<<

Plenarprotokoll 16/214

Deutscher

Stenografischer Bericht

214. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- Abrüstung und für gemeinsame Sicher- neten , Dr. und heit einleiten Wilhelm Josef Sebastian ...... 23117 A (Drucksache 16/12322) ...... 23120 B Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- e) Antrag der Abgeordneten Dr. Rainer nung ...... 23117 B Stinner, , Dr. , weiterer Abgeordneter und der Absetzung des Tagesordnungspunktes 9. . . . . 23119 B Fraktion der FDP: 60 Jahre NATO – Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 23119 B Deutschland muss sich in Diskussion über die Zukunft der NATO konstruk- tiv einbringen Tagesordnungspunkt 3: (Drucksache 16/12433) ...... 23120 B a) Abgabe einer Regierungserklärung durch Dr. , Bundeskanzlerin ...... 23120 C die Bundeskanzlerin: zum NATO-Gipfel 23120 A Dr. (FDP) ...... 23125 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des (SPD) ...... 23127 A Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Paul Schäfer (Köln), (DIE LINKE) ...... 23128 C Wolfgang Gehrcke, Monika Knoche, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE Dr. (CDU/CSU) ...... 23130 C LINKE: Keine NATO-Erweiterung – Si- Heike Hänsel (DIE LINKE) ...... 23131 B cherheit und Stabilität mit und nicht ge- gen Russland Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ (Drucksachen 16/11247, 16/11971) . . . . . 23120 A DIE GRÜNEN) ...... 23133 B c) Antrag der Abgeordneten Jürgen Trittin, (Wiesloch) (SPD) ...... 23135 A , Kerstin Müller Dr. Rainer Stinner (FDP) ...... 23136 B (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: (CDU/CSU) ...... 23136 D Überprüfung und Korrektur der Stra- tegie beim Afghanistanengagement vor Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) ...... 23138 D dem NATO-Gipfel in Kehl/Straßburg Eckart von Klaeden (CDU/CSU) ...... 23139 A beginnen (Drucksache 16/12113) ...... 23120 A (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23139 C d) Antrag der Abgeordneten Jürgen Trittin, Winfried Nachtwei, Kerstin Müller (SPD) ...... 23140 B (Köln), weiterer Abgeordneter und der Dr. Karl A. Lamers () Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: (CDU/CSU) ...... 23141 D NATO-Gipfel für eine strategische Neu- ausrichtung nutzen – Neue Schritte zur Dr. Rolf Mützenich (SPD) ...... 23143 A II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. , Donnerstag, den 26. März 2009

Tagesordnungspunkt 4: zes zur Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs und der elektronischen a) Zweite und dritte Beratung des von der Akte im Grundbuchverfahren sowie Bundesregierung eingebrachten Entwurfs zur Änderung weiterer grundbuch-, re- eines Gesetzes zur Bekämpfung uner- gister- und kostenrechtlicher Vorschrif- laubter Telefonwerbung und zur Ver- ten (ERVGBG) besserung des Verbraucherschutzes bei (Drucksache 16/12319) ...... 23157 C besonderen Vertriebsformen (Drucksachen 16/10734, 16/12406) . . . . . 23144 C c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- b) Beschlussempfehlung und Bericht des zes zur Umsetzung des Rahmenbe- Rechtsausschusses zu dem Antrag der Ab- schlusses 2006/783/JI des Rates vom geordneten Hans-Michael Goldmann, 6. Oktober 2006 über die Anwendung Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, des Grundsatzes der gegenseitigen An- Mechthild Dyckmans, weiterer Abgeord- erkennung auf Einziehungsentschei- neter und der Fraktion der FDP: Verbrau- dungen (Umsetzungsgesetz Rahmenbe- cherschutz beim Telefonmarketing ver- schluss Einziehung) bessern – Call-Center erhalten (Drucksache 16/12320) ...... 23157 D (Drucksachen 16/8544, 16/12406) ...... 23144 D d) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- c) Beschlussempfehlung und Bericht des brachten Entwurfs eines Zweiten Geset- Rechtsausschusses zu dem Antrag der Ab- zes zur Änderung des Gesetzes über die geordneten Bärbel Höhn, , Entschädigung für Strafverfolgungs- Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und maßnahmen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Drucksache 16/12321) ...... NEN: Verbot von Telefonwerbung zum 23157 D Schutz der Verbraucherinnen und Ver- e) Erste Beratung des von der Bundesregie- braucher wirksam durchsetzen rung eingebrachten Entwurfs eines Fünf- (Drucksachen 16/4156, 16/6059) ...... 23144 D ten Gesetzes zur Änderung des Bundes- , Bundesministerin zentralregistergesetzes BMJ ...... 23145 A (Drucksache 16/12427) ...... 23157 D Sabine Leutheusser-Schnarrenberger f) Erste Beratung des von der Bundesregie- (FDP) ...... 23146 C rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Verfolgung der Vorbereitung Julia Klöckner (CDU/CSU) ...... 23147 C von schweren staatsgefährdenden Ge- walttaten (DIE LINKE) ...... 23149 B (Drucksache 16/12428) ...... 23158 A Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ g) Antrag der Abgeordneten Jan Mücke, DIE GRÜNEN) ...... 23150 D (Bayreuth), Patrick Manfred Zöllmer (SPD) ...... 23152 A Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Konjunktur jetzt stär- Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 23152 D ken – Überlange Planungszeiten verhin- Dr. Günter Krings (CDU/CSU) ...... 23153 C dern (Drucksache 16/11750) ...... 23158 A Dirk Manzewski (SPD) ...... 23155 C h) Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler, (Köln), Monika Tagesordnungspunkt 36: Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Flüchtlinge entsprechend den Vorgaben rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- der Qualifikationsrichtlinie schützen zes zu dem Abkommen vom (Drucksache 16/12323) ...... 23158 A 6. November 2008 zwischen der Bun- desrepublik Deutschland und der Repu- i) Antrag der Abgeordneten Brigitte blik Österreich zur Vermeidung der Pothmer, Markus Kurth, Irmingard Doppelbesteuerung auf dem Gebiete Schewe-Gerigk, weiterer Abgeordneter der Erbschaftsteuern bei Erbfällen, in und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE denen der Erblasser nach dem 31. De- GRÜNEN: Gleiche Bezahlung, gleiche zember 2007 und vor dem 1. August Behandlung und Mindestlohn für Leih- 2008 verstorben ist arbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer (Drucksache 16/12236) ...... 23157 C (Drucksache 16/12435) ...... 23158 B b) Erste Beratung des von der Bundesregie- j) Unterrichtung durch die Bundesregierung: rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Umweltgutachten 2008 des Sachver- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 III

ständigenrates für Umweltfragen: Um- d) Zweite Beratung und Schlussabstimmung weltschutz im Zeichen des Klimawan- des von der Bundesregierung eingebrach- dels ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Haa- (Drucksache 16/9990) ...... 23158 B ger Übereinkommen vom 19. Oktober 1996 über die Zuständigkeit, das anzu- wendende Recht, die Anerkennung, Zusatztagesordnungspunkt 3: Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwor- a) Antrag der Abgeordneten , tung und der Maßnahmen zum Schutz Burkhardt Müller-Sönksen, Dr. Karl von Kindern Addicks, weiterer Abgeordneter und der (Drucksachen 16/12068, 16/12462) . . . . . 23159 D Fraktion der FDP: Für ein kohärentes und effizientes Konzept der deutschen e) Zweite und dritte Beratung des von der humanitären Hilfe Bundesregierung eingebrachten Entwurfs (Drucksache 16/7523) ...... 23158 C eines Gesetzes zur Anpassung der Vor- schriften des Internationalen Privat- b) Antrag der Abgeordneten Horst rechts an die Verordnung (EG) Nr. 593/ Meierhofer, Hans-Michael Goldmann, 2008 , weiterer Abgeordneter (Drucksachen 16/12104, 16/12463) . . . . . 23160 A und der Fraktion der FDP: Transparente und eindeutige Produktkennzeichnung f) Zweite und dritte Beratung des von der als Voraussetzung für ökologische Kon- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs sumentenverantwortung eines Zweiten Gesetzes zur Änderung (Drucksache 16/11911) ...... 23158 C des Gefahrgutbeförderungsgesetzes (Drucksachen 16/12118, 16/12451) . . . . . 23160 B c) Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Wolfgang Wieland, Jerzy g) Zweite und dritte Beratung des von der Montag, weiterer Abgeordneter und der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: eines Gesetzes zur Aufhebung der Frei- Visumsfreie Einreise türkischer Staats- häfen Emden und Kiel angehöriger für Kurzaufenthalte er- (Drucksachen 16/12228, 16/12454) . . . . . 23160 C möglichen (Drucksache 16/12437) ...... 23158 C h) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- d) Antrag der Fraktionen FDP, DIE LINKE ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ein- Zweiten Protokoll vom 26. März 1999 setzung eines Untersuchungsausschus- zur Haager Konvention vom 14. Mai ses 1954 zum Schutz von Kulturgut bei be- (Drucksache 16/12480) ...... 23158 D waffneten Konflikten (Drucksachen 16/12234, 16/12452) . . . . . 23160 D i) Zweite Beratung und Schlussabstimmung Tagesordnungspunkt 37: des von der Bundesregierung eingebrach- a) Zweite und dritte Beratung des von der ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Sta- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs bilisierungs- und Assoziierungsabkom- eines Gesetzes zur Neuregelung des no- men zwischen den Europäischen tariellen Disziplinarrechts Gemeinschaften und ihren Mitglied- (Drucksachen 16/12062, 16/12460) . . . . . 23159 A staaten einerseits und Bosnien und Her- zegowina andererseits b) Zweite und dritte Beratung des von der (Drucksachen 16/12235, 16/12453) . . . . . 23161 A Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Inter- nationalen Familienrechtsverfahrensge- Zusatztagesordnungspunkt 4: setzes (Drucksachen 16/12063, 16/12461) . . . . . 23159 B a–j c) Zweite und dritte Beratung des von der Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs schusses: Sammelübersichten 543, 544, eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 545, 546, 547, 548, 549, 550, 551 und 552 8. Oktober 2008 zwischen der Bundes- zu Petitionen republik Deutschland und der Republik (Drucksachen 16/12438, 16/12439, 16/12440, Indien über Sozialversicherung 16/12441, 16/12442, 16/12443, 16/12444, (Drucksachen 16/12065, 16/12352) . . . . . 23159 C 16/12445, 16/12446, 16/12447) ...... 23161 B IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Zusatztagesordnungspunkt 5: (CDU/CSU) ...... 23181 A a) Wahl von Mitgliedern des Stiftungs- Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ rates der unselbständigen Stiftung DIE GRÜNEN) ...... 23181 B „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöh- nung“ Renate Künast (BÜNDNIS 90/ Wahlvorschläge der Fraktionen der CDU/ DIE GRÜNEN) ...... 23182 C CSU und der SPD Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 23183 D (Drucksache 16/12417) ...... 23162 B Heinz Schmitt (Landau) (SPD) ...... 23186 A b) Wahl von Mitgliedern des Kuratoriums der Stiftung „Deutsches Historisches Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 23188 B Museum“ Dr. (SPD) ...... 23188 B – Wahlvorschläge der Fraktionen DIE Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 23188 B LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN (CDU/CSU) ...... 23188 D (Drucksache 16/12419) ...... 23162 B Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 23189 D – Wahlvorschläge der Fraktionen der Johannes Röring (CDU/CSU) ...... CDU/CSU, SPD und FDP 23191 B (Drucksache 16/12418) ...... 23162 B Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23191 C

Zusatztagesordnungspunkt 1: (SPD) ...... 23192 D Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktio- Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 23193 B nen der CDU/CSU und der SPD: Bekämp- Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU) . . . . . 23196 C fung der Kinderpornografie im Internet Ulrich Kelber (SPD) ...... 23197 A (CDU/CSU) ...... 23162 C Christoph Waitz (FDP) ...... 23164 A Tagesordnungspunkt 6: Christel Humme (SPD) ...... 23165 B a) Antrag der Abgeordneten Jörn Wunderlich (DIE LINKE) ...... 23166 C (Hamm), , Wolfgang Dr. , Börnsen (Bönstrup), weiterer Abgeordne- Bundesministerin BMFSFJ ...... 23167 C ter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Margrit Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ Wetzel, , , DIE GRÜNEN) ...... 23169 A weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: In der Maritimen Wirtschaft Brigitte Zypries, Bundesministerin Kurs halten BMJ ...... 23170 B (Drucksache 16/12431) ...... 23198 C Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) ...... 23172 A b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Renate Gradistanac (SPD) ...... 23173 B Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung und Zukunftsperspektiven (CDU/CSU) ...... 23174 B der maritimen Wirtschaft in Deutsch- (SPD) ...... 23175 C land (Drucksache 16/11835) ...... 23198 C Dorothee Bär (CDU/CSU) ...... 23176 D Dagmar Wöhrl, Parl. Staatssekretärin (SPD) ...... 23177 D BMWi ...... 23198 D Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 23200 C Tagesordnungspunkt 5: Dr. (SPD) ...... 23202 C Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken, Lutz Heilmann (DIE LINKE) ...... 23204 C , Hans-Josef Fell, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Anbau von gentechnisch DIE GRÜNEN) ...... 23205 D verändertem Mais stoppen (SPD) ...... 23207 C (Drucksache 16/11919) ...... 23179 B Eckhardt Rehberg (CDU/CSU) ...... 23208 D Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23179 B (SPD) ...... 23211 B Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 V

Tagesordnungspunkt 7: Tagesordnungspunkt 11: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Beschlussempfehlung und Bericht des Vertei- desregierung eingebrachten Entwurfs eines digungsausschusses Gesetzes zur Modernisierung des Bilanz- – zu dem Antrag der Abgeordneten Bernd rechts (Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz – Siebert, , Michael Brand, BilMoG) weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Drucksachen 16/10067, 16/12407) ...... 23212 A der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Brigitte Zypries, Bundesministerin Rainer Arnold, Dr. Hans-Peter Bartels, Petra Heß, weiterer Abgeordneter und der BMJ ...... 23212 B Fraktion der SPD: Konzept der Inneren Mechthild Dyckmans (FDP) ...... 23213 C Führung stärken und weiterentwickeln (CDU/CSU) ...... 23214 C – zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit Homburger, , Dr. Rainer Stinner, Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 23215 D weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Innere Führung stärken und Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ weiterentwickeln DIE GRÜNEN) ...... 23217 A – zu dem Antrag der Abgeordneten (SPD) ...... 23217 D Winfried Nachtwei, Alexander Bonde, (), weiterer Ab- Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) ...... 23219 A geordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Bundeswehr – Innere Führung konsequent umsetzen Tagesordnungspunkt 8: (Drucksachen 16/8378, 16/8376, 16/8370, a) Antrag der Abgeordneten Michael Kauch, 16/12071) ...... 23227 D Horst Meierhofer, Horst Friedrich (Bay- Dr. , Bundesminister reuth), weiterer Abgeordneter und der BMVg ...... 23228 B Fraktion der FDP: Elektromobilität – Für einen bezahlbaren und klimaver- Birgit Homburger (FDP) ...... 23229 B träglichen Individualverkehr Gerd Höfer (SPD) ...... 23230 C (Drucksache 16/10877) ...... 23220 C Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE) ...... 23231 C b) Antrag der Abgeordneten Michael Kauch, Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/ Horst Meierhofer, Horst Friedrich (Bay- DIE GRÜNEN) ...... reuth), weiterer Abgeordneter und der 23232 B Fraktion der FDP: Elektromobilität Anita Schäfer (Saalstadt) durch Änderung von immissionsschutz- (CDU/CSU) ...... 23233 B und verkehrsrechtlichen Regelungen fördern Hedi Wegener (SPD) ...... 23234 C (Drucksache 16/12097) ...... 23220 D c) Antrag der Abgeordneten Winfried Tagesordnungspunkt 10: Hermann, Hans-Josef Fell, Dr. Anton Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der schusses für Arbeit und Soziales zu dem An- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: trag der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch, Umfassende Förderstrategie für Elek- Dr. Barbara Höll, Dr. , weite- tromobilität mit grünem Strom ent- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE wickeln LINKE: Kostenpflichtige Service-Telefon- (Drucksache 16/11915) ...... 23220 D nummer der Arbeitsagentur in eine gebüh- Horst Meierhofer (FDP) ...... 23221 A renfreie Rufnummer umwandeln (Drucksachen 16/9097, 16/11802) ...... 23235 D Dr. (CDU/CSU) ...... 23222 C (SPD) ...... 23236 A Dorothée Menzner (DIE LINKE) ...... 23224 B (CDU/CSU) ...... 23237 A Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär (DIE LINKE) ...... 23238 B BMVBS ...... 23225 A

Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/ Zusatztagesordnungspunkt 6: DIE GRÜNEN) ...... 23225 D Erste Beratung des von den Fraktionen der Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD) ...... 23227 A CDU/CSU und der SPD eingebrachten Ent- VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 wurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung KOM (2004) 469 endg.; Ratsdok. 11572/04 des Conterganstiftungsgesetzes (Drucksachen 16/820 Nr. 72, 16/1700) . . 23250 C (Drucksache 16/12413) ...... 23239 C c) Antrag der Abgeordneten Christoph (CDU/CSU) ...... 23239 C Waitz, Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Dr. Claudia Winterstein, weiterer Abge- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 23241 A ordneter und der Fraktion der FDP: Euro- Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . . 23242 B päische Kulturpolitik neu ausrichten (Drucksache 16/11909) ...... 23250 D Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) ...... 23243 C Dr. Stephan Eisel (CDU/CSU) ...... 23250 D Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23244 A (Cottbus) (SPD) ...... 23252 C Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . 23254 A Tagesordnungspunkt 12: Dr. Uschi Eid (BÜNDNIS 90/ Antrag der Abgeordneten Dr. , DIE GRÜNEN) ...... 23254 D , , weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Besteuerung von Tagesordnungspunkt 14: Dienstwagen CO2-effizient ausrichten und Beschlussempfehlung und Bericht des Vertei- Privilegien abbauen digungsausschusses zu dem Antrag der Abge- (Drucksache 16/10978) ...... 23245 A ordneten Elke Hoff, Birgit Homburger, Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ Dr. Rainer Stinner, weiterer Abgeordneter und DIE GRÜNEN) ...... 23245 B der Fraktion der FDP: Schutzsystem gegen Sprengfallen unverzüglich beschaffen (CDU/CSU) ...... 23246 B (Drucksachen 16/6999, 16/8242) ...... 23256 B Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD) ...... 23248 A Tagesordnungspunkt 15: Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 23249 C Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD: Pakistan stabilisieren und seine de- Tagesordnungspunkt 13: mokratische Entwicklung vorantreiben (Drucksache 16/12432) ...... 23256 C a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien – zu dem Antrag der Abgeordneten Tagesordnungspunkt 16: Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Peter Antrag der Abgeordneten , Albach, Dorothee Bär, weiterer Abge- Wolfgang Nešković, Sevim Dağdelen, weite- ordneter und der Fraktion der CDU/ rer Abgeordneter und der Fraktion DIE CSU sowie der Abgeordneten Steffen LINKE: Rücknahme der Klage gegen Ita- Reiche (Cottbus), Monika Griefahn, lien vor dem Internationalen Gerichtshof Siegmund Ehrmann, weiterer Abge- und Entschädigung für italienische und ordneter und der Fraktion der SPD: griechische NS-Opfer Einheit in Vielfalt – Kulturpolitik in (Drucksache 16/12168) ...... 23256 D und für Europa aktiv gestalten Dorothee Bär (CDU/CSU) ...... 23256 D – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Uschi Eid, Undine Kurth (Quedlin- Monika Griefahn (SPD) ...... 23257 C burg), Marieluise Beck (Bremen), wei- Dr. (FDP) ...... 23259 A terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Viel- Ulla Jelpke (DIE LINKE) ...... 23259 D falt verbindet – Europäische Kultur Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ stärken und weiterentwickeln DIE GRÜNEN) ...... 23261 A (Drucksachen 16/11221, 16/10339, 16/12137) 23250 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Tagesordnungspunkt 17: Ausschusses für Kultur und Medien zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: a) Zweite und dritte Beratung des von der Vorschlag für einen Beschluss des Euro- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs päischen Parlaments und des Rates eines Ersten Gesetzes zur Änderung des über das Programm „Kultur 2007“ Telekommunikationsgesetzes (2007–2013) (Drucksachen 16/10731, 16/12405) . . . . . 23261 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 VII b) Antrag der Abgeordneten Gisela Piltz, b) Antrag der Abgeordneten Elisabeth Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Hans- Scharfenberg, Britta Haßelmann, Nicole Joachim Otto (Frankfurt), weiterer Abge- Maisch, weiterer Abgeordneter und der ordneter und der Fraktion der FDP: Mög- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: lichkeiten missbräuchlicher Ortung von Betreutes Wohnen für ältere Menschen – Mobiltelefonen mittels privater Anbie- Qualitätskriterium Nutzerorientierung ter begegnen (Drucksache 16/12309) ...... 23268 C (Drucksache 16/9608) ...... 23261 D Markus Grübel (CDU/CSU) ...... 23268 D Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) ...... 23270 B Tagesordnungspunkt 18: (FDP) ...... 23271 B Beschlussempfehlung und Bericht des Innen- Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) ...... 23272 A ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten , Josef Philip Winkler, Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/D Rainder Steenblock, weiterer Abgeordneter IE GRÜNEN) ...... 23272 D und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. Hermann Kues, Parl. Staats- NEN: Für eine zukunftstaugliche und men- sekretär BMFSFJ ...... 23273 D schenrechtlich fundierte Europäische Mi- grationspolitik (Drucksachen 16/10341, 16/12464) ...... 23262 B Tagesordnungspunkt 22: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Tagesordnungspunkt 19: Ulla Jelpke, Wolfgang Nešković, Sevim Dağdelen, weiteren Abgeordneten und der – Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs wurfs eines … Gesetzes zur Änderung eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes (Änderung der des Zivildienstgesetzes und anderer Ge- Altfallregelung) setze (Drittes Zivildienstgesetzände- (Drucksache 16/12415) ...... 23274 C rungsgesetz) (Drucksachen 16/10995, 16/12372 ...... 23262 C b) Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Birgitt – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß Bender, weiterer Abgeordneter und der § 96 der Geschäftsordnung Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: (Drucksache 16/12373) ...... 23262 C Verlängerung der Frist für die gesetzli- che Altfallregelung (Drucksache 16/12434) ...... 23274 D Tagesordnungspunkt 20: (CDU/CSU) ...... 23274 D Antrag der Abgeordneten Ina Lenke, Sibylle Laurischk, Miriam Gruß, weiterer Abgeord- Rüdiger Veit (SPD) ...... 23275 D neter und der Fraktion der FDP: Adoptionen Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) ...... 23276 D von minderjährigen Kindern fördern (Drucksache 16/12293) ...... 23263 A Ulla Jelpke (DIE LINKE) ...... 23277 C (CDU/CSU) ...... 23263 A Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23278 B (SPD) ...... 23264 D Ina Lenke (FDP) ...... 23266 C Tagesordnungspunkt 23: Jörn Wunderlich (DIE LINKE) ...... 23267 A – Zweite Beratung und Schlussabstimmung Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ des von der Bundesregierung eingebrach- DIE GRÜNEN) ...... 23267 D ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 4. Juli 2008 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Tagesordnungspunkt 21: Deutschland und der Regierung von Jersey über den Auskunftsaustausch in a) Erste Beratung des von den Fraktionen der Steuersachen CDU/CSU und der SPD eingebrachten (Drucksachen 16/12066, 16/12449) . . . . . 23279 B Entwurfs eines Gesetzes zur Neurege- lung der zivilrechtlichen Vorschriften – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Heimgesetzes nach der Föderalis- des von der Bundesregierung eingebrach- musreform ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem (Drucksache 16/12409) ...... 23268 C Abkommen vom 4. Juli 2008 zwischen VIII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

der Regierung der Bundesrepublik Dr. (DIE LINKE) ...... 23289 C Deutschland und der Regierung von (BÜNDNIS 90/ Jersey über die Zusammenarbeit in DIE GRÜNEN) ...... Steuersachen und die Vermeidung der 23290 C Doppelbesteuerung bei bestimmten Einkünften (Drucksachen 16/12067, 16/12449) . . . . . 23279 C Tagesordnungspunkt 25: Manfred Kolbe (CDU/CSU) ...... 23279 C a) Antrag der Abgeordneten Anette Hübinger, Stefan Müller (Erlangen), (Heidelberg) (SPD) ...... 23280 C , weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der CDU/CSU Carl-Ludwig Thiele (FDP) ...... 23281 D sowie der Abgeordneten , Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 23282 C Dr. , , weiterer Abgeordneter und der Fraktion Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ der SPD: UN-Dekade „Bildung für DIE GRÜNEN) ...... 23283 C nachhaltige Entwicklung“ weiterhin ak- tiv umsetzen – Folgeaktivitäten zur UNESCO-Weltkonferenz entwickeln Tagesordnungspunkt 24: (Drucksache 16/12450) ...... 23291 C a) Zweite und dritte Beratung des von den b) Antrag der Abgeordneten Cornelia Hirsch, Abgeordneten Birgitt Bender, Dr. Harald Dr. , Volker Schneider (Saar- Terpe, Ulrike Höfken, weiteren Abgeord- brücken) und der Fraktion DIE LINKE: neten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE UN-Dekade „Bildung für nachhaltige GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Entwicklung“ konsequent umsetzen Gesetzes zur Verankerung eines umfas- (Drucksache 16/12306) ...... 23291 C senden Schutzes vor Passivrauchen im Arbeitsschutzgesetz Anette Hübinger (CDU/CSU) ...... 23291 D (Drucksachen 16/10337, 16/12351) . . . . . 23284 D Ulla Burchardt (SPD) ...... 23292 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Patrick Meinhardt (FDP) ...... 23293 C Ausschusses für Gesundheit Volker Schneider (Saarbrücken) – zu dem Antrag der Abgeordneten (DIE LINKE) ...... 23294 B Dr. Carola Reimann, Lothar Binding (Heidelberg), Dr. Margrit Spielmann Dr. Uschi Eid (BÜNDNIS 90/ und weiterer Abgeordneter: Effekti- DIE GRÜNEN) ...... 23295 A ven Schutz vor Passivrauchen zügig Andreas Storm, Parl. Staatssekretär gesetzlich verankern BMBF ...... 23296 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken, Birgitt Bender, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter Tagesordnungspunkt 26: und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wirksamen Schutz vor Antrag der Abgeordneten Hans-Kurt Hill, Passivrauchen im öffentlichen Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, wei- Raum umsetzen terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Strommarkt durchgreifend regu- – zu dem Antrag der Abgeordneten lieren – Energiepreissenkungen durchset- Birgitt Bender, Dr. Harald Terpe, zen Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter (Drucksache 16/11908) ...... 23297 B und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Dr. (CDU/CSU) ...... GRÜNEN: Bundesweit einheitlichen 23297 C Schutz vor Passivrauchen in Gast- Rolf Hempelmann (SPD) ...... 23299 A stätten verankern Gudrun Kopp (FDP) ...... 23300 B (Drucksachen 16/2730, 16/2805, 16/10338, 16/12408) ...... 23285 A Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) ...... 23301 A (CDU/CSU) ...... 23285 B Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23301 D Maria Eichhorn (CDU/CSU) ...... 23286 B Dr. Carola Reimann (SPD) ...... 23287 B Tagesordnungspunkt 27: Dr. Marlies Volkmer (SPD) ...... 23288 A Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Detlef Parr (FDP) ...... 23288 C schusses für Bildung, Forschung und Tech- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 IX nikfolgenabschätzung zu der Unterrichtung b) Beschlussempfehlung und Bericht des durch die Bundesregierung: Mitteilung der Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- Kommission an das Europäische Parla- gie zu dem Antrag der Abgeordneten ment, den Rat, den Europäischen Wirt- Winfried Nachtwei, Dr. Wolfgang schafts- und Sozialausschuss und den Aus- Strengmann-Kuhn, Kerstin Müller (Köln), schuss der Regionen Gemeinsame Planung weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Forschungsprogramme: bessere Be- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für eine wältigung gemeinsamer Herausforderun- restriktive Rüstungsexportpolitik – gen durch Zusammenarbeit (inkl. 11935/08 Parlamentarische Kontrollmöglichkei- ADD 1 und 11935/08 ADD 2) ten verbessern KOM(2008) 468 endg.; Ratsdok. 11935/08 (Drucksachen 16/11388, 16/11975) . . . . . 23313 C (Drucksachen 16/10286 Nr. A.76, 16/12416) 23302 B Erich G. Fritz (CDU/CSU) ...... 23313 C Carsten Müller (Braunschweig) Rolf Hempelmann (SPD) ...... 23315 B (CDU/CSU) ...... 23302 C Gudrun Kopp (FDP) ...... 23316 B René Röspel (SPD) ...... 23303 D (FDP) ...... 23305 A Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) ...... 23317 B Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) ...... 23305 C Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23318 B (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23306 C Zusatztagesordnungspunkt 7: Tagesordnungspunkt 28: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Ernährung, Landwirtschaft und a) Antrag der Abgeordneten Volker Beck Verbraucherschutz zu dem Antrag der Abge- (Köln), Thilo Hoppe, Ute Koczy, weiterer ordneten Undine Kurth (Quedlinburg), Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Cornelia Behm, Ulrike Höfken, weiterer Ab- NIS 90/DIE GRÜNEN: Humanitäre Ka- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ tastrophe in Sri Lanka verhindern DIE GRÜNEN: Stärkung des europäischen (Drucksache 16/12436) ...... 23307 C Haischutzes b) Beschlussempfehlung und Bericht des (Drucksachen 16/12290, 16/12458) ...... 23320 A Ausschusses für Menschenrechte und Hu- manitäre Hilfe zu dem Antrag der Abge- ordneten Volker Beck (Köln), Marieluise Zusatztagesordnungspunkt 8: Beck (Bremen), Alexander Bonde, weite- Zweite und dritte Beratung des von der Bun- rer Abgeordneter und der Fraktion desregierung eingebrachten Entwurfs eines BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Weitere Gesetzes zur Umsetzung der aufsichts- Verschlechterung der Rechtssituation rechtlichen Vorschriften der Zahlungs- von Homosexuellen in Nigeria verhin- diensterichtlinie (Zahlungsdiensteumset- dern zungsgesetz) (Drucksachen 16/12107, 16/12459) . . . . . 23307 C (Drucksachen 16/11613, 16/11640, 16/12430, Hartwig Fischer (Göttingen) 16/12487) ...... 23320 B (CDU/CSU) ...... 23307 D Holger Haibach (CDU/CSU) ...... 23308 D Nächste Sitzung ...... 23320 D Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) ...... 23309 B Christel Riemann-Hanewinckel (SPD) ...... 23309 D Anlage 1 Harald Leibrecht (FDP) ...... 23310 C Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 23321 A (DIE LINKE) ...... 23311 C Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Anlage 2 DIE GRÜNEN) ...... 23312 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu Tagesordnungspunkt 29: dem Antrag: Kostenpflichtige Service-Tele- fonnummer der Arbeitsagentur in eine gebüh- a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: renfreie Rufnummer umwandeln (Tagesord- Bericht der Bundesregierung über ihre nungspunkt 10) Exportpolitik für konventionelle Rüs- tungsgüter im Jahre 2007 (Rüstungs- Heinz-Peter Haustein (FDP) ...... 23321 B exportbericht 2007) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 16/11583) ...... 23313 B DIE GRÜNEN) ...... 23322 A X Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Anlage 3 Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23333 D Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Antrags: Besteuerung von Dienstwagen CO2- effizient ausrichten und Privilegien abbauen Anlage 7 (Tagesordnungspunkt 12) Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Dr. (FDP) ...... 23322 C des: – Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Ände- Anlage 4 rung des Telekommunikationsgesetzes Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: – Antrags: Möglichkeiten missbräuchlicher Ortung von Mobiltelefonen mittels priva- – der Beschlussempfehlung und des Be- ter Anbieter begegnen richts zu den Anträgen: (Tagesordnungspunkt 17 a und b) – Einheit in Vielfalt – Kulturpolitik in und für Europa aktiv gestalten Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU) ...... 23334 D – Vielfalt verbindet – Europäische Kul- Martin Dörmann (SPD) ...... 23336 D tur stärken und weiterentwickeln Hans-Joachim Otto (Frankfurt) – der Unterrichtung: Vorschlag für einen (FDP) ...... 23338 A Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über das Programm Dr. Herbert Schui (DIE LINKE) ...... 23338 D „Kultur 2007“ (2007–2013) Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/ – des Antrags: Europäische Kulturpolitik DIE GRÜNEN) ...... 23339 B neu ausrichten (Tagesordnungspunkt 13 a bis c) Anlage 8 Christoph Waitz (FDP) ...... 23323 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Für eine zukunftstaugliche und Anlage 5 menschenrechtlich fundierte Europäische Mi- grationspolitik (Tagesordnungspunkt 18) Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu Hans-Werner Kammer (CDU/CSU) ...... 23340 A dem Antrag: Schutzsystem gegen Sprengfal- len unverzüglich beschaffen (Tagesordnungs- Rüdiger Veit (SPD) ...... 23341 B punkt 14) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) ...... 23343 B Hans Raidel (CDU/CSU) ...... 23324 C Sevim Dağdelen (DIE LINKE) ...... 23344 B Maik Reichel (SPD) ...... 23325 D Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... Elke Hoff (FDP) ...... 23326 C 23345 B Inge Höger (DIE LINKE) ...... 23327 C Anlage 9 Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23328 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Än- derung des Zivildienstgesetzes und anderer Anlage 6 Gesetze (Drittes Zivildienstgesetzänderungs- gesetz) (Tagesordnungspunkt 19) Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Pakistan stabilisieren und seine Markus Grübel (CDU/CSU) ...... 23346 C demokratische Entwicklung vorantreiben (Ta- gesordnungspunkt 15) Sönke Rix (SPD) ...... 23348 C Ina Lenke (FDP) ...... Holger Haibach (CDU/CSU) ...... 23329 A 23349 C Elke Reinke (DIE LINKE) ...... Christel Riemann-Hanewinckel (SPD) ...... 23330 B 23350 C (BÜNDNIS 90/ Johannes Pflug (SPD) ...... 23330 D DIE GRÜNEN) ...... 23351 B Elke Hoff (FDP) ...... 23331 D Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) ...... 23333 A BMFSFJ ...... 23352 B Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 XI

Anlage 10 Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung dem Antrag: Stärkung des europäischen Hai- der aufsichtsrechtlichen Vorschriften der Zah- schutzes (Zusatztagesordnungspunkt 7) lungsdiensterichtlinie (Zahlungsdiensteumset- zungsgesetz) (Zusatztagesordnungspunkt 8) Dr. (CDU/CSU) ...... 23353 B (Weiden) Holger Ortel (SPD) ...... 23355 A (CDU/CSU) ...... 23358 B Dr. Christel Happach-Kasan (SPD) ...... 23359 B (FDP) ...... 23356 A Frank Schäffler (FDP) ...... 23360 B Dr. (DIE LINKE) ...... 23357 A Dr. (DIE LINKE) ...... 23360 D Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/ Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 23357 C DIE GRÜNEN) ...... 23361 C

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23117

(A) (C) Redetext

214. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. : Für ein kohärentes und effizientes Konzept Die Sitzung ist eröffnet. der deutschen humanitären Hilfe Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich – Drucksache 16/7523 – begrüße Sie alle herzlich. Vor Eintritt in unsere Tages- Überweisungsvorschlag: ordnung gibt es einige Glückwünsche zu übermitteln. Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Auswärtiger Ausschuss Heute feiert der Kollege Uwe Beckmeyer seinen Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und 60. Geburtstag. Im Namen des ganzen Hauses gratuliere Entwicklung ich dazu herzlich. Ich wünsche für das nächste und die b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst folgenden Jahre alles Gute. Meierhofer, Hans-Michael Goldmann, Michael (Beifall) Kauch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP (B) Der Kollege Dr. Max Stadler ist bereits am Montag (D) dieser Woche 60 Jahre alt geworden, und der Kollege Transparente und eindeutige Produktkenn- Wilhelm Josef Sebastian beging am vergangenen zeichnung als Voraussetzung für ökologische Samstag seinen 65. Geburtstag. Auch diesen beiden Ju- Konsumentenverantwortung bilaren möchte ich auf diesem Wege noch einmal die gu- – Drucksache 16/11911 – ten Wünsche des ganzen Hauses übermitteln. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) (Beifall) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die ver- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz bundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste Federführung strittig aufgeführten Punkte zu erweitern: c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen Philip Winkler, Wolfgang Wieland, Jerzy der CDU/CSU und der SPD: Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Bekämpfung der Kinderpornografie im Inter- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN net Visumsfreie Einreise türkischer Staatsangehö- riger für Kurzaufenthalte ermöglichen ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: – Drucksache 16/12437 – zu den Antworten der Bundesregierung auf die Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Fragen Nr. 19 und 20 auf Drucksache 16/12355 Auswärtiger Ausschuss (HRE) Ausschuss für Tourismus (siehe 213. Sitzung) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- d) Beratung des Antrags der Fraktionen FDP, DIE fahren LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Ergänzung zu TOP 36) Einsetzung eines Untersuchungsausschusses a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian – Drucksache 16/12480 – Toncar, Burkhardt Müller-Sönksen, Dr. Karl Überweisungsvorschlag: Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und der FDP Geschäftsordnung 23118 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus- ZP 5 Wahlen zu Gremien (C) sprache a) Wahl von Mitgliedern des Stiftungsrates der (Ergänzung zu TOP 37) unselbständigen Stiftung „Stiftung Flucht, a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Vertreibung, Versöhnung“ ausschusses (2. Ausschuss) Wahlvorschläge der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD Sammelübersicht 543 zu Petitionen – Drucksache 16/12417 – – Drucksache 16/12438 – b) Wahl von Mitgliedern des Kuratoriums der b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Stiftung „Deutsches Historisches Museum“ ausschusses (2. Ausschuss) – Wahlvorschläge der Fraktionen DIE LINKE Sammelübersicht 544 zu Petitionen und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 16/12439 – – Drucksache 16/12419 – – Wahlvorschläge der Fraktionen der CDU/CSU, c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- SPD und FDP ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 16/12418 – Sammelübersicht 545 zu Petitionen ZP 6 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ – Drucksache 16/12440 – CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Con- d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- terganstiftungsgesetzes ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 16/12413 – Sammelübersicht 546 zu Petitionen Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – Drucksache 16/12441 – Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Ausschuss für Gesundheit ausschusses (2. Ausschuss) Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Sammelübersicht 547 zu Petitionen ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- (B) – Drucksache 16/12442 – schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu (D) dem Antrag der Abgeordneten Undine Kurth f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- (Quedlinburg), Cornelia Behm, Ulrike Höfken, ausschusses (2. Ausschuss) weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN Sammelübersicht 548 zu Petitionen Stärkung des europäischen Haischutzes – Drucksache 16/12443 – – Drucksachen 16/12290, 16/12458 – g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Berichterstattung: ausschusses (2. Ausschuss) Abgeordnete Dr. Peter Jahr Sammelübersicht 549 zu Petitionen Holger Ortel Dr. Christel Happach-Kasan – Drucksache 16/12444 – Dr. Markus Kurth h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) ZP 8 Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Sammelübersicht 550 zu Petitionen zur Umsetzung der aufsichtsrechtlichen Vor- schriften der Zahlungsdiensterichtlinie (Zah- – Drucksache 16/12445 – lungsdiensteumsetzungsgesetz) i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksachen 16/11613, 16/11640 – ausschusses (2. Ausschuss) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- Sammelübersicht 551 zu Petitionen schusses (7. Ausschuss) – Drucksache 16/12446 – – Drucksachen 16/12430, 16/12487 – Berichterstattung: j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Abgeordnete Albert Rupprecht (Weiden) ausschusses (2. Ausschuss) Martin Gerster Sammelübersicht 552 zu Petitionen Frank Schäffler Dr. Barbara Höll – Drucksache 16/12447 – Dr. Gerhard Schick Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23119

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) ZP 9– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Der in der 211. Sitzung des Deutschen Bundestages (C) regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz- zur Änderung der Förderung von Biokraft- lich dem Ausschuss für Tourismus (20. Ausschuss) zur stoffen Mitberatung überwiesen werden.

