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Joseph Haydn Harmoniemesse

D as Hauptgewicht des Schaffens von begleitete Liturgie stark zurück. Die- lag fast sein ganzes se Entwicklung hatte sich bereits in Leben lang auf dem Gebiet der In- einer kaiserlichen Verfügung von strumentalmusik. Doch auch die Kir- 1754 abgezeichnet, welche die Ver- chenmusik war ein bedeutsames Ar- wendung von Pauken und Trompe- b eitsfeld, worauf eine Äusserung des ten in der Kirchenmusik verbot. Es b escheidenen Komponisten hinweist: bedurfte besonderer Schritte der Kir- „Auf meine Messen bin ich etwas chenbehörden, damit 1767 bei der stolz“. Haydn nahm schon früh als Aufführung des (ersten) Te Deum Chorknabe bestimmende kirchenmu- Haydns anlässlich der Genesung der sikalische Eindrücke auf, und sein Kaiserin diese Instrumente zugelas- Verhältnis zur geistlichen Musik war sen wurden. durch eigene liturgische und sängeri- sche Praxis geprägt. Infolge der Zeit- Instrumentalmesse verdrängt umstände und der Art seiner Dienst- Aber nicht allein rationalistische Ge- verhältnisse vertonte Haydn zwar le- danken der Aufklärung waren der diglich 14 Messen. Es fällt jedoch Grund für die Verdrängung der gros- auf, dass sie sein Werk einrahmen: sen Instrumentalmesse. Papst Bene- Am Anfang stehen seine zwei Ju- dikt XIV. selbst hatte 1749 durch die gendmessen, die 1749 noch im Um- Enzyklika „Annus qui“ den Anstoss feld seiner Chorknabenzeit am Ste- gegeben. Mit seiner Enzyklika woll- phansdom in Wien entstanden. Den te der Papst die als weltlich und Schlusspunkt setzt die - opernhaft empfundene Kirchenmusik messe von 1802, seine letzte vollen- ausmerzen („ut nihil profanum, nihil dete Komposition. mundanum aut theatrale resonet“). Oberste Priorität sollte die Vollstän- Ab 1784 trat infolge der Josephini- digkeit und Verständlichkeit des schen Verordnungen und Verbote Textes haben. Instrumente (insbe- eine 16-jährige kirchenmusikalische sondere Streicher) liess die Enzy- Pause in Haydns Schaffen ein. Im klika im Gottesdienst nur zu, um die Kampf zwischen kirchlicher und Gläubigen zu erbauen und um den staatlicher Souveränität griff der Text zu vertiefen. Ihre Aufgabe aufgeklärte Kaiser Joseph II. in die bestand darin, die Singstimmen zu Gestaltung des Gottesdienstes ein stützen und in ihrem Ausdruck zu und band die festliche, instrumental verstärken. Werkeinführung 5

Als Joseph Haydn im Jahr 1802 die Harmoniemesse komponierte, war er 70 Jahre a lt und fühlte sich häufig krank und müde. In den Vorjahren hatte er seine Messen teilweise in knapp zwei Sommermonaten komponiert. Dieses Mal begann er bereits i m Januar, und im Juni schrieb er an den Fürsten Esterházy: „ In dessen bin ich an d er Neuen Messe sehr mühsam fleissig, noch mehr aber forchtsam, ob ich noch e inigen beyfall werde erhalten können.“ Das Ölbild entstand im Jahr 1806.

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sonmesse, , Schöp- fungsmesse und Harmoniemesse), auf die Haydn „etwas stolz“ war. Es gelang ihm, eine traditionelle Gat- tung zu verwandeln und ihr neues Gewicht zu geben. „In der Ein- schränkung der Arien und der Stär- kung des solistischen Ensembles, in der Vereinheitlichung der Struktur und in originellen formalen Lösun- gen, in der ausgearbeiteten orches- tralen Begleitung wie im eindring- lich textdeutenden Chorsatz zählen die späten Messen zu Haydns bedeu- tendsten Werken und sind eine ge- radlinige Fortsetzung seines sinfoni- schen Schaffens.“ (Harenberg)

