenklubs, hielt dort Vorträge „Nordstern-Versicherung“. über Graphik. Weitere Mitglieder des Klubs waren „Man betritt das Haus heute durch den neuen Ein- u. a. Helene Bonfort (1854–1940), Bertha Wendt gang an der rechten Seitenfront. (…) Durch die Gar- (1859–1937), die Lehrerin Marie Kortmann (1851– derobe geht man in die große Halle, die, nach dem 1937), Ida Dehmel (1870–1942) und die Kunsthisto- Herausbrechen der Zwischenwände, heute das üb- rikerin Rosa Schapire (1874–1954). 1911 besaß der rige Erdgeschoss einnimmt. Die architektonische Klub 765 Mitglieder. 1939 musste er seine Tätigkeit Gliederung durch die Türen mit den alten geschnitz- im Zuge der „Gleichschaltung“ einstellen. ten Dreiecksgiebeln aus der Erbauungszeit und die vom Umbau von 1900 stammenden Stuckmarmor- Weitere Hausbesitzer: der „Übersee-Club“ säulen blieb bewahrt. (…) Die schöne breite Treppe führt, wie zur Zeit von Jenisch, in das Obergeschoss. 1925 erwarb die „Janus-Versicherung“ (später von (…) Im 1. Stock sind die Salons und der große Ess- der „Nordstern-Versicherung“ übernommen) das saal zu Restaurationsräumen des Clubs eingerichtet. Haus. Die Einrichtung wurde versteigert und die Räu- (…) Der große Saal mit seinen ornamentalen Stuk- me zu Büros umfunktioniert. 1944 wurde das Haus katuren und den feinen geschnitzten Türbekrönun- unter Denkmalschutz gestellt. Als besonders das In- gen nach Entwürfen von Forsmann ist der am besten nere des Hauses, bedingt durch dessen Nutzung für erhaltene Raum aus der Erbauungszeit. Bürozwecke, immer mehr in Mitleidenschaft geriet, Im 2. Obergeschoss sind die Geschäftsräume des wollte die „Nordstern-Versicherung“, die mittlerweile Clubs untergebracht.“368) Besitzerin der anliegenden Grundstücke geworden Der „Übersee-Club“, gegründet zu einer Zeit, als die war, das Gebäude abreißen, um Platz für einen Büro- Wirtschaft in einer großen Krise steckte, hatte sich neubau zu erhalten. Nach Verhandlungen mit dem damals 1922 zur Aufgabe gemacht, „die Einheit wirt- Denkmalschutzamt wurde zwar die Errichtung eines schaftlichen und politischen Handelns [zu] gewähr- elfgeschossigen Bürohochhauses hinter dem „Am- leisten, sich für den Wiederaufbau der Weltwirtschaft sinck-Haus“ gestattet, die Versicherung bekam aber ein[zu]setzen, der Erneuerung des Freihandels [zu] nicht die Erlaubnis, das „Amsinck-Haus“ am Neuen dienen – und das als ‚Zusammenschluss von Wirt- Jungfernstieg 18 ab zureißen. Nur in seinem rückwär - schaft und Wissenschaft, wo auch die Kunst ihre tigen Teil durfte das Gebäude verkürzt werden. Da- Stätte finden wird‘: ‚Alle Kreise, die Kaufleute, die In- durch erhielt es eine geringere Tiefe, wodurch Platz dustriellen und Techniker, die Gelehrten und Beamten, für das neue Bürogebäude geschaffen wurde. die Presse und die Lehrerschaft, die unsere Auffassung „Die Bauarbeiten begannen 1967 (…). Der von Hal- in den nachstehenden Generationen weiterpflanzen ler eingebaute Bibliothekssaal verschwand. Durch können, müssen in der von uns zu gründenden Ver- die Kriegszerstörung des Nebenhauses Nr. 19 (…) einigung zusammenwirken‘“, erklärte Max M. War- war die rechte Brandmauer freigelegt. Hier wurden burg die Prinzipien des „Übersee-Clubs“.369) im Angleich an die historische Fassade die Fenster Nach der Machtübernahme durch die Nationalso- herumgeführt, der Eingang wurde an diese Seiten- zialisten beschloss der „Übersee-Club“ im Dezember front verlegt. Das Grundstück Nr. 19 wurde nicht 1933 seine Auflösung, was dann zum 3. Mai 1934 wieder bebaut, sondern als freier Platz gestaltet“,367) auch geschah. Hierzu heißt es in der Chronik zum schreibt Renata Klée Gobert. fünfzigjährigen Bestehen des Clubs: „Der Übersee-

367 R. Klée Gobert, a. a. O., S. 67f. Kultur im Amsinck-Haus am Neuen 368 R. Klée Gobert, a. a. O., S. 69–72. Jungfernstieg, a. a. O., S. 3. 369 Rolf Stödter, damaliger Präsident des „Übersee-Clubs“, in seinem Geleit- wort in der Publikation: Kommerz und 266 NEUER JUNGFERNSTIEG 19 · „Übersee-Club“ · Photoatelier Emilie Bieber

Club ist keinem direkten politischen Eingriff erlegen. zu verbreiten und zu vertiefen und damit auch der Er hätte aber (…) nur durch politische Anpassung Toleranz auf allen Gebieten der Kultur und der Ver- aktiv weiterarbeiten können. Die Satzung und das ständigung der Völker zu dienen. ursprüngliche Programm hätten durchaus entspre- Er will die Bestrebungen fördern, die auf den wirt- chend ‚interpretiert‘ werden können, nicht aber die schaftlichen Wiederaufbau und die Pflege der Aus- Grundsätze der weltweiten Verständigung und einer landskunde in Deutschland gerichtet sind. Im Sinne freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsverfas- dieser Zielsetzung will er insbesondere dem Auf- sung, nach denen der Club gegründet worden war. und Ausbau des deutschen Außenhandels dienen. Dennoch wäre eine Gleichschaltung natürlich mög- Die Einbeziehung wissenschaftlicher Forschung so- lich gewesen, und Überlegungen dazu hat es gege- wie des wissenschaftlichen Meinungsaustausches ben, wenn auch offenbar noch keine Pressionen. soll die Arbeit des Clubs erweitern. Auch im Übersee-Club selber war im Jahre 1933 nicht Seinem Zweck dient der Club durch Veranstaltung jedermann frei von der Verlockung, den Club zu ret- von Vorträgen und Herausgabe von Publikationen. ten, indem man ihn für ‚die neuzeitlichen Gedanken‘ Auswärtigen Besuchern wird der Club mit Rat und öffnete.“370) Tat zur Seite stehen.“371) 1948 wurde der „Übersee-Club“ wieder neu gegrün- Weit über 1200 Vorträge wurden seit der Gründung det. Wesentlich daran beteiligt war Erik Blumenfeld des Clubs von Mitgliedern und Gästen gehalten. (1915–1997). In der neuen Clubsatzung hieß es nun: Die Themen sind breit gefächert und haben alle ei- „Der Club verfolgt ausschließlich und unmittelbar nen gesellschaftspolitischen Anspruch. den Zweck, die internationale Zusammenarbeit auf Seit rund zehn Jahren können auch Frauen Mitglied allen Gebieten zu pflegen, die Erkenntnis von der des „Übersee-Clubs“ werden. Eine der ersten Frauen Verflechtung aller Volkswirtschaften in einer Welt- war Maria Luisa Warburg (geb. 1938). wirtschaft zum Wohle der Gesamtheit der Völker

89. STATION eröffnet. In dieser Frühphase des Mediums Photo- graphie arbeiteten fast ausschließlich Männer in die - Neuer sem Metier. Der Beruf der Photographin entwickelte Jungfernstieg 20 sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Emilie (alte Nummerierung) Bieber war eine der ersten Berufsphotographinnen Photoatelier von Emilie Bieber ihrer Zeit und avancierte zu einer erfolgreichen Por- (Standort: 1872–ca. 1938); traitphotographin, deren Spezialität handkolorierte Leonhard Bieber (19. Jh.); Emil Portraits waren. Bieber (20. Jh.) Die ledig Gebliebene bestimmte ihren Neffen Profes- sor Leonard Bieber (1841–1931) zu ihrem Nachfolger. Er führte das Atelier am Neuen Jungfernstieg er folg- Nachdem Emilie Bieber (26.10.1810–5.5.1884) 1872 reich weiter, ebenfalls mit dem Titel „Königlicher von Friedrich Karl Prinz von Preußen (1828–1885) Hofphotograph“. Um 1892 eröffnete er dann eine Fi- zu seiner Hofphotographin ernannt worden war, ver - liale in Berlin. 1904 übergab er das Hamburger Ge- legte sie ihr Atelier von der Großen Bäckerstraße 26 schäft an seinen Sohn Emil Bieber (1878–1962). „Die- in ein repräsentatives fünfstöckiges Haus am Neuen ser modernisierte das Atelier und die Technik und Jungfernstieg 20. präsentierte seine Werke in eigenen Ausstellungsräu- 1852 hatte Emilie Bieber in der Großen Bäckerstraße men. (…) In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhun- 26 ein daguerreotypisches (photographisches) Atelier derts lieferte das Atelier Bilder von Personen des öf-

370 Ludwig Gelder: Der Übersee-Club 1922 bis 1972. In: Kommerz und Kul- tur im Amsinck-Haus am Neuen Jung- fernstieg, a. a. O., S. 28. 371 Ludwig Gelder, a. a. O., S. 34f. NEUER JUNGFERNSTIEG 20 · Photoatelier Bieber 267 NEUER JUNGFERNSTIEG 21 · „Hamburgisches Welt-Wirtschafts-Archiv“ (HWWA)

fentlichen Lebens an alle Hamburger Zeitungen. Nach London und wenig später nach Kapstadt fliehen 1933 wurde Emil Bieber, der nicht der jüdischen Ge- konnte. Sein gesamter Besitz sowie sein Geschäft meinde angehörte, und seine Familie aufgrund der blieben in Hamburg zurück und wurden versteigert. rassistischen Gesetzgebung drangsaliert und verfolgt. In Südafrika baute sich Bieber erneut eine Existenz Erste Versuche zur Emigration 1936 scheiterten am als Porträtfotograf auf“, schreibt die Historikerin Kirs- Gesundheitszustand Emil Biebers, der erst 1938 nach ten Heinsohn.372)

18.–Anfang 19. Jh.

Hinter dem Kalkgraben – heute: Große Theaterstraße – bei der heutigen Esplanade, spätere erstreckte sich der Garten von Esplanade Kapitän Buek. Dieser Garten war wegen seiner amerikani- schen Gewächse bekannt und Dammtorstraße wurde später Hamburgs erster botanischer Garten. (Siehe zum alten Botanischen Garten am Dammtor S. 298). Karten- ausschnitt aus: C. L. B. Mirbek, B. Baker Sculps. Hamburg. London 1813. Staats- und Universitätsbibliothek Kalckgraben Hamburg Kt H36 Binnen- alster

wal tungs gebäudes der ‚Deutsch-Amerikanischen- 90. STATION Petroleum-Gesellschaft‘ von 1908 verbergen“. Der Neuer Eckturm „wurde als Standort für Flakgeschütze kon- Jungfernstieg 21 zipiert“,373) so Ralf Lange in seinem „Architektur - „Hamburgisches Welt-Wirtschafts-Archiv“ führer Hamburg“. In diesem Gebäude war von 1971 (HWWA) (Standort: 1971–2006); „Deutsche Zen- bis einschließlich 2006 das „Hamburgische Welt- tralbibliothek für Wirtschaftswissenschaften“ Wirtschafts-Archiv“ (HWWA) untergebracht. Bevor (ZBW) (Standort: seit 2007) es dort seinen Sitz fand, hatte es verschiedene Stand- orte gehabt, z. B. in der „Alten Post“ in der Poststraße und ab 1965 im DAG-Haus am Johannes-Brahmsplatz „Hamburgisches Welt-Wirtschafts-Archiv“ (siehe zum DAG-Haus, S. 146). (HWWA) Das HWWA „erhielt seinen Namen 1919, nach dem Verlust der deutschen Kolonien, die das Archiv seit An der Straßenecke Esplanade/Neuer Jungfernstieg dem 20.10.1908 als ‚Zentralstelle‘ [damaliger Sitz: steht mit Blick auf die Binnenalster ein 1937/38 Dammtorstraße 25] des Kolonialinstituts erforscht erbau tes kantiges Sandsteingebäude, hinter des- und dokumentiert hatte. Während es zunächst In- sen „Fassade sich noch Teile des ehemaligen Ver - formationsmaterial über die deutschen Kolonien

372 Kirsten Heinsohn: Emil Bieber. 373 Ralf Lange: Architekturführer In: Das jüdische Hamburg. Ein histori- Hamburg. Stuttgart 1995. sches Nachschlagewerk. Hrsg. vom Institut für die Geschichte der deut - schen Juden. Göttingen 2006, S. 36. 268 NEUER JUNGFERNSTIEG 21 · „Hamburgisches Welt-Wirtschafts-Archiv“ (HWWA)

sammelte und auswertete, erweiterte sich der Auf- HWWA), Max M. Warburg [1867–1946] (Leiter des gabenbereich des Archivs innerhalb weniger Jahre kaufmännischen Beirates des HWWA und Mitglied zur globalen Informationsbeschaffung.“374) des Verwaltungsrates des ‚Wirtschaftsdienst‘) und Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozia- Prof. Dr. Kurt Singer [1886–1962] (ehemaliger Haupt - listen wurden auch missliebige Mitarbeiterinnen schriftleiter des ‚Wirtschaftsdienst‘).“376) und Mitarbeiter des HWWA und des 1937 als private Das Ehepaar Sacke soll hier näher dargestellt werden: Rechtsform gegründeten „Hamburgischen Welt- Bevor es nach Hamburg kam, wohnte es in Leipzig, Wirtschafts-Instituts“ (HWWI), dessen Aufgabe es wo der arbeitslose Historiker Dr. Georg Sacke (1902– u. a. war, „(…) in Übereinstimmung und ständiger 1945 auf Räumungsmarsch) einem Widerstandskreis Fühlung mit den maßgebenden Stellen des Reiches linker Intellektueller und Künstler angehörte. Das und der NSDAP, das im Hamburgischen Welt-Wirt- Ehepaar lebte von Rosemarie Sackes Lehrerinnen- gehalt. Im April 1934 wurde Georg Sacke verhaftet und ins KZ Sachsenhausen gebracht. Angeklagt wurde er wegen „Hochverrat“, doch er erhielt einen Freispruch und wurde im Dezember 1935 aus der Haft entlassen. 1940 bekam Georg Sacke eine Anstel- lung im „Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Institut“ (HWWI) als Referent für Ost- und Südosteuropa. 1942 folgte Rosemarie Sacke (1921–1997) ihrem Mann nach Hamburg, nachdem das Arbeitsamt sie verpflichtet hatte, ebenfalls im HWWI zu arbeiten. Dort war sie als Englisch-Übersetzerin tätig. Auch in Hamburg schlossen sich die Sackes einem Widerstandskreis an. Sie nahmen Kontakt zu Georg Sackes ehemaligem Studienfreund Hans Ketzscher (1903–1958) auf, der seit der Machtübernahme Neuer Jungfernstieg 21, erbaut 1937/38. Sitz der „Deutschen Zentralbibliothek für Wirtschaftswissen- durch die Nationalsozialisten in der illegalen Leh- schaften“. Photo: Marina Bruse rergruppe der Hamburger KPD mitarbeitete. „Durch ihre Tätigkeit am HWWI hatten sie [die Sackes] Zu- schafts-Archiv anfallende Nachrichtenmaterial, ins- gang zu Informationen über die Situation in der besondere soweit es ausländischen Ursprungs ist, Sowjetunion, die für die Widerstandsarbeit genutzt zum allgemeinen Nutzen auszuwerten,“375) verfolgt werden konnten.“377) und vertrieben. Helmut Leveknecht nennt in seiner Am 15.8.1944 wurden Rosemarie und Georg Sacke 1998 verfassten Chronik über das HWWA folgende in den Räumen des HWWI verhaftet und ins Polizei - Namen von Verfolgten: „Dr. Georg Sacke (Osteuropa- gefängnis Hamburg-Fuhlsbüttel eingeliefert. Infolge Referent im HWWI), Rosemarie Sacke (Übersetzerin der Vernehmungsmethoden erlitt Rosemarie Sacke im HWWI), Dr. Ulrich Küntzel [geb. 1904] (USA-Re- einen schweren Nervenzusammenbruch. Im Februar ferent im HWWI), Prof. Dr. Carl Rathjens [1887– 1945 wurde sie in das „Arbeitserziehungslager Kiel- 1966] (wissenschaftlicher Mitarbeiter im HWWA), er Nordmark“ verbracht, aus dem sie Anfang Mai Dr. Eduard Rosenbaum [1887–1979] (Hauptschrift- 1945 von britischen Truppen befreit wurde. Ihr Mann leiter des ‚Wirtschaftsdienst‘), Prof. Dr. Paul Heile blieb bis zum Frühjahr 1945 im Polizeigefängnis [1884–1958] (Hauptschriftleiter des ‚Wirtschafts- Fuhlsbüttel und kam am 24. März 1945 ins KZ Neu- dienst‘ und danach Bibliotheksleiter im HWWA), engamme, wo er im April 1945 auf einem Räumungs- Prof. Dr. Fritz Terhalle [1889–1962] (Direktor des marsch ums Leben kam.

374 Oliver Korn: HWWA. In: Franklin nach: Helmut Leveknecht: 90 Jahre 376 Helmut Leveknecht: a. a. O., S. 3. Kopitzsch, Daniel Tilgner (Hrsg.): Ham- HWWA. Von der Zentralstelle des Ham- 377 Herbert Diercks: „Die Freiheit burg Lexikon. Hamburg 1998, S. 250. burgischen Kolonialinstituts bis zur lebt!“ Widerstand und Verfolgung in 375 Hamburgisches Welt-Wirtschafts- Stiftung HWWA. Eine Chronik. Ham- Hamburg 1933–1945. Hamburg 2010, Institut, Satzungen, 1937, §2. Zit. burg 1998, S. 22. S. 56. NEUER JUNGFERNSTIEG 21 · „Hamburgisches Welt-Wirtschafts-Archiv (HWWA)“ 269 „Deutsche Zentralbibliothek fürWirtschaftswissenschaften“ (ZBW)

Nach Kriegsbeginn wurde das HWWA für das Pu- Im Juni 2005 legte der Senat der Leibniz-Gemein- blikum geschlossen, doch die Sammeltätigkeit aus- schaft (WGL-Senat) als abschließende Empfehlung ländischer Zeitschriften ging weiter. zum HWWA-Forschungsbereich fest, dass das Im Mai 1945 ließ die britische Militärregierung das HWWA als eigenständige Einrichtung nicht weiter HWWI und das HWWA schließen. Der Bestand wur- gefördert werden sollte und dass seine Forschungs- de gesichtet und dann ca. 20 Prozent von ihm be- abteilungen nicht in das Institut für Weltwirtschaft schlagnahmt. Ein Jahr später, im Oktober 1946, integriert werden sollten. Die Bund-Länder-Kommis- wurde die Sperre für das HWWA aufgehoben. Ehe- sion für Bildungsplanung und Forschungsförderung malige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die NSDAP- beschloss auf der Grundlage dieser Empfehlung am Mitglieder gewesen oder nach 1933 eingestellt wor- 21. November 2005, die Förderung des HWWA mit den waren, wurden weder erneut eingestellt, noch Ende des Jahres 2006 auslaufen zu lassen“,380) und durften sie das Archiv betreten. Ab dem 1. Oktober entschied, den Bibliotheksbereich des HWWA zum 1948 stand das HWWA der Öffentlichkeit wieder zur 1. Januar 2007 in die „Deutsche Zentralbibliothek Verfügung. für Wirtschaftswissenschaften“ (ZBW) zu integrie- „Nach 1945 begann das HWWA, eigene Forschung ren, die ebenfalls der Wissenschaftsgemeinschaft zu betreiben. Im Zuge eines zunehmend sich ver- Gott fried Wilhelm Leibniz (WGL) angehört und da- breiternden Tätigkeitsfelds in der Wirtschafts- und mals bereits einen Standort in Kiel hatte. Politikberatung wurde das Institut 1970 in ‚HWWA- 378) Institut für Wirtschaftsforschung‘ umbenannt.“ „Deutsche Zentralbibliothek für Wirtschafts- Im Juni 2000 erhielt es den Status einer Stiftung wissenschaften“ (ZBW) des öffentliches Rechts. Das HWWA, das der Wissenschaftsgemeinschaft Zum 1. Januar 2007 war es dann so weit: Der Biblio- Gottfried Wilhelm Leibniz (WGL) angehörte und theksbestand des HWWA wurde in den der „Deut- durch den Bund und die Länder finanziert wurde, schen Zentralbibliothek für Wirtschaftswissenschaf- bestand aus einem Forschungs- und einem öffentlich ten“ (ZBW) aufgenommen „(…) und ergänzt den zugänglichen Informationsbereich. „Die wissen- bis herigen Sammelschwerpunkt der ZBW, der auf schaftliche Öffentlichkeitsarbeit des Forschungs- Volkswirtschaftslehre lag, um die Literatur zur Be- bereichs bestand in der Herausgabe wirtschafts- triebswirtschaftslehre sowie der Branchenlitera- politischer Zeitschriften (Wirtschaftsdienst und tur“.381) Intereconomics), periodischer Berichte und des Die Zentralbibliothek, die mit ihrem Bestand von Hamburger Jahrbuchs für Wirtschafts- und Gesell- vier Millionen Medieneinheiten die weltweit größte schaftspolitik.“379) Zum Informationsbereich gehör- Spezialbibliothek für Wirtschaftswissenschaften ist, ten die Bibliothek, die Pressedokumentation und hat seitdem zwei Standorte: in Kiel und in Hamburg. die Dokumentations- und Informationsdienste. Die Bibliothek ist für jeden offen. Es gibt wunder- Nachdem im Jahre 2003 die Leibniz-Gemeinschaft schöne Arbeitsplätze mit Blick auf die Binnenalster, (WGL) das HWWA turnusmäßig evaluiert und als und es werden sogar Seminarräume für Gruppen- Ergebnis der Evaluation Kritik an der Führungs- arbeit etc. zur Verfügung gestellt. 2008 wurde die ebene des HWWA-Informationsbereichs geübt hatte, Bib liothek als „Ausgewählter Ort“ im Wettbewerb empfahl der WGL-Senat „daraufhin im März 2004 „Deutschland – Land der Ideen“ ausgezeichnet. In der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung der Ehrung sagte Henning Oldenburg von der Deut- und Forschungsförderung, den Arbeitsbereich Biblio- schen Bank, die „Deutsche Zentralbibliothek für thek des HWWA in die Deutsche Zentralbibliothek Wirtschaftswissenschaften“ sei ein „Symbol für die für Wirtschaftswissenschaften (ZBW) in Kiel einzu- Demokratisierung des Wissens und damit eine un- gliedern. (…) mittelbare Investition in die Zukunft“.

