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Sendung vom 25.11.2005, 20.15 Uhr

Rosel Zech Schauspielerin im Gespräch mit Hans Oechsner

Oechsner: Liebe Zuschauer, ich begrüße Sie zu einer neuen Ausgabe von alpha- forum. Zu Gast ist heute die Theater-, Film- und Fernsehschauspielerin Rosel Zech, mehrfach ausgezeichnet z. B. als Schauspielerin des Jahres mit dem Deutschen Darstellerpreis und dem Bayerischen Filmpreis, um nur zwei ihrer Auszeichnungen zu nennen. Frau Zech, im Augenblick sind Sie vielleicht so populär wie noch nie zuvor in Ihrer Karriere. Die Serie "Um Himmels willen" ist die erfolgreichste ARD-Serie überhaupt bis jetzt mit gigantischen Einschaltquoten auch bei jüngeren Zuschauern. Wie können Sie sich diesen Erfolg erklären? Zech: Ich denke mir, das liegt daran, dass das ein bisschen ein Märchen ist. Am Ende einer jeden Folge wird immer eine Lösung geboten, wie man möglicherweise besser leben kann oder dass man sich eben auch versöhnen muss oder dass man netter zu seinen Mitmenschen sein sollte usw. Selbst wenn man das in Wirklichkeit nicht immer so bewerkstelligen kann, wird auf jeden Fall immerhin ein Anstoß gegeben, wie man im Alltag möglicherweise leben könnte. Ich denke, das ist einer der Gründe. Und darüber hinaus hat ja Religion momentan ohnehin einen ganz großen Zuspruch, wie ich glaube. Die Leute sagen immer, sie werden durch diese Serie ein wenig aus ihrem Alltag herausgehoben. Oechsner: Sie spielen in dieser Serie die Mutter Oberin. Wie haben Sie sich auf diese Rolle vorbereitet? Waren Sie mal im Kloster? Oder haben Sie vorher geistlichen Beistand genossen? Zech: Nein. Wir haben öfter mal jemanden mit dabei, der uns sagt, welche Rituale an diese und jene Stelle gehören. Aber ich bin Schauspielerin und habe Phantasie: Ich lerne meine Texte und dann lasse ich mir was einfallen – und der Regisseur auch. Oechsner: Wenn man über so viele Monate bzw. schon Jahre in die Rolle einer Nonne schlüpft, dann kommt man damit doch auch immer wieder irgendwie an die Religion heran. Sie haben das ja soeben selbst angesprochen. Sind Sie denn selbst auch ein religiöser Mensch? Hat also diese Rolle auch mit Ihnen persönlich etwas zu tun? Zech: Ja, ich bin ein gläubiger Mensch, das darf ich wohl sagen. Oechsner: Gläubig in welchem Sinne? Fühlen Sie sich einer Konfession zugehörig? Gehen Sie in eine Kirche? Zech: Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen hochmütig, aber ich bin gut zu mir und ich glaube an mich und wenn ich mich selbst gut behandle, dann behandle ich auch den Mitmenschen gut. Und das hat, wie ich finde, etwas mit Göttlichkeit zu tun. Oechsner: Sie haben mal gesagt, dass Sie bei der Auswahl Ihrer Rollen darauf achten, ob diese Rolle etwas mit Ihnen selbst zu tun hat. Gilt das auch für diese Rolle oder ist das hier anders? Zech: Ja, es gibt schon so ein paar Sätze in dieser Rolle, die einen so trockenen Humor haben oder auch eine solche Schärfe haben, dass ich das wirklich mag. Das mag ich an dieser Frau, die ich da darstelle. Oechsner: Jetzt muss man aber sagen, dass diejenigen, die Sie ausschließlich in dieser Rolle als Schwester Oberin kennen, nur einen ganz kleinen Teil von Ihnen kennen. Man würde Sie also sehr reduzieren, wenn man nur darüber reden würde. Zech: Das stimmt. Oechsner: Ärgert es Sie manchmal, dass diese Rolle heute so im Mittelpunkt steht, wenn es um Sie als Schauspielerin geht, und nicht das, was Sie sonst leisten? Zech: Nein, überhaupt nicht. Wir hatten ja nicht gedacht, dass diese Serie einen solchen Erfolg haben wird. Ich habe ja auch keine Riesenrolle darin, aber sie ist doch sehr, sehr gut angekommen. Das freut mich ganz einfach. Wir dachten ja, wir machen nur mal eine Staffel von dieser Serie und das war es dann. Nein, ich finde es wirklich gut, dass das so erfolgreich geworden ist. Das freut mich. Oechsner: Kommen wir dennoch auf das Wesentliche, das eigentlich Ihre Karriere ausmacht. Sie sind ja zuallererst immer Theaterschauspielerin gewesen. Sie haben, wie man sagen kann, an allen großen Bühnen Deutschlands gespielt. Sie spielen, wie Sie mir vorhin erzählten, im Augenblick gerade wieder in . Sie haben sehr oft starke, komplizierte, schwierige Frauenrollen angenommen. War das Zufall oder hatten Sie sich diese Rollen doch aussuchen können? Zech: Nein. Das, was mir angeboten wird, das spiele ich dann. Aber ich habe ja auch eine sehr komische Seite. Der Peter Zadek z. B. hat das gewusst: Wenn ich mit ihm gearbeitet habe, dann konnte ich das in seinen Inszenierungen oft und oft herauslassen – sei es als Portia im "Kaufmann von Venedig" oder in "Kleiner Mann – was nun?", wo ich viele, viele auch sehr komische Rollen hatte und wo ich auch gesungen habe. Auch im "Hamlet" konnte ich sehr komisch sein, als ich den Polonius gespielt habe: Dafür muss man eine große komische Begabung haben, um das rüberzubringen. Ich finde es allerdings tatsächlich nicht so gut, wenn ich nur auf komplizierte Rollen reduziert werde. Das finde ich viel schlimmer als diesen Hype momentan wegen "Um Himmels willen". Ich finde es schade, dass die Komik, die ich entwickeln kann, oft nicht so gefragt ist. Aber das kann ja noch kommen. Oechsner: Auf Peter Zadek kommen wir gleich noch zu sprechen. Sie haben Recht: Wenn man über Sie liest, dann wird diese komische Seite an Ihnen immer ziemlich ausgelassen und es wird eigentlich fast nur von Ihren schwierigen Frauenrollen gesprochen und Bezug genommen auf Sie selbst, denn man sagt, Sie hätten damit selbst auch etwas zu tun, Sie würden sich in solchen Rollen wiedererkennen. Spielt das wirklich eine Rolle bei Ihren Rollen? Müssen