Große Grate in Der Montblancgruppe Der Himmel Über Chamonix
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DAV Panorama 4/2011 Große Grate in der Montblancgruppe Der Himmel über Chamonix Die Montblancgruppe – für Alpinisten der höchste Himmel Europas und der vielfältigste. Keine Spielart des Bergsteigens, die hier nicht möglich ist, kaum eine touristische Sünde, die hier nicht begangen wurde. Und trotzdem bleibt genügend Platz für das Wesentliche: Erlebnisse in einer einzigartigen Bergwelt. Text und Fotos von Ralf Gantzhorn inen noch idiotischeren Platz tischen, vor sich hin schmelzenden hätten wir uns kaum aussu- Eisblock den Gletscher und errei- chen können: Über uns ein chen bald wieder die Charpoua-Hüt- haushoher Sérac, neben mir te. Reingehen wollen wir noch nicht, eine Spalte, so tief, dass man schließlich schlafen der Hüttenwirt darin ein Hochhaus versenken könnte und die wenigen Gäste noch. E– und wir diskutieren. Mitten in der Kitschig rot geht gegenüber am Nacht, mitten auf dem Charpoua- Montblanc die Sonne auf; ein grandi- Gletscher. Über den Sinn und Un- oser Tag beginnt – und wir sind wieder sinn, bei nächtlichen Temperaturen unten statt am Berg. War die Umkehr von mehr als null Grad über den Sans- wirklich die richtige Entscheidung? Nom-Grat auf die Aiguille Verte zu Angewärmt durch die ersten Son- steigen. Nach einer „gefühlten“ Stun- nenstrahlen mag man kaum glau- de (es waren wohl nur zehn Minu- ben, dass man noch vor we- ten) gehen wir weiter. Um keine halbe nigen Stunden mit „Schiss Stunde später doch umzudrehen. Ein in der Buchs“ den Berg faustgroßer Stein auf meinem Helm hat Berg sein lassen. gibt den letzten Anstoß, das Unter- Aber die Delle auf nehmen abzublasen und auf besse- dem Helm und re Bedingungen zu warten. Still mar- der blutige schieren wir im Gänsemarsch zurück, Kratzer queren noch einmal unter dem gigan- an der 48 DAV Panorama 4/2011 Chamonix | Unterwegs Große Grate in der Montblancgruppe Der Himmel über Chamonix Wellenreiter: Spiel mit der Balance am Kuffnergrat; jenseits des Aostatals grüßen Grivola und Gran Paradiso. 49 DAV Panorama 4/2011 Augenbraue sprechen eine deutliche mal ein ähnliches Desaster wie an Sprache: Es war die richtige Entschei- der Aiguille Verte zu erleben, gilt un- dung, auch wenn sie für mich beson- ser erster Gang dem Office de Hau- ders bitter ist, da ich jetzt schon zum te Montagne, dem lokalen Bergfüh- dritten Mal an der Aiguille Verte um- rerbüro. Zusammen mit Dutzenden drehen musste. Bergsteigen in der von muskulösen, gut trainierten Män- Montblancgruppe hängt eben schon nern und Frauen schauen wir uns das lange nicht mehr nur vom Wetter ab, riesige Plastikmodell der Montblanc- sondern vor allen Dingen von den gruppe an und warten auf einen Blick Verhältnissen. Und diese halten sich in die ausliegenden Tourenbücher. bekanntlich nicht mehr an den kalen- Das internationale Publikum rundhe- darischen Sommer – dem Klimawan- rum gibt mir das Gefühl, der einzige del sei Dank; es gilt stets das Beste aus Normalbergsteiger im weiten Um- der Situation zu machen! kreis zu sein, alle anderen haben dem Zwei Monate später treffen wir uns Aussehen und der Ausrüstung nach wieder in Chamonix, mein Kletter- ja mindestens den Walkerpfeiler ge- partner Dietmar aus Hannover und plant. Ein Blick in das Tourenbuch zwei Toms aus Bayern. Um nicht noch hilft jedoch, neben den Wetter- und 50 DAV Panorama 4/2011 