378 http://de.wikipedia.org/wiki/ Hamburgisches_Welt-Wirtschafts-Archiv 379 ebenda. 380 ebenda. 381 ebenda. 270 NEUER JUNGFERNSTIEG 21 · „Deutsche Zentralbibliothek für Wirtschaftswissenschaften“ (ZBW) ESPLANADE · „Toni Milberg Kursusschule“

Auch die „Landeszentrale für politische Bildung“ Religion, Ethnien“ durch, in der in Hamburg lebende hat die Zentralbibliothek durch Mietung von Räum- kulturelle Gruppen wie Aleviten, Armenier, Syrier, lichkeiten schon als Standort für Veranstaltungen Zaza, Tscherkessen, Nusarier, Kurden etc. vorgestellt genutzt. So führte dort Abut Can von der „Landes- wurden. zentrale für politische Bildung“ im Herbst 2009 die Veranstaltungsreihe „Vielfalt in der Stadt: Kultur,

nigliche Lehrerinnen-Seminar in Callenberg und 91. STATION machte dort 1876 ihr Lehrerinnenexamen. Dann Esplanade 3 wurde sie Lehrerin im Hause des Hamburger Haupt- Benannt 1827; französisch: freier, geebneter pastors an St. Jakobi, Pastor Hermann Julius Robert Platz. Die Straße wurde zwischen 1827 und Calinich (1834–1883), und leitete den damals für 1830 nach der Abtragung des Festungswalles höhere Töchter − oder wie man auch sagte: für zwischen Lombardsbrücke und Dammtor als Töchter gebildeter Familien – üblichen Privatunter- klassizistische Prachtstraße nach dem Vorbild richt im kleinen Kreis. Diese Unterrichts stunden der Berliner Prachtstraße „Unter den Linden“ wurden auch Kurse genannt und waren von Pastor mit zwei doppelten Lindenreihen angelegt. Calinich für seine Töchter erarbeitet und eingerichtet „Toni Milberg Kursusschule“ (Standort: 1888 für worden. einige Jahre) In der Zeit dieser Tätigkeit machte Toni Milberg ihr Vorsteherinnen-Examen und erhielt nach dem Tod Calinichs von der Oberschulbehörde am 19.2.1883 Biegt man vom Neuen Jungfernstieg kommend in die die Erlaubnis, die Kurse zu übernehmen und fortzu - Esplanade ein, so befand sich gleich hinter dem Eck- führen. Toni Milberg entwickelte weitere Kurse und haus der heutigen „Deutschen Zentralbibliothek für eröffnete am 13.3.1883 eine eigene Schule – die Wirtschaftswissenschaften“ die „Toni Milberg Kursus- Mil berg’sche Kursusschule. Sie befand sich am Ra- schule“. Die Lehrerin Antonie (Toni) Milberg (13.11. boisen 53. Fünf Jahre später kaufte Toni Milberg 1854–1.9.1908) hatte das dortige Schulhaus 1888 ein eigenes Schulhaus an der Esplanade 3. Als die gekauft, um dort mit ihrer Schule einzuziehen. Heute ste- hen hier Kontorhäuser. Toni Milberg, aus einer Kauf- mannsfamilie stammend, ver- lor schon im Kindesalter ihren Vater. Die Waise erhielt einen Schulunterricht, den sie als so anregend empfand, dass sie schon als Kind den Wunsch hegte, Lehrerin zu werden. Doch ihre Mutter war dage- gen. Erst auf ihrem Sterbebett stimm te die Mutter dem Her- zenswunsch ihrer Tochter zu. Die Esplanade von der Seite des Neuen Jungfernstiegs aus gesehen, 1830. Toni Milberg besuchte das Kö- Staatsarchiv Hamburg ESPLANADE 6 · Teestub im „Bauzentrum“ 271

Räume auch dort nicht mehr ausreichten, erwarb Lehrstoff und die Schulregeln das Wesentliche ge- sie ein Grundstück in der Klopstockstraße 17 (heute: wesen waren. Sie sei im besten Sinne Erzieherin Warburgstraße). gewesen und hatte besonderen Wert auf die Bildung Über 25 Jahre bis zu ihrem Tod leitete Toni Milberg von Charakter und Gemüt gelegt. die Schule zusammen mit ihrer Freundin Martha Toni Milbergs Grabstein befindet sich heute im Gar- Krecke, der sie sie vermachte. Als Toni Milberg starb, ten der Frauen auf dem Ohlsdorfer Friedhof. hieß es in einem Nachruf, dass für sie nicht der

französischen Existenzialisten Jean Paul Sartre 92. STATION (1905–1980) und Albert Camus (1913–1960) waren. Esplanade 6 Die jungen Männer trugen kurze Haare im Cäsaren - Teestube im „Bauzentrum“ schnitt, schwarze Hosen und schwarze Rollkragen- (50er/60er Jahre des 20. Jh.); pullover. Die jungen Frauen bevorzugten ebenfalls Kriegsgefangenenlager (1944); schwarze Kleidung und trugen entweder eine Pfer- Begegnungsstätte „Die Brücke“ deschwanzfrisur mit Pony oder einen Kurzhaarschnitt (Standort: 1946–Anfang der à la Jean Seberg (1938–1979). Die „Exis“ gingen in 50er Jahre des 20. Jh.) Kunstakademien und in die verrauchten Jazzklubs (siehe auch S. 234), hörten Cool-Jazz, fachsimpelten kenntnisreich über diese Musikrichtung und führten In dem noch heute vorhandenen 1912/19 erbauten Gespräche über Philosophie und Literatur. Kontorhaushaus „Esplanadebau“ befand sich das Bewusst setzten sie sich von der Arbeiterjugend „Bau zentrum“ – ein Ausstellungszentrum der Deut- und den „Halbstarken“ und deren Vorliebe für den schen Baubedarf Musterschau G. m. b. H. Rock and Roll ab. Sie lehnten sich gegen die Eltern- Die Teestube im „Bauzentrum“ war ein „Treffpunkt generation und deren Spießigkeit auf und wünsch- für Maler, Literaten, Theaterleute“, schreibt der ten sich mehr Freiräume. Schrift steller Robert Wohlleben (geb. 1937), der ebenfalls zu den Gästen der Teestube gehörte und dort seine Werke vortrug. „Das Bauzentrum schloss um sechs, dann war die Tür zu, alles dunkel. Aber es gab einen ganz kleinen Klingelknopf, man musste klingeln und es kam jemand – meistens einer der Gäste – mit dem Schlüsselbund und ließ einen rein. (…). Dort bekam ich zum Beispiel Max Bense [1910– 1990] und ,Ponderma‘ in den Blick. (…) Ein- mal lagen gleichzeitig und frisch erschienen auf dem Tresen: ,Steinigung der Nacht‘ von Hans Her- bert Schuldt (geb. 1941), ,Hundepsalm‘ von Arie Goral [1909–1996] und meine ,Psalmen für eine le- bende Mumie‘.382) In der Teestube des Bauzentrums trafen sich in den 50er/60er Jahren des 20. Jahrhunderts auch die Esplanade Nr. 6: Kontorhaus „Esplana- „Exis“. Das waren meist Studierende und Oberschü- debau“, errichtet 1912/19. lerinnen und -schüler, deren geistige Vorbilder die Photo: Marina Bruse

382 Jan-Frederik Bandel, Lasse Ole Hempel, Theo Janßen: Palette revisi- ted. Eine Kneipe und ein Roman. Ham- burg 2005, S. 16. 272 ESPLANADE 6 · Kriegsgefangenenlager · Begegnungsstätte „Die Brücke“

auch um regelmäßige Filmabende erweitert, die zu- nächst in Kooperation mit dem ganz in der Nähe befindlichen „Urania“-Kino in der Fehlandtstraße (siehe S. 255) stattfanden. Später wurden auch in den Räumlichkeiten direkt vor Ort einmal in der Woche 15- bis 20-minütige Kurzfilme im 16-mm- Format vorgeführt, manchmal auch gleich mehrere thematisch passende Streifen hintereinander. Es wa- ren Lehrfilme des britischen Erziehungsministeriums und Werke, die der so genannten „Re-education“, der Umerziehung der Deutschen zur Demokratie, die nen sollten. Foyer des „Esplanadebaus“. Photo: Marina Bruse Bis Mai 1949 lässt sich das Programm anhand von Handzetteln und Anzeigen nahezu komplett rekon- struieren. Leider wurde jedoch ganz offensichtlich Die Jugendkultur der „Exis“ kann als Zwischenglied versäumt, diese Filme rechtzeitig zu sammeln und zwischen der Bohème der 20er Jahre und der Pro- somit für die Nachwelt zu sichern – häufig wurden testbewegung der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts sie vielmehr bei Verschleiß gleich ganz kassiert, das verstanden werden. heißt vernichtet. Mit dem Abzug der Briten Anfang der 1950er Jahre Kriegsgefangenenlager verschwanden diese Filme weitestgehend ganz aus dem Blick der Öffentlichkeit, wenngleich die Ein- Ebenfalls im „Esplanadebau“ war im September richtung „Die Brücke“ nach einem Umzug in die 1944 ein Lager für zwölf Kriegsgefangene des Kom- Neue Rabenstraße noch etliche Jahre weiterexis- mandos 1175 eingerichtet worden. tierte. Sie unterhielt allerdings kein eigenes Filmar- chiv – und auch die ehemalige Staatliche Landes- „Die Brücke“ bildstelle mit dem ihr angeschlossenen Filmarchiv sammelte diese Werke nicht kontinuierlich. Nach der NS-Zeit richtete die engli- sche Militärregierung die Begeg- nungsstätte „Die Brücke“ im Kontor- haus „Esplanadebau“ ein, ein neu- traler Ort, u. a. für die sich neu und wieder gegründeten Hamburger Frau- enverbände. Am Donnerstag, dem 25. Juli 1946, eröffnete zunächst ein Leseraum in der Esplanade 6, in dem „die Ham- burger Bevölkerung über Großbritan- nien, das britische Empire und die übrige Welt unterrichtet“ werden sollte. Ab Mitte 1947 wurde das An- Im „Esplanadebau“ befand sich von 1946 bis zu Beginn der 50er Jahre gebot neben der Bereitstellung von des 20. Jh. die von der britischen Militärregierung eingerichtete Begeg- Zeitungen, Büchern und Vorträgen nungsstätte „Die Brücke“. Staatsarchiv Hamburg ESPLANADE 6 · Begegnungsstätte „Die Brücke“ 273 ESPLANADE 11 · „Christlisches Hospiz Baseler Hof“

So ist es vor allem dem Enthusiasmus einiger weni- nationalsozialistischen Vergangenheit. Unter dem ger Personen zu verdanken, darunter vor allem Hei- Titel „Lernen Sie diskutieren! Re-education durch ner Roß, dem langjährigen Leiter des „Metropolis“- Film“ brachte die Hamburger „Landeszentrale für Kinos in der Dammtorstraße (siehe S. 83), dass im politische Bildung“ vor ein paar Jahren eine 177- Laufe der Jahre wieder etliche von diesen „Re-edu- seitige Publikation heraus, die sich ausschließlich cation“-Filmen aus den unterschiedlichsten Quellen der damaligen Film- und Kulturpolitik der Ameri- zusammengetragen werden konnten. Aus heutiger kaner, Briten und Franzosen widmete. Sicht sind diese Werke eine wichtige zeitgenössische Text: Volker Reißmann/Michael Töteberg Quelle für den Umgang und die Aufarbeitung der

sondern – Geist der herrenhuterischen Frömmigkeit 93. STATION – man zahlte jährlich 18 000 Reichsmark an den Esplanade 11 CVJM und steckte nicht unerhebliche Mittel in die „Christliches Hospiz Baseler ‚Mission‘“,384) so Wolfgang Teichert weiter. Hof“ (Standort: seit 1906, Das Hotel konnte mit folgenden Vorzügen aufwar- heute: Hotel „Baseler Hof“) ten: „Erstklassiges Familienhotel in bester zentra- ler Lage der Stadt, große behagliche Gesellschafts-

Am 6. Oktober 1906 wurde in der Esplanade 11 – dem heutigen Hotel „Baseler Hof“ – das „Christliche Hospiz Baseler Hof“ eröffnet. Die finanziellen Mittel für den Bau des Hauses schenkte 1903 Frau Rudolf Schröder, geb. Freiin von Schröder. Wolfgang Tei- chert schreibt in seiner Chronik zum 100-jährigen Be stehen des Hotels „Baseler Hof“: „Wie ist aus dem Kellnerheim ein Familienbetrieb geworden? Nach dem Ende des 1. Weltkrieges sucht die ‚Stiftung Christ liches Kellnerheim‘ einen Sekretär. Beworben hatte sich der Schwabe Johann Jakob Kaltenbach [1881–1958].“383) Er hatte in England als Konditor und später als Chefkoch in einem vornehmen eng- lischen Hotel an der Küste gearbeitet. Mit seiner englischen Frau Daisy (1886–1945) kam er dann spä ter nach Hamburg. „Unter der Leitung der Familie Kaltenbach begann das Hotel zu florieren (…). Auf- grund des wirtschaftlichen Erfolges entschloss man sich 1927 zum Bau eines Mittelhauses in den Gärten zwischen der Fehlandtstraße und der Esplanade. Man wollte den Gästen den Luxus von fließend warmen Wasser auf allen Zimmern bieten. (…) 1930 wird der Bau fertig gestellt. (…) Die Betriebsergeb- Hotel „Baseler Hof“, 1907, aus: Wolfgang Teichert: nisse bis 1930 lesen sich glänzend. Man investierte Hotel Baseler Hof, Esplanade Hamburg: 100 Jahre nicht einfach neu, wie man es heute tun würde, Hotelgeschichte 1907–2007. Hamburg 2007.

383 Wolfgang Teichert: Hotel Baseler Hof, Esplanade Hamburg: 100 Jahre Hotelgeschichte 1907-2007. Hamburg 2007, S. 28. 384 ebenda. 274 ESPLANADE 11 · „Christlisches Hospiz Baseler Hof“ ESPLANADE 14, 15 und 16 · Bischofskanzlei im Sprengel Hamburg und Lübeck

räume, gute Küche, kein Trinkzwang, 225 Betten, Nach Kriegsende beschlagnahmte die Britische Mili- fließendes kaltes und warmes Wasser, Zentral-Hei- tärregierung das Hotel, um dort ihre Soldaten un- zung, Fahrstühle, Bäder, Staatstelephon.“385) terzubringen. Im September 1949 erhielt die Familie Bedingt durch die Weltwirtschaftskrise und die Mas- Kaltenbach das Hotel zurück. senarbeitslosigkeit verringerten sich ab 1931 die Ein- In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts musste das nahmen erheblich. Als dann die Nationalsozialisten Hotelgebäude abgerissen werden, weil das Funda- die Macht übernahmen, kam der Vorstand der Stif- ment durch das Absenken der Alster für den 1927 tung in Bedrängnis. 1941 wurde die Stiftung verbo- erfolgten U-Bahnbau, stark beschädigt worden war. ten und die „Liquidation des Vermögens verlangt. 1954 wurde mit dem Neubau begonnen, der ein Die Stiftung verabredet mit dem langjährigen Direk- Jahr später fertig hergestellt war. Weitere vier Jahre tor des ‚Baseler Hof‘ Johann Jakob Kaltenbach, in- später wurde das Gebäude an der Fehlandtstraße zwischen sechzig Jahre alt, dass er das Hotel für bis zur Decke des Erdgeschosses abgerissen und die ‚Dauer des tausendjährigen Reiches‘ als Privat- dort ebenfalls ein Neubau errichtet. vermögen führen soll. Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts wurde Die Bausubstanz der Vorderhäuser ist marode, das die Bezeichnung „Hospiz“ aus dem Namen gestri- Mobiliar abgenutzt und die Ertragslage so gut wie chen und stattdessen der Begriff „Hotel“ vor den nicht vorhanden: Allerdings sind die Tilgungs- und Namen „Baseler Hof“ gesetzt. Zinszahlungen für die Dauer des Krieges ausgesetzt, Auch heute noch ist der „Baseler Hof“, geleitet in und die Wehrmacht zahlt eine pauschale Miete für dritter Familiengeneration von Just Kleinhuis (geb. die Einquartierung von Soldaten. (…) Nunmehr war 1958), ein bewusst christliches Hotel. das Hotel zum Familienbetrieb geworden, der mit seiner Aufgabe als Wehrmachts- und Flakheim zu- rechtkommen musste“.386)

94. STATION rinnen unterstützt wurde. Außerdem sitzt in dem Ge bäude auch die Landeskirchliche Beauftragte für Esplande 14, 15 und 16 die Kontakte zur Freien und Hansestadt Hamburg, Die Bischofskanzlei im Sprengel Hamburg und Frau Dr. Elisabeth Chowaniec (geb. 1954). Lübeck (Standort: seit 2001); Maria Jepsen, Die Bischofskanzlei ist zuständig für alle Belange Bischöfin (20. Jh.); „Evangelische Akademie“ der Bischöfin bzw. des Bischofs – sie organisiert (Standort: bis 2003); „Christliche Akademie des Termine und beantwortet Anfragen, öffentliche Auf- Vereins Christlicher Hoteliere“ (VCH) (Standort: tritte der Bischöfin bzw. des Bischofs werden hier seit 2004) ebenso vorbereitet wie interne Sitzungen Baulich gehört das Haus mit den Nachbarhäusern Bischofskanzlei Nummer 15 und 16 zusammen. Alle drei wurden 1828/30 an der neu angelegten Prachtstraße Espla- In der Esplanade 14 befindet sich seit 2001 die Bi- nade zunächst als großbürgerliche Wohnhäuser schofskanzlei für den Sprengel Hamburg, der 2008 errichtet. Später wurden sie zu einem zusammen- zum Sprengel Hamburg und Lübeck erweitert hängenden Komplex umgebaut. Mitte des 20. Jahr- wurde. Hausherrin war bis zum 16.7.2010 Bischöfin hunderts kaufte die Hamburgische Landeskirche die Maria Jepsen [geb. 1945], die dort ihren Dienstsitz Gebäude und brachte verschiedene kirchliche Ein- hatte und bei ihrer täglichen Arbeit von einem klei- richtungen hier unter, zum Beispiel die Evangelische nen Stab aus Referenten, Mitarbeitern und Sekretä- Studentengemeinde.

385 Wolfgang Teichert, a. a. O., S. 30. 386 Wolfgang Teichert, a. a. O.; S. 32. ESPLANADE 14 · Bischofskanzlei im Sprengel Hamburg und Lübeck · Bischöfin Jepsen 275

Maria Jepsen: erste lutherische Bischöfin der Welt

Am 16.7.2010 trat Bischöfin Maria Jepsen von ihrem Amt zurück. Der Journalist Edgar S. Hasse schrieb dazu in der „Welt am Sonntag“ vom 18.7.2010 unter der Überschrift „Eine Enttäuschte tritt ab“ folgenden Artikel, der in dieser Stelle in schwach gekürzter Form wiedergegeben werden soll: „Maria Jepsens Amtszeit als Hamburgs Bischöfin fand am Freitagnachmittag im Raum 9 des Altonaer Dorothee-Sölle-Hauses ein jähes Ende. Zum Schluss war es ein Satz, mit dem sie die persönliche Konse- quenz aus den Entwicklungen der vergangenen Tage zog: ‚Hiermit erkläre ich meinen Rücktritt als Bischö- fin im Sprengel Hamburg und Lübeck.‘ Ausgerechnet ihr, die sich stets für die Rechte von Opfern und Minderheiten eingesetzt hat, wurde das offenbar unzureichende kirchliche Krisenmanage- ment im Fall sexuellen Missbrauchs zum späten Verhängnis. Dazu kam eine kritische Medienöffent- Esplanade 14: Sitz der Bischofskanzlei für den Spren- lichkeit, die auf eine schonungslose und zügige Auf- gel Hamburg und Lübeck. Gebäude erbaut um 1828/30. arbeitung von Fällen sexuellen Missbrauchs in der Photo: Thomas Kärst evangelischen und katholischen Kirche drängt. Die Bischöfin war verstärkt unter Druck geraten, Die Bischofskanzlei, die vorher in der Innenstadt nachdem die Schwester eines der Opfer sexuellen bei der Neuen Burg untergebracht war, wurde 2001 Missbrauchs eine eidesstattliche Erklärung über ihre an die Esplanade verlegt. In den Häusern 15 und Begegnung mit Jepsen Ende der 90er Jahre veröf- 16 war damals die „Evangelische Akademie“ an- fentlicht hatte. Demnach hatte sie die Bischöfin da- sässig. Sie wurde 2003 aus Kostengründen geschlos- mals sinngemäß über den sexuellen Missbrauch des sen, die Räumlichkeiten wurden an ein christliches Ahrensburger Pastors Dieter K. an Kindern und Ju- Hotel vermietet. gendlichen informiert. Jepsen habe daraufhin erklärt, Im Eingangsbereich der Bischofskanzlei schwebt sie wolle sich darum kümmern. ein hölzerner Engel, der Ende des 18. Jahrhunderts Pastor K. soll von Ende der 70er bis Mitte der 80er in Sachsen geschnitzt wurde. In seinen Händen trägt Jahre mehrere männliche und weibliche Jugendliche er die Inschrift „Friede auf Erden“. Unter diesem sexuell missbraucht haben. Der heute pensionierte Motto steht auch die Arbeit der Bischofskanzlei – Seelsorger war nach ersten Hinweisen 1999 aus der zur Verständigung und zum Frieden in der Stadt bei- Gemeinde genommen worden, hatte aber weiterhin zutragen. in der Jugendstrafanstalt Schleswig als Seelsorger Text: Thomas Kärst und an einem Ahrensburger Gymnasium als Religi- onslehrer gearbeitet. In den vergangenen Tagen hatten Vertreter der Opfer und Teile der Medien der Bischöfin vorgeworfen, den Fall letztlich vertuscht zu haben. Für Maria Jep- 276 ESPLANADE 14 · Bischöfin Jepsen ESPLANADE 15/16 · „Evangelische Akademie“

sen, die so viel Wert auf Authentizität und Integrität chelte leise. Auf diese Weise suchte Maria Jepsen legt, war damit das Maß der Erträglichkeit über- den Kontakt zu Börsianern und Unternehmern ge- schritten. ‚Meine Glaubwürdigkeit wird angezwei- nauso wie das seelsorgerliche Gespräch mit Ob- felt. Von daher sehe ich mich nicht in der Lage, die dachlosen und Aids-Kranken, mit Prostituierten und frohe Botschaft so weiterzusagen, wie ich es bei Waisenkindern. Sie sprach mit Hindus und Musli- meiner Ordination und bei meiner Bischofseinfüh- men, sie praktizierte als Bischöfin den interreligiösen rung vor Gott und der Gemeinde versprochen habe‘, Dialog aus tiefster Überzeugung. erklärte sie. Nachdem sie diese Erklärung auf der Als Prinzip ihres Führungsstils bezeichnete sie die eilends einberufenen Pressekonferenz verlesen hat- persönliche Präsenz. ‚Sprachfähig sein und zuhören te, nahm sie den Treppenaufgang im Dorothee-Sölle- können – das ist mir wichtig‘, sagte sie. Fast 18 Jahre Haus – und verschwand. lang war sie Bischöfin, mehr als ein Viertel ihrer Hamburg verliert mit diesem unter tragischen Um- Lebenszeit. Ihre Amtszeit war die bisher längste ständen herbeigeführten Rücktritt das weibliche Ge- aller evangelischen Bischöfe in Deutschland. sicht der Nordelbischen Kirche. Seit 1992 leitet die Bis zu 70 Stunden in der Woche arbeitete die Theo- inzwischen 65 Jahre alte Theologin den Sprengel login, die die hebräische Sprache liebt, gern Pfeife Ham burg – als weltweit erste lutherische Bischö- raucht und von 1972 bis 1990 Pastorin in den schles- fin. Das war damals eine Sensation und ein Signal wig-holsteinischen Gemeinden Meldorf und Leck war. da für, dass nun auch Frauen in der evangelischen Dass ausgerechnet sie als Hamburger Bischöfin se- Kirche herausragende Ämter übernehmen können. xuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen Sehr viele Augen richteten sich nach ihrer Wahl am in der Kirche habe vertuschen wollen – dieser Vorwurf 4. April 1992 im Hamburger Michel auf jene sanfte traf sie mitten ins Herz. ‚Es ist daher eine beson dere Feministin, die sich anschickte, die Männerdomäne Tragik, dass Bischöfin Jepsen mit ihrem Rück tritt Ver- in der Kirche zu brechen. In den Anfangsjahren antwortung für etwas übernimmt, dass ihr in keiner muss te sie häufig dem kirchenpolitischen Gegenwind Weise als persönliche Schuld angelastet werden kann aus konservativen Kreisen trotzen. So sorgte sie mit und darf‘, erklärte Bischof Gerhard Ulrich, Vorsitzen- ihrem Plädoyer für nichteheliche Lebensgemeinschaf- der der Kirchenleitung, nach ihrem Rücktritt. ten (‚Homosexualität ist weder sündhaft noch krank- Die Lücke, die ihr Rückzug von diesem Amt in die haft‘) für heftige Irritationen im bibeltreuen Flügel. Nordelbische Kirche reißt, ist groß. Die Kirche zwi- Einer ihrer schärfsten Kritiker war der Eppendorfer schen den Meeren wurde durch Maria Jepsen weib- Pastor Ulrich Rüß, Vorsitzender der Kirchlichen licher, toleranter, moderner, politischer und sozialer Sammlung um Bibel und Bekenntnis in Nordelbien. – und damit für viele konservative Kirchenmitglieder Nach dem Rücktritt würdigte der lutherische Geist- auch unverbindlicher. (…)“387) liche Maria Jepsen jetzt so: ‚Bei aller Kritik und theo- logisch kontroverser Standpunkte habe ich immer Esplanade 15/16: „Evangelische Akademie“ die außergewöhnliche Menschlichkeit und Integrität von Bischöfin Jepsen geschätzt.‘ Viele Jahre bis 2003 hatte die „Evangelische Aka- Tatsächlich war sie, die in den vergangenen Jahren demie“ hier ihren Sitz. Heue befinden sich im Erd- immer zerbrechlicher zu wirken schien, stets eine und Obergeschoss die „Baseler Hof Säle“: Festsäle Zuhörende, eine Seelsorgerin. Ihren Sprengel leitete für Feierlichkeiten und Tagungen. sie nicht mit harter Hand, sondern im Dialog. Ihre 2006 wurde die „Evangelische Akademie“ neu eröff- Sprache war nicht klerikal, theologisch abgehoben, net, nun ohne eigenes Haus und ohne eigenen Mit- sondern verständlich. arbeiterstab. Ihr Auftreten im öffentlichen Raum inszenierte sie Auch die „Landeszentrale für politische Bildung“ nicht. Sie kam, gern auch in lila Kleidern, und lä- hatte in den Räumen der „Evangelischen Akademie“

387 abgedruckt mit freundlicher Ge- nehmigung der Redaktion „Welt am Sonntag“: Edgar S. Hasse: Eine Enttäuschte tritt ab. In: Welt am Sonn- tag, Nr. 29, 18. Juli 2010, S. 5. ESPLANADE 15/16 · „Evangelische Akademie“ · „Christliche Akademie des Vereins Christlicher Hoteliere“ (VCH) 277 ESPLANADE 23 · R. Putziger Verlag

– besonders im dortigen „Gartensaal“ – öfter Ver- eine „Christliche Akademie“. Die Akademie ist eine anstaltungen durchgeführt, so z. B. 1998 einen Vor- transkonfessionelle gemeinnützige „Denk-, Förder- tragsabend zum Thema „Israel“, und im selben Jahr und Fortbildungseinrichtung des VCH.“ Sie führt gemeinsam mit dem „Landesfrauenrat Hamburg“ z. B. gemeinsame Mahlzeiten, Reisen und Veran- eine Podiumsdiskussion mit Politikerinnen zum staltungen durch. „So ist der letzte Montag im Mo- Thema „Frauenpolitik in Hamburg“. nat (...) zur ‚Institution‘ geworden. ‚Lebenswerte‘ heißt der Treffpunkt, eine Mischung aus Gespräch, Esplanade 15/16: „Christliche Akademie des Kurzreferat und philosophischem Austausch. Von Vereins Christlicher Hoteliere“ (VCH) ‚Gastfreundschaft‘ bis ‚Zufriedenheit‘ reicht das Ta- bleau, aber auch so schwierige und im Alltag eher Im August 2004 gründeten Just Kleinhuis und Niko - nicht angesprochene Themen, wie ‚Wahrheit‘ und laus Kaiser für den „Hotelverband der Christlichen ‚Sinn‘ stehen auf der Tagesordnung“,388) schreibt Hoteliers e.V.“, Deutschlands ältestem Hotelver- Wolfgang Teichert in seinem Buch über das Hotel band, in dem heute ca. sechzig Hotels Mitglied sind, Baseler Hof.

heit ein täglich stärker werdendes Kampforgan für 95. STATION die Verwirklichung eines wesentlichen Teiles derje- Esplanade 23 nigen Menschenrechte, die allen Bürgern durch das Redaktionsräume des R. Putziger Verlages, He- Grundgesetz zugebilligt sind (…). Unsere Zeitschrift rausgeber der Homosexuellenzeitschrift „Die Insel, Monatsblätter für Freundschaft und Tole- ranz“ (Standort: 1951–1952)

Im Kontorhaus „Esplanaden-Hof“ an der Ecke Es- planade/Colonnaden hatte die Redaktion der Zeit- schrift „Die Insel“ ihr Büro. „Die ab 1950 erscheinenden Freundschaftszeitschrif- ten erfüllten vielfältige Funktionen: An oberster Stelle stand der Kampf gegen den § 175 StGB. Sie informierten über den Stand der Diskussion, über die Reformierung und Abschaffung des Strafrechts- paragrafen, über Prozesse sowie über das Verhalten bei Erpressungen. Zudem gaben sie Auskunft über verschiedene Veranstaltungen und Adressen von Freundschaftslokalen; sie waren Ratgeber und tru- gen dazu bei, das Gefühl der Isolierung vieler homo- sexueller Männer zu überwinden. Diesem Ziel dienten auch die zahlreichen Kontaktanzeigen. Aus einem Leserbrief von H. Dohm an ‚freund‘: ‚Allein Esplanade 23: Kontorhaus „Esplanaden-Hof“. Hier be- die Tatsache, dass wir Homosexuellen eine Zeit- fanden sich in den 50er Jahren des 20. Jh. die Redakti- schrift haben und uns aussprechen dürfen, ist ver- onsräume der Homosexuellenzeitschrift „Die Insel“. heißungsvoll für die Zukunft. ‚freund‘ ist in Wahr- Photo: Marina Bruse