die Rollen mit Ihrem Charakter, mit Ihrem Leben etwas zu tun haben oder sagen Sie wie soeben, Sie sind Schauspielerin und können alles spielen? Zech: Man denkt ja immer, man sei Schauspielerin und könne daher alles spielen. Es müssen jedenfalls bei einer Rolle ein paar Sätze sein, die ich auch ganz privat sagen würde, oder ein paar Situationen, die mich so reizen, dass ich sie gerne spielen möchte oder dass ich mir denke, in solche Situationen würde ich auch im wirklichen Leben gerne mal kommen. Und wenn ich das dann spielen darf, dann ist das gut. Aber alles spielen können? Ich habe auch mal gedacht, dass ich das könnte. Es hat sich dann aber in einer Rolle am Theater erwiesen, dass das nicht so ist. Man kann eine solche Rolle, die nicht passt, dann zwar schon mit schauspielerischen Mitteln machen, aber wenn das nicht zum eigenen Wesen gehört, dann ist das eben nur ein schauspielerisches Mittel und daher eigentlich langweilig. Oechsner: Sind also Ihre Rollen doch so etwas wie Variationen über Ihr eigenes Leben? Oder wäre das jetzt zu viel gesagt? Zech: Ich arbeite ja viel mit Phantasien, wenn ich z. B. eine Mörderin spiele. In Wirklichkeit würde ich natürlich keinen Menschen umbringen, aber es interessiert mich nachzuvollziehen, wie ein Mensch dahin kommen kann. Oechsner: Haben Sie denn in der Beschäftigung mit solchen Charakteren auch für sich etwas gelernt? Haben Sie dabei sozusagen etwas fürs Leben gelernt? Oder wird so etwas nach einer Aufführung abgelegt und am nächsten Tag schlüpfen Sie dann wieder in eine andere Rolle? Zech: Doch, man lernt schon. Aber am meisten lernt man am Theater, wenn man viele, viele Vorstellungen hat: Man muss nämlich all diese Vorstellungen immer wieder aufs Neue mit Leben erfüllen. Man muss ja als Schauspieler schon ein großes Ego haben, aber man muss das auch wieder vergessen können und dieser Sache bzw. diesem jeweiligen Stück dienen. Denn ich bin ja nur Schauspieler: Ich brauche einen Text, ich brauche eine Vorlage und ich habe nur die Fähigkeit – vielleicht als Medium –, dass der Text bzw. die Vorlage durch mich durchschlüpft und ich das den Leuten auf diese Weise vermitteln kann. Oechsner: Das "Nur" sollte man weglassen, denn da gibt es ja schon eine wahnsinnige Breite hinsichtlich der Möglichkeiten des Darstellens. Zech: Gut, man muss vielleicht auch ein bisschen Persönlichkeit haben. Oechsner: Sie sollten vielleicht nicht zu bescheiden sein. Zech: Nun, das ist eben so eine Sache. Wenn die Persönlichkeit des Schauspielers zu sehr im Vordergrund steht, sodass die Rolle verschwindet und sich der Schauspieler eigentlich nur noch selbst spielt, nur noch seine Persönlichkeit im Vordergrund steht, dann ist das einfach langweilig; ich sehe eine Sache von diesem Schauspieler und weiß, wie er all die anderen Rollen spielt. Es gibt z. B. auch Schauspieler, die sich sehr gerne exhibitionieren, die quasi sofort mit allem, was sie haben, unter die Leute gehen. Ich würde es jedoch interessanter finden, wenn ein Schauspieler Schwierigkeiten hat, sich zu entäußern oder sich zu exhibitionieren und ich dann diesen Kampf, diese Schwierigkeit sehen dürfte. Das wäre für mich als Zuschauer viel interessanter. Oechsner: Man kann ja immer wieder lesen, dass bestimmte Schauspieler direkt ins jeweilige Milieu hineingehen müssen, um eine Rolle zu lernen. Von Robert De Niro, dem großen Hollywoodschauspieler, sagt man ja auch immer: Wenn der einen Taxifahrer spielt, dann fährt er erst einmal selbst ein Vierteljahr lang Taxi. Daneben gibt es die anderen Schauspieler, die in die jeweiligen Rollen immer aus sich selbst herausfinden. Wo liegen Sie da? Zech: Das kommt darauf an. Wir haben ja vorhin von dieser Nonne gesprochen. Ich habe diese Rolle aus zwei Gründen angenommen. Der erste Grund war ganz äußerlich: Ich wollte mal ein Nonnenkostüm tragen. Das hat mich einfach interessiert. Und dann wollte ich ein Leben nachvollziehen, das sich ganz in den Dienst einer Sache stellt und in dem alles andere stark reduziert ist. Klar ist, dass diese Rolle natürlich auch sehr menschlich angelegt ist, dass da auch Machtverhältnisse vorkommen usw. Das hat mich gereizt. Oechsner: Mussten Sie dafür zuerst einmal ins Kloster gehen? Zech: Nein, nein. Als ich mich z. B. auf "" vorbereitet habe, auf diesen Film von , hat der Rainer gesagt: "Besorg dir höchstens Bücher über Drogenentzug, damit du weißt, was passiert, wenn du keinen Stoff mehr hast. Aber lies nur das!" Oechsner: Dazu muss man sagen, dass Sie in diesem Film eine drogenabhängige ehemalige UFA-Schauspielerin dargestellt haben. Zech: Genau. Besorg dir also ein bisschen Material darüber, aber alles andere überlasse ich deiner Phantasie. Dieser Film ist ja ein klein wenig angelehnt an die Biographie von , der großen UFA-Schauspielerin. Er wollte aber nicht, dass ich mich um Sybille Schmitz und deren Leben kümmere, sondern sagte nur: "Ich überlasse das deiner Phantasie als Schauspielerin!" Für mich war das genau richtig. Oechsner: Sie haben also keine Drogen genommen, sondern Sie haben sich geistig damit beschäftigt. Zech: Ja. Oechsner: Vielleicht sollten wir in der Tat ein bisschen mehr über diese beiden Personen sprechen, die Sie soeben genannt haben. Die eine war Peter Zadek und die andere war Rainer Werner Fassbinder: Beide haben in Ihrer künstlerischen Entwicklung ja eine große Rolle gespielt. Peter Zadek war Regisseur in Bochum und Sie haben ungefähr zehn Jahre mit ihm zusammengearbeitet. Sie sind damals unter ihm ein großer Theaterstar geworden und haben für Ihre Rolle der "Hedda Gabler" auch den Preis als Schauspielerin des Jahres bekommen. Ist es