Chamonix | Unterwegs Eisbedingungen auch das Können So setzen wir mühsam einen Schritt der Umgebung richtig einzuschätzen hinter den nächsten, der Schweiß läuft – alles normal! Selbst in der selbst er- – allein beim Zustieg zum Refuge des nannten Welthauptstadt des Bergstei- Conscrits sind 1400 Höhenmeter zu gens kochen die meisten nur mit Was- überwinden. Der Weg führt zunächst ser, all die Rébuffats, Lachenals und durch Wald und über saftig grüne Al- Piolas sind eher auf den Straßenschil- men, später geht es über den von Jahr dern zu finden als im realen Leben. zu Jahr schotteriger werdenden Tré- la-Tête-Gletscher und zum Schluss wollen noch einige senkrechte Leitern Auftakt mit Kaffee geklettert werden. Letzteres scheint Bei einem Kaffee in der legendä- fast ein Markenzeichen aller Hütten ren Bar National besprechen wir die im Montblancgebiet zu sein, kaum ein weitere Planung. Gemeinsam wollen Gletscherzustieg, der nicht über Me- wir einige der großen Grate angehen, tall aufs Eis führt. Aber den Schweiß von denen es ja im Montblancmas- wollten wir ja, er ist das Eintrittsgeld siv auf engstem Raum mehr als in je- für die Einsamkeit. der anderen Gebirgsgruppe der Alpen Unser Ziel vom Refuge des gibt: Kuffner-, Rochefort-, Teufels-, Conscrits aus sind die Dômes de Mia- Peuterey-Grat … – Namen, die jeder ge, ein auf 3673 Meter kulminierender Bergsteiger kennt und die man nur Bergkamm, der häufig mit der Blümlis- Höhenflieger: Fast 3000 mit einem erhabenen Schauer über die alp verglichen wird und ähnlich wie Meter über dem Talboden Lippen zu bringen wagt. dieses Berner Massiv die bieten die Domes de Miage ein abwechslungsreiches Wir diskutieren, wie wir Namen, die jeder Berg- optimale Einstiegsdro- Tagesprogramm in Fels uns den großen Zielen steiger kennt und die man ge für die großen Ziele und Firn. Beim Aufstieg nähern wollen, schließ- nur mit einem Schauer im Gebiet darstellt. Als zur Aiguille de Bionnas- say liegt der Schatten lich kommen zumindest über die Lippen bringt wir am nächsten Morgen des Montblanc auf dem Dietmar und ich direkt über steile Firnflanken Morgennebel. Und über aus der norddeutschen Tiefebene und die Aiguille de la Bérangère erreichen, der kleinen Charpouahütte recken sich die Türme von unsere Fitness beruht auf diversen liegen die Dômes de Miage vor uns: ein Dru und Sans-Nom-Grat. Fahrradkilometern durch plattes Land gestreckter, knapp zwei Kilometer lan- und dem Reißen von „Plastiknupt- ger Grat, der nie zu steil und nirgend- sis“ in von Magnesiastaub geschwän- wo messerscharf über mehrere kleine gerten Kletterhallen. Möglichkeit A ist und große Gipfelchen nach Nordwes- die Seilbahn auf die Aiguille du Midi: ten führt. Eine perfekte Tour, um sich von (nicht ganz) null auf 3842 Meter wieder an das Gehen mit Steigeisen zu in 15 Minuten, anschließend Schlan- gewöhnen und bei der sich auch die ge stehen am Cosmiques-Grat, den Schnappatmung in der dünnen Luft Geruch von Erbrochenem stets in der langsam wieder normalisiert. Nase? Wir entscheiden uns für eine andere Möglichkeit: Sie wird uns mor- gen in den Südwesten des Montblanc Reifeprüfung im Eis führen, in das Val Montjoie. Zuvor Nach rund fünf Stunden erreichen müssen wir aber noch unseren Kaffee wir das Refuge Durier, den Ausgangs- bezahlen, in Chamonix eine Summe, punkt für die eigentliche Reifeprüfung mit der man andernorts fast ein gan- für Gratbergsteiger im Montblancge- zes