388 Wolfgang Teichert: Hotel Baseler Hof, Esplanade Hamburg: 100 Jahre Hotelgeschichte 1907–2007. Hamburg 2007, S. 138. 278 ESPLANADE 23 · R. Putziger Verlag STEPHANSPLATZ 10/ECKE ESPLANADE · „Hotel Esplanade“

bedeutet für jeden ihrer Leser eine kräftige seelische angepriesenen Fotoserien und Fotobänden aus dem Stützung im Daseinskampf. Viele Leser haben durch eigenen Verlag und am Versandbuchhandel. (…) ‚freund‘ neuen Lebensmut geschöpft. Das Gefühl, Anders als die genannten Periodika, deren Lebens- nicht allein zu stehen und in unserer gerechten zeit kurz bemessen war und nicht selten nur wenige Sache Vorkämpfer und Verbündete zu haben, ist für Monate betrug, gab es die Monatsschrift ‚Der Weg jeden Homoeroten von unschätzbarem Wert.‘389) zu Freundschaft und Toleranz‘ fast 18 Jahre lang Die Zeitschriften enthielten Texte, die zum Nach- von September 1952 bis Anfang 1970. denken anregen oder unterhalten wollten. (…) Gegründet wurde diese Zeitschrift im November 1951 Zielgruppe der im Folgenden genannten Zeitschrif- unter dem aus der Weimarer Republik bekannten Na- ten waren – ausgenommen ‚Aphrodite‘ als Beilage men ‚Die Insel‘. Herausgegeben wurde sie zu nächst für Frau en zum ‚Ring‘ – nahezu ausschließlich vom Verlag ‚Die Insel‘, seit Dezember 1951 vom Verlag homosexu elle Männer. Im Unterschied zur Weima- Rolf Putziger [geb. 1926] in Hamburg. Verleger, He- rer Republik wurden sie alle in Hamburg herausge- rausgeber und Redakteur war Dr. Rolf Putziger. Hieß geben, wodurch Hamburg die ‚homosexuelle Pres- die Zeitschrift mit vollem Titel zunächst ‚Die Insel – sehauptstadt‘ Deutschlands wurde und bis Mitte Monatsblätter für Freundschaft und Toleranz‘, so än- der 50er Jahre blieb. Bis auf die Zeitschrift ‚Der derte sie diesen im Juni 1952 in ‚Die Insel der Freund- Weg‘ stellten alle anderen ihr Erscheinen nach re- schaft und Toleranz. Monatsschrift‘. Ab Februar 1952 lativ kurzer Zeit, manchmal schon nach wenigen vermerkte der Titel zudem ‚Bundesorgan des Welt- Ausgaben, wieder ein. (…) bundes für Menschenrechte angeschlossen Interna- Als erste westdeutsche Homosexuellenzeitschriften tionale Freundschaftsloge (IFLO)‘ zu sein. ‚Der Weg‘, erschienen 1950 ,Die Freundschaft‘ und 1951 ,PAN‘, als Nachfolgezeitschrift, übernahm bis Mai 1953 diese ,Die Freunde‘ und ,Die Insel‘. ,Die Freundschaft‘ Funktion als Bundesorgan.“ und ,Die Insel‘ knüpften an Vorgängerzeitschriften Text mit freundlicher Genehmigung der Autoren aus: gleichen Namens der Weimarer Republik an. ,Die Bernhard Rosenkranz, Gottfried Lorenz: Hamburg Insel‘ war damals eine auflagenstarke Zeitschrift auf anderen Wegen. Die Geschichte des schwulen (150000 Exemplare monatlich) (…). Lebens in der Hansestadt. 2. überarb. Aufl., Hamburg 2006, S. 80, S. 319 und S. 85. Die Verlage waren vielfach Ein- oder Zweimannbe- triebe. Nennenswerte Gewinne warfen sie nicht ab; verdient wurde vermutlich an den in den Zeitschriften

96. STATION „Hotel Esplanade“

Stephansplatz 10/ Gegenüber dem Haus Esplanade 23 steht das Ge- Ecke Esplanade bäude des ehemaligen „Hotel Esplanade“. Seit 2006 „Hotel Esplanade“ (Standort: 1908–1939); residiert hier die „Spielbank Hamburg“ mit ihrem „Staatskommissar für die Ausschaltung von Na- Spielkasino. tionalsozialisten“ (unmittelbare Nachkriegszeit); 1906 waren die Häuser Stephansplatz 10–12 („Meyers „Esplanade-Theater“ (Standort: 1948–1982); Hotel“) und Esplanade 32–36, die 1827 nach Zeich- „Spielbank Hamburg“ mit Spielkasino, Restau- nungen des Stadtbaumeisters Carl Ludwig Wimmel rationsbetrieb und Bar (Standort: seit 2006) (1786–1845) erbaut worden waren, abgerissen wor- den, um das „Hotel Esplanade“ zu errichten. „Die Schauseite dieses vornehmen Hotels ist in französi- schem Barockstil aus rheinischem Tuffstein aufge-

389 Goodbye to Berlin? 100 Jahre Schwulenbewegung. Hrsg. Schwules Museum Berlin und Akademie der Künste Berlin. Berlin 1997, S. 196. STEPHANSPLATZ 10/ECKE ESPLANADE · „Hotel Esplanade“ · „Staatskommissar für die Ausschaltung von Nationalsozialisten“ 279

Tafel erinnert an den in Hamburg-Barmbek geborenen Komponisten, Arrangeur und Bandleader.

„Staatskommissar für die Ausschaltung von Nationalsozialisten“

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte während der Zeit der britischen Militärregierung die Senatskom- mission „Staatskommissar für die Ausschaltung von Nationalsozialisten“ ihren Sitz im ehemaligen „Hotel Esplanade“. Gut zwei Monate nach der militärischen Zerschla- Stephansplatz 10/Ecke Esplanade: Im 19. Jh. stand dort, gung des „Dritten Reiches“ tagte vom 17. Juli bis wo heu te die „Spielbank Hamburg“ residiert, „Meyer’s zum 2. August 1945 auf Schloß Cecilienhof bei Pots- Hotel“. Links im Hintergrund ist der alte Dammtorbahn- hof zu sehen. Postkarte. dam die Potsdamer Konferenz der „Großen Drei“: Harry S. Truman (1884–1972), Josef W. Stalin (1879– 1953) und Winston Churchill (1874–1965). Als Er- führt; in Betrieb kam das von der Deutschen Hotel- gebnis formulierte das Potsdamer Abkommen für Aktiengesellschaft errichtete Gebäude Anfang April die vier Besatzungszonen gemeinsame program- 1908; es enthält außer Festräumen und dem Wirt- matische Zielsetzungen, die ein Alliierter Kontrollrat schaftsbetrieb 35 Wohn- und 80 Schlafzimmer mit zeitnah umsetzen sollte. Neben Demilitarisierung, zusammen 125 Betten. Ende 1915 wurde das Hotel, Dezentralisierung und Demokratisierung ging es das angeblich 7,7 Millionen Mark gekostet hatte, da den Alliierten vor allem um eine umfassende Dena- es keinen Nutzen abwarf, für 2,2 Millionen Mark zifizierung Deutschlands, das heißt, die deutsche verkauft, die Festräume sind zum Kaffeehaus ‚Espla- und österreichische Gesellschaft sollte in allen Be- nade‘ eingerichtet“,390) schrieb Wilhelm Melhop 1923 reichen von nationalsozialistischen Einflüssen ge- in seiner „Historischen Topographie der Freien und säubert, aus Politik, Ökonomie, Jurisdiktion, Kultur Hansestadt Hamburg“. Und Udo Pini berichtet in sei- und Presse sollten sämtliche Nationalsozialisten ent- nem Buch „Zu Gast im alten Hamburg“: „Die Besitzer fernt werden. NS-Organisationen wurden verboten, wechselten fortan. (…) Aber von Platz zwei unter NS-Gesetze aufgehoben, jede Erinnerung an das den Ersten vor dem Krieg rutschte das ‚Esplanade‘ „Dritte Reich“ in der Öffentlichkeit untersagt. Aller- langsam aber sicher ab, nur 1936 fing Martha Langer dings enthielt das Abkommen kein einheitliches [1884–1973] vom ‚Reichshof‘ den Trend für kurze Verfahren für alle Besatzungszonen, so dass jede Zeit ab. Oben lockte nun ein ‚Kabarett Esplanade‘, Be satzungsmacht in ihrer Zone nach eigenen Prä- im Keller eröffnete sie die Tanzbar ‚Tarantella‘, die missen und mit unterschiedlicher Härte agierte. immer nach dem Derby komplett für den Sommer Während sich 22 führende Repräsentanten des NS- nach Westerland verlagert wurde. In der ‚Tarantella‘ Regimes seit dem 20. November 1945 vor dem In- lockte Horst Winters Band [Horst Winter: 1914–2001] ternationalen Militärtribunal in Nürnberg verant- ungeniert mit Swing, sie war auch im Krieg gut be- worten mussten (gegen zwölf von ihnen wurde am sucht.“391) 1939 ging das Hotel in Konkurs. Nach 1. Oktober 1946 die Todesstrafe verhängt), diente dem Zweiten Weltkrieg begann in der „Tarantella den Besatzungsmächten zur Einschätzung der deut- Bar“ die musikalische Karriere von Bert Kaempfert schen Bevölkerung ein fünf Kategorien umfassendes (1923–1980). Eine, von der Patriotischen Gesellschaft, Grobraster: Hauptschuldige, Belastete, Minderbelas- am Eingang zur heutigen Spielbank angebrachte tete, Mitläufer und Entlastete. In einem 131 Fragen

390 Wilhelm Melhop: Historische Topographie der Freien und Hansestadt Hamburg. Hamburg 1923, S. 111. 391 Udo Pini: Zu Gast im alten Ham- burg. Hamburg 1997, S. 72. 280 STEPHANSPLATZ 10/ECKE ESPLANADE · „Staatskommissar für die Ausschaltung von Nationalsozialisten“

umfassenden Fragebogen hatte jeder erwachsene außen am Leben erhalten werden musste, wenn es Deutsche sein Verhältnis zum Nationalsozialismus nicht gelang, über die politische auch die wirtschaft- offenzulegen. Ein Verfahren, das einen enormen liche Lage zu stabilisieren. Praktisch bedeutete das: bürokratischen Aufwand bedeutete, ohne von den keine Experimente, sondern politischer Pragmatis- Deutschen, die sich nach Kriegsende kaum noch mus auf einer Ebene, die es möglichst vielen Deut- zum Nationalsozialismus bekannten, akzeptiert zu schen ermöglichen sollte, ihren Frieden mit einer werden. Zudem zeigte sich schnell, dass eine wirk- demokratisierten Gesellschaft zu machen. lich umfassende Entnazifizierung, die alle National- Um nicht einen Großteil der deutschen Bevölkerung sozialisten aus ihren Funktionen entfernt, interniert vom politischen Leben auszuschließen, lag es nahe, und bestraft hätte, in der Praxis kaum durchführbar die Hürde für eine Beteiligung an der verordneten war. Zum einen existierte in Deutschland keine aus- Demokratie nicht zu hoch zu bauen. Zunächst galt reichend große Ersatzelite, die durch ihre Distanz es, exponierte Nationalsozialisten ihrer Funktionen zur NS-Herrschaft nicht diskreditiert war, zum an- zu entheben, was in Hamburg bis zum Herbst 1945 deren war insbesondere Großbritannien angesichts mit der Entlassung einiger Tausend Beamten und Angestellten aus der öffentlichen Verwaltung ge- schah (siehe zum Thema „Öffentlicher Dienst in der NS-Zeit“ S. 75), und einige Hundert besonders belastete Funktionäre zu internieren. Nach Angaben der Militärregierung lag die Zahl der Entlassenen in Hamburg-Mitte August 1945 bei 6,4 Prozent (ca. 2800 von insgesamt 43 330 Personen), wobei der Anteil unter den höheren Beamten mit ca. 20 Prozent deutlich höher ausfiel. Annähernd 200 000 Personen waren 1946 in den drei Westzonen interniert und war teten auf ihre Verfahren vor den Spruchkam- mern. Dabei diente in Hamburg das Gelände des 1906 wurden die Häuser Stephansplatz 10–12 und ehemaligen Konzentrationslagers Neuengamme zur Esplanade 32–36 abgerissen und das Gebäude für das Unterbringung der Häftlinge, bei denen es sich vor „Hotel Esplanade“ erbaut. Photo: Marina Bruse allem um höhere Funktionäre der NSDAP und ihrer zahlreichen Unterorganisationen handelte. Bis zum seiner kriegsbedingt gebeutelten Ökonomie und der 1. Ja nuar 1947 war knapp die Hälfte wieder entlas- hohen Besatzungskosten daran gelegen, den Zeit- sen, wobei das verhängte Strafmaß in der Regel mit raum der Besatzung möglichst kurz und die Zahl der Internierungszeit abgegolten war. Zu diesem seiner Truppen möglichst gering zu halten, um – Zeit punkt wurde die amerikanische und britische wie es Churchill formulierte – in Deutschland nicht Be satzungszone zum „Vereinigten Wirtschaftsge- auf Dauer „an einen Leichnam gefesselt zu sein“. biet“ der „Bizone“ zusammengefasst. Für die Briten Immerhin hatten die Briten mit knapp 23 Millionen Anlass genug, die meisten staatlichen Tätigkeiten, Einwohnerinnen und Einwohnern nicht nur die be- wie z. B. die Fortführung der Entnazifizierung, an völkerungsreichste, sondern auch die am wenigsten deutsche Stellen zu übergeben und sich künftig auf zur Selbstversorgung fähige Besatzungszone über- deren Kontrolle zu beschränken. Ein Jahr später war nommen, wobei Hamburg als größte Stadt mit 1946 die Entnazifizierung im britischen Einflussbereich wieder mehr als 1,4 Millionen Einwohnerinnen und faktisch beendet. Ausgenommen waren lediglich Einwohnern ein besonderes Versorgungsproblem Verfahren, die vor dem 1. Januar 1948 eingeleitet darstellte. Insgesamt ein Gebiet, das langfristig von oder zur Wiederaufnahme – etwa wegen erwiesener STEPHANSPLATZ 10/ECKE ESPLANADE · „Staatskommissar für die Ausschaltung von Nationalsozialisten“ 281 Das „Esplanade-Theater“

Fragebogenfälschung – zugelassen worden waren. Gedanken darüber gemacht habe, ob das politische Nach Auffassung der Militärregierung war der größte Führerkorps bei verbrecherischen Maßnahmen mit- Teil der ehemals aktiven Nationalsozialisten seiner wirkte. Nach der Urteilsverkündung schrieb die Ämter enthoben und bestraft. Eine abschließende „Hamburger Freie Presse“: „Am Sonntagmittag aß Statistik der Entnazifizierung in Hamburg legt aller- Herr Krogmann noch im Uhlenhorster Fährhaus zu dings andere Vermutungen nahe. Betrug die Zahl Mittag, herzlich begrüßt von zahlreichen Gästen. Er der insgesamt bearbeiteten Fälle 327157, so lag die wusste wohl, dass ihm nicht viel bevorstand.“ Zahl der „Entlasteten“ bei 131119, die der „Mitläu- Text: Joachim Szodrzynski fer“ bei 15 052 und die der „Minderbelasteten“ bei 1084. Als „unbelastet“ galten 179 902 Personen. Die Statistik wurde dadurch verzerrt, dass die Militärre- Das „Esplanade-Theater“ gierung auch Zuordnungen in die beiden ersten Gruppen („Hauptschuldige“ und „Belastete“) vorge- Im Nachkriegsjahr 1948 wurde der ehemalige Tanz- nommen hatte, deren Gesamtzahl jedoch nicht ver- saal des Esplanade-Hotels zu einem Luxus-Kino um- öffentlichte. Als Beispiel dafür, welche milden gebaut. Nicht weit davon entfernt, in der Dammtor- Maßstäbe bei der „Entnazifizierung“ im Zeichen des straße, gab es bereits das „Waterloo-Theater“ (siehe heraufziehenden Kalten Krieges Verwendung fanden S. 27): Dessen Betreiber, Heinz B. Heisig (1899– und die Verfahren in den Augen etlicher Zeitgenos- 1984), suchte schon seit einiger Zeit nach einer wei- sen endgültig zur Farce machten, mag der Prozess teren Abspielstätte, insbesondere für die von ihm gegen den ehema ligen Hamburger Bürgermeister, be vorzugte anspruchsvolle Kinokost. Zudem spielte Carl Vincent Krog mann (1889–1978), vor der Spruch - er offenbar mit dem Gedanken, wie auch in der kammer in Bie lefeld dienen, der am 14. April 1948 Vorkriegszeit, wieder „Internationale Filmtage“ in begann. Krog mann, angeklagt in seiner Eigenschaft Hamburg zu veranstalten. Dafür brauchte er das als Mitglied des Korps der Politischen Leiter, verstand neue „Espla nade-Theater“ als zusätzliches Urauf- es, seine Befugnisse und Kenntnisse während der führungskino. NS-Herrschaft zu bagatellisieren, indem er dem ehemaligen Gauleiter und Reichsstatt- halter von Hamburg, Karl Kaufmann (1900– 1969), die alleinige Verantwortlichkeit zu- schrieb. Der Prozess endete mit der Verurtei- lung zu einer Geldstrafe von 10 000 Reichs- mark, die durch die Internierungshaft als verbüßt galt. Obwohl es das Gericht für erwiesen hielt, dass Krogmann erhebliche Kenntnisse von den Verbrechenskomplexen Judenverfolgung und Verfolgung politischer Gegner hatte, hieß es in der Urteilsbegrün- dung, man habe ihm unter Würdigung seiner einwandfreien Persönlichkeit, seines Werde- gangs und seiner Tätigkeit eine entehrende Freiheitsstrafe ersparen können. Nach Über- zeugung des Gerichts habe der Angeklagte Vor dem „Esplanade-Theater“. 1948 war der ehemalige Tanz- auch mannhaft zugegeben, was er wusste. saal des „Hotel Esplanade“ zu einem Luxus-Kino umgebaut Es sei möglich, dass er sich keine besonderen worden. Staatsarchiv Hamburg, Plankammer 282 STEPHANSPLATZ 10/ECKE ESPLANADE · Das „Esplanade-Theater“

Ganzen den gewünschten festlichen Charakter. Das Kino besaß sogar eine Café-Bar mit eigenem Winter- garten. Bei der Vorstellung der Räumlichkeiten am 17. August 1948 für Presse und geladene Gäste be- tonte Heisig in der Eröffnungsansprache seine an- gestrebten Ziele: „Das Programm des Esplanade- Theaters wird also zu einem großen Teil Filmwerke aufweisen, die zu betrachten und besprechen sich lohnt, auch wenn ihnen vielleicht das Dekor großer Stars und des großen Aufwandes fehlen sollte. Da- rüber hinaus soll in diesem Theater die Anonymität des Betrachters gelegentlich fallen. Ich plane ge- schlossene Veranstaltungen, vornehmlich für den Der Kinosaal im „Esplanade-Theater“ hatte 500 Sitz- Sonntagvormittag, an denen wir die Diskussionen plätze. Die Innenausstattung gestaltete der renno- zwischen Herstellern, Schauspielern, Journalisten mierte Hamburger Architekt Cäsar Pinnau. und Publikum haben werden. Es sollen in diesem Photo: Janke. Staatsarchiv Hamburg Rahmen nicht nur die Produzenten ihren Film ver- teidigen oder erläutern, sondern auch Kritiker und Zuschauer ihre Ansicht und ihr Urteil.“ Zum speziellen Profil des „Esplanade-Theaters“ ge- hörte die französische Filmkunst. Und wenn es ihm auch nicht in vollem Umfang möglich war, den ge- wünschten Austausch zwischen Publikum und Film- schaffenden in Gang zu bringen, so gelang es Heisig zusammen mit seinem Geschäftsführer Alfred Goer- lich (1912–1956) doch in den folgenden Jahren, viele deutsche und ausländische Filmschaffende zu glanz- vollen Premieren nach Hamburg zu holen: Regisseure und Schauspieler wie O. W. Fischer (1915–2004), René Clair (1898–1981), Julien Duvivier (1896–1967), Jac- ques Becker (1906–1960) und (1889– 1963). Spektakulär war auch die umstrittene Premie- 1950: Premierenfeier im 1948 eröffneten und 1982 re des Willi-Forst-Films (1903–1980) „Die Sünde rin“ geschlossenen „Esplanade-Theater“ mit Jean Cocteau mit Hildegard Knef (1925–2002) Ende Januar 1951, zum Film „Orphée“. Photo: Janke. Staatsarchiv Hamburg bei der nur die Polizei einen ordnungsgemäßen Ab- lauf der Veranstaltung durch Absperren der gesamten Der renommierte Hamburger Architekt Professor Esplanade und Zurückdrängen der wütenden, gegen Cäsar Pinnau (1906–1988) setzte seine große Erfah - den „sittlich wie moralisch bedenklichen“ Film De- rung und Liebe zur räumlichen Struktur und Ausge- monstrierenden garantieren konnte. staltung beim Ausbau der Innenräume ein. Der neo- Kassenschlager waren im „Esplanade-Theater“ Werke klassizistische Stil mit barocker Stuckarchitektur wie die „Kinder des Olymp“, mit einer Spielzeit von (aus Gips) des zunächst ohne Rang knapp 500 Plätze über drei Monaten, oder „Das Haus von Mon te vi - umfassenden Saales war einmalig für einen Licht- deo“, welches nach mehr als fünfzehn Wochen Re- spieltheaterbau in der Hansestadt und verlieh dem kordspielzeit und 396 Vorstellungen mit einer beson- STEPHANSPLATZ 10/ECKE ESPLANADE · Das „Esplanade-Theater“ 283 ESPLANADE 37 · Emma Alessandra, gen. Henriette Lazarus

deren Plakette gewürdigt wurde. Auch die Zwangs- Rettung des Nobelkinos von über 1100 Hamburge- versteigerung des Phrix-Gebäudes 1951 und der rinnen und Hamburgern, unter Führung des Spre- plötzliche Tod des Geschäftsführers Goerlich 1956 chers der Ärztekammer, Dieter W. Schmidt (1935– konnte dem Erfolg des „Esplanade-Theaters“ keinen 2005) („Das einzige Kino, wo man sich noch gut an- Abbruch tun. Mitte der fünfziger Jahre wurde das zieht“), war zum Scheitern verurteilt: Die Drohung Kino für „CinemaScope“-Breitleinwandfilme umge- der Bank, Arbeitsplätze aus Hamburg zu verlagern, rüstet, wodurch man hoffte, den Kampf gegen das zeigte Wirkung und verhinderte eine Unter-Denk- aufkommende Fernsehen und die allgemeine Kino- malschutz-Stellung. Am 22. August 1982 öffnete müdigkeit der Bevölkerung aufnehmen zu können. sich mit der 23.15 Uhr-Vorstellung von Luchino Vis- Das Niveau wurde gehalten, weiterhin kamen Stars contis (1906–1976) „Tod in Venedig“ zum letzten wie Yves Montand (1921–1991) („Das Geständnis“, Mal der Vorhang. „Die Welt“ schrieb in ihrem Nach- 1970) oder Sergio Leone (1929–1989) („Spiel mir ruf auf Hamburgs schönstes Kino: „Erst beides zu- das Lied vom Tod“, 1972). 1973 wurde im ehemali- sammen, die gepflegte Atmosphäre (hier legte kein gen Wintergarten ein zweiter Saal eingerichtet, das Zuschauer die Füße auf die Lehne) und das kulti- „Intime im Esplanade“ (91 Plätze). Ein bei den Bau- vierte Programm, hatten dem Esplanade sein Stamm - arbeiten im Dachstuhl ausgebrochenes Feuer führte publikum verschafft, das nach der Schließung ‚sei- zum Einsturz der großen Glaskuppel im Foyer und nes‘ Kinos wohl kaum in die ‚Zigarrenschachteln‘ schweren Schäden am Kinosaal, so dass erst am mit den Action-Filmen abwandern, sondern gar nicht 17.4.1974 der Spielbetrieb wieder aufgenommen mehr ins Kino gehen wird.“ Einige Jahre später, im werden konnte. Zeitalter moderner EDV-Technik, wurde das riesige Da die Zentralkasse der Norddeutschen Volksban- Rechenzentrum Ende der 1990er Jahre überflüssig ken, der das Haus seit 1972 gehörte und in dem es und die Räumlichkeiten schließlich an die „Spiel- seine Büros untergebracht hatte, Anfang der achtzi- bank Hamburg“ veräußert. Im hinteren Bereich des ger Jahre Platz für weitere Büroflächen und den Aus- im November 2006 eröffneten Kasinos befindet sich bau des bankinternen Computer-Rechenzentrums der „Spiegelsaal“, in dem die noch erhaltenen Teile be nötigte, wurde der Vertrag zum Betrieb des Kinos der alten Stuckdecke aus dem Esplanade, aufwendig gekündigt – und das trotz 150 000 Zuschauenden restauriert und integriert wurden. allein im Jahre 1981! Auch ein letzter Versuch zur Text: Michael Töteberg/Volker Reißmann

„der Dreimaster“ genannt wurde, ein offenes Haus. 97. STATION Ein lebendiges Bild dieses Salons vermittelt der Kri- Esplanade 37 tiker der „Hamburger Nachrichten“ Ferdinand Pfohl Emma Alessandra, gen. Henriet - (1862–1949), der durch Gustav Mahler (1860–1911) te Lazarus, Saloniere (19. Jh.) dort eingeführt wurde, in seinem Erinnerungsbuch: „Im ersten Monat meiner Anwesenheit in Hamburg, im November 1892, begegnete ich Mahler einmal Von den von Carl Ludwig Wimmel (1786–1845) an auf dem Jungfernstieg, er sagte zu mir: ‚Haben Sie der Esplanade erbauten klassizistischen Gebäuden schon Beziehungen zur Hamburger Gesellschaft? Es ist nur noch das Haus mit der Hausnummer 37 er- wird Sie sicherlich ebenso interessieren wie es Ihnen halten. Hier führte Dr. Emma Alessandra, gen. Hen- erwünscht sein muss, Fühlung mit den gebildeten riette Lazarus, geb. Schiff (14.8.1834–13.9.1903), Kreisen dieser Art zu finden. Ich werde Sie bei eini- die zusammen mit ihren unverheirateten Schwes- gen dieser Familien einführen. Zuerst bei Frau Dr. tern Schiff in der Hamburger Gesellschaft scherzhaft La zarus, der ich schon von Ihnen gesprochen habe. 284 ESPLANADE 37 · Emma Alessandra, gen. Henriette Lazarus ESPLANADE 39 · Charlotte Embden, Schwester Heinrich Heines