Zadek, dem Sie es verdanken, dass Sie eine große Schauspielerin geworden sind? Hat er Sie sozusagen geformt? Zech: Ja, das kann man sagen. Peter habe ich damals in Wuppertal kennen gelernt. Er war gerade von Bremen, wo er Oberspielleiter gewesen war, nach Wuppertal gegangen. Dort hat er das Stück "Der Preispokal" von Sean O'Casey – in der dortigen Aufführung hieß das Stück allerdings "Der Pott" – gemacht und ich war für dieses Stück besetzt. Es ging ihm eigentlich ein schlimmer Ruf voraus, denn man sagte über ihn: "Der macht die Schauspieler fertig usw.!" Ich hatte selbst noch keine Probe, aber man durfte bei den Proben der anderen zusehen – was ganz außergewöhnlich war, weil man das bei anderen Regisseuren oft nicht durfte. Ich sah dabei, wie er mit einer älteren Schauspielerin arbeitete. Das war so aufmerksam und liebevoll, dass ich mir dachte: "Wenn ich mit dem nicht arbeiten kann, dann bin ich schuld und nicht er! Mit dem will und muss ich arbeiten!" Tja, und dann haben wir sehr erfolgreich zusammen gearbeitet. Er hat mich dann auch nach Stuttgart geholt, wo wir erneut den "Pott", allerdings in einer Neuinszenierung, gemacht haben. Danach wurde er Intendant in Bochum und dort in Bochum fing unsere große gemeinsame Arbeit so richtig an. Ich habe von ihm Selbständigkeit und Freiheit gelernt. Wenn ich z. B. zu ihm gesagt hätte, "Peter, wie soll ich denn diesen Monolog anlegen? Ich kann damit gar nichts anfangen?", dann hätte er garantiert gesagt: "Liebling, das ist dein Problem! Lass dir was einfallen!" Ein anderer Regisseur hätte in so einem Moment sicherlich gesagt: "Ja, also, du kommst da von links und dann schaust du nach rechts und dann sagst du 'ach' und dann setzt du dich..." Zadek hat einem jedoch in all diesen Dingen große Freiheit gelassen. Ich wollte daher auch nicht immer fragen, wie ich was zu machen hätte. Einmal habe ich z. B. zu ihm gesagt: "Wenn der Uli Wildgruber das in dieser Szene so macht, wo bleibe dann ich? Was soll ich dann machen?" Er meinte darauf nur: "Das ist dein Problem! Sieh zu, wie du mit ihm fertig wirst!" Ich dachte mir dann natürlich: "Na, dich frage ich nie mehr! Ich lass mir jetzt wirklich was einfallen!" Und das war gut für mich. Oechsner: Was war dabei sein Trick? Denn er konnte ja nicht jeden einfach machen lassen, was er will, weil das Ganze ja irgendwie zusammengeführt werden muss. Zech: Der Trick war, dass er z. B. oft gesagt hat: "Ich weiß auch nicht, wie der ersten Akt läuft. Macht das doch einfach mal!" Dabei bin ich mir ganz sicher, dass er genau wusste, wie das zu laufen hat. Denn zu Hause in seiner Wohnung ja stapelweise Bücher und Filme usw. über das jeweilige Stück. Er hat z. B. einmal zu mir gesagt: "Du musst dir dieses Stück von Bach anhören. Sie ist wichtig für diese Szene." Oder er hat mir gesagt, dass ich mir einen bestimmten Film oder auch bestimmte Fotobände anschauen sollte. Mit Fotobänden hat er uns regelrecht überschüttet, weil er meinte, dass das für uns wichtig wäre, um die jeweilige Rolle besser verstehen zu können. Er wusste also eigentlich ganz genau, was er wollte. Er sagte z. B. immer wieder: "Sprecht euch nicht ab, sondern spielt den ersten Akt einfach so ohne Absprache!" Wir haben dann improvisiert. Danach sagte er dann: "Aha, das ist also herausgekommen dabei! Ich denke, Ihr habt das so und so gemacht. Oder was meint Ihr?" Und dann haben wir über unsere Rolle gesprochen und darüber, wie wir das gemacht haben. Auch schon vorher, bevor die Proben überhaupt anfingen, wurde mindestens 14 Tage lang über das neue Stück einfach nur geredet. Jeder einzelne Schauspieler hat in der großen Runde über seine Rolle gesprochen und was er darüber denkt. So habe ich erfahren, was die Kollegen denken und sie haben erfahren, was ich denke. Dabei haben wir die Themen immer wieder eingekreist. Und dann sagte er plötzlich: "So, jetzt kein Reden mehr, jetzt spielt das mal!" Und dann kam eben sein Satz: "Aha, das ist also rausgekommen dabei. Oder was meint ihr?" Wir sprachen darüber und im Anschluss meinte er: "So, jetzt gleich noch einmal eine Probe des ganzen ersten Akts!" So wurden die Themen eben immer mehr eingekreist und so ungefähr 14 Tage vor der Premiere hat er dann festgelegt, was genau zu machen ist. Denn ab einem bestimmten Zeitpunkt kann man eben nicht mehr improvisieren: Wir hatten dann einfach aus-improvisiert. Er hat darüber hinaus aber vor allem die Eigenschaft besessen, zuschauen zu können. Er hat zuschauen können und dann am Ende oft gesagt: "Weißt du, was du am dritten Tag der Proben gespielt hast, da hast du den Nerv ganz genau getroffen! Dann hast du dich wieder entfernt davon und hast dieses und jenes ausprobiert. Mach es wieder so wie am dritten Tag!" Und dann wusste ich ganz genau, wie das zu gehen hat. Oechsner: Er hatte also eine klare Vorstellung im Kopf, aber er hat auch angenommen, was ihm seine Schauspieler angeboten haben. Zech: Ja, er hat uns an einer ganz langen Leine gelassen. Aber er hat uns eben nie ausgelassen, nie! Diese Sachen kamen also eigentlich immer von uns. Bei der "Hedda Gabler" ziemlich zum Ende der Probenzeit sagte er plötzlich zu mir: "Weißt du, Rosel, du machst alles richtig. Aber es läuft gerade ein Film von Roman Polanski im Kino, nämlich 'Der Mieter'. Diesen Selbstekel, den Polanski empfunden haben muss, als er diesen Film gemacht hat, muss die Hedda auch noch haben!" Ich schaute mir also diesen Film an und wusste Bescheid. Das war schon einmalig, denn es gab und gibt einfach nicht viele Regisseure, die vor allem dieses Vertrauen zum Schauspieler haben. Oechsner: Vielleicht kommen wir gleich mal zu dem