– Drucksachen 16/11131, 16/11641 – Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errich- ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- tung eines Bundesaufsichtsamtes für Flug- heit (16. Ausschuss) sicherung und zur Änderung und Anpassung weiterer Vorschriften – Drucksache 16/12465 – – Drucksache 16/11608 – Berichterstattung: Abgeordnete (Konstanz) überwiesen: Marko Mühlstein Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Michael Kauch Innenausschuss Rechtsausschuss Hans-Kurt Hill Ausschuss für Tourismus Hans-Josef Fell Haushaltsausschuss

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) Der in der 211. Sitzung des Deutschen Bundestages gemäß § 96 der Geschäftsordnung überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz- – Drucksache 16/12466 – lich dem Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zur Mitberatung Berichterstattung: überwiesen werden. Abgeordnete Bernhard Schulte-Drüggelte Andreas Weigel Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ulrike Flach gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Michael Leutert rung arzneimittelrechtlicher und anderer Vor- Anna Lührmann schriften

Dabei soll wie meist in solchen Fällen von der Frist – Drucksache 16/12256 – für den Beginn der Beratungen, soweit erforderlich, ab- (B) gewichen werden. Die von der Fraktion Bündnis 90/Die überwiesen: (D) Grünen verlangte Aktuelle Stunde findet entgegen der Ausschuss für Gesundheit (f) ursprünglichen Ankündigung nicht statt. Der Tagesord- Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und nungspunkt 9 – hierbei geht es um den Stadtumbau Ost – Verbraucherschutz soll abgesetzt und an dieser Stelle der Tagesordnungs- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend punkt 11 – Innere Führung in der Bundeswehr – aufgeru- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit fen werden. Morgen werden die Tagesordnungs- Ausschuss für Kultur und Medien punkte 33 und 34 getauscht. Der in der 211. Sitzung des Deutschen Bundestages Schließlich mache ich auf vier nachträgliche Aus- überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz- schussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste lich dem Ausschuss für die Angelegenheiten der Euro- aufmerksam: päischen Union (21. Ausschuss) zur Mitberatung über- wiesen werden. Der in der 183. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz- Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ lich dem Ausschuss für Arbeit und Soziales (11. Aus- CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines schuss) zur Mitberatung überwiesen werden. Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (Artikel 87 d) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über geneti- sche Untersuchungen bei Menschen (Gen- – Drucksache 16/12280 – diagnostikgesetz – GenDG) überwiesen: Innenausschuss (f) – Drucksachen 16/10532, 16/10582 – Auswärtiger Ausschuss überwiesen: Rechtsausschuss Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Innenausschuss Verteidigungsausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ausschuss für Tourismus Verbraucherschutz Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Sind Sie mit all diesen Vorschlägen einverstanden? – Technikfolgenabschätzung Das sieht so aus. Dann ist das so beschlossen. 23120 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 e auf: Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: (C) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir a) Abgabe einer Regierungserklärung durch die freuen uns, dass Deutschland gemeinsam mit Frankreich Bundeskanzlerin zum NATO-Gipfel am Ende der nächsten Woche Gastgeber des NATO-Gip- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- fels, des Jubiläumsgipfels zum 60-jährigen Bestehen des richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- Bündnisses, sein wird. schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Paul Es gibt für mich keinen Zweifel: Es wird nicht nur ein Schäfer (Köln), Wolfgang Gehrcke, Monika Jubiläumsgipfel, sondern vor allem ein in die Zukunft Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion gerichteter Gipfel sein, ein Gipfel, auf dem die Weichen DIE LINKE für die zukünftige Arbeit in der transatlantischen Part- Keine NATO-Erweiterung – Sicherheit und nerschaft und auch mit Blick auf unser vereinigtes Stabilität mit und nicht gegen Russland Europa gestellt werden müssen. Dieser Gipfel wird auch ein Markstein für die deutsch-französischen Beziehun- – Drucksachen 16/11247, 16/11971 – gen sein. Berichterstattung: Mir liegt sehr daran, dass wir diesen Gipfel heute Abgeordnete richtig einordnen. Vielleicht hilft uns dazu ein Zitat aus einem Interview, das Albaniens Ministerpräsident Dr. Werner Hoyer Berisha am letzten Montag der Frankfurter Allgemeinen Wolfgang Gehrcke Zeitung gegeben hat. Auf die Frage, was die NATO Kerstin Müller (Köln) Albanien eigentlich bringen werde, antwortete er – ich c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen zitiere –: Trittin, Winfried Nachtwei, Kerstin Müller Das Ziel der Nato ist, dass aus Feinden Freunde (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion werden. Da ist es doch ein großartiger Sieg, wenn BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das einst härteste Kommunistenland der Welt nun Überprüfung und Korrektur der Strategie zur westlichsten Allianz zählt. beim Afghanistanengagement vor dem NATO- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Gipfel in Kehl/Straßburg beginnen FDP) – Drucksache 16/12113 – In diesen wenigen Worten wird die historische Dimension des bevorstehenden Gipfels zum 60. Ge- d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen (B) burtstag der NATO deutlich. Diese historische Dimen- (D) Trittin, Winfried Nachtwei, Kerstin Müller sion sollten wir, auch wenn sie Vergangenheit ist, nie- (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion mals vergessen – gerade wir in Deutschland nicht. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 20 Jahre nach dem Fall der Mauer ist für uns heute ein NATO-Gipfel für eine strategische Neuaus- Leben in Frieden und Freiheit im wiedervereinigten richtung nutzen – Neue Schritte zur Abrüs- Deutschland und in Europa ganz selbstverständlich ge- tung und für gemeinsame Sicherheit einleiten worden. Aber diese Selbstverständlichkeit sollte sich – Drucksache 16/12322 – nicht allzu sehr in unser Denken und Handeln einschlei- chen. Denn es ist und bleibt ein Schatz, in Frieden und e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Freiheit zu leben. Dr. Rainer Stinner, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Für Frieden und Freiheit stand in den vergangenen der FDP 60 Jahren – gerade auch in schwierigen Zeiten – keine Organisation so klar und so verlässlich ein wie die Nord- 60 Jahre NATO – Deutschland muss sich in atlantische Allianz. Ich denke, die Erinnerung an Mauer Diskussion über die Zukunft der NATO kon- und Stacheldraht genügt, dass wir heute über alle Par- struktiv einbringen teigrenzen hinweg sagen können: Deutschland hat der – Drucksache 16/12433 – NATO und der Solidarität unserer Verbündeten viel zu verdanken. Zu der Regierungserklärung liegt ein Entschließungs- antrag der Fraktion Die Linke vor. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä- Trotz aller wahrlich nicht gering zu schätzenden Pro- rung 90 Minuten vorgesehen. – Auch dazu höre ich kei- bleme können wir in diesem Jahr der Jubiläen feststel- nen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. len: Das wiedervereinte Deutschland feiert 20 Jahre deutsches und europäisches Glück. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat nun die Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel. Präsident Sarkozy und ich waren von Beginn an da- von überzeugt: Kaum ein Ort symbolisiert Sinn und Be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- stimmung europäischer und atlantischer Friedenspolitik neten der SPD) so sehr wie der Brückenschlag über den Rhein. Gerade Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23121

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) dort, wo sich Deutsche und Franzosen über Jahrhunderte Afghanistan. Beim Gipfel muss deshalb die Überarbei- (C) hinweg als erbitterte Gegner gegenüberstanden, sind wir tung des strategischen Konzepts in Auftrag gegeben heute in enger Freundschaft verbunden und dem Frieden werden, um deutlich zu machen: Die NATO gibt sich auf unserem Kontinent verpflichtet. nicht nur mit dem Blick auf eine 60-jährige Erfolgsge- schichte zufrieden, sondern sie ist auch zu einer Neube- Mit Deutschland und Frankreich werden erstmals stimmung des Kurses für die Zukunft bereit. Dabei muss zwei Länder einen NATO-Gipfel gemeinsam ausrichten. es im Kern darum gehen, die wesentlichen Aufgaben der Damit verbunden ist auch ganz konkret eine Reihe ge- Allianz strategisch miteinander zu verbinden. meinsamer, zukunftsgerichteter Schritte zwischen unse- ren Ländern in der Sicherheitspolitik. Im Zentrum des Bündnisses steht natürlich auch künf- Am Rande der Sicherheitskonferenz in München sind tig das Bekenntnis zur Solidarität der Mitgliedstaaten. Präsident Sarkozy und ich übereingekommen, dass in Ein Angriff auf ein Mitglied ist ein Angriff auf das Zukunft die deutsch-französische Brigade in beiden Bündnis insgesamt; das ist die Verabredung. Diese Ver- Ländern stationiert sein wird. Vor dem Hintergrund un- abredung bleibt auch der Wesenskern der Allianz. Dieses serer Geschichte ist es eine wahrhaft bewundernswerte Bekenntnis zur Solidarität erfordert heute neue Maßnah- Geste des französischen Präsidenten, dass deutsche Sol- men, andere Schritte als früher, zum Beispiel Einsätze daten, wie er es in München sagte, nach Frankreich ein- außerhalb des Bündnisgebiets. Genau an diese operative geladen sind. Herzlichen Dank dafür! Realität muss das neue strategische Konzept anknüpfen: Es muss sie darstellen und entfalten und die Folgerungen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie daraus ziehen. bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Diese neue operative Realität erfordert ein neues Verständnis von Sicherheit und der Herstellung von Präsident Sarkozy hat in den letzten Tagen sein Land Sicherheit. Dieses neue Konzept nennen wir – ich wieder in die integrierten Strukturen der NATO zurück- glaube, parteiübergreifend akzeptiert – das Grundprinzip geführt. Das ist ein Schritt Frankreichs, dessen Bedeu- der vernetzten Sicherheit. Dieses Grundprinzip der tung wir gar nicht hoch genug einschätzen können. Es ist vernetzten Sicherheit muss Eingang in die strategische ein Bekenntnis zu einer NATO im 21. Jahrhundert. Ausrichtung der Allianz finden. Parallel dazu hat die französische Präsidentschaft im vergangenen Jahr gemeinsam mit uns für die Stärkung Ich glaube, am Beispiel Afghanistan wird jedem klar, der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspoli- dass ein Erfolg nur möglich ist, wenn die NATO mit ih- tik geworben, weil wir diese beiden Punkte – Europäi- ren militärischen Mitteln Teil eines umfassenden und sche Sicherheits- und Verteidigungspolitik und das trans- kohärenten Ansatzes zugunsten der Stabilisierung des (B) (D) atlantische Bündnis – in einer gemeinsamen Linie und Landes ist. Zu diesem Ansatz gehört die ganze Vielfalt einer gemeinsamen Richtung sehen. von zivilen Aktionen und Maßnahmen zugunsten einer guten Entwicklung des Landes. Dieses Grundverständ- Für die Bundesregierung gehören eine starke atlanti- nis, das wir jetzt in Afghanistan entwickelt haben, wird sche Sicherheitspartnerschaft und eine europäische Si- aber in Zukunft nicht ein Einzelfall sein, sondern muss cherheitspolitik untrennbar zusammen. Ich sage voraus, zum strategischen Allgemeingut der NATO, also der Al- dass sich diese Zusammengehörigkeit in den nächsten lianz, werden. Jahren noch sehr viel stärker zeigen wird, vielleicht auch zeigen muss. Wir freuen uns natürlich, dass gerade an- (Dr. Peter Struck [SPD]: Richtig!) lässlich dieses NATO-Gipfels der neu gewählte amerika- Der Erfolg der NATO wird immer mehr von ihrer Fä- nische Präsident Barack Obama erstmals als amerikani- higkeit zur Vernetzung ihrer militärischen Instrumente scher Präsident in Europa und Deutschland sein wird. mit vielfältigen Partnern abhängen, etwa mit anderen in Bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar politischen Krisenlösungen eingebundenen Organisatio- habe ich gesagt: Transatlantische Partnerschaft heißt, nen. Die NATO muss dieses Verhältnis definieren. Sie dass wir gemeinsam analysieren, gemeinsam entschei- steht nicht einfach über diesen Organisationen, sondern den und, wann immer möglich, auch gemeinsam han- ist Teil einer vernetzten Sicherheit, zum Beispiel mit den deln. Wir Europäer wissen einerseits um die Größe der Vereinten Nationen, mit der OSZE, mit der Europäi- Herausforderungen und die Brisanz der Krisen, sei es schen Union oder mit der Afrikanischen Union genauso nun der Nahostkonflikt, sei es Afghanistan oder sei es wie mit zivilen Kräften der Entwicklungspolitik oder mit das Nuklearprogramm des Iran. Wir wissen andererseits Nichtregierungsorganisationen. Das hört sich einfach an, genauso um die Chancen, die in einer vertrauensvollen ist aber vergleichsweise revolutionär, sowohl auf der und starken transatlantischen Partnerschaft stecken, Seite derer, die militärische Aktionen durchführen, als wenn sie sich in der konkreten Politik zu bewähren hat. auch auf der Seite derer, die im zivilen Bereich engagiert sind. Deshalb muss dies durchgeführt, entwickelt und Was können wir nun von diesem NATO-Gipfel erwar- dann auch mit Leben erfüllt werden. ten? Vorneweg dies: Die NATO braucht eine Anpassung ihrer Strategie an die neuen Herausforderungen; denn Ich füge hinzu: Das strategische Konzept wird auch das aktuelle strategische Konzept der NATO stammt von klar die Grenzen des Wirkungskreises der Allianz auf- 1999. Seither haben wir eine Fülle neuer Erfahrungen zeigen müssen. Ich sehe keine globale NATO. Die gemacht. Stellvertretend für diese stehen der 11. Septem- Allianz ist und bleibt vornehmlich auf die kollektive Si- ber 2001 und die daraus folgende ISAF-Operation in cherheit der nordatlantischen Partner konzentriert. Sehr 23122 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) wohl heißt das heute auch, dass sie Sicherheit gegebe- Unsere zukünftige Sicherheit und unser Leben in (C) nenfalls außerhalb ihres Bündnisgebietes sichern muss. Frieden und Freiheit werden deshalb in ganz entschei- Aber das heißt eben nicht, dass Staaten rund um den dendem Maße von zweierlei abhängen: zum einen da- Globus Mitglieder werden können, sondern dass dies von, wie eng wir Europäer unseren Zusammenhalt mit von Mitgliedstaaten aus dem transatlantischen Raum ge- den Nordamerikanern gestalten, und zum anderen da- leistet wird. von, ob wir die großen Zukunftsthemen der globalen Wirtschaft, der Sicherheit und der Umwelt gemeinsam (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der gestalten können. Vor diesem Hintergrund wird die Ent- FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- scheidung, das strategische Konzept der NATO zu über- SES 90/DIE GRÜNEN) arbeiten, die übergeordnete Aufgabe dieses NATO-Gip- Meine Damen und Herren, nun ist es wie immer: fels sein. Das strategische Konzept soll zum nächsten Manche warnen davor, allzu intensiv über das strategi- NATO-Gipfel fertig sein. Es wird also keine unendliche sche Konzept zu diskutieren, da natürlich unterschiedli- Aufgabe. che Auffassungen der Verbündeten zutage treten könn- Neben dieser Erarbeitung des strategischen Konzepts ten. Ich glaube, davor sollten wir und davor dürfen wir geht es aber auch um vier weitere Dinge, die ich hier keine Angst haben; denn die Allianz kann bereits an eine nennen möchte. starke Reformtradition anknüpfen. Bereits früher wur- den viele wichtige Anregungen auch von außen aufge- Erstens. Afghanistan – das wissen wir alle – ist die nommen. Diesen Weg sollten wir auch diesmal gehen. wichtigste aktuelle Bewährungsprobe für die NATO. Deshalb setzt sich die Bundesregierung dafür ein, dass Führen wir uns nur zwei Zahlen vor Augen: Die NATO der Generalsekretär bei der Erarbeitung des neuen Kon- hat derzeit etwa 70 000 Soldaten in verschiedenen Ope- zepts von einer Gruppe ausgewiesener Experten unter- rationen, davon sind allein rund 50 000 in Afghanistan stützt wird. eingesetzt. Wir werden zu Afghanistan in der nächsten Woche ein Treffen der Außenminister der ISAF-Trup- Wir brauchen den unverstellten Blick auf das strate- pensteller und der Vertreter weiterer in Afghanistan en- gisch Notwendige, und dabei muss von Anfang an klar gagierter Organisationen in Den Haag durchführen, um mitgedacht werden, dass die NATO auch ihre Strukturen dem Thema auch beim Gipfel der Allianz breiten Raum für die Aufgaben der Zukunft fitmachen muss. Anders zu geben. Wir erwarten dabei vor allem Aufschlüsse als zu den Zeiten des Kalten Krieges, als der wesentliche über die neuen strategischen Linien in der Afghanistan- Punkt die Abschreckung war, als die NATO-Kräfte politik der Vereinigten Staaten von Amerika. Für mich glücklicherweise nicht militärisch aktiv werden mussten, bleibt unser grundsätzliches Ziel klar, an dem wir auch haben wir heute Operationen zu bewältigen, in denen den Erfolg zu messen haben: Von Afghanistan darf nicht (B) (D) militärische Aktivitäten notwendig sind. Wenn man die wieder eine terroristische Bedrohung der Sicherheit bei Klagen des NATO-Generalsekretärs hört, wie schwierig uns, das heißt bei den Mitgliedstaaten der NATO, ausge- es ist, Ausrüstung und Ähnliches zusammenzubekom- hen. Das ist die Aufgabe. men, dann wird einem klar, dass ein solches strategi- sches Konzept auch sehr praktische Aufgaben erfüllen (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der muss. FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Die Aufgaben ergeben sich in Europa und Amerika gleichermaßen aus den neuen Herausforderungen, vor Wir müssen gemeinsam mit allen anderen Partnern und denen wir stehen. Wir müssen heute an die Parallelität Organisationen, die dort tätig sind, und vor allem mit schwieriger, oft ganze Regionen destabilisierender den Afghanen selbst erreichen, dass das Land dauerhaft Konflikte denken, an die Gefahren des transnationalen selbst für seine Sicherheit sorgen kann. Terrorismus, an zunehmende Proliferationsrisiken, an (Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Nach wie viel Jah- die sicherheitspolitischen Auswirkungen von Umwelt- ren?) problemen, an die Sicherung unserer Energieversorgung oder an Fragen des Zugangs zu begrenzten Ressourcen. Wir sollten uns erinnern: Afghanistan als ein in seinen Weder Amerika noch Europa können diese Herausforde- staatlichen Strukturen nicht gefestigtes Land war der rungen alleine meistern. Kein Land auf der Welt kann Ausgangspunkt und der Nährboden für die Attentate heute die Probleme alleine lösen. Das muss die Grund- vom 11. September 2001. lage unserer Zusammenarbeit sein. (Dr. Peter Struck [SPD]: Ja, so ist es!) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Weil es dort keinen funktionierenden Staat gab, war dies FDP) möglich. Daraus ist unser Engagement für Afghanistan entstanden; denn es hat unsere Sicherheit, die Sicherheit Weil diese Herausforderungen so vielfältig sind, ist es der Mitgliedstaaten der NATO, bedroht. natürlich auch Aufgabe der NATO, alles daranzusetzen, dass möglichst viel Prävention auf der Welt betrieben (Dr. Peter Struck [SPD]: Richtig!) wird, damit es nicht zu dem Punkt kommt, an dem nur noch militärische Mittel helfen können. Auch das ist ein Jetzt wissen wir, dass wir wirksame staatliche Struk- ganz wichtiger Ansatz. turen aufbauen müssen. Wir wissen, dass dies Entschlos- senheit erfordert. Aber wir haben auch erlebt, es erfor- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) dert mehr Geduld, als wir uns am Anfang vielleicht Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23123

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) vorgestellt haben. Ich werde mich beim Gipfel dafür ein- Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich allen Solda- (C) setzen, dass die beiden wesentlichen Prinzipien unserer tinnen und Soldaten, Polizisten, Entwicklungshelfern Präsenz noch besser verwirklicht werden. und Diplomaten danken. Sie leisten bei ihren schwieri- gen und gefährlichen Aufgaben eine ausgezeichnete Ar- Zum einen muss die NATO ihr Engagement noch beit. Vor denjenigen, die in Afghanistan schwere Ver- stärker mit dem anderer Organisationen verschränken. wundungen davongetragen oder gar ihr Leben gelassen Ich unterstütze deshalb ausdrücklich – das macht die haben, verneigen wir uns. Ich denke, das sage ich in Ih- ganze Bundesregierung – die Arbeit des UN-Repräsen- rer aller Namen. tanten Kai Eide für eine bessere Gesamtkoordinierung aller zivilen Aktivitäten. Hier gibt es noch etliches zu (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP tun. Wir sollten die Vereinten Nationen immer wieder und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie darin bestärken, dass dies von entscheidender Wichtig- der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]) keit ist. Unser Prinzip bleibt richtig: Es wird keine dau- erhafte Sicherheit gelingen ohne Wiederaufbau, und es In den letzten Wochen wurde eine Debatte darüber wird keinen Wiederaufbau geben ohne Sicherheit. geführt, mit wem in Afghanistan zusammengearbeitet werden kann und mit wem nicht. Meine Auffassung ist, Zum anderen gilt es vor allen Dingen, die Eigenver- dass mit allen, die unzweideutig Terror, Gewalt und fei- antwortung der Afghanen weiter zu stärken. Das heißt gen Attentaten gegen Vertreter der internationalen Ge- für mich vor allem, dass wir die afghanische Führung meinschaft abschwören, zusammengearbeitet werden noch stärker in die Pflicht nehmen, damit diese alles, kann. Es kann und muss stärker mit denjenigen zusam- aber wirklich auch alles unternimmt, um ihr Land gut mengearbeitet werden, die ihr Land wieder aufbauen und effizient zu regieren, Kriminalität zu bekämpfen und wollen, die die wesentlichen rechtsstaatlichen Prinzipien vor allem mit aller Kraft gegen den unsäglichen Drogen- respektieren, wie auch immer sie sich nennen. Das gilt handel anzugehen. Das ist eine Erwartung, die wir an vor allem für die regionalen Stammesfürsten. Diejenigen Afghanistan haben. aber, die den Wiederaufbau bekämpfen, die mit Gewalt (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie und Terror drohen und die wesentlichen Menschenrechte bei Abgeordneten der FDP) mit Füßen treten, können für uns keine Partner sein. Sie müssen wir gemeinsam mit den Afghanen konsequent Wir als Allianz werden alles tun, damit die anstehen- bekämpfen. den Wahlen in Afghanistan gut und erfolgreich ablaufen. Ich begrüße ausdrücklich, dass die amerikanische Regie- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie rung in ihre Strategie jetzt auch Pakistan einbindet. Ich bei Abgeordneten der FDP) (B) erinnere daran, dass der Bundesaußenminister dies be- Zweitens. Ein wichtiges Thema beim Gipfel werden (D) reits während unserer G-8-Präsidentschaft eingeleitet die Beziehungen der Allianz zu unseren Partnern im hat. Es wird jetzt allerdings sehr darauf ankommen, dass Osten und insbesondere zu Russland sein. Wir wollen wir die richtige Balance finden zwischen den Aspekten, auf dem Gipfel mit Albanien und Kroatien wieder zwei die zwischen Pakistan und Afghanistan strategisch kohä- Länder als neue Mitglieder begrüßen. Ich bin zuversicht- rent gestaltet werden müssen, ohne zu vergessen, dass lich, dass uns der Grenzstreit zwischen Slowenien und nicht alle Probleme von Pakistan auch Probleme von Af- Kroatien hier keinen Strich durch die Rechnung macht. ghanistan sind. Es bleiben zwei unterschiedliche Länder. Ich hoffe, dass in naher Zukunft auch der mazedonische Ich begrüße auch den amerikanischen Ansatz, sich Beitritt möglich wird und nicht länger an einer Namens- stärker auf eine gute Entwicklung in den Regionen Af- frage scheitert. Ich erwähne dies ausdrücklich, weil mir ghanistans zu konzentrieren. Dies passt gut zu unserem der Beitrittsprozess wichtig bleibt und ich nicht im deutschen Verantwortungsbereich im Norden bereits möchte, dass wir den Blick darauf verlieren. Ich sage praktizierten Konzept, Sicherheit mit der Kräftigung lo- ausdrücklich: Georgien und die Ukraine behalten eine kaler und regionaler Entwicklungen zu verbinden, wie Beitrittsperspektive. Die Tatsache, dass sich immer wie- dies auch der Verteidigungsminister bei seiner letzten der weitere Länder aus freien Stücken um die Aufnahme Reise noch einmal deutlich gemacht hat. in das Bündnis bemühen, zeigt die Attraktivität der Alli- anz. Ich will in diesem Zusammenhang eines festhalten: Mit unseren bisherigen Leistungen in Afghanistan seit Ich stehe weiterhin voll und ganz dazu, dass wir euro- 2002 können wir Deutschen uns im Bündnis wirklich se- päische Demokratien aufnehmen sollten, die gewillt und hen lassen. Bundesregierung und Bundestag haben be- die fähig sind, zu unserer gemeinsamen Sicherheit bei- reits in den vergangenen Monaten entschieden, die Trup- zutragen. Gerade wir Deutschen wissen noch gut, dass penstärke der Bundeswehr im Rahmen unseres gültigen die freie Bündniswahl ein hohes Gut ist. Mandats im Norden weiter zu erhöhen. Beim Polizeiauf- bau bleiben wir der nochmaligen Stärkung unseres Kon- (Dr. Peter Struck [SPD]: Ja, genau!) tingents verpflichtet. Über den Sicherheitsbereich hinaus Wir dürfen nicht zulassen, dass andere aufgrund ihres bleiben wir, wie dies seit Jahren der Fall ist, mit bedeu- veralteten Denkens in Einflussräumen versuchen, dem tenden Mitteln und wichtigen Projekten in Afghanistan mit einem Veto einen Riegel vorzuschieben. engagiert. Ich werde dies auf dem Gipfel mit allem Nachdruck darlegen. Ich glaube, wir können uns mit un- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- seren Leistungen sehen lassen. neten der SPD) 23124 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) In den Beziehungen zu Russland werden wir auf (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der (C) dem Gipfel auch förmlich die Wiederaufnahme der Zu- FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- sammenarbeit im Rahmen des NATO-Russland-Rates SES 90/DIE GRÜNEN) beschließen. Die Außenminister der Allianz haben die- sen wichtigen Schritt bereits vorbereitet. Wir setzen als Drittens. Ich unterstütze ausdrücklich die Initiativen atlantische Partner darauf, dass sich Russland kooperativ des Bundesaußenministers, das Profil der NATO in den verhält. Die NATO-Partner und Russland stehen zum Bereichen Abrüstung und Rüstungskontrolle zu stär- großen Teil vor den gleichen sicherheitspolitischen Be- ken. Wir haben bereits auf unserem letzten Gipfel in Bu- drohungen. Über diese sollten wir im NATO-Russland- karest hierzu wichtige Festlegungen getroffen. Ich hoffe, Rat offen und im Geiste guter Zusammenarbeit spre- dass wir diese bestätigen und ausbauen können. Die Per- chen. Ich bin sehr davon überzeugt, dass wir die Chance spektiven dafür sind vielleicht so gut wie lange nicht haben, gemeinsame Antworten zu finden, sei es zum mehr. Wir können hoffen, dass es im nuklearen Bereich Schutz vor zukünftigen weitreichenden Raketen von Re- bald zu Fortschritten kommt, und zwar bei den Regelun- gimes wie dem Iran, sei es bei Fragen der Proliferation gen zur Reduzierung strategischer Atomwaffen und wo- oder der Abrüstung und Rüstungskontrolle. Ich werde möglich auch bei der Haltung der amerikanischen Regie- diese Fragen nächste Woche noch einmal ausführlich mit rung zum Atomteststoppabkommen. Präsident Medwedew beraten. Dabei werden wir auch Gestatten Sie mir an dieser Stelle eine Bemerkung zur über seine Vorschläge zu einer europäischen Sicherheits- nuklearen Teilhabe. Wir sollten gut aufpassen, dass wir architektur sprechen. Ziel und Weg nicht vermischen. Ich bleibe bei dem Ziel der vollständigen Abschaffung aller Massenvernich- Wenn es um Architektur geht, dann muss man sich, tungswaffen. Sich diesem Ziel verantwortlich zu wie es so schön heißt, natürlich zunächst um das Funda- nähern, heißt, die richtigen Etappen zu fixieren und vor ment kümmern. Das Fundament in der Sicherheitspolitik allen Dingen wasserdichte Prüfmechanismen zu etablie- heißt immer wieder Vertrauen. Genau dieses Vertrauen ren, denen sich alle unterwerfen. muss gefestigt werden, auch und gerade mit Blick auf Russland. Die NATO hat ihr Nuklearpotenzial gegenüber dem Jahr 1989 bereits um rund 95 Prozent reduziert und die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Bereitschaftsstrukturen der Nuklearwaffen gesenkt. Zu- neten der SPD) gleich stellen wir aber fest, dass sich die Zahl der nu- klearen Akteure und Arsenale ebenso wie die Risiken Wenn wir uns einmal anschauen, wie die Lage ist, der Proliferation weltweit erhöht haben. Deshalb ist dies stellen wir fest: Die Defizite liegen nicht in den Regeln, eines der großen Sicherheitsrisiken, denen wir entschie- (B) die wir für die Sicherheitspolitik in Europa haben, die den und entschlossen entgegentreten müssen. Dies ist (D) übrigens in der OSZE gemeinsam mit Russland be- eine der Aufgaben, an deren Bewältigung auch Deutsch- schlossen worden sind. Wenn es ein Defizit gibt, dann ist land ein elementares Interesse hat. es ein Defizit bei der Implementierung, das heißt bei den gelebten Regeln und nicht bei den geschriebenen Re- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- geln. So sind aus meiner Sicht manche Konflikte rasch neten der SPD und der FDP) und leicht lösbar. Ich erinnere zum Beispiel an den Kon- flikt zwischen Moldawien und Transnistrien. Moskau Die Bundesregierung hat deshalb die nukleare Teilhabe könnte hier ein Zeichen seines guten Willens setzen. Das in der Allianz im Weißbuch verankert, weil wir wissen, würde uns in vielerlei Fragen sehr voranbringen. dass sie uns Einfluss im Bündnis, auch in diesem höchst- sensiblen Bereich, sichert. Ich sage ausdrücklich: Die Bundesregierung möchte Im konventionellen Bereich ist der Erhalt des KSE- eine gute und vertrauensvolle Partnerschaft mit Russ- Systems ein großes Anliegen der Bundesregierung. Hier land. Dies ist im deutschen Interesse, dies ist im europäi- müssen die atlantischen Partner gemeinsam Russland schen Interesse, und dies ist auch im atlantischen Inte- noch von den Vorteilen einer kooperativen Politik über- resse. Russland hat schon jetzt eine wichtige Rolle in der zeugen. Es ist deshalb sehr wichtig, dass im Auswärtigen euro-atlantischen Sicherheitsarchitektur. Die OSZE und Amt demnächst eine Konferenz stattfindet, die gerade der NATO-Russland-Rat existieren bereits als Foren. Ich diesen KSE-Prozess wieder beleben und vorantreiben schlage vor, dass wir auch in der gemeinsamen Europäi- soll. Ich finde es gut, dass der Bundesaußenminister ge- schen Sicherheits- und Verteidigungspolitik regelmäßige rade dies zu einem Thema Deutschlands macht, damit Konsultationen mit Russland aufbauen. wir den richtigen Weg forcieren können. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Es ist auch im deutschen Interesse, dass der Dialog Viertens. Fortschritte erhoffe ich mir beim Gipfel zwischen der neuen amerikanischen Administration und auch für die Zusammenarbeit zwischen der NATO Russland wieder stärker in Gang kommt. Es besteht die und der Europäischen Union. Das Potenzial für die Chance, dass sich jetzt eine enge und gute Partnerschaft Nutzung von Synergien ist groß. Die jeweilige Politik, entwickelt. Ich sage ausdrücklich: Die NATO will Russ- auch in der Europäischen Sicherheits- und Verteidi- land als guten Partner. Wir sind seit 20 Jahren keine gungspolitik, ist sozusagen aus der Taufe gehoben und Gegner mehr. Die Zeit des Kalten Krieges ist unwieder- gestärkt worden. Aber die Wahrheit ist: Wir müssen eine bringlich vorbei. Vielzahl von Blockaden überwinden. Um es beim Na- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23125

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) men zu nennen: Gerade die ungelösten Konflikte zwi- Präsident Dr. Norbert Lammert: (C) schen Zypern und der Türkei führen immer wieder dazu, Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem dass in jeder praktischen Frage, in der eine enge Koope- Kollegen Dr. Guido Westerwelle für die FDP-Fraktion. ration von NATO und europäischer Sicherheitspolitik notwendig wäre, Schwierigkeiten auftreten. (Beifall bei der FDP)

Wir sollten entschlossen und gemeinsam darauf hin- Dr. Guido Westerwelle (FDP): wirken, dass diese Kooperation von EU und NATO end- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- lich Realität werden kann; sei es im Kosovo, sei es in an- ren! Für uns war die Nordatlantische Allianz immer deren Missionen, wo wir jedes Mal Stunden und mehr als ein Verteidigungsbündnis. Die NATO ist eine Aberstunden damit verbringen, um irgendein Problem Wertegemeinschaft, und sie war stets Ausdruck unserer praktisch lösen zu können. engen Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von (Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr richtig!) Amerika. Diese transatlantische Freundschaft ist viel mehr als ein Bündnis von Regierungen. Es ist die Die Vielzahl der mit dem Jubiläumsgipfel der Freundschaft unserer Völker, die auf gemeinsamen Wer- NATO verbundenen Aufgaben ist unübersehbar. Eines ten fußt. sollten wir als Politiker hierbei nicht vergessen: Dieses Treffen in Straßburg, Kehl und Baden-Baden sollte in Der Erfolg der NATO beruht auf zwei Säulen: auf der vorgesehenen Form stattfinden können. Das ist nicht dem Konzept der Unteilbarkeit von Sicherheit im euro- zuletzt auch denen zu verdanken, die durch ihre Arbeit atlantischen Raum und auf dem doppelten Ansatz aus den sicheren Verlauf dieses Gipfels ermöglichen. Ich militärischer Stärke und Vertrauensbildung durch Dialog meine die Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern und Kooperation. Auf beide Säulen kann die NATO wei- und auch die französischen Kollegen. Sie arbeiten mit ter bauen. großem Engagement und äußerst professionell zusam- 60 Jahre nach der Gründung der NATO hat sich aber men. Wir haben ihnen schon heute Dank zu sagen. das sicherheitspolitische Umfeld fundamental verän- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der dert. Wir begrüßen deshalb ausdrücklich, dass sich auch FDP) die Bundesregierung für eine Überarbeitung des stra- tegischen Konzeptes der NATO einsetzt. Ich ergänze ausdrücklich: Auch all diejenigen, die ihre Meinung gegen die Politik der NATO kundtun wol- (Beifall bei der FDP) len, haben meinen Respekt, wenn sie sich beim Aus- Es gehört zum Wesenskern der NATO, dass überall im druck ihres Protestes an die Regeln unseres freiheit- Bündnis das gleiche Maß an Sicherheit herrscht, dass es (B) lichen Rechtsstaates halten. (D) innerhalb der Nordatlantischen Allianz keine Zonen un- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie terschiedlicher Sicherheit gibt. Das verleiht dem Bünd- bei Abgeordneten der FDP) nis seine Stabilität. Ich hoffe, dass sie dabei auch daran denken, dass es ganz Wir wollen, dass die NATO nach einer schwierigen entscheidend die NATO war, die über Jahrzehnte hinweg Phase in den euroatlantischen Beziehungen wieder zum in und für Deutschland Frieden und Freiheit garantiert zentralen Ort der sicherheitspolitischen Debatte wird. hat und damit auch Garant für das Recht auf Meinungs- Wir wollen die Partnerschaft mit den USA neu bele- und Demonstrationsfreiheit war und ist, das sie heute ge- ben, innerhalb und außerhalb der NATO, in der Sicher- nießen. heitspolitik, aber auch in allen anderen Fragen, die un- sere Wertegemeinschaft insgesamt betreffen. Mit dem Wir wollen für den NATO-Gipfel gute Gastgeber Amtsantritt des neuen US-Präsidenten hat sich die sein. Ich danke deshalb allen, die an den Vorbereitungen Chance eröffnet, die transatlantische Partnerschaft neu teilhaben: den Bundesministern des Auswärtigen, der zu begründen. Jetzt wäre der Moment, in dem die Drähte Verteidigung und des Innern, der Landesregierung von zwischen Washington und Berlin heißlaufen müssten Baden-Württemberg, den Sicherheitsbehörden von Bund und in dem wir die Chance nutzen sollten, die außenpoli- und Ländern und ganz besonders den Menschen in Ba- tische Revision durch die neue US-Regierung durch ei- den-Baden, Kehl und Straßburg, die sicherlich gute gene Ideen und Vorschläge zu bereichern. Es ist nicht Gastgeber sind. klug, den Meinungsbildungsprozess in den USA nur Ich hoffe, dass der Gipfel unser aller Bewusstsein für passiv abzuwarten. Das berühmte Fenster der Gelegen- die Notwendigkeit einer Sicherheitspolitik schärfen heiten ist jetzt geöffnet, und wir sollten die Gelegenheit wird, die auch in unserer globalisierten Welt in guten jetzt ergreifen. Partnerschaften gestaltet ist und Frieden und Freiheit für (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Andreas uns alle schützt. Um Frieden und Freiheit wird es auch in Schockenhoff [CDU/CSU]) den kommenden Jahren und Jahrzehnten der transatlanti- schen Wertegemeinschaft der NATO gehen. Deutschland Meine Damen und Herren, wir wollen den Erfolg in wird seinen Beitrag dazu leisten. Afghanistan. Es ist richtig, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie dies zu einem Schwerpunkt Ihrer Regierungserklä- Herzlichen Dank. rung gemacht haben. Das ist nicht Altruismus, sondern (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Bei- das liegt in unserem ureigenen Interesse. Kabul darf nie fall bei der SPD und der FDP) wieder die Hauptstadt des Terrorismus in der Welt wer- 23126 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Dr. Guido Westerwelle (A) den. In dem Augenblick, in dem wir als westliches Wir wollen eine NATO, die Abrüstungsinitiativen (C) Bündnis Afghanistan aufgäben, wäre Kabul wieder die und Rüstungskontrolle wieder stärkeres Gewicht bei- Hauptstadt des Terrorismus in der Welt. Deswegen liegt misst, nuklear und konventionell. Deswegen wünschen unser Engagement im eigenen, im deutschen, im euro- wir uns, Frau Bundeskanzlerin: Von dem kommenden päischen Interesse. NATO-Gipfel sollte das Signal ausgehen, dass die NATO die Vorschläge des amerikanischen Präsidenten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten für eine drastische Reduzierung des atomaren Potenzials der CDU/CSU und des Abg. Walter Kolbow insgesamt unterstützt. Neue Raketenstationierungen und [SPD]) die Modernisierung der Arsenale lehnen wir ab. Wir ha- Notwendig sind natürlich die Ausbildung der afghani- ben in den nächsten Jahren die Chance, die Abrüstung schen Streitkräfte und der Polizei vor Ort sowie der Auf- voranzubringen und eine Aufrüstungsspirale noch recht- bau einer funktionierenden Justiz. Notwendig ist – da zeitig zu verhindern. sind wir alle einig – der zivile Aufbau. Wir wenden uns (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dagegen, einen Widerspruch zwischen zivilem Aufbau der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- und militärischem Einsatz zu konstruieren. Kein Kran- SES 90/DIE GRÜNEN) kenhaus könnte gebaut werden, kein Brunnen würde ge- bohrt und keine Schule für Mädchen eröffnet werden, Das Verhältnis zu Russland hat für die NATO weiter- wenn nicht unsere Soldatinnen und Soldaten für die Si- hin eine besondere Bedeutung. Wie leicht alte Reflexe aufleben können, hat 2008 die Georgien-Krise gezeigt. cherheit der dort Arbeitenden sorgen würden. Weil wir einen solchen Rückfall nicht zulassen dürfen, (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der muss die NATO ihre Strategie gegenüber Russland über- SPD) denken. Wir begrüßen die Wiederbelebung des NATO- Russland-Rates, mit der auf diesem Gipfel begonnen Wir wollen auch zukünftig für die NATO keine Uni- werden soll. versalzuständigkeit in Sachen Sicherheit, weder mate- riell – da haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, recht – noch Das Gleiche gilt für die Erweiterungsstrategie der geografisch. Die primäre Verantwortung für den Welt- NATO. Sie gehört eingebettet in eine Gesamtstrategie, frieden bleibt bei den Vereinten Nationen. Vorstellun- die auf einen Mehrwert an Stabilität und Sicherheit ab- gen, die NATO könnte sich zu einer Art Ersatz-UNO der zielt. Erweiterung ist für die NATO kein Selbstzweck. Demokratien dieser Welt entwickeln, erteilen wir eine Die demokratische und rechtsstaatliche Reife neuer Mit- klare Absage. glieder ist die Grundvoraussetzung für deren Aufnahme. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (B) der CDU/CSU und der SPD) der CDU/CSU) (D) Aber ebenso unzweideutig stellen wir fest: All dieje- Die NATO muss in jedem Einzelfall die Frage beantwor- nigen, die die Zerschlagung der NATO immer wieder ten, ob einerseits eine Aufnahme für das Bündnis mehr Sicherheit bedeutet und ob andererseits die NATO dazu gefordert haben, müssen heute anerkennen, dass die in der Lage ist, die Beistandsverpflichtung glaubhaft auf NATO den Frieden auf der Welt sicherer und eben nicht ein neues Mitglied auszuweiten. unsicherer gemacht hat. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD) Wir wünschen der Bundesregierung für den NATO- Gipfel, der symbolträchtig in Frankreich und in Deutsch- Was die NATO ohne Zweifel braucht, ist ein stärkeres land stattfindet, viel Erfolg. Denn das ist keine Frage von Denken und Handeln in Kategorien der vernetzten Opposition und Regierung, sondern eine Frage, die Sicherheit. In Afghanistan erleben wir, dass der sicher- Deutschland, Europa und den Frieden in Freiheit betrifft. heitspolitische Fortschritt natürlich von Erfolgen im zivilen Bereich abhängt. Dem muss die NATO im Ein- Seit 60 Jahren leistet die NATO den entscheidenden satz stärker Rechnung tragen. Zudem muss die NATO in Beitrag zur Sicherheit und Freiheit ihrer Mitglieder. ihrer strategischen Ausrichtung den nicht militärischen Dass die NATO im Kalten Krieg die Freiheit schützen Ursachen für Bedrohungen stärkere Bedeutung beimes- konnte, ohne ihr Militär einsetzen zu müssen, hat sie sen. zum erfolgreichsten Bündnis aller Zeiten gemacht. Jetzt müssten die strategischen Weichen für die NATO so ge- Wir wollen, dass der europäische Pfeiler innerhalb stellt werden, dass das Bündnis auch in Zukunft erfolg- der NATO gestärkt wird. Das heißt nicht zuletzt, dass reich ist. wir die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspoli- tik weiter ausbauen, um einen stärkeren europäischen Bei allem Respekt vor denen, die diesen Gipfel jetzt Beitrag – nicht in Konkurrenz zur NATO – einbringen zu zum Anlass nehmen, gegen die NATO zu demonstrieren: können. Die Rückkehr Frankreichs in die Komman- Es war die NATO, die dafür gesorgt hat, dass diese De- monstrations- und Meinungsfreiheit überhaupt bei uns dostrukturen der NATO wird diesen Prozess ohne Zwei- möglich wurde und erhalten blieb. fel befördern. Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordne- ten der CDU/CSU und des Abg. Gert (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]) bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23127