Abendessen inklusive einer Fla- biet: die Aiguille de Bionnassay. Die- sche Rotwein bekommt. Was soll’s! ser mit 4052 Meter „kleine“ Viertau- Das Abzocken der Gäste ist hier zu ei- sender gehört zu den ganz großen ner wahrhaften Kunstform verfeinert Graten in den Alpen, nur scheinen das worden, und das verdient ja auch ei- die Wenigsten zu wissen. Sichtbares nen gewissen Applaus. Zeichen dafür ist allein die Größe des Der Südwesten ist eine der wil- Refuge Durier am Fuß des Südwest- desten und abgeschiedensten Ecken grates, gerade mal zwölf Leute passen im Montblancmassiv, keine Seilbahn in die winzige Blechschachtel. Aufge- führt auch nur in die Nähe der Berge. wogen wird der minimale Komfort je- 51 DAV Panorama 4/2011 doch in typisch französischer Weise wobei etwas Ausgesetzteres zumin- durch eine charmante junge Hütten- dest im Eis kaum vorstellbar ist. Wohl wirtin. Wenn diese am nächsten Mor- aber im Fels! Da gibt es einen Grat, der gen mit frisch gemahlenem Kaffee zu den berühmtesten Touren der Al- und ein wenig trockenem Brot weckt, pen gehört und der allein durch sei- überwiegt die Müdigkeit meist noch. nen Anblick jeden Fantasy-Autoren Auch die ersten Höhenmeter stol- in Ekstase versetzt: der Teufelsgrat am pert man noch relativ entspannt im Mont Blanc du Tacul! Obwohl nur mit Lichtkegel der Stirnlampen in Rich- V (nach UIAA) bewertet, hat es dieser tung Berg. Möglicherweise noch vor- Klassiker doch in Walter Pauses Aus- handene Schläfrigkeit wahl „Im extremen Fels“ verfliegt jedoch schlag- Ein Seiltanz im Reit- geschafft; wer sich an das artig an einer fast senk- sitz ohne Netz und dop- alte Jürgen-Winkler-Bild rechten Felsstufe: Erst pelten Boden, nichts bei dort erinnert, weiß wa- links, dann rechts des Wind oder Blankeis rum. „Wir befinden uns Grats turnen wir einen endgültig in einer Oa- äußerst luftigen Kamin hinauf, Ad- se der Ordnungswidrigkeiten …“, be- renalinausschüttung garantiert. Kalte schrieb Pause den Anblick dieser fünf Finger auch, denn die Aiguille de Bi- über 4000 Meter hohen Granitnadeln. onnassay liegt genau im Schatten des Bester Ausgangspunkt für die Über- Montblanc, auf dessen anderer Sei- schreitung dieser Reißzähne ist das Ri- te die Sonne schon längst aufgegan- fugio Torino – eine Hütte, die kaum ge- gen ist. Neidvoll blicken wir auf die gensätzlicher zu den zuvor besuchten von den ersten Sonnenstrahlen mo- Mini-Refugien Charpoua und an der dellierten Wolken unter uns, ein Blick Aiguille de Bionnassay sein könnte. wie aus dem Flugzeug. Ob all die Sor- Ich möchte nicht in die übliche Litanei gen auch darunter verborgen bleiben? über das Rifugio Torino einstimmen, schließlich ist die Hütte, obwohl rund zehnmal so groß wie das Refuge Du- Wellenreiten auf Firn rier, häufig immer noch zu klein, und Nach den letzten Metern im Fels wenn man an einem Bahnhof näch- erreichen wir ein Gebilde, das den tigt (die Hütte liegt an der Seilbahn- Atem stocken lässt: Wie eine gigan- station Pointe Helbronner), darf man tische, gefrorene Welle führt der Grat sich über eine ebensolche Atmosphä- über den höchsten Punkt der Aiguille re nicht wundern. Eher möchte ich ei- de Bionnassay hinüber zum Dôme de ne Lanze für das Personal dort brechen: Goûter am Montblanc. Wie Wellen- reiter surfen wir genau auf dem Kamm dieser weißen Woge, nur dass hier entweder der Sturz in die 1000 Me- ter tiefe Nordwand oder in die kaum weniger bedrohliche Südflanke droht.