Hamburg, die in dieser Republikstadt fast die Ehren einer Fürstin genießt. Fast alle großen durchreisen- den Künstler pflegen im Salon der schöngeistigen Frau und ihrer beiden unverheiratet gebliebenen Schwes tern Schiff einzukehren.‘ Nachdem ich in dem ebenso reichen wie gastfreien Haus auf der Esplanade Nr. 37 den Damen meinen Esplanade Nr. 37. Von Besuch gemacht hatte, war ich dort zusammen mit den von Carl Ludwig Mahler ständiger Gast der opulenten Gastmahle und Wimmel an der Esplana - de erbauten klassizis - der lebendigen und temperamentvollen Abendge- tischen Gebäuden ist sellschaften, jederzeit mit größter echt österreichi - nur noch das Haus Nr. 37 scher Liebenswürdigkeit aufgenommen, immer will- erhalten. Hier lebte im kommen. 19. Jh. Henriette Lazarus mit ihrer Familie. Ich pflegte nach Opernaufführungen, denen ich bei- Photo: Marina Bruse gewohnt hatte, Mahler am Bühneneingang in Emp- fang zu nehmen und dann wandelten wir hinüber Ich habe der außerordentlich geistvollen und klugen auf die Esplanade, erschienen bei den Damen und Frau den Mund nach Ihnen schon wässrig gemacht. erquickten uns mit einer Tasse Tee, entzückenden Sie werden da ein entzückendes Haus auf der Es- Kaviar- und Lachsbrötchen und ähnlichen Lecker- planade kennen lernen. Sie werden dort die geist- bissen, mehr noch an dem geistvollen Gespräch, vollsten Menschen von Hamburg treffen: Hans von das dort das österreichische Temperament der drei Bülow [1830–1894), Julius Rodenberg (1831–1914) Damen immer fesselnd, immer geistreich zu führen aus Berlin, der Schwager der Frau Dr. Lazarus, einer wusste. Mehr als einmal geschah es, dass sich Mah- verwitweten Dame, die aus Triest stammt, in der Sie ler im Musiksalon an den Flügel setzte und die ‚Ham - also eine österreichische Landmännin finden wer - merklavier Sonate‘ Beethovens oder eine der letzten den; auch Toni Petersen [siehe S. 254] ist regelmäßig Sonaten in der ihm eigentümlichen sachlichen Dar- dort, eine alte überaus geistvolle Freundin Hans stellung zum Vortrag brachte.“392) von Bülows, die Tochter des Bürgermeisters von Text: Brita Reimers

Lud wig Wimmel (1786–1845) mit klassizistischen 98. STATION Gründerzeithäusern einheitlich bebauten Nordseite Esplanade 39 der Esplanade gehörte, das aber 1958 abgerissen wur- (alte Nummerierung) de. Anstelle des hochherrschaftlichen Embden-Pa- Charlotte Embden, Schwester lais’ mit seiner antiken Tempelfront wurden an die- und Unterstützerin Heinrich ser Stelle zweckmäßige Hochhäuser gebaut. Heines (19. Jh.) Charlotte Embden war 1820, nachdem ihr kranker Vater, der Kaufmann Samson Heine (1764–1828), in Düsseldorf bankrott gemacht hatte, mit ihrer Mutter Heinrich Heines (1797–1856) Schwester Charlotte Betty Heine, geb. von Geldern (1771–1859), nach Emb den, geb. Heine (18.10.1800/1804–14.10.1899), Ham burg gezogen. Hier lernte sie ihren zukünftigen wohnte mit ihrem Mann Moritz (1789–1866), einem Mann kennen, den sie drei Jahre später heiratete. reichen Textilkaufmann, und ihren gemeinsamen Heinrich Heine, der seine Schwester in seinen Schrif- vier Kindern in einem Haus, das zu der von Carl ten erwähnt, war oft Gast im Hause Embden. Char-

392 Ferdinand Pfahl: Gustav Mahler. Eindrücke und Erinnerungen aus den Hamburger Jahren. Hrsg. von Knud Martner. Hamburg 1973. ESPLANADE 39 · Charlotte Embden, Schwester Heinrich Heines 285 HANS-GRAHL-WEG · Hans Grahl, Heldentenor

lotte Embden arbeitete ihrem Bruder zu, be- schaffte ihm aus Hamburger Bibliotheken notwendige Bücher und führte häufig die Verhandlungen mit Heines Verleger Julius Campe (1792–1867). Sie selbst schrieb viele Briefe, aus denen ihr Lebenswandel er fahrbar wird. Ihre Erinnerungen an ihren Bruder lie- gen als unveröffentlichtes Manuskript vor. Charlotte Embden führte auch einen Salon, wo sich Literaten, Künstler und Musiker tra- fen. Nach Heinrich Heines Tod besuchten vie - Die Esplanade vom Walle am Dammtor gesehen. Links im Bild le Schriftsteller und Literaturhistoriker und sieht man die von Wimmel erbaute Häuserzeile um 1830. Im 1887 sogar Kaise rin Elisabeth von Österreich Haus Nr. 39 wohnte Charlotte Embden, Heinrich Heines Schwes- ter, mit ihrem Mann und den Kindern. Das Embden-Palais (1837–1898) Charlotte Embden, um mehr wurde 1957 abgerissen und an dieser Stelle nüchterne Hoch- über den Bruder zu erfahren. häuser erbaut. Staatsarchiv Hamburg

Grahl zunächst von der Bearbeitung der Bezichti- 99. STATION gungen ab. Am 12. April 1937 wurde dann aber Hans-Grahl-Weg auch Hans Grahl zum polizeilichen Ermittlungsfall. Hans Grahl, Heldentenor Nach einer Hausdurchsuchung erfolgte seine Ver- (NS-Zeit) nehmung im Stadthaus. Hans Grahl wurde am 30. März 1895 als Sohn des Opernsängers Maximilian Grahl [1854–1944] und Hinter den schlichten Bürohochhäusern an der seiner Frau Margarethe in Braunschweig geboren. Esplanade 39, dort wo einst das Embden-Palais Nach dem Besuch des Gymnasiums absolvierte er (siehe S. 278) stand, führt der Hans-Grahl-Weg zum eine Drogistenlehre und war bis zum Ersten Welt- Gustav-Mahler-Park (siehe S. 287). krieg als Kaufmann tätig. Von August 1914 bis No- Der Heldentenor Hans Grahl „ist eines der promi- vember 1918 diente er als Freiwilliger an der Front. nentesten homosexuellen NS-Opfer aus Hamburg. Von 1930 bis zu seiner Verurteilung 1937 war er En semblemitglied der Staatsoper und sang vor allem die großen Wagnerpartien. Zeitweilig war er der Einzige, der den Tristan an den großen Bühnen des Deutschen Reiches sang. Am 19. Januar 1937 geriet er durch den Schauspieler Peter Schröder, der wegen Vergehens nach § 175 fest genommen worden war, in das Visier der Ge - sta po. Dieser gab Hans Grahl als einen seiner Part - ner an. Die beiden hatten sich auf der Terrasse des Alsterpavillons kennengelernt und sich ein paar Der Hans-Grahl-Weg: Er verläuft hinter den Häusern mal getroffen, wobei es zwischen ihnen zu ‚unsittli- der Esplanade 36, 37, 39 und führt zum Gustav-Mahler- chen Handlungen‘ gekommen war. Im Gegensatz Park. Er ist Teil des Grünzuges entlang des ehemaligen zu nicht-prominenten Männern sah die Gestapo bei Walles. Photo: Marina Bruse 286 HANS-GRAHL-WEG · Hans Grahl, Heldentenor

Anschließend heiratete er Cläre (Kläre) Falke.393) xuellen-Verfolgung in Hamburg, ab 1939 Notar, 1953 Nach Beendigung des Krieges studierte er Gesang Entlassung aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft, am Konservatorium in Dresden. 1921 gab er sein 1954 zum Landgerichtsdirektor ernannt] verurteilte De but als Tenor am Städtischen Theater in Leipzig. ihn am 4. Mai 1937 wegen fortgesetzten Vergehens Anschließend hatte er Engagements am Landesthea - nach § 175 RStGB zu einer sechsmonatigen Gefäng- ter Weimar und in Darmstadt. 1929 übernahm er nisstrafe. Riebow bezeichnete ihn als ‚erfahrenen‘ die Tenorpartie bei der Uraufführung von Kurt Weills Homosexuellen, beschuldigte ihn, mit einem jungen [1900–1950] ‚Berliner Requiem‘ durch das Radio- Opernsänger, der wegen Vergehens nach § 175 RStGB Sinfonie-Orchester Frankfurt. Am 12. Februar 1929 verurteilt worden war, eng befreundet gewesen zu debütierte er am Hamburger Stadttheater [siehe sein, und warf Grahl vor, ‚eine Nacht mit ihm zu- S. 87]. Daraufhin wurde er an diesem Haus fest en- sammen in einem Zimmer geschlafen‘ zu haben. gagiert. Mit brutto 2500 RM im Monat verdiente er Strafverschärfend wirkte sich aus, dass der verhei- mehr als der Intendant und der Generalmusikdirek- ratete Hans Grahl kein ‚Reinhomosexueller‘ sei. tor. Als Heldentenor sang er hier fast alle Partien Eine Woche nach der Urteilsverkündung wurde seines Fachs. Dazu gehörten die großen Wagner- Hans Grahl in das Strafgefängnis Glasmoor einge- Par tien Lohengrin, Parsifal, Tannhäuser, Rienzi, Sieg- liefert, wo er in der Anstaltsgärtnerei arbeiten fried, Siegmund und Tristan. musste. Außer seinem Rechtsanwalt setzte sich auch 1932 wirkte er neben Max Lohfing [1870–1953] und [Heinrich] Karl Strohm [1895–1959], der Intendant Mathieu Ahlersmeyer [1896–1979] in ‚Der Evange- der Hamburgischen Staatsoper, für seine vorzeitige limann‘ von Wilhelm Kienzl [1857–1941] mit. Au- Freilassung ein. Dieser sah als Ursache für Grahls ßerdem war er als Max in Carl Maria von Webers gleichgeschlechtliche Kontakte eine depressive und [1786–1826] ‚Der Freischütz‘ und als Florestan in ner vöse Stimmung, in Folge einer längeren Krank- Ludwig van Beethovens [1770–1827] ‚Fidelio‘ zu er - heit. Schließlich waren die Gnadengesuche von leben. Drei Ausflüge machte Hans Grahl ins italie- Hans Grahl und seiner Ehefrau erfolgreich. Der Ge- ni sche Fach: 1931 sang er den Radames in Verdis fängnisvorsteher von Glasmoor befürwortete einen [1813–1901] ‚Aida‘, 1936 den Canio in [Ruggero] Straferlass von zwei Monaten, weil der Inhaftierte Leoncavallos [1857–1919] ‚Bajazzo‘ und übernahm ‚fleißig‘ war und ihn der ‚Ausschluß aus der Reichs- die Titelpartie bei der deutschen Erstaufführung der theaterkammer getroffen‘ habe. Nach Ablauf der Be - Oper ‚Fra Gherardo‘ von [Ildebrando] Pizzetti [1880– währungsfrist am 31. August 1937 wurde Grahl die 1968].394) Reststrafe von 61 Tagen erlassen. 1936 wurde ihm der Titel Kammersänger verliehen. Nach seiner Freilassung ist Hans Grahl nie wieder Hans Grahl sang auch als Gast im In- und Ausland, in Hamburg aufgetreten. Er emigrierte nach Prag, zum Beispiel bei den Salzburger Festspielen (1933), wo er zwei Jahre lang zum Ensemble des Deutschen an den Opernhäusern in Philadelphia (1934) und Theaters gehörte. Zurück im Deutschen Reich wurde Monte Carlo (1937), am Théâtre de la Monnaie in er wieder in die Reichstheaterkammer aufgenommen Brüs sel (1938), an der Wiener Staatsoper (1934, und trat bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs am 1939) und am Teatro Liceo in Barcelona (1940).395) Opernhaus in Breslau auf. Ende 1939 bis 1941 gas- Mit Ausnahme der Reichstheaterkammer gehörte er tierte er bei den Festspielen im besetzten Danzig als keiner NSDAP-Organisation an. Siegmund, Tannhäuser, Erik und Walther von Stol- Am 13. April 1937 wurde Hans Grahl wegen Verdunk - zing. lungsgefahr und wegen der zu erwartenden hohen Nach Ende des Zweiten Weltkriegs ging Grahl nach Strafe verhaftet. Der Richter Dr. Günther Riebow Berlin, wo er 1946 und 1947 an der Staatsoper auf- [1901–1980, ab 1933 Mitglied der NSDAP, bis 1939 trat und sich als Gesangslehrer betätigte. Zu seinen einer der Hauptverantwortlichen bei der Homose- Schülern gehörten u. a. Margarethe Klose [1899/

393 Staatsarchiv Hamburg, 213-11, burg.de/informationen/sodnersamm- (Nachschlagewerk für Opernsänger, 6919/37. lungen/theatersammlung.html enthält Komponisten, Opernhäuser, Agenturen 394 SUCvO GrahlH, Staats- und Uni- in der Theatersammlung: Kritiken- etc.) versitätsbibliothek Hamburg Carl-von- samm lung. Ossietzky, http://www.sub.uni-ham 395 http://www.operissimo.com/ HANS-GRAHL-WEG · Hans Grahl, Heldentenor 287 GUSTAV-MAHLER-PARK AM DAMMTORDAMM · Denkmal für Friedrich Schiller

1902–1968], Ernst Krukowski [1918–1982] und Lud- Auf Initiative des Psychotherapeuten Uli Rimmler wig Suthaus [1906–1971], für den er 1947 als Pedro und politisch durchgesetzt von dem GAL-Bürger- in Eugen d’Alberts [1864–1932] ‚Tiefland‘ an der schaftsabgeordneten Farid Müller (geb. 1962) und Städtischen Oper Berlin einsprang. Hans Grahl starb dem GAL-Bezirksabgeordneten Jörg Ebel (geb. 1968) am 31. August 1966 im Alter von 71 Jahren in Berlin. beschloss die Bezirksversammlung Hamburg-Mitte Ob Grahls Stigmatisierung als vorbestrafter ‚Hun- am 13. November 2007 einstimmig, dass der Grün- dertfünfundsiebziger‘ daran schuld war, dass es von weg im Gustav-Mahler-Park den Namen Hans-Grahl- ihm keine Schallplattenaufnahmen gibt, kann nicht Weg tragen soll.“397) Im Mai 2010 war es dann so mehr geklärt werden. Lediglich ein fragmentarischer weit, der Hans-Grahl-Weg wurde eingeweiht. Live-Mitschnitt der Parsifal-Aufführung an der Wie- Text mit freundlicher Genehmigung der Autoren aus: ner Staatsoper vom 6. April 1939 unter Hans Knap- Bernhard Rosenkranz/Ulf Bollmann/Gottfried Lorenz: pertsbusch [1888–1965] vermittelt einen Eindruck Homosexuellen-Verfolgung in Hamburg 1919–1969, von seiner Stimme.396) Hamburg 2009, S. 88–90.

1848/49. Die Festteilnehmenden sa- 100. STATION hen sich der Einheit und Freiheit Gustav-Mahler-Park am Dammtordamm Deutschlands ein Stück nähergekom- 1817 wurde die Straße „Dammtordamm“ als Damm angelegt. men. Doch Senat und Bürgerschaft Vor dem heutigen CinemaxX-Kino befindet sich eine kleine behinderten die Vorbereitungen des Grünfläche, die 1987 den Namen Gustav-Mahler-Park bekam. Festes. So bot sowohl das Schillerfest Diese Anlage ist Teil des Grünzuges entlang des ehemaligen als auch ein Schiller-Denk mal Anlass Walls. Der Park verläuft vom Dammtordamm zum Alsterufer für „politische Auseinandersetzungen entlang des nördlich begrenzten Damms der Eisenbahn. im Zusammenhang mit der bürgerli- Denkmal für Friedrich Schiller (Standort: seit 1958) chen Revolution nach 1848. Der Senat versuchte, den Umzug zum 100. Ge- burtstag Schillers und die Denk mal- Im Gustav-Mahler-Park steht das Bronzedenkmal planung zu unterbinden, umso deut- für Friedrich Schiller (1759–1805), 1866 von dem Bildhauer Julius Lippert (1829–1864) geschaffen, der allerdings während der Ausführung im Alter von 35 Jahren an Schwindsucht starb, so dass das Denkmal von seinem Berliner Mitstudenten Carl Boerner (1828–1895) beendet wurde. Im Zuge der Vorbereitungen zum Schillerfest im Jahre 1859, das anlässlich des 100. Geburtstages von Friedrich Schiller und der zehnjährigen Wiederkehr der 1848/49er Revolution gefeiert werden sollte, war auch die Forderung nach einem Schiller-Denkmal laut geworden. Die Schillerfeiern, die in über 440 deutschen und 50 nichtdeutschen Städten mit Umzügen statt- Im Gustav-Mahler-Park steht seit 1958 das 1866 von fanden, verdeutlichten das Ende der politischen Re- Julius Lippelt geschaffene und von Carl Boerner vollen- aktionsära nach der bürgerlichen Revolution von dete Denkmal für Friedrich Schiller. Photo: Marina Bruse

396 Richard Wagner: Parsifal (Aus- Mitte, Schreiben vom 30.1.2008. züge). Edition Wiener Staatsoper LIVE, Vol. 2. Koch Schwann. Koch Internatio- nal GmbH, Österreich, 1993. 397 CDU Bezirksfraktion Hamburg- 288 GUSTAV-MAHLER-PARK AM DAMMTORDAMM · Denkmal für Friedrich Schiller

licher wurde er [der Umzug] von den Aufbegehren- für Schillers Frau Charlotte, geb. von Lengefeld den gegen die konservative Verfassung zum Anlass (1766–1826), die zwar selbst schriftstellernd tätig für machtvolle Demonstrationen genommen. ‚Ans war, doch ihre Hauptaufgabe in der Erziehung ihrer Vater land, ans teure schließ Dich an‘, beruhigten vier Kinder und in der Haushaltsführung sehen die Konservativen. Freiheit im Sinne der Schiller’ musste. Schiller rühmte die „kindliche Reinheit ihrer schen ‚Briefe zur ästhetischen Erziehung‘ forderten Seele“ und die „Innigkeit ihrer Liebe“. die Revolutionäre. In der Folge des Schillerfestes Nachdem das Schiller-Denkmal viele Jahre in die- wurde dann endlich eine Liberalisierung der Ham- sem Park an der Alster gestanden hatte, wurde es burger Verfassung durchgesetzt.“398) auf einen Parkplatz gegenüber der Kunsthalle ver- Auftraggeber für das Schiller-Denkmal war ein Ham- bannt. Dieser Standort war dem damaligen Bundes - burger Schiller-Verein. Besorgt um Hamburgs geis- präsidenten Theodor Heuss (1884–1963) bei einem tige Kultur schrieb der Zeitgenosse Bernhard Endru- seiner Hamburg-Besuche unangenehm aufgefallen. lat (1828–1886) 1860: „Ist irgendwo das Bedürfnis Und so schrieb er 1958 einen Brief an den damaligen vorhanden, dass der Geist durch ein öffentliches Ersten Bürgermeister Max Brauer (1887–1973): „Dies Kunstwerk, durch das Denkmal eines großen Man- ist ein Bittgesuch, das ich ohne Auftrag, aber doch nes, den alle kennen, ehren und lieben, mitten in stellvertretend für meinen Landsmann Friedrich der Hast des Alltagsgetriebes und Erwerbes, an das Schil ler an Sie richte.“ Angesichts dieses für Fried- Schöne und Große erinnert werde, so ist das hier in rich Schiller unwürdigen Platzes empfand Theodor Hamburg der Fall, wo nichts auf Plätzen und Straßen Heuss, dass „Schiller zu einem Parkplatzwächter in den Kaufmann, der zu seinen Speculationen, seinen der Besoldungsklasse soundso“ degradiert worden Contobüchern und Zahlen eilt, daran mahnt, dass sei. „Ich glaube kaum, dass ein Privatmann über- es noch höhere Güter in der Welt giebt, als Courant haupt wagt, noch vor das Denkmal hinzutreten, und Banco (…).“399) das irgendwann einmal ja die Aufgabe hatte, sich Das Denkmal, das von allegorischen weiblichen Fi- be trachten zu lassen, denn jeder, der dort steht, ist guren der dramatischen und der lyrischen Poesie, nach meinem Eindruck gefährdet. Ich glaube“, der Geschichtsschreibung und der Philosophie flan- schloss Theodor Heuss seinen Brief, „Sie tun, wenn kiert wird, wurde in einem Park, der zur Lombards- Sie ihn woanders hinstellen, ein gutes Werk. Ich brücke führte, aufgestellt. Bei der feierlichen Denk- glau be, dass ich mit diesem Bittgesuch bei Friedrich malsenthüllung wurde Schiller als Symbol für die Schiller selber einiges Verständnis finden kann. „Entwicklung des menschlichen Geistes“ zur „sitt- Schöne Grüße, Ihr Theodor Heuss.“400) lichen“ und dann zur „politischen Freiheit“ heraus- Noch im selben Jahr wurde Herr Schiller in die gestellt, Begriffe, die weder zu Lebzeiten Schillers Grünanlage, den späteren Gustav-Mahler-Park, um- noch in den Jahren vor und nach der Denkmalsauf- gesetzt. stellung für Frauen Gültigkeit hatten, so auch nicht

398 Volker Plagemann: Denkmäler. Hansestadt Hamburg. DuMont Kunst- In: Volker Plagemann (Hrsg.): Die Reiseführer. 2. Aufl. Köln 1990, S. 209. Kunst in Hamburg von der Aufklärung 400 Zit. nach Erik Verg: Vierzig Jahre in die Moderne. Hamburg 2002, S. 177. Hamburger Abendblatt. Hamburg 399 Zit. n.: Hermann Hipp: Freie und 1988, S. 96. DAMMTORDAMM · Alter Dammtorbahnhof 289

gelegt, und einige Divans hoben die Behaglichkeit 101. STATION und charakterisierten den Saal als den Punkt kurzen Dammtordamm Verweilens für die Begrüßung der ankommenden Alter Dammtorbahnhof (Stand- Gäste.“401) Und weiter heißt es im „Hamburgischen ort: 1866–1903); „CinemaxX- Correspondenten“: „Unruhe und gespannte Erwar- Kino“ (Standort: seit 1996) tung unter den ca. 175 Vertretern der in- und auslän- dischen Presse steigerten sich, als die Ankunftszeit Alter Dammtorbahnhof näherrückte, die Delegation des Senats, bestehend aus den beiden Präsidenten und sechs Senatoren Auf der Höhe des heutigen „CinemaxX-Kinos“ im (aber ohne die drei Damen) sich eingefunden hatte, Gustav-Mahler-Park wurde am 16. Juni 1866 der kurz vorher der Bruder des Kaisers Prinz Heinrich Personenbahnhof für die am selben Tag in Betrieb [1862–1929], zur Begrüßung eingetroffen war, und genommene Verbindungsbahn von Altona nach auch der preußische Bundesratsbevollmächtigte [Al- Klos tertor („Hamburg-Altonaer-Verbindungsbahn“) fred] v. Kiderlen-Wächter [1852–1912] sich an der eröffnet. Der im spätklassizistischen Stil erbaute Rampe bereitstellte.“402) Bahnhof am Dammtor war als Paradebahnhof für Nachdem der Zug in den Bahnhof eingerollt war, Staatsbesuche vorgesehen, deshalb gab es damals verließ der Kaiser „in der Uniform der Gardes du auch ein Abstellgleis für Sonderzüge, z. B. des Kai- Corps mit blinkendem Stahlhelm und silbernem flie- sers, und spezielle Fürstenräume im Erdgeschoss gendem Adler, geschmückt mit einem breiten roth- des Bahnhofes. weiß-rothen Ordensbande, (…) elastischen Schrittes Als Kaiser Wilhelm II. (1859–1941) im Juni 1895 nach seinen Wagen und wandte sich mit herzlicher Hamburg reiste, war der Dammtorbahnhof reich ge- Freundlichkeit zu Herrn Bürgermeister Dr. [Johannes schmückt. Der „Hamburgische Correspondent“ be- Christian Eugen] Lehmann [1826–1901], der ihn ehr- richtete am 20. Juni 1895 über den Staatsbesuch: furchtsvoll bewillkommnete (…). Unterdeß waren „Die breite Terrasse mit der bequemen Treppe leitet die vier ältesten Prinzen, in weißem Flanell-Matro- aus einem wundervollen Blumenparquet zu dem senanzug gekleidet, dem Wagen entstiegen und Emp fangssaal, der in seinen schönen Verhältnissen reich ten ihrem Oheim, den Herren Bürgermeistern und mit seinem noblen Figurenfries ein wahrhaft und Senatoren sowie den Herren Officieren, die mit vornehmer Raum ist. Schöne Teppiche waren hinein - dem commandirenden General des IX. Armeecorps [in Altona], Grafen [Alfred] Waldersee [1832–1904], zur Begrüßung erschienen waren, die Hand.“403) „Im Gefolge des Kaisers befanden sich au- ßer dem Oberhofmarschall [August] Graf Eulenburg [1838–1921] fast nur Armee- und Marineoffiziere (…); Gäste und Gast- geber wurden bei einem kurzen Aufenthalt im Pavillon miteinander bekannt gemacht, bevor die publikumswirksame militärische Begrüßung vonstatten ging: Graf Walder- see überreichte den Rapport der auf der großen Rasenfläche vor dem Bahnhof an- Der 1866 eröffnete alte Dammtorbahnhof auf dem Platz des heu - tigen CinemaxX-Kinos. 1903 wurde das Bahnhofsgebäude abgeris- getretenen Ehrenkompanie des 76. In fan - sen. Photo von 1890. teriere giments, der Kaiser schritt mit Bür-

401 Hamburgischer Correspondent, Bürgertums im Spiegel öffentlicher Nr. 422, 20.6. 1895. Zit. nach: Tobias Festkultur 1871-1914. Dissertation. von Elsner: Das Hamburger und das Frankfurt a. M. 1991, S. 292ff. Wilhelminische Deutschland. Anpas- 402 ebenda. sung und Integration des Hamburger 403 ebenda. 290 DAMMTORDAMM · Alter Dammtorbahnhof · „CinemaxX-Kino“ EDMUND-SIEMERS-ALLEE · Neuer Dammtorbahnhof

germeister Lehmann die Front ab (…). In wohlgeordneter Reihenfolge wurden die be- reitgestellten vierspännigen Wagen bestiegen (…) und, einer Triumphfahrt vergleichbar, be- wegte sich der Zug durch die Innenstadt nach den St. Pauli Landungsbrücken zum Aviso Kaiseradler. An der Esplanade bildete eine Ab- teilung des Husarenregiments Nr. 15 und eine Abteilung des Artillerieregiments Nr. 24 Spa- lier, doch im weiteren Verlauf bestimmten die ‚lebhaften Ovationen’ der dicht gedrängt die Straßen säumenden Bevölkerung die Atmo- sphäre des Empfangs. (…) Das CinemaxX-Kino. Photo: Marina Bruse Die Festkommission des Senats hatte beschlossen, dass an der Fahrtstrecke Tausende von Schulkindern dem Kaiser zujubeln sollten. Sie war dabei (…) auf „CinemaxX-Kino“ scharfe Kritik der Sozialdemokraten gestoßen: ‚Eltern hütet Eure Kinder!‘, hatte das Hamburger Echo Nachdem auf dem ehemaligen Gelände des ersten [siehe zum „Hamburger Echo“ S. 259] gewarnt, da- Dammtorbahnhofes einige gastronomische Gebäude gegen protestiert, dass die ‚Kinder der Volksschulen gestanden hatten, wurde 1996 an dieser Stelle das als Staffage am ‚Kaisertage‘ benutzt werden‘ [Ham- „CinemaxX-Kino“ eröffnet. Es hat 2728 Plätze in burger Echo, Nr. 138, 16.6.1895] und auf die gesund - acht Sälen und einen Premierensaal für 1001 Besu- heit li chen Gefahren stundenlangen Stehens in praller chende und war damit der größte Kinobau in Son ne oder im Regen hingewiesen“,404) schreibt Deutsch land seit den 50er Jahren des 20. Jahrhun- Tobias von Elsner in seiner Dissertation über das derts. „Ham burger und das Wilhelminische Deutschland“. Das Kino gehört zu den 37 Multiplex-Kinos der Mar- 1903 wurde das Bahnhofsgebäude abgerissen und ken „CinemaxX“ und „MaxX“. 2009 begann das durch den wenige Schritte entfernt liegenden „neu - „CinemaxX-Kino“ mit dem Einbau der Technik zum en“ Dammtorbahnhof ersetzt. Vorführen von 3D-Filmen.