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: samen Visionen und Werten des Washingtoner Vertra- (C) Nächster Redner ist der Kollege Walter Kolbow für ges. Ich unterstreiche für meine Fraktion ausdrücklich, die SPD-Fraktion. dass der Grundsatz der Unteilbarkeit der Sicherheit aller Bündnispartner von ausschlaggebender Bedeutung ist, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wie es auch mein Vorredner sagte. Ich glaube, dass eine der CDU/CSU) starke kollektive Verteidigung unserer Bevölkerung und unseres Gebietes, des Bündnisgebietes, das Kernziel Walter Kolbow (SPD): bleibt und dass wir in diesem Zusammenhang die Ziele Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, und Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen be- Frau Bundeskanzlerin, dies ist ein Jubiläumsgipfel, dies kräftigen sollten. ist ein Freundschaftsgipfel zusammen mit Frankreich; (Beifall bei Abgeordneten der SPD) aber es ist auch ein Zukunftsgipfel. Die in der Regie- rungserklärung dargelegte Analyse und die damit ver- In der Tat, die NATO blickt auf eine lange und erfolg- bundenen Schlussfolgerungen werden von meiner Frak- reiche Geschichte zurück. Sie war insbesondere in Zei- tion geteilt. Wir legen auch im Zusammenhang mit dem, ten der Ost-West-Konfrontation der zentrale verteidi- was Sie, Herr Kollege Westerwelle, dargelegt haben, gungspolitische Rahmen für Deutschland und seine Wert auf folgende Aussage: Für Deutschland gehört die Partner. Allerdings war die NATO angesichts der prekä- NATO weiterhin zu den wichtigen Grundpfeilern unse- ren Sicherheitslage während des sogenannten Kalten rer Sicherheitspolitik. Als Bundesrepublik Deutschland, Krieges stets zu notwendigen Anpassungen und Verän- als wiedervereinigtes Land sind wir in diesem Werte- derungen bereit und fähig. Der Harmel-Bericht mit sei- bündnis ein berechenbarer und verlässlicher Partner. nen Pfeilern der Sicherheit und Entspannung hat der NATO die Chance eröffnet, sich den veränderten außen- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der politischen Rahmenbedingungen im Nachkriegseuropa FDP) anzupassen. Die politischen Folgerungen des Harmel- Frau Bundeskanzlerin, Sie haben den albanischen Mi- Berichtes flossen 1967 in die neue NATO-Strategie ein nisterpräsidenten erwähnt. Ja, es ist ein Vorteil der und haben die NATO auch als politisches Bündnis ge- NATO gewesen, dass aus Feinden Freunde wurden. stärkt. Deshalb hat unser Außenminister Frank-Walter Aber man muss in diesem Bündnis auch Freunde bleiben Steinmeier recht, wenn er jetzt und für die Zukunft ge- können. Jeder muss dazu seinen Beitrag leisten. Man wissermaßen einen neuen Harmel-Bericht als Grundlage muss auch bereit sein, Wahrheiten zur Kenntnis zu neh- für eine grundsätzliche Verständigung über den künfti- men und sie untereinander auszutauschen. Sie haben gen Weg hinaus fordert. (B) darauf hingewiesen: Es kann nicht sein, dass an einem 60 Jahre nach Gründung des Bündnisses muss die (D) von einem NATO-Partner ausgehenden Namensstreit die NATO ihre Zukunftsfähigkeit, die sie oft genug bewie- Aufnahme eines wichtigen kleinen Landes wie Mazedo- sen hat, zeigen. Ich denke, dass wir durch die Erörterung nien, das sich um die Integration von Ethnien bemüht von Erweiterungsfragen und – das räume ich ein – auch und seinen Beitrag leisten will, scheitert. durch die Schwierigkeiten, die wir bei der Bewältigung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten von Auslandseinsätzen immer wieder haben, eine ehrli- der CDU/CSU) che Aufgabendiskussion zu lange vertagt haben. Ich denke, dass wir – ich bin einer derjenigen gewe- (Beifall der Abg. [SPD]) sen, der während und nach dem Kosovo-Krieg im Auf- Heute steht die NATO vor großen Herausforderun- trag der Bundesregierung humanitäre Hilfeleistungen in gen. Die Bundeskanzlerin hat sie in der Regierungser- Mazedonien, in Albanien und im Kosovo selbst zu ko- klärung umfassend beschrieben. Es ist in diesem Zusam- ordinieren hatte – das quälende Ereignis des Kosovo- menhang für meine Fraktion wichtig, noch einmal Krieges auch nach zehn Jahren, betrachtet man Lö- darauf hinzuweisen, dass wir die Rückkehr der französi- sungsmöglichkeiten in vergleichbaren Regionen, noch schen Freunde in die militärische Integration der NATO nicht haben überwinden können. Wir müssen in diesem begrüßen und dass dies natürlich auch eine Stärkung der Zusammenhang in den Sudan schauen. Wir müssen se- NATO bedeutet: politisch wie auch in der Erfüllung ihrer hen, dass es die Auseinandersetzungen in Gaza gab und Aufgaben. dass es auch im Südkaukasus zu einem Krieg gekommen ist. Es ist wichtig, dass die Institutionen der NATO, der (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ Europäischen Union und der OSZE zusammenwirken CSU und der FDP) und als eine Präventionseinrichtung vorgehen können. Die Erweiterung und die politischen sowie sicher- Es bedarf der ausstrahlenden Wirkung des Bündnisses heitspolitischen Veränderungen haben natürlich Auswir- der NATO als Wertegemeinschaft, aber auch als Prä- kungen auf die NATO als militärisches und politisches ventionsgemeinschaft. Deswegen braucht sie mittler- Bündnis. Das betrifft sowohl ihre Organisation als auch weile auch einen zivilen Rahmen. ihre strategische Ausrichtung. Mit der neuen amerikani- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schen Administration weht – das unterstreiche ich für der CDU/CSU) meine Fraktion – ein frischer Wind durch das Bündnis und die Strategic Review. Ich teile Ihre Auffassung, Herr Wir bekräftigen sowohl unsere Solidarität und Ge- Westerwelle, dass dies aktiv begleitet werden muss und schlossenheit als auch unser Bekenntnis zu den gemein- dass wir jetzt auch die Kontakte mit unseren amerikani- 23128 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Walter Kolbow (A) schen Freunden nicht nur nutzen, sondern sie auch inten- Oskar Lafontaine (DIE LINKE): (C) sivieren sollten, um unsere Auffassungen zu platzieren, Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und damit dann im Zusammenhang mit dieser Strategic Herrn! Als die NATO nach dem Zweiten Weltkrieg ge- Review auch eine Antwort des Bündnisses auf diese gründet wurde, wusste die Staatengemeinschaft, dass Si- neue Strategie herauskommen kann und wird. cherheit nur gemeinsam zu erreichen sein würde. Die NATO wurde als Verteidigungsbündnis konzipiert und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten verpflichtete sich auf die Charta der Vereinten Nationen. der FDP) In dieser Charta ist festgelegt, dass auf Gewaltanwen- Ich glaube, dass die Unterstützung der Elder States- dung verzichtet wird, außer im Verteidigungsfall. In die- men sinnvoll ist. Kissinger, Perry, Shultz und Nunn ha- ser Charta ist festgelegt, dass selbst die Androhung von ben der Abrüstungspolitik neuen Schwung gegeben, Gewalt kein Mittel der Politik sein soll. den nun die USA und Russland in der Abrüstungspolitik In den 60er-Jahren diskutierte die NATO über die nutzen. Richard von Weizsäcker, , Strategie des Gleichgewichts. Ein ehemaliger Bundes- Hans-Dietrich Genscher und Egon Bahr haben sich ein- kanzler hat dazu ein lesenswertes Buch geschrieben. Als schlägig geäußert und dienen einer möglichen Renais- im Zuge der Aufrüstung die Strategie des Gleichge- sance einer Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik, wichts immer mehr hinterfragt wurde, verlor die NATO die die NATO als Präventionsbündnis dringend braucht. an Unterstützung, auch im Westen, in der ehemaligen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bundesrepublik Deutschland. der CDU/CSU und der FDP) (Zuruf von der SPD: Im ganzen Westen!) Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen – ich unterstreiche – Bitte schön: im ganzen Westen. – Es gab große De- das, was meine Vorredner gesagt haben; ich bin aber si- monstrationen. Hunderttausende versammelten sich im cher, dass wir auch andere Meinungen hören werden –, Hofgarten und wiesen darauf hin, dass unter Bezug- sich grundsätzlich auf Perspektiven für das nächste Jahr- nahme auf die Theorie des Gleichgewichts die Überrüs- zehnt zu verständigen. Deswegen muss dieser Gipfel tung nicht mehr zu rechtfertigen gewesen sei. Sie wiesen Auftakt für eine umfassende Zukunftsdebatte der darauf hin, dass es keinen Sinn macht, sich mehrfach NATO sein. Die angestrebte und öffentliche Zustim- vernichten zu können und solche Drohungen aufrechtzu- mung zum neuen Konzept erfordert – das richtet sich erhalten. Sie forderten Abrüstung. auch an die Bundesregierung – eine frühzeitige Rück- koppelung mit dem Parlament und eine bewusst initiierte Ich erinnere daran, weil eines im Grunde genommen und öffentlich begleitete Debatte. Jetzt haben wir die immer festzustellen war: In allen Reden wurde zwar die (B) Chance, unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger in diesen Abrüstung beschworen, aber in Wirklichkeit wurden (D) Dialog einzubeziehen. Diese Chance dürfen wir nicht permanent die militärischen Fähigkeiten, wie es so verstreichen lassen. Dieser Dialog gestaltet sich dank der schön hieß, verbessert. Auch heute noch gehört es zur Mitwirkung der Weisen, die Akzeptanzpersonen sind, Wahrhaftigkeit, zu sagen: Die NATO, dieses Bündnis, günstig. Wenn das mit der Ausstrahlungswirkung dieser das diesen Werten verpflichtet sein soll, ist verantwort- außen- und sicherheitspolitisch erfolgreichen Bundesre- lich für zwei Drittel der Rüstungsausgaben der ganzen gierung verbunden wird, dann werden wir der vorherr- Welt. Das stimmt mit dem, was erklärt wird, schlicht und schenden Skepsis gegenüber einer größeren internatio- einfach nicht überein. nalen Beteiligung und einem größeren internationalen Engagement, insbesondere im Zusammenhang mit unse- (Beifall bei der LINKEN) ren Entscheidungen zu Auslandseinsätzen, die wir zu Nach dem Fall der Mauer hat die NATO ihre Struktur treffen haben, sinnvoll begegnen und öffentliches Ver- entscheidend gewandelt. Sie ist nicht länger ein Bündnis, ständnis für globale Zusammenhänge fördern können. das der Verteidigung verpflichtet ist, sondern sie ist Die SPD-Bundestagsfraktion steht an der Seite einer heute ein Interventionsbündnis, das völkerrechtswid- aktiven Bundesregierung. Deswegen ist das für mich rige Kriege und Kriege um die Öl- und Gasfelder des eine Zweibahnstraße: die Entwicklung der neuen NATO- Vorderen Orients führt. Strategie und das Fitmachen des Bündnisses für eine Zu- (Beifall bei der LINKEN) kunft möglichst ohne militärische Einsätze. Es geht hier um ein Bündnis für Prävention, Sicherheit und die Werte Eine wahrhaftige Debatte verlangt es, dass wir heute der Demokratie: Freiheit, Sicherheit und Wohlstand. darüber reden. Diese NATO lehnen wir und viele andere ab, die demnächst demonstrieren werden, um sich für Ich danke. Frieden und Abrüstung einzusetzen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der LINKEN) der CDU/CSU und der FDP) Wir wollen diese NATO durch eine Verteidigungs- Präsident Dr. Norbert Lammert: gemeinschaft ersetzen, durch ein Bündnis kollektiver Das Wort erhält nun der Kollege Oskar Lafontaine für Sicherheit, das in erster Linie dem Frieden und der Ab- die Fraktion Die Linke. rüstung verpflichtet ist. Wir wollen ein kollektives Ver- teidigungsbündnis, das den Begriff der Entspannung (Beifall bei der LINKEN) wieder in den Vordergrund seiner Politik stellt, wie es Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23129

Oskar Lafontaine (A) bereits im Harmel-Bericht, der schon erwähnt wurde, ge- in Amerika, John F. Kerry, der seine Kandidatur mit fol- (C) fordert worden ist. gendem Vorhaben verknüpfte: (Beifall bei der LINKEN) Wenn ich Präsident bin, werde ich alles daranset- zen, alternative Treibstoffe und die entsprechenden Es ist falsch, Spannungen zu verschärfen, zum Beispiel, Fahrzeuge der Zukunft zu entwickeln, damit dieses indem man einseitig Raketen an der Grenze zu Russland Land innerhalb von zehn Jahren vom Öl des Nahen stationiert. Ostens unabhängig wird und unsere Söhne und (Beifall bei der LINKEN) Töchter nicht mehr für dieses Öl kämpfen und ster- ben müssen. Wir wollen ein Bündnis, das auf Vertrauensbildung setzt, was ursprünglich einmal vorgesehen war. Es ist Kann man es klarer formulieren, dass es hier um Öl- und falsch, dadurch Misstrauen hervorzurufen, dass man ent- Gaskriege geht? Will man sich dieser Wahrheit einfach gegen den Versprechungen, die man beispielsweise verschließen, und will man keine Konsequenzen daraus Michail Gorbatschow im Zusammenhang mit der Ein- ziehen, meine Damen und Herren? heit gegeben hat, Zug um Zug weitere Staaten Osteuro- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert pas in die NATO aufnimmt; denn dadurch werden alte Winkelmeier [fraktionslos]) Einkreisungsängste in Russland wieder wach. Das ist doch das Gegenteil von dem, was man versprochen hat. Ist dies das viel beschworene Wertebündnis, das hier im- Das muss heute zumindest einmal angesprochen werden. mer wieder angesprochen wird, ein Bündnis, das auch als gemeinsamen Wert anerkennt, sich mit militärischen (Beifall bei der LINKEN) Mitteln die Rohstoffe anderer Länder zu sichern? Ist dies Wir wollen ein Bündnis, das die Zusammenarbeit, die die Grundlage dieses Wertebündnisses? Noch in den Kooperation mit anderen wieder in den Vordergrund 80er-Jahren war klar, dass die deutsche Politik ihre Hand seiner Politik rückt; denn Sicherheit ist heute nur ge- niemals zu einer solchen Politik reichen würde. Leider meinsam zu erreichen. Das gilt im Besonderen für Russ- ist dieser Konsens der 80er-Jahre völlig verloren gegan- land. Wir sind nach wie vor dafür, dass Russland die gen. Mitgliedschaft in einem solchen Bündnis angeboten (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert wird. Winkelmeier [fraktionslos]) (Beifall bei der LINKEN) Im Mittelpunkt der Diskussion der letzten Jahre stand Wir wollen, dass sich das Bündnis dem Völkerrecht ein Begriff, der für mich einer der gefährlichsten, ja, verpflichtet fühlt. Für ein solches Bündnis könnten wir wenn man so will, einer der schlimmsten der in der Poli- (B) (D) eintreten. Wir müssen das Völkerrecht wieder zur tik in den letzten Jahren entwickelten Begriffe ist: der Grundlage der deutschen Außenpolitik und zur Grund- Begriff der humanitären Intervention. lage der Bündnispolitik machen. Wir haben in den letz- Mit einem Satz haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, an ten Jahren das Völkerrecht zur Seite gelegt, wenn nicht die Opfer erinnert, meine beiden anderen Vorredner mit Füßen getreten. nicht, und deshalb erinnere ich an dieser Stelle für meine (Beifall bei der LINKEN) Fraktion an die Opfer. Im Jugoslawien-Krieg sind nach unterschiedlichen Angaben 2 000 bis 3 000 Zivilisten Wie im Inneren eines Staates, so ist auch zwischen den Opfer der Bombardierung geworden. In Afghanistan Staaten das Recht die Grundlage des Friedens. Wer das sind im letzten Jahr nach internationalen Angaben über Völkerrecht missachtet, dient dem Frieden nicht, son- 2 000 Zivilisten ums Leben gekommen, 40 Prozent da- dern verschärft die Spannungen in der Welt und dient von – entschuldigen Sie bitte, ich muss diese Zahl nen- letzten Endes auch nicht den Sicherheitsinteressen unse- nen – durch die militärischen Aktionen der NATO und res Landes. ihrer Verbündeten. Warum reden wir nicht darüber? Wa- rum kam das in einzelnen Reden überhaupt nicht und bei (Beifall bei der LINKEN) der Kanzlerin lediglich in einem Nebensatz vor? Die Das Völkerrecht wurde im Jugoslawien-Krieg miss- Zahl der Toten im Irak geht in die Hunderttausende, achtet. Das Völkerrecht wird im Irak-Krieg missachtet. wenn nicht über die Jahre hinweg in die Millionen. Das hat das Bundesverwaltungsgericht festgestellt und An dieser Stelle frage ich noch einmal: Was heißt hu- dieser Bundesregierung einen Bruch des Völkerrechts manitäre Intervention? Es heißt Dazwischengehen aus vorgeworfen. Warum redet man nicht darüber? Gründen der Menschlichkeit. Diese gesamte Strategie ist (Beifall bei der LINKEN – Rainer Arnold total unglaubwürdig, weil beispielsweise jetzt in jedem [SPD]: Die NATO war nicht im Irak!) Jahr 10 Millionen Kinder an Unterernährung sterben, wegen Seuchen und Wasserverschmutzung, weil jedes – Ich komme gleich darauf zurück. – Das Völkerrecht Jahr 12 Millionen Menschen sterben, die an Krankheiten wird auch in Afghanistan missachtet. Dort werden die leiden, die heilbar sind. Wenn wir wirklich humanitär in- Genfer Konventionen nicht beachtet. tervenieren wollten, hätten wir hier an dieser Stelle die Möglichkeit, viele Leben zu retten, ohne andere Men- Wenn man hier sagt, die NATO führt im Vorderen schen ermorden und töten zu müssen. Orient Öl- und Gaskriege, stößt man auf Skepsis, teil- weise auf Empörung. Um dies zu belegen, zitiere ich den (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert ehemaligen Präsidentschaftskandidaten der Demokraten Winkelmeier [fraktionslos]) 23130 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Oskar Lafontaine (A) Deshalb ist der Begriff der humanitären Intervention, auch an die Regierenden, dafür Sorge zu tragen, dass ei- (C) wenn er das Militärische mit einbezieht, kein Begriff, nes der fundamentalsten Rechte, von dem jetzt so oft ge- auf den man die Außenpolitik stützen kann. Deshalb sagt wurde, dass wir es der NATO verdanken, ausgeübt macht er denjenigen moralisch unglaubwürdig, der im- werden kann, nämlich das Recht auf freie Demonstration mer wieder mit zu verantworten hat, dass die großen für Frieden und Abrüstung. Menschheitsaufgaben, die mit viel geringerem Aufwand (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert zu lösen wären, ohne dass man andere Menschen ermor- Winkelmeier [fraktionslos]) det und umbringt, nicht angegangen werden, während er beim Militärischen sofort bereit ist, das Humanitäre in den Vordergrund zu rücken und umfangreiche Mittel da- Präsident Dr. Norbert Lammert: für aufzuwenden. Peter Ramsauer ist der nächste Redner für die CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) (Beifall bei der CDU/CSU) Deshalb genügt es nicht, wenn wir immer wieder an die Soldatinnen und Soldaten erinnern, die selbstver- Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): ständlich nicht selbst entschieden haben, diese Aufgabe Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zu übernehmen; auch dies stelle ich hier einmal klar. Sie Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege sind dort, weil wir dies beschlossen, weil der Deutsche Lafontaine, ich glaube, mit einer solchen marktschreieri- Bundestag diesen Auftrag erteilt hat, und selbstverständ- schen Demagogie lich haben sie eine schwierige Aufgabe, die Anerken- (Lachen bei der LINKEN) nung findet. Aber wir stehen in der Verantwortung, diese Aufgabe zu hinterfragen. werden Sie dem Ernst des Themas nicht gerecht. Wenn jetzt beispielsweise der amerikanische Präsi- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dent eine totale Kehrtwende macht und sagt, dieser neten der SPD und der FDP) Krieg sei nicht zu gewinnen, und hinzufügt, wir hätten Wer so schreit und hinterher lacht, hat unrecht – so lehrt auch eine Exitstrategie ins Auge zu fassen, dann wun- es ein Sprichwort, das ich in Kinderzeiten gelernt habe dere ich mich, dass darüber überhaupt nicht diskutiert und das von seiner Gültigkeit, lieber Herr Lafontaine, wird. nichts verloren hat. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (Zuruf des Abg. Oskar Lafontaine [DIE Winkelmeier [fraktionslos]) (B) LINKE]) (D) Damit zeichnet sich doch eine totale Kehrtwende ab. Das sagt der deutsche Volksmund, und Sie sollten sich Wollen Sie erst dann die Konsequenzen ziehen, wenn an manches, was der deutsche Volksmund lehrt, erin- die anderen sagen, nun bequemt euch bitte endlich, ein- nern. mal umzudenken? Ich fordere hier für meine Fraktion Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklä- den Rückzug der Truppen aus Afghanistan. Das ist es, rung von Chancen gesprochen. Jawohl, die NATO ist was auch die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland eine große Chance für Deutschland, und Deutschland nach wie vor will. und Europa brauchen dieses Bündnis. Deutschlands In- Es ist gut, dass die Bundeskanzlerin hier denjenigen, teressen lassen sich ohne die NATO nicht schützen: Frie- die für eine andere Außenpolitik, für eine Friedenspoli- den in Europa, Freundschaft mit unseren Nachbarn, tik demonstrieren, Respekt gezollt hat. Sie haben recht, Sicherheit für Handel und Sicherheit für Reisen. In ande- wenn Sie sagen, dass sich die Demonstrantinnen und ren Staaten gehören die nationalen Interessen zum par- Demonstranten an die Regeln des freiheitlichen teiübergreifenden Konsens. In Deutschland ist das leider Rechtsstaates halten müssen. Dies möchte ich für meine nicht ganz so. Hier steht oft schon allein der Begriff „na- Fraktion nachdrücklich unterstützen. tionale Interessen“ im Geruch politischer Unkorrektheit. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Zuruf von der LINKEN) Das gilt aber nicht nur für die Demonstrantinnen und Ich bin vollkommen anderer Ansicht. Ich glaube, das Demonstranten, sondern genauso für die Staaten, die Wahren nationaler Interessen macht unsere Außenpolitik diese Veranstaltung organisieren glaubwürdig und berechenbar. Deswegen halte ich es an einem Tag wie heute für angebracht, von deutschen und (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) nationalen Interessen in der Außen- und Sicherheitspoli- und die das Demonstrationsrecht nicht in unzulässiger tik zu sprechen. Weise einschränken dürfen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Zu diesen Interessen gehört die Erfahrung, dass es Winkelmeier [fraktionslos]) ohne die NATO in Deutschland keinen erfolgreichen Ich grüße von hier aus diejenigen, die für den Frieden Wiederaufbau gegeben hätte, dass es kein Wirtschafts- demonstrieren wollen. Ich appelliere an sie, die Regeln wunder gegeben hätte und dass wir kein Leben ohne unseres Rechtsstaates zu beachten. Ich appelliere aber Angst hätten. Ohne die NATO – das sage ich vor allen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23131

Dr. Peter Ramsauer (A) Dingen an die Kollegen von der linken Fraktion – hätten Straße gegangen! – Weitere Zurufe von der (C) die Bundesrepublik und Westeuropa Stalins Expansions- CDU/CSU: So ein Unsinn! – Was das wieder streben und damit kommunistischer Diktatur und Miss- soll! – Oh! Oh!) wirtschaft nicht widerstehen können. Das ist eine histori- sche Tatsache. Das ist mir völlig neu. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN) Ohne die NATO hätten wir nicht das Glück der Wie- Ich sage Ihnen: Es waren die Menschen in der DDR, die dervereinigung gehabt. Auch da sage ich an die Adresse diese massive Bewegung in Gang gesetzt haben, nicht der Linken: Ohne die NATO würden unsere Landsleute die NATO. Außerdem haben Sie den Begriff „Freiheit“ in den neuen Bundesländern heute nicht in Freiheit und verwendet und gesagt, die NATO habe ermöglicht, dass Sicherheit leben. wir heute in Freiheit leben; das hat auch die Kanzlerin in ihrer Rede mehrmals erwähnt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Zuruf von der LINKEN) (Dr. [CDU/CSU]: Stel- len Sie jetzt mal bitte Ihre Frage! Kommen Sie Das gehört zur Wahrheit der letzten 60 Jahre. endlich auf den Punkt!) (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE In diesem Zusammenhang habe ich eine Frage an Sie: LINKE]: Aha! Hat also die NATO damals in Leipzig demonstriert? War da also die NATO (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Na auf der Straße, ja?) endlich!) Ohne die NATO hätten wir auch nicht die Erfolge bei Wie weit ist es mit unserer Freiheit gekommen, wenn es der Abrüstung, die wir zu verzeichnen haben. heutzutage in Frankreich und in Deutschland nicht mög- lich ist, so wie wir es uns vorstellen, zu demonstrieren, Ich werde nie vergessen, dass ich dabei sein durfte, als der damalige Wirtschaftsminister vor (Widerspruch bei der CDU/CSU) zwei Jahren in Murmansk eine Anlage zur Verschrottung weil das Demonstrationsrecht massiv eingeschränkt ehemaliger sowjetischer Atom-U-Boote eingeweiht hat. wurde, sodass es nicht mehr möglich ist, sich öffentlich Deutlicher und augenfälliger kann tatsächliche Abrüs- zu artikulieren? Das gipfelte darin – ich glaube, dass tung nicht werden. viele von Ihnen das gar nicht wissen –, dass in Frank- (Beifall des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ reich sogar verboten wurde, die Friedensfahne, ein inter- (B) DIE GRÜNEN]) nationales Zeichen, aus dem Fenster zu hängen. Die Be- (D) völkerung in Frankreich darf keine Friedensfahnen mehr Damals in Murmansk war ich stolz darauf, dass die Ab- aus dem Fenster hängen. rüstungsverhandlungen zu diesen Ergebnissen geführt haben, sodass wirkliche Abrüstung in Form von Ver- (Abgeordnete der Fraktion Die Linke halten schrottung stattfinden konnte. Transparente und Fahnen hoch – Zurufe von der CDU/CSU: Was ist denn da los? – Was (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- machen die denn?) ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir solidarisieren uns mit diesem Protest und sagen: Wir wollen das Recht auf Meinungsfreiheit wahrnehmen, Präsident Dr. Norbert Lammert: und wir hoffen, dass am 4. April dieses Jahres viele Herr Kollege Ramsauer, gestatten Sie eine Zwischen- Menschen nach Straßburg kommen. frage der Kollegin Hänsel? (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Oh nein! Mein Präsident Dr. Norbert Lammert: Gott, auch das noch!) Räumen Sie jetzt erst einmal diese ganzen Klamotten weg. Ihnen, Frau Kollegin Hänsel, erteile ich einen Ord- Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): nungsruf, Bitte sehr. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/ Heike Hänsel [DIE LINKE]: Wie bitte? Das ist CSU]: Die sitzt ganz links außen!) ein Zeichen des Friedens!) – Aha. Das wusste ich nicht. Jetzt weiß ich es. weil Sie bereits zum wiederholten Male gegen die auch mit den Mitgliedern Ihrer Fraktionsführung abgestimm- ten Mindestnormen eines vernünftigen parlamentari- Heike Hänsel (DIE LINKE): schen Umgangs verstoßen. Herr Ramsauer, Sie haben ein interessantes Ge- schichtsverständnis. Sie sagten nämlich, dass die NATO (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der in der DDR auf die Straße gegangen ist. FDP) (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Ach was! Ich mache Sie vorsichtshalber darauf aufmerksam, dass Aber Sie sind in der DDR auch nicht auf die ich im Wiederholungsfall auch von meinem Recht, Sie 23132 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) von der Sitzung auszuschließen, Gebrauch machen der Tat kein einfacher Partner und Nachbar. Es ist den- (C) werde. noch gut, dass der NATO-Russland-Rat seine Arbeit wieder aufgenommen hat. Selbstverständlich müssen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie wir NATO-Partner uns aber untereinander abstimmen, bei Abgeordneten der SPD) bevor wir mit Russland beraten. Das gibt großen und Diese Mätzchen haben mit Parlamentarismus überhaupt kleinen NATO-Partnern gleichermaßen die Gewissheit nichts zu tun. gleicher Sicherheit. NATO und EU stehen im Verhältnis zu Russland vor ähnlichen – um nicht zu sagen: vor glei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie chen – Herausforderungen. Sie sollten aus genau diesem bei Abgeordneten der SPD) Grunde eine gemeinsame Russland-Strategie verfolgen.

Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Die NATO ist nicht nur für Europa und Deutschland eine Chance, sondern auch für die Vereinigten Staaten Herr Präsident, wenn Sie gestatten, fahre ich in mei- und Kanada. Die einzig verbliebene Weltmacht USA ner Rede fort. wird mit den Problemen der Welt auch nicht alleine fer- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – tig. Jede Auseinandersetzung, selbst wenn sie mit militä- Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Genau! Bloß rischen Mitteln geführt werden muss, ist ein Wettstreit nicht darauf eingehen! Einfach weiterma- um Rückhalt, ein Kampf um die Köpfe; wer hier verliert, chen!) hat keinen Erfolg. Im Wettstreit um die öffentliche Mei- nung hat ein Bündnis natürlich die besseren Chancen als Ich möchte mir nur eine Bemerkung erlauben – ich bitte, jeder einzelne Partner für sich. diese Ausführungen mit Blick auf die Geschäftsordnung als Antwort zu behandeln; denn dann werden sie nicht Die Entwicklung von einer bipolaren zu einer poly- auf meine Redezeit angerechnet –: zentrischen Welt geht unvermeidlich und unvermindert weiter. In diesem Kontext vervielfacht ein solches Bünd- (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU nis den Einfluss, den jeder Partner für sich allein haben und der FDP – Klaus Uwe Benneter [SPD], könnte. Die Liste der Themen, die diesseits und jenseits zur CDU/CSU gewandt: Er hat das ganze des Atlantiks unterschiedlich gesehen werden, ist lang: Theater durch die Zulassung der Zwischen- internationale Gerichtsbarkeit, Klimaschutz, Prolifera- frage doch erst ermöglicht! – Heiterkeit bei tion und viele Abrüstungsfragen. Bei manchen Aspekten Abgeordneten der SPD) bringt Präsident Obama Bewegung und Wandel; aber ei- – Ich habe die Zwischenfrage zugelassen; das ist richtig. nes ist natürlich auch klar: Präsident Obama wird wie (B) Das spricht für Liberalität und Toleranz. – Liberalität alle seine Vorgänger im Amt des Präsidenten amerikani- (D) und Toleranz wären heute ohne die NATO nicht mög- sche Interessen immer an erster Stelle schützen. Das lich. müssen wir wissen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Unser gemeinsames Interesse muss es sein, die trans- Zurufe von der LINKEN) atlantische Partnerschaft zu festigen. Europa und Nord- amerika sind sich bei der Analyse der Bedrohungen Meine Damen und Herren von der Linken, zu dem, was einig: Terrorismus, religiöser Fundamentalismus, zerfal- auf Ihren Transparenten steht – ich habe die Begriffe lende Staaten, internationale Kriminalität. Der Georgien- „Frieden“, „Peace“ und „Pace“ gelesen –, kann ich nur Krieg hat die Möglichkeit zwischenstaatlicher Konflikte sagen: Die größte Friedensgarantie und Friedens- wieder in das Blickfeld der NATO gerückt. Die Rück- macht war in den letzten 60 Jahren die NATO. Darauf kehr Frankreichs in die militärischen Strukturen der können wir stolz sein. NATO erleichtert jetzt die Kooperation zwischen ESVP (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie und NATO. Ich glaube, das ist ein großer Schritt hin zu bei Abgeordneten der SPD) einer tragfähigen euro-atlantischen Sicherheitspart- nerschaft. Das wussten die Deutschen, wie ich den Ergebnissen einer Umfrage entnehmen konnte, schon vor 20 Jahren. Die NATO war und ist nicht nur ein Sicherheits-, son- Damals waren 86 Prozent der Deutschen für die NATO. dern auch ein Wertebündnis. Ich halte es für unverzicht- Nach einer Umfrage des letzten Jahres vom German bar, darauf hinzuweisen. Herr Kollege Westerwelle, Sie Marshall Fund halten heutzutage immerhin noch 62 Pro- haben Ihre Ausführungen dankenswerterweise mit die- zent der deutschen Bevölkerung die NATO für unent- sem Aspekt begonnen, der zu sehr in Vergessenheit ge- behrlich. Jawohl, die Mehrheit der deutschen Bevölke- rät. rung hat recht. Sie von der Linken haben unrecht. Wir Zu unseren gemeinsamen Wertvorstellungen gehört sind stolz auf die NATO. auch das Eintreten für freien Welthandel. Gerade in einer (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Zeit wie der heutigen, in der wir uns schwersten welt- Dr. [FDP]) wirtschaftlichen Verwerfungen gegenübersehen, gehört nicht Abschottung zu den Rezepten, sondern gerade Meine Damen und Herren, dank der NATO kann freier Welthandel. Auch dazu liefert die NATO einen Deutschland, kann Europa auch mit Russland eine wertvollen Beitrag. Nachbarschaft auf Augenhöhe pflegen. Der Georgien- Krieg und der Gaskonflikt haben gezeigt: Russland ist in (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23133

Dr. Peter Ramsauer (A) Wir sprechen vom transatlantischen Marktplatz, auf dem mit begann eigentlich die deutsch-französische Freund- (C) sich jeder ohne Hemmnisse am Handel beteiligen kann. schaft? – Sie begann damit, dass beiderseits der Grenzen Menschen, wie übrigens auch der spätere Bundeskanzler Ein weiterer wichtiger Punkt: Europa und Amerika , damit angefangen haben, die Grenzzäune brauchen eine stabile NATO. Dafür muss gewährleistet abzubauen. Ich frage mich deshalb in der Tat: Ist es ei- sein, dass sich die NATO nicht überdehnt, dass sie sich gentlich ein gutes Signal, dass wir jetzt entlang dieser in ihren Operationen nicht verzettelt und dass sie sich Grenze zum ersten Mal seit Jahren wieder Grenzkontrol- ständig strategisch modernisiert. len haben und dass bestimmte Grenzübergänge tagelang Die NATO nicht überdehnen heißt: Die Tür zur gesperrt sind? Ich frage mich auch: Ist es wirklich ein NATO ist zwar für neue Mitglieder offen – wir begrüßen gutes Signal, Teile der Einwohnerschaft von Kehl meh- Albanien im Bündnis; der Beitritt Kroatiens darf, wie Sie, rere Tage quasi unter Hausarrest zu stellen? Ich finde, Frau Bundeskanzlerin, gesagt haben, nicht scheitern –; das ist eine falsche Begleitmusik zu diesem richtigen aber für alle Beitritte gilt, dass durch jeden Beitritt am Event. Ende ein Mehr an Sicherheit für die gesamte Allianz ge- leistet werden muss. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das ist das Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das ist aber Entscheidende!) kleine Münze! Fällt Ihnen nichts Besseres Die Bewerber stehen deshalb in der Pflicht, die Bei- ein?) trittskriterien zu erfüllen. In meinen Augen erfüllen Die NATO soll eine neue Strategie haben. Ich Georgien und die Ukraine diese Beitrittskriterien so glaube, das ist nötig. Übrigens: Gerade weil man in einer schnell noch nicht, aber es gilt, dass sie weiterhin eine neuen Situation lebt, muss das, was hier gerade zwischen Beitrittsperspektive haben. Herrn Ramsauer und der Linksfraktion aufgeführt Die NATO darf sich nicht verzetteln. Die Bundes- wurde, nicht immer wieder aufgeführt werden. kanzlerin hat gesagt, dass natürlich die Grenzen des Wir- (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Ich habe kungskreises der Allianz aufgezeigt werden müssen. Das das nicht bestellt! – Hartmut Koschyk [CDU/ müssen wir immer klar im Auge behalten, und wir müs- CSU]: Die haben das aufgeführt!) sen vor jeder Operation sorgfältig und gewissenhaft prü- fen, ob die Voraussetzungen für einen solchen Einsatz An beide gerichtet: Wir haben nicht mehr die 80er- erfüllt sind. Dazu gehört auch, dass ein solcher Einsatz Jahre. Wir hören heute nicht mehr „bots“, wir hören immer in ein zukunftsweisendes und erfolgversprechen- „Franz Ferdinand“. Die Blockkonfrontation ist vorbei, (B) des politisches Lösungskonzept eingebunden ist. und Sie bekommen das hier auch nicht gemeinsam wie- (D) der inszeniert. Die NATO muss sich strategisch ständig modernisie- ren. Dazu braucht es keiner neuen speziellen Experten- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – runden, denn diese Arbeit kann innerhalb der gegebenen Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie haben Gremien der NATO geleistet werden. Steine geworfen! – Hartmut Koschyk [CDU/ CSU]: Ich sage nur: Mescalero!) Meine Damen und Herren, wenn es die NATO nicht schon gäbe, dann müssten wir sie heute gründen. Wir Die NATO hatte eine Funktion: Sie hat unsere Sicher- gratulieren der NATO zum 60. Geburtstag. Ich glaube, heit gewährleistet. Nach Ende der Blockkonfrontation wir können sagen: Wir gratulieren uns Deutschen zur hatte sie übrigens noch eine weitere wichtige Funktion: NATO. Wir können es nicht oft und laut genug sagen: Wir brauchen die NATO als Deutsche, als Europäer und (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Joschka als Weltbürger für eine Zukunft in Frieden, in Freiheit Fischer würde sich für eine solche Rede schä- und in Sicherheit. men!) Ich bedanke mich. Die NATO hat dazu beigetragen, dass es nach dem Ende der Blockkonfrontation nicht zu einer Renationalisie- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- rung der Sicherheitspolitik gekommen ist. Diese Ver- neten der FDP) dienste sollte man auch nicht durch solche fahrlässigen Reden, Herr Ramsauer, infrage stellen. Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält jetzt der Kollege Jürgen Trittin. (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Fahrlässig? Wer war denn ein Sicherheitsrisiko?) Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seitdem gibt es die Diskussion über die Sinnsuche Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bun- und die neue Aufgabenstellung. Frau Bundeskanzlerin, deskanzlerin, wir begrüßen es, dass Deutschland und ich habe versucht, sehr aufmerksam zuzuhören. Wenn Frankreich diesen NATO-Gipfel gemeinsam ausrichten. ich die NATO wäre, dann müsste ich als rüstiger 60-Jäh- Das ist ein wirklich starkes Zeichen der deutsch-franzö- riger in Altersteilzeit, der auf der Suche nach einer neuen sischen Freundschaft. Aufgabe ist, sagen: Ich habe Ihren Worten keine wirklich neue Aufgabenbeschreibung entnommen. Gerade weil wir das begrüßen, wollen wir Ihnen aber doch etwas Nachdenkliches mit auf den Weg geben: Wo- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 23134 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Jürgen Trittin (A) Dafür hätten Sie auch auf die Probleme eingehen müs- Afghanistan ist ein weiteres Thema. Ich glaube üb- (C) sen. Wie verhält es sich mit der Konkurrenz zwischen ei- rigens nicht, dass die Zukunft der NATO an Afghanis- ner gestärkten Europäischen Sicherheits- und Verteidi- tan hängt. Afghanistan darf nicht scheitern. Ein Schei- gungspolitik und der NATO? Ist es wirklich sinnvoll, tern – darin stimme ich allen meinen Vorrednern mit dass die NATO, wenn die EU vor Somalia im Auftrag Ausnahme von Herrn Lafontaine zu – hätte insbeson- der Vereinten Nationen gegen Piraten kämpft, schnell dere für die Afghaninnen und Afghanen katastrophale mit ein paar Schiffen hinterherfahren muss, damit keiner Folgen. Ich kann das Gerede von der vernetzten Sicher- merkt, dass sie bei dieser Aufgabe weder gefragt noch heit – sei es im Dialekt der südhessischen Weinberge, sei notwendig ist? Das ist falsch. Es ist reine Ressourcen- es in Ihrem Templiner Timbre, Frau Bundeskanzlerin – verschleuderung. nicht mehr hören. Ich möchte, dass das Konzept der ver- netzten Sicherheit innerhalb der NATO, das vor zwei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Jahren beschlossen worden ist, umgesetzt wird: in Af- Von Ihnen war auch nichts zu der Frage zu hören, wie ghanistan, am Boden, jeden Tag. Das hieße, dass Sie die die Zukunft der Bundeswehr innerhalb der NATO ausse- Zahl der Polizistinnen und Polizisten und der Polizeiaus- hen soll. Wollen wir weiterhin an einer Wehrpflicht bilder endlich aufstocken. Die Europäische Union muss festhalten, die fast alle unsere NATO-Partner abgeschafft mindestens 2 000 Kräfte zur Verfügung stellen, mindes- haben, die uns in vielerlei Hinsicht daran hindert, unse- tens 500 davon von deutscher Seite. ren Bündnisverpflichtungen nachzukommen und von der Wenn Sie die vernetzte Sicherheit ernst nehmen, dann die Gerichte sagen, dass sie so, wie sie praktiziert wird, muss der Skandal ein Ende haben, dass derzeit mehr an der Grenze zur Verfassungswidrigkeit stehe? Das Feldjäger als Bundespolizisten in der Polizeiausbildung wird demnächst vor dem Bundesverfassungsgericht ver- beschäftigt sind. Das ist ein Versagen der Bundesregie- handelt. Auf diese Fragen geben Sie keine Antwort. rung bei der vernetzten Sicherheit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kommen wir zu den Fragen, auf die Sie Antworten Wenn Sie die lokalen Kräfte stärken wollen, dann geben. Zur Abrüstung zum Beispiel haben Sie erklärt, stellt sich die Frage, wie sich das mit dem Vorfall am dass Sie Russland von den Vorzügen des KSE-Vertrages vergangenen Wochenende vereinbaren lässt, als in Imam überzeugen wollen. Ich habe einen ganz einfachen Rat- Sahib in der Provinz Kunduz das Gästehaus eines mit schlag, Frau Merkel: Ratifizieren Sie doch endlich den uns verbündeten Bürgermeisters – möglicherweise hat angepassten KSE-Vertrag! Dann haben Sie ein überzeu- ihn auch Herr Jung bei seinem letzten Treffen mit den gendes Argument, um Russland dazu zu bewegen. Stammesältesten getroffen – von einer Geheimdienst- (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN operation der Amerikaner betroffen war. Nach EUPOL- (D) sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Angaben – nicht nach NGO-Angaben – hatte diese Ope- KEN und des Abg. Gert Winkelmeier [frak- ration zur Folge, dass vier Personen entführt worden tionslos]) sind. Der Leibwächter, der Koch, der Fahrer und ein weiterer Angestellter des Bürgermeisters sind erschos- Sie haben zur nuklearen Teilhabe gesagt, man dürfe sen worden. Das alles hat im Norden Afghanistans statt- den Weg und das Ziel nicht verwechseln. Ich habe nach gefunden, also dort, wo Deutschland Verantwortung Ihrer Rede den Eindruck, für Sie ist und bleibt der Weg trägt. Es ist ohne Zustimmung und Unterrichtung das Ziel, nämlich die nukleare Teilhabe. Sie wollen, wie Deutschlands passiert. Wenn Sie von vernetzter Sicher- Sie wörtlich gesagt haben, nicht auf Ihren Einfluss im heit reden, dann müssen Sie endlich dafür sorgen, dass Bündnis auf den Einsatz von Atomwaffen verzichten. mit solchen Kommandoaktionen, die den Erfolg der Das ist aber ein anderes Ziel als unseres, und es ist ein NATO-Operation massiv infrage stellen, in ganz Afgha- anderes Ziel als das, das Persönlichkeiten wie Henry nistan und insbesondere dort, wo die Deutschen Verant- Kissinger, Hans-Dietrich Genscher und selbst Helmut wortung haben, endlich Schluss gemacht wird. Das ist Schmidt in ihrer Global-Zero-Erklärung niedergelegt ha- die Herausforderung, wenn man über vernetzte Sicher- ben, nämlich die Welt von allen Atomwaffen zu be- heit redet. freien. Das ist das Ziel. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich habe den Eindruck, Frau Merkel: Sie sind auf die neue Zeit und die neue Administration in den USA über- Es war auch eine Ohrfeige für die Nichtverbreitungs- haupt nicht vorbereitet. In München haben Sie sich in Ih- politik, dass Sie die Aufrüstung Indiens – obwohl Indien rem Beitrag zum Iran auf die Frage nach neuen Sanktio- außerhalb des Atomwaffensperrvertrages nuklear aufge- nen beschränkt. Mittlerweile bietet Barack Obama einen rüstet hat – nun mit der Lieferung von Nuklearmaterial Dialog an. Der Iran nimmt nächste Woche an der Konfe- an Indien belohnen. Sie haben in Ihrer Rede festgestellt, renz in Den Haag teil. In der heutigen Regierungserklä- dass sich die Proliferationsrisiken erhöht hätten. Nein, rung begrüßen Sie den Besuch von Barack Obama in Frau Merkel, die Proliferationsrisiken sind nicht durch Europa. Letztes Jahr, als er vor dem Brandenburger Tor anonyme Mächte, die das Nichtverbreitungsregime un- reden wollte – übrigens eine gute Rede –, waren Sie terwandert haben, erhöht worden, sondern durch Ihre noch gar nicht so begeistert. Sie haben angesichts der ak- Politik. tuellen Situation einfach nicht verstanden, umzuschal- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ten. Das, was die neue Politik der USA ausmacht, ist ein Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23135