F ürstin Maria Josepha Hermenegild: Rückschau und Neuansatz Zur Feier ihres Namenstages kompo- Ihren Titel verdankt die von allen nierte Haydn seine späten Messen. kirchlichen Werken Haydns am reichsten instrumentierte Messe ihrer E rst nach der Thronbesteigung von üppigen Bläserbesetzung, der soge- Franz II. im Jahr 1792 standen nannten Harmoniemusik. Haydn Haydn wieder die notwendigen mu- dürfte sich bei der Komposition be- sikalischen Mittel zur Verfügung, wusst gewesen sein, dass die Harmo- um sich erneut der Komposition von niemesse sein letztes grosses Werk Messen zuzuwenden. Seine sechs werden würde. So kann man in ihr s päten Messen, die er nach seiner einen würdevollen Abschied sehen, R ückkehr aus England zwischen auch eine Rückschau, die in man- 1 796 und 1802 im jährlichen Rhyth- chen Tonfällen, Strukturen, ja sogar mus komponierte, waren die einzige einzelnen Themen frühere Werke Dienstverpflichtung als Kapellmeis- zitiert und integriert. Doch das Werk ter bei Fürst Nikolaus II. von Ester- ist nicht nur eine „Summa Missarum házy. Sie dienten der Feier des Na- Josephi Haydn“, sondern auch ein m enstages der Fürstin Maria Josepha Neuansatz. Trotz seiner angeschlage- H ermenegild. nen Gesundheit komponierte Haydn nicht routiniert nach bewährtem Sinfonisches Schaffen fortgesetzt Muster (was er in seinem ganzen Es waren wohl vor allem diese Wer- Leben nie getan hat), sondern er fand ke (Paukenmesse, Heiligmesse, Nel- auch jetzt noch neue Wege, erprobte, Werkeinführung 7

e xperimentierte und erweiterte seine Bewahrung der barocken Züge, wie T onsprache. etwa der polyphonen Stimmführung: Die Schlussfugen vom Gloria und Eine verdichtete Expressivität – hef- Credo gehören zu den „grandio- tige Wechsel von laut und leise, Ru- sesten Sätzen solcher Art überhaupt, he und Bewegung, Dur und Moll – sie sind die goldene Ernte der euro- prägt den Aufbau der Komposition. päischen kontrapunktischen Tradi- Symbolische, teils drastisch prägnan- tion“ (Harenberg). te Textdeutung durchdringt die musikalischen Abläufe, und der Aussergewöhnliches Klangfarbenreichtum der grossen Eine ganz neue Art von Kyrie hat Bläserbesetzung wird meisterhaft Haydn im Eröffnungssatz entworfen: eingesetzt. Vor allem aber ist es die ein einteiliger breit ausgeführter H armonik, die verstärkt mit Disso- Adagio-Satz, im Kern komplex in- n anzen, chromatischen Wendungen strumental konzipiert, in den die u nd Modulationen in weit entfernte Vokalstimmen wirkungsvoll einge- T onarten arbeitet und der Messe ihre baut sind. Dieses riesige sinfonische a ns Romantische grenzende Färbung Adagio breitet das in der instrumen- g ibt. Dieses moderne Element ist talen Einleitung vorgestellte Aus- d abei völlig verschmolzen mit der drucksspektrum von Messen von der

Nach seiner Rückkehr aus England verbrachte Haydn in diesem Haus in Wien-

Gumpendorf die letzten Jahre seines Lebens. 8 Werkeinführung

„ Unvergleichlich schön und vorzüglich ausgeführt“ Am 8. September 1802 wurde die Har- ebenso ausgezeichnet wie reichhaltig, moniemesse in der Bergkirche in Eisen- Musik während des Festmahles. Das stadt (Bild) uraufgeführt. Über die Fest- Hoch, das der Fürst auf die Fürstin aus- lichkeiten informiert ein Tagebuchein- brachte, wurde durch Fanfaren und Sa- trag des österreichischen Gesandten in lutschüsse erwidert. Es wurde noch manche L ondon, Ludwig Fürst Starhemberg, der Gesundheit getrunken, ein Hoch auf Haydn, z ur illustren Gästeschar gehörte: „ Eine der mit uns speiste, wurde von mir aus- h errliche Messe mit einer neuen wunder- gebracht. Nach dem Festschmaus begab v ollen Musik vom berühmten Haydn und man sich im Frack zum Ball, der wirklich v on ihm selbst dirigiert. Unvergleichlich herrlich war wie ein Hofball.“ Am folgen- s chön und vorzüglich ausgeführt; nach der den Tag gingen die Gäste auf die Jagd und M esse zurück zum Schloss, woselbst gros- zum Ausklang des Festes „ gab es noch ein s er Empfang der zahlreichen Untertanen, wundervolles Konzert, das in den schön- d ie das Fürstenpaar beglückwünschten. sten Teilen der am Vortage aufgeführten D anach riesige wunderbare Festtafel, Messe bestand.“