Im Zuge des Ausbaus der „Hamburg-Altonaer Ver- 102. STATION bindungsbahn“ wurde das Gebäude des „alten“ Edmund-Siemers-Allee Dammtorbahnhofs (siehe S. 289) ersetzt durch den Benannt 1907 „nach dem Stifter des hier noch heute bestehenden Jugendstil-Hallenbau auf 1909/11 errichteten Universitätsvorlesungs - dem Bahndamm. Am 7. Juni 1903 wurde der „neue“ gebäudes sowie zahlreicher anderer Bauten Dammtorbahnhof eröffnet. „Das repräsentative Ge- und des sonst hochverdienten Kaufmanns bäude diente als Empfangsbahnhof der Staatsgäste Edmund J. A. Siemers (1840–1918)“.405) und erhielt den Beinamen ‚Kaiserbahnhof‘.“406) Neuer Dammtorbahnhof (Standort: seit 1903) Der nach Plänen von Ernst Moeller (1858–1936) er- richtete Bahnhof hat eine Länge von 112 Metern, eine Breite von 25 Metern und eine Höhe von 23,5 Metern. Zwischen 1999 und 2002 wurde er aufwän- dig restauriert.

404 Tobias von Elsner, a. a. O., 406 Franklin Kopitzsch, Daniel Tilgner S. 292ff. (Hrsg.): Hamburg Lexikon. Hamburg 405 Horst Beckershaus: Die Hamburger 1998, S. 117. Straßennamen. Woher sie kommen und was sie bedeuten. Hamburg 1997, S. 88. EDMUND-SIEMERS-ALLEE · Neuer Dammtorbahnhof 291 DAG-HAMMARSKJÖLD-PLATZ

Der 1903 eröffnete neue Dammtorbahnhof, we- nige Schritte entfernt vom ehemaligen Stand- ort des alten Dammtor- bahnhofes. Photo: Marina Bruse

103. STATION Dag-Hammarskjöld-Platz Benannt 1962 nach dem im Kongo tödlich verunglückten lang- jährigen UNO-Generalsekretär Dag Hammarskjöld (29.7.1905– 18.9.1961). Der Platz befindet sich an der Südwestseite des Dammtorbahn- hofes zum alten Botanischen Garten hin. Ebenso wurde die Brücke, die von dort zum Eingang der U-Bahnstation Ste- phansplatz und zum Gustav-Mahler-Park (siehe S. 287) führt, nach dem UNO-Generalsekretär benannt.

Dag Hjalmar Agne Carl Hammarskjöld war der 1954 gelang es dem Parteilosen nach Gesprächen jüngste von vier Söhnen des schwedischen Premier- in Peking, amerikanische Kriegsgefangene des Ko- ministers Hjalmar Hammarskjöld (1862-1953). Nach reakrieges freizubekommen. Als zwei Jahre später, seinem Studium der Rechtswissenschaften, Philo- 1956, die Gefahr eines erneuten Weltkriegs wegen sophie und Wirtschaftswissenschaften habilitierte des Konflikts um den Suezkanal bestand, gelang es er, war dann von 1936 bis 1945 Staatssekretär im Hammarskjöld innerhalb von 48 Stunden, eine in- schwedischen Finanzministerium, von 1941 bis 1948 ternationale Friedens- und Polizeitruppe zu schaffen Präsident des schwedischen Reichsbankdirektori- und mit ihr den Konflikt zu entspannen. ums, 1949 Unterstaatssekretär im Außenministe- Dag Hammarskjöld starb bei einem ungeklärten Ab- rium, von 1951 bis 1953 stellvertretender Außenmi- sturz seines UN-Flugzeuges in den Kongo. nister und von 1953 bis 1961 Generalsekretär der Vereinten Nationen. 292 DAMMTORDAMM 2 · Polizeiwachgebäude DAMMTORDAMM · 76er Denkmal/Gegendenkmal

104. STATION Dammtordamm 2 Polizeiwachgebäude (Standort: seit 1879)

„Die letzte Spur des Dammtors ist das Polizeiwach- gebäude, das dort [am Dammtordamm 2] 1879 er- richtet wurde. Es bewachte den Verkehr zwischen der Innenstadt und den vornehmen Stadtteilen Rot- herbaum und Harvestehude.“407) 1972 wurde das Gebäude unter Denkmalschutz gestellt. Heute wird Das ehemalige Polizeiwachgebäude am Dammtor. es für gastronomische Zwecke genutzt. Photo: Marina Bruse

vierteiligen Gegendenkmals des Wiener Bildhauers 105. STATION Alfred Hrdlicka (1928–2009) zur Ausführung be- Dammtordamm stimmt.“408) So genanntes 76er Denkmal (Standort: seit Das so genannte 76er Denkmal wurde in den letzten 1936); Gegendenkmal zum so genannten 76er 30 Jahren immer wieder mit Farbbeuteln beworfen Denkmal (Standort: seit 1985) und beschmiert. So hieß es am 26. Juni 1981 in einem Artikel des „Hamburger Abendblattes“: „Die Ham burger werden sich daran gewöhnen müssen: Das so genannte 76er Denkmal Das Ehrenmal für die Toten des Infanterie-Regiments 76 am Stephansplatz bleibt vorläufig mit Farbe be- Zwischen Stephansplatz und Dammtorbahnhof steht schmiert – dem Bezirksamt Hamburg-Mitte fehlt das seit 1936 das so genannte 76er Denkmal: „Ein sieben Meter hoher Block aus Muschelkalk, entworfen von dem Bildhauer Richard Kuöhl [1880–1961], wurde auf Initiative ehemaliger Angehöriger des Infante- rie-Regiments 76 errichtet. Um den Block läuft ein Relief von 88 lebensgroßen Soldaten, die in den Krieg marschieren. Die Inschrift lautet: ‚Deutschland muss leben und wenn wir sterben müssen.‘ Obwohl dieses Denkmal in Vorbereitung eines neuen Weltkrieges entstand und nicht an gefallene Soldaten erinnert, wurde es von der britischen Militärregie- rung nach 1945 nicht wie andere NS-Denkmäler ab- getragen. Im Laufe der 1970er Jahre wurde die öffentliche Das so genannte 76er Denkmal, 1936 entworfen von Kri tik am Denkmal immer lauter, und Anfang der Richard Kuöhl auf Initiative ehemaliger Angehöriger des Infanterie-Regiments 76. Um den Block läuft ein Relief 1980er Jahre schrieb der Senat einen Wettbewerb von 88 lebensgroßen Soldaten, die in den Krieg ziehen. zur ‚künstlerischen Umgestaltung der Denkmalsan- Die Inschrift lautet: „Deutschland muss leben und wenn lage‘ aus. 1983 wurde schließlich der Entwurf eines wir sterben müssen“. Photo: Marina Bruse

407 Hermann Hipp: Freie und Hanse- ser zu Stätten der Erinnerung an die stadt Hamburg. DuMont Kunst-Reise- Jahre 1933 bis 1945. Hrsg. von der KZ- führer. 2. Aufl. Köln 1990, S. 210. Gedenkstätte Neuengamme und der 408 Detlef Garbe, Kerstin Klingel: Ge- Landeszentrale für politische Bildung denkstätten in Hamburg. Ein Wegwei- Hamburg. Hamburg 2008, S. 81. DAMMTORDAMM · 76er Denkmal/Gegendenkmal 293

Geld zur Reinigung. Um die Farbe von dem umstrit- Das Gegendenkmal tenen Denkmal fachgerecht zu entfernen, müssten nach Schätzungen von Fachleuten weit mehr als „Der erste Teil des Gegendenkmals von Alfred Hrdli- 10 000 Mark hingeblättert werden. cka wurde am 8. Mai 1985 eingeweiht und trägt den Unbekannte hatten das Ehrenmal im Verlauf der Namen ‚Hamburger Feuersturm‘: Eine Wand aus großen Kirchentags-Friedensdemonstration am Sonn- Bronze, unregelmäßig und nach oben immer brü- abend mit Farbbeuteln beworfen und versucht, die chiger werdend, mit herausgearbeiteten brechenden heftig kritisierte Inschrift: ‚Deutschland muß leben, Balken und verbrannten Leichen aus Bronze und und wenn wir sterben müssen‘ mit Hammer und Marmor. Die Einweihung des zweiten Teils ‚Flucht- Meißel zu zerstören. (…) gruppe Cap Arcona‘ fand am 29. September 1986 Der (…) Steinklotz war schon häufig ein Stein des statt: Dieser aus Marmor gearbeitete Teil zeigt eine Anstoßes. SPD-Politiker sahen in der Inschrift, die Menschengruppe, die von einer großen Welle erfasst der Arbeiterdichter Heinrich Lersch [1889–1936] wird. Er erinnert an 7000 KZ-Häftlinge aus Neuen- 1914 unter dem Eindruck des Kriegsausbruchs for- gamme, die nach der Lagerräumung von der SS auf muliert hatte, eine Gefährdung des Rufs der Stadt: Schiffe, darunter die ‚Cap Arcona‘, verbracht wurden Ausländische Gäste könnten den Satz missverstehen und bei der irrtümlichen Versenkung durch britische und sich ein falsches Bild von dem heutigen Deutsch- Bomber in der Lübecker Bucht am 3. Mai 1945 den land machen. Tod fanden. Manche Hamburger bringen ihre Ablehnung dem Auf Grund hoher Herstellungskosten war das vorge- Ehrenmal gegenüber zum Ausdruck, indem sie kilo - sehene Budget für das Gegendenkmal bereits nach weise Farbe auf dem Monument verteilen, kaum der Vollendung der ersten beiden Teile aufgebraucht. dass es gereinigt ist.“409) Die beiden geplanten Teile ‚Soldatentod‘ und ‚Frau- 1999 wurden alle Stiefel der Soldaten abwechselnd enbild im Faschismus‘ kamen nicht zur Ausfüh- rot und grün gefärbt. Wahrscheinlich wollte man rung.“410) da mit die Beteiligung Deutschlands am Kosovo- Am Gegendenkmal finden häufig von verschiedenen Krieg unter der damaligen rot-grünen Koalitionsregie - Organisationen durchgeführte Kundgebungen statt, rung kritisieren. so z. B. auch Auftaktveranstaltungen zum jährlichen Antikriegstag am 1. September.

Das Gegendenkmal zum so genann- ten 76er Denkmal, geschaffen von Alfred Hrdlicka. Photo: Marina Bruse

409 Manfred von Thien. Zit. aus: Erik Verg: Vierzig Jahre Hamburger Abend- blatt. Hamburg 1988, S. 306. 410 Detlef Garbe, Kerstin Klingel, a. a. O., S. 81. 294 GORCH-FOCK-WALL 11 · Ehemalige Generalzolldirektion

106. STATION Gorch-Fock-Wall 11 Der Gorch-Fock-Wall wurde 1879 unter dem Namen Ringstraße angelegt und erhielt 1925 nach dem Tod des ersten deutschen Reichspräsidenten (1871–1925) den Namen Friedrich-Ebert- Straße. 1933 gaben ihr die Nationalsozialisten den Namen Gorch-Fock-Wall, benannt nach dem Finkenwerder Heimat- Bis zum Übergang des 1871 gegründeten dichter (Johann Kinau, 1880–1916). Deutschen Reiches zur Schutzzollpolitik Die Straße wurde „zum Standort der Institutionen und Bauten, betrieb Hamburg eine selbstständige Zoll- die nach der Gründung des Kaiserreichs 1871 in Hamburg und Handelspolitik. Doch nun sah die Sa- notwendig wurden. Die städtebauliche Fernbeziehung dieser che anders aus: „Hamburg konnte nicht Reichsfolgebauten am Wallring – gemeinsam mit der Speicher- Teil des Reiches sein und zugleich Zoll- stadt – zum Rathaus, das gleichzeitig im Herzen der Stadt ausland und Freihandelszone bleiben. als Manifestation hamburgischer Eigenstaatlichkeit entstand, Durch die 1881 geschlossenen und 1888 vergegenwärtigt im gründerzeitlichen Stadtbild das Verhältnis vollzogenen Vereinbarungen mit dem Hamburgs zum Reich.“411) Deutschen Reich lag der hbg. Staat nun in dessen Zollgebiet, wobei mit dem Frei- Zu diesem Ensemble von Bauten, die für das Kaiserreich von hafen ein zollfreies Areal geschaffen wur - Bedeutung waren, zählen auch die Gebäude der Oberpostdi- de.“412) Dieser Sonderstatus Hamburgs rektion und des Telegraphenamtes, die ebenfalls mit einem zeigt sich an dem im Neorenaissancestil Teil ihrer Hausfronten am Gorch-Fock-Wall stehen (siehe zu erbauten palastartigen Gebäude der Ge- diesen Bauten S. 117). neralzolldirektion. „Den Stolz“ der Ham- Ehemalige Generalzolldirektion (Standort: seit 1893) burger auf ihre eigene Zollverwaltung im Freihafen „drückt der Tempelgiebel mit Das dreigeschossige Gebäude wurde zwischen 1891 dem Hamburger Wappen an diesem Dienstgebäude und 1893 nach Plänen des Baudirektors Carl Johann des Reichsbevollmächtigten für Zölle und Steuern Christian Zimmermann (1831–1911) erbaut, im Krieg aus.“413) teilzerstört und zwischen 1946 und 1948 verändert Heute befindet sich hier das Finanzamt für Verkehrs - ausgebaut. steuer und Grundbesitz.

Der Gorch-Fock-Wall, als er noch „Ring- straße“ hieß, vom Ste- phansplatz aus gesehen. Angelegt wurde die Straße im Jahre 1879. Staatsarchiv Hamburg

411 Hermann Hipp: Freie und Hanse- Hamburg 1998, S. 538. stadt Hamburg. DuMont Kunst-Reise- 413 Hermann Hipp, a. a. O., S. 210. führer. 2. Aufl. Köln 1919, S. 210. 412 Franklin Kopitzsch, Daniel Tilgner (Hrsg.): Hamburg Lexikon. GORCH-FOCK-WALL 11 · Ehemalige Generalzolldirektion 295 GORCH-FOCK-WALL 15–17 · Ehemaliges Dienstgebäude der „Behörde für das Versicherungswesen“

Gorch-Fock-Wall 11: Haus der ehemaligen General- zolldirektion, erbaut 1893. Photo: Jürgen Brömme

1930 zogen in das Gebäude Teile des „Hygienischen 107. STATION Instituts“ ein, nachdem aus dessen 1899 unter den Gorch-Fock-Wall Geschehnissen der Cholera (1892) erbautem Gebäu- 15–17 de an der Jungiusstraße aus Platzgründen einige Ehemaliges Dienstgebäude Abteilungen woanders untergebracht werden muss- der „Behörde für das Versiche- ten. So wurden die Abteilungen „Serologie“ und rungswesen“ (Standort: seit „Gewerbe hygiene“ in das Gebäude der „Behörde 1895); „Hygienisches Institut“ für das Ver sicherungswesen“ am Gorch-Fock-Wall (Standort: 1930–1986); heute ausgelagert und in den folgenden Jahren einige hier Sitz der „Generalstaatsan- Räume im Par terre für den Unterricht der Studen- waltschaft“ tinnen und Stu denten umgewandelt. Nach im Jahre 1932 erfolg ten Umbauarbeiten zogen auch die Di- rektorialabteilung und die „Sammlung hygienischen Nachdem 1884 die Hamburgische Krankenversiche- rungsbehörde und 1891 die Invaliditätsversicherung gegründet worden waren, wurde 1894/95 am heu- tigen Gorch-Fock-Wall das Dienstgebäude der „Be- hörde für das Versicherungswesen“ erbaut, welches 1906 erweitert wurde. „Die Einführung der Sozialversicherungspflicht im Kaiserreich dokumentiert das Dienstgebäude Gorch- Fock-Wall 15–17, das sich mit seiner zurückhalten- den Backsteinarchitektur ostentativ von den Werk- stättenpalästen in seiner Nachbarschaft abhebt und somit gestalterisch wieder den freiwilligen karita- tiven Einrichtungen zugeordnet wird – z. B. Stifte oder Heime –, von denen [Otto von] Bismarck [1815– Gorch-Fock-Wall 15–17: Ehemaliges Dienstgebäude der 1898] die Sozialfürsorge mit seiner Reform ja gerade „Be hörde für das Versicherungswesen“, erbaut 1895. emanzipieren wollte.“414) Photo: Marina Bruse

414 Ralf Lange: Architekturführer Hamburg, Stuttgart 1995. 296 GORCH-FOCK-WALL 15–17 · „Hygienisches Institut“ WALLANLAGEN

Zwischen 1930 und 1986 hatte das „Hygienische Institut“ im ehemaligen Gebäude der „Behörde für das Versicherungswesen“ Räumlichkeiten, so z. B. den Kursraum. Aufnahme aus den 30er Jahren des 20. Jh., aus: Ralph Bojar: Das Hygienische Institut der Freien und Hansestadt Hamburg. Hamburg 1987.

übernahm das SS-Mitglied Prof. Dr. Horst Habs (1902–1987) die Leitung des Instituts. Im Juli 1944 zerstörten Bomben einen Teil des Ge- bäudes an der Jungiusstraße, so dass die Tätigkeit am Institut fast ganz eingestellt werden musste. Anschauungsmaterials“ des Institutsdirektors Rudolf 1946 zogen dann auch die bis dahin an der Jungi- Otto Neumann (1868–1952) an den Gorch-Fock- usstraße noch verbliebenen Institutsabteilungen an Wall 15–17. den Gorch-Fock-Wall. Das Haus an der Jungius- Über die Arbeit am „Hygienischen Institut“ in der straße wurde später abgerissen. NS-Zeit heißt es in der Dissertation von Ralph Bojar In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde das aus dem Jahre 1987: „Trotz aller äußeren Zwänge „Hygienische Institut“ in vier Anstalten gegliedert: fand aber gerade ein damals aktueller Bereich der Lehranstalt für Allgemeine und Soziale Hygiene, am Gorch-Fock-Wall vertretenen Wissenschaft, die Medizinaluntersuchungsanstalt, Chemische- und Le- Ras senhygiene, bei R. O. Neumann keine Gegen- bensmitteluntersuchungsanstalt, Untersuchung für liebe.“415) Städtehygiene. 1971 erfolgte eine weitere Neugliede- 1935 trat der damalige Direktor des „Hygienischen rung: Anstalt für Hygiene, Medizinaluntersuchungs- Instituts“ Rudolf Otto Neumann von seinem Amt anstalt, Chemische- und Lebensmitteluntersuchungs- zurück, musste aber noch bis 1937 das Institut kom- anstalt, Zentralinstitut für Arbeitsmedizin. missarisch leiten, bis sein Wunschnachfolger Karl Als in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts das Süpfle (1880–1942) die Nachfolge antreten konnte. Gebäude am Gorch-Fock-Wall renovierungsbedürftig Süpfle, der kein Mitglied der NSDAP war, wurde zu wurde und eine Renovierung zur Labornutzung zu Beginn des Krieges als Hygiene-Berater eines Trup- teuer gekommen wäre, entschloss sich der Senat, penverbandes in den Krieg geschickt und 1942 bei das ehemalige Kinderkrankenhaus Rothenburgsort Stalingrad getötet. als neuen Standort für das „Institut für Hygiene und Neumann hatte ihn zu vertreten. Im Juni 1943 wurde Umwelt“ (so die Bezeichnung seit 2003) umzu- die jüdische Mitarbeiterin Frau Welker ins KZ The- bauen. Im Februar 1986 bezog das Institut die neuen resienstadt deportiert. Im Oktober desselben Jahres Räumlichkeiten.

den aus der 1240 erbauten Befestigungsmauer, die 108. STATION damals die gesamte Hamburger Alt- und Neustadt Wallanlagen umfasste. (Standort: seit 17. Jh.) Im Laufe der nächsten Jahrhunderte wurden die Wall- und Bastionsanlagen in Folge veränderter Kriegs technik aufwändiger gebaut: „Aus dem schma- Gegenüber den Gebäuden Gorch-Fock-Wall 11–17 len Mauer- und Grabengürtel wurde eine breite Um- befindet sich ein Teil der Wallanlagen. Sie entstan- bauung mit gewaltigen militärischen Anlagen. (…)

415 Ralph Bojar: Das Hygienische In- tät Hamburg. Hamburg 1987, S. 126. stitut der Freien und Hansestadt Ham- burg. Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Zahnmedizin am Fachbereich Medizin der Universi- WALLANLAGEN 297

Nach der Reformation und der Erstarkung der Ter- setzt. Ab 1819 wurden dann die „Bollwerke abge- ritorialfürsten war die Bedrohung noch stärker ge- tragen und Ecken und Winkel der Wälle und Gräben worden und wurde es dann im 16. und 17. Jahr- abgerundet und ausgefüllt. Die gesamte Anlage hundert mit dem Dreißigjährigen Krieg noch mehr. wurde zu einem Ring von Alleen um die Altstadt, Die Städte, die sich keine starke Befestigung bauen denen die Bastionen, wie natürliche begrünte Hügel und finanzieren konnten, verloren ihre Selbststän- mit englischen Anlagen hergerichtet wurden, und digkeit. (…) Nur Bremen und Lübeck hatten wie der ehemalige Graben wie ein gewundenes Wasser- Hamburg eine Befestigung, mit der sie überstehen becken vorgelagert waren. konnten. Zu den Besonderheiten, die der gemein- Der zu einem Park umgewandelte Festungsgürtel same Befestigungsarchitekt Johan van Valckenburgk selbst wurde zunächst Standort verschiedener Frei- [1575–1625] in Hamburg und Bremen anlegte, ge- zeiteinrichtungen, etwa (…) eines botanischen Gar- hörte das noch unbebaute Gebiet einer Neustadt, tens mit Baumschule am Dammtor [siehe S. 298] die er in die Bastionsbefestigung von 1625 einbe- (…). Der Ring der Alleen wurde zu einem Straßen- zog.“416) und Verkehrszug, der vom Millerntor mit Holsten- Ein sechs bis neun Meter hoher Wallring mit 22 ka- wall, Gorch-Fock-Wall, Esplanade, Lombardsbrücke, nonenbespickten Bastionen wurde um die Stadt ge- Glockengießerwall, Steintorwall, Klosterwall bis zum zogen. Nur beim Hafen lief der Wall flach ab. Dem Deichtorplatz noch heute erhalten (…) ist“,417) Wall vorgelagert waren tiefe und breite Wassergrä- schreibt der ehemalige Senatsdirektor der Kultur- ben. Auf dem Wallring patrouillierten Wachen. behörde Hamburg Volker Plagemann in seinem Buch Auf der Strecke des heutigen Gorch-Fock-Walls gab „Die Kunst in Hamburg von der Aufklärung in die es drei von elf Bastionen mit Namen: Joachimus; Moderne“. Ulricus und Rudolphus. Die drei oben genannten Bastionen blieben noch Im Zuge einer modernen Stadtentwicklung wurde bis zur Aufhebung der Torsperre mit Bürgermilitär nach 1814 der Wallgraben an den Torausfahrten besetzt – die Ulricus-Wache noch bis 1878. Danach Millerntor, Dammtor und Steintor zugeschüttet und wurde der Wall zwischen Damm- und Holstentor breite Ausfallstraßen wurden angelegt. Die engen abgetragen und die Ringstraße (heute: Gorch-Fock- Festungstore wurden durch pfeilerbegrenzte Durch- Wall) errichtet. fahrten, an deren Seiten ein Torhäuschen stand, er-

Die Wallanlagen. Ansicht des Dammtorwalles vom Botanischen Garten. Staatsarchiv Hamburg

416 Volker Plagemann: Entfestigung 417 Volker Plagemann, a. a. O., S. 81f. und Stadtplanung der „weißen“ Stadt. In: Volker Plagemann (Hrsg.): Die Kunst in Hamburg von der Aufklärung in die Moderne. Hamburg 2002, S. 76ff. 298 WALLANLAGEN · „Alter Botanischer Garten“

Im Mai 1833 wurde der Garten von der Stadt Ham- 109. STATION burg übernommen und der Schulbehörde unterstellt Wallanlagen (ab 1919 mit der Gründung der Universität Hamburg „Alter Botanischer Garten“ (Standort: seit 1821) dann dieser zugeordnet). Der „Botanische Garten“ wurde zu einem Staatsinstitut und Prof. Lehmann zum Direktor ernannt. Der Garten diente auch als Am Eingang (vom Dammtorbahnhof kommend) Lehranstalt zur Ausbildung von Gärtnern, und es trifft man im 25 ha großen „Alten Botanischen Gar- wurden zu einem kostengünstigen Preis Pflanzen- ten“ auf eine große alte Platane. Eine Tafel erinnert Dubletten verkauft. Dieser Pflanzenhandel musste an den Gründer und ersten Direktor des Gartens, allerdings 1867 aufgegeben werden, weil die freien Professor Johann Lehmann (1792–1860), seit 1818 Gärtner gegen die staatliche Konkurrenz protestiert Professor der Physik und Naturgeschichte am „Aka- hatten. Die sich daraus ergebenen Einnahmenver- demischen Gymnasium“. luste für den „Botanischen Garten“ mussten die Die Errichtung des „Botanischen Gartens“ war seine Steuerzahler übernehmen, indem die staatlichen Privatinitiative gewesen und sollte ursprünglich wis- Mittel für den „Botanischen Garten“ entsprechend senschaftlichen Zwecken dienen. Doch der 1821 erhöht wurden. Dieser notwendigen Erhöhung nach der Abtragung des Festungswalles beim Damm- stimmte die Hamburgische Bürgerschaft damals nur tor angelegte „Botanische Garten“ wurde bald ein sehr zögerlich zu. beliebter Erholungsort für die Hamburgerinnen und Über die Anlage des „Botanischen Gartens“ schrieb Hamburger. 1848 der Zeitgenosse F. G. Buek: „Durch die reizen-

Botanischer Garten und das Gebäude der Oberpostdirektion, Ende des 19. Jh. Gleich hinter der ehemaligen Ober- postdirektion befindet sich heute der Infoladen der Landeszentrale für politische Bildung und des Jugendinfor - mationszentrums. Staatsarchiv Hamburg WALLANLAGEN · „Alter Botanischer Garten“ 299 den Wallanlagen, fortschlendernd begrüssen wir Heute befinden sich im „Alten Botanischen Garten“ von dort aus schon eine wissenschaftliche Anstalt, z. B. Mittelmeerterrassen und Tropenschauhäuser, den botanischen Garten, den wir vom Dammthor die zur Internationalen Gartenbauausstellung 1963 aus betreten, da wir zu dem anständigen Publicum angelegt wurden. gehören, welchem vom 6 Uhr Morgens bis zur Thor- Verlässt man den „Alten Botanischen Gartens“ zum sperre, also bis zum Abendwerden, der Eintritt ohne Stephansplatz hin, kann man noch ein Stück des Weiteres gestattet ist. Der Garten cultivirt jetzt etwa alten Wallgrabens bewundern. Nach dem Zweiten 14 000 Pflanzenarbeiten (…). In den vielbesuchten, Weltkrieg wurde der größte Teil des Wallgrabens reizenden Baum- und Blumengängen ist eine Stelle, mit Schuttmassen aufgefüllt. Es verblieb nur ein (…) die uns einen Blick auf den Stadtgraben und kleines Stück des Grabens zwischen Jungiusstraße die Esplanade eröffnet.“418) und Stephansplatz.