Jürgen Trittin (A) Angebot zum Dialog. Dazu gehört, zuzuhören. Dazu und die wir festigen wollen, ist doch, dass Deutschland (C) gehört aber auch, die eigenen Probleme und die Kon- ein konstruktiver Nachbar ist und sich an Maßnahmen flikte anzusprechen. Eine wortreiche Richtungslosigkeit zur Sicherung von Frieden und Freiheit beteiligt. Das ist – nichts anderes war Ihre heutige Regierungserklärung – der zentrale Sinn jener westlichen Allianzen. hilft dabei überhaupt nicht. So werden Sie nicht zum Ak- teur der internationalen Politik. Das muss beendet wer- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den. der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wer das im Ernst infrage stellt, wer beispielsweise sowie bei Abgeordneten der LINKEN) den Lissabon-Vertrag ablehnt, wer die NATO in der Form, wie es hier geschehen ist, angreift, lieber Kollege Präsident Dr. Norbert Lammert: Lafontaine, der wird Fragen heraufbeschwören. Unsere polnischen und anderen Nachbarn werden fragen, was Das Wort erhält nun der Kollege Gert Weisskirchen das für ein Deutschland ist, das sich aus den westlichen für die SPD-Fraktion. Allianzen herauszulösen versucht. Dann wird die Angst (Beifall bei Abgeordneten der SPD) vor Deutschland wieder groß werden. Das müssen wir doch gemeinsam verhindern. Deswegen noch einmal: Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Der konstruktive Beitrag, den die Bundesrepublik Herr Präsident! Liebe Frau Bundeskanzlerin, wenn Deutschland in jeder Phase der NATO – Eindämmung, man sich 60 Jahre NATO in einem Zeitraffer vor Augen Entspannung, Öffnung – geleistet hat, ist ein Beitrag führt, dann wird man zu folgendem Ergebnis kommen zum Frieden in Europa und in der Welt. Darauf werden können: Zuerst stand Containment, die Eindämmung der wir weiterhin aufbauen. Gefahren, die insbesondere von der damaligen Sowjet- Jetzt kommt die entscheidende Frage – die Frau Bun- union ausgingen, im Mittelpunkt. Dann kam die Phase deskanzlerin hat sie gestellt –, nämlich was das mit Blick der Entspannung, eingeleitet durch den Harmel-Bericht auf die Zukunft heißt. Welche Form muss die NATO an- und die Politik der sozialliberalen Koalition unter Willy nehmen, in welche Richtung wird sie sich weiterent- Brandt und Walter Scheel. Dann kam die Öffnung der wickeln, und wie könnte die Überschrift über die nächste NATO. Lieber Kollege Lafontaine, bei all dem, was Sie Phase lauten? Ich würde vorschlagen, sich zu überlegen, mit Blick auf ein Geschichtsgemälde beschrieben haben, ob die NATO nicht wieder an die zweite Phase, die sie haben Sie offenbar vergessen – ich kann mich noch gut stark gemacht hat, anknüpfen kann. Ich meine damit, daran erinnern –, dass Sie es waren, der gesagt hat: nach der Öffnung wieder zur Entspannung zurückzu- Nehmt doch Russland bzw. die Sowjetunion in die kehren und einen eigenständigen Beitrag dazu zu leisten. (B) NATO auf! – Wer sich wie Sie heute hier hinstellt und Entspannung fängt mit Abrüstung und Rüstungskon- (D) geradezu einen Schattenriss von Ängsten und Problemen trolle an. Wir haben doch jetzt Verbündete auf der ande- im Zusammenhang mit der NATO deklamiert, der sollte ren Seite des Atlantiks, die genau dieses Ziel – ich erin- sich bitte daran erinnern, was er selbst einst gesagt hat. nere an den Präsidentschaftswahlkampf von Barack (Dr. [DIE LINKE]: Das hat er Obama – vertreten. Obama ist einer derjenigen in den doch gesagt!) USA, die gesagt haben: Wir wollen eine von Massenver- nichtungswaffen freie Welt. – Welchen besseren Bünd- Dann werden Sie zu einem ganz anderen Ergebnis kom- nispartner können wir, die Bundesrepublik Deutschland men. und Europa, uns denn gemeinsam wünschen, damit diese (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das Vision wieder zur Überschrift über das auch militärische hat er doch gesagt!) Bündnis wird? Ich möchte bei all der Kritik, die wir an der NATO üben können, darum bitten, mit zu berück- Es handelt sich hier um einen Lernprozess. Ich ge- sichtigen – der Kollege Trittin hat eben darauf hingewie- stehe freimütig zu, dass ich ihn selber mitgemacht habe. sen –, dass die NATO nicht nur die Renationalisierung Als die Mauer fiel, gab es in Europa Sorgen – daran verhindern kann, sondern dass sie auch bei der Öffnung kann ich mich noch sehr gut erinnern –: Wie wird sich gegenüber Osteuropa eine, wenn man so will, Reform- Deutschland nun entwickeln? Wird Deutschland in der orientierung der Militärs in den dortigen Staaten durch- EU und der NATO, dem Verteidigungsbündnis, ein kon- gesetzt hat. Das, was damals noch viel zu stark diktato- struktiver Partner und Nachbar bleiben? Oder werden risch ausgerichtet war, ist durch den Einfluss der NATO- sich möglicherweise diejenigen in Deutschland, die ge- Partnerschaften demokratisiert und zivilisiert worden. genüber der NATO und der EU kritisch eingestellt sind All das sind Schritte, die uns gemeinsam geholfen ha- – dazu gehören auch Sie –, ben, unseren Kontinent besser zu machen und dafür zu (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Wie früher sorgen, dass von unserem Kontinent Frieden ausstrahlt. der Kollege Weisskirchen!) Natürlich werden wir noch eine Reihe von Fragen be- durchsetzen? Wird es möglich sein, Deutschland in den antworten müssen, die sich auf dem Wege, den wir zu Allianzen des Westens fest zu verankern, oder wird bewältigen haben, stellen. Lassen Sie mich am Schluss Deutschland, wenn das nicht der Fall ist, einen Nationa- einige ganz kurz nennen. Wollen wir künftig aktiver han- lisierungskurs einschlagen, der dazu führen würde, dass deln, um zu Stabilität in solchen regionalen Konflikten Deutschland wieder zu einer Gefahr für andere werden beizutragen, die unsere Sicherheit existenziell bedrohen? kann? Der Sinn der Allianzen, in die wir eingetreten sind Das ist eine ganz zentrale Frage. Ich meine, es wird da- 23136 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (A) bei immer darauf ankommen, dass dann, wenn wir uns pensteller bei vielen Kontingenten unseren Einfluss in (C) an solchen Konfliktlösungen beteiligen, unverrückbar der NATO wirklich geltend machen. Die gestalterische im Mittelpunkt die Bindung unserer Handlungen an das Kraft Deutschlands in der NATO muss gestärkt werden. eigene Recht, an die Verfassung und an das Völkerrecht stehen muss. (Beifall bei der FDP) (Beifall der Abg. Marieluise Beck [Bremen] Zweitens. Die NATO-Response-Force, die NATO- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Eingreiftruppe, ist gescheitert – das muss man so deut- lich sagen –, und zwar konzeptionell und auch von der Deshalb ist für uns ganz zentral, dass die Beschlüsse der Ausführung her. Ich gebe zu, dass wir als Deutsche treu UNO und des Weltsicherheitsrats die Legitimations- und brav auf Punkt und Komma unsere Aufgaben erfüllt grundlage für dieses Handeln sein müssen. Dass dies im haben. Jawohl, das ist richtig. Das nützt aber nichts, Falle des Kosovo anders war, darf nicht als Begründung wenn wir feststellen müssen, dass das Konzept der NRF herangezogen werden, um sich künftig anders zu verhal- insgesamt gescheitert ist, und zwar nicht nur militärisch, ten. Die damalige Handlung muss eine Ausnahme blei- sondern vor allen Dingen politisch. Fälschlicherweise ist ben. Das Völkerrecht, die UNO-Charta und die Ent- auf einem NATO-Gipfel die militärische Einsatzfähig- scheidungen des Weltsicherheitsrats sind die Grundlagen keit der NRF konstatiert worden; aber spätestens ein hal- für unser eigenes Handeln. Das muss und wird auch so bes Jahr danach mussten wir feststellen, dass die politi- bleiben. Es wird darauf ankommen, wie die Instrumente sche Einsatzfähigkeit dieses Instruments nicht gegeben verbessert werden können, damit Europa und die Bun- ist. Auch hier müssen wir als Parlamentarier und als desrepublik Deutschland ein Faktor des Friedens, der Deutsche erwarten, dass die deutsche Bundesregierung Freiheit und der Solidarität bleiben bzw. wieder neu wer- deutlicher sagt, wie sie ein solches Instrument der NATO den. in Zukunft gestalten möchte. Dieser Input muss gegeben Vielen Dank. werden. Hier muss Deutschland nachlegen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Deutschland kann seinen Einfluss in der NATO natür- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des lich nur geltend machen, wenn dem eine breite außen- Abg. Eckart von Klaeden [CDU/CSU]) und sicherheitspolitische Debatte in unserem Lande vorausgeht. Frau Bundeskanzlerin, Herr Bundesaußen- minister, Herr Verteidigungsminister, auch hier muss ich Präsident Dr. Norbert Lammert: am Ende der Wahlperiode sagen: Deutschland hat seine Der Kollege Dr. Rainer Stinner ist der nächste Redner Hausaufgaben in den letzten vier Jahren nicht gemacht. für die FDP-Fraktion. Sie hätten anlässlich der Debatte über das Weißbuch die (B) (Beifall bei der FDP) Chance gehabt, eine breite gesellschaftliche Debatte (D) über Außen- und Sicherheitspolitik zu führen. Das haben Sie versäumt. Das Weißbuch vermodert in den Schrän- Dr. Rainer Stinner (FDP): ken; es wird kaum zur Kenntnis genommen. Auch hier Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In im Deutschen Bundestag wird kaum darauf rekurriert. vielen der bisherigen Reden ist davon gesprochen wor- den, welche Bedeutung die NATO für Deutschland hat. Frau Bundeskanzlerin, meine Herren Minister, ich Dazu ist vieles Richtige und Wichtige gesagt worden. hoffe – damit möchte ich schließen –, dass die jetzige Debatte über das wichtige neue NATO-Konzept auch ( [CDU/CSU]: Richtig!) Sie, die Bundesregierung, endlich dazu bringt, die drin- Ich möchte die Frage umdrehen: Welche Bedeutung gend notwendige grundsätzliche Debatte über Außen- hat Deutschland für die NATO, und wie wird diese Rolle und Sicherheitspolitik in Deutschland anzustoßen und ausgeführt? Ohne jeden Zweifel sind wir der zweit- bzw. breit zu führen. drittgrößte und wichtigste Partner in der NATO. Füllen wir diese Rolle auch wirklich aus? Daran sind Zweifel Herzlichen Dank. angebracht. (Beifall bei der FDP) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Was?) Präsident Dr. Norbert Lammert: Es gibt eine ganze Reihe von Situationen, in denen auch Das Wort erhält der Kollege Eckart von Klaeden für wir als Parlamentarier mit Planungen der NATO kon- die CDU/CSU-Fraktion. frontiert werden, ohne das Gefühl zu bekommen, dass Deutschland bei diesen Planungen einen wichtigen Input (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gegeben hat. Ich möchte zwei Beispiele bringen: Erstens. Gegenwärtig wird im Rahmen der NATO in- Eckart von Klaeden (CDU/CSU): tensiv geplant, die Präsenz im Kosovo sehr deutlich zu Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! reduzieren, und zwar von 14 000 auf – in 18 Monaten – (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 1 800 Soldaten. Das sind Planungen; ich weiß es. Unsere Hier sind auch Frauen! So viel Zeit muss Frage an die Bundesregierung, was der deutsche Beitrag, sein!) wo die deutsche gestalterische Kraft ist, ist bisher vage, wenn überhaupt, beantwortet worden. Es ist wichtig, Mir fehlt die Zeit, auf alles einzugehen, was von den dass wir, Deutschland, als zweit- bzw. drittgrößter Trup- Oppositionsfraktionen hier vorgetragen worden ist. Ich Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23137

Eckart von Klaeden (A) will aber als vertrauensbildende Maßnahme dem Kolle- Eine wichtige Erkenntnis aus der aktuellen sicherheitspoli- (C) gen Trittin gegenüber ankündigen, dass jedenfalls ich tischen Diskussion ist, dass diese unterschiedlichen Ebe- auf Ihren Satz, die Wehrpflicht hindere uns daran, unse- nen unserer Sicherheitspolitik nicht gegeneinander aus- ren Bündnisverpflichtungen nachzukommen, in den gespielt werden können, sondern, im Gegenteil, einander kommenden Wochen und Monaten zurückkommen ergänzen. Man kann globale Sicherheit nicht auf Kos- werde. Auch Ihre Darstellung unserer Position zum ten der regionalen Sicherheit gewinnen. Man kann ter- AKSE-Vertrag halte ich für grundlegend falsch. Der An- ritoriale Sicherheit nicht gewinnen, wenn man nicht satz der Bundesregierung und der sie tragenden Fraktio- auch die Dimensionen der regionalen und der globalen nen ist es, in einer Zug-um-Zug-Ratifizierung dazu zu Sicherheit berücksichtigt. Der Satz von Peter Struck, kommen, dass Russland seinen Verpflichtungen, unter dass Deutschlands Sicherheit auch am Hindukusch ver- anderem aus den Istanbul-Commitments, nachkommt. teidigt wird, hat nach wie vor seine Gültigkeit. Sie treten jetzt für eine Ratifizierung ein, ohne dass (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Russland diesen Verpflichtungen nachkommt. Das halte der SPD – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: ich für falsch. Ein Witz!) (Beifall bei der CDU/CSU) Für die regionale Sicherheit ist erstens die Erweite- Die NATO ist am 4. April 1949 gegründet worden. rung von NATO und Europäischer Union als Rahmen Sie ist eine Reaktion auf die Erfahrungen des Zweiten von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Frieden in Weltkriegs gewesen. Der Zweite Weltkrieg ist nicht des- Europa ein gutes Beispiel. Dafür, wie sehr dieser Rah- wegen ausgebrochen, weil man mit Hitler zu wenig ver- men gefährdet ist, auch auf regionaler Ebene, sind die handelt hat oder weil man auf angebliche Anliegen von Balkan-Kriege und wiederum der Kosovo-Einsatz Bei- Nazideutschland nicht genug eingegangen ist – ich erin- spiele. nere nur an das Münchner Abkommen von 1938 –, son- Weil der Kosovo-Einsatz so häufig von der Links- dern er ist deswegen ausgebrochen – so jedenfalls angesprochen wird, will ich in diesem Zusammen- Überzeugung der Gründer der NATO –, weil man Nazi- hang auf das jüngste Urteil des UN-Tribunals für das deutschland nicht entschlossen entgegengetreten ist, ehemalige Jugoslawien verweisen, in dem Milan weil die europäischen Staaten ihre Bündnisverpflichtun- Milutinovic, der Nachfolger von Slobodan Milosevic als gen, Polen gegenüber zum Beispiel, nicht haben erfüllen serbischer Präsident, freigesprochen worden ist. Das ist können oder wollen und weil die Vereinigten Staaten nicht bemerkenswert; denn jeder Angeklagte hat vor die- von Amerika sich nach dem Ersten Weltkrieg vom euro- sem UN-Tribunal das Recht auf einen fairen Prozess, päischen Kontinent zurückgezogen haben. und er bekommt ihn auch. (B) (D) Daraus hat man die Konsequenz gezogen, dass die Interessant ist aber, was das Gericht im Rahmen der freien Nationen Europas und die Vereinigten Staaten ein Verurteilung der anderen Angeklagten festgestellt hat, dauerhaftes Verteidigungsbündnis eingehen müssen, das und zwar zum großen Teil aus serbischen Quellen. Es die Präsenz der Amerikaner in Europa als Garantiemacht führt in seiner über 1 700 Seiten langen Begründung aus: für unsere Sicherheit und unsere Freiheit gewährleistet. Einheiten des serbischen Innenministeriums und serbi- Diese Erkenntnis ist nach wie vor richtig. Wenn wir uns sche Truppen haben zwischen März und Mai 1999 mehr aber das Statement des ersten NATO-Generalsekretärs als 700 000 Albaner über die Grenzen des Kosovo ge- Lord Ismay ansehen, der nach dem Grund für die NATO trieben. In Kosovo wurden ganze Landstriche verwüstet. gefragt wurde und gesagt hat: „It is to keep the Russians Ein albanisches Dorf nach dem anderen ging in Flam- out, the Americans in and the Germans down“ – die Rus- men auf. Es wurde belegt – wiederum durch serbische sen draußen zu halten, die Amerikaner drin zu halten Quellen –, wie Belgrader Truppen Zivilisten ermordeten, und die Deutschen niederzuhalten –, dann zeigt sich die sich in Kellern, Wäldern, gar in Flussläufen versteckt doch, wie sehr sich die NATO Gott sei Dank verändert hatten. Das Urteil zeigt auf, wie Menschen ertränkt wur- hat. Wir können insbesondere darauf stolz sein, dass der den, indem man sie in Brunnenschächte warf. In dem 60. Geburtstag in Deutschland und Frankreich gefeiert Urteil wird ebenfalls deutlich, dass ein Großteil dieser wird. Verbrechen auf die zusammengestellten Sondereinheiten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der serbischen Polizei zurückgeht, die am schlimmsten neten der SPD und der FDP) wüteten. Sie waren zum Teil aus amnestierten Straftätern zusammengestellt. Diese Einheiten kennen wir bereits Die NATO hat sich weiterentwickelt. Die territoriale aus anderen Auseinandersetzungen, aus den Kriegen in Verteidigung, die im Kalten Krieg für uns das Wichtigste Bosnien-Herzegowina. gewesen ist, spielt für uns heute keine so große Rolle mehr. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass es Bündnis- Das bringt mich zu dem Massaker von Srebrenica staaten gibt, die nach wie vor auf die Art.-5-Garantie zu 1995. Die dortigen Massenexekutionen – über 8 000 Män- Recht großen Wert legen. Das gilt zum Beispiel für die ner und Jungen und auch einige Frauen sind ermordet baltischen Staaten. Das gilt aber auch für die Türkei; das worden – liefen nach einem typischen Muster ab: Zuerst wird klar, wenn wir uns vor Augen führen, dass Iran, wurden die Opfer in leerstehenden Schulgebäuden und Irak und Syrien zu ihren Nachbarn gehören. Lagerhäusern interniert. Ihnen wurden Nahrung und Ge- tränke verweigert. Sie wurden in Busse und Lastwagen Zur territorialen Verteidigung sind die Dimensionen der verfrachtet und zu den Exekutionsräumen verbracht. regionalen und der globalen Sicherheit hinzugekommen. Dort hat man ihnen die Augen verbunden und die Arme 23138 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Eckart von Klaeden (A) auf dem Rücken gefesselt. Man hat den Gefangenen be- einmal betont wurde, die einzig richtige Konsequenz (C) fohlen, sich aufzureihen. Dann wurden sie erschossen. daraus, nämlich der Comprehensive Approach, der Sie fielen in die Massengräber. Diejenigen, die die Sal- Ansatz der vernetzten Sicherheit, der besagt, dass ven überlebten, wurden mit weiteren Schüssen getötet. nicht allein mit militärischen Mitteln für Frieden gesorgt Während die Exekutionen stattfanden, wurde schweres wird, sondern diese mit dem zivilen Aufbau kombiniert Erdräumgerät herangefahren, um die zum Teil noch le- werden. Ohne militärische Sicherheit ist kein ziviler benden Menschen mit Erde zu überdecken. Danach hat Aufbau möglich. Aber militärische Sicherheit wird mit- es mehrfache Umbettungen dieser Massengräber gege- tel- und langfristig nicht zu erreichen sein, wenn es die ben, um die Spuren zu verwischen. Komponente des zivilen Aufbaus nicht gibt. Beides ist untrennbar miteinander verbunden und aufeinander an- Das sind alles keine Neuigkeiten. Das alles haben wir gewiesen. gewusst, als wir uns im Jahre 1999 schweren Herzens dazu entschlossen haben, durch einen Einsatz der NATO Deswegen müssen wir auch darüber nachdenken diesem Treiben ein Ende zu setzen, und diesem Treiben – das soll mein letzter Satz sein –, wie wir auf europäi- ist ein Ende gesetzt worden. Das ist unsere Entscheidung scher Seite die Kapazitäten für diesen vernetzten Ansatz gewesen. Ihre Entscheidung ist es gewesen, dass Ihr verbessern können. Es reicht nicht, ihn zu fordern; wir heute noch amtierender Fraktionsvorsitzender am müssen unseren Forderungen und Reden auch Taten fol- 14. April gut erholt und wohl gebräunt Herrn Milosević gen lassen. Deswegen ist die Rückkehr Frankreichs in umarmt und geküsst hat. die militärische Integration der NATO so wichtig, weil der ideologische Streit zwischen einer Außen- und (Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN) Sicherheitspolitik in der EU und einer Außen- und Es ist die dritte Ebene, die globale Sicherheit, für die Sicherheitspolitik in der NATO nun endgültig der Ver- die NATO auch erforderlich ist und die unseren Einsatz gangenheit angehören kann. Wir müssen aber, wenn wir im Bündnis rechtfertigt, nämlich den Einsatz in Afgha- unseren eigenen Prinzipien folgen wollen, auch bereit nistan. Auf den einen Grund, warum dieser Einsatz für sein, auf der zivilen Seite mehr als bisher zu tun. uns wichtig ist, ist immer wieder hingewiesen worden, Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. nämlich dass Afghanistan Brutstätte, Vorbereitungsraum und sicherer Hafen für Terroristen gewesen ist und dass (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die Angriffe auf die Twin Towers und das Pentagon neten der SPD) – übrigens auch über Deutschland – in Afghanistan ihren Ursprung genommen haben. Vizepräsidentin : (B) Der zweite Aspekt, warum Afghanistan für uns wich- Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Wolfgang (D) tig ist, missfällt Ihnen besonders. Es gibt zwei Daten, die Gehrcke das Wort. für das Jahr 1989 von besonderer Bedeutung sind. Das eine ist der häufig zitierte 9. November 1989, an dem die Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Mauer gefallen ist. Ein anderes wichtiges Datum – nicht für unsere Region, aber für Afghanistan – ist der Schönen Dank, Frau Präsidentin. – Eigentlich habe 15. Februar 1989, der Tag, an dem der letzte sowjetische ich wenig Neigung, mich mit dem seltsamen Geschichts- Soldat Afghanistan über die Freundschaftsbrücke nach des Kollegen von Klaeden, das nicht besonders be- Usbekistan hat verlassen müssen. Zwischen beiden Da- gründet war, auseinanderzusetzen. ten besteht ein Zusammenhang. Da Sie aber mit diesen (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Wir beiden Ereignissen nicht einverstanden sind, wundert es nehmen es zur Kenntnis!) mich auch nicht, dass Sie sich so vehement dagegen wenden, dass wir den Fehler nicht wiederholen, der An- Wenn jemand heute immer noch nicht in der Lage ist, zu fang der 90er-Jahre gemacht worden ist, nämlich dass erkennen und hier auszusprechen, dass das Zusammen- wir uns dafür einsetzen, dass Afghanistan ein so stabiles wirken von deutscher Rüstungsindustrie und deutschem Land werden kann, dass die Taliban nicht wieder zurück Großkapital und die Verachtung von demokratischen Er- an die Macht kommen können, sondern dass Afghanis- rungenschaften letztendlich zur Nazidiktatur geführt ha- tan seinen eigenen Weg zur Demokratie auf der Grund- ben, halte ich das für rückschrittlich und wenig bemer- lage universaler Prinzipien wie Freiheit, Menschen- kenswert. rechte und Rechtsstaatlichkeit finden kann. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Winkelmeier [fraktionslos]) neten der SPD) Ich wollte aber an Sie appellieren, ein Stückchen An- Uns ist klar, dass in den nächsten Jahren der Einsatz stand auch gegenüber Kollegen, die anderer Auffassung zur Verhinderung von Failing States – davon ist gespro- sind, nicht zu verlieren. Mein Kollege Gysi ist nach Bel- chen worden –, aber auch der Einsatz zur Stabilisierung grad zu dem Gespräch mit Milosevic gefahren, um ihm von Failing oder Failed States, also gescheiterten bzw. deutlich zu machen: Wenn man den Druck auf die Alba- scheiternden Staaten, ein wesentlicher Teil unserer ner im Kosovo aufrechterhält, wird es zum Krieg kom- Sicherheitsvorsorge bleiben wird. Wenn diese Erkennt- men. Wenn die Gräueltaten nicht gestoppt werden, wird nis richtig ist, dann ist das, was von der Koalition vorge- der Krieg die Antwort sein. – Gysi ist nicht hingefahren, schlagen wird und von der Bundeskanzlerin hier noch um sich mit Milosevic zu umarmen, sondern um ihm zu Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23139

Wolfgang Gehrcke (A) sagen: Wer die UNO nicht holt, wird die NATO erhal- verübt worden sind, von Ihnen und Ihnen nahe stehen- (C) ten. – Ich finde, das verdient Respekt, den Presseorganen nach wie vor verschwiegen, vernied- licht oder heruntergespielt werden. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Wer hat denn die UCK verniedlicht?) weil es eine andere Position war, als einen Krieg vom Zaun zu brechen. Diesen Respekt sollte man bei aller un- Genauso wie es eine Gemeinschaft der Demokraten gibt, terschiedlichen Auffassung auch hier nicht verlieren. gibt es in dieser Frage eine Übereinstimmung der Extre- Man kann das für falsch halten und muss diese Position misten; diese Haltung ist exakt die, die auch von NPD nicht teilen. Ich fand jeden Versuch, den Frieden dort zu und DVU vertreten wird. retten und zu bewahren, richtig. Man sollte auf jeden Fall unterstellen, dass es in vernünftiger und lauterer Ab- (Beifall bei der CDU/CSU) sicht geschehen ist. Wenn nicht in dieser Art und Weise miteinander gesprochen wird, dann werden auch die Vizepräsidentin Petra Pau: Kalter-Krieg-Reden, die hier gehalten werden, nicht Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der enden. Ich fand, Sie haben hier eine Kalter-Krieg-Rede Kollege Alexander Bonde das Wort. gehalten, die uns überhaupt nicht voranbringt. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Winkelmeier [fraktionslos]) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Angesichts des Treffens der Regierungschefs sowie der Außen- und Verteidigungsminister der NATO-Staaten Vizepräsidentin Petra Pau: nächste Woche im Badischen muss man sich entschei- Das Wort hat der Kollege Eckart von Klaeden. den, ob man ein Klassentreffen zum 60-jährigen Jubi- läum inszenieren will oder ob man die Frage aufwerfen Eckart von Klaeden (CDU/CSU): will: Welche Rolle hat zukünftig die NATO, und mit Herr Kollege Gehrcke, ich stelle bemerkenswerte welchem strategischen Ansatz reagiert das Bündnis auf Parallelen fest. Der erste Punkt: Unsere Analysen des- eine völlig veränderte Welt? sen, was zum Zweiten Weltkrieg geführt hat, verlaufen in der Tat diametral. Wir werden über die Ursachen si- Die Kanzlerin hat keine Antwort auf die Frage gelie- cherlich im Laufe des Jahres noch sprechen; es gibt ja fert, wohin es mit der NATO gehen soll. Sie hat vor al- das eine oder andere Jubiläum, bei dem man darauf noch lem erneut keine Taten angekündigt und auch nicht signalisiert, was die deutsch-französischen Gastgeber zu (B) wird hinweisen können. Ein Gedenktag wird sicherlich (D) der 70. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes sein, den man tun gedenken, um einen Anstoß in Richtung einer neuen aus guten Gründen als das Manifest des Antieuropa be- Strategie zu geben. Frau Merkel, sowenig Moderieren zeichnen kann. Die Sowjetunion ist zu Beginn des Zwei- und Reden hilft, ein Land zu regieren – wir erleben auch ten Weltkriegs einer der wichtigsten Verbündeten Nazi- in anderen Bereichen, dass Sie nicht handeln –, so wenig deutschlands gewesen. wird die NATO es schaffen, ihre neue Rolle zu finden, wenn man den anstehenden Gipfel auf Galadiners und (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Deshalb ist ein Unterhaltungsprogramm der Weltklasse reduziert, sie auch überfallen worden!) wie es von der Bundesregierung in Baden-Baden insze- Vielleicht sprechen wir dann auch über die Frage, wer niert wird. das heute noch leugnet oder in diesem Punkt die Ge- Auch in Sachen Afghanistan müssen Sie zeigen, ob schichte verklärt. Ihre Ankündigungen etwas wert sind. Sie haben erneut (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: bekannt, wie wichtig der Aufbau ist, und haben eingefor- Ausweichmanöver!) dert, das Bündnis müsse mehr tun. Ich sage Ihnen, wes- halb Ihnen eine solche Argumentation ohne entspre- Das gilt auch für den zweiten Punkt, den Sie ange- chende Taten auf die Füße fällt. Sie setzen beim NATO- sprochen haben. Sie haben wenigstens nicht infrage ge- Gipfel 15 000 Polizisten aus den Ländern und über 6 000 stellt, dass Herr Gysi Herrn Milosevic umarmt und Bundespolizisten ein. In anderthalb Tagen werden allein geküsst hat; davon gibt es auch entsprechende Filmauf- auf deutscher Seite mehr Stunden Polizeiarbeit abgeleis- nahmen. tet, als Deutschland 2008 für die Polizeiausbildung in Afghanistan aufgewendet hat. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ein Niveau!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aber Sie hätten auch sagen können, dass Sie mit Ihren Das ist eine Glaubwürdigkeitslücke, die durch die Kluft Initiativen in Wirklichkeit versucht haben, jeden ernst- zwischen Reden und Handeln der Bundesregierung ent- haften Verhandlungsansatz, steht. Addiert man die Kosten für diesen Gipfel, so kommt man nahe an den Betrag heran, den Deutschland (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Das ist infam!) in einem Jahr für den zivilen Wiederaufbau in Afghanis- um den wir uns wirklich bis zuletzt bemüht haben, zu tan ausgibt. Auch da tut sich eine Glaubwürdigkeitslü- unterlaufen. Ein guter Beleg dafür ist die Tatsache, dass cke auf. Eine schöne Sonntagsrede hier ist eben kein die Massaker, die Verbrechen, die von serbischer Seite Beitrag zum Wiederaufbau in Afghanistan. 23140 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Alexander Bonde (A) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- kräfte als einen europäischen Pfeiler innerhalb des (C) SES 90/DIE GRÜNEN) Bündnisses gibt. Das Fatale ist, dass Sie auf einen Gipfel der Symbole (Beifall bei der SPD) setzen. Das Bekenntnis zur deutsch-französischen Freundschaft, das hier ausgedrückt werden soll, zeigt Innerhalb der NATO wird aber natürlich aufzuneh- sich vor Ort dadurch, dass die Grenze zum ersten Mal men sein, wie sich die Welt seit 1999 verändert hat. Ich seit Jahrzehnten geschlossen ist. Es zeigt sich dadurch, glaube, es ist gut, dass der Außenminister einen Vor- dass Sie für einen zehnminütigen Fototermin auf einer schlag für ein abgestuftes Diskussionsverfahren gemacht Brücke über dem Rhein die Stadt Kehl zwei Tage lang hat. Wir müssen bei der Weiterentwicklung der Strategie zu einer Sicherheitszone machen und 700 Menschen un- den Zeitdruck herausnehmen; denn unsere Partner im ter Hausarrest stellen. Diese Symbole sind eben nicht Osten brauchen ein bisschen mehr Zeit. Wir brauchen Ausdruck der deutsch-französischen Freundschaft, Raum für Diskussionen mit ihnen, ganz besonders nach den Ereignissen in Georgien. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir müssen im Hinblick auf die Strategiedebatte sondern sie zeigen, wie weit Berlin vom Schwarzwald aufpassen, dass nicht alle neuen Herausforderungen, die entfernt ist und wie wenig Ahnung Sie davon haben, was in der Welt sichtbar werden, quasi automatisch innerhalb deutsch-französische Freundschaft vor Ort konkret be- der neuen NATO-Strategie bewältigt werden. Die Kunst deutet. Weder Abiturienten, die in Turnhallen ihr Abitur wird vielmehr in der Beschränkung liegen. Dies gilt vor schreiben müssen, noch zwei Tage lang gesperrte Auto- allen Dingen für die Frage der Reichweite der NATO. bahnen und Bundesstraßen von 45 Kilometer Länge Die NATO hat derzeit in der Welt einzigartige Fähigkei- oder Menschen unter Hausarrest sind ein Symbol für ten. Daraus dürfen wir aber nicht ableiten, dass wir am Freiheit und Sicherheit. Sie sind vielmehr Ergebnisse ei- Ende die Einzigen sein können und sollen, die die Pro- ner auf Prestige gerichteten Planung der Bundesregie- bleme der Welt lösen. Wir müssen mit dafür sorgen, dass rung, die lieber Pomp an drei unterschiedlichen Orten in- die NATO die Gründung anderer regionaler Sicherheits- szeniert, anstatt die Strategiedebatte in der NATO bündnisse durch ihre Kraft nicht verhindert, sondern tatsächlich anzugehen. Das ist das eigentliche Versagen dass diese durch die Expertise und die Fähigkeiten der der Bundesregierung in der Außen- und Sicherheitspoli- NATO im logistisch-operativen Bereich gestärkt werden. tik. Dies ist ein Grund, sich bei den Bürgerinnen und So könnte die Richtung der NATO aussehen. Bürgern zu entschuldigen, aber kein Grund, sich in Lob- hudeleien zu ergehen. Bei all dem bleibt es aber dabei, dass Art. 5 des NATO-Vertrages die Strahlkraft der NATO ausmacht; (B) Herzlichen Dank. dabei wird es bleiben. Dies sind die Ernsthaftigkeit und (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Glaubwürdigkeit der Abschreckung; ich verwende sowie bei Abgeordneten der LINKEN) diesen Begriff ganz bewusst. Am Ende wird dies dafür sorgen, dass wir in der Lage sind, wichtige Schritte zur Rüstungskontrolle zu machen. Dann kann mit den Part- Vizepräsidentin Petra Pau: nern an den Rändern des Bündnisses gesprochen wer- Das Wort hat der Kollege Rainer Arnold für die SPD- den. Im Rahmen der Glaubwürdigkeit der Abschreckung Fraktion. kann man dann auch verstehen, dass Russland ein Si- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) cherheitspartner in Europa sein muss, der eine enge An- bindung und Kooperation braucht. Rainer Arnold (SPD): Ein einziges Mal in den letzten 60 Jahren wurde Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Art. 5 als Beistandsverpflichtung und als Verpflichtung Der anstehende Gipfel der NATO, Herr Kollege Bonde, zur Solidarität in Anspruch genommen. Im Zusammen- ist mehr als eine Familienfeier zum 60-jährigen Jubi- hang mit Afghanistan ist zunächst die Frage erlaubt: Gilt läum. dies unbeschränkt, oder muss man nach acht Jahren nicht auch fragen, wann andere Mechanismen den Bei- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ja, allerdings!) standsmechanismus ersetzen? Damit meine ich nicht, Der Gipfel stellt wichtige Weichen für die Zukunft des dass wir den Einsatz in Afghanistan beenden. Das ist Bündnisses, indem neue Mitglieder aufgenommen wer- keine billige Erklärung, wie es die Linken heute getan den und Frankreich in die integrierten Kommandostruk- haben. turen zurückkehrt. Herr Lafontaine, Ihre Rede beruhte nicht nur auf der Herr Kollege Trittin, in der Rückkehr Frankreichs in Unwahrheit, sondern war auch billig. Sie löste die billige die NATO liegt eine Chance, dass der Interessenkonflikt, Theaterinszenierung auf Ihren hinteren Reihen aus. Un- der darin besteht, die europäische Sicherheits- und Ver- ter diesen Fahnen hier werden sich in Baden-Baden eine teidigungspolitik als Konkurrenz zur NATO zu sehen, Menge vernünftiger Menschen versammeln. Diejenigen, eine Diskussion ist, die der Vergangenheit angehört. die für eine friedliche Welt auf die Straße gehen, haben Auch unsere osteuropäischen Partner werden erkennen: im Übrigen auch in meiner Partei Platz. Sie beleidigen Die Säule der europäischen Fähigkeiten stärkt die mit dieser billigen Argumentation zumindest einen Teil NATO. Ich möchte nicht von der Vision ablassen, dass der Menschen, die sich auf der Straße für eine friedliche es eines Tages sehr eng verzahnte europäische Streit- Welt einsetzen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23141