zweiten Namen, den Sie vorhin erwähnten, zu Rainer Werner Fassbinder. Sie haben ja in einigen wichtigen Filmen von ihm mitgespielt und dann in dem Film "Die Sehnsucht der Veronika Voss" sogar die Hauptrolle gespielt. Das war sicherlich Ihre erfolgreichste und wichtigste Filmrolle bisher. In diesem Film ging es, wie schon erwähnt, um einen drogenabhängigen weiblichen ehemaligen UFA- Star in den fünfziger Jahren, der nicht mehr zurecht kommt mit dieser Zeit, weil er vor allem auch nicht mehr gefragt ist. Wie war denn die Zusammenarbeit mit Fassbinder? War sie ähnlich wie mit Zadek? Zech: Ja, das würde ich schon sagen. Rainer sagte z. B. einmal: "Was soll ich einem Schauspieler über seine Rolle sagen, was er nicht schon selbst weiß?" Oechsner: Er meinte also quasi auch: "Das ist dein Problem!" Zech: Das heißt, das A und O war für ihn die Besetzung. Und dann hat er einfach erwartet, dass sich der Schauspieler um seine Sachen auch wirklich kümmert. Als wir "Veronika Voss" drehten, wusste ich bereits, dass der Rainer schnell dreht, dass man wahnsinnig gut vorbereitet sein muss: Er machte immer nur ein, zwei Takes und dann musste das sitzen. Das heißt, man musste immer Premiere spielen. Er wollte nämlich nicht, dass man so viel überlegt und überlegt und überlegt – und das würde ja geschehen, wenn man von einer Szene viele Takes drehen würde. Er wollte stattdessen immer gleich den ersten Impetus haben. Da ich das wusste, war ich eben sehr gut vorbereitet. Wir haben nur ungefähr dreieinhalb Wochen an diesem Film gedreht. Ich wusste also: Ich muss in Klausur gehen und darf wirklich nur diese eine Sache im Kopf haben. Oechsner: Letztlich war das dann aber doch eine ganz andere Art zu arbeiten als bei Zadek. Denn Zadek schien es doch langsamer und suchender zu beginnen. Zech: Ja, aber am Theater ist das nun einmal immer anders. Oechsner: Fassbinder hatte jedenfalls ein anderes Arbeitstempo. Zech: Ich wusste einfach, dass jeden Tag Premiere ist. Ich mochte das sehr, ich mochte dieses schnelle Drehen sehr, weil man da nicht dauernd an den verschiedenen Dingen herumtüfteln konnte und musste. Ansonsten mochte es der Rainer z. B. auch nicht, wenn man ihn fragte: "Sag mal, wie ist denn diese Szene gemeint? Könnte ich das nicht so oder so anlegen?" Er wollte, dass sich der Schauspieler ausschließlich auf sich selbst konzentriert und seine eigene Atmosphäre um sich herum aufbaut. Er mochte darüber hinaus einfach nicht viel reden. Das hat er z. B. auch mit dem Zadek gemein: Die beiden haben die Schauspieler nie zugetextet. Sie haben uns nie solche Sachen gesagt wie: "Du musst da noch an deine Großmutter denken oder an deine Eltern oder daran, was in deiner Jugend passierte..." Die beiden haben einfach vorausgesetzt, dass man sich damit ohnehin schon beschäftigt hat. Ich will sagen, dass der Zadek und auch der Fassbinder einfach Respekt hatten vor dem Beruf des Schauspielers, vor der Arbeit, vor der Vorbereitung eines Schauspielers. Oechsner: In der Öffentlichkeit gab es freilich ein ganz anderes Bild von Rainer Werner Fassbinder, als Sie es uns eben gezeichnet haben. Da gab es das Bild, dass Fassbinder seine Schauspieler psychisch sehr stark unter Druck gesetzt hat, dass er sie geradezu in Abhängigkeit versetzt hat, dass es nicht so sehr schön war, mit ihm zu arbeiten. Sie scheinen das jedenfalls nicht so erlebt zu haben. Zech: Das habe ich nicht erlebt. Aber ich war, als ich mit Fassbinder dann richtig zusammengearbeitet habe, bereits eine, na ja, arrivierte Schauspielerin. Kennen gelernt haben wir uns damals in Bochum. Zadek hatte ihn in seinem ersten Jahr in Wuppertal auch dorthin geholt. Fassbinder wollte, dass ich mit ihm mitgehe, als er seinerseits von Wuppertal wegging. Aber da habe ich gesagt: "Rainer, meine Arbeit mit Peter fängt jetzt gerade erst an. Ich muss hier bleiben!" Rainer war also damals bereits in der ersten Spielzeit von Zadek mit seiner ganzen Gruppe in Wuppertal. Das war schon eine sehr pittoreske Gruppe. Ich fand das zwar sehr interessant, aber es fing eben gerade erst meine Arbeit mit Peter an und ich habe eigentlich fast nichts anderes mehr gesehen außer dem Peter und meiner Person. Und ich habe auch wahnsinnig viel gearbeitet in dieser Zeit. Fassbinder und ich sind dann erst später zusammengekommen. Ich war in Berlin und Rainer drehte "Berlin Alexanderplatz". Ich arbeitete zu diesem Zeitpunkt gerade an der "Freien Volksbühne". Dort sind wir uns also zum zweiten Mal begegnet und er fragte mich, ob ich in "Lola" mitspielen würde. Danach kam "Veronika Voss". Oechsner: Es gab ja auch diese Clique um Rainer Werner Fassbinder herum. Zech: Stimmt, Sie wollten wissen, wie der Rainer mit mir gearbeitet hat. Mich hat er jedenfalls nie fertig gemacht. Er hat mich einfach respektiert. Ich kann also nichts Schlechtes über ihn sagen. Nun ja, ich kannte ihn ja auch nicht schon von seinen ganz frühen Zeiten an. Darüber hinaus bin ich keine Schauspielerin, die so sehr in den Dunstkreis von Regisseuren geht, dass sie davon abhängig werden würde. Denn ich weiß ja: Man arbeitet mit faszinierenden Persönlichkeiten zusammen, aber das sind schon auch regelrechte Atemverdränger bzw. Atemschlucker. Oechsner: Die saugen alles auf wie Vampire. Zech: Ja, und deswegen muss man da einfach bei sich selbst bleiben. Man muss eigentlich alles aus ihnen herausholen, was sie zu geben haben. Und man muss das eben auch selbst vertreten können. Nein, ich bin schon meistens sehr bei mir geblieben. Und das ist auch gut so. Oechsner: Das ist sicherlich gut so. Fassbinder ist dann ja relativ plötzlich gestorben – wahrscheinlich auch für Sie