Eingang/Ausgang des Botanischen Gartens Ende des 19. Jh. Nach einem Besuch im Infoladen der Landeszentrale für politische Bildung und des Jugendinformationszentrums bietet der nur wenige Schritte entfernt liegende Alte Botanische Garten eine Oase der Ruhe, um in den aus dem Infoladen mitgenommenen Publikationen zu stöbern und sich mit einem Imbiss zu stärken. Staatsarchiv Hamburg

– Ende –

418 F. G. Buek: Hamburg und seine Umgebungen im 19. Jh. Hamburg 1844. 300 REGISTER · Adressregister · Straßenregister

Adressregister 111–112 Gänsemarkt Nr. 50, 221–227 Dammtorwall Nr. 1, 121–122 Gänsemarkt Nr. 53/55, 220–221 ABC-Straße Nr. 55, 202–203 Dammtorwall Nr. 7, 123–124 Gänsemarkt Nr. 62, 255 Bäckerbreitergang Nr. 7, 133 Dammtorwall Nr. 9–13/Ecke Gänsemarkt Nr. 66–69, 211–219 Bäckerbreitergang Nr. 49–58, Caffamacherreihe, 125–126 Gänsemarkt Nr. 71–74, 219 161–163, 154, 159 Dammtorwall Nr. 11, 126–127 Gorch-Fock-Wall Nr. 11, 294 Büschstraße, 209–210 Dammtorwall Nr. 15, 135–139 Gorch-Fock-Wall Nr. 15–17, Büschstraße Nr. 9, 210 Dammtorwall Nr. 41, 127–129 295–296 Caffamacherreihe, 170–173 Dammtorwall vor Hausnummer Große Theaterstraße Nr. 10, 249 Caffamacherreihe Nr. 37/39 und 46, 140 Große Theaterstraße Nr. 22, 43–49, 165 Dragonerstall Nr. 11, 160–161 249–251 Colonnaden Nr. 5, 233–234 Dragonerstall Nr. 13, 159–160 Große Theaterstraße Nr. 23, 251 Colonnaden Nr. 11, 234–235 Dragonerstall Nr. 14, 151–153 Große Theaterstraße Nr. 32, Colonnaden Nr. 15, 252 Drehbahn Nr. 3–5, 62–67, 175 252–253 Colonnaden Nr. 17/19, 211–219 Drehbahn Nr. 7, 67–70 Große Theaterstraße Nr. 33, 254 Colonnaden Nr. 25/27/Ecke Drehbahn Nr. 11, 70–71 Große Theaterstraße Nr. 34/35, Büschstraße, 236 Drehbahn Nr. 36–39, 71–72 254–255 Colonnaden Nr. 40a, 235 Drehbahn Nr. 36, 72–78 Große Theaterstraße Nr. 41, Colonnaden Nr. 47, 237–239 Edmund-Siemers-Allee, 290–291 247–248 Colonnaden Nr. 49, 182 Esplanade Nr. 3, 270–271 Große Theaterstraße Nr. 42/43, Colonnaden Nr. 104, 239–240 Esplanade Nr. 6, 271–273 245 Dag-Hammarskjöld-Platz, 291 Esplanade Nr. 11, 258, 273–274 Große Theaterstraße Nr. 44/45, Dammtordamm, 289–290, Esplanade Nr. 12, 258 245–247, 260 292–293 Esplanade Nr. 14,15,16, 274–277 Gustav-Mahler-Park, 287–288, Dammtordamm Nr. 2, 292 Esplanade Nr. 23, 277–278 289 Dammtorstraße Nr. 1/Ecke Va- Esplanade Nr. 32–36, 278 Hans-Grahl-Weg, 285–287 lentinskamp, 78–81 Esplanade Nr. 37, 283–284 Johannes-Brahms-Platz, 141–146 Dammtorstraße 1/Ecke Esplanade Nr. 39, 284–285 Johannes-Brahms-Platz Nr. 1, Drehbahn, 61 Fehlandtstraße Nr. 11–19, 146–151, 267 Dammtorstraße Nr. 12, 59–60 259–262 Jungfernstieg/Ecke Neuer Dammtorstraße Nr. 13, 56–57, Fehlandtstraße Nr. 26–30, Jungfernstieg, 227 170 257–258 Jungfernstieg Nr. 50, 221–227 Dammtorstraße Nr. 14, 23–55 Fehlandtstraße Nr. 40, 255–257 Kalkhof, 205 Dammtorstraße Nr. 20, 110–111 Fürstenplatz, 134–135 Neuer Jungfernstieg Nr. 1, Dammtorstraße Nr. 25, 104–110 Gänsemarkt, 183–202, 204–210, 228–232 Dammtorstraße Nr. 27, 102–104 211–221 Neuer Jungfernstieg Nr. 2, 255 Dammtorstraße Nr. 28, 86–102, Gänsemarkt Nr. 21/23, 195–202 Neuer Jungfernstieg Nr. 11, 218 Gänsemarkt/Büschstraße, 240–242 Dammtorstraße Nr. 30, 83–85 209–210 Neuer Jungfernstieg Nr. 16, 228 Dammtorstraße Nr. 32, 195 Gänsemarkt Nr. 36, 188–194 Neuer Jungfernstieg Nr. 19 (18), Dammtorstraße Nr. 35, 83 Gänsemarkt Nr. 35, 194 262–266 Dammtorstraße Nr. 36, S. 81–82 Gänsemarkt Nr. 40, 188 Neuer Jungfernstieg Nr. 20, Dammtorstraße Nr. 40, 81 Gänsemarkt Nr. 44, 204 266–267 Dammtorstraße/Riemanns Platz, Gänsemarkt Nr. 45, 205–209 Neuer Jungfernstieg Nr. 21, REGISTER · Straßenregister · Sachregister 301

267–270 153–155, 159, 161f., 182, 228, 245–255, 259, 260, Schier’s Passage, 156 Büschstraße, 11, 182, 205, 207, 267 Speckstraße Nr. 60, 134 209f., 219, 236 Gustav-Mahler-Park, 11, 90, 285, Speckstraße Nr. 83–87, 157 Caffamacherreihe, 11, 72–78, 287–289 St. Anscharplatz Nr. 1 und 2, 125–127, 132, 135f., 138, 153, Hans-Grahl-Weg, 11, 285–287 178–181 157, 170–176 Johannes-Brahms-Platz, Stephansplatz, 113–114 Colonnaden, 11, 14, 21, 90, 182, 140–151, 172 Stephansplatz/Dammtordamm, 210–219, 222, 233–240, 252, Jungfernstieg, 11f., 14, 113, 115–116 277 221–227 Stephansplatz Nr. 1, 117–120 Dag-Hammarskjöld-Platz, 291 Kalkhof, 11, 18, 86f., 204f., 207, Stephansplatz Nr. 10 /Ecke Es- Dammtordamm, 11, 13, 90, 218, 229, 245 planade, 278–283 115–121, 160, 287–290, Kleine Theaterstraße, 11, 86, 182 Stephansplatz, Nr. 10–12, 278 292–293 Neuer Jungfernstieg, 11f., 180, Ulricusstraße, 129–134 Dammtorstraße, 11f., 14, 18–61, 182, 227–233, 240–242, Ulricusstraße Nr. 17, 132f. 70, 78–112, 117f., 121, 123, 262–270 Ulricusstraße Nr. 91, 134 127, 170, 182, 195, 212, 218, Schwiegerstraße, 182, 205 Valentinskamp 1 und 2/Ecke 222, 228, 267, 273 St. Anscharplatz, 81, 178–181, Dammtorstraße, 182, 188 Dammtorwall, 11f., 15, 20, 23, 264 Valentinskamp Nr. 28a/28b, 157 24, 41, 53, 72–78, 117–129, Stephansplatz, 11, 15, 18, 20f., Valentinskamp Nr. 30, 165 131f., 134, 135–140, 144, 297 79, 113–121, 188, 227, Valentinskamp Nr. 32, 157 Dragonerstall, 11, 13, 59, 128, 278–283, 291–292, 294, 299 Valentinskamp Nr. 35–39, 156 140f., 151–153, 159–161, 169, Riemanns Platz, 111–112 Valentinskamp Nr. 34a, 159 175 Ringstraße, siehe Gorch-Fock- Valentinskamp Nr. 38 und 34, Drehbahn, 11, 13–15, 58, 60–78, Wall 155, 169 120, 125–126, 138, 153, 164, Ulricusstraße, 11, 127, 129–134, Valentinskamp Nr. 40–42, 155, 174f. 135 156, 164–168 Edmund-Siemers-Allee, 290–291 Valentinskamp, 11–13, 18, 60, Valentinskamp Nr. 47, 163 Esplanade, 11–14, 17, 21, 112, 62, 73, 78–81, 83, 132, 134– Valentinskamp Nr. 57, 176–177 116, 137, 182, 228, 233, 254, 136, 138f., 140, 153–157, Valentinskamp Nr. 148, 134 258, 267, 270–285, 290, 297, 163–169, 174–177, 178–180, Valentinskamp Nr. 274, 177 299 182, 188, 198, 206 Valentinskamp/Ecke Fehlandtstraße, 11, 182, 247, Wallanlagen, 11, 18, 139, Caffamacherreihe, 174–175 255–262, 263, 272–274 296–299 Wallanlagen, 296–299 Fürstenplatz, 11, 134f. Welckerstraße, 23, 57, 58, Welckerstraße Nr. 6, 57 Gängeviertel, 11f., 66, 79, 129, 59–60, 62 Welckerstraße Nr. 8, 58–59 132, 135–140, 145, 151, 153– Wüppermanns Platz, 71f. 159, 161, 168f., 181 Wüppermannscher Hof, 71f. Gänsemarkt, 11–14, 18–21, 73, Straßenregister 78, 81, 87, 103, 176–178, 183–210, 211–221, 227, 255 Sachregister Gänsemarktviertel, 182 ABC-Straße, 26, 40, 42, 201–203 Gorch-Fock-Wall, 11, 21, Axel-Springer-Passage, 172 117–121, 294–297 1848/49er Revolution, 287f. Bäckerbreitergang, 11, 133, Große Theaterstraße, 11f., 86f., Abteilung „Allgemeine Weiter- 302 REGISTER· Sachregister

bildung“, siehe „Allgemeine Beatgeneration, 163, 202f. Bücherstube Felix Jud, 14, 222, Weiterbildung“ Behörde für das Versicherungs- 239–240 Adel, 25, 61, 62, 132f., 134, 211, wesen, 295f. Buek’scher Garten, 211, 267 212–215, 243–244, 266, 285, Behörde für Schule und Berufs- Bürgerliche Revolution von 289–290 bildung, 42ff. 1848/49, 287–288 Aktuelle Schaubude, 59–60 Beratungsstelle für Wiedergut- Bürgermilitär/Bürgerwache, Allgemeiner Deutscher Arbeiter- ma chung, 15, 128–129 183–184 verein, 165 Berlin Krise, 220–221 Bürgerschaft (auch: Wahl; Aus- Allgemeiner Deutscher Frauen- BFN (British Forces Network), einandersetzungen zwischen verein, 38, 170, 264 143–144 Rat und Bürgerschaft), 25f., Allgemeine Weiterbildung (Ab- Bildende Kunst, 13, 81, 157ff., 39, 42, 46, 49, 87, 101, 105f., teilung, Referat), 23, 42ff., 181, 225, 236, 254–255 (siehe 114, 115, 130–131, 149, 159, 51–52 auch: Kunstausstellungen, 173, 184, 189, 209, 220, 254, Alsterhalle, 228–232 Künstlerateliers) 261, 287, 298 Alsterpavillon, 46, 231, 240, 285 Bildungsurlaub, 23, 50–51 Bürgertum, 67, 102, 130, 195, Ampel, 113 Binnenalster, 13, 211, 228, 203, 205, 231, 241, 243, 244, Amt für Weiterbildung, 42ff. 242–244 262, 285 Amtsgericht Hamburg, 125f., Bischofskanzlei, 14, 274–275 Café L’Arronge, 32, 56–57 188 Böckmann’scher Garten, 211, Calvinisten, 258 Anthroposophie, 250f. 228, 229 ChinemaxX, 207, 289, 290 Antiquitätengeschäft Hecht, 236 Bohème (Bar), 176–177 Christliche Akademie des Apollo Saal 63, 64–67, 175 Boheme, 13, 81, 181, 272 Vereins Christlicher Hoteliers, Apollo Theater, siehe Französi- Botanischer Garten (Alter), 21, 14, 277 sches Theater 130, 267, 297, 298–299 Christlicher Verein junger Män- Arbeiter- und Soldatenrat, Brahms-Denkmal, 145–146 ner, 257f., 273 105ff., 206, 241 Brahms-Kontor, 146–151 Christliches Hospiz Baseler Hof, Arbeiterbewegung, 51, 68ff., Brahms-Monument, 140 14, 257, 258, 273–274 105ff., 165ff., 170–173, 245f. Branchenorgan für die Filmwirt- Christliches Kellnerheim, 14, Arbeiterbildungsvereine, 165ff. schaft der britischen Zone, 36 257–258, 259, 273 Arbeiterkneipen, 12, 169, Brandenburger Tor, 220–221 Colosseum, 63, 67 170–173 Britische Besatzung, 33f., 81, Comödienhaus, 62, 87, 185, 211, Arbeiterschaft, 38, 66f., 68ff., 109, 143–144, 150, 153, 202, 216–219 105f., 154, 159, 161–162, 207, 242, 256, 260, 269, Concertsaal Auf dem Kamp, 62, 165ff., 170–173, 181, 243–244, 272–273, 274, 279–280, 292 64, 174–175 259, 262 „Die Brücke“, 17, 257, 272–273 Dammtor, 18, 115–116, 121, 227, Arbeitsstelle Vielfalt, 126–127 Buchhandlung Agentur des Rau- 292, 297 Arisierung, 81–82 hen Hauses, 14, 221–225 Dammtorbahnhof (alter), 26, Arme, 38, 40, 72, 115, 129, Buchhandlung am Jungfernstieg 289–289; (neuer) 290–291, 132–133, 161–162, 179, 180, Anneliese Tuchel, 221ff. 298 220, 254 Buchhandlung an der Dammtorhaus, 23–55 Auer-Druckerei, 259f. Staatsoper, 252–253 Demonstrationen, 12, 20–23, 114, Barett (Jazzklub), 234–235 Buchhandlung Auer & Co., 262 136, 153, 155, 158, 184f., 244 Bauzentrum, siehe Teestube im Buchhandlung Conrad Kloss, 14, Denkmal für Friedrich Schiller, Bauzentrum 222 287 REGISTER· Sachregister 303

Deutsch-Evangelischer Frauen - soucci“ 206; „Fluchtpunkt San Frauenbewegung/Frauenalltag, bund, 254 Francisco“ 136; „Geheimnis ei- 38, 45, 48, 51, 101–102, 123f., Deutsch-reformierte Kirche, ner Seele“ 256; „Das Geständ- 131, 149f., 160f., 161–162, 178–179 nis“ 283; „Große Freiheit Nr. 7“ 170, 173, 183, 201, 215, 246, Deutsche Angestellten Gewerk- 22; „Das Haus von Monte- 249, 251, 254, 264–265, 270f., schaft, 149f. video“ 282; „Hitlerjunge Quex“ 272, 288 Deutsche Kulturfilm-Gesell - 206; „In jenen Tagen“ 35; „Jud Frauencafé „endlich“, 160f. schaft, 255f. Süß“ 35, 81; „Die Kamelien- Frauenhotel „Die Hanseatin“, Deutsche Zentralbibliothek für dame“ 32; „Kinder des Olymp“ 159 Wirtschaftswissenschaften, 282; „Der kleine Muck“ 256; Frauenklub Hamburg, 264–265 269–270 „Der Kongreß tanzt“ 80; „Das Frauenklub Hamburg 1909 für er- Deutsches Reich, 294 Mädchen Irma La Douce“ 136; werbs tätige, gebildete Frauen, Deutsches Theater, 62 „Der Meister von Nürnberg“ 249 Deutschlandhaus, 14, 61, 78–81, 28; „Metropolis“ 84; „Meuterei Freimaurerkrankenhaus, 182, 222 auf der Bounty“ 32; „Missis- 123–124 Deutschnationaler Handlungsge- sippi-Melodie“ 32; „Morituri“ Freimaurerloge, 61, 63, (siehe hilfen-Verband, 146–149 34; „Musikpiraten“34; „Neo auch: Logenhaus der Vereini- Dragonerstall, 140, 151, 175 oder der Brand von Rom“ 27; gen fünf hamburgischen Lo- Emporio, siehe Unilever-Haus „Die Nibelungen“ 206; „OmU“ gen) Engelsaal, 164, 168 34; „Opfergang“ 206; „Rem - Gänsemarktoper, 23, 185, Englischer Reitstall, 219 brandt“ 33; „Die Rollschuh - 211–216, 229, Entnazifizierung, 279–281 bahn“ 27; „Scampolo“ 207; Gärten, 18, 23–26, 188, 212, 228, „Erholung“, 59, 151–153 „Seidenstrümpfe“ 35; „The Sin- 267, 298–299 Erster Weltkrieg, 68f., 148, 189, ging Fool“ 28; „Spiel mir das Gegendenkmal zum 76er Krie- 206, 244 Lied vom Tod“ 257; „Die Sün- gerdenkmal, 13, 293 Esplanade-Theater, 29, 281–283 derin“ 282; „Sündige Liebe“ General-Anzeiger für Hamburg- Europamarkt, 184 27; „Tod in Venedig“ 283; „Die Altona, 195 Euthanasie, 249f. Todesmühlen“, 33f.; „Traum Generalstaatsanwaltschaft, 295 Evangelisch-Sozialer Hilfsverein, ohne Ende“ 34; „Tropische Generalzollamt, 294 132f. Sinnlichkeit“ 257; „Die weiße Gerichtsvollzieheramt, 125f., Evangelische Akademie, 14, 275, Hölle von Piz Palu“ 80; „York“ (siehe auch Versteigerungshal- 276–277 206; „Zum halben Weg“ 34 len des Gerichtsvollzieheram- Exis, 13, 271 Film-Echo, 29, 35, 36 tes) Filme: „Agra, die berühmte Affen- Finanzbehörde/Finanzdeputa - Geschlechterrollen auf der stadt in Bengalen“ 27; „Anders tion, 14, 91, 156ff., 181, 188– Opernbühne, 86, 101–102 als die Andern“ 208–209; „Ar- 192, 192–194, 233, (Finanzamt Gewerkschaften, 149f., 170, 173, che Nora“ 35; „Bambi“ 36; für Verkehrssteuer und Grund- 185, 194 „Bomben auf Monte Carlo“ 80; besitz) 294 Girardet-Haus, 195–202 „Brief Encoun ter“ 34; „Broad- Four Seasons Club, 242 Gläsernes Studio der Aktuellen way-Melodie“ 32; „Cornwall- Französische Emigranten, 61, 62, Schaubude, 59–60 Rhapsodie“ 34; „Dünner 63, 64 Gleichberechtigung, 45, 47–48, Mann“ 32; „Ehe im Schatten“ Französisches Theater/französi- 101–102, 127 35; „Einkehr bei Goethe“ 256; sche Schauspielertruppe, 61, Hamburger Abendblatt (Hauptge- „Das Flötenkonzert von Sans- 62–63, 64, 88, 164, 175, schäfts stelle), 220 304 REGISTER· Sachregister

Hamburger Anzeiger, 14, ches Hospiz Baseler Hof der „Die Brücke“, 272f.; Espla- 196–202 Hotel Esplanade, 278–283 nade-Theater, 29, 281–283; Lili- Hamburger Dom, 184 Hotel Potocky, 62 encron-Filmtheater, 135f.; Me- Hamburger Echo, 68f., 171, 233, Hotel de Rom, 164 tropolis-Kino, 44, 48, 83–85; 243–244, 245, 259ff., 290 Hotel Vier Jahreszeiten, 241–242 Lessing-Theater, 205–209; Hamburger Ferienpass, 54 Hotel Waterloo, siehe Waterloo- Neuer Ufa-Palast, 207–208; Ufa- Hamburger Gruppe Hotel Palast, 78–81, 83, 206; Urania- (Künstlergruppe), 236 Hotelverband der Christlichen Kino, 255–257, 272, 258; Wa- Hamburger Jugendserver, 53 Hoteliers, siehe Verein Christli- terloo-Theater, 15, 23, 27–36, Hamburger Kuratorium für cher Hoteliers 56, 57 staatsbürgerliche Bildung, Hygienisches Institut, 295f. Kirche/Kirchen, Glaubensge- 42ff. Innere Mission, 179–180, 258 mein schaften, 14, 22, 26, 175, Hamburger Presseball, 70 „Die Insel“, 277–278 178–180, 212– 213, 215, 226– Hamburger Spiegelaffäre, Isern Hinnerk, 227 227, 258 113–114 Jenisch-Haus, 262–266 Klingendes Museum, 144, 156 Hamburger Volkszeitung, 164, Judenverfolgung Konditorei A. Giovanoly, 230 166–167, 169 (Antisemitismus), 15, 37f., Konditorei Perrini et Josty, 228 Hamburgische Dramaturgie, 73ff., 78, 80, 81–82, 90–99, Kontorhaus „Stadtbäckerei“, 204 siehe Nationaltheater 127–129, 132, 143, 148, 163, Konzertsaal auf dem Kamp, Hamburgische Sezession, 255 190– 194, 201, 222, 231–232, siehe Concertsaal Auf dem Hamburgische Staatsoper, 13, 20, 255, 233, 235, 236, 237–238, Kamp 37, 46, 50, 86, 90–102, 173, 242, 267, 268 Korsetthaus Gazelle, 81–82 245, 249, 252, 285f., (siehe Jugendgericht, 125f. KPD, 12, 70, 110–111, 164, auch Stadt-Theater) Jugendinformationszentrum, 166–169, 181, 182 Hamburgisches Welt- 11f., 23, 52–55, 121–122 Kriegs- und Zwangsarbeiterlager, Wirtschafts-Archiv, 267–269 Jugendmedienschutz, 54 57, 78, 272 Hanzevast, 157f. Justiz, 38ff., 75–78, 127–128, Künstlerateliers, 13, 81, 157f., Hauptzollamt, 188, (siehe auch 286 181 Post-Zollabfertigungsstelle und Justizbehörde/gebäude, 14, 71f., Künstlerinitiative „Komm in die Zollpolitik) 72–78, 125–128 Gänge“, 158 Hep-Hep-Krawalle, 231–232, Kaiserinsel, 243-244 Kulturring der Jugend, 23, (siehe auch Judenverfolgung/ Kaiserreich/Hamburg, 294–295 49–50, 53, 55, 122 Antisemitismus) Kaiserverehrung, 243–244, Kunstausstellungen, 225, 236, Homosexualität/Lokale, Treff - 289–290 (siehe auch: Bildende Kunst) punkte/Zeitschriften/Verlage, Kalkhof, 86–87, 218, 229, 245, Laeiszhalle, 99, 139, 141–144, Stolpersteine, 13, 70f., 83, 93, 267 Landeszentrale für politische Bil- 113–114, 127, 176–177, 208– Kalkhofkanal/graben, 182, 229, dung, 11ff., 23, 42–49, 85, 209, 226–227, 234, 239, 244, 245, 267 101–102, 121–122, 165, 225, 247–248, 252–253, 277–278, Kellertheater, 150 241, 270, 273, 276f. 285–287 Kinderveranstaltungskalender, Leo-Lippmann-Saal, 189–190 Hospiz Baseler Hof, siehe Christ- 55 Lessinghalle, 194 liches Hospiz Baseler Hof Kinemathek Hamburg, 84 Lessinghaus, 194 Hotel Alsterhof, 258 Kinos: ChinemaxX, 207, 290; Lessing-Theater, 205–207, Hotel Baseler Hof, siehe Christli- Kino in 208–209 REGISTER · Namen 305