Rainer Arnold (A) Ich begründe dies in zwei Bereichen. Sie rühren alles (Beifall des Abg. Jürgen Trittin [BÜND- (C) zusammen. Bei diesem Zusammenrühren verschweigen NIS 90/DIE GRÜNEN]) Sie glatt, dass die NATO nie im Mittleren Osten einen Krieg geführt hat. Der Einsatz im Irak war eine amerika- Die Ereignisse in der letzten Woche, als es in Kunduz ei- nische Aktion mit freiwilligen Partnern. Sie wissen sehr nen amerikanischen Einsatz gab, sind dem Parlament zu wohl, dass eine sozialdemokratisch geführte Bundesre- berichten. Wir sind froh, dass die Bundesregierung dies gierung diesem Druck konsequent widerstanden hat. Der für morgen Vormittag angekündigt hat. Aber auch ohne Einsatz der NATO in Afghanistan – da nehmen Sie es heute die Details zu kennen, möchte ich sagen: Es kann mit der Wahrheit überhaupt nicht ernst; der NATO-Ein- nicht angehen, dass im deutschen Verantwortungsbe- satz umfasst nur ISAF – ist zu hundert Prozent durch zig reich zwei militärische Operationen parallel arbeiten und Resolutionen der Vereinten Nationen klar mandatiert. die deutsche Führung im Norden unter der ISAF nicht Was wollen Sie eigentlich mehr? Nein, Sie wollen die korrekt informiert und einbezogen wird. Das sagen wir Menschen täuschen; das ist das eigentliche Problem. auch den amerikanischen Partnern; das ist richtig und notwendig. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der DIE GRÜNEN) CDU/CSU und der FDP) Es ist gut, dass sich der NATO-Gipfel sehr intensiv Vizepräsidentin Petra Pau: mit Afghanistan auseinandersetzt. Wir müssen aber auf- Kollege Arnold, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit. passen, dass die neue Strategie, über die zwangsläufig gesprochen werden wird, weil es eine neue Regierung in Rainer Arnold (SPD): Amerika gibt, durchaus kritisch hinterfragt wird. Ich Ich komme zum Ende. wäre schon froh, wenn statt des Führens immer neuer strategischer Debatten in Afghanistan endlich konse- Lassen Sie mich zum Schluss einen Satz anmerken. quent das umgesetzt würde, was wir gemeinsam mit der Manche meinen, Afghanistan sei der NATO unglaublich Mehrheit in diesem Haus als richtig erkannt haben. Das wichtig. Natürlich ist der Einsatz in Afghanistan im Au- ist für mich der entscheidende Schritt. Dieser vernetzte genblick die wichtigste Aufgabe der NATO. Wir sind Ansatz, von dem alle reden, muss mehr sein als ein poli- aber nicht wegen der NATO und ihrer Erfolge in Afgha- tisches Postulat; er ist operativ notwendig. nistan. Wir bleiben der Menschen wegen in Afghanistan, die auf eine gute Zukunft setzen. Immerhin 90 Prozent (Beifall bei Abgeordneten des BÜND- wollen eine Zukunft ohne Taliban. Wir bleiben auch in (B) NISSES 90/DIE GRÜNEN) Afghanistan, weil es unseren Sicherheitsinteressen ent- (D) spricht, keinen Rückzugsraum für den internationalen Dazu muss man in Kabul die NATO und die Vereinten Terrorismus zuzulassen. Ich mag mir gar nicht ausma- Nationen enger verzahnen. Dazu muss jeder Helfer, auch len, was passieren würde, wenn Afghanistan zerfallen die deutschen Helfer in Kunduz und in Faizabad, die würde – Bundeswehr als ein Knoten in diesem Netz verstehen und akzeptieren. Ich fürchte, auch wir haben bis dorthin noch einen weiten Weg zurückzulegen. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Arnold, Sie müssen bitte zum Schluss kom- Es ist richtig, in Afghanistan statt auf die zentrale Re- men. gierung viel stärker auf die regionalen und gewachsenen Strukturen, die Jirgas, als Teil der Zivilgesellschaft zu Rainer Arnold (SPD): setzen und deren Rat in afghanisches Regierungshandeln – und aus einem zerfallenen Afghanistan heraus ver- einzubinden. Das ist im Übrigen die einzige Chance, das sucht würde, Pakistan zu destabilisieren. dortige Regierungshandeln auf Dauer zu verbessern. Auch die Korruption kann nur durch die Kontrollmecha- Herzlichen Dank für Ihre Geduld. nismen der Zivilgesellschaft bekämpft werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Jürgen der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) GRÜNEN) Wir müssen nicht zuletzt – ich könnte noch viele Bei- Vizepräsidentin Petra Pau: spiele nennen – die Einladung der amerikanischen Part- Das Wort hat der Kollege Dr. für die ner ernst nehmen – das hat der amerikanische Vizepräsi- Unionsfraktion. dent in München gesagt – und ihnen auch sagen, was wir nicht für richtig halten. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall des Abg. Jerzy Montag [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]) Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Inkaufnahme von viel zu vielen zivilen Opfern ist 60 Jahre NATO, das heißt: 60 Jahre erfolgreiches Wir- für den Einsatz, den Auftrag und die Menschen in Af- ken und Handeln für Frieden und Sicherheit in der Welt. ghanistan mehr als kontraproduktiv. Dafür steht das Bündnis heute und in Zukunft. Ich danke 23142 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (A) unseren Soldatinnen und Soldaten, die in diesem Geiste wirklich erfolgreich zu sein, müssen wir unsere Strategie (C) weltweit ihren Dienst leisten. optimieren. Wir müssen mehr mit den Stammesältesten vor Ort, mit den Verantwortlichen in den Provinzen re- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den. Wir müssen mit ihnen sprechen und ihr Vertrauen neten der SPD und der FDP) gewinnen. Sie müssen spüren, dass wir sie, die gemäßig- Am 4. April 2009 feiert die NATO ihren 60. Geburts- ten Kräfte, respektieren. tag. Sie hat allen Grund, stolz darauf zu sein. Sechs Jahr- Worin liegen die Herausforderungen für die NATO? zehnte sind ein erstaunliches Alter für ein Bündnis sou- Was erwarte ich vom NATO-Gipfel? veräner Nationalstaaten, erst recht für ein Bündnis sou- veräner Nationalstaaten von zwei Kontinenten. Als der Erstens erwarte ich eine Deklaration zur atlantischen Nordatlantikvertrag am 4. April 1949 unterzeichnet wur- Sicherheit. de, sagten nicht wenige der NATO nur eine kurze Le- Zweitens brauchen wir ein klares Mandat für ein bensdauer voraus. Diese Skeptiker haben sich geirrt. neues strategisches Konzept. Es ist Zeit, das Bündnis an Herr Lafontaine, die NATO lebt. Sie ist lebendiger denn die neuen, globalen Veränderungen anzupassen. Die Bei- je; und das ist wirklich gut so. standsverpflichtung aus Art. 5 muss weiterhin das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Kernstück des Bündnisses sein: Jeder für den anderen. – neten der SPD) Der vernetzte Sicherheitsbegriff muss von allen NATO- Staaten aufgenommen und umgesetzt werden. Die NATO ist heute das einzige funktionierende Si- cherheitsbündnis weltweit. Sie war notwendig, als sie Wir brauchen drittens die Weiterentwicklung der Eu- gegründet wurde, sie ist in den letzten sechs Jahrzehnten ropäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, nicht immer wichtiger geworden, und sie wird auch in Zu- als Konkurrenz zur NATO, sondern als intelligente Form kunft für die Sicherheit und den Frieden unentbehrlich der Kooperation mit der NATO. sein. Viertens, zur NATO-Erweiterung: Die Tür muss of- Der anstehende Jubiläumsgipfel ist von besonderer fen bleiben. Klar muss aber auch sein, dass nur die Mit- Bedeutung. Zwei neue Mitgliedstaaten, Albanien und gliedstaaten der NATO entscheiden, wer neues Mitglied Kroatien, werden in das Bündnis aufgenommen. Nach werden darf. Eine Mitsprache Dritter oder gar ein Veto- 43 Jahren kehrt Frankreich in die integrierte Militär- recht lehne ich kategorisch ab, Herr Putin. struktur der NATO zurück – ein Gewinn für die Allianz, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ein Gewinn für uns alle. Zum ersten Mal seit seinem Amtsantritt am 20. Januar wird der neue amerikanische Wir suchen eine verstärkte Zusammenarbeit mit Staaten, (B) Präsident, Barack Obama, nach Europa reisen. Obama die unsere Werte teilen, zum Beispiel mit Australien, (D) steht für Aufbruch, für Dialog, für Wandel und für die Neuseeland und Japan. Erkenntnis, dass kein Land, nicht einmal die USA, die Ich denke insbesondere an das Thema Energiesicher- sicherheitspolitischen Herausforderungen alleine meis- heit. Wir müssen energiepolitisch unabhängig werden, tern kann. Der Jubiläumsgipfel ist daher ein guter Zeit- damit kein Druck auf uns ausgeübt werden kann. Ganz punkt, um den Blick nach vorne zu richten. aktuell: Putin schleudert gerade wieder seine Blitze ge- Wir stehen heute vor einer ganzen Reihe neuer He- gen die Europäische Union, weil sie die Gaspipeline in rausforderungen und Gefahren, Gefahren, die nicht an der Ukraine modernisieren will. Meine Damen und Her- den Grenzen von Staaten haltmachen, sondern die ganze ren, mag er im fernen Kreml ruhig grummeln. Aber be- drohen und erpressen können soll er uns nicht. Davor Welt bedrohen: internationaler Terrorismus, Weiterver- müssen wir uns schützen. breitung von Massenvernichtungswaffen, Failed States – gescheiterte Staaten –, Cyberwar, Energieknappheit, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Klimawandel und Trinkwasserknappheit. Diesen He- rausforderungen muss sich die NATO stellen. Wir brauchen eine gemeinsame Energiepolitik von EU und NATO. Entscheidend für die Stärke und Glaubwürdigkeit des Bündnisses ist der gemeinsame Kampf gegen den inter- Natürlich brauchen wir Russland, um Krisen und si- cherheitspolitische Herausforderungen in der Welt be- nationalen Terrorismus. Ausgangspunkt war der wältigen zu können. Aber bei aller Gesprächsbereit- 11. September 2001, war Afghanistan. Dort wurden die schaft müssen wir Russland immer die roten Linien Terroristen in Camps ausgebildet. Von Afghanistan darf aufzeigen, die es nicht ohne Konsequenzen überschrei- nie wieder Terror ausgehen, der uns, unsere Städte und ten darf. Von dort muss Vertrauen aufgebaut werden. Gemeinden, erreicht. Deshalb ist ein Scheitern keine Op- tion. Die NATO steht vor großen Herausforderungen. Ich bin davon überzeugt, dass wir sie gemeinsam meistern (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und werden – ganz im Sinne von Immanuel Kant, der einmal der SPD) gesagt hat: Friede muss gestiftet werden, er kommt nicht Wir müssen mehr tun, um diese Mission zum Erfolg von allein. zu führen. Wir brauchen einen vernetzten Sicherheitsan- Ich danke. satz, militärische Macht kombiniert mit zivilem Wieder- aufbau, was Bundesverteidigungsminister Franz Josef (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Jung immer wieder fordert und zu Recht anmahnt. Um neten der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23143

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: Konzentration und Beschränkung auf Dinge, die man (C) Das Wort hat der Kollege Dr. Rolf Mützenich für die auch schafft, und nicht auf alles, was man sich wünscht; SPD-Fraktion. zweitens keine Überforderung oder einen Sicherheits- verlust durch neue Mitglieder; drittens aus meiner Sicht (Beifall bei der SPD) insbesondere den Ausbau und die Vertiefung mit ande- ren Institutionen und eine tatsächliche Partnerschaft mit Dr. Rolf Mützenich (SPD): Russland. Deswegen begrüße ich, dass die Bundeskanz- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und lerin hier angekündigt hat, mit Präsident Medwedew Kollegen! Am Ende einer solchen Debatte sollten wir über seinen Vorschlag einer neuen Sicherheit insbeson- uns noch einmal vier Jahre zurückerinnern. Seinerzeit dere von Wladiwostok bis Vancouver zu sprechen. Dies haben wir auch eine Debatte über die NATO in Deutsch- hat natürlich seine unmittelbare Bedeutung für Europa. land geführt, nachdem der damalige Verteidigungsminis- Es wäre ein großer Sicherheitsgewinn, wenn wir uns an ter Struck im Auftrag des Bundeskanzlers eine Rede auf dieser Debatte beteiligten. Wir vonseiten der Sozialde- der Sicherheitskonferenz in München gehalten hatte. mokratie sind dazu bereit. Damals hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder gefor- dert, die NATO wieder zu einem Ort der politischen De- (Beifall bei der SPD) batte zu machen. An dieser Stelle erinnere ich – Ent- Die vierte Bedingung für die Gestaltung der Zukunft schuldigung, Herr Kollege Schäuble – an ein Zitat von der NATO ist die Frage von Abrüstung und Rüstungs- Ihnen: kontrolle. Hier gebe ich Ihnen recht, Herr Kollege Wir brauchen keine Debatte über die NATO. Das Westerwelle. Dies ist aber nicht Ihre Erfindung. Viel- Bündnis ist intakt. mehr hat der Außenminister in den letzten vier Jahren al- les dafür unternommen, dass Abrüstung und Rüstungs- Es wäre gut gewesen, wenn wir uns damals die politi- kontrolle wieder ein Thema der NATO werden. Das ist sche Debatte über die Zukunft der NATO geleistet hät- ein wichtiger Bestandteil. Man kann nicht davon ausge- ten. hen, dass wir die Verträge sozusagen von einer Woche (Beifall bei der SPD) auf die andere abschließen könnten. Es ist aber auch in Teilen der anderen Fraktionen nicht unumstritten gewe- Dann hätten wir nämlich in der nächsten Woche eine sen, dass Abrüstung und Rüstungskontrolle in das gute Voraussetzung für „60 Jahre NATO“. Schlussdokument von Bukarest gekommen sind. Das Es war gut, dass die Bundeskanzlerin am Ende ihrer war wichtig. Sie, Herr Außenminister, haben dies zu- heutigen Rede gesagt hat, dass wir keine globale NATO sammen mit dem norwegischen Außenminister ge- (B) brauchen. Auch diese Debatte haben wir in Deutschland schafft. (D) einmal anders geführt. Es ist richtig, dass wir uns auf die Kernelemente des Verteidigungsbündnisses beschrän- (Beifall bei der SPD) ken. Dass die globale NATO nicht mehr zur Diskussion In diesem Zusammenhang erinnere ich an die steht, begrüßt meine Fraktion. – So weit meine erste Be- nukleare Abrüstung, die zuerst zwischen den USA und merkung. Russland erarbeitet oder gleichsam erkämpft werden (Beifall bei der SPD) muss. Den größten Applaus hat der damalige Präsident- schaftskandidat Obama hier in Berlin von den Deutschen Eine zweite Bemerkung richte ich an den Kollegen bekommen, als er sich dazu bekannte, für eine nuklear- Lafontaine. Man kann das eine oder andere immer wie- waffenfreie Welt einzutreten. Er weiß, dass das nicht von der infrage stellen und vernebeln und auch irgendeine heute auf morgen gelingen wird. Aber das war genau der historische Leistung für sich selbst reklamieren, ohne sie Satz, auf den Europa gewartet hat. Deswegen sollten wir, erbracht zu haben. Unabhängig davon glaube ich, dass es sollte die Bundesregierung ihn auf jeden Fall bei diesem sinnvoll wäre, wenn auch Sie sich einer Debatte stellten, Vorhaben unterstützen. die in den Vereinten Nationen nach einer schwierigen Diskussion zu dem Abschluss gekommen ist, dass es (Beifall bei der SPD) auch die Völkergemeinschaft auf der Grundlage der Er- fahrungen in Jugoslawien – vor allem im Kosovo – und Gleichzeitig sage ich: Wenn wir diese Debatte auf- insbesondere in Ruanda und anderswo, jetzt im Sudan, nehmen, müssen wir auch mit anderen Ländern, die über für legitim hält, im Rahmen solcher Völkerrechtsverlet- Kernwaffen verfügen, darüber sprechen. Eine ehrliche zungen zum Instrument der humanitären Intervention Debatte ist zum Beispiel mit Frankreich und Großbritan- zu greifen. Das ist ganz ohne Frage keine Ultima Ratio. nien erforderlich. Aber ich würde mich freuen, wenn Sie wenigstens zur (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Kenntnis nähmen, dass die Völkergemeinschaft dies dis- Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kutiert. NEN]) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie stehen vor einer umfassenden Modernisierung ihres DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Atomwaffenarsenals. Es ist zwar nicht groß; aber da- CDU/CSU) durch sind sie in die nukleare Abschreckung eingebun- Drittens bedarf es vier Bedingungen, die für eine Zu- den. Deswegen ist es an der Zeit, dass auch diese Regie- kunft der NATO beachtet werden sollten: erstens eine rungen ihr Vorgehen überdenken. 23144 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Dr. Rolf Mützenich (A) Es wäre gut, auch über die Frage des nuklearen Erst- beim Afghanistanengagement vor dem NATO-Gipfel in (C) einsatzes zu sprechen. Das hat in dieser Debatte noch Kehl/Straßburg beginnen“. Wer stimmt für diesen An- keine Rolle gespielt. Aber wenn wir den Atomwaffen- trag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der sperrvertrag ernst nehmen, müssen wir in der NATO Antrag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der auch über die Frage des Ersteinsatzes diskutieren. SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Grünen abgelehnt. Abg. Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Der vierte Punkt – hier stehen wir vor einer großen Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12322 Herausforderung – betrifft die Frage, wie wir mit der mit dem Titel „NATO-Gipfel für eine strategische Neu- Raketenabwehr umgehen. Ich will jetzt gar nicht auf ausrichtung nutzen – Neue Schritte zur Abrüstung und die mögliche US-amerikanische Raketenabwehr in für gemeinsame Sicherheit einleiten“. Wer stimmt für Polen und Tschechien eingehen. Wir haben in Bukarest diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält verabredet, dass die NATO eine Raketenabwehr auf- sich? – Auch dieser Antrag ist abgelehnt. bauen soll; wir sind zumindest auf einem guten Weg Tagesordnungspunkt 3 e. Abstimmung über den An- dorthin. Ich glaube, es wäre klug, mit Russland über die- trag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/12433 mit ses Thema zu sprechen, weil Russland und die NATO dem Titel „60 Jahre NATO – Deutschland muss sich in gleiche Interessen haben, auf diese Herausforderungen Diskussion über die Zukunft der NATO konstruktiv ein- zu reagieren. bringen“. Zum Schluss möchte ich Ihnen, Herr Außenminister, Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage- danken. Sie haben eine Initiative unternommen, den gen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist abgelehnt. KSE-Vertrag zu retten. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei diesen Bemühungen, insbesondere auf der Konfe- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf: renz im Juni dieses Jahres. Wenn Sie es für notwendig a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- halten, hier über den AKSE-Vertrag zu sprechen und regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes dem Parlament diesen Vertrag möglicherweise noch zur zur Bekämpfung unerlaubter Telefonwer- Beschlussfassung zuzuleiten, dann sind wir von der bung und zur Verbesserung des Verbraucher- SPD-Fraktion dazu bereit, dies mitzutragen. schutzes bei besonderen Vertriebsformen Ganz herzlichen Dank. – Drucksache 16/10734 – (B) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Guido (D) Westerwelle [FDP]) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- schusses (6. Ausschuss) Vizepräsidentin Petra Pau: – Drucksache 16/12406 – Ich schließe die Aussprache. Berichterstattung: Wir kommen zur Abstimmung über den Ent- Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb schließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Druck- Dirk Manzewski sache 16/12424. Wer stimmt für diesen Entschließungs- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Wolfgang Nešković Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Jerzy Montag Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt. richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Michael Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti- Goldmann, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke Mechthild Dyckmans, weiterer Abgeordneter und mit dem Titel „Keine NATO-Erweiterung – Sicherheit der Fraktion der FDP und Stabilität mit und nicht gegen Russland“. Der Aus- schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Verbraucherschutz beim Telefonmarketing Drucksache 16/11971, den Antrag der Fraktion Die verbessern – Call-Center erhalten Linke auf Drucksache 16/11247 abzulehnen. Wer stimmt – Drucksachen 16/8544, 16/12406 – für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage- gen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist Berichterstattung: mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Dirk Manzewski Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Grünen angenommen. Jerzy Montag Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12113 richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu mit dem Titel „Überprüfung und Korrektur der Strategie dem Antrag der Abgeordneten Bärbel Höhn, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23145

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Jerzy Montag, Ulrike Höfken, weiterer Abgeord- Widerrufsfrist mehr gibt; das ist eine Zahl, die man im (C) neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kopf haben sollte. Man sollte wissen: Innerhalb von NEN 14 Tagen kann man grundsätzlich jeden Vertrag, der am Telefon oder über das Internet geschlossen wurde, ohne Verbot von Telefonwerbung zum Schutz der jegliche Angabe von Gründen widerrufen. Verbraucherinnen und Verbraucher wirksam durchsetzen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP) – Drucksachen 16/4156, 16/6059 – Aufgrund der Vielzahl der Anrufe zur Umstellung bei Berichterstattung: der Telekommunikation wollen wir darüber hinaus eine Abgeordnete Dr. Günter Krings Regelung in das BGB einfügen, die besagt, dass man bei Dirk Manzewski allen Anbieterwechseln, die eine Umstellung im Hinter- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger grund voraussetzen, im Vorhinein eine schriftliche Wolfgang Nešković Kündigung vorlegen muss, dass man bereit ist, den An- Jerzy Montag bieter zu wechseln. Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke sowie ein Wie sich gerade herausgestellt hat, war es vernünftig, Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- dass wir den Geltungsbereich dieser Regelung nicht auf nen vor. die Telekommunikation beschränkt haben. In den letzten Tagen und Wochen haben mir Verbraucherverbände ge- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die sagt, dass in letzter Zeit häufig Anrufe von Stromanbie- Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu kei- tern zu verzeichnen seien, in denen die Verbraucher um nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. einen Anbieterwechsel gebeten würden. Mit anderen Worten: Es ist vernünftig, die generelle Regelung in das Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes- BGB aufzunehmen: Immer dann, wenn im Hintergrund ministerin der Justiz, Brigitte Zypries. umgeschaltet wird und der Verbraucher nichts davon (Beifall bei der SPD) merkt, muss für den Anbieterwechsel eine schriftliche Kündigung vorgelegt werden. Diese Regelung gilt für Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: alle Dauerschuldverhältnisse, etwa bei Telefon, Strom, Gas und Wasser. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- gen! Heute ist – davon bin ich sehr überzeugt – ein guter Wir flankieren diese Regelungen durch eine Ver- (B) Tag für die deutschen Verbraucherinnen und Verbrau- pflichtung zur ausdrücklichen Einwilligung des Ver- (D) cher. brauchers in Anrufe. Wer dagegen verstößt, muss bis zu 50 000 Euro Bußgeld zahlen. Außerdem dürfen Ruf- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie nummern künftig nicht mehr unterdrückt werden. der Abg. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Endlich schaffen wir es, den lästigen, unerlaubten Tele- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE fonanrufen wirksame Regeln entgegenzusetzen. Ich bin GRÜNEN) ganz zuversichtlich, dass die Anzahl der unerlaubten Te- All diese Maßnahmen schützen den seriösen Kauf- lefonanrufe signifikant, also deutlich, zurückgehen wird. mann und den seriösen Geschäftsverkehr. Denn klar ist: (Beifall des Abg. Dr. Carl-Christian Dressel Wir wollen die Möglichkeit, am Telefon Geschäfte abzu- [SPD]) schließen, nicht verunmöglichen; das ist nicht unser Ziel. Ich würde nicht so weit gehen, zu sagen, dass solche An- (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: rufe nie mehr vorkommen – das wäre Blödsinn; denn das Ja! So ist es!) kann niemand versprechen –, aber ihre Zahl wird erheb- Wir wollen, dass sinnvolle Möglichkeiten dieses Me- lich zurückgehen. diums im Interesse der Verbraucher, gerade der älteren Mit unserem Gesetzentwurf setzen wir dort an, wo es Verbraucher, erhalten bleiben. Beispielsweise sollen sie in der Praxis die meisten Probleme gab: bei Wett- und auch weiterhin bei Bofrost anrufen und Tiefkühlkost be- Lotteriedienstleistungen, bei Zeitungen und Zeitschrif- stellen können. ten sowie bei Dienstleistungen im Telekommunikations- (Dirk Manzewski [SPD]: Keine Werbung, sektor. Künftig gibt es bei Verträgen über Wett- und bitte! – Julia Klöckner [CDU/CSU]: Sagen Sie Lotteriedienstleistungen und über die Lieferung von Zei- es doch ganz allgemein! Die Leute können tungen und Zeitschriften, die am Telefon geschlossen weiterhin Pizza bestellen! Oder Wein!) werden, ein Widerrufsrecht. Weil am Telefon keine Be- lehrung möglich ist, kann ein solcher Vertrag in Zukunft – Keine Schleichwerbung, okay. Ja, das gilt auch für innerhalb eines Monats widerrufen werden. Pizza. Auf alle Fälle können sich die Verbraucherinnen und (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Und sie können Verbraucher merken, dass es in Deutschland in den ge- nach wie vor den Eismann anrufen! – Heiter- nannten Bereichen keine Ausnahme von der 14-tägigen keit bei der CDU/CSU und der FDP) 23146 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) – Ja, das gilt auch für den Eismann. – Das alles hat bis- gelungen, die gelernt sind und sich in allen Fällen be- (C) her funktioniert, und das soll auch weiterhin funktionie- währt haben. Die Monita bei der Telefonwerbung gab es ren. nur in jenen Geschäftsgebieten, in denen es diese Wider- rufsfrist nicht gab. Ich bin sehr zuversichtlich, dass das Ich bin sehr froh, dass sich dieses Hohe Haus nicht Gesetz funktionieren wird. Gleichwohl wird die Bundes- dazu hat verleiten lassen, auf den Vorschlag des einen regierung selbstverständlich entsprechend dem Votum oder anderen Verbraucherschutzministers, eine Bestäti- des Hauses nach drei Jahren das Gesetz überprüfen und gungslösung einzuführen, einzugehen. es evaluieren, um zu schauen, ob es tatsächlich so funk- Dazu möchte ich noch ein paar Takte sagen; denn ich tioniert, wie wir jetzt annehmen, oder ob wir Änderun- hoffe, dass der Bundesrat unserem Gesetzentwurf, so gen vornehmen müssen. wie wir ihn heute verabschieden, zustimmt. Ich meine, Ich bedanke mich sehr herzlich für die ausführliche, dass eine Bestätigungslösung, die darauf hinausläuft, lang andauernde und konstruktive Beratung zu diesem dass jeder Vertrag, der in einem rechtswidrigen Anruf Thema. Ich bedanke mich insbesondere bei den Mit- geschlossen wird, schriftlich bestätigt werden muss, den arbeiterinnen und Mitarbeitern des Hauses, die das Verbrauchern Steine statt Brot gibt. ganze Verfahren sehr sachkundig und ausdauernd beglei- Erstens. Eine solche Regelung würde zu einer erheb- tet haben. lichen Rechtsunsicherheit führen. Man würde sich (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie darüber streiten, ob der Unternehmer oder der Kunde an- des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]) gerufen hat. Wenn klar wäre, dass der Unternehmer an- gerufen hat, dann müsste auf der nächsten Streitebene geklärt werden, ob es jemals eine Einwilligung des Kun- Vizepräsidentin Petra Pau: den in diese Anrufe gegeben hat, sodass dieser rechtmä- Das Wort hat die Kollegin Sabine Leutheusser- ßig war. Man muss nicht glauben, dass die Unternehmen Schnarrenberger für die FDP-Fraktion. auf eine solche Regelung nicht reagieren würden; im (Beifall bei der FDP) Zweifel würden sie alle Gespräche aufzeichnen. Viele Verbraucher würden sich vielleicht nicht mehr so genau daran erinnern, ob sie in Anrufe eingewilligt haben oder Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): nicht. Im Übrigen muss man sagen, dass nicht alle Ver- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- braucher weiße Schafe und die Unternehmer schwarze legen! Ja, es ist gut, dass wir mit der heutigen Beratung Schafe sind: Es gibt natürlich auch zahlreiche Verbrau- Lücken in unserem Recht schließen, um die Stellung des cher, die gegebenenfalls ein Ding daraus machen wür- Verbrauchers zu stärken. Es ist nicht nur eine subjektive (B) den. Wahrnehmung, dass diese unerlaubten Anrufe eine Be- (D) lästigung darstellen; auch die Umfragen belegen dies. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Eine Forsa-Umfrage von 2007 belegt, dass 71 Prozent NEN]: Wie viele?) der über 65-Jährigen Cold Calls, unerlaubte Werbe- Zweitens. Wir glauben – das haben wir immer gesagt –, anrufe, erhalten haben. Insgesamt hat weit mehr als die unseriöse Unternehmen würden bei einer solchen Rege- Hälfte der Befragten solche Anrufe erhalten. lung versuchen, die Verbraucher durch weitere Anrufe Das zeigt: Hier besteht Handlungsbedarf. Es war dazu zu bringen, zu unterschreiben: „Wir haben Ihnen notwendig, genau zu überlegen, welchen Weg man geht, das doch zugeschickt, unterschreiben Sie doch bitte!“ um die Stellung der Verbraucherinnen und Verbraucher Das wäre schlecht; denn es würde genau das provozie- zu verbessern. Wir, die FDP-Fraktion, haben dazu einen ren, was wir vermeiden wollen, nämlich unerlaubte Tele- Antrag in den Bundestag eingebracht. Wir unterstützen fonanrufe. den Gesetzentwurf der Bundesregierung, der wirklich in Drittens. Das europarechtlich gebotene Nacheinander vielen Punkten mit unseren Vorstellungen überein- von Bestätigung und Widerrufsmöglichkeit würde die stimmt. Deshalb werden wir hier heute bei der Abstim- Vertragsabwicklung enorm erschweren. Man hätte dann mung über diesen Gesetzentwurf mit Ja stimmen. erst die Bestätigung und dann die Widerrufsmöglichkeit. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der Das wäre ein Problem. SPD) Im Übrigen gäbe es – Herr Kollege Montag, Sie sind Nach dem Wettbewerbsrecht sind Werbeanrufe natür- immer für die Dogmatik zugänglich – erhebliche Wer- lich schon länger unerlaubt, aber das gilt eben nicht im tungswidersprüche im bürgerlichen Recht. Im Moment Verhältnis zum Verbraucher. Das hat man vielen Bürge- ist es nach unserer Rechtsordnung so, dass bei arglistiger rinnen und Bürgern natürlich nicht erklären können. Sie Täuschung oder gar Drohung ein Vertrag zunächst wirk- sagen: Ihr redet von unerlaubten Werbeanrufen, aber wir sam und nur anfechtbar ist. Bei unlauterer Telefonwer- sind nicht in der Situation, angemessen reagieren zu bung hingegen wäre der Vertrag zunächst unwirksam können. Das können unter anderem die Konkurrenten und könnte nur in Textform bestätigt werden. und Verbände. Deshalb unterstützen wir ausdrücklich, (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: dass wir im geltenden Rechtssystem bei der Stärkung der Schwebend unwirksam, das gibt es!) Stellung der Verbraucher bleiben und das Widerrufs- recht ausbauen; denn wenn es einen Teil Bestätigungs- All das würde Probleme an anderen Ecken schaffen. regelung und einen Teil Widerrufsregelung gäbe, dann Mit der 14-tägigen Widerrufsfrist für alles haben wir Re- wäre das nicht unbedingt dazu angetan, für den Verbrau- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23147

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) cher deutlicher zu machen, wie die Rechtslage gerade Vizepräsidentin Petra Pau: (C) aussieht. Dafür müsste er dann am besten immer die Ge- Das Wort hat die Kollegin Julia Klöckner für die setze zur Hand nehmen. Ich denke also, es ist gut und Unionsfraktion. richtig, das Widerrufsrecht, wonach die Verträge inner- halb einer bestimmten Frist storniert werden können, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) auszubauen und damit dem Verbraucher gerade in den Bereichen, in denen es bis heute eben nicht galt, eine Julia Klöckner (CDU/CSU): stärkere Stellung zu geben. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau (Beifall bei der FDP) Ministerin Zypries! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Erstes möchte ich mich sehr für die kollektive Ver- Natürlich muss man die unterschiedlichen Interessen nunft der FDP bei der Beratung über diesen Gesetzent- bei jedem Gesetzgebungsverfahren in Einklang bringen. wurf und dafür bedanken, dass sie uns dabei zur Seite Es ist natürlich auch ein berechtigtes Interesse von Un- steht und dem guten Gesetzentwurf der Koalitionsfrak- ternehmen, werben zu dürfen. Dem wollen wir Schran- tionen zustimmt. Ich bedanke mich auch für die wirklich ken setzen. Das ist passiert, es erfolgt mit diesem Ge- kooperative und solidarische Zusammenarbeit; denn ich setzentwurf. bin sehr froh, dass wir diesen Gesetzentwurf heute hier Wir als Liberale setzen aber auch auf den Verbrau- verabschieden. cher, der seine Rechte wahrnehmen kann, wenn er bes- Wir haben eine gewisse Strecke hinter uns. Frau ser informiert und aufgeklärt ist. Wir müssen eben mehr Ministerin Zypries, Sie erinnern sich sicherlich noch da- tun, um sie über diese Rechte zu informieren, sodass sie ran: Es hat am Anfang etwas gedauert, bis ich Sie davon sie auch innerhalb vorgegebener Widerrufsfristen aus- überzeugen konnte, dass wir Regelungsbedarf haben. üben können. Ich glaube, dass das sehr wohl gelingen Wenn Gesetze nicht mehr passen, dann müssen wir sie kann. Deshalb sind wir dafür, dass dieser Weg, der in anpassen. Das ist völlig klar. Denn die Gesetze sind für dem Gesetzentwurf und auch in unserem Antrag schon die Menschen da, nicht umgekehrt. vorgestellt wurde, beschritten wird. Es spielt sicherlich auch eine Rolle, dass wir Politiker Bei Dauerverträgen gibt es eine ganz klar andere nicht den ganzen Tag zu Hause sind, wo unser Festnetz- Situation. Dabei wird versucht, den Betroffenen Ände- anschluss ist. Wir sind auch oft abends nicht zu Hause rungen unterzuschieben. Wir haben uns in der Anhörung und bekommen deshalb nicht mit, welche Plage sich in intensiv mit diesen Sachverhalten befasst. Deshalb ist es unserem Land ausgebreitet hat: unerlaubte, belästigende richtig, für die Kündigung des alten Vertrages nach einer Telefonwerbung. Wenn ich mit Besuchergruppen oder ungewollten Änderung des Vertrages, die untergescho- bei einer größeren Veranstaltung zuhause über das ben wurde und bei der man als Verbraucher nicht wahr- (B) Thema belästigende Telefonwerbung und die Konse- (D) nimmt, auf was man sich jetzt eingelassen hat, was es quenzen daraus – nämlich dass Menschen in Verträge mehr kostet und was die Inhalte des Vertrages sind, die Schriftform vorzusehen. Ich denke, das ist richtig und hineingerutscht sind oder dazu gedrängt wurden, obwohl eine ausgewogene, gute Regelung. sie das nicht wollten bzw. auch keinen Abschluss getä- tigt haben – gesprochen habe, bin ich immer auf Zustim- Ich glaube, es entspricht der Praxis und ist richtig, mung gestoßen. Vor allem haben wir Politikerinnen und dass wir die Mehrwertdienste, also die Telefonaus- Politiker durch solche Gespräche erfahren, welche Bei- künfte, aus dieser Regelung herausgenommen haben; spiele es gibt. denn wenn der Verbraucher vor jeder Auskunft erst durch einen Ansagedienst auf Band über sein Widerrufs- Das Beispiel einer älteren Dame aus meinem Wahl- recht belehrt worden wäre, dann wäre er der Erste gewe- kreis schlägt dem Fass den Boden aus. Sie ist 76 Jahre sen, der verschreckt worden wäre. Ich denke, auch das alt. Weil der eine oder andere Kollege gerade zusam- haben wir in der Anhörung hervorragend erörtert. Des- menzuckt: Das ist so alt sicherlich nicht. halb ist es gut, dass wir diese Änderungen im laufenden (Heiterkeit – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: So Gesetzgebungsverfahren noch vorgenommen haben. alt sind wir gar nicht!) Das Rufnummernunterdrückungsverbot ist richtig. – Ich habe nicht in unsere Reihen geschaut. Man muss den Anrufer in einem ersten Schritt identifi- zieren können. Dass der Verbraucher im Hinblick auf die (Joachim Stünker [SPD]: In welche Reihen Frage, wer anruft, durch eine einheitliche Vorwahl viel- haben Sie denn geschaut?) leicht noch mehr gestärkt werden würde – er würde dann Diese etwas reifere Dame, die selbst keinen Internet- vielleicht gar nicht erst abheben –, ist ein weiterer Punkt, den wir genannt haben. anschluss besitzt, hat einen Vertrag mit einer Laufzeit von eineinhalb Jahren für eine sogenannte Flatrate für Die Linie in dem Gesetzentwurf stimmt aber. Wir das Internet abgeschlossen. Obwohl die Dame selbstver- denken, es ist gut, dass wir diese Lücken im Recht jetzt ständlich nie einen solchen Abschluss tätigen wollte, er- schließen. Wie gesagt: Wir als FDP unterstützen den Ge- hielt sie ständig Anrufe. Sie hat mitgezählt und aufge- setzentwurf der Bundesregierung. schrieben, dass abends nach 20 Uhr mit zehn bis 15 Anrufen zu rechnen war. Das ist ein starkes Stück. Vielen Dank. Daran ändert auch das UWG nichts. Denn es ist schon (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der nach heutiger Gesetzeslage verboten, Verbraucherin- SPD) nen und Verbraucher ohne deren Zustimmung anzuru- 23148 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Julia Klöckner (A) fen. Das ist schon heute illegal. Aber was hilft das Wir haben auch darüber diskutiert, ob die Nummer (C) schönste Gesetz, wenn es letztlich seine Wirkung ver- desjenigen, der der Auftraggeber für ein Callcenter ist, fehlt? oder die des Anrufers – also das Callcenter selbst – ange- geben werden soll. Mir ist klar, dass die Firmen gerne In der Gesetzesberatung haben wir mit sehr vielen be- ihre Nummer als Absender hätten. Aber wir haben auch troffenen Gruppen gesprochen. Uns wurde sehr oft mit- erlebt, dass sich die Firmen, die wegen unlauterer Praxis geteilt, dass es kein Problem gebe und dass es sich nur angesprochen wurden, gerne hinter das Callcenter zu- um einige wenige schwarze Schafe handele. rückziehen und sagen: Die Anweisung haben wir nie ge- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- geben. – Wenn sich aber der Callcentermitarbeiter zu er- NEN]: Das haben wir gehört, aber es stimmt kennen geben muss, wird sich das Callcenter in Zukunft nicht!) überlegen, ob es bestimmte Aufträge annimmt oder nicht. Das mag auch sein. Ich möchte eines vorab sagen: Nicht jedes Callcenter ist auf unlauterem Weg unterwegs. Aber Wie sieht es denn mit einem unlauter zustande ge- für den Verbraucher zählt letztlich, wie viele Anrufe er kommenen Vertrag aus? Ich persönlich finde es irritie- bekommt. Auch 20 schwarze Schafe sind für den einzel- rend, dass ein Vertrag, der dadurch zustande gekommen nen Verbraucher mehr als genug. ist, dass jemand unlauter, also ohne gesetzliche Grund- lage, angerufen hat, legal ist, wenn er in Anspruch ge- Deshalb ist das Maßnahmenbündel, das wir erarbeitet nommen wird. Hier bleibt die Logik ein bisschen auf der haben, meiner Meinung nach ein richtiger Schritt hin zu Strecke. Auch ich habe nicht den Stein der Weisen ge- mehr Rechtssicherheit für die Verbraucherinnen und funden. Letztlich werden jedenfalls die Unternehmen Verbraucher, wenngleich ich auch zu bedenken gebe, belohnt, die sehen, dass es sich doch noch lohnt, unlauter dass wir mit diesem Gesetz keine hundertprozentige anzurufen. Sicherheit bekommen werden. Es wird auch weiter da- (Beifall des Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ mit zu rechnen sein, dass es solche unlauteren Firmen DIE GRÜNEN]) gibt, die versuchen, gerade ältere Menschen wie auch jüngere Menschen und, was mich sehr erschüttert hat, – Genau das ist der Punkt, Herr Montag. Darüber haben vor allen Dingen auch Mitglieder von Selbsthilfegrup- wir bereits gesprochen. – Ich sympathisiere sehr mit dem pen anzurufen. Vorschlag, den Herr Hauk und Herr Uhlenberg im Bun- desrat eingebracht haben. Nun geht es aber darum, eine Ich habe gerade von einer Seniorenorganisation erfah- Lösung zu finden. Aus meiner Sicht als verantwortungs- ren, dass sich einige Callcenter Listen von Alzheimer- volle Politikerin bringt es wenig, nun zu sagen: Jetzt las- (B) Selbsthilfegruppen besorgt und die darauf aufgeführten sen wir just aus diesem Grund das Gesetz platzen. Es (D) Personen ganz gezielt angerufen haben. Das ist, mit Ver- hilft wenig, wenn wir die grüne Taube auf dem Dach ha- laub, eine Sauerei, wenn ich das so sagen darf. Das geht ben. nicht. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie NEN]: Wir könnten es gemeinsam machen, bei Abgeordneten der LINKEN) Frau Kollegin!) Was werden wir jetzt machen? Die Telefonnummer Mir ist lieber, dass das, was im vorliegenden Gesetzent- darf nicht mehr unterdrückt werden. Die Opposition wurf vorgesehen ist, für unsere Verbraucherinnen und wird sicherlich wieder danach fragen, welche Folgen es Verbraucher umgesetzt wird. hat, wenn die Telefonnummer dennoch unterdrückt wird. Das wird es sicherlich auch weiter geben, aber es ist jetzt Heute ist ein guter Tag für unsere Verbraucherinnen mit bis zu 10 000 Euro Bußgeld bewehrt. und Verbraucher. Ich bin dankbar und froh, dass es der Koalition gelungen ist, die Regierung ein bisschen vor Klar ist auch, dass jemand, der etwas verkaufen will, sich herzutreiben. Ich weiß, dass die Ministerin das nicht irgendwann seine Identität preisgeben muss, weil er sein gerne hört. Aber das entspricht unserem Selbstverständ- Geld bekommen will und der Käufer wissen muss, an nis. Deshalb sind wir heute dort angekommen, wo wir wen das Geld geht. Wenn jemand in einen Geschäftsver- sind. trag eintreten will, dann muss er sich zu erkennen geben. Gibt er sich nicht mit der Rufnummer zu erkennen, dann (Zuruf der Abg. Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/ ist für die Verbraucherinnen und Verbraucher klar, dass DIE GRÜNEN]) es nicht mit rechten Dingen zugeht. – Frau Höfken, ich bedanke mich sehr für diesen Ein- wurf. Notwendig ist auch, Frau Ministerin – ich denke, das sollte vonseiten Ihres Hauses mit dem Verbraucher- Die Grünen kritisieren immer. Sie waren aber auch schutzministerium und Frau Aigner gekoppelt werden –, einmal in der Regierungsverantwortung und haben die eine flankierende Kampagne. Denn viele Verbraucherin- Verbraucherministerin gestellt. nen und Verbraucher kennen die aktuelle Rechtslage (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Was?) nicht. Viele sind immer noch viel zu höflich und legen bei solchen Anrufen nicht auf bzw. schreiben nicht mit. Sie war aber eine Ankündigungsministerin. Liebe Frau Deshalb wünsche ich mir, dass wir eine Aufklärungs- Höfken, Sie hätten in Ihrer Regierungszeit längst ein Ge- kampagne starten, die unsere Maßnahmen begleitet. setz, wie Sie es sich nun wünschen, durchsetzen können. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23149