sehr plötzlich. "Die Sehnsucht der Veronika Voss" war ja einer der späten Filme von ihm gewesen. Sind durch seinen Tod weitere Vorhaben abgebrochen worden? Hatten Sie noch weitere gemeinsame Pläne? Zech: Ja, wir wollten noch einige Sachen zusammen machen. Aber so ist das nun einmal. Er hat eben sein Leben so gelebt, wie er das verantworten konnte. Da konnte man einfach nicht sagen: "Rainer, du musst auf dich aufpassen, du musst auf deine Gesundheit achten!" So etwas geht einfach nicht. Oechsner: Er hat in seinem Leben ja quasi ein doppeltes Tempo vorgelegt. Zech: Ja, er hat wirklich das doppelte Tempo vorgelegt. Er war einfach ein großer Künstler und dem kann man nicht sagen: "Bitte reduzier' doch da mal ein bisschen! Pass auf dich auf!" Das geht einfach nicht, denn man hatte dafür auch viel zu viel Respekt vor so jemandem. Für mich war sein Tod schon ein Schlag, das muss ich wirklich sagen. Aber ihn überhaupt kennen gelernt zu haben, mit ihm gearbeitet zu haben, das war schon etwas ganz Wunderbares in meinem Leben. Oechsner: Gibt es noch andere Regisseure, die für Sie wichtig waren? Wie war Ihre Arbeit mit Percy Adlon? Zech: Ja, auch die Arbeit mit ihm war toll, war wunderbar. Oechsner: Hatte er einen ähnlichen Arbeitsstil? Denn sonst würden Sie ja wahrscheinlich nicht so von ihm schwärmen? Zech: Der Percy Adlon war einfach sehr leger und sehr liebevoll. Und auch die anderen beiden waren sehr liebevoll: Sie lieben und liebten ihre Arbeit und das überträgt sich dann eben auch auf den Schauspieler. Ich will damit sagen: Sie lieben nicht nur sich, sondern sie lieben ihre Arbeit und sie lieben den Schauspieler. Das kommt leider nicht allzu häufig vor. Oechsner: Frau Zech, vielen Schauspielern wurde ihr Beruf ja in die Wiege gelegt, weil sie aus einer Schauspielerfamilie abstammen. Wenn man Schauspieler fragt, wie sie zu ihrem Beruf gekommen sind, dann bekommt man oft die Antwort: "Meine Eltern waren das auch schon!" Das ist also nicht so spannend. Bei Ihnen ist das hingegen sehr spannend, weil Ihre Eltern ja mit der Schauspielerei überhaupt nichts zu tun hatten. Ihr Vater war Binnenschiffer, Ihre Mutter war Schneiderin. Wie kommt man da darauf, Schauspielerin zu werden? Zech: Weil meine Mutter so gerne ins Kino ging. In dem kleinen Ort, in dem ich aufgewachsen bin, hat sie mich immer mit ins Kino genommen. Daneben bin ich jeden Sonntag um 14.00 Uhr auch alleine ins Kino gegangen: Da konnte man für 50 Pfennig Wildwestfilme sehen! Oechsner: Mit John Wayne? Zech: Ja, aber auch mit Errol Flynn usw. Dieses Leben der Helden und Heldinnen fand ich so faszinierend, dass ich mir dachte: "Das ist toll!" Und dann habe ich erfahren, dass man das sogar als Beruf machen kann. Denn in dem Ort, in dem wir gelebt haben, gab es auch eine Landesbühne, die Verdener Landesbühne. Sie haben ab und zu im Kinosaal Vorstellungen gegeben. In diese Vorstellungen bin ich natürlich auch immer gegangen. Außerdem hatte ich einen Deutschlehrer, der die Literatur und auch Theaterstücke liebte. Ich hatte auch einen Großvater, der Schiller, die Bibel und den plattdeutschen Dichter Fritz Reuter liebte. So, das waren meine Grundlagen. Oechsner: Und Ihre Eltern haben nicht irgendwann einmal gesagt: "Bist du verrückt geworden? Kannst du nicht etwas Vernünftiges lernen?" Zech: Nein, das Tolle war, dass Sie genau das nicht gesagt haben. Meine Mutter hat sogar zu mir gesagt: "Da gibt es in Berlin eine Schule, an der kannst du das lernen." Das war wirklich toll, sie haben mir keinen einzigen Stein in den Weg gelegt. Ich ging also nach Berlin zur Max-Reinhardt-Schule. Von dort bin ich nach einem Jahr wieder weg, weil ich mir dachte, dass ich da nichts lerne. Ich habe nämlich damals so ein komisches norddeutsches "s" gesprochen, das wie ein englisches "th" klang. Ich habe zwar nicht gelispelt, aber mein "s" war doch etwas merkwürdig. Nach einem Jahr an der Max- Reinhardt-Schule war mein "s" aber immer noch merkwürdig. Und ich fand auch nicht, dass ich im Schauspielunterricht selbst allzu viel lernen würde. Es gab da natürlich nicht nur mich als Schauspielschülerin, sondern noch viele andere. Ich mit meinen jungen Jahren fand jedenfalls, dass ich dort keinen guten Unterricht bekomme. Es gab aber ein paar Kommilitonen, die nebenbei auch noch Theaterwissenschaften studierten. Die sagten eines Tages zu mir, dass es am theaterwissenschaftlichen Institut in Berlin eine Lehrerin gäbe, die hervorragenden Sprachunterricht geben würde. Und manchmal, wenn sie Lust dazu hat, gibt sie auch Schauspielunterricht, hieß es. Ich sollte dieser Frau einfach mal vorsprechen. Das habe ich gemacht – und das war dann wirklich ein Glücksfall für mich. Ich habe von dieser Frau alles gelernt, was... Oechsner: Auch aus heutiger Sicht? Zech: Ja, ich habe von ihr, von Frau Margot Stein, alles gelernt, was man in diesem Beruf braucht. Oechsner: Nun muss man natürlich sagen, dass die Max-Reinhardt-Schule eigentlich eine sehr renommierte Schule ist. Das einfach so abzubrechen... Zech: Da gab es auch wirklich tolle Lehrer. Aber es gab z. B. ein Unterrichtsfach mit dem Namen Choreosophie. Ich fühlte mich dort einfach verloren. Ich wollte Rollen spielen, ich wollte wissen, wie man sich Rollen erarbeitet, wie man sie anlegt... Oechsner: Könnten Sie kurz erklären, was die Choreosophie eigentlich ist? Zech: Nein, das weiß ich bis heute nicht. Oechsner: Da sind Sie dann einfach ausgestiegen. Zech: Ja. Das Wichtigste war für mich, dass das mit meinem "s" endlich irgendwie hinhauen musste. Ich habe also Frau Stein vorgesprochen und sie sagte dann zu mir: "Ja, gut, das bekomme ich hin!" Sie