Lichterketten, 244 klub Barett, 234–235; Colos- Obdachlosenheim für Frauen, Liliencron-Filmtheater, 135f. seum, 67; Concerthaus auf dem 129, 132–133 Literarische Gesellschaft, 205 Kamp, 174–175; Deutschland- Oberkommando der Küstenver- Literatur/Lesungen, 236, 253, haus, 78–79; Die „Erholung“, teidigung, 241 241, 264, 271, 283–284 151–152; Gänsemarktoper, Oberpostdirektion, 117–120, 294 Lithographische Anstalt, 177 211–216; Hamburgische Staats- Oberste Landesjugendbehörde Logenhaus der Vereinigen fünf oper, 90–102; Laeiszhalle, 141– für den gesetzlichen Jugend- hamburgischen Logen, 58f., 143; Madhouse, 163; Opera medienschutz, 54 (siehe auch: Freimaurerloge) Stabile, 86; Stadt-Theater, 87– Öffentliche Toilette, 113–114 Lokale/Bars/Cafés/Jazzklubs/Kn 90; Sagebiel’s Etablis se ment, Öffentliche Rechtsauskunft eipen/ Restaurants/Teestuben: 67–68, 70; Tütge’s Etablisse- (ÖRA), 23, 38–42 Alsterhalle, 228–232; Alsterpa- ment, 165–166 Öffentlicher Dienst in der NS-Zeit, villon 231, 241; Apollo Saal, 65; Musikhalle, siehe Laeiszhalle 15, 72, 75–78, 279–281 Jazzclub Barett, 234–235; Bar Nachkriegszeit, 33f., 51, 99, 109, Opel Dello, 57, 59–60 Bohème, 176–177; Coffeesaal, 143–144, 150, 202, 279–280 Oper, siehe Hamburgische 62; Die „Erholung“, 59, 151– Nationalsozialismus, 14, 28–34, Staatsoper; Politik und Oper; 153; Deutschlandhaus, 79; 37–38, 40, 45, 47, 48, 51, 56, Theater Frauencafé „endlich“, 160f.; 58, 70f., 73–75, 75–78, 80f., Opera Stabile, 86 Konditorei A. Giovanoly, 230; 81–82, 83, 85, 86, 90–98, Opernhof, 211ff., 216ff., 219 Café L’Arronge, 32, 56–57; 108–109, 110–111, 127–129, Palast des Grafen Felix von Poto- Lessinghalle, 194; Palette, 135, 131–132, 142–143, 148, 154, cki, 60–61, 62, 64 202–203, 234; Patzenhofer, 36; 167, 181, 190–192, 192–194, Palette (Kneipe), 135, 202–203, Konditorei Perrini et Josty, 228; 197–202, 206, 221–225, 233, 234 Arbeiterlokal von Salzen, 171; 235, 236, 237–238, 239–240, Patzenhofer (Restaurant), 36 Sagebiel’s Etablissement, 67; 241f., 246–247 (SPD in der NS- Philharmon. Gesellschaft, 65, Schlegel’s Welt restaurant, 182; Zeit), 248, 249–251, 255, 256, 90, 143 Otto Steins Verkehrslokal der 260–262 (Hamburger Echo und Photoatelier Emilie Bieber, Arbeiter, 169; Tarantella (Tanz- SPD in der NS-Zeit), 265, 268f., 266–267 bar), 279; Theaterklause, 274, 279–280, 285–286, 292– Politik und Oper, 88, 99, 247–248; Teestube im Bauzen- 293, 296 101–102, 211–213, 215, 219 trum, 271 Nationaltheater, 185–186, 205, Politische Polizei, 170ff. Lossaus Haus, 209–210 217 Politische Veranstaltungen/ Lustschüten, 242f. Neue Hamburger Zeitung, 195f., Kundgebungen(-säle)/Ausei- Madhouse, 155, 163 Neuer Frauenclub Hamburg, 251 nandersetzungen, 13, 25f., Mädchenhandel, 173 Neuer Union-Club, 232 43ff., 67ff., 91, 153, 158, Metro-Goldwyn-Mayer (MGM), Neustädter Gesellschaftsräume, 165ff., 184f., 196, 212, 220, 35f. siehe Tütge’s Etablissement 243–244 Metropolis-Kino, 44, 48, 83–85 Norddeutscher Bund, 117f., 165 Polizei/Polizeipräsidium, 20–22, Michael-Naura-Quintett, 234 NDR, 46, 59–60, 85 113–114, 150, 176f., 292 Toni Milberg Kursusschule, Notgemeinschaft der durch die Polizeiwachgebäude, 292 270–271 Nürnberger Gesetze Betroffe- Post(wesen), 117f., 188, (siehe Musikaufführungsorte: Französi- nen, 15, 127–128 auch: Oberpostdirektion) sches Theater/Apollo Theater, Novemberrevolution, 105ff., Post-Zollabfertigungsstelle, 73, 63; Apollo Saal, 64–67; Jazz- 206, 241, 245 125f., 188, (siehe auch: 306 REGISTER · Namen

Hauptzollamt, Zollpolitik) listen, 15, 279–281 Stolperstein für Jonny Steffens, Prostitution, 67, 78, 129–132, Stadtbäckerei, 204 83 173, 183, 205 Stadthaus der Familie Weber, Stolperstein für Viktor Uhlmann, Prügelstrafe, 110 240–241 96f. Putziger-Verlag, 234, 277–278 Stadt-Theater, 86, 87–90, 130, Stolperstein für Hans Raffey & Co., 219 152, 182, 218, 245, (siehe auch: Westermann, 110–111 Rat, siehe Senat Hamburgische Staatsoper) Stolpersteine für Ursula und Rauhes Haus, 258 Otto Steins Verkehrslokal der Ar- Otto Westphal, 249–251 Rechtsberatungen, 38ff. beiter, 169 Stolperstein für Bruno Wolf, 97 Rednerinnenschule, 251 Stiftung Denkmalpflege, 159f. Studentenbewegung, 20ff., 56, Re-education, 17, 85, 109, 272f. Stolpersteindatenbank, 49 59, 160, Reitinstitut, 219 Stolperstein für Gustav Brecher, Swing Kids, 32, 46, 56, 108f. Rocker, 163, 271 92f. Tanzstätten/Ballettaufführungs- Roma und Sinti, Verfolgung NS- Stolperstein für Günther Ehrich, orte: Apollo Saal, 63, 64–67; Zeit, 15, 48, 73f., 78 237, 239 Bar Bohème, 176–177; Colos- Rubin Combo, 234 Stolperstein für Bruno Endrejat, seum, 67; Deutschlandhaus, Sagebiel’s Etablissement, 63, 167 79; Erholung, 151–153; Gänse- 67–70, 91, 153, 172, 182 Stolperstein für Charly Först, 70 marktoper, 211–216; Hambur- Schahdemonstration, 18, 20–23 Stolperstein für Max Fraenkel, gisches Staatsoper, 90–192; Schillerdenkmal, 160 37–38 Mad house, 163; Sagebiel’s Schillerfeste, 287f. Stolpersteine für Flora und Ed- Etablis se ment, 67–70; Stadt- Schlegel’s Weltrestaurant, 182 gard Francke, 235 Theater, 87–102; Tarantella Schulbehörde, 14, 42ff., Stolperstein für Hermann (Tanzbar), 279; Tütje’s Etab- 104–110, 298 Frehse, 93 lissement, 165–166 Schulpolitik, 104–110 Stolperstein für Camilla Fuchs, Tanzverbot, 176–177 Schwan-Apotheke, 102–104 93ff. Tarantella (Bar), 279 Sechsjährige Grundschule, 109 Stolperstein für Alfred Jacob- Taubstummenanstalt, 111–112 76er Denkmal, 292–293 sohn, 237–238 Telegraphenamt, 117–120, 294 Senat, 25f., 35, 39, 42ff., 61, 87, Stolperstein für Mauritz Kapper, Teestube im Bauzentrum, 271 105 f., 114, 115, 132, 151, 155ff., 95 Theater/Oper: Comödienhaus, 159, 167, 170, 173, 175, 176f., Stolperstein für Jacob Kauf- 62, 87, 185, 211, 216–219; Con- 179, 181, 189, 209, 212–213, mann, 95 certsaal Auf dem Kamp, 62, 64, 220, 228, 243f., 254, 260, Stolperstein für Ottilie Metzger- 174–175; Deutsches Theater, 287f., 289–290, 292–293 Lattermann, 95 62; Dragonerstall, 140; Engel- Senatskanzlei, 42, 184 Stolperstein für Jacob Sakom, saal, 164, 168; Französisches Sozialistengesetz, 165, 171f., 143 Theater/französische Schau- 245, 259 Stolperstein für Abraham Salnik, spielertruppe/Apollo Theater, SPD, 12, 68ff., 105ff., 149, 165ff., 95 61, 62–63, 64, 88, 164, 175; 170–173, 245–247, 259–262, Stolperstein für John Schickler, Gänsemarktoper, 23, 185, 290, 293 163 211–216, 229; Hamburgische Spielbank Hamburg, 278, 279 Stolperstein für Joseph Schmidt, Staatsoper, 13, 20, 37, 46, 50, St. Anschar-Kapelle, 178–180 95f. 86, 90–102, 173, 245, 249, 252; Staatskommissar für die Aus- Stolperstein für Magda Spiegel, Hotel de Rom, 164; Kellerthea- schaltung von Nationalsozia- 96 ter, 150; Opera Stabile, 86; REGISTER · Namen 307

Stadt-Theater, 86, 87–90, 130, Zahlenlotto/Staatslotterie, 188, Ignaz Auer, 259 152, 182, 218, 245 209–210 Eduard Averdieck, 210 Theaterklause, 247–248 Zentralverband der Hausange- Lauren Bacall, 136 Torsperre, 115–116, 184, 297 stellten Deutschlands, 38 Max Bach, 28 Tütge’s Etablissement, 164–166 Zollpolitik, 294 Werner Baecker, 59 Übersee-Club, 265–266 Zwangsarbeiter(-lager), 33, 57, Georg Nikolaus Bärmann, 88 Ufa, 28ff., 206, 207–208, 78, 127 Alma del Banco, 254–255 Ufa-Palast, 78–81, 83, 206; Eduard Bargheer, 137, 199, 225 Neuer Ufa-Palast, 207–208, Ernst Barlach, 199 Unilever-Haus, 132, 135–139, Namen Johann Heinrich Bartels, 58 174 Felix Mandelssohn Bartholdy, Urania-Kino, 255–257, 258, 272 143 USPD, 110 August Abendroth, 228 Georg Henning Graf von Basse- Varietee, 65, 80 Charlotte Ackermann, 218 witz-Behr, 168 Verbandshaus des Deutschnatio- Dorothea Ackermann, 218 Carl Alexander de Baur, 61 nalen Handlungsgehilfen-Ver- Konrad Ernst Ackermann, 216ff., Wilhelm Baur, 179 bandes, 146–149 Sophie Charlotte Ackermann, Pina Bausch, 50 Verein Christlicher Hoteliers, 217–218 Beasty Boys, 163 258, 277 Friedrich Adler, 70 August Bebel, 165, 246, 259 Versteigerungshallen des Friedrich Ahlers-Hestermann, Helmuth Becker, 31 Gerichtsvollzieheramtes, 15, 255 Jacques Becker, 282 72, 73–75, (siehe auch: Mathieu Ahlersmeyer, 286 Ludwig van Beethoven, 64f., Gerichtsvollzieheramt) Peter Ahrweiler, 181 286 Volksbildung, 51 Georg Albert, 65 Gert Hinnerk Behlmer, 20–23 Volkshochschulen, 51, 52 Albertine Friederike von Johann Heinrich Behrmann, 112 Vormundschaftsbehörde, 125f. Holstein- Ludwig Beil, 236 Wallanlagen, 296–299 Gottorp, 134 Max Bense, 271 Waterloo-Hotel, 23, 26–27 Detlev Albers, 23 Wilhelm Benz, 71f. Waterloo-Theater, 15, 23, 27–36, Hans Albers, 80 Anita Berber, 208 56, 57 Gerd Albrecht, 144, 156 Elsa Bernstein, 97–99 „Der Weg“, 234, 278 Wilhelm von Allwörden, 91 Max Bernstein, 98 Weibliche Schutzpolizei, 150 Max Amann, 197 Emil Bieber, 266f. Wiedergutmachung, 128–129 Jacob und Otto Ameis, 102 Emilie Bieber, 266 Widerstand gegen das NS- Gustav Amsinck, 263, 264 Leonard Bieber, 266 Regime, 14, 78, 110–111, Peter Anders, 91 Robert Billerbeck, 83 128–129, 167–168, 197– 202, Lale Andersen, 144 Otto v. Bismarck, 118, 165, 171, 221–225, 233, 239–240, 268 Christian Daniel Anderson, 61, 295 Widerstandskreis „Hamburger 64 Fritz Block, 78 Zweig der Weißen Rose“, 47, Edgar André, 168 Erik Blumenfeld, 128, 266 221–225, 240 Albert Aronson, 193f. Rose Bock, 91 Horst Winters Band, 279 Rudolf Aßhauer, 248 Carl Boerner, 287 Wirtschaftsverband der Fred Astaire, 35 Karl Böhm, 90 Filmtheater, 36 Hans Atmer, 137 Humphrey Bogart, 136 W.O.M.A.N., 201 Jacob Audorf, 68 Walter Bohne, 168 308 REGISTER · Namen

Helene Bonfort, 265 William Dabelstein, 167f. Christian Detleff Fehlandt, 255 Hertha Borchert, 81 Gustav Dahrendorf, 246, 260, Lore Feldberg-Eber, 255 David Bowie, 163 261f. Hubert Fichte, 135, 202f. Albert Bozenhard, 206 Thekla Daltrop, 93 Hans W. Fischer, 195f. Johannes Bräger, 83 Thomas Darboven, 140, 145 Helmut Fischer., 257 Johann Jacob Brahms, 134 Nigel Davenport, 144 O. W. Fischer, 282 Johannes Brahms, 134, 140, 141, Louis-Nicolas Davout, 219 Ruth Fischer, 110 145, 146, 169, 254 Rudolf Degwitz, 224 Hugo Fischer-Köppe, 80 Otto Braun, 110 Ida Dehmel, 265 Rudolf Fittig, 103 Artur Brauner, 34 Bertha Dehn, 90 Wilhelm Flitner, 223 Max Brauer, 76, 99, 136, 288 Alain Delon, 57 Peter Flohr, 204 Gustav Brecher, 92f. Walter Detlefs, 93 Gorch Fock, siehe Johann Kinau Bertolt Brecht, 93 C. A. Devaux, 63f. Hermann Fölsch, 257f. Gerhard Bucerius, 128 Carsten Diercks, 44, 85 Charly Först, 70 Heinrich Wilhelm Buek, 112 Hermann Diestel 90 Gustav Forsmann, 262 Hans von Bülow, 254, 284 Paul Dietrich, 166 Willi Forst, 282 Johann Georg Büsch, 210 Johann Heinrich W. Dietz, 259 Max Fraenkel, 23, 37f., 93 Wilhelmine Büsch, verh. Sillem, Wilhelm Drexelius, 110 Arnold Franck, 80 210 Carlos Dudek, 257 Edgard Francke, 235 Paul Bugdahn, 260 Julien Duvivier, 282 Flora Francke, 235 Hermann Julius Calinich, 270 Jörg Ebel, 287 Hermann Frehse, 93 Maria Callas, 57 Friedrich Ebert, 294 Leon Freitag, 23 Julius Campe, 285 Pauline Eckhard, 94 Friedrich Karl Prinz von Albert Camus, 271 Günther Ehrich, 237, 239 Preußen, 266 Angelica Catalani, 64 Heinrich Eisenbarth, 261 Götz Friedrich, 100 Cyd Charisse, 35 D. D. Eisenhower, 221 Friedrich Frisch, 257f. Alexis der Chateauneuf, 228 Ernst Eitner, 255 Willy Fritsch, 80 Madame de Chevalier, 63 Konrad Ekhof, 217 Clemens Froitzheim, 95 Monsieur de Chevalier, 63 Erich Elingius, 23 Camilla Fuchs, 93ff. Frédéric Chopin, 65 Elisabeth von Österreich, 285 Thorsten Fuchs, 156f. Elisabeth Chowaniec, 274 Duke Ellington, 144 Clark Gable, 32 Christian Albrecht von Schles- Friederike Ellmenreich 63 Ludwig Ganghofer, 98 wig-Holstein, 211, 212 Charlotte Embden, 284–285 Greta Garbo, 32 Christian August von Holstein- Moritz Embden, 284 Hermann Geißler, 255, 264 Gottorp, 134 Grete Erna Endrejat, 167f. Georg Ludwig von Holstein-Got- Ferdinand Christophory, 90 Gustav Bruno Endrejat, 167f. torp, 134 Nikita Chruschtschow, 221 Bernhard Endrulat, 288 Frederik Geussenhainer, 221, Winston Churchill, 279 Edgar Engelhard, 59 225 René Clair, 282 Matthias Erzberger, 189 Otto Giering, 83 Georg Wilhelm Claussen, 128 Rolf Eschenbach, 59 Benjamino Gigli, 144 Jean Cocteau, 282 Klara Esslen, 28, 29 Wilhelm Girardet, 195, 197 Stefan Conrad, 155 August Graf von Eulenburg, 289 Hans Giese, 253 Francesca Cuzzoni, 216 Carl Eulert, 106 Emilie Glaser, 128 Franz Czygan, 29 August Everding, 100 Friedrich Johann Glitza, 112 KOLUMNENTITEL · Stichwort 2. Ordnung 309

Willibald Gluck, 92 Erich Hartmann, 255 Carlheinz Hollmann, 59 Joachim Glüer, 257 Carl Hartung, 137 Eduard Hopf, 236 Joseph Goebbels, 33, 92 Lilian Harvey, 80 Bernhard Hopp, 225 Carl Friedrich Goerdeler, 93 Theodor Haubach, 260 Johann Heinrich Horb, 26 Alfred Goerlich, 282, 283 Eva Hauptmann, 97 Chris Howland, 144 Else Gössel, 247–248 Gerhart Hauptmann, 97 Alfred Hrdlicka, 292–293 Wolfgang Goethe, 49 Joseph Haydn, 63 Ricarda Huch, 98 Johann Melchior Goeze, 175 Werner Hebebrand, 136 Alfred Hugenberg, 197 Arie Goral, 271 Edgar Hecht, 236 Hummel, 71f. Friedrich Karl Gotsch, 225 Edith Hecht, 236 Engelbert Humperdinck 97f. Joachim Gottschalk, 35 Felix Hecht, 236 Fritz Husmann, 225 Friedrich Hartmann Graf, 174f. Jacob Hecht, 236 Maria Hussa, 90 Hans Grahl, 285–287 Paul Heile, 268 Henrik Ibsen, 97 Maximilian Grahl, 285 Betty Heine, 284 Arthur Illies, 255 Christoph Graupner, 215 Heinrich Heine, 284–285 Ferdinand Isenberg, 81f., André Grétry, 63 Samson Heine, 284 Mike Jacker, 163 Gisela Griffel, siehe Gisela L’Ar- Samuel Heinecke, 112 Hans Jacobi, 197 ronge Andreas Heineke, 204 Alfred Jacobsohn, 237 Willem Grimm, 255 Karl Heinrich, 262 Marie-Luise Jahn, 222 Johannes Grotjan, 221 Wilhelm Heise, 241 Hans Henny Jahnn, 236 August Grubitz, 90 Heinz B. Heisig, 28, 29ff., 281 Emil Rudolf Janda, 195 Gustav Gründgens, 176 Justus Hendel, 197, 198 Emilie Jenisch, 180, 264 Friedrich W. Grund, 65 Carl-Peter Hennings, 41 Gottlieb Jenisch, 262f., 264 Hedwig Günther, 261 James Henschel, 27, 206 Maria Jepsen, 274ff. Johann Arnold Günther, 124 Sophie Friederike Hensel, 185 Eugen Jochum, 90 Hedi Guru, 91 Helmut Hentrich, 136, 137 Celia Johnson, 34 Justus Gutmann, 91 Albert Henze, 108f. Al Jolson, 28 Alois Haba, 97 Paul Hermberg, 261f. Felix Jud, 14, 222, 239–240, Horst Habs, 296 Volkmar Herntrich, 226 Hermann Junker, 181 Georg Friedrich Händel, 92, 143, Heinrich Herterich, 177 Bert Kaempfert, 279 215 Hermann Hesse, 234 Erich Kästner, 224 Albin Hänseroth, 100 Theodor Heuß, 288 Helmut Käutner, 35 Friedrich Haerlin, 241 Heinrich Himmler, 34, 242 Nikolaus Kaiser, 277 Fritz Haerlin, 241f. Abraham Hinckelmann, 26 Walter Kaiser, 181 Erna Halbe, 105f. Paul von Hindenburg, 110 Georg Kallmorgen, 146 Martin Haller, 67, 89, 141, 232, Manfred Hirschel, 27ff. Werner Kallmorgen, 137 264 Gebrüder Hirschfeld, 235 Daisy Kaltenbach, 273 Dag Hammarskjöld, 291 Magnus Hirschfeld, 208 Johann Jakob Kaltenbach, 273f. Wilhelm August Hammond-Nor- Franz Peter Hiß, 209–210 Sabine Kalter, 91 den, 81 Adolf Hitler, 40, 79, 98, 239 Gustav Kampendonk, 34 Witwe Handje, 164f. Ernst Hochfeld, 78 Gottfried Kappen, 135 Johann Joachim Hanfft, 151 Fritz Höger, 236 Mauritz Kapper, 90, 95 Friedrich Hansen, 188 Konrad Hoffmann, 127 Paula Karpinski, 261 Veit Harlan, 35, 81, 206, Paul Hoffmann, 69 Gustav Karres, 73 310 KOLUMNENTITEL · Stichwort 2. Ordnung

Richard Katz, 239 Ernst Krenek, 93 Ruggero Leoncavallo, 286 Hannes Kaufmann, 39, 41 Carl Vincent Krogmann, 33, 76, Sergio Leone, 257, 283 Jacob Kaufmann, 95 81, 281 Heinrich Lersch, 293 Karl Kaufmann, 76, 81, 197, 261, Hans Gisbert Krümmer, 197 Friedrich Leser, 233 281 Ernst Krukowski, 287 Gotthold Ephraim Lessing, Karl Kautsky, 171 Heinz Kucharski, 223, 224 185–187 Gottfried Otto Kayser, 216 Ulrich Küntzel, 268 Max Levy, 103 Johann Kayser, 216 Paul Kuhn, 56 E.W.M. Lichtwarck, 256 Margaretha Susanna Kayser, Richard Kuöhl, 188, 292 Max Liebermann, 201 215–216 Ludwig Kunstmann, 147 Rolf Liebermann, 100 Irma Keilhack, 247, 261 Rudolf von Laban, 200 Heinz Liepman, 233–234 Reinhard Keiser, 215 Carl Heinrich Laeisz, 141f. Ruth Lilienstein, 233 Brüder Kelling, 65ff. Sophie Laeisz, 141 Jenny Lind, 88 Hans Kellinghusen, 188 Traute Lafrenz, 47, 222, 224 Albert Lindhorst, 194 Hans Ketzscher, 268 Wilhelm Lamszus, 201 Elisabeth Lingner, 227 Bertha Keyser, 132–134 Heinrich Landahl, 109f. Hermann Link, 39 Annie Kienast, 149f. Werner Landers, 177 A. Linnebach, 90 Alfred v. Kiderlen-Wächter, 289 Fritz Lang, 84, 139, 206 Julius Lippelt, 160, 287 Johann Kinau, 294 Alexander Lange, 223 Leo Lippmann, 91, 190 Wilhelm Kienzl, 286 Carl Albert Lange, 81 Corny Littmann, 113–114 Konstantin Kleffel, 101, 149 Elisabeth Lange, 221, 223 Paul Löbe, 262 Just Kleinhuis, 277 Martha Langer, 279 Johann Friedrich Löwen, 185 Erna Klingmann, 37 Louwrenz Langevoort, 100 Kurt Löwengard, 255 Meta Klopstock, 187 Gisela L’Arronge, 56f. Max Lohfing, 286 Hans Ulrich Klose, 114 Paul L’Arronge, 56f. Albert Lortzing, 92 Margarethe Klose, 286 Ferdinand Lasalle, 68 Christoph Arnold Lossau, 210 Conrad Kloss, 14, 222 Theodor Lattermann, 95 Erich Lüth, 43, 90, 197f. Karl Kluth, 199, 250, 255 Käthe Latzke, 110f. Willi Lütjen, 138 Stefan Knapp, 137 Heinrich Laufenberg, 106, 241 Peter Lütkens, 23ff., 211, 212 Hildegard Knef, 282 Charles Laughton, 32, 33 Werner Lundt, 146 Wilhelm Knochenhauer, 81 Emma A. Lazarus, 254, 283–284 Angela Luther, 60 Gustav Knuth, 33 Zarah Leander, 57 Hellmuth Lux, 83 Uwe Köhnholdt, 101, 149 David Leans, 34 Kurt Maetzig, 35 Eva König, 186–187 Caroline Lebrün, 63 Gustav Mahler, 90, 92, 283 Jörg König, 60 Thomas Lediard, 214 Rouben Mamoulian, 35 Johann Ulrich König, 215 Kurt Ledien, 225 Katia Mann, 98 Käthe Kollwitz, 199 Fernand Léger, 255 Klaus Mann, 234 Michael Komorowski, 181 Johann Lehmann, 298 Thomas Mann, 98 Walter Koppel, 35, 128 Johannes C. E. Lehmann, 289f. Mirjana Markovic, 138 Alexander Kordas, 33 Hans Leip, 23, 26, 196, 223, 236, Jürgen Marlow, 137 Marie Kortmann, 265 Hans Leipelt, 221, 222, 223, 224 Oskar Martini, 40 August von Kotzebue, 219 Katharina Leipelt, 221, 223 Arkadi Maslow, 110 Emil Krause, 260 Konrad Leipelt, 223 Walter Matthaei, 39, 181 Josef Krebs, 193 Maria Leipelt, 223 Johann Mattheson, 215 KOLUMNENTITEL · Stichwort 2. Ordnung 311

Silvia Matthies, 85 Jochen Nicolassen, 174 Rolf Putziger, 278 Hein Matz, 167f. Carl Wilhelm Theodor Ninck, Will Quadflieg, 49 Chéri Maurice, 164f. 179–180 Frieda Radel, 131 Johann Friedrich Mayer, 213 Christiane Nissen, 134 Walter Raeke, 91 Paul Mechlen, 236 Gustav Noske, 246 César Rainville, 61, 64 Wilhelm Meerwein, 141 Jacques Offenbach, 91 Julius Raschdorff, 117 Karl Meitmann, 246, 261f. Benno Ohnesorg, 20 Carl Rathjens, 268 Ingrid Melzner, 257 Karl Opfermann, 148, 199, 236 Jörn Rau, 145 Milon de Mesnes, 61 Richard Oswald, 208 Martha Rauert, 264 Alfred Mette, 261 William O’Swald, 188 Paul Rauert, 264 Ottilie Metzger-Lattermann, 95 Perla Ovici, 85 Heinrich Reese, 221 Ingo Metzmacher, 100 G.W. Pabst, 256 Max. H. Rehbein, 44, 85 Claus Meyer, 205 Björn Papay, 149 Elise Reimarus, 186 Heinrich Meyer, 166 Gady Parnass, 48 Otto Reimer, 165 Johannes P. Meyer, 225 Peggy Parnass, 48 Martin Reinecke, 252–253 Reinhold Meyer, 221-222, 223, Dirks Paulun, 81 Adam Reinken, 23, 211 224, 225 Antonie Petersen, 254, 284 Anton Reiser, 26, 212 Giacomo Meyerbeer, 95 Carl Petersen, 206 Harry Reso, 80 Johann H. F. W. Mielck, 103 Carl Friedrich Petersen, 254 Else Reuß, 201 Wilhlem Mielck, 103 Rudolf Petersen, 128 Harry Reuß-Löwenstein, 201 Toni Milberg, 270–271 Hubert Petschnigg, 136, 137 Alfred Richter, 262 Anna Milder-Hauptmann, 64 Roger Peysefitte, 234 Christian Richter, 212 Glenn Miller, 143 Rosamunde Pietsch, 150 Günther Riebow, 286 Brüder Mingotti, 140, 216 Cäsar Pinnau, 282 Heinz Riech, 207 Ernst Moeller, 290 Peter Pipis, 60 Karlheinz Riecke, 73 Adolf Mönckeberg, 200 Marianne Pirker, 216 Leni Riefenstahl, 80 Johann Georg Mönckeberg, 200 Maria Pirwitz, 145f. Jacob Rieper, 106 Vilma Mönckeberg-Kollmar, Ildebrando Pizzetti, 286 Rainer Maria Rilke, 98 200f. Hans Podeyn, 261 Ulli Rimmler, 287 Hermann Molkenbuhr, 171 Josef Polak, 95 Kurt Ritter, 201 Margaretha Moller, 204 Egon Pollack, 91 Julius Rodenberg, 284 Yves Montand, 283 Bernhard Pollini, 90 Henriette Röhl, 112 Hilda Monte, 191–192 Jürgen Ponto, 60 Valeska Röver, 255 Amadeus Mozart, 63, 92 Gabriele Porges, 98 Bertha Rohlsen, 264 Margarethe Mrosek, 221, 223 Heinrich Porges, 97f. Jürgen Roland, 44, 59, 85 Hans Much, 236 Felix Graf von Potocki, 61, 62 Aleksandar Ronai, 138 Christian Müller, 60 Gräfin von Potocki, 61 Eduard Rosenbaum, 268 Farid Müller, 287 Alexander Povorina, 255 Ernst Rosmer, siehe Elsa Bern- Theodor Mumm, 69f. Karl Prahl, 81 stein Caroline Neuber, 216, 218 Max Predöhl, 141 Gioacchino Rossini, 65 Rudolph Neugebauer, 236 Prince, 163 Heiner Roß, 84f., 273 Otto Neumann, 296 Rüdiger Proske, 44, 85 Margaretha Rothe, 221, 223, John Neumeier, 50, 100 Max Puls, 120 224f. Paul Nevermann, 136 Puttfarcken, 195 Curt Rothenberger, 76 312 KOLUMNENTITEL · Stichwort 2. Ordnung