Julia Klöckner (A) Aber damals gab es noch nicht einmal Vorlagen, über die (Beifall bei der LINKEN – Dr. Carl-Christian (C) wir hätten beraten können. Mir sind Politiker und Regie- Dressel [SPD]: Können Sie das auch einmal rungen lieber, die etwas konkret umsetzen – ich sehe, logisch darstellen!) dass die Kollegen der SPD etwas die Stirn in Falten wer- fen, weil sie selber damals dabei waren – Die Botschaft des heutigen Tages geht an die Telefon- marketingbranche, insbesondere an die unseriösen Un- (Dirk Manzewski [SPD]: Wir haben das auch ternehmen in dieser Branche. Diese lautet: Machen Sie gemacht! Sie waren damals dagegen!) ruhig weiter so! und letztlich denen helfen, die über den Tisch gezogen (Widerspruch bei der SPD) werden und nicht auf gleicher Augenhöhe mit denen sind, die ihnen etwas anbieten. Rufen Sie die Leute weiter an, wann immer Sie wol- len. – Denn der Anteil der Menschen, die so rechtskun- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Jürgen Gehb dig sind, dass sie genau wissen, wie sie mit einem sol- [CDU/CSU]: Das müssen wir mal sagen!) chen unlauteren Werbeanruf umgehen können, vor allem – „Das müssen wir mal sagen“, sagt auch Kollege Gehb. mit einem daraus entstehenden Vertragsverhältnis, ist re- lativ gering. Deshalb werden diese Firmen nach wie vor Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, ist ihren Profit herausschlagen und mit Leuten Geschäfte wichtig und eine Warnung an die Unternehmen, die machen, die sich das eigentlich nicht leisten können. glauben, sie seien nun mit einem blauen Auge davonge- kommen. Wir möchten das sogenannte Slamming unter- Es ist zwar eigentlich verboten, jemanden ohne seine binden. Da Anglizismen immer ein Problem darstellen, vorherige ausdrückliche Einwilligung anzurufen und erkläre ich das: Wir möchten das Unterschieben bzw. das ihm ein Werbe- oder Verkaufsgespräch aufzudrücken, Wechseln eines Dauervertrages bzw. eines Dauer- aber wenn sich jemand dann doch zu einem mündlichen schuldverhältnisses zum Beispiel bei Strom und Gas Vertragsabschluss überreden lässt, dann ist dieser un- oder Telefonverträgen – so wird der Verbraucher bei der lauter zustande gekommene Vertrag wirksam. Diese Telekom abgemeldet und dann bei einem anderen Unter- Absurdität verstehen wohl nur Juristen. Mit Logik hat nehmen angemeldet, ohne dass er das weiß – verhindern. das für mich nichts zu tun. Deshalb sieht das Gesetz eine Textform vor. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Carl-Christian Frau Ministerin, ich bin sehr froh, dass festgehalten Dressel [SPD]: Was haben Ihre Ausführungen ist, das Gesetz nach drei Jahren daraufhin zu überprüfen, mit Logik zu tun?) ob es Lücken gibt, und es gegebenenfalls anzupassen. Diesen Zustand hätte man sehr wohl ändern können. (B) Ich bin froh, dass wir diese Regierung haben und die Zu- Man hätte Verbraucherinnen und Verbraucher weitaus (D) sammenarbeit zwischen Wirtschafts- und Rechtspoliti- besser vor telefonisch untergeschobenen Verträgen kern sowie den Verbraucherpolitikern so gut ist. Die schützen können. Man hätte die Privatsphäre der Men- Bürgerinnen und Bürger werden das zu schätzen wissen, schen weitaus besser gegen die unzähligen unerlaubten auch wenn sich die Grünen und die Linken jetzt be- Anrufe schützen können und müssen. Aber genau das tut schweren. die Bundesregierung mit dem vorliegenden Gesetzent- Herzlichen Dank. wurf nicht. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Jetzt hören FDP) wir mal konkrete Beispiele!) Was müssen die Menschen von einer Regierung hal- Vizepräsidentin Petra Pau: ten, die Jahre für eine Gesetzesinitiative gegen uner- Das Wort hat die Kollegin Karin Binder für die Frak- laubte Telefonwerbung braucht, die sich dann aber sehr tion Die Linke. arrogant über die Vorschläge und sachdienlichen Hin- weise hinwegsetzt? (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Was?) Karin Binder (DIE LINKE): Verbraucherverbände, Bundesrat, zahlreiche Bundeslän- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! der, die Verbraucherministerkonferenz und die Opposi- Meine Damen und Herren! Frau Ministerin Zypries, Sie tionsfraktionen haben vorhin eine Bemerkung gemacht, die ungefähr so lautete: Die Verbraucher können sich oft nicht mehr da- (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Darauf habe ich ran erinnern, ob und was sie am Telefon vereinbart ha- gewartet! – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: ben. Nicht alle, haben wir eben gehört!) (Brigitte Zypries, Bundesministerin: Nein, ob werden einfach ignoriert. Deren Vorschläge und Forde- sie eine Einwilligung gegeben haben oder rungen tropfen einfach ab. Das hat nach meiner Auffas- nicht!) sung Kohl’sche Qualitäten. Dieses Verhalten ist ein Musterbeispiel ministerieller Starrköpfigkeit und Bera- – Ja, eben. – Genau daran wird deutlich, warum unlau- tungsresistenz. tere Werbeanrufe nur mit einer schriftlichen Bestätigung zu einem wirksamen Vertrag führen dürfen. (Beifall bei der LINKEN) 23150 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Karin Binder (A) Ich halte es für einen Riesenfehler, dass sich die Koali- ganz andere Erfahrungen und berichtet in diesem Zu- (C) tion der sogenannten Bestätigungslösung so vehement sammenhang von einem Beispiel aus Köln. Vor zwei verweigert. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, könn- Jahren hat dort das Oberlandesgericht gegen eine große ten die Regierung heute allerdings doch noch auf den Telekommunikationsfirma lediglich ein Ordnungsgeld richtigen Kurs bringen. Stimmen Sie einfach unserem von 40 000 Euro verhängt. Diese 40 000 Euro sind Änderungsantrag zu! knapp ein Sechstel dessen, was an Ordnungsgeld mög- lich wäre; es entspricht dem, was durch den Abschluss (Beifall bei der LINKEN) von 100 bis 200 Telefonverträgen pro Jahr eingenom- Wir wollen, dass ein Vertrag erst dann zustande men wird. Doch wie viel Tausend Verträge schließt diese kommt, wenn die Verbraucherin oder der Verbraucher Firma unerlaubt? Das, was hier beschrieben wird, trifft einer telefonisch gemachten Zusage innerhalb von zwei nicht nur auf diese Telekommunikationsfirma zu, son- Wochen eine schriftliche Bestätigung folgen lässt. Erst dern auch auf viele andere Unternehmen. dann wird der Vertrag wirksam. Das kommt dann zum (Dirk Manzewski [SPD]: Die Sachen, die jetzt Tragen, wenn jemand ohne vorherige Einwilligung an- sanktioniert werden, sind bislang noch nicht gerufen wurde, was eigentlich gar nicht zulässig ist. Bei sanktioniert worden!) dem von Bundesjustizministerin Zypries immer wieder gerne und häufig zitierten Sie erledigen ein solches Ordnungsgeldverfahren wirk- lich mit links; sie zahlen das Bußgeld ganz locker aus (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Dann ist der Portokasse. die Pizza kalt!) (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Nichts mit – genau –, aber unsachgemäßen Beispiel vom Pizzaser- links! – Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das ist vice handelt es sich um eine aktive Bestellung. Das hat uns zu unsicher!) überhaupt nichts mit diesen unlauteren Werbeanrufen zu tun. Das Beispiel ist einfach fehl am Platz. Wir halten es für dringend geboten, den Bußgeldrah- men für die unerlaubte Telefonwerbung deutlich anzuhe- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten ben, und zwar auf 250 000 Euro; denn dann tut es we- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nigstens ein bisschen weh. So könnte verhindert werden, Zumindest ich habe bisher noch von keinem Pizzaser- dass weiterer Schaden entsteht. vice gehört, dass er seine Kunden anruft und fragt: „Habt (Beifall bei der LINKEN – Manfred Zöllmer [SPD]: ihr zufällig gerade Hunger? Dann kommen wir vorbei.“ Mir tut was ganz anderes auch weh!) Das ist wirklich Unsinn. (B) Ich komme zum Schluss. Wir wollen, dass die Men- (D) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten schen vor dem unbefugten Eindringen in ihre Privat- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sphäre geschützt werden. Wir wollen, dass sie vor Über- Verbraucherschutz heißt für mich, dass nicht nur ein rumpelung geschützt werden. Wir wollen, dass sie vor beschränkter Personenkreis mit ausgeprägten Rechts- Abzocke geschützt werden, und wir wollen, dass sie vor kenntnissen und Kampfgeist vor Betrug geschützt wird. neuen Schuldenfallen geschützt werden, die wir in der Im Gegenteil: Es kann nicht angehen, dass Verbrauche- Situation, in die wir gerade hineinschlittern, ganz be- rinnen und Verbraucher genötigt werden, gegen unterge- stimmt nicht brauchen. schobene Verträge selbst aktiv zu werden, um die daraus (Beifall bei der LINKEN) resultierenden Verpflichtungen wieder loszuwerden. Eine schriftliche Vertragsbestätigung innerhalb von zwei Deshalb fordere ich Sie auf: Stimmen Sie unserem An- Wochen wäre die einfachste und praktikabelste Lösung trag zu. Dann haben wir diesen Schutz. im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher. Danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Dr. Carl-Christian Das wäre nicht zuletzt deshalb am besten, weil es auch Dressel [SPD]: Helau!) für die Anbieter nicht mehr so lukrativ wäre, unlauter zu arbeiten. Dann würde sich das Problem des ständigen Vizepräsidentin Petra Pau: Eindringens in die Privatsphäre der Menschen relativ Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der rasch erledigen. Kollege Jerzy Montag das Wort. (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Das ist wohl wahr!) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein weiterer wesentlicher Punkt in unserem Ände- Eine Klarstellung vorneweg: Die Pizza, die die Bundes- rungsantrag ist die Höhe des Bußgeldes. Die Linke for- justizministerin Zypries nach einem arbeitsreichen Tag dert eine deutliche Anhebung. Wir wissen doch, dass die abends bestellt – sie sei ihr gegönnt –, hat mit dem Gerichte höchst selten die Höchstgrenzen der angedroh- Thema, über das wir reden, nichts zu tun. Lassen wir das ten Bußgelder ausschöpfen. Aus dem Justizministerium Pizzabeispiel also endlich einmal weg! heißt es zwar: „Na ja, die Strafen summieren sich; da käme schon ein erkleckliches Sümmchen zusammen“; (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aber der Verbraucherzentrale-Bundesverband machte da sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23151

Jerzy Montag (A) Wovon reden wir? Reden wir wirklich von Petitessen rüber zu vermeiden, wer wen angerufen hat und ob eine (C) und Randerscheinungen eines ansonsten ehrbaren Ge- Einwilligung vorlag oder nicht, schlagen wir vor: Die werbes? Reden wir von einigen wenigen schwarzen Einwilligung der Verbraucherinnen und Verbraucher Schafen eines boomenden und anständigen Wirtschafts- muss in Textform vorliegen. Im Streitfall trifft den Anru- zweigs? Die Gesellschaft für Konsum-, Markt- und Ab- fer die Beweislast für das Vorliegen der Einwilligung. satzforschung meldete im ersten Quartal 2006 82,7 Mil- Dass das mit der Einwilligung in Textform gar nicht so lionen unerlaubter, also rechtswidriger, telefonischer Wer- schlecht ist, findet man im Gesetzentwurf bestätigt, in bekontakte. Das sind 900 000 pro Tag, über 300 Millionen dem Sie das für einzelne Bereiche durchaus so vorsehen. pro Jahr. Im Dezember 2008 bezifferten die Gesellschaft Bereits diese klaren und einfachen Vorschriften wür- für Konsum-, Markt- und Absatzforschung und der Ver- den Verbraucherinnen und Verbraucher effektiv schüt- braucherzentrale Bundesverband diese Anrufe wiederum zen, zum Rechtsfrieden beitragen und den Betrügern auf über 300 Millionen pro Jahr. Es gibt also keinen jede Lust am Betrug nehmen. Grund für eine Entwarnung, wie uns manche Lobby- gruppen gelegentlich einflüstern wollen. Stattdessen Kommt es trotz fehlender Einwilligung bei einem un- müssen wir feststellen: Das Gesetz gegen den unlauteren lauteren, gesetzwidrigen Werbeanruf zu einem Vertrags- Wettbewerb wird systematisch und massenhaft verletzt. abschluss, ist der Vertrag schwebend unwirksam – so un- 86 Prozent der Bevölkerung fühlen sich durch solche un- ser zweiter Vorschlag – und bedarf einer ausdrücklichen erwünschten Telefonanrufe belästigt; Hunderttausende Bestätigung in Textform. – Ich habe Ihre Sympathie, werden belogen und betrogen. Der Gesetzgeber, also Frau Kollegin Klöckner, deutlich herausgehört. – Damit wir, sind aufgerufen, darauf konsequent, effektiv und hat es ausschließlich der Verbraucher, in dessen Privat- verbraucherfreundlich zu reagieren. sphäre eingedrungen wurde und der in seinen Rechten verletzt ist, in der Hand, ob er den Vertrag, weil von ihm (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gewünscht, erhalten will. Wir reden von unerwünschten, unerlaubten Telefon- Frau Bundesjustizministerin Zypries, auch für denje- werbeanrufen, die als Aufklärung, als Information, als nigen, der, wie ich, für die Dogmatik des Zivilrechts et- Service daherkommen und in Vertragsabschlüssen was übrig hat, ist hier kein Widerspruch zu sehen. Wenn enden. Das ist auch ihr einziger Zweck. Sie enden in Ihnen Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter berichtet überrumpelten, übertölpelten Verbraucherinnen und Ver- hätten, was wir bei der Anhörung im Rechtsausschuss zu brauchern, die – es ist von der Kollegin Klöckner schon diesem Thema gehört haben, dann hätten Sie auch erfah- berichtet worden – für Internetanschlüsse zahlen, ob- ren, dass uns wenigstens einige Sachverständige, die wohl sie keine Computer haben, die für Zeitschriften sich mit diesem Thema beschäftigt haben, gesagt haben: zahlen, die sie nicht lesen wollen, und die für wertlose (B) Zwischen einem Vertrag, der unter Täuschung, Arglist (D) Auskünfte und Belehrungen zahlen. Manchmal zahlen oder Druck zustande gekommen ist, und einem Vertrag, sie nur für das Anhören von Gedudel in endlosen Warte- der so zustande gekommen ist, besteht ein Unterschied, schleifen, weil sie auf leere Versprechungen wie Reisen, weil ein Schutzrecht nach § 823 BGB verletzt wird, weil Lottogewinne oder Preise reagieren. Wir reden von un- hier durch den Telefonanruf in die Privatsphäre des Ein- redlichem Geschäftsgebaren, von unlauterem Werbever- zelnen rechtswidrig eingebrochen wird. halten, von Überrumpelungsstrategien, die generalstabs- mäßig geplant und eingeübt werden. Nicht zuletzt reden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wir von Zigmillionen Euro an abgezocktem Geld. Deswegen ist die Folge der schwebenden Unwirksam- Diese unerwünschten, belästigenden und in Überrum- keit und des Erfordernisses einer ausdrücklichen schrift- pelungsabsicht getätigten Werbeanrufe waren bis 2004 lichen Bestätigung dogmatisch sehr wohl sauber und im völlig legal. Als wir sie 2004 zu einem wettbewerbswid- Sinne von Verbraucherfreundlichkeit geboten. rigen, unlauteren Geschäftsverhalten machten, taten wir dies gegen den erbitterten Widerstand der Union. Dies wäre eine einfache, klare und unmissverständli- che Regelung. Das wäre wahrer Verbraucherschutz, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – nicht gegen moderne Kommunikationsformen und neue Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das war doch so Wege des Vertragsabschlusses gerichtet, sondern nur ge- gar nicht!) gen diejenigen gerichtet, die die neuen, modernen For- men zu Lug und Trug nutzen wollen. Auch der Bundes- Deshalb ist das verbraucherpolitische Gehabe der Union rat geht bisher genau in diese Richtung; ich hoffe, er hält heute mehr als peinlich. Vom Verhalten der FDP, die an dieser Position fest. 2004 ebenfalls gegen die Reform gestimmt hat, will ich gar nicht erst reden. Bei den Koalitionsfraktionen, die sich in dieser Frage gegenseitig behindern, ist als Ergebnis die Wider- Den Profiteuren des Cold Calling war und ist dies spruchslösung herausgekommen. ziemlich wurscht. Ihre Rechnung war und ist einfach: praktisch sanktionslose Verstöße sind wie Kavaliers- ( [BÜNDNIS 90/DIE delikte; Hauptsache, die Kasse stimmt. Was haben wir GRÜNEN]: Vor der Lobby eingeknickt!) Grünen schon 2004 vorgeschlagen, was schlagen wir Sie wird als zweitbeste Lösung bezeichnet. Dabei ist sie heute vor, und was ist auch bitter nötig? nicht gerecht; denn sie hilft den Rechtsverletzern, ihre Erstens. Werbeanrufe darf es nur bei vorheriger aus- unrechtmäßigen Gewinne zu realisieren. Wir Grünen drücklicher Einwilligung geben. Um jeden Streit da- wollen diesen sogenannten zweitbesten Weg nicht mit- 23152 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Jerzy Montag (A) gehen. Wir haben bessere Vorschläge und lehnen des- wirksames Instrument, um zu verhindern, dass Verträge (C) halb Ihren Gesetzentwurf ab. am Telefon untergeschoben werden. Eine grundsätzliche schriftliche Bestätigung würde nach unserer Einschät- Danke schön. zung eher zu mehr als zu weniger Anrufen führen. Die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Unternehmen würden versuchen, diese schriftliche Be- stätigung durch Anrufe von den Verbraucherinnen und Vizepräsidentin Petra Pau: Verbrauchern einzufordern. Das Wort hat der Kollege Manfred Zöllmer für die Auf eines möchte ich deutlich hinweisen: Wir werden SPD-Fraktion. sehr genau analysieren, wie dieses Gesetz wirkt. Wir ge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) hen davon aus, dass es wirksam ist, aber wir werden das nach drei Jahren genau analysieren. Dieses Gesetz sorgt dafür, dass sich Anbieter und Nachfrager endlich auf Manfred Zöllmer (SPD): Augenhöhe begegnen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Montag, bei dieser Frage sollte es nicht Bei Verstößen sieht das Gesetz ein Bußgeld von bis um Rechtsdogmatik gehen, zu 50 000 Euro vor. Liebe Frau Kollegin Binder, eine tatsächlich verhängte Geldbuße durch Gerichte kann im (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Einzelfall aber deutlich höher sein als diese 50 000 Euro. Damit hat Frau Zypries begonnen!) Insofern ist das ein Sanktionsinstrument, das den Unter- wie Sie eben ausgeführt haben, sondern einzig und allein nehmen im Zweifelsfall wirklich wehtut. Das ist kein um die Frage, wie wir Missbräuche wirksam verhindern Punkt, der hier kritisch angemerkt werden sollte. können. Das ist das Thema. Darum kümmern wir uns. Dass Rufnummern nicht mehr unterdrückt werden (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hans- dürfen, haben wir gehört. Das ist der richtige Weg, damit Michael Goldmann [FDP]) diejenigen, die angerufen werden, wissen, wer sie anruft. So können sie sich im Zweifelsfalle sofort an diejenigen Wir haben gehört, dass viele Unternehmen in der Ver- wenden, die angerufen haben. Sie landen nicht erst bei gangenheit millionenfach gegen geltendes Recht versto- auftraggebenden Unternehmen, die nicht wissen, dass ßen haben; denn das derzeit geltende UWG untersagt be- angerufen worden ist. Ich glaube, wir haben eine sehr reits diese Art von Cold Calls. Die Angerufenen fühlen gute, eine richtige Lösung gefunden. sich in der Tat erheblich belästigt. Jedem Betroffenen kann man nur raten: Legen Sie in einem solchen Fall Für den Fall eines telefonisch angebahnten Anbieter- wechsels ist zukünftig die Textform mit Unterschrift für (B) auf! Das ist der beste und wirksamste Schutz, den Sie (D) haben können. die Kündigung des alten Vertrages notwendig. Damit wird es diese Art des Unterschiebens von Verträgen in Darüber hinaus haben wir in dem neuen Gesetzent- Zukunft nicht mehr geben. wurf eine wirksame Bekämpfung unerlaubter und beläs- tigender Werbeanrufe vorgesehen. Die Verbraucherinnen Durch das Widerrufsrecht erfassen wir im Übrigen und Verbraucher bekommen wirksame Rechte. Was auch Abofallen im Internet. Das ist ein wichtiger Aspekt lange währt, wird endlich gut. Die Kollegin Klöckner hat des Missbrauchs, den wir aufgegriffen haben. Auch das zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass mit diesem wird mit diesem Gesetzentwurf in Zukunft beseitigt. Gesetzentwurf die kollektive Vernunft gesiegt hat; auch Hiermit werden deutliche, einheitliche und nachvoll- in der CDU, auch bei der FDP. ziehbare Regelungen eingeführt, mit dem Ergebnis, dass (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Nur bei der SPD die Flut der unerwünschten und belästigenden Telefon- nicht!) anrufe in Zukunft drastisch reduziert sein wird. Dies ist ein guter Tag für den Verbraucherschutz. Nur bei der Frage, wer es eigentlich erfunden hat, habe ich das ein bisschen anders in Erinnerung. Vielen Dank. (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Ich habe noch (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) die Antwort aus dem Ministerium! Die Briefe habe ich heute noch!) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich kann mich daran erinnern, dass wir diejenigen wa- Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Hans- ren, die sich viele Jahre sehr intensiv um dieses Thema Michael Goldmann. gekümmert haben. Aber in diesem Fall sollte der Aus- (Beifall bei der FDP) spruch von Helmut Kohl gelten: Wichtig ist, was hinten rauskommt. Hans-Michael Goldmann (FDP): (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Da hat er mal Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und wieder recht!) Kollegen! Ja, es ist ein guter Tag für den Verbraucher- schutz. Deswegen heißt unser Antrag völlig zu Recht: Es wurde bereits mehrfach angesprochen: Der Kern „Verbraucherschutz beim Telefonmarketing verbessern“. dieses Gesetzes ist ein umfassendes Widerrufsrecht. Dieses Rechtsmittel ist den Verbraucherinnen und Ver- Die Rechtsausführungen, die hier gemacht worden brauchern bekannt. Sie können es einsetzen. Es ist ein sind, sind hilfreich. Sie sind allerdings aus meiner Sicht Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23153

Hans-Michael Goldmann (A) an einigen Stellen, geschätzter Kollege Montag, ein uns allerdings auch darüber im Klaren sein, dass es ge- (C) Spiegelbild dessen, was wir im Verbraucherschutz ver- rade in diesem Bereich keinen Sinn hat, ein nationales hindern müssen. Wir müssen Botschaften haben, die der Gesetz zu verabschieden, das der europäischen Gesetz- Verbraucher versteht. gebung möglicherweise entgegensteht oder darüber hi- nausgeht. Deswegen ist der nächste Zielpunkt unserer (Beifall bei der FDP) Arbeit zum Schutz der Verbraucher, einen Einklang auf Ob es sich hier um schriftliche Bestätigung, Sofortaner- europäischer Ebene herzustellen. Dieser Gesetzentwurf kennung oder Widerrufsrechte handelt, ist in der Sache ist eine gute Grundlage dafür. Deshalb stimmen wir zu diskutieren, muss aber als Botschaft des Gesetzes bei gerne zu. dem Verbraucher in Klarheit ankommen. Herzlichen Dank. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sehr richtig!) (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der Das, was Sie dargestellt haben, Herr Montag, versteht SPD – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Was man aus meiner Sicht nur ein Fachjurist, aber nicht der Ver- in drei Minuten so alles sagen kann!) braucher. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wi- Vizepräsidentin Petra Pau: derspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das Wort hat der Kollege Dr. Günter Krings für die NEN) Unionsfraktion. – Das ist ein wichtiger Punkt. Dieser Gesetzentwurf wird (Beifall bei der CDU/CSU – Julia Klöckner federführend im Rechtsausschuss beraten. In der Aus- [CDU/CSU]: Guter Mann!) wirkung ist es aber für die Rechtsanwälte nicht so inte- ressant, höchstens für ein Abstauben an der einen oder Dr. Günter Krings (CDU/CSU): anderen Stelle; es ist jedoch hochinteressant für diejeni- gen, die davon betroffen sind. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Das ist heute die vierte Rede, die ich (Beifall bei der FDP – Jerzy Montag [BÜND- im Deutschen Bundestag zum Thema unerlaubte Tele- NIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es! Deswegen fonwerbung halten darf, und es ist die für mich schönste ist der Widerruf auch schlecht!) Rede, weil wir heute endlich einen guten Gesetzentwurf Deswegen muss man einen klugen Kompromiss finden, verabschieden werden. Herr Kollege. Dieser kluge Kompromiss ist in diesem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Gesetzentwurf gefunden worden. Ich persönlich bin der (B) neten der SPD und der Abg. Sabine (D) Meinung, dass die Widerrufsrechte bei den Verbrauchern Leutheusser-Schnarrenberger [FDP] – Julia verankert sind. Aber ich finde es wichtig, dass man eine Klöckner [CDU/CSU]: Das ist die wichtigste gute Mischung zwischen der schriftlichen Bestätigung Aussage!) und dem Recht auf Widerruf erreicht. Das ist in diesem Gesetzentwurf nach meiner Auffassung gut gelöst. Wir haben länger als ein Jahr über das Thema gespro- chen. Am Anfang war – Frau Klöckner hat es schon an- Das ist auch keine neue Erkenntnis, liebe Kollegin gesprochen – in der Tat ein wenig Überzeugungsarbeit Klöckner, sondern das ist eine Vernunftsposition, die die zu leisten. Darum geht es aber heute nicht. Wir brauchen FDP in dieser Frage schon lange vertritt uns auch keine Dinge aus der Vergangenheit vorhalten (Beifall bei der FDP – Julia Klöckner [CDU/ zu lassen. Entscheidend ist, dass wir für die Zukunft et- CSU]: Oh!) was Vernünftiges erreichen, dass – wenn ich das ein we- nig kalauerhaft sagen darf – die Große Koalition und die und die auch im Ausschuss von uns immer wieder ange- FDP gemeinsam mit heißen Herzen gegen kalte Anrufe sprochen worden ist. vorgehen. Ich will aber noch einen anderen Bereich ansprechen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der mir wichtig ist und den wir ebenfalls in unsere Über- neten der FDP – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ legungen einbeziehen. Wir dürfen bei den Verbraucher- DIE GRÜNEN]: Das ist Ihre schönste Rede!) rechten keine nationalen Gesetze mehr machen, sondern wir müssen dafür sorgen, dass die Gesetze auf europäi- Ich glaube, das sollte das Signal der heutigen Debatte scher Ebene harmonisiert sind. Wir werden kommende sein. Woche wieder mit der Verbraucherkommissarin Gesprä- Man muss in der Tat aufpassen: Man kann sicherlich che führen. Ich bin gegen eine Vollharmonisierung auf über Detailfragen – ich komme gleich darauf zu spre- niedrigem europäischem Niveau. Aber ich bin durchaus chen – diskutieren und an einigen Dingen herummäkeln. dafür, dass wir die Bausteine, die bei uns gut geregelt Das ist Oppositionsarbeit, wie sie von den Grünen ver- sind, auf europäischer Ebene retten. Wir haben lange um standen wird. Aber die Botschaft des heutigen Tages Verbraucherrechte gekämpft. Es ist nötig, europäische muss klar sein: Es gibt für den Verbraucher substanzielle Rechte zu schaffen, die für die Verbraucher Schutzrechte Verbesserungen. Neben den Änderungen im Bundesge- bedeuten; darauf sollten wir hinarbeiten. setzblatt ist der Umstand vielleicht wichtiger, dass wir Mit dem Gesetz, das heute auf den Weg gebracht den Verbrauchern im Umgang mit diesen ungeheuerli- wird, gehen wir in die richtige Richtung. Wir müssen chen Anrufen mehr Selbstvertrauen geben. 23154 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Dr. Günter Krings (A) Die Bürger in diesem Lande brauchen – das hat Herr eine ganz normale Verhaltensweise, die hoffentlich in (C) Goldmann eben schon richtig gesagt – eine klare Bot- ganz Deutschland Schule machen wird. schaft. Aus diesem Grunde möchte ich als vorletzter Redner in dieser Debatte zusammenfassen, warum wir (Rainer Brüderle [FDP]: Macht es jetzt schon! – gehandelt haben und wie wir handeln. Julia Klöckner [CDU/CSU]: Und ein Buß- geld!) Die jetzige Praxis vieler unerlaubter Werbeanrufe durch schwarze Schafe der Branche – das trifft sicherlich – Genau: Und die Nichtanzeige wird zusätzlich noch mit nicht auf die gesamte Branche zu; es gibt auch viele einem Bußgeld belegt. „weiße Schafe“ – ist ein Ärgernis für die Menschen in Deutschland. Zum Dritten haben wir in den Gesetzentwurf hinein- geschrieben, dass ein Bußgeld in Höhe von 50 000 Euro (Beifall des Abg. Dr. Carl-Christian Dressel für den Fall, dass die Regeln verletzt werden, verhängt [SPD]) werden kann. Das ist ein durchaus stattlicher Betrag. Ich betone: Dieser Betrag kann auch mehrfach aufgrund Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Sie haben die Forsa- mehrerer Einzelfälle von einem Unternehmen gefordert Umfrage erwähnt, die immer wieder zitiert wird. Fast werden. Wenn sich ein Unternehmen beharrlich und auf neun von zehn Deutschen fühlen sich durch Werbean- lange Sicht diesen Rechtsregeln verweigert, kann dieser rufe belästigt. Es handelt sich um ein Massenphänomen Betrag deutlich größer sein als 50 000 Euro und im und um kein Einzelphänomen. Es gibt sicherlich erhebli- sechs- bis siebenstelligen Bereich liegen. chere Eingriffe in die Privatsphäre der Menschen. Aber es gibt wohl nur wenige, die in solch massenhafter Zum Vierten haben wir – Frau Zypries hat es erwähnt – Weise und so ungeniert auftreten. für die Bereiche dauerhafter Lieferungen – dazu zählen etwa Telefonverträge und Stromverträge – eine beson- Es ist zugleich ein Ärgernis für den Rechtsstaat. Denn dere Regelung vorgesehen, weil hier eine besondere dieses Verbot steht seit einigen Jahren im UWG, im Ge- Konstellation vorliegt. In diesen Fällen soll nämlich von setz gegen den unlauteren Wettbewerb. Trotzdem wird einem Anbieter zum anderen gewechselt werden. Darin – in den letzten Jahren noch mit zunehmender Tendenz – liegen zwei Gefahren. Die erste Gefahr ist, dass ich den dieses Verbot ignoriert. Der Gesetzgeber kann daher Wechsel gar nicht bemerke, weil ich zum Beispiel beim nicht untätig bleiben und muss den unseriösen Unterneh- Strom nicht erkennen kann, ob er vom alten Anbieter men der Branche die passende Antwort geben. stammt oder von dem, der mir einen Vertrag unterge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schoben hat. Das Gleiche gilt auch für andere Bereiche wie dem Telefonbereich. Hier muss eine klare Warn- (B) (D) So viel zum Warum. funktion gegeben sein. Die zweite Gefahr ist, dass dieje- nigen, die aufgrund der Rechnung den Wechsel bemer- Wie gehen wir vor? Wir haben fünf zentrale Maßnah- ken und sich vielleicht erfolgreich dagegen wehren, men ergriffen. Diese will ich – auch das gehört zu der zwar aus dem untergeschobenen Vertrag herauskommen, klaren Botschaft an die Verbraucher – im Folgenden er- aber am Ende ohne Telefon- und Stromanbieter daste- wähnen. hen, weil der alte Vertrag nicht mehr gilt. Das wäre dann, Zum Ersten muss eine ausdrückliche Einwilligung wie ich schon einmal gesagt habe, vielleicht ein ganz vorliegen. Es reicht nicht mehr aus, dass ein Callcenter wirksamer Schutz gegen unerlaubte Telefonanrufe, aber meint, es liege schon eine Einwilligung vor oder man nicht der, den wir wollen. Wir wollen, dass die Leute te- könne aus einem bestimmten Verhalten auf eine Einwil- lefonieren können, aber mit den Gesprächspartnern, die ligung schließen. Dass eine ausdrückliche Einwilligung sie anrufen möchten oder von denen sie angerufen wer- gegeben sein muss, gibt deutlich mehr Rechtssicherheit. den wollen. Deswegen ist eine Bestätigungsregelung vorgesehen. Sie ist eine spezielle Lösung für ein speziel- Zum Zweiten verlangen wir, dass die anrufenden les Problem, also passgenau. Callcenter – um es bildlich zu sagen – ihr Visier hoch- klappen, dass also die Rufnummer angezeigt wird. Das Zum Fünften gehen wir mit diesem Gesetzentwurf hat mehrere Effekte. Zum einen kann man Verdacht ganz effektiv gegen Abofallen im Internet, aber auch im schöpfen, wenn keine Nummer angezeigt wird. Zum an- Telefonbereich vor. Da werden bisher Lücken im Wider- deren kann man als Verbraucher, wenn eine Nummer an- rufsrecht ausgenutzt. Wir wollen das Widerrufsrecht gezeigt wird, zurückverfolgen, wer eine Rechtsverlet- stärken. Wir wollen, dass man nachher nicht durch ein zung begangen hat. Lockangebot zwölf Monate oder noch länger kosten- pflichtig gebunden wird. Wer einen Anruf mit anonymer Nummer angenom- men hat, bei dem es sich nach ein paar Sekunden heraus- Diese fünf Maßnahmen sind effektiv; sie sind klar stellt, dass es sich um einen Werbeanruf handelt, der und wirksam. Natürlich kann man sich zu fast jeder die- muss nicht erst in seinem Gedächtnis kramen, ob er eine ser Maßnahme Varianten bzw. Alternativen vorstellen. entsprechende Einwilligung gegeben hat, sodass der An- Aber im Einzelnen ist während der Beratungen und auch ruf vielleicht doch legal ist. Denn wenn sich bei einem während unserer Berichterstattergespräche deutlich ge- Anruf mit anonymer Telefonnummer herausstellt, dass worden: Bei all diesen Alternativen und Varianten, die es sich um den Anruf eines Werbenden handelt, sollte zum Teil der Bundesrat ins Gespräch gebracht hat, über- man sofort auflegen. Das ist nicht unhöflich, sondern wiegen die Nachteile deutlich den Nutzen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23155

Dr. Günter Krings (A) Ich will drei Punkte herausgreifen. Ein Vorschlag war nicht übertrieben reagiert, sondern sehr angemessen und (C) zum Ersten, nicht die Rufnummeranzeige des Callcen- wirksam. ters, sondern die des Auftraggebers, der dahintersteht, Wir werden auch – das ist für diejenigen sehr wichtig, vorzusehen. Man kann sich schon jetzt ausmalen, wie die Skepsis an den Tag legen – eine Evaluierung vor- der arme Verbraucher zwischen Unternehmer, Auftrag- nehmen. Wir werden überprüfen, wie sich das Gesetz geber und Callcenter hin und her verwiesen wird auswirkt. Ich sage ja immer: Die Sprache, die wir im (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Richtig!) Bundestag pflegen, ist oft etwas schief. Wir sollten Ge- setzentwürfe nicht sozusagen auf Nimmerwiedersehen und dann immer noch nicht weiß, wer sein echter An- verabschieden, sondern müssen sie im Auge behalten, sprechpartner ist. Das haben wir aus diesem Grunde zu auch nachdem wir sie im Deutschen Bundestag be- Recht nicht vorgesehen. schlossen haben. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir werden das tun. Wir haben uns aber – ich habe es NEN]: Wollen wir auch nicht!) gesagt – gegen unpraktikable Maximalforderungen ge- wehrt. Wir wollen uns nicht für solche Maximalforde- Man hätte natürlich zum Zweiten ein höheres Buß- rungen auf die Schulter klopfen, sondern denjenigen, die geld verhängen können. Der Bundesrat hat von eine Rechtsverletzung begehen, auf die Finger klopfen. 250 000 Euro gesprochen. Wenn wir ein Bußgeld von Heute ist ein guter und schöner Tag; denn wir haben jetzt 250 000 Euro vorgesehen hätten, hätte eine Oppositions- ein Jahr über dieses Thema geredet und können heute fraktion dieses Hauses bestimmt 500 000 oder 1 Million handeln, indem wir diesen Gesetzentwurf beschließen. Euro gefordert. Über andere Beträge kann man zwar nachdenken; aber man muss immer in der Systematik Herzlichen Dank. unserer Rechtsordnung – diese ist durch politische Ent- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie scheidungen zustande gekommen – bleiben. Zum Bei- bei Abgeordneten der SPD) spiel werden in § 119 des Ordnungswidrigkeitengesetzes grob anstößige und belästigende Handlungen als Ord- nungswidrigkeit geahndet. Da ist ein Bußgeld von maxi- Vizepräsidentin Petra Pau: mal 10 000 Euro vorgesehen. Es passt also einfach nicht Das Wort hat der Kollege Dirk Manzewski für die in das System, Beträge zu wählen, die deutlich über die SPD-Fraktion. jetzige Systematik hinausgehen. 50 000 Euro sind fühl- (Beifall bei der SPD) bar; dies ist ein stattlicher Betrag, der zudem mehrfach anfallen kann. Dirk Manzewski (SPD): (B) Zum Dritten kann man natürlich darüber diskutieren, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe (D) ob wir nicht unser ganzes BGB-System ändern und sa- zahlreiche Freunde der Rechts- und Verbraucherpolitik! gen wollen: Im Prinzip, zumindest in besonderen Kon- (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh! – stellationen, darf es nur noch schriftliche Verträge bzw. Rainer Brüderle [FDP]: Wirklich etwas Neues! – Verträge geben, die schriftlich bestätigt werden. Ich halte Julia Klöckner [CDU/CSU]: Freundinnen aber das für deutlich übertrieben. Wir würden Gefahr laufen, auch!) im Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb Regeln über die Aufstellung von Verträgen festlegen zu müssen. Deutschland ist eines der wenigen Länder, in denen Te- Das hieße, dass wir das, was wir erreicht haben, also die lefonwerbung überhaupt verboten ist. Frau Klöckner, seien Sie mir nicht böse, aber ich muss es sagen, weil Sie gesamten Regeln über den Vertragsschluss in das BGB mich gerade gereizt haben: zurückzuholen – das war ein mühsamer Prozess –, wie- der aufgeben und die Rechtsordnung fragmentieren wür- (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Ehrlich?) den. Wir würden die Unsicherheit, ob ein Anruf erlaubt Dass das so ist, ist Rot-Grün zu verdanken – damals ge- oder unerlaubt war, in alle möglichen Zivilprozesse über gen den erheblichen Widerstand der Union. die Gültigkeit des Vertrages verlagern. Viele Anwälte hätten dann wahrscheinlich einen Textbaustein für ein (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten solches Argument in der gerichtlichen Auseinanderset- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zung. Wir würden – diesen Satz darf ich aufgreifen – den Damals fielen Worte wie: Die können doch einfach auf- Verbrauchern Steine statt Brot geben; das ist meine feste legen. – Ein Kollege sprach von Regierungsterror, und Überzeugung. eine mir ansonsten sehr sympathische Kollegin sprach Diese drei Punkte sind also keine gelungenen Bei- von einer Bevormundung der Bürger. spiele für wirkliche Alternativen oder Varianten. (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Es kam ja Wir haben mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, so nichts!) glaube ich, den richtigen Weg eingeschlagen. Wir müssen uns allerdings eingestehen – deswegen ist (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie es richtig, dass wir uns an dieses Thema noch einmal bei Abgeordneten der FDP) herangewagt haben –, dass die bestehenden Sanktions- möglichkeiten wie der Unterlassungsanspruch, der Wir schaffen wichtige und wirksame Verbesserungen, Gewinnabschöpfungsanspruch oder auch der Schadens- die passgenau – ich habe es in einigen Beispielen ausge- ersatzanspruch offenbar nicht ausreichen, die belästigen- führt – auf das Problem zugeschnitten sind. Es wird den Telefonanrufe in den Griff zu bekommen; denn sie 23156 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Dirk Manzewski (A) haben mittlerweile ein nicht mehr hinzunehmendes Aus- durch die erstmalige Inanspruchnahme einer Dienstleis- (C) maß angenommen. tung erlischt und – das halte ich für noch wichtiger – die Kündigung eines solchen Dauerschuldverhältnisses bzw. Hier setzt der Gesetzentwurf der Bundesregierung an, die Vollmacht hierzu nunmehr zwingend der Schriftform indem er eben das bestehende Sanktionsrecht weiter bedarf. verschärft. Wichtig ist, dass jeder einzelne Verstoß ge- gen das bestehende Verbot der unerlaubten Telefonwer- Erlauben Sie mir, an dieser Stelle noch einmal zu er- bung künftig mit einer selbstständigen Geldbuße geahn- wähnen, dass ich mir persönlich trotz aller Verbesserun- det wird. Eine solche Geldbuße gab es bislang nicht. Bei gen durch diesen Gesetzentwurf durchaus noch mehr Werbeanrufen darf die Rufnummer nicht mehr unter- hätte vorstellen können. Ich habe in den vorangegange- drückt werden, um die Identität zu verschleiern. Ein Pro- nen Debatten schon deutlich gemacht, dass auch ich blem in der Vergangenheit war, dass trotz bestehenden Sympathien für die große Bestätigungslösung habe, die Verbotes der Anrufer nicht festgestellt und deshalb nicht auch vom Bundesrat und einigen Vorrednern hier heute sanktioniert werden konnte. Diese Rufnummernunter- vorgetragen worden ist. Der Charme dieser großen Be- drückung wird nunmehr verboten und künftig ebenfalls stätigungslösung wäre gewesen, dass der Anreiz, diese mit einer Geldbuße sanktioniert. unerlaubten Telefonanrufe zu tätigen, ohne einen Ver- Gut finde ich übrigens, dass wir den ursprünglichen tragsschluss am Ende verloren gehen würde. Die beste Gesetzentwurf insoweit geändert haben, als nun definitiv Möglichkeit, diese Telefonanrufe zu verhindern, wäre allein die Telefonnummer des Anrufers und nicht al- also ein schriftliches Bestätigungserfordernis gewesen. ternativ die von dessen vermeintlichen Auftraggeber im Die Ministerin hat aber mit ihren Bedenken nicht un- Display zu erscheinen hat. Den Betroffenen ist es mei- recht; denn so unproblematisch wäre diese Lösung na- ner Auffassung nach nicht zuzumuten, mit dem ver- türlich auch nicht gewesen; das muss man ganz deutlich meintlichen Auftraggeber nun den Streit darüber auszu- sagen. Die große Bestätigungslösung – ich habe mich tragen, ob denn nun tatsächlich eine entsprechende gewundert, dass diese Lösung von den Befürwortern Beauftragung eines Callcenters vorlag oder nicht. Ich ohne Wenn und Aber so einfach vorgetragen wurde – möchte die Callcenter auch nicht aus der Verantwortung hätte mit Sicherheit Rechtsunsicherheit zur Folge ge- entlassen, dies mit ihrem Auftraggeber vorab abzuklä- habt; da hat die Ministerin völlig recht. Sie hätte am An- ren; denn es sind letztendlich die Callcenter, die diese fang mehr Bürokratie geschaffen. Es wäre auch nicht belästigenden Anrufe tätigen. auszuschließen gewesen, dass wir hierdurch erheblich in Ehrlicherweise muss ich eingestehen, dass diese Re- den Bereich des Fernabsatzes eingreifen und möglicher- geln natürlich Umgehungspotenzial beinhalten; das ist weise Hindernisse aufbauen würden, die weder dem In- (B) auch von Ihnen, Frau Kollegin, gesagt worden. Rufnum- teresse der Wirtschaft noch dem der Verbraucher gerecht (D) mern können, insbesondere wenn die Anrufe über den werden. Computer erfolgen, manipuliert werden. Selbst die Iden- Insoweit halte ich es für vertretbar, dass wir zunächst titätsfeststellung hilft nicht weiter, wenn die Anrufe aus den weniger einschneidenden Weg gehen und die Wir- dem Ausland erfolgen. Aber – auch das ist zu Recht ge- kung des Gesetzes nach drei Jahren evaluieren, um fest- sagt worden – nicht alle Anrufe sind unseriös. Zumin- zustellen, ob die im Gesetz enthaltenen Möglichkeiten dest gegenüber dem seriösen Teil der Branche werden ausreichend sind, um Verbraucherinnen und Verbraucher diese neuen Regularien weiterhelfen. tatsächlich und wirksam vor unerlaubter Telefonwer- Durch das Gesetz werden auch die Widerrufsmög- bung zu schützen. Danach können wir entscheiden, ob lichkeiten ausgeweitet. Anders als bislang können künf- wir doch den einschneidenderen Weg der Bestätigung tig nämlich auch Verträge über die sogenannten Ge- gehen. schäfte des täglichen Lebens, also über die Lieferung Lassen Sie mich abschließend noch eines sagen: Der von Zeitungen, Zeitschriften, Illustrierten, aber auch vorliegende Gesetzentwurf stellt im Vergleich zur der- über den Verkauf von Lotterie- und Wettdienstleistun- zeitigen Rechtslage eindeutig – ich betone das – eine gen, widerrufen werden. Bislang gab es hier kein Wider- Verbesserung für die Verbraucherinnen und Verbraucher rufsrecht. Wir schließen damit eine große Lücke und in unserem Land dar. Ich nenne noch einmal die Stär- werden den Verbraucherinnen und Verbrauchern damit kung des Sanktionsrechts, die Ausweiterung des Wider- weiterhelfen. rufsrechts und den verbesserten Schutz vor untergescho- Wir werden auch den Schutz vor untergeschobenen benen Verträgen. Ich kann zwar nachvollziehen, dass Verträgen verbessern. In der Vergangenheit ist es sehr sich der eine oder andere mehr gewünscht hat und sich häufig vorgekommen, dass Verbraucher erst durch zuge- deswegen der Stimme enthält. Wie man angesichts die- sandte vermeintliche Auftragsbestätigungen darauf auf- ser Verbesserungen den Gesetzentwurf, der eindeutig merksam wurden, dass ihre telefonische Einwilligung Verbesserungen für die Verbraucherinnen und Verbrau- zur Zusendung von Informationsmaterial von der ande- cher mit sich bringt, aber ablehnen kann, kann ich beim ren Seite ganz frech als Vertragsannahme, zum Beispiel besten Willen nicht nachvollziehen, Kollege Montag. zum Wechsel ihres Telefonanbieters, ausgelegt worden Ich danke Ihnen. ist und die Widerrufsmöglichkeiten, die sie hatten, durch die unbemerkte Nutzung des neuen Netzes bereits entfal- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Julia len waren. Wir werden eine Änderung dadurch errei- Klöckner [CDU/CSU]: Da zeigt sich, wer Ver- chen, dass das Widerrufsrecht zukünftig eben nicht mehr antwortung hat!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23157