hat mir dann auch beigebracht, wie man an Rollen arbeitet, wie man die Gefühle, die man in den verschiedenen Rollen hat, so ausdrücken kann, dass nicht nur ich als Schauspielerin etwas davon habe, sondern auch der Zuschauer. Sie hat einfach einen hervorragenden sprechtechnischen Unterricht gegeben. Und dann wusste ich auch, wie man sich ausdrückt. Oechsner: Das war sozusagen Ihre Lehre als Schauspielerin. Zech: Sie war leider nicht so renommiert, dass sie einem Engagements hätte vermitteln können. Aber ich habe dann eine Prüfung gemacht bei der Bühnengenossenschaft. Damit bekam man natürlich auch noch kein Engagement. Ich besorgte mir also ein Rundreiseticket durch ganz Westdeutschland und sprach überall vor, wirklich überall. Da ich wenig Geld hatte, habe ich dabei immer in Bahnhofsmissionen übernachtet. Aber ich hörte nur immerzu: "Nein, wir haben keine Vakanz!" Oder man sagte mir: "Lassen Sie das doch! Sie werden später bestimmt mal eine komische Alte, aber bis dahin haben Sie am Theater eigentlich nicht viel verloren!" Gut, und dann landete ich eines Tages in München bei einem Agenten. Ihm sprach ich vor, aber auch er meinte zu mir: "Ich schau mal, aber es gibt keine tollen Aussichten, das kann ich Ihnen schon sagen!" Ich stand danach bei ihm im Hausgang. Ich weiß gar nicht mehr genau, wo das überhaupt gewesen ist in München. Ich weiß aber noch ganz genau, dass es in Strömen geregnet hat. Ich war ziemlich am Ende. Auf einmal kommt ein Mann aus dem Treppenhaus auf die Haustür zu und meint zu mir: "Ach, jetzt regnet es auch noch und ich muss noch bis Landshut fahren!" Ich fragte ihn gleich: "Haben Sie ein Auto? Gibt es in Landshut ein Theater? Können Sie mich mitnehmen?" "Ja, ich glaube schon", war seine Antwort. Er nahm mich also mit, setzte mich vor dem Theater ab, ich sprach vor und bin engagiert worden. So! Oechsner: Was haben Sie gespielt als Erstes? Zech: Zuerst habe ich die erste oder zweite Kammerfrau in "Maria Stuart" gespielt. Oechsner: Na ja. Zech: Immerhin. Und dann habe ich in einem modernen Stück mitgespielt, in der Komödie "Patsy". Das war ein großer Erfolg und danach habe ich die "Emilia Galotti" gespielt. Ich gab mir große Mühe, aber es war ein absoluter Flop. Dabei habe ich aber viel gelernt. Oechsner: Ihretwegen oder wegen der Inszenierung? Zech: Ich weiß es nicht. Ich war nicht sehr gut. Bei den Proben hatte ich mir jedenfalls immer gedacht: "Das müsste man eigentlich anders spielen. Aber wenn der Regisseur das so sagt, dann muss ich das wohl so spielen, wie er meint." Als ich dann aber nachher die Kritiken gelesen habe, dachte ich mir: "Mein Gott, die sagen ja genau das, wie ich das eigentlich spielen wollte!" Deswegen sagte ich mir von da an: "So, ich werde auf niemanden mehr hören, ich werde nur noch auf mich hören oder zumindest einen Kompromiss finden zwischen dem Regisseur und meiner Auffassung. Aber ich muss das, was ich spiele, auf jeden Fall selbst vertreten können! Oder ich werde zum Regisseur 'ja, ja' sagen und dann in der Premiere doch so spielen, wie ich es meine." Ich habe jedenfalls viel gelernt dabei. Abends um acht Uhr vor der Aufführung hat man dann ja niemanden mehr zur Seite: Man hat nur noch sich und deswegen muss man dann auch vertreten können, was man spielt. Mein Gott, ich weiß gar nicht mehr, wie der Regisseur damals hieß. Auf jeden Fall war es ein Flop. Aber ich musste dieses Stück dennoch oft spielen. Und genau dabei lernt man eben auch noch einmal sehr viel. Das habe ich in meinem Bühnenleben übrigens oft erfahren: dass man Ausdauer haben muss. Ein Erfolg wird ja auch durch die Chemie bestimmt, durch die Chemie zwischen mir und meinen Mitspielern und dem Regisseur und dem Stück usw. Da muss die Chemie stimmen, erst dann wird es zum Erfolg. Manchmal kommen ja die besten Leute zusammen, aber es wird trotzdem kein Erfolg, weil die Chemie zwischen ihnen nicht stimmt. Wo lernt man also am meisten? Bei nicht so erfolgreichen Aufführungen. Denn auch die muss man ja immer wieder spielen. Das heißt, man muss dabei das eigene Ego zurückstellen und muss sich denken: "Vielleicht finde ich es heute! Vielleicht finde ich heute den Geist der Szene bzw. der Aufführung!" Das ist ein bisschen wie Meditation: Daran habe ich dann sogar Spaß. Das heißt, die unartigen Kinder liebt man eben am meisten. Über diejenigen Stücke, die nicht so erfolgreich waren, kann ich pausenlos erzählen, weil ich da so viel gelernt habe. Bei den Aufführungen, die wirklich gut waren, ist das anders. Die "Hedda Gabler" habe ich ja an die 100 Mal gespielt. Ich glaube, da hat es, wenn ich mich nicht täusche, auch nur höchstens vier oder fünf Aufführungen gegeben, die einfach genial waren: So etwas kann man dann nicht noch einmal wiederholen, da kann man nur "danke" sagen zur Eminenz da oben. Bei den anderen war mal der erste Akt oder der zweite Akt oder der dritte Akt nicht so perfekt: Man ist also immer am Arbeiten. Oechsner: Spürt man es selbst deutlich, wenn eine Aufführung genial gewesen ist? Oder muss einem das erst jemand von außen sagen? Zech: Man muss sich dem einfach hingeben. Wenn dieser Augenblick da ist, dann merkt man das sehr wohl: Man muss sich dem einfach hingeben, denn dann stimmt einfach alles. Da stimmt auch die Chemie mit dem Partner oder den Partnern. Denn Schauspielerei ist nun einmal ein Teamspiel – wie Fußball. Oechsner: Empfinden die anderen Schauspieler es dann auch so, dass das genial gewesen ist? Kommt man da hinterher überein und sagt: "Ja, das war heute genial!"