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e rhabenen über die lyrische zur einer Direktheit aufgenommen wie v erzweifelten Anrufung in immer nie zuvor. „Die Kollektiverfahrung neuen Nuancierungen aus. der fast ständigen Bedrohung und die persönliche Erfahrung eines alten Noch verblüffender im Vergleich zu Mannes scheinen hier zusammen- allen anderen Haydnschen Vertonun- zuklingen und wirken bis in die gen ist das Benedictus: keine ergrei- Signale am Beginn und die extremen fende, langsame Sopran-Arie, son- harmonischen Akzente am Schluss dern ein aufgeregter Molto Allegro- des sonst so optimistischen Dona Chorsatz. nobis hinein.“ (Finscher)

Die Alltagserfahrung der kriegeri- Gerühmt ... schen Bedrohung (französische Re- Der Musikverlag Breitkopf & Härtel volutionskriege ab 1792, später na- rühmte 1802 Haydns Messen bei der poleonische Eroberungszüge) ist im Ankündigung ihrer Publikation: „Es Agnus Dei der späten Messen herrscht im Ganzen in Haydns Mes- Haydns in einem Masse und mit sen nicht die düstere Heiligkeit und

Dona nobis pacem! Die kriegerische Bedrohung hat deutliche Spuren in Haydns Messen hinterlassen. Bild: Die Franzosen beschiessen in der Nacht vom 11. auf den 12. Mai 1809 die Stadt Wien. Selbst in Haydns Haus schlugen Kartätschen ein. 10 Werkeinführung

g leichsam immer büssende Fröm- Musik Palestrinas romantisch ver- migkeit, die wir in den Messen der klärte, als weltlich, würdelos und grossen Männer der vorigen Zeiten, unkirchlich angefeindet. Sie konnten besonders in Italien [gemeint ist der aber nicht völlig aus den Kirchen Palestrinastil], finden, sondern eine verdrängt werden. heitere, ausgesöhnte Andacht, eine sanftere Wehmut, und ein beglü- „ Wie ich’s habe, so geb’ ich’s“ ckendes sich bewusst werden der Wer Haydns Messen mit einer text- himmlischen Güter.“ Und Beethoven fremden musikalischen Spielerei ab- bezeichnete die Messen seines Leh- tut oder als heitere Profanmusik ab- rers 1807 in einem Brief an den wertet, verkennt allerdings Haydns Fürsten Nikolaus II. von Esterházy tiefe Religiosität. „Seine Andacht“, als „unnachahmliche Meisterstücke“. sagte ein Zeitgenosse, „war nicht von der düsteren, immer büssenden ... und angefeindet Art, sondern heiter, ausgesöhnt, ver- Doch schon einige Zeitgenossen trauend, und in diesem Charakter ist lehnten die ausgesprochen heitere auch seine Kirchenmusik geschrie- Grundstimmung von Haydns Kir- ben.“ Und Haydn selbst formulierte chenmusik sowie die glänzende kon- es so: „Ich weiss es nicht anders zu zertierende Musizierfreudigkeit ab. machen. Wie ich’s habe, so geb’ Ab 1830 wurden seine Messen mit ich’s. Wenn ich aber an Gott denke, dem Aufkommen des Cäcilianismus so ist mein Herz so voll Freude, dass zum Symbol für den Niedergang der mir die Noten wie von der Spule Kirchenmusik in der Klassik. Sie laufen. Und da mir Gott ein fröh- wurden von dieser Bewegung zur liches Herz gegeben hat, so wird er Erneuerung der Kirchenmusik, die mir schon verzeihen, wenn ich ihm den gregorianischen Choral und die fröhlich diene.“

Te Deum

Als „Ambrosianischer Lobgesang“ Nach neueren Forschungen handelt i st dieser frühchristliche Hymnus es sich allerdings wahrscheinlich um G egenstand einer Legende gewor- einen altlateinischen Abendmahls- d en, die zwei grosse Männer der hymnus aus dem 4. Jahrhundert. f rühen Kirche verbindet: In der Manche Forscher vermuten in die- N acht, als Ambrosius seinen Schüler sem Text ein altes Hochgebet für die A ugustinus getauft habe, sei ihm Osternachtfeier. Über seinen klassi- diese Dichtung eingegeben worden. schen liturgischen Ort (Stundenge- Werkeinführung 11

lateinischer Text so häufig und so anspruchsvoll vertont worden. In feudaler Zeit wurde dieses Gotteslob freilich auch besonders zu politi- schen und repräsentativen Zwecken instrumentalisiert, etwa bei militäri- schen Siegen, Krönungsfeierlichkei- ten, fürstlichen Hochzeiten, Jubiläen oder bei der Vollendung von Bau- werken.

Gemeinsamkeiten ...