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss- (C) Ich schließe die Aussprache. empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- antragstellenden Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Bekämp- der Fraktion Die Linke angenommen. fung unerlaubter Telefonwerbung und zur Verbesserung des Verbraucherschutzes bei besonderen Vertriebsfor- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a bis 36 j sowie men. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a die Zusatzpunkte 3 a bis 3 d auf: seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12406, 36 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem sache 16/10734 in der Ausschussfassung anzunehmen. Abkommen vom 6. November 2008 zwischen Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die der Bundesrepublik Deutschland und der Linke vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt Republik Österreich zur Vermeidung der Dop- für den Änderungsantrag auf Drucksache 16/12426? pelbesteuerung auf dem Gebiete der Erb- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ände- schaftsteuern bei Erbfällen, in denen der rungsantrag ist abgelehnt. Erblasser nach dem 31. Dezember 2007 und vor dem 1. August 2008 verstorben ist Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in – Drucksache 16/12236 – der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Rechtsausschuss Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bünd- b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- nis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh- Linke angenommen. rung des elektronischen Rechtsverkehrs und der elektronischen Akte im Grundbuchverfah- Dritte Beratung ren sowie zur Änderung weiterer grundbuch-, register- und kostenrechtlicher Vorschriften und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem (ERVGBG) Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- – Drucksache 16/12319 – entwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der Überweisungsvorschlag: (B) SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Rechtsausschuss (f) (D) Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Innenausschuss Fraktion Die Linke angenommen. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf zung des Rahmenbeschlusses 2006/783/JI des Drucksache 16/12455. Wer stimmt für diesen Entschlie- Rates vom 6. Oktober 2006 über die Anwen- ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält dung des Grundsatzes der gegenseitigen Aner- sich? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. kennung auf Einziehungsentscheidungen (Um- Tagesordnungspunkt 4 b: Beschlussempfehlung des setzungsgesetz Rahmenbeschluss Einziehung) Rechtsausschusses zu dem Antrag der Fraktion der FDP – Drucksache 16/12320 – mit dem Titel „Verbraucherschutz beim Telefonmarke- Überweisungsvorschlag: ting verbessern – Call-Center erhalten“. Der Ausschuss Rechtsausschuss (f) empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfeh- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union lung auf Drucksache 16/12406, den Antrag der Fraktion d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten der FDP auf Drucksache 16/8544 abzulehnen. Wer Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt des Gesetzes über die Entschädigung für dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Die Beschlussemp- Strafverfolgungsmaßnahmen fehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke, der Fraktion – Drucksache 16/12321 – Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDP- Überweisungsvorschlag: Fraktion angenommen. Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechtsaus- schusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- nen mit dem Titel „Verbot von Telefonwerbung zum Schutz gebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur der Verbraucherinnen und Verbraucher wirksam durchset- Änderung des Bundeszentralregistergesetzes zen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- – Drucksache 16/12427 – lung auf Drucksache 16/6059, den Antrag der Fraktion Überweisungsvorschlag: Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4156 abzuleh- Rechtsausschuss (f) nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer Innenausschuss 23158 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Vizepräsidentin Petra Pau (A) f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- ZP 3 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian (C) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verfol- Toncar, Burkhardt Müller-Sönksen, Dr. Karl gung der Vorbereitung von schweren staats- Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion gefährdenden Gewalttaten der FDP – Drucksache 16/12428 – Für ein kohärentes und effizientes Konzept der deutschen humanitären Hilfe Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) – Drucksache 16/7523 – Innenausschuss Finanzausschuss Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Auswärtiger Ausschuss g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Mücke, Horst Friedrich (Bayreuth), Patrick Entwicklung Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst der FDP Meierhofer, Hans-Michael Goldmann, Michael Kauch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Konjunktur jetzt stärken – Überlange Pla- der FDP nungszeiten verhindern Transparente und eindeutige Produktkenn- – Drucksache 16/11750 – zeichnung als Voraussetzung für ökologische Überweisungsvorschlag: Konsumentenverantwortung Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Rechtsausschuss – Drucksache 16/11911 – Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef Verbraucherschutz Philip Winkler, Volker Beck (Köln), , weiterer Abgeordneter und der Fraktion c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Philip Winkler, Wolfgang Wieland, Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Flüchtlinge entsprechend den Vorgaben der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Qualifikationsrichtlinie schützen Visumsfreie Einreise türkischer Staatsangehö- (B) – Drucksache 16/12323 – riger für Kurzaufenthalte ermöglichen (D) Überweisungsvorschlag: – Drucksache 16/12437 – Innenausschuss (f) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Tourismus Pothmer, Markus Kurth, Irmingard Schewe- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Gerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN d) Beratung des Antrags der Fraktionen FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gleiche Bezahlung, gleiche Behandlung und Mindestlohn für Leiharbeitnehmerinnen und Einsetzung eines Untersuchungsausschusses -arbeitnehmer – Drucksache 16/12480 – – Drucksache 16/12435 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Überweisungsvorschlag: Geschäftsordnung Ausschuss für Arbeit und Soziales Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- j) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- ten Verfahren ohne Debatte. regierung Wir kommen zunächst zu den unstrittigen Überwei- Umweltgutachten 2008 des Sachverständigen- sungen. Dies betrifft die Tagesordnungspunkte 36 a bis rates für Umweltfragen 36 j sowie die Zusatzpunkte 3 a, 3 c und 3 d. Interfrak- Umweltschutz im Zeichen des Klimawandels tionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. – Drucksache 16/9990 – Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann Überweisungsvorschlag: sind die Überweisungen so beschlossen. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Wir kommen nun zu einer Überweisung, bei der die Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Federführung strittig ist. Es geht um den Zusatz- Verbraucherschutz punkt 3 b. Interfraktionell wird die Überweisung des Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Antrags der Fraktion der FDP betreffend die „Transpa- Entwicklung rente und eindeutige Produktkennzeichnung als Voraus- Ausschuss für Tourismus setzung für ökologische Konsumentenverantwortung“, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23159

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Drucksache 16/11911, an die in der Tagesordnung aufge- Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- (C) führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Fraktionen von schusses (6. Ausschuss) CDU/CSU und SPD wünschen die Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, die Fraktion – Drucksache 16/12461 – der FDP wünscht die Federführung beim Ausschuss für Berichterstattung: Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Abgeordnete Ute Granold Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Christine Lambrecht Fraktion der FDP abstimmen, also über die Federfüh- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger rung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Re- Wolfgang Nešković aktorsicherheit. Wer stimmt für diesen Überweisungs- Jerzy Montag vorschlag? – Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 16/12461, den Gesetzent- Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12063 an- Fraktionen von CDU/CSU und SPD abstimmen, also zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf über die Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt und Technologie. Wer stimmt für diesen Überweisungs- vorschlag? – Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Der dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stim- Dritte Beratung men der übrigen Fraktionen angenommen. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 37 a Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – bis 37 i sowie den Zusatzpunkten 4 a bis 4 j. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- keine Aussprache vorgesehen ist. entwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 37 a: Tagesordnungspunkt 37 c: Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des notariellen Disziplinar- zu dem Abkommen vom 8. Oktober 2008 zwi- rechts schen der Bundesrepublik Deutschland und – Drucksache 16/12062 – der Republik Indien über Sozialversicherung (B) (D) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- – Drucksache 16/12065 – schusses (6. Ausschuss) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- – Drucksache 16/12460 – ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) Berichterstattung: – Drucksache 16/12352 – Abgeordnete Michael Grosse-Brömer Dr. Carl-Christian Dressel Berichterstattung: Mechthild Dyckmans Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolb Wolfgang Nešković Jerzy Montag Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12352, Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache empfehlung auf Drucksache 16/12460, den Gesetzent- 16/12065 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12062 an- setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt entwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig ange- dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist nommen. damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- entwurf ist einstimmig angenommen. entwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 37 b: Tagesordnungspunkt 37 d: Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs zur Änderung des Internationalen Familien- eines Gesetzes zu dem Haager Übereinkom- rechtsverfahrensgesetzes men vom 19. Oktober 1996 über die Zustän- – Drucksache 16/12063 – digkeit, das anzuwendende Recht, die Aner- 23160 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Vizepräsidentin Petra Pau (A) kennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- (C) auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern (15. Ausschuss) – Drucksache 16/12068 – – Drucksache 16/12451 – Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Berichterstattung: schusses (6. Ausschuss) Abgeordneter Dr. – Drucksache 16/12462 – Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick- lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Berichterstattung: Drucksache 16/12451, den Gesetzentwurf der Bundesre- Abgeordnete Ute Granold gierung auf Drucksache 16/12118 in der Ausschussfas- Christine Lambrecht sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um Wolfgang Nešković das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält Jerzy Montag sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- angenommen. empfehlung auf Drucksache 16/12462, den Gesetzent- Dritte Beratung wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12068 an- zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dage- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – gen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist ein- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- stimmig angenommen. entwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 37 e: Tagesordnungspunkt 37 g: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Vorschriften des Interna- zur Aufhebung der Freihäfen Emden und Kiel tionalen Privatrechts an die Verordnung (EG) – Drucksache 16/12228 – Nr. 593/2008 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- – Drucksache 16/12104 – schusses (7. Ausschuss) (B) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- (D) – Drucksache 16/12454 – schusses (6. Ausschuss) Berichterstattung: – Drucksache 16/12463 – Abgeordnete Berichterstattung: Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Abgeordnete Daniela Raab empfehlung auf Drucksache 16/12454, den Gesetzent- Dirk Manzewski wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12228 an- Mechthild Dyckmans zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf Wolfgang Nešković zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt Jerzy Montag dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. empfehlung auf Drucksache 16/12463, den Gesetzent- Dritte Beratung wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12104 an- zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. entwurf ist einstimmig angenommen. Dritte Beratung Tagesordnungspunkt 37 h: und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- eines Gesetzes zu dem Zweiten Protokoll vom entwurf ist angenommen. 26. März 1999 zur Haager Konvention vom 14. Mai 1954 zum Schutz von Kulturgut bei Tagesordnungspunkt 37 f: bewaffneten Konflikten Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- – Drucksache 16/12234 – gierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gefahrgutbeförde- Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti- rungsgesetzes gen Ausschusses (3. Ausschuss) – Drucksache 16/12118 – – Drucksache 16/12452 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23161

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Berichterstattung: Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- (C) Abgeordnete Eckart von Klaeden hält sich? – Die Sammelübersicht 544 ist damit einstim- Monika Griefahn mig angenommen. Harald Leibrecht Wolfgang Gehrcke Zusatzpunkt 4 c: Dr. Uschi Eid Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Be- ausschusses (2. Ausschuss) schlussempfehlung auf Drucksache 16/12452, den Gesetz- Sammelübersicht 545 zu Petitionen entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12234 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- – Drucksache 16/12440 – wurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist hält sich? – Die Sammelübersicht 545 ist mit den Stim- einstimmig angenommen. men der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDP- Tagesordnungspunkt 37 i: Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und Zweite Beratung und Schlussabstimmung des bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen an- von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs genommen. eines Gesetzes zu dem Stabilisierungs- und Zusatzpunkt 4 d: Assoziierungsabkommen zwischen den Euro- päischen Gemeinschaften und ihren Mitglied- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- staaten einerseits und Bosnien und Herzego- ausschusses (2. Ausschuss) wina andererseits Sammelübersicht 546 zu Petitionen – Drucksache 16/12235 – – Drucksache 16/12441 – Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- gen Ausschusses (3. Ausschuss) hält sich? – Die Sammelübersicht 546 ist einstimmig an- – Drucksache 16/12453 – genommen. Berichterstattung: Zusatzpunkt 4 e: Abgeordnete Philipp Mißfelder Uta Zapf Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Dr. Werner Hoyer ausschusses (2. Ausschuss) (B) Wolfgang Gehrcke Sammelübersicht 547 zu Petitionen (D) Marieluise Beck (Bremen) – Drucksache 16/12442 – Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 16/12453, den Gesetzentwurf der Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Bundesregierung auf Drucksache 16/12235 anzuneh- hält sich? – Die Sammelübersicht 547 ist mit den Stim- men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu- men der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP- stimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dage- Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei gen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist mit den Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der Zusatzpunkt 4 f: FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenom- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- men. ausschusses (2. Ausschuss) Wir kommen damit zu den Beschlussempfehlungen Sammelübersicht 548 zu Petitionen des Petitionsausschusses. – Drucksache 16/12443 – Zusatzpunkt 4 a: Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- hält sich? – Die Sammelübersicht 548 ist gegen die ausschusses (2. Ausschuss) Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenom- Sammelübersicht 543 zu Petitionen men. – Drucksache 16/12438 – Zusatzpunkt 4 g: Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- hält sich? – Die Sammelübersicht 543 ist damit ange- ausschusses (2. Ausschuss) nommen. Sammelübersicht 549 zu Petitionen Zusatzpunkt 4 b: – Drucksache 16/12444 – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- hält sich? – Die Sammelübersicht 549 ist gegen die Sammelübersicht 544 zu Petitionen Stimmen der Fraktion Die Linke bei Zustimmung der – Drucksache 16/12439 – anderen Fraktionen angenommen. 23162 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Zusatzpunkt 4 h: nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die (C) Linke angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Zusatzpunkt 5 b. Hierzu liegen ein gemeinsamer Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und Sammelübersicht 550 zu Petitionen FDP sowie ein gemeinsamer Wahlvorschlag der Fraktio- – Drucksache 16/12445 – nen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen vor. Wir stimmen zuerst über den Wahlvorschlag der Fraktionen Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache hält sich? – Die Sammelübersicht 550 ist mit den Stim- 16/12419 ab. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? – men der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDP- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Wahl- Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/ vorschlag ist abgelehnt. Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke ange- nommen. Wir stimmen nun über den Wahlvorschlag der Frak- tionen der CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache Zusatzpunkt 4 i: 16/12418 ab. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Wahl- ausschusses (2. Ausschuss) vorschlag ist angenommen. Sammelübersicht 551 zu Petitionen Ich rufe Zusatzpunkt 1 auf: – Drucksache 16/12446 – Aktuelle Stunde Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und hält sich? – Die Sammelübersicht 551 ist mit den Stim- der SPD men der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDP- Bekämpfung der Kinderpornografie im Inter- Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und net der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Zusatzpunkt 4 j: Wolfgang Bosbach für die Unionsfraktion. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- (Beifall bei der CDU/CSU) ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 552 zu Petitionen Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (B) (D) – Drucksache 16/12447 – Es gibt im Deutschen Bundestag eine Fülle von strittigen Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Themen. Das ist nicht weiter schlimm; das gehört zum hält sich? – Die Sammelübersicht 552 ist angenommen. Wesen einer lebendigen Demokratie. Es muss aber auch politische Themen geben, bei denen fraktions- und par- Ich rufe die Zusatzpunkte 5 a und 5 b auf: teiübergreifend Einigkeit besteht. Für die CDU/CSU- Wahlen zu Gremien Bundestagsfraktion sage ich – als Vertreter ohne Vertre- tungsmacht sage ich das auch für alle anderen Fraktio- a) Wahl von Mitgliedern des Stiftungsrates der nen –: Wir wollen Kindesmissbrauch und Kinderporno- unselbständigen Stiftung „Stiftung Flucht, grafie entschlossen bekämpfen, wo immer wir das Vertreibung, Versöhnung“ können – nicht nur, aber auch im Internet. Wahlvorschläge der Fraktionen der CDU/CSU (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der SPD und der LINKEN) – Drucksache 16/12417 – Kinderpornografie ist ein abscheuliches Geschäft, mit b) Wahl von Mitgliedern des Kuratoriums der dem man Millionen verdienen kann, und zwar mit dem Stiftung „Deutsches Historisches Museum“ Leid von Jugendlichen und Kindern, ja sogar von Kleinstkindern; ein Drittel aller Opfer ist unter drei Jahre – Wahlvorschläge der Fraktionen DIE LINKE alt. und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir freuen uns, dass wir eine Ministerin haben, die – Drucksache 16/12419 – dieses Problem nicht nur wortreich beschreibt und be- – Wahlvorschläge der Fraktionen der CDU/CSU, klagt, die nicht nach der Methode „Ich habe für jede Lö- SPD und FDP sung ein Problem“ arbeitet, sondern für jedes Problem eine Lösung sucht. Frau Ministerin von der Leyen, wir – Drucksache 16/12418 – sind Ihnen für Ihre Initiative von Herzen dankbar. Zusatzpunkt 5 a. Hierzu liegt ein Wahlvorschlag der (Beifall bei der CDU/CSU) Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/12417 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? – Die Entwicklung ist besorgniserregend; Besitz und Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Wahl- Verbreitung von Kinderpornografie spiegeln sich in der vorschlag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der Polizeilichen Kriminalstatistik wie folgt wider: 1995 gab SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bünd- es 414 Fälle mit 1 350 Tatverdächtigen; 2006 gab es Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23163

Wolfgang Bosbach (A) 7 300 Fälle mit 5 700 Verdächtigen; 2007 gab es völlig anderes als die Sperrung kinderpornografischer (C) 11 350 Fälle mit knapp 10 000 Tatverdächtigen. Seiten, die ohnehin verboten sind. Hier geht es nur da- rum, dass wir mittels Technik verhindern, dass Straftaten Das Internet ist nicht nur eine fantastische technische begangen werden können – nicht mehr und nicht weni- Errungenschaft und Einrichtung. Es wird leider immer ger. Es ist ja nicht so, als sei das alles straflos. Das war häufiger auch als Werkzeug zur Begehung von Straftaten schon immer strafbar. benutzt. Bei der Kinderpornografie im Internet gab es von 2006 auf 2007 einen Aufwuchs von 111 Prozent. Wir können diesen Markt wahrscheinlich auch nicht Wir schätzen, dass es von 2006 auf 2007 im Internet austrocknen. Mit ihrer Aussage in der heutigen Ausgabe, 50 000 bis 60 000 Seiten mit kinder- und jugendporno- die Maßnahmen seien nur begrenzt wirksam, hat die grafischem Inhalt gab. Manche Videos werden bis zu Süddeutsche Zeitung recht. Aber das ist doch ein völlig 50 000-mal pro Monat angeklickt. Das zeigt die gewal- schräges Argument gegen die Initiative. Mir ist eine tige Dimension des Problems. Maßnahme, mit der eine begrenzte Wirkung erzielt wird, lieber als ein Unterlassen, das eine unbegrenzte Wir- Es soll keiner sagen, er habe diese Bilder ja nur ange- kungslosigkeit zur Folge hat. klickt und der Kindesmissbrauch sei ja schon vorher ge- schehen; denn sonst gäbe es diese Präsentation im Inter- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- net nicht. Diese Argumentation ist pervers; denn jeder, neten der SPD – Renate Gradistanac [SPD]: der ein solches Bild anklickt bzw. eine solche Präsenta- Das ist nicht die Alternative!) tion herunterlädt, stiftet andere an, erneut Kinder für die- Es geht nicht nur, aber zunächst darum, dass wir mit sen Zweck zu missbrauchen. den Providern Verträge abschließen. Das soll in den (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der nächsten Tagen geschehen. Deswegen sollte man noch FDP sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE einmal die benennen, die bereit sind, eine solche Unter- LINKE] und der Abg. Ekin Deligöz [BÜND- zeichnung zu leisten: Bis zur Stunde sind das Telekom, NIS 90/DIE GRÜNEN]) Vodafone/Arcor, Telefónica und O2. Daneben gibt es noch zwei Provider, die auf dem Wege sind und sich ein Es gibt Länder, die mit dem Sperren solcher Seiten im bisschen beeilen sollten: Das sind Kabel Deutschland Internet bereits Erfahrungen gesammelt haben. Teilweise und Hansenet/Alice. geschah dies auf vertraglicher Basis, teilweise auf ge- setzlicher Basis. Betrachten wir die Erfahrungen des (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Landes Norwegen und rechnen wir die Zahlen Norwe- Das sind keine Vertragspartner!) gens auf die Verhältnisse in Deutschland um: Durch die Die FDP hat gestern beklagt, dass Ministerin von der Sperrung dieser Seiten könnten wir zwischen 300 000 (B) Leyen Provider benannt hat, die nicht bereit sind, auf (D) und 400 000 Aufrufe pro Tag verhindern. freiwilliger Basis mit dem Bundeskriminalamt zu koope- Wir wollen ein zweistufiges Verfahren, und zwar zu- rieren. nächst und sofort eine vertragliche Vereinbarung mit den (Zurufe von der FDP) Providern. Es ist bedauerlich, dass sich die Bundes- ministerin der Justiz nicht in der Lage sieht, ein solches Die FDP hat gesagt: Die Nennung ist problematisch; vertragliches Verfahren mitzutragen. denn das könnte die Provider ja in Verlegenheit bringen. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Soll sie ja NEN]: Das geht auch gar nicht!) auch!) Das ist aber nicht weiter dramatisch; denn wir wollen ja auch ein Gesetzgebungsverfahren in Gang setzen. Die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Gesetzgebungszuständigkeit liegt hier beim Bundesmi- Herr Kollege Bosbach. nister für Wirtschaft. Dort ist sie in guten Händen. Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU – Renate Ich bin gleich fertig. Gradistanac [SPD]: Das bezweifle ich! Wo ist er denn? – [SPD]: Er ist leider nicht anwesend! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: DIE GRÜNEN]: Was ist denn das für eine Be- Ja, bitte. handlung der Justizministerin?) Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Wer jetzt sagt, dass die Sperrung kinderpornografi- Für diese Argumentation habe ich sogar Verständnis. scher Seiten an die Bemühungen der chinesischen Re- Deswegen tue ich das hier noch einmal. gierung erinnert, Zensur auszuüben, der hat nichts be- griffen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Nein, Herr Kollege Bosbach. Kerstin Griese [SPD]) In China geht es darum, regierungskritische Äußerungen Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): zu verbieten, sodass sich das Ausland nicht über die Ver- Bis zur Stunde sind United Internet/1&1, Freenet AG hältnisse in diesem Land informieren kann. Das ist etwas und Versatel nicht dazu bereit. Wir sollten sie dringend 23164 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Wolfgang Bosbach (A) darum bitten, sich einer Vereinbarung nicht zu verschlie- Inhalten sucht, der wird sie unter Umgehung der jetzt (C) ßen. vorgesehenen Sperren auch weiterhin finden. Professor Sieber vom Max-Planck-Institut für ausländisches und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- internationales Strafrecht macht in seinem Gutachten zu neten der SPD) Sperrverfügungen im Internet nicht nur deutlich, dass diese Sperren auch an DNS-Servern einen Eingriff in Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Art. 10 Grundgesetz, also sozusagen in die Kommunika- Das Wort hat der Kollege Christoph Waitz von der tionsfreiheit, darstellen, sondern er beschreibt in ihm FDP-Fraktion. auch, wie leicht diese Sperren umgangen werden kön- nen. Dazu genügt unter Umständen schon der Einsatz ei- (Beifall bei der FDP) ner internationalen Suchmaschine. Die detaillierte Be- schreibung, wie man DNS-Sperren umgehen kann, Christoph Waitz (FDP): findet sich schon seit vielen Jahren auf der Internetseite Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen des Chaos Computer Clubs. und Herren! Man merkt schon, welcher Pfeffer in dieser Diskussion ist. Trotzdem muss der Staat tun, was in seiner Macht steht, um Kinderpornografie zurückzudrängen. Nicht Ich habe gestern an der Fragestunde teilgenommen mehr und nicht weniger erwarten wir von unserem und die Präsentation von Frau von der Leyen gehört. Ich Rechtsstaat. muss Ihnen ehrlich sagen: Ich empfinde es schlichtweg als einen extrem schlechten Politikstil, wenn man ver- (Beifall bei der FDP) sucht, Sachverhalte, die man hier im Parlament nicht nachvollziehen kann, weil man an den entsprechenden Wie die Analyse internationaler Filterlisten ergeben Verhandlungen nicht teilgenommen hat, in dieser Art hat, befinden sich die Server, auf denen kinderpornogra- und Weise öffentlich zu machen und bestimmte Unter- fische Inhalte abgelegt sind, zumeist im Ausland. Betrof- nehmen, deren Position und Argumente man schlicht- fen sind insbesondere – das habe ich schon gestern in der weg nicht kennt, in dieser Art und Weise an den Pranger Fragestunde erwähnt – Nordamerika, Australien und zu stellen. Das verstehe ich nicht. Westeuropa. In diesen Staaten und Regionen steht Kin- derpornografie unter Strafe. Eine Schutzlücke ist aus (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der strafrechtlicher Sicht weder in Deutschland noch in den SPD – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: anderen erwähnten Staaten vorhanden. Aus Sicht der Das ist sogar ihre Verpflichtung!) FDP-Fraktion ist es entscheidend, durch die Verbesse- Mir läuft die Zeit davon. Ich hoffe, ich bekomme das rung der internationalen Strafverfolgung und eine ver- (B) in den Griff. besserte Kooperation der Strafverfolgungsbehörden da- (D) für zu sorgen, dass kinderpornografische Inhalte Es ist schwer, in Worte zu fassen, was Kindern welt- möglichst weitgehend aus dem Internet verschwinden. weit angetan wird, um kinderpornografische Inhalte zu Es geht also nicht nur darum, sie zu sperren, sondern produzieren. Frau von der Leyen macht das immer sehr man sollte sie schlichtweg verschwinden lassen. plastisch deutlich, und sie hat recht. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der FDP) der SPD und der LINKEN) Es ist für mich nicht nachvollziehbar, warum sich Men- Die Wahl des amerikanischen Präsidenten begründet schen diese Bilder und Inhalte ansehen. Klar ist aber, meines Erachtens die berechtigte Hoffnung, jetzt bei der dass wir nicht tatenlos zusehen können. internationalen Harmonisierung des Internetstrafrechts Die FDP-Bundestagsfraktion unterstützt den Kampf ein weiteres Stück voranzukommen. gegen Kinderpornografie voll und ganz. Wir können nicht hinnehmen, dass Jungen und Mädchen weltweit in Den Strafverfolgungsbehörden stellen sich im In- und dieser Form Schaden zugefügt wird. Ausland die gleichen Herausforderungen. Wenn ich die Stellungnahme des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (Beifall bei der FDP) richtig verstanden habe, dann brauchen wir in Deutsch- Unser Rechtsstaat hat eine besondere Schutzverpflich- land zur Bewältigung dieser Aufgaben mehr und besser tung gerade gegenüber Kindern und Jugendlichen. Die- qualifizierte Ermittler. Darüber hinaus ist der internatio- ser Verpflichtung müssen und werden wir nachkommen. nale Druck auf diejenigen Staaten notwendig, die Kin- derpornografie nach wie vor unzureichend und schlep- Trotz aller Freiheiten, die das Internet den Menschen pend verfolgen. täglich weltweit bietet, ist das Internet kein rechtsfreier Raum. Die steigende Anzahl kinderpornografischer In- Wir können es nicht bei mehr oder weniger symboli- halte im Internet macht deutlich, dass wir dringend et- schen Sperrermächtigungen oder Sperrverfügungen be- was unternehmen müssen, um diese Inhalte einzudäm- lassen. Wir müssen das eigentliche Problem angehen. men. Das sind meines Erachtens die Produzenten und Ver- markter kinderpornografischer Inhalte. An dieser Stelle Natürlich geben wir uns nicht der Illusion hin, dass muss der Verfolgungsdruck weiter erhöht werden. Kinderpornografie im Internet völlig zu verhindern wäre. Die technischen Voraussetzungen dafür sind (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schlicht und ergreifend nicht gegeben. Wer nach diesen der SPD und der LINKEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23165

Christoph Waitz (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, je größer ein Ein- Es ist ja nicht so, dass wir in der Vergangenheit nichts (C) griff in die Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger ist, gemacht hätten. desto stärker gilt die Verpflichtung, diesen Eingriff ge- setzlich zu regeln. Dabei gilt immer der Grundsatz der (Monika Griefahn [SPD]: Genau! – Renate Verhältnismäßigkeit. Sosehr ich die Bereitschaft vieler Gradistanac [SPD]: Exakt!) Internetprovider begrüße – Herr Bosbach hat die Namen im Einzelnen genannt –, auf der Basis einer vertragli- Es ist schon viel getan worden; das dürfen wir nicht ver- chen Regelung DNS-Sperren für Internetseiten mit kin- gessen. Im Kampf gegen Kinderpornografie haben wir derpornografischen Inhalten umzusetzen, der Vertrag unter anderem das Strafgesetzbuch mehrfach verschärft zwischen dem Bundeskriminalamt und den Providern und einen eigenen Straftatbestand Kinderpornografie ge- bedarf unserer Meinung nach einer spezialgesetzlichen schaffen. Beim Bundeskriminalamt gibt es eine Spe- Regelung zur Unterfütterung. Maßnahmen auf der Basis zialeinheit, die Zentralstelle „Kinderpornografie“. Die des im Bundeskabinett beschlossenen Eckpunktepapiers Zusammenarbeit mit internationalen Behörden wurde in- halten wir für nicht ausreichend rechtlich abgesichert. So tensiviert. Das Bundeskriminalamt und die Landeskrimi- habe ich auch unsere Justizministerin Zypries verstan- nalämter durchforsten gezielt das Internet auf kinderpor- den. Die beträchtlichen technischen, einfachgesetzlichen nografische Inhalte. Kinderpornografische Internetseiten und verfassungsrechtlichen Fragen verbieten einen mit werden auf deutschen Servern schon heute gesperrt. All einem Eckpunktepapier versehenen Schnellschuss. diese Maßnahmen haben dazu geführt, dass allein 2006 1 481 Personen wegen der Straftat Kinderpornografie Da die technische Umsetzung möglicher DNS-Sper- verurteilt worden sind. Angesichts ihrer Personalausstat- ren mindestens mehrere Monate in Anspruch nimmt, tung leisten die Behörden – ich schaue in Richtung In- sollten wir die Zeit bis zum Ende der Legislaturperiode nenministerium – Enormes. Das sei an dieser Stelle auch gemeinsam dazu nutzen, die nötigen gesetzlichen einmal erwähnt. Grundlagen zu schaffen. Eine gesetzliche Regelung darf aber nicht zum Einfallstor für die Durchregulierung des (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Internets werden. Fragen des Urheberrechts oder der all- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gemeinen Haftung von Internetprovidern dürfen nicht mit der Sperrung von kinderpornografischen Seiten ver- Der Handel mit Kinderpornografie im Internet breitet quickt werden. Eine Regelung der DNS-Sperrermächti- sich, wie gesagt, immens aus. Deshalb müssen wir wei- gung im Telemediengesetz, wie Sie es vorhaben, wäre ter tätig werden und alles uns Mögliche tun. Herr das Trojanische Pferd, Bosbach, es geht also nicht um eine Auseinandersetzung zwischen Ministerien. Vielmehr geht es um die Frage: (B) (Renate Gradistanac [SPD]: Sehr gut!) Wie sieht es mit ausländischen Websites aus? Lassen (D) sich diese Seiten genauso gut sperren wie die kinderpor- über das alle weiteren Themen um mögliche Lizenz- und nografischen Seiten auf deutschen Servern? Wir wissen: Rechteverletzungen künftig auf die Provider abgewälzt Hier ist ein kommerzieller Markt entstanden, der Millio- werden könnten. nenumsätze verspricht. Ein Massengeschäft mit 300 000 Recht herzlichen Dank. bis 400 000 Klicks pro Tag! Es muss uns gelingen, die- sen kommerziellen Markt durch Zugangssperren, wie sie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten bereits in Finnland, Norwegen, Schweden, Dänemark, der SPD – [CDU/CSU]: Großbritannien und Italien angewendet werden, zu stö- Ganz schwache Rede!) ren. Technische Zugangssperren könnten – so sagt der Präsident des BKA – den Handel eindämmen. Allein in Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Norwegen wurden 15 000 Versuche, auf kinderporno- grafische Angebote zuzugreifen, abgewehrt. Für uns Das Wort hat die Kollegin Christel Humme von der Kinder- und Familienpolitikerinnen und -politiker ist SPD-Fraktion. klar: Jede Maßnahme, die hilft, den Zugang zu Kin- (Beifall bei der SPD) derpornografieseiten zu stören, zu behindern oder gar zu verhindern, ist richtig. Christel Humme (SPD): (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! der FDP) Zur Erinnerung, worüber wir heute reden: Wir reden heute über die Schwächsten in der Gesellschaft: die Kin- Herr Bosbach, Sie haben recht: Es bleibt die Frage, der – Kinder, die Opfer von sexueller Gewalt und Aus- warum die Internetbetreiber in Deutschland zögern, beutung werden. Nach Angaben des Bundeskriminalam- wenn es um eine freiwillige vertragliche Vereinbarung tes wird Kinderpornografie immer brutaler und kommt geht. Sicherlich ist ihnen auch die deutsche Rechtslage häufiger vor. Selbst vor Babys macht Kinderpornografie bekannt. Sie wollen sich nicht in einem rechtsfreien keinen Halt. Wir stellen auch fest: Die Verbreitung im Raum bewegen. Deshalb hat der Präsident des Bundes- Internet nimmt rasant zu. Das können und wollen wir kriminalamtes bereits im August des letzten Jahres in ei- nicht hinnehmen. Gegen diese abscheulichen Verbre- nem Interview eine gesetzliche Verpflichtung für die In- chen müssen wir auf allen Ebenen wirksam vorgehen. ternetbetreiber gefordert. (Beifall im ganzen Hause) (Beifall bei der SPD) 23166 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Christel Humme (A) Ich glaube, es ist nicht der richtige Weg, jetzt zwei Jörn Wunderlich (DIE LINKE): (C) Ministerien gegeneinander auszuspielen, Herr Bosbach. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir von Kinderpornografie, sexuellem Missbrauch (Beifall bei der SPD, bei Abgeordneten des oder sexueller Ausbeutung von Kindern sprechen, dann BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des reden wir von schrecklichen Verbrechen an Kindern, die Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP] – tiefe Narben an Körper und Seele hinterlassen und mit- Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das tun die ja unter auch zum Tod führen. Gegen Kinderpornografie in selber!) den neuen Medien – sprich: Internet – muss entschieden Frau von der Leyen, wenn wir uns schon vor einem hal- vorgegangen werden. Auf dem Weltkongress gegen die ben Jahr auf den Weg gemacht und auch mit dem Justiz- sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen in ministerium und nicht nur mit dem Innenministerium Rio de Janeiro im November letzten Jahres haben wir als oder dem Wirtschaftsministerium die Zusammenarbeit Vertreter der Kinderkommission mit den Regierungs- gesucht hätten, dann würden wir heute nicht über Eck- delegationen zusammengesessen und besprochen, dass punkte, sondern über einen Gesetzentwurf diskutieren. international zusammengearbeitet werden muss, auf Ich glaube, ein Gesetz wäre die richtige Maßnahme. nationaler Ebene aber die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen werden müssen, um effektiv gegen sexuellen (Beifall bei der SPD, der FDP und der LIN- Missbrauch vorgehen zu können. Das, was machbar ist, KEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- sollte unverzüglich umgesetzt werden. SES 90/DIE GRÜNEN) Nun ist natürlich die Frage, was in Deutschland natio- Darum kündige ich für die SPD-Fraktion heute einen nal umsetzbar ist. Was ist in Bezug auf Kinderpornogra- eigenen Gesetzentwurf gegen Kinderpornografie im In- fie überhaupt in den letzten Jahren geschehen? So gut ternet an, der zeitnah nach den Osterferien eingebracht wie nichts. Hinsichtlich mit den Internetprovidern ab- werden wird, damit wir schnell handeln können; denn zuschließender Verträge – das ist das Kernstück der wir wollen beides: Wir wollen, dass sich die Internetbe- heutigen Debatte – wurden von verschiedener Seite treiber auf den Weg machen, die technischen Möglich- verfassungsrechtliche Bedenken geäußert, auch aus dem keiten für eine Zugangssperre zu schaffen – dafür brau- Justizministerium kamen entsprechende Bedenken. In chen sie Zeit –, und wir wollen die Zeit nutzen, eine den gestern im Kabinett verabschiedeten Eckpunkten hat sichere gesetzliche Grundlage zu schaffen. Das ist der sich die Regierung nun darauf verständigt, richtige Weg. zügig ein Gesetzgebungsverfahren zu initiieren, in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dem ein verbindlicher rechtlicher Rahmen für die DIE GRÜNEN) Erschwerung des Zugangs (B) (D) Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, uns ist klar, dass geschaffen wird. In diesem erforderlichen Gesetz sollen die Bekämpfung der Verbreitung sexueller Gewalt im In- auch die verfassungsrechtlichen Fragen einer Klärung ternet nur ein Baustein in einer Gesamtstrategie zum zugeführt werden. Also gibt es doch zu Recht verfas- Schutz unserer Kinder sein kann. Wir brauchen eine Ge- sungsrechtliche Bedenken? samtstrategie, zu der unter anderem eine effektive Straf- verfolgung im In- und Ausland, Opferschutz, aber auch Wie nun gestern auf der nationalen Folgekonferenz Aufklärung und Prävention gehören. gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern zu erfah- ren war, betrifft die mit einigen Providern vertraglich (Beifall des Abg. Christoph Waitz [FDP]) vereinbarte Sperrung von Internetseiten Sperrungen auf Es gibt nicht nur bei den Internetbetreibern Handlungs- DNS-Ebene. Laut Sachverständigen ist diese Sperre je- bedarf. Es gibt auch Handlungsbedarf bei den Mobil- doch ein untaugliches Mittel. Zum einen soll diese funkunternehmen, den Suchmaschinen und anderen rele- Sperre leicht zu umgehen sein, zum anderen sollen Kin- vanten Akteuren im Bereich der neuen Medien, nicht derpornos nicht frei im Netz verfügbar sein, sondern vor zuletzt bei den Lehrern, Erziehern, Pädagogen sowie den allem über sogenannte Nutzergruppen getauscht werden. Eltern. Wir, die Gesellschaft, müssen Stellung nehmen, Durch das Sperren werden die Seiten nicht aus dem In- wir müssen Kinderpornografie ächten. Mit der immer ternet entfernt; die Kinderschänder sind dort weiter ak- wieder anzutreffenden Bagatellisierung muss Schluss tiv. Die Seiten müssen da heraus. sein. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der FDP) Schönen Dank. Den Opfern wird damit in keiner Weise geholfen. Die (Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Polizei braucht mehr Personal und eine bessere techni- Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE sche Ausstattung, um an die Täter heranzukommen. Es GRÜNEN und des Abg. Jörn Wunderlich reicht nicht aus, die Straße zu sperren, in der der Täter [DIE LINKE]) wohnt. Diese Kritik des Vorsitzenden des Bundes Deut- scher Kriminalbeamter teilen wir. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Jetzt hat der Kollege Jörn Wunderlich von der Frak- Frau von der Leyen, was ist denn in den Jahren Ihrer tion Die Linke das Wort. Regierung passiert? Was ist aus den Initiativen der 15. Wahlperiode geworden? Was ist mit dem Rahmenbe- (Beifall bei der LINKEN) schluss zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23167