? Zech: Ja, das sagt man sich schon. Die Regel ist dann aber, dass die nächste Vorstellung nicht so perfekt, nicht so gut läuft – obwohl man das ja jedes Mal erreichen möchte. Aber man muss diese eine perfekte Aufführung einfach vergessen, damit man wieder "neu" ist. Meistens ist es jedenfalls so, dass die folgenden beiden Vorstellungen nicht so gut sind: Erst danach kann es sein, dass man sich dieser Genialität oder Perfektion annähert. Oechsner: Wie lange waren Sie denn in Landshut engagiert? Zech: Ich war fünf Jahre lang dort, weil ich einfach nicht wegkam. Ich habe viele Briefe geschrieben an andere Theater usw., aber es ergab sich nichts. Und dann ist mir der Zufall zu Hilfe gekommen. Ich habe nämlich eine Vorstellung versäumt und wurde fristlos entlassen deswegen. Ich wurde praktisch rausgeschmissen, vor die Tür gesetzt. Das war im Winter, so um Weihnachten herum. Alle guten Engagements waren da natürlich schon weg. Ich habe dann nur noch ein Engagement an das Sommertheater in Winterthur bekommen. Das bedeutete: jede Woche Premiere! Mit Kaffeeverzehr im Garten und die ganze Schwankliteratur rauf und runter, höchstens ab und zu mal was anderes. Ich habe dort "Was Ihr wollt" und "Die Physiker" gespielt, das waren die ernsteren Stücke, ansonsten haben wir einen Schwank nach dem anderen gespielt. Das heißt, am Montag wird der erste Akt geprobt. Am Dienstag der zweite Akt, am Mittwoch der dritte Akt. Schwänke haben immer nur drei Akte! Am Donnerstag wird dann das ganze Stück geprobt, ebenso am Freitag, am Samstag gibt es die Premiere und von da an sind jeden Tag Nachmittags- und Abendvorstellungen. Oechsner: Das war ja immerhin eine gute Vorbereitung für Fassbinder. Zech: Ja. Und dann musste man auch immer noch die Garderobe selbst stellen. Denn das war ja immer "modern" gespielt: Kostüme waren daher sehr geeignet, weil man bei einem Kostüm mit Rock und Jacke immer recht gut variieren konnte. Nur bei den klassischen Stücken war es anders: Da fuhr man nach Zürich ans Schauspielhaus, um sich von dort Kostüme auszuleihen. Von Winterthur aus bin ich nach Biel/Solothurn gegangen: Dort gab es alle 14 Tage eine Premiere. Dort haben wir die großen Klassiker wie "Don Carlos" usw. gespielt. Man musste also immer schnell lernen und schnell wissen, wie man das spielt. Aber eines wusste ich immer: "Du hast hier zwar Erfolg, aber du könntest das auch jedes Mal anders machen! Du könntest immer wieder anders spielen. Du spielst es zwar heute so, aber du könntest es morgen ganz anders spielen. Leg dich also nicht fest und denk dir nicht, dass du immer Erfolg haben wirst, wenn du diesen Charakterzug usw. manifestierst. Nein, das darf nie für immer so sein, du musst das alles auch wieder umkrempeln können." Das war ganz gut so, wie ich glaube. Tja, und dann habe ich weitergeschrieben und geschrieben und geschrieben an die Theater und eines Tages hat mir der Intendant Arno Wüstenhöfer, der damals in Lübeck war, geantwortet: "Ja, kommen Sie vorbei und sprechen Sie mir vor!" Ich fuhr also nach Lübeck und sprach ihm vor. Er meinte dann zu mir: "Ja, das ist prima. Aber ich werde nächste Spielzeit Intendant in Wuppertal; sprechen Sie doch dort meinem ganzen Team noch einmal vor." Also gut, ich fuhr also auch noch nach Wuppertal und sprach vor. Ich bin ja ein schlechter Vorsprecher: Ich bin nämlich bei so etwas so nervös, dass ich oft hängen bleibe. Und da bin ich dann eben auch wieder hängen geblieben. Ich habe dann aber einfach improvisiert und daraus eine eigene Nummer gemacht. Und was war? Die lagen alle am Boden vor Lachen und ich wurde engagiert. Gott sei Dank! Oechsner: Und dann ging's los. Zech: Ja, und dann ging's los. Mein erstes Erlebnis dort war jedoch, dass man mir gleich mal eine große Rolle weggenommen hat. Ich hatte sie eigentlich schon gelernt: Das war das ungarische Stück "Gaspar Waros Recht". Die Proben fingen an und da sagte man mir eines Tages: "Ach, Frau Zech, Sie sind ja noch nicht so lange bei uns; wir haben eine Schauspielerin, die schon länger dabei ist und die spielt jetzt diese Rolle!" Nun gut, das musste ich irgendwie akzeptieren. Ich war ja schon froh, überhaupt dort engagiert worden zu sein, damit ich endlich wegkam aus der engsten Provinz. Ich drohte natürlich trotzdem, gleich wieder zu gehen, wenn man so mit mir umgeht. Aber der Arno Wüstenhöfer hat gemeint: "Was willst du eigentlich? Du spielst bei uns in der 'Mutter Courage' die stille Katrin!" Und das war auch gut so, denn das war mein Durchbruch dort. Von da an habe ich viel, viel gespielt in Wuppertal. Und dann kam der Peter. Oechsner: Das war jetzt ein Schnelldurchgang. Man sah dabei auch, wie sich die Zeiten geändert haben: Damals haben Sie fast verzweifelt nach einem Engagement gesucht. Heute haben Sie kein festes Engagement mehr, heute wollen Sie gar kein festes Engagement mehr haben, weil Sie sich nicht mehr fest an ein Theater binden wollen. Warum? Zech: Es gibt Anfragen, ob ich nicht doch wieder fest mitmachen möchte an einem Theater. Oechsner: In Hamburg? Zech: Nein, an einem anderen großen Theater. Oechsner: Das verraten Sie uns aber nicht. Zech: Ja, das kann ich jetzt natürlich nicht sagen. Ich habe den Leuten dort gesagt, dass ich gerne, sehr gerne für ein Stück kommen würde. Ich könnte mir sogar zwei Stücke vorstellen. Aber fest? Das bedeutet dienen. Und ich habe mein ganzes Leben lang gedient, gedient, gedient. Ich möchte ja ab und zu auch mal etwas drehen, also etwas anderes machen und dafür einfach Zeit haben. Ich bin auch deshalb aus dem festen Engagement herausgegangen, weil man irgendwann alles nur noch mit dem Theater in Verbindung bringt: Man lebt kaum mehr außerhalb des Theaters. Man lebt da wirklich in einem künstlichen Raum und