Joseph Haydn vertonte das Te Deum zum ersten Mal vor 1765. Um 1800 schrieb er für Kaiserin Marie There- se das zweite Te Deum, das am

8. September 1800 in Eisenstadt erst-

mals aufgeführt wurde. Bemerkens-

Kaiserin Marie Therese liebte die Musik wert ist die stilistische Verwandt- schaft der beiden, mehr als drei Jahr- sehr. Sie sang im privaten Kreis Sopran- partien und führte ein musikalisches Ta- zehnte auseinanderliegenden Kom- positionen. Nicht nur die Tonart C- gebuch. Für sie komponierte Haydn sein zweites Te Deum. Dur und die Verwendung des vier- stimmigen Chores als Hauptaus- drucksmittel sind ihnen gemeinsam. bet) hinaus hat der Hymnus einen Auch in Einzelheiten der Gestaltung musikalischen Siegeszug angetreten stimmen das Früh- und das Spätwerk und ist zum Inbegriff des christ- überein. Dem kräftig einsetzenden lichen Gotteslobes überhaupt ge- Allegro folgt bei Te ergo quaesumus worden. ein Adagio, das bei Aeterna fac wieder durch ein Allegro abgelöst Dass dieser weit ausholende Lob- wird. Ebenso kommt gegen Schluss preis sozusagen vom Himmel auf die beider Kompositionen der gleiche Erde heruntersteigt, um am Schluss Gedanke zum Ausdruck: Dem The- den schlichten Beter zu Wort kom- ma In te Domine speravi ist als men zu lassen, hat viele Menschen Gegensatz das Non confundar in immer wieder tief berührt. Zahl- aeternum unmittelbar beigegeben. reiche berühmte Komponisten haben sich an diesen gewaltigen Text ge- ... und Unterschiede wagt. Ausser der Messe und dem Neben diesen gemeinsamen Zügen Magnificat ist kaum ein anderer sind aber auch Unterschiede aus- 12 Werkeinführung

z umachen. Das zweite Te Deum ist Die Komposition ist dreiteilig ange- e infacher, klarer und in der Linien- legt: Zwei grosszügige, aber den- führung kraftvoller als das erste noch knapp geführte Allegro-Sätze Werk. Es verzichtet auf die in der in C-Dur rahmen den kurzen Jugendkomposition so bedeutungs- Adagio-Mittelteil in c-Moll ein. Das vollen Solostimmen und vergrössert Werk ist einfach, klar und markant, das Orchester in bedeutendem Mass. aber in der Textdeutung, der motivi- Seine Ausdruckskraft wird durch die schen Anlage und manchen struktu- Einführung der gregorianischen Te rellen Details ganz auf der Höhe der Deum-Melodie in den Mittelstimmen Haydnschen Kunst. „Besonders die erhöht. „In seiner knappen, gedrun- grossartige Doppelfuge, die auch genen Anlage und seiner markanten symbolisch zwei Textzeilen untrenn-

Tonsprache zählt es zu den bedeut- bar miteinander verknüpft und am s amsten Schöpfungen des späten Schluss in eine gewaltige synkopi- H aydns.“ (Geringer) sche Stauung mündet, die dramatisch aufgelöst wird, ist einer der grossen T raditionelle Elemente Momente in der Musik des späten O bgleich Haydn in seinem zweiten 18. Jahrhunderts.“ (Harenberg) W erk ganz der Linie seiner späten Folco Galli M essen folgt, greift er doch auch E lemente der spezifischen Te Deum- Tradition (Verwendung des grego- rianischen Chorals, kleingliedrige Literatur Deklamation, wechselchöriges Musi- Karl Gustav Fellerer: Josef Haydns zieren) auf. So verwendet er Teile Messen. Budapest 1961. des gregorianischen Psalmtons und Ludwig Finscher: Joseph Haydn und macht sie auch durch Unisono- seine Zeit. Laaber 2000. Einsatz durchaus kenntlich. Auch die Hans Gebhard (Hrg.): Harenberg Wechselchörigkeit ist zumindest an- Chormusikführer. Dortmund 2001. gedeutet: Viele Textstellen erschei- Karl Geringer: Joseph Haydn. Der nen wiederholt und erinnern so an schöpferische Werdegang eines Meisters die alte Alternatim-Praxis (wechsel- der Klassik. Mainz 1989. weiser Vortrag). Ausserdem erzielt Manfred Huss: Joseph Haydn. er stellenweise auch durch die Tei- Eisenstadt 1984. lung des Chorsatzes in Frauen- und Laszlo Somfai: Joseph Haydn. Sein Männerstimmen eine solche Wir- Leben in zeitgenössischen Bildern. kung. Kassel 1966.