Albert Ruch, 90f. , 224 Otto Speckter, 177 Heinz Rühmann, 57 Gerhard Schott, 23, 211, 212, 215 Magda Spiegel, 96 Paul Runge, 103f. Gottfried Schramm, 61 Dorothea und Ludwig Spohr, 65 Herbert Ruscheweyh, 261f. Wolf Schramm, 198ff., Axel Springer, 32, 57, 220, 240 Valentin Russwurm, 163 Anna Christina Schröder, 218 Bertold Spuler, 23 Valentin Ruths, 240 Friedrich Ludwig Schröder, 62, Werner Staack, 114 Leopold Sachse, 90f. 123f., 217ff. Erna Stahl, 224 Georg Sacke, 268 Peter Schröder, 285 Heinrich Stahmer, 111 Rosemarie Sacke, 268 Sophie Charlotte Schröder, siehe Josef Stalin, 279 Abraham Salnik, 95 Sophie Charlotte Ackermann Hans Staudinger, 261f. Helma Sanders, 85 Sophie Schröder, 219 Rainer Steffen, 145 Albert Sanneck, 111 Wilhelmine Schröder-Devrient, Richard Steffen, 181 Günther Sare, 185 88 Jonny Steffens, 83 Ulrich Sass, 27 Jacob Schuback, 175 Heinrich Stegemann, 199 Jean Paul Satre, 271 Johann Schuback, 187 Rudolf Steiner, 97, 250 Heinrich Schacht, 65ff. Hans Herbert Schuldt, 271 Gustav Stengele, 259 Schah von Persien, 20ff. Fritz Schumacher, 73, 78, 104, Heinrich von Stephan, 113, 118 Fritz Schaper, 185 125, 188 Otto Stolten, 172 Rosa Schapire, 265 Clara Schumann, 65 John Strang, 231 Edwin Scharff, 145 Paul Schwarz, 90 Richard Strauss, 92 Emil Schaudt, 194 Christian Diedrich Schwieger, Ferdinand Streb, 155 Conrad Hermann Schemmann, 205 Grete Streit, 28 233 Ferdinand Sckopp, 146f. Hugo Streit, 27 John Schickler, 163 Jean Seberg, 271 Karl Strohm, 286 Luise Schiefler, 265 Harald Seligmann, 242 Franz von Struck, 98 Otto Schierup, 181 Daniel Heinrich Senß, 112 Karl Stüpfle, 296 Richard Schilde, 257 Abel Seyler, 185, 217, 218 Albert Suhr, 222, 223, 224, 225, Hilde Schill, 167f. Walter Siebelist, 181 240 Kurt Schill, 167f. Hugo Sieker, 81, 198f., 225 Günther Suhrbier, 235 Charlotte Schiller, 288 Edmund Siemers, 290 Ludwig Suthaus, 287 Friedrich Schiller, 287–288 Wilhelm Sillem, 210 Thea Sutoris, 249 Karl Friedrich Schinkel, 87 Georg Singer, 91 Georg Syguda, 83 Werner Schlenther, 41 Kurt Singer, 268 Johann Teich, 219 Walter Schmedemann, 261 Paul Singer, 259 Georg Philipp Telemann, 174, Dieter W. Schmidt, 283 Robert Miles Sloman, 89 215 Helmut Schmidt, 176 Kristina Söderbaum, 35, 205 Fritz Terhelle, 268 Joseph Schmidt, 95f. Hans Söhnker, 33 Ernst Thälmann, 110, 182 Hans Schmidt-Isserstedt, 144 Willy Sommerfeld, 84 Johann Theile, 212 Uwe M. Schneede, 83 Ernst Georg Sonnin, 209 M. Thilbault, 63 Romy Schneider, 57, 207 Henriette Sontag, 65 Adolf Tiedemann, 206 Johann Simon Schöffel, 226 Heinrich Theodor Speckbötel, Gustav Tolle, 181 Arnold Schönberg, 96 204 Gyula Trebitsch, 35, 128 Adolph Schönfelder, 261 Erwin Speckter, 177 Harry S. Truman, 279 Hans Scholl, 224 Johann Michael Speckter, 177 Anneliese Tuchel, 221, 224–226 KOLUMNENTITEL · Stichwort 2. Ordnung 313

Klaus Tuchel, 226–227 Mary Wigman, 199 Viktor Uhlmann, 96f. Otto Wild, 181 Claus Umland, 246 Wilhelm I., 243 Paul Gerson Unna, 103 Wilhelm II, 243f., 289f. Walter Unruh, 92 Hannelore Willbrandt, 222 Johan van Valckenburgk, 297 Carl Ludwig Wimmel, 87, 230, Conrad Veidt, 208 278, 283, 284 Giuseppe Verdi, 92, 286 Maria Wimmer, 49 Sophie Amalia Verocai, 216 Alois Winbauer, 197 Luchino Visconti, 283 Johann Winckler, 26 Johann Heinrich Vogel, 215 Elisabeth Winter, 128 Ernst-Günter Voges, 149 Horst Winter, 279 Caspar Voght, 63, 124 Hannelore Witkofski, 85 Wilhelm Vortmann, 146 Graf de Witt, 61 Manfred Voss, 138 Adolph Wittmaack, 201, 236 Richard Wagner, 90, 92, 98, 254 Hans-Otto Wölber, 22 Eduard Wald, 111 Adolf Woermann, 148 Alfred Graf von Waldersee, 289 Gottlieb Woermann, 240 Felix Wallner, 181 Robert Wohlleben, 271 Berthold Walter, 190–192 Gretchen Wohlwill, 255 Jörn Walter, 139 Bruno Wolf, 90, 97 Maria Luisa Warburg, 266 Georg Wortmann, 188 Max M. Warburg, 265, 268 Adolf Wriggers, 81 Finn Warncke, 149 Hilde Wulff, 37 David Weber, 240f. Eugen York, 34 Gerhard Weber, 99 Simone Young, 101 Henriette Weber, 240f. Grete Zabe, 261 Karl Maria von Weber, 92, 286 Peter Zadek, 50 Johannes Wedde, 259 Peter von Zahn, 44, 85 Louise Wegbrod, 260 Magnus Zeller, 241 Herbert Wehner, 260 Alexander Zemlinsky, 97 Herbert Weichmann, 22f. Luise Zietz, 245–246 Hedwig Weidemann, 251 Carl Johann Zimmermann, 294 Alfred Weidenmann, 207 Alexander Zinn, 181 Kurt Weill, 93, 286 Reinhold Zulkowski, 81, 181 Grethe Weiser, 57 Karl Theodor Welcker, 57 Frau Welker 296 Bertha Wendt, 265 Hans Peter Werner, 156f. Ilse Werner, 33, 57 Hans Westermann, 110–111 Gebrüder Wex, 233 Johannes Wichern, 258 314 AN DIESEM BUCH WIRKTEN MIT

An diesem Buch wirkten mit: an der Hochschule für angewandte Wissenschaften, FB Bibliothek und Information; Studium der Sozial- Bernd Allenstein und Wirtschaftsgeschichte, der deutschen Alter- geb. 1947; Studium der Germanistik, Geschichte, So - tums- und Volkskunde, der Vor- und Frühgeschichte ziologie und Erziehungswissenschaften in Hamburg; an der Universität Hamburg; stellvertretende Leiterin Tätigkeit als Lehrer, Referent für Medien- und Kultur- der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg arbeit im Jugendinformationszentrum; Publikatio- und der Abteilung Allgemeine Weiterbildung der nen zur Deutschen Gegenwartsliteratur und zur Ar- Behörde für Schule und Berufsbildung; Gründerin chitektur in Hamburg. des „Gartens der Frauen“ auf dem Ohlsdorfer Fried- hof und Vorsitzende des Vereins „Garten der Frauen Rolf Appel e. V.“; seit 2001 Konzeption und Durchführung von geb. 1920; Buchverleger (nach 1945 mit Britischer szenischen Rundgängen durch die Hamburger In- Lizenz); Freimaurer seit 1948; 1968–1981 auf Wunsch nenstadt; zusammen mit Beate Meyer: Leitung des des Vatikans Teilnehmer eines offiziellen Dialoges Projektes „Stolpersteine in Hamburg, eine biographi- zwi schen Freimaurern und der Katholischen Kirche; sche Spurensuche“; Vorträge, Konzeptionen von Aus - Mitbegründer der „Lessing-Gesellschaft“; Buchautor stellungen und zahlreiche Veröffentlichungen zu von zahlreichen „Hamburg-Büchern“, u. a.: „Schrö- Frauen-, Sozial- und Hamburggeschichte, so z. B.: ders Erbe, 200 Jahre Vereinigte Fünf Logen“ (2000), „Als Fremde zu Hause in Hamburg. Ein Handbuch „Lessing am Gänsemarkt. Die Geschichte eines für Zuwanderinnen und Zuwanderer (1992), zusam- Denkmals“ (2004). men mit Birgit Kiupel: „Unor dentliche Begierden – Liebe, Sexualität und Ehe im 18. Jahrhundert“ (1996), Angela Bähr „‚Hier spricht Hamburg‘. Hamburg in der Nach- geb. 1964; Dipl. Sozialpädagogin, Master Gesund- kriegszeit“. Rundfunkreportagen, Hörspiele etc. des heitswissenschaften; Ausbildung in systemischer Nordwestdeutschen Rundfunks, 6 CDs (2007), zu- Organisationsentwicklung und Coaching; acht Jahre sammen mit Birgit Kiupel und Lars Hennings: „Ein- tätig in der Menschenrechtsarbeit in Nicaragua, blicke. Hamburgs Verfassung und politischer Alltag Schwerpunkt: Frauen; fünf Jahre wissenschaftliche leicht gemacht“ (6. aktual. Auflage 2010). Mitarbeiterin bzw. Leiterin unterschiedlicher Pro- jekte der Gesellschaft für technische Zusammenar- Ulf Bollmann beit (GTZ); seit Juli 2009 Leiterin der Arbeitsstelle geb. 1966; Diplom-Bibliothekar; seit 1992 Archivar Vielfalt in der Justizbehörde der Freien und Hanse- im Staatsarchiv Hamburg und seit 2006 im Projekt- stadt Hamburg. beirat der Forschungsstelle Geschichte des Rundfunks in Norddeutschland; seit seiner Jugend Auseinan - Frank Bajohr dersetzung mit Genealogie, seit 1998 Vorsitzender geb. 1961; Dr. phil.; habil.; wissenschaftlicher Mit- der Genealogischen Gesellschaft Hamburg e. V. und arbeiter der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in im Beirat der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Genea- Hamburg und Privatdozent am Historischen Semi- logischer Verbände; Autor verschiedener Aufsätze, nar der Universität Hamburg; Verfasser zahlreicher u. a. über die Abschiebung Hamburger Strafgefange- Studien zur deutschen und hamburgischen Zeitge- ner im 18. Jh. (1998) und das älteste Gefangenenbuch schichte, zuletzt: „Hanseat und Grenzgänger: Erik des Hamburger Spinnhauses des 17. Jh. (2006); seit Blumenfeld – eine politische Biographie“ (2010). Längerem Beschäftigung mit der Erforschung der Biografien verfolgter Homosexueller in Hamburg, ins- Rita Bake besondere des KZ Neuengamme; viele Jahre Vor- geb. 1952; Dr. phil.; Dipl. Bibliothekarin, Studium standsmitglied des Fachverbandes Homosexualität AN DIESEM BUCH WIRKTEN MIT 315 und Geschichte; Anfang 2006 zusammen mit Bern- 2001-2008 Redakteur bei der Deutschen Presse- hard Rosenkranz Begründer der Initiative „Gemein- Agentur in Hamburg; seit 2008 stellvertretender sam gegen das Vergessen – Stolpersteine für homo- Pressesprecher der Nordelbischen Ev.-Luth. Kirche sexuelle NS-Opfer“. für Hamburg.

Marina Bruse Birgit Kiupel geb. 1953; Dipl. Sozialpädagogin; Foto- und Video- geb. 1960; Dr. phil.; Studium der Geschichte, Lite- projekte. raturwissenschaften und Philosophie an der Uni- versität Hamburg und Studium der visuellen Kom- Michael Conrad munikation an der Hochschule für Bildende Künste geb. 1949; Aufnahmeleitungsassistent Film; diverse in Hamburg; Rundfunkautorin; Vorträge und Veröf- Tätigkeiten in der Filmwirtschaft; Studium der So- fentlichungen u. a. zur Sozial-, Geschlechter- und zial pädagogik; Anerkennungsjahr bei der Landes- Musikgeschichte in Vergangenheit und Gegenwart; bildstelle Hamburg, Schwerpunkt Medienarbeit; Ge- Zeichnerin und Diashowkünstlerin. schäftsführung Kulturring der Jugend; Gutachter und Jugendschutzsachverständiger für Film und all- Helga Kutz-Bauer gemeine Medienfragen; tätig bei der Freiwilligen geb. 1939 in Königsberg/Pr.; Dr. phil.; kaufmänni- Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) und ande- sche Lehre; Abendabitur; Studium in Hamburg; Di- ren Institutionen des Jugendmedienschutzes. plom 1971; 1971–1974 Mitglied der Bezirksversamm- lung Eimsbüttel, anschließend bis 1978 Mitglied der Jaqueline Gerhard Hamburgischen Bürgerschaft; 1985–2003 Leiterin geb. 1983; Master of Arts in Public Management der Landeszentrale für politische Bildung in Ham- and Governance; seit 2010 Wirtschaftsreferendarin burg; Promotion mit einer Arbeit über die Hambur- im Referat für Europapolitik der Senatskanzlei Ham- ger Arbeiterbewegung; diverse Veröffentlichungen burg. z. B. zur Arbeiterbewegung; 2008 erschien ihr zwei- bändiger Roman „Königsberger Schnittmuster/Kö- Monika Hartges nigsberger Kreuzwege“. geb. 1959; Dr. jur.; sozialwissenschaftliches und ju- ristisches Studium, Erfahrung in beiden Berufsfel- Uwe Lohalm dern auch als Lehrbeauftragte und Trainerin; aktuell: geb. 1939; Dr. phil.; Studium der Geschichte, Ro- Leiterin der Öffentlichen Rechtsauskunft und Ver- manischen Philologie, Philosophie und Erziehungs- gleichsstelle (ÖRA); erfahrene Mediatorin (BAFM) wissenschaften an der Universität Hamburg und der in verschiedenen Konfliktfeldern und besonders in- Sorbonne in Paris; Lehrer an einem Hamburger teressiert an den philosophischen und gleichzeitig Gymnasium und Fachseminarleiter für Geschichte praktischen Kategorien „Recht“ und „Gerechtigkeit“. am Staatlichen Studienseminar in Hamburg; 1987 Wechsel als wissenschaftlicher Referent an die da- Irina von Jagow malige Forschungsstelle für die Geschichte des Na- Geschäftsführerin Stiftung Denkmalpflege. tionalsozialismus in Hamburg; von 1994 bis 1997 stellvertretender Leiter der Forschungsstelle für Zeit- Thomas Kärst geschichte, von 1997 bis 2004 deren Wissenschaft- geb. 1967; Studium der Evangelischen Theologie in licher Direktor; Arbeiten u. a. zur Geschichte der Hamburg, Buenos Aires und Berlin; Vikarist in Han- völkischen Bewegung und zur Judenverfolgung so- nover; 1998–2000 Volontär und dann Redakteur wie zur Verwaltungs- und Sozialpolitik Hamburgs. beim Evangelischen Pressedienst (epd) in Hannover; 316 AN DIESEM BUCH WIRKTEN MIT

Gottfried Lorenz jektes „Stolpersteine in Hamburg, eine biographi- geb. 1940; Dr. phil.; Staatsexamen; Studium der Ge- sche Spurensuche“. schichte, Germanistik, Soziologie und Skandinavis- tik; wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der „Vereini- Thomas Nowotny gung zur Erforschung der Neueren Geschichte“ in geb. 1960; Studium der Humanmedizin in Berlin; Bonn; bis Februar 2005 Tätigkeit als Studiendirektor Kin der- und Jugendarzt in Stephanskirchen bei Ro- am Gymnasium Glinde in Holstein; diverse Veröf- senheim. fentlichungen zu Geschichte und Skandinavistik; Co-Autor in Zusammenarbeit mit Bernhard Rosen- Ursula Pietsch kranz am 2005 erschienenen Buch „Hamburg auf geb. 1939; von 1968–2002 Lehrerin für Deutsch und anderen Wegen – Die Geschichte des schwulen Le- Fran zösisch in Hamburg; seit 2003 im Projekt „Stol- bens in der Hansestadt“; mit Bernhard Rosenkranz persteine in Hamburg, eine biographische Spurensu- und Ulf Bollmann Herausgeber der Publikation „Ho- che“ für die Walddörfer zuständig; Mitautorin der mosexuellen-Verfolgung in Hamburg 1919– 1969“ Publikation „Stolpersteine in Hamburg-Wandsbek (2009); Co-Autor der Ausstellung „Homosexuellen- mit den Walddörfern“ (2008); Lesungen, Rundgänge, Verfolgung in Hamburg“ in der Staats- und Univer- Projekte zur Geschichte der Walddörfer 1933–1945 sitätsbibliothek Hamburg (2007), der KZ-Gedenk- zusammen mit Eva Lindemann und Klaus Pietsch. stätte Neuengamme (2008) und in der Diele des Hamburger Rathauses (2009); zahlreiche Vorträge Brita Reimers und Führungen zur Verfolgung und Diskriminierung geb. 1949; Studium der Literaturwissenschaft, Phi- der Homosexuellen im Rahmen dieser Ausstellungen losophie und Kunstgeschichte an der Universität und im Rahmen der Stolperstein-Initiative von Bern- Hamburg; Magisterarbeit über Goethe; Verlagslek- hard Rosenkranz und Ulf Bollmann. torin und zeitweilig Pressereferentin; Veröffentli- chungen zu Kulturgeschichte, Biografien und Gär- Beate Meyer ten; Herausgeberin der Buchreihe „Gartenkultur“; geb. 1952; Dr. phil.; wurde 1998 an der Universität Konzeptentwicklung und Leitung von Vortragsreihen Hamburg mit einer Arbeit über die Verfolgung „jü- und Workshops; Mitarbeit an Symposien und Aus- discher Mischlinge“ in der NS-Zeit promoviert; lei- stellungen; seit 2008 freiberuflich tätig. tete 1999/2000 das Ausstellungsprojekt „Juden in Berlin 1938–1945“ an der Stiftung Neue Synagoge Volker Reißmann – Centrum Judaicum in Berlin; war 2000/2001 Fel- geb. 1966; Diplom-Bibliothekar; Angestellter im low in Yad Vashem; seit 2001 arbeitet sie mit Unter- Staatsarchiv Hamburg; Lehrbeauftragter an der brechungen als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hochschule für angewandte Wissenschaften (HAW); Insti tut für die Geschichte der deutschen Juden, Vorstandsmitglied im Verein Film- und Fernsehmu- Ham burg; Veröffentlichungen: „‚Jüdische Misch- seum Hamburg e. V.; Veröffentlichungen zur Film- linge‘ Rassenpolitik und Verfolgungserfahrungen und Mediengeschichte, u. a.: „Die Bild-Zeitung als 1933–1945“ (1999), Herausgeberin zusammen mit Massenmedium“ (1986), „Fernsehprogrammzeit- Hermann Simon: „Juden in Berlin 1938– 1945“ schriften – ein Überblick über die bundesdeutsche (2000), Herausgeberin zusammen mit Birthe Kund- Pro grammpresse“ (1998), zusammen mit J. W. rus: „Die Deportation der Juden aus Deutschland. Frank, Iris Groschek und Reiner Hering: „Der Michel Pläne – Praxis – Reaktionen (1938–1945)“ (2004), brennt“ (2006), zusammen mit Michael Töteberg: Herausgeberin: „Die Verfolgung und Ermordung der „Mach dir ein paar schöne Stunden – Das Hambur- Hamburger Juden. Geschichte. Zeugnis. Erinnerung“ ger Kinobuch“ (2009); freier Rezensent für diverse (2006); zusammen mit Rita Bake: Leitung des Pro- Tagezeitungen und Zeitschriften. AN DIESEM BUCH WIRKTEN MIT 317

Friedrich Ropertz (Referendariat), Hamburg (u. a. Senatsamt für die geb. 1944; Medienreferent des Jugendinformations- Gleichstellung) und Berlin (u. a. Geschäftsführung zentrums; Video- und Multimediaprojekte. einer berufsständischen Kammer) nun Referatslei- terin im Amt für Weiterbildung der Behörde für Susanne Rosendahl Schule und Berufsbildung zuständig für den Bereich geb. 1962; Grafikerin; seit 2008 im Projekt „Stolper- „Allgemeine Weiterbildung“, u. a. für Aufsicht und steine in Hamburg, eine biographische Spurensu- Steuerung der VHS, Grundsatzangelegenheiten und che“ zuständig für die Neu-und Altstadt. Projektförderung der außerberuflichen Weiterbil- dung. Bernhard Rosenkranz geb. 1959, gest. 2010; Dipl. Ökotrophologe; von 1985 Joachim Szodrzynski bis 2000 in der Verbraucherzentrale Leiter der Ab- geb. 1953; 1975–1980 Studium der Philosophie, Ger- teilung Verbraucherschutz; neben zahlreichen Bro- manistik, Politik- und Erziehungswissenschaften an schüren Autor bzw. Co-Autor zahlreicher Sachbü- der Universität Hamburg; 1980/1983 Erstes und cher im Rowohlt-, Germa-Press- und Behr’s Verlag; Zweites Staatsexamen Höheres Lehramt; seit 1984 lange Jahre Beschäftigung mit der Geschichte der wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungs- Homosexuellen in Hamburg; Herausgeber zusam- stelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH), Arbeits- men mit Gottfried Lorenz: „Hamburg auf anderen schwerpunkte: Nationalsozialismus (in Hamburg), Wegen. Die Geschichte des schwulen Lebens in der Vor- und Frühgeschichte der Bundesrepublik Hansestadt“ (2005), Herausgeber zusammen mit Deutschland, Aspekte der westdeutschen Nach- Gottfried Lorenz und Ulf Boll mann: „Homosexuel- kriegsliteratur. len-Verfolgung in Hamburg 1919– 1969“ (2009); An- fang 2006 zusammen mit Ulf Bollmann Begründer Michael Töteberg der Initiative „Gemeinsam gegen das Vergessen – geb. 1951; Lektor beim Rowohlt-Verlag; Veröffentli- Stol persteine für homosexuelle NS-Opfer“, die er- chungen u. a.: Monographien über John Heartfield, folgreiche Arbeit der Initiative wurde für das Engage- Fritz Lang, Fellini, Fassbinder und Romy Schneider ment des Jahres 2006 mit dem „Goldenen hinnerk“ sowie die Bücher „Filmstadt Hamburg“ (1997) und ausgezeichnet; Ausstellung „Homosexuellen-Verfol- zusammen mit Volker Reißmann: „Mach dir ein gung in Hamburg“ in der Staats- und Univer- sitäts- paar schöne Stunden. Das Hamburger Kinobuch“ bibliothek Hamburg (2007), der KZ-Gedenkstätte (2009); Herausgeber u. a. des „Metzler Film Lexi- Neuengamme (2008) und in der Diele des Hambur- kons“ (2005); Mitarbeiter am „Kritischen Lexikon ger Rathauses (2009); als Co-Autor zusammen mit zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“ (KLG) Folkert Bockentien: Theaterstück „Das Oberlicht. sowie am Filmlexikon „CineGraph“. Zur Verfolgung homosexueller Männer“, Urauffüh- rung an der Hamburger Staatsoper am 14. Mai 2007. Hans Walden geb. 1952; Dr. phil.; Studium der Mittleren und Markus Schreiber Neueren Geschichte, Politikwissenschaft und Kunst- geb. 1960; Studium der Mathematik, Chemie und geschichte mit Abschluss Magister 1981; Promotion Erziehungswissenschaften; seit Februar 2002 tätig 2000 mit einer Dissertation zur Grüngeschichte als Bezirksamtsleiter von Hamburg-Mitte. Hamburgs; seit 1986 Mitarbeiter des Bezirksamts Hamburg-Mitte in verschiedenen Funktionen, jetzt Katrin Struck im Fachamt für Stadt- und Landschaftsplanung – geb. 1965; Dipl. Verwaltungswirtin und Volljuristin; Abteilung Bebauungsplanung, dort auch mit bau- nach verschiedenen beruflichen Stationen in Bremen und stadtteilhistorischen Fragen befasst; verschie- 318 KOLUMNENTITEL · Stichwort 2. Ordnung

dene Publikationen und Forschungen zur Geschichte Hamburgs.

Birgit Waltereit geb. 1963; Referatsleiterin im Amt für Weiterbildung der Behörde für Schule und Berufsbildung zuständig für den Bereich „Bildungsurlaub/Bildungsfreistel- lung“.

Frauke Wiegmann geb.1952, Dipl. Sozialpädagogin und Dipl. Soziolo- gin, Leiterin des Jugendinformationszentrums (JIZ). Jugendschutzsachverständige in den Selbstkontroll- einrichtungen für Film (FSK), Fernsehen (FSF) und Computerspiele (USK), Länderbeisitzerin bei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM), Mitglied der Kommission für Jugendme- dienschutz (KJM).