man löst alles nur noch mit Theatermitteln. Man löst auch Privates nur noch mit Theatermitteln auf und weiß dann gar nicht mehr, wie es als Schauspieler auf dem freien Markt eigentlich zugeht. Die Erfahrungen aber, die ich gemacht habe, als ich endlich frei war, möchte ich nicht missen. Und dann möchte ich z. B. auch mal sagen können, dass ich eine Zeit lang bei meiner Mutter sein möchte. Meine Mutter ist eine alte Dame und um die muss ich mich kümmern. Ich will also sagen können, dass ich jetzt mal Zeit brauche, um mit ihr zusammen zu sein. Oechsner: Hat sich da etwas geändert in Ihrem Verhalten der Schauspielerei gegenüber? Zech: Ja. Oechsner: Denn ich habe ja einiges gelesen über Sie in der Vorbereitung auf diese Sendung und da ist immer sehr viel von Disziplin die Rede im Zusammenhang mit Ihnen und dass man als Schauspieler seine ganze Kraft für diesen Beruf einsetzen muss. Heute können Sie anscheinend mehr loslassen. Zech: Das lerne ich gerade. Oechsner: Das heißt, das Pflichtbewusstsein ist nicht mehr ganz so intensiv, wie es früher der Fall gewesen ist. Zech: Doch. Wenn ich arbeite, dann muss es so sein! Das ist klar. Denn das ist ja ein so elitärer Beruf und ein Beruf, in dem wir für all diese Dinge auch noch Geld bekommen, da muss man dann auch wirklich alles einsetzen. Das verschlingt einen aber auch. Wenn man in einer Aufführung so ein Ideal erreichen möchte, wie ich das vorhin beschrieben habe, dann muss man auch von A bis Z dafür leben: Da muss man immer komplett mit dabei sein. Aber ich brauche heute einfach auch Auszeiten, denn sonst schaffe ich das kräftemäßig nicht mehr. Oechsner: Denn so ein Leben absorbiert ja auch das Privatleben. Zech: So ist es. Ich brauche diese Auszeiten auch deswegen, weil diese Intensität eben auch das Privatleben absorbiert. Ich hatte ja z. B. gerade in Hamburg eine sehr intensive Probenzeit: Meine Freunde wissen, dass ich in dieser Zeit kaum ansprechbar bin. Aber sie wissen auch: Wenn das dann vorbei ist, dann kann man wieder mit mir rechnen. Oder nehmen Sie die Zeit, wenn ich einen Film drehe. Da fängt der Tag morgens um halb sechs oder sechs Uhr an und endet erst abends um acht oder halb neun Uhr. Ich jedenfalls bin nicht mehr in dem Alter, dass ich dann noch groß auf die Piste gehen könnte. Selbst ein Telefongespräch mit Freunden ist mir da manchmal schon zu anstrengend. Da muss ich manchmal wirklich sagen: "Du, ich bin jetzt so müde, ich kann nicht mehr, ich bin ausgelaugt! Ich muss jetzt abschalten und ins Bett gehen, weil ich sonst morgen nicht die Kraft habe, um erneut in so einen anstrengenden Tag zu gehen." Ich brauche also heute mehr Auszeiten, mehr Zwischenzeiten. Ich brauche diese Zeiten, um z. B. mit Freunden zusammen zu sein, um mit meiner Mutter zusammen zu sein. Das ist mir wichtig, weil mir das dann wieder Kraft gibt. Oechsner: Ist das eine ganz normale Entwicklung eines Menschen, dass man so denkt, wie Sie das jetzt tun? Oder bedauern Sie, dass Sie das nicht schon früher so gemacht haben? Zech: Ja, ich könnte es möglicherweise bedauern. Oechsner: Denn Sie haben ja selbst gesagt, dass das Privatleben weitgehend flach fällt, wenn man sich so intensiv engagiert. Zech: Nein, ich habe immer mein Privatleben gelebt, klar. Aber ich kann vielleicht sagen, dass ich früher meinen Beruf noch mehr geliebt habe als heute. Das war die Tätigkeit, die mir am liebsten war. Ja, das kann ich wohl sagen. Heute jedoch ist es ein kleines bisschen anders. Wenn man nämlich immer nur in Rollen denkt, dann hat man irgendwann keine Motivation mehr. Und dann braucht man Kraft, um sich wieder motivieren zu können. Und vielleicht ist es jetzt mit den Jahren so gekommen, dass ich einfach längere Zeiten brauche, um mich wieder zu motivieren. Oechsner: Sie haben einmal gesagt: "Einfach nur ich sein, das habe ich lange nicht gekonnt." Trifft es das? Zech: Ja, das ist es. Oechsner: Es geht also ums Lockerwerden, ums Loslassen können? Zech: Als ich dann frei war und kein festes Engagement am Theater mehr hatte, musste ich lernen es auszuhalten, wenn mal nichts passiert. Wenn man dreht oder probt, dann hat man genaue Zeiten einzuhalten. Man ist auch immer gefragt. Alle wollen immer etwas wissen von einem, man muss permanent auch selbst etwas aus sich herausholen und nach draußen geben. Wenn man frei ist, gibt es aber auch mal Zeiten, in denen man nicht gefragt ist, in denen man nicht gefragt wird, ob man hier oder dort etwas spielen möchte. Aber in so einer Zeit ist man natürlich auch noch wer. Wer ist man also, wenn man gar nicht gefragt ist oder wenn nichts um einen herum passiert, wenn man einfach nur lebt? Da habe ich wirklich viel über mich erfahren, über meine Umgebung erfahren. Das meine ich damit, wenn ich sage, ich möchte einfach nur ich sein: dass man Tage und Wochen übersteht, ohne dass man gefragt wird; dass man sich die Tage selbst einteilen muss; dass man überhaupt mit sich selbst etwas anfangen muss, was nicht gleich wieder ein Resultat haben muss abends in einer Aufführung oder in einem Drehtag. Es geht darum, dass man sich mit sich selbst beschäftigen kann – ohne dass man anfängt zu saufen oder 1000 Zigaretten zu rauchen oder Drogen zu nehmen. Man kann nicht immer in Rollen sein. Man muss auch mal nur man selbst sein. Das musste ich erst lernen. Oechsner: Frau Zech, die 45 Minuten sind bereits um. Ich danke Ihnen für das für mich hoch interessante und sehr persönliche Gespräch. Vielen Dank. Das war eine neue Ausgabe von alpha-forum. Zu Gast war heute die Film-, Theater- und Fernsehschauspielerin Rosel Zech.

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