Jörn Wunderlich (A) Kindern und Kinderpornografie, der am 20. Januar 2004 Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für (C) in Kraft getreten ist? Was ist mit den Ergebnissen der Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Arbeitsgruppe zur Kooperation im Kinderschutz im Ost- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Mäd- seeraum? chen im Grundschulalter wird mit einem Besenstiel missbraucht. Ein Säugling hängt gefesselt von der Decke Es werden ja immer wieder die Vergleiche mit dem und wird vergewaltigt. So schildert die Staatsanwältin Access Blocking in Skandinavien herangezogen. Diese Hantel-Maschke öffentlich, was sie bei ihrer Anklage- Vergleiche hinken laut Aussagen der Sachverständigen. vorbereitung im Bereich „Kinderpornografie im Inter- Zwar gibt es Zahlen über die geblockten Seitenaufrufe, net“ hundertfach auf Bildern und auf Filmen sieht. Sie es gibt aber überhaupt keine Zahlen darüber – deshalb sagt: Einige der Kinder überleben das nicht; wenn ein kann man auch keine Rückschlüsse ziehen –, ob ein ge- Säugling vergewaltigt wird, ist innen alles kaputt. Das ist blockter Nutzer sich anschließend anders den Weg zu das Grauen, über das wir hier sprechen. der Website verschafft hat. Im Übrigen muss man auch sagen, dass die neulich öffentlich gewordenen geheimen In Deutschland kann man das anklicken. Das ist zwar Sperrlisten aus Dänemark zu 90 Prozent keine Seiten mit strafbar, aber es geschieht Tag für Tag hunderttausend- Kinderpornografie betrafen; deswegen muss man die fach. Deshalb möchte ich hier im Hohen Hause nicht nur entsprechenden Zahlen eventuell ein bisschen korrigie- im Namen der Bundesregierung, sondern gerne im Na- ren. Am gestrigen Tage konnte ich auf der nationalen men aller sagen, dass wir der Kinderpornografie im Netz Folgekonferenz zu Rio mit Vertretern von UNICEF re- entschlossen den Kampf ansagen. den. Sie haben mir bestätigt, dass das, was in Skandina- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der vien geschieht, zwar schön klingt, aber kaum Wirkung FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- entfaltet, schon gar nicht im Kampf gegen Kinderporno- SES 90/DIE GRÜNEN) grafie. Der Handel mit diesen Bildern ist ein Millionenge- Wann ist denn mit einem Gesetzentwurf zu rechnen, schäft. Es ist ein gut organisierter, krimineller Markt. in dem dem Ansinnen Rechnung getragen wird und in Die BITKOM sagt, es ist wahrscheinlich einer der größ- dem wirksame Maßnahmen gegen sexuellen Missbrauch ten kriminellen Märkte im Internet. Die Opfer werden von Kindern aufgezeigt werden? Insoweit ist es schon immer jünger; die Bilder werden immer brutaler. Jedes klasse, dass in der EU-Kommission gestern zwei Vor- zweite betroffene Kind ist im Vorschulalter. Das ist uner- schläge auf den Tisch kamen, welche gegen Menschen- träglich. Es ist richtig, dass wir eine Gesamtstrategie handel und sexuellen Missbrauch Handlungsvorschläge brauchen. Das oberste Ziel ist, weltweit die Täter zu stel- aufzeigen. Diese werden gegenwärtig im EU-Ministerrat len und weltweit die Quellen zu schließen. Das ist eine (B) diskutiert; danach werden sie in nationales Recht umge- Sisyphosarbeit, die jeden Tag von den obersten Polizei- (D) setzt – ich hoffe, schnell. Dann bleibt auch nicht das üble behörden geleistet wird. 90 Prozent der dafür zur Verfü- Geschmäckle von Zensur und Internetüberwachung, für gung stehenden Ressourcen werden für das Stellen der das die Union ständig selber sorgt. In der gestrigen Pres- Täter, für den Schutz der Opfer und für das Schließen semeldung von den Unionskollegen Börnsen und der Quellen eingesetzt. Dies muss in diesem Raum ein- Dr. Krings wird nämlich klargestellt, dass es nicht um mal deutlich gesagt werden. Kinderpornografie allein geht. Erst die Kinderpornogra- fie, dann Rassismus, dann Gewaltverherrlichung – und Aber wir können mehr tun, und darum geht es doch dann? Terroristische Propaganda? Vielleicht Verstöße heute. Es geht nicht darum, ob eine einzelne Strategie gegen Urheberrechtsgesetze? Und dann? allumfassend ist, sondern darum, ob wir noch mehr tun können. Wir werden den völlig ungehinderten Zugang (Dr. [CDU/CSU]: Eine Un- zu diesen widerlichen Bildern in Deutschland sperren. verschämtheit so was!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) – Das finde ich auch. Was die CDU da plant, ist unver- schämt. Was mich in den letzten fünf Monaten dieser Diskus- sion so maßlos geärgert hat, ist, dass man bis zu diesem Es ist an der Zeit, endlich wirkungsvoll aktiv zu wer- Punkt eine breite Zustimmung erfährt. Dann werden die den und die Strafverfolgungsbehörden entsprechend aus- Türen geschlossen, und dann kommt das große Aber. Es zustatten, statt verpuffende Maßnahmen ohne Hilfe für wird gesagt, was alles aus welchen Gründen nicht geht, die Opfer als Riesenerfolg zu feiern und zugleich Herrn anstatt eine Diskussion darüber zu entfalten, wie wir et- Schäuble Tür und Tor zu öffnen. Wir sollten an die Op- was schaffen können, wie etwas geht. fer denken und nicht an die nächsten Wahlen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der SPD – Widerspruch bei Abgeordne- neten der SPD) ten der SPD) Das erste Argument lautet: technisch unmöglich. Wir Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: haben es heute wieder in verschiedenen Varianten ge- Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Dr. Ursula hört. Aber wenn dieselben Telefongesellschaften, die von der Leyen. auch hier in Deutschland sind, dies in Schweden, in Finnland, in Norwegen, in Dänemark, in Großbritannien, (Beifall bei der CDU/CSU) in der Schweiz und sogar in Italien umsetzen können, 23168 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen (A) dann ist die Behauptung, das sei technisch unmöglich, abredung, die wir am 13. Januar 2009 mit den sieben (C) ein krachendes Unfähigkeitszeugnis für Deutschland. größten Providern und den drei Dachverbänden Das sollten wir uns nicht ausstellen. BITKOM, eco und FSM getroffen haben. Wir werden in einem ersten Schritt jetzt die Verträge zwischen dem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Bundeskriminalamt und den einzelnen Internetanbietern, neten der SPD) die das wollen, schließen. In einem zweiten Schritt Das zweite Argument lautet: rechtlich unmöglich. – – überlappend – kommt das Gesetz. Die Zugangsanbie- Ja, es ist nicht trivial. Aber wir sollten doch nicht den ter haben von der Bundesregierung dieses deutliche Eindruck erwecken, dass unser Rechtsgefüge eine solche Signal in Form eines Eckpunktepapiers gefordert. Jetzt Schändung von Kindern und den Anblick dieser Schän- ist es da. dung in irgendeiner Form schützen würde, dass wir Herr Wunderlich, die EU-Kommission hat in der Tat machtlos wären, wenn es darum geht, rechtlich dagegen gestern die Initiative Deutschlands begrüßt und noch vorzugehen. einmal bekräftigt, dass wir diesen Kampf international (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch führen müssen. Aber Sie haben vergessen, noch etwas zu beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ute sagen. Die EU-Kommission hat nämlich insbesondere Kumpf [SPD]: Das sagt doch keiner!) begrüßt, dass wir in Deutschland endlich die Sperrung entsprechender Internetseiten anstreben. Das ist der Zum Thema Verträge will ich deutlich betonen: Ges- Kern der Aussage der EU-Kommission gewesen. tern hat der Verfassungsminister im Kabinett eindeutig gesagt, dass die Verträge, die wir mit den Providern an- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- streben, verfassungsrechtlich in Ordnung sind. neten der SPD) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich will nicht verschweigen, dass wir im Vorfeld der NEN]: Sie sollen keine Verträge schließen, Vertragsverhandlungen zermürbend lange dafür ge- sondern Gesetze vorlegen!) braucht haben, um viele Fragen bezüglich der Eckpunkte zu klären. Keiner hat widersprochen. – Auch dies sollte damit ge- klärt sein. (Caren Marks [SPD]: Falsche Adressaten!) (Beifall bei der CDU/CSU) Vielleicht ist der Diskussionsprozess aber auch richtig und gut gewesen. Da hat so mancher schwere Brocken Das dritte Argument lautet: Das bringt doch nichts; auf unserem Weg gelegen. Ich sage deutlich: Das Gesetz die Sperren kann man umgehen. – Ja, das ist richtig. kommt; darauf kann sich jeder Zauderer und jeder Be- (B) (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- denkenträger verlassen. (D) NEN]: Eben!) (Caren Marks [SPD]: Sie hätten schon längst Wenn man sehr versiert ist, kann man diese Sperren um- etwas vorlegen können!) gehen. Im Telemediengesetz wird unser fester politischer Wille (Ute Kumpf [SPD]: Die Männer sind versiert!) umgesetzt. Was sofort möglich ist, nämlich mit der ver- traglichen Lösung, wird jetzt umgesetzt, wird jetzt Wirk- Noch einmal: Das ist ein Millionengeschäft. Es geht fol- lichkeit. gendermaßen: Das Anfixen geschieht über Spammails. Die permanente Beschäftigung mit solchen Inhalten Ich danke an dieser Stelle sehr all den Internetzu- führt dann zum Abbau von Hemmschwellen und löst den gangsanbietern, die sich klar positioniert haben. Wir Hunger nach mehr aus. Die Nachfrage steigt. Das heizt brauchen im Kampf gegen die Kinderpornografie im In- den Markt an, wie wir alle hier im Raum wissen. Es ist ternet alle in der Gesellschaft. Wir brauchen alle gesell- eben so, dass 80 Prozent der User über das Internet, über schaftlichen Gruppen. Alle müssen sich positionieren. diesen allgemeinen Weg, dort hineinfinden. Natürlich Keiner kann sich mehr im Nebel des Nichtwissens ver- sind die 20 Prozent Schwerpädokriminellen in speziellen stecken. Foren, in speziellen Chatrooms, in speziellen Gruppen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wer so argumentiert, könnte auch sagen: Es lohnt sich neten der SPD) nicht, an einer Tür ein Schloss anzubringen, weil diese Tür aufgebrochen werden kann. Das ist kein Argument Andere europäische Länder führen diese Diskussion dafür, Präventionsmaßnahmen von Anfang an im Keim genauso wie wir schon seit Jahren. Manche haben ent- zu ersticken. sprechende Schritte inzwischen getan. Wir haben die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Zahlen aus Norwegen gehört. In Schweden werden bei neten der SPD – Christel Humme [SPD]: Das 9 Millionen Einwohnern rund 50 000 Klicks am Tag ge- hat keiner gesagt! Gegen wen reden Sie denn blockt. All jenen, die den Untergang des Internets vo- überhaupt?) raussagen, denen sei noch einmal gesagt: Schweden, Finnland, Dänemark, Norwegen, England, die Schweiz, Wir kapitulieren nicht vor diesem Verbrechen. Des- Italien, Neuseeland und Kanada sind alles freie Länder halb haben wir gestern im Kabinett Eckpunkte für ein mit einem gut funktionierenden Internet. In Dänemark Gesetz zur Bekämpfung der Kinderpornografie im Inter- gab es seit 2005 exakt fünf Beschwerden. Aber alle diese net beschlossen. Diese Eckpunkte sind ein Teil der Ver- Länder eint die strikte Haltung: Das Internet ist kein Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23169

Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen (A) rechtsfreier Raum, und die Würde und die Unverletz- ordneten der FDP – Caren Marks [SPD]: Es (C) lichkeit eines Kindes ist ein höheres Gut als die Massen- geht um Wirksamkeit und nicht um Populis- kommunikation. Das sollte unser gemeinsames Motto mus!) sein. Ich möchte sogar noch weitergehen und einige Be- Vielen Dank. denken formulieren. Mit den Internetsperren alleine wer- den wir den Handel mit kinderpornografischem Material (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – nicht zum Erliegen bringen. Mit diesen Sperren alleine Caren Marks [SPD]: Schön, dass Sie es auch werden wir kein Kind davor bewahren, missbraucht zu schon merken!) werden. Mit diesen Sperren helfen wir keinem einzigen traumatisierten Kind, den Weg ins Leben zurückzufin- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: den. Mit diesen Sperren werden wir keinen einzigen Tä- Das Wort hat jetzt die Kollegin Ekin Deligöz vom ter fassen. Bündnis 90/Die Grünen. (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Sind Sie da- für oder dagegen? – Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): [CDU/CSU]: Prävention!) Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- gen! Ich bin Teilnehmerin der seit gestern in Berlin Frau Ministerin, ich frage Sie: Wir hatten in der rot- tagenden zweitägigen Konferenz gegen sexuellen grünen Regierung diesbezüglich einen sehr guten Missbrauch an Kindern. Eines steht fest: Wir stehen in Aktionsplan ausgearbeitet. Warum haben Sie diesen Deutschland vor neuen Herausforderungen. Kinder- Aktionsplan nicht weiter verfolgt? prostitution, Kinderhandel und Kinderpornografie bilden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, einen riesigen Markt mit Millionen Opfern. Laut bei der SPD und der LINKEN) UNICEF werden jährlich 12 Milliarden Euro durch se- xuelle Ausbeutung von Kindern weltweit umgesetzt. Da Warum ist in den letzten drei Jahren nichts passiert? Wa- dürfen wir nicht wegschauen. rum gibt es keine Projektmittel, und mehr noch, warum sind die zuständigen Mitarbeiter im Ministerium inzwi- (Beifall im ganzen Hause) schen mehr oder weniger ins Archiv versetzt worden? Die neuen Medien spielen dabei zwar eine große Sie sind zuständig! Handeln Sie! Geben Sie Antworten Rolle, aber wir können und dürfen unsere Antworten darauf! Wo ist der Aktionsplan? nicht auf ein einziges Thema reduzieren. Wir können (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, nicht behaupten, dass das der Haupt- und damit einzige (B) bei der SPD und der LINKEN) (D) Ansatzpunkt bei der Bekämpfung des sexuellen Miss- brauchs ist. Ich frage Sie, Frau Ministerin: Wie kommt es, dass (Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Hat das ir- 100 Teilnehmer einer Konferenz der Meinung sind: gendeiner behauptet? – Dr. Martina Krogmann Wenn in Deutschland etwas passiert, dann beruht es auf [CDU/CSU]: Das macht doch keiner!) der Handlungsfähigkeit der Nichtregierungsorganisatio- nen und der Ehrenamtlichen? Wo sind Ihre Programme? Ein Heilversprechen ist das bei diesem komplexen Wo sind Ihre Antworten? Wo ist Ihr nationaler Aktions- Thema auch nicht. plan? Warum haben Sie das Engagement von damals ge- stoppt? Die rechtlichen, die technischen Fragen, Frau von der Leyen, müssen von uns gestellt werden. Was wäre denn, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, wenn wir sie nicht stellten? Was wäre denn, wenn wir bei der SPD und der LINKEN – Johannes auf die heiklen Punkte nicht hinwiesen? Was glauben Singhammer [CDU/CSU]: Die Aktion ist die Sie, wie schnell wir ausgelacht werden würden, wenn Sperrung der Seiten!) wir eine Regelung träfen, die nicht durchgreift? Ja, Internet erleichtert es den Tätern, Pornografie zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, verbreiten. Ja, Internet verspricht Anonymität. Aber ge- bei der SPD und der LINKEN) rade die Ermittlungen in diesem Bereich waren in den letzten Jahren sehr erfolgreich. Hier müssen wir anset- Wir müssen diese Fragen schon allein deshalb stellen, zen und die Polizei und die Ermittlungsbehörden stär- weil wir Antworten brauchen. Was machen wir mit ken. Unser Ziel muss sein, die Täter zu ergreifen, und Filesharing? Was machen wir mit Peer-to-Peer-Grup- deshalb dürfen sie nicht vorgewarnt sein. Wir müssen er- pen? Wie setzen wir uns als Gesetzgeber durch, und reichen, dass so etwas gar nicht erst stattfindet. zwar konsequent Es gibt auch gute Gründe, diese Internetseiten trotz- (Renate Gradistanac [SPD]: Nachhaltig und dem zu sperren. Der beste Grund sind die Kinder. wirksam!) und nicht nur in der Symbolik und in Signalen? Das ist (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Jetzt sind doch die Kernfrage! wir beim Thema! – Gegenruf des Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, waren die ganze Zeit beim Thema! – Caren bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abge- Marks [SPD]: Das andere gehört dazu!) 23170 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Ekin Deligöz (A) – Was heißt hier: „Jetzt sind wir beim Thema“? Genau (Beifall bei der SPD, der FDP, der LINKEN (C) das ist Ihr Problem: Sie wollen nur etwas herausposau- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie nen. Aber wollen Sie auch wirklich etwas ändern? Wol- bei Abgeordneten der CDU/CSU) len Sie etwas bewegen, oder wollen Sie hier nur eine Wir können nicht einfach so tun, als bräuchten wir da Show abziehen? keine Regeln, als wäre die Tatsache der Fürchterlichkeit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, des Verbrechens alleine Grund genug, alles zu rechtferti- bei der SPD und der LINKEN – Caren Marks gen, was man meint, tun zu müssen. Das geht nicht. [SPD]: Wir wollen etwas bewegen!) Wir bekämpfen Kinderpornografie seit vielen Jahren. Müssen wir nicht wirklich handeln, oder geht es hier nur Eine der Maßnahmen, die seit vielen Jahren existiert und um Parteiprogrammatik? Wir sind der Bundestag, wir für die allen Providern in Deutschland Dank gebührt, ist, sind verantwortlich, wir müssen handeln! Es reicht nicht, dass von allen Seiten, die in Deutschland gehostet wer- leere Versprechungen zu machen. den, rechtswidrige Inhalte immer sofort heruntergenom- men werden. Das gilt nicht nur für Kinderpornografie, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sondern zum Beispiel auch für Rechtsextremismus. Man sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- muss nur mitteilen, dass jemand rechtswidrige Inhalte KEN – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: deponiert hat, dann werden diese vom Provider entfernt. Machen Sie einfach mit!) Das läuft seit vielen Jahren so. Ich sage ganz deutlich: Es wird nicht reichen, irgend- (Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Dann ist ja welche Verträge zu schließen. 75 Prozent der Provider, alles gut! – Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: sagen Sie, würden damit erreicht. Es müssen aber Dann können wir ja bei dem bleiben, was wir 100 Prozent sein. haben!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Nein, lieber Herr Bosbach, das können wir eben nicht. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Wir reden nicht über Server, die in Deutschland gehostet LINKEN – Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: werden, Deswegen machen wir lieber gar nichts, oder (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Eben! Jetzt was?) sind wir beim Thema!) Das wäre entschlossenes Handeln. Deshalb brauchen wir sondern über solche, die im Ausland gehostet werden. ein Gesetz, und dafür werden Sie uns auch als Bündnis- Da besteht nun einmal – leider oder auch zum Glück – die Schwierigkeit, dass wir dort keine Vorschriften ma- (B) partner finden, Frau Ministerin, aber nicht für scheinhei- (D) lige Angebote, die man nicht erfüllen kann. Machen Sie chen können. uns eine Vorlage! Die hätten Sie längst machen können. (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Deswegen Warum haben Sie das nicht getan? Diese Frage müssen wollen wir es ja sperren!) Sie sich gefallen lassen. – Deswegen wollen Sie sperren; das ist eine Überlegung, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die durchaus richtig ist. Sie wollen die Möglichkeit sper- bei der SPD und der LINKEN) ren, dass ein Internetuser in Deutschland einen bestimm- ten Weg auf der Datenautobahn zu einem Server zum Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Beispiel in Australien geht. Das können Sie aber nur, wenn Sie sehen, wohin er geht. Das heißt, Sie müssen Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Brigitte den Internetverkehr filtern. Das ist ein Eingriff in die Zypries. Grundrechte, und deshalb brauchen wir ein Gesetz. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Darum bin ich froh, dass wir gestern im Kabinett die Eckpunkte für einen Gesetzentwurf beschlossen haben, Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: den wir hier gemeinsam verabschieden werden. Vielen Dank, Herr Präsident! Meine sehr geehrten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Liebe des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Frau Kollegin Deligöz, Ihr letzter Ansatz war leider Abg. Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]) falsch. Wenn wir es schaffen könnten, mit einem Gesetz 100 Prozent der Kinderpornografie im Internet zu ver- Das ist so verabredet, und das ist wichtig und richtig. Es hindern, dann wäre ich weiß Gott glücklich. Aber auch ist nichts dagegen zu sagen, dass man versucht, das, was mit einem Gesetz werden wir das nicht schaffen. Das man für falsch hält, mit allen Mitteln zu bekämpfen. Es muss man einfach wissen. zeichnet dieses Hohe Haus aus, dass immer sehr intensiv darüber diskutiert wird, welche Weiterungen und Folge- Wovon reden wir denn? Dass Kinderpornografie ein rungen das hat und was wir real bewirken können. Da- fürchterliches Verbrechen ist, darüber sind wir uns alle rüber muss man sich immer im Klaren sein. Deswegen einig, und es ist oft genug gesagt worden. Deshalb wie- ist es wichtig und richtig, dass, wie beispielsweise von derhole ich es nicht noch einmal. Aber auch wenn es um der FDP, gesagt wird, wo die Probleme mit den Internet- die Bekämpfung von fürchterlichen Verbrechen geht, providern liegen, wo Haftungsprobleme gesehen wer- kann doch der Rechtsstaat nicht vor der Tür bleiben. den. Davor kann man die Augen nicht verschließen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23171

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Machen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) wir auch nicht!) der FDP, der LINKEN und des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Das heißt aber nicht, dass wir die Kinderpornografie nicht bekämpfen wollten. Selbstverständlich wollen wir Es ist uns wichtig, mit dem Gesetz die rechtlichen Re- das. Aber man muss das auf einer klaren, realistischen, gelungen dafür zu treffen, dass wir ein Access-Blocking durchdachten Basis machen. Um nichts anderes geht es. machen können. Ich würde noch weitergehen und nicht Darüber können wir dann sicherlich sehr schnell Einig- nur die DNS, also die allgemeinen Domänennamen, be- keit erzielen. rücksichtigen. Wir müssen auch auf die Ebene darunter gehen, sonst erreichen wir viel zu wenig. Es ist möglich, (Beifall bei der SPD, der FDP, der LINKEN und auf dieser Ebene das Surfverhalten zu verfolgen. Dann dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) können wir sagen: Wer immer versucht, auf die Seite Wir haben, meine Damen und Herren, in den letzten dieses oder jenes Anbieters zu gehen oder auf diese oder Jahren eine Menge unternommen. Wir haben nicht nur jene Inhalte zuzugreifen, wird erstens gestoppt – Ihr Vor- die freiwillige Vereinbarung mit den Providern getrof- schlag – und zweitens strafrechtlich verfolgt. fen, dass von deutschen Servern alles, was rechtswidrig (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ist, heruntergenommen wird, sondern wir haben auch die der LINKEN) Gesetze verändert. Wir haben das Herstellen, das Ver- breiten und den Besitz von Kinderpornografie lückenlos Denn in Deutschland sind diese Handlungen strafbar. unter Strafe gestellt. Es gibt nirgendwo mehr eine Geset- Dann sind wir auf einem guten Weg. zeslücke. Schon der Versuch, sich im Internet kinderpor- Ich freue mich, dass der Kollege zu Guttenberg ges- nografisches Material herunterzuladen, ist eine Straftat. tern angekündigt hat, sich an einem Gesetzgebungsver- In diesem Bereich gibt es immer wieder großartige Er- fahren zu beteiligen. Es gab schon einmal Versuche, die mittlungserfolge. Ich erwähne in diesem Zusammenhang allerdings nicht so erfolgreich waren. Es wäre super, nur die Operation „Himmel“ der Behörden in Sachsen- wenn es jetzt schneller gehen würde. Anhalt, die zur Feststellung von 12 000 Verdächtigen in Deutschland geführt hat. Es funktioniert also. Diese Die SPD-Fraktion wird im Übrigen einen Gesetzent- Leute kann man verfolgen, und man kann ihrer habhaft wurf nach der Osterpause vorlegen, wie wir heute von werden. Frau Humme gehört haben. Es spricht also alles dafür, dass wir bis spätestens Anfang Mai eine Anhörung im Ich bin der festen Überzeugung – darüber müssen wir Deutschen Bundestag durchführen können. Wir können aber noch innerhalb der Regierung sprechen –, dass die dann gemeinsam mit den Sachverständigen die bis dahin (B) Leute, die versuchen, sich von ausländischen Servern vorliegenden Entwürfe durchsehen und zu vernünftigen (D) Material herunterzuladen, und die ermittelt werden, na- Ergebnissen kommen. Ich denke, unser gemeinsames türlich auch strafrechtlich verfolgt werden müssen. Ziel ist es, möglichst viel zu erreichen. Es geht nicht um plakative Maßnahmen, sondern es geht darum, bei der (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Bekämpfung der Kinderpornografie im Internet einen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Schritt weiter zu gehen. geordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD, der FDP und dem Wir können nicht sagen „Stopp! Tu das nie wieder!“, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- sondern da müssen wir klare Kante zeigen. Entweder wir geordneten der CDU/CSU und der LINKEN) haben ein Gesetz, das den Versuch unter Strafe stellt – in diesem Fall muss es auch vollzogen werden –, oder wir Dem Dank von Frau von der Leyen an die Provider müssen das Gesetz ändern. Beides auf einmal können schließe ich mich an. Ich finde es gut, dass die Provider wir nicht machen. Davor würde ich warnen; denn damit bereit sind, etwas zu machen. Wir wissen von ihnen, würden wir uns als Gesetzgeber lächerlich machen. dass es drei bis sechs Monate dauert, bis sie die techni- schen Voraussetzungen geschaffen haben, um das ma- Die Maßnahmen, die wir in der Vergangenheit auf chen zu können, was wir von ihnen wollen, nämlich das den Weg gebracht haben, zeigen Wirkung. Wir haben Access-Blocking zu realisieren. Auch das bestärkt mich viel erreicht. Die Zahl von fast 15 000 Verurteilungen im in meiner Annahme, dass wir im Sommer – ich werde Jahre 2006 wurde schon genannt. mich sehr stark dafür einsetzen – ein entsprechendes Ge- Wir haben auch international eine Menge erreicht. In- setz haben. Bis dahin haben die Internetprovider die terpol führt seit Jahren einen bewundernswerten und technischen Voraussetzungen geschaffen, um die Rege- lungen dieses Gesetzes umsetzen zu können. sehr erfolgreichen Kampf gegen die Hersteller dieser Fo- tos. Da macht der Generalsekretär von Interpol, Noble, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten eine ausgesprochen gute Arbeit, die man nur loben kann. der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- Während unserer Ratspräsidentschaft saßen Staats- NISSES 90/DIE GRÜNEN) anwälte aus Deutschland, Experten aus allen EU-Staaten und Herr Noble an einem Tisch und haben ganz klar ge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sagt: Nationale Lösungen machen keinen Sinn. Wir müs- Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl sen sehen, dass wir auf internationaler Ebene gemeinsam von der CDU/CSU-Fraktion. und geschlossen vorgehen. Das Netz ist international, also müssen auch die Handlungen international sein. (Beifall bei der CDU/CSU) 23172 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

(A) Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): (Caren Marks [SPD]: Das ist ein Skandal! – (C) Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Monika Griefahn [SPD]: Das ist strafbar! Das Kollegen! Wer immer zu dem Thema spricht, muss sich hat sie doch gesagt! – Jerzy Montag [BÜND- zunächst vergewissern, worüber er spricht und wie die NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Unsinn! Tat aussieht, über die wir reden. Deswegen bin ich Frau Das ist Quatsch! – Weitere Zurufe von der von der Leyen dankbar, dass auch sie mit der Tatschilde- SPD) rung begonnen hat, damit wir mit folgender Frage daran Stellen Sie sich einmal vor, die Väter des Grundgesetzes anknüpfen können: Was ist die richtige rechtliche Ant- hätten diese abscheulichen Bilder gesehen und hätten ge- wort des Staates auf diese Tat? Im Internet sehen wir ent- sagt: Wir wollen, dass Provider so etwas frei machen setzliche, unbeschreibliche Bilder einer ganz abscheuli- können. Das fällt unter die Berufsfreiheit. chen Tat. (Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Christel Humme [SPD]: Ich nicht!) DIE GRÜNEN) Was tut der Staat? Er sagt: So ist es heute im weltweiten Stellen Sie sich vor, die Väter des Grundgesetzes Netz. Das muss der Staat wohl hinnehmen. (Caren Marks [SPD]: Ich bestehe auf die Müt- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE ter!) GRÜNEN]: Haben Sie bei Frau Zypries nicht zugehört?) hätten, als sie Art. 10 des Grundgesetzes, das Fernmel- degeheimnis, abgefasst haben, gesagt: Wer solche Bilder Da darf man nicht sperren. – Dieser liberale Umgang mit anschaut, den dürfen wir nicht stören. Das ist das Fern- solch entsetzlichen Taten befremdet mich, meine Damen meldegeheimnis. und Herren von der FDP. (Ute Kumpf [SPD]: So ein Schwachsinn! – (Beifall bei der CDU/CSU – Christoph Waitz Caren Marks [SPD]: Keine Ahnung! – Monika [FDP]: Sie haben nicht zugehört!) Griefahn [SPD]: Das ist strafbar! Das hat sie ganz deutlich gesagt! – Christoph Waitz Ich glaube, der Staat muss handeln. Wenn er handeln [FDP]: Das sagt doch niemand! – Ernst muss, dann gibt es in Deutschland zwei Wege: durch Burgbacher [FDP]: Das will doch keiner!) eine Vereinbarung jetzt und sofort oder durch ein Gesetz einige Monate später. Ist das Ihre Grundrechtsinterpretation? Ist das der Um- gang mit dem weltweiten Netz angesichts unserer (Renate Gradistanac [SPD]: Nicht Entweder- Grundrechtsartikel? (B) oder! Man kann beides tun!) (D) Ich halte es für ein Zerrbild der Grundrechtsinterpre- – Wir machen beides, richtig. tation, wenn wir diese Artikel in dieser Weise heranzie- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) hen. Wir wollen jetzt und sofort in Deutschland mit einer ent- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sprechenden Vereinbarung Erfahrungen sammeln. NEN]: Sie sollten zur Verfassung nie mehr re- den! – Monika Griefahn [SPD]: Das ist eine Frau Zypries, ich möchte nicht, dass Sie jetzt beifällig Unverschämtheit!) nicken. Ich möchte, dass Sie sich an Ihren Brief von vor zwei Wochen erinnern, Sie wurden in diesem Zusammenhang – Herr Montag, das können Sie nicht wissen – von der Ministerin der (Caren Marks [SPD]: Das ist anmaßend! Wie Justiz so herangezogen; ich fantasiere nicht. sind Sie denn drauf?) Ich meine, wir sollten uns bei drei Menschen bedan- in dem Sie schreiben – ich habe den Brief hier –, dass ken: erstens bei Herrn Ziercke, dem Präsidenten des Sie diesen Weg für falsch, für rechtswidrig, ja für verfas- Bundeskriminalamtes. Er hat im Herbst 2007 anlässlich sungswidrig halten. der Herbsttagung gesagt: Das ist ein Schwerpunkt mei- ner Arbeit. Bei der Kinderpornografie im Internet muss (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Staat eingreifen, und zwar sofort. NEN]: Da ist viel Wahres dran!) (Caren Marks [SPD]: Das hat die SPD schon Meine Damen und Herren, bitte erinnern Sie sich an lange gesagt! – Frank Spieth [DIE LINKE]: die Väter des Grundgesetzes. Wie stattet ihr die Polizei aus?) (Caren Marks [SPD]: Es gab auch Mütter!) – Herr Ziercke, vielen Dank. Stellen Sie sich einmal vor, die Väter Nach dieser Tat des Herrn Ziercke, die begrüßenswert (Caren Marks [SPD]: Und Mütter!) ist, gab es zweitens eine quälende Diskussion bei uns In- nenpolitikern aller Seiten über den Umgang mit Reichs- des Grundgesetzes hätten diese Taten im Fernsehen bei bedenkenträgern, die sagten, das sei technisch und recht- der Abfassung des Art. 5 des Grundgesetzes gesehen lich nicht möglich. Dann wurden die entsprechenden und hätten dann gesagt: Wir wollen, dass dies unter Artikel aufgezählt. Es geschah nichts. Deswegen be- Kunstfreiheit fällt. danke ich mich bei Frau von der Leyen. Eineinhalb Jahre Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23173

Dr. Hans-Peter Uhl (A) Untätigkeit aufgrund der Behandlung von Bedenken (Caren Marks [SPD]: Das wussten wir schon (C) wurden durch Frau von der Leyen unterbrochen, indem lange!) sie gesagt hat: Das ist mein politischer Wille. Dafür fehlt mir schlichtweg die Fantasie, dass Sie als (Beifall bei der CDU/CSU – Caren Marks mehrfache Mutter und Ärztin, als ehemalige Landes- [SPD]: Frau von der Leyen hat drei Jahre ge- ministerin und seit mehr als drei Jahren nunmehr als braucht, um zu merken, dass es dieses Thema Bundesministerin für Familie und Jugend solche Kom- gibt!) petenzlücken aufweisen. Erst das hat Bewegung in die Sache gebracht. Minister (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Schäuble hat ihr dabei die juristische Unterstützung ge- LINKEN) geben, die sie braucht, Jetzt wird mir auch klar, warum Sie erstens beim drit- (Christoph Waitz [FDP]: Das ist eine interes- ten Weltkongress gegen sexuelle Ausbeutung von Kin- sante Formulierung!) dern und Jugendlichen Ende November 2008 in Rio nicht anwesend waren, indem er entgegen der Justizministerin gesagt hat: Der Vertragsweg ist verfassungsgemäß; der Vertragsweg ist (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ möglich. – Und diesen gehen wir. CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) warum es zweitens uns überhaupt nur durch sehr viel Daneben werden wir einen Gesetzentwurf auf den Überzeugungsarbeit und viel Druck seitens der Kinder- Weg bringen. Deswegen drittens vielen Dank an den kommission gelungen ist, eine Regierungsdelegation Kollegen zu Guttenberg, durchzusetzen, und warum drittens von Ihrem Ministe- rium drei Jahre lang nichts an Initiativen ausgegangen (Caren Marks [SPD]: Wo ist er denn? Er ist ja ist. sehr an dem Thema interessiert!) Wir fangen hier aber nicht bei null an. Beim zweiten der bereits gestern Abend, wenn ich richtig informiert Weltkongress 2001 in Yokohama führte die damalige bin, einen Rohentwurf zur Diskussion vorgelegt hat. Er SPD-Ministerin unsere Delegation ist federführend zuständig. Wir werden am Schluss se- an und hat ihren internationalen Einfluss genutzt. hen, wer sich in Bedenken ergeht und wer im Kampf ge- gen die Kinderpornografie mitstimmt. (Widerspruch bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Anschließend hat die rot-grüne Bundesregierung im Jahr (B) 2003 unter der SPD-Ministerin den ers- (D) Wir werden dann das Parlament in solche und solche ten nationalen „Aktionsplan zum Schutz von Kindern aufteilen: in solche, die nur Bedenken haben, und in sol- und Jugendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeu- che, die den Kampf mit uns zusammen aufnehmen. tung“ aufgelegt und umgesetzt. (Beifall bei der CDU/CSU – Caren Marks (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ [SPD]: Schönen guten Morgen!) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir haben unter anderem das Strafrecht verschärft Das Wort hat jetzt die Kollegin Renate Gradistanac und den Opferschutz verbessert. Zu den Schwerpunkten von der SPD-Fraktion. des Aktionsplans zählen auch die Bekämpfung von Sex- (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des tourismus und die Bekämpfung der Kinderpornografie. Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE]) Hier gehört Deutschland zu den Nachfrageländern. In Vorbereitung des dritten Weltkongresses haben ich und andere gefordert, dass wir Prioritäten in Richtung der Renate Gradistanac (SPD): Bekämpfung der Kinderpornografie im Internet setzen. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Dies spiegelt sich im Abschlussdokument und in unserer Herren! Der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Zusatzerklärung wider. sexueller Ausbeutung und Gewalt ist seit über 30 Jahren Thema der Frauenbewegung und seit nunmehr 20 Jahren Fakt ist, dass wir in diesem Teilbereich der Internet- ein Schwerpunkt meiner politischen Arbeit, davon kriminalität eine Steigerung zu verzeichnen haben, die 11 Jahre im Deutschen Bundestag. sich auch auf Handys erstreckt. Wir brauchen wirksa- mere Maßnahmen zur Identifizierung der Opfer und der Frau Ministerin, Sie haben sich des Themas wohl erst Täter. Vor allem die Versorgung der Opfer durch kompe- in Vorbereitung des Weltkongresses in Rio gewidmet. tente Fachkräfte muss sichergestellt werden. Sie haben vor einigen Tagen in Vorbereitung auf diese internationale Konferenz gesagt – das steht auf der (Beifall bei der SPD) Homepage der Bundesregierung –: Neben der Verbrechensverfolgung muss auch die Sper- Da ist mir zum ersten Mal klargeworden, was ei- rung von Internetseiten bei Access-Providern ermöglicht gentlich Kinderpornographie ist. Ich habe das Aus- werden. Um die Täter zu verfolgen – das hat schon die maß des Grauens vorher nicht gekannt. Justizministerin in ihren Ausführungen klar gemacht –, 23174 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Renate Gradistanac (A) brauchen wir vor allem den Ausbau der grenzüberschrei- Ein Wort zur Kinderpornografieszene. Der Kollege (C) tenden Zusammenarbeit. Bosbach hat bereits gesagt, dass wir immer mehr Konsu- menten, Bilder und Videos haben. Wir haben immer jün- Ich erwarte von der Bundesregierung umgehend ei- gere Opfer; zum Teil sind es sogar Säuglinge. Das bringt nen zweiten Aktionsplan. Der Bereich der neuen Medien den Tätern immer mehr Geld. Vor allen Dingen haben ist ein Baustein bei der Weiterentwicklung der Gesamt- wir aber auch immer größere Verfahren. Allein bei der strategie. Neben Vorgaben für die Internetwirtschaft – da Operation „Himmel“ waren es 12 000 Beschuldigte. erwarte ich das Engagement der Regierung und von Ih- nen, Frau Ministerin – erwarten wir auch verbindliche Vielleicht kennen Sie den Spruch „Wer ein Ziel ver- Vorgaben für die Tourismuswirtschaft und die Finanz- folgt, sucht Wege; wer blockieren will, sucht Gründe.“ wirtschaft. Wir müssen den Kauf von Kinderpornografie Was wir von den Bedenkenträgern heute wieder gehört per Kreditkarte stoppen. haben, ist für die Kinder mehr als unangenehm. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU – Christoph Waitz der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE [FDP]: Da haben Sie nicht gut zugehört! – GRÜNEN) Caren Marks [SPD]: Das ist unglaublich!) Wir kommen voran, um den Zugang zu Kinderporno- Zweifel an der Wirksamkeit, Zweifel an der Umsetz- grafie im Internet zu erschweren. Wichtig ist aber, nicht barkeit, die Sorge vor vermeintlichen Schadensersatz- nur Verträge mit einzelnen Providern abzuschließen. ansprüchen oder Angst vor der Einführung einer Nein, die gesamte Internetwirtschaft muss wissen, wo vermeintlichen Zensur sind schlechte Argumente. Ent- wir die Grenzen ziehen. Hierfür brauchen wir eine klare, schuldigen Sie, aber mir wäre es lieber, wenn Sie dieses nachhaltige und rechtssichere Grundlage. Deshalb er- Engagement für den Schutz der betroffenen Kinder auf- warten wir ein eigenes Gesetz, Frau Ministerin. bringen würden. Ich begrüße es, dass die Bundesregierung mit der (Beifall bei der CDU/CSU – Caren Marks Festlegung der Eckpunkte ihre Entschlossenheit bekräf- [SPD]: Uns geht es darum, dass es voran tigt hat und zügig ein Gesetzgebungsverfahren initiieren geht!) wird. Die SPD-Fraktion wird dieses Verfahren, bei dem Wir wollen eine konkrete Verfolgung der Täter. Das die verfassungsrechtlichen Vorgaben zu beachten sein Strafrecht allein wird es nicht richten. Neben Access- werden, begleiten. Ich begrüße ausdrücklich die Klar- Blocking brauchen wir eine bessere Opferidentifizie- stellung, dass eine Ausweitung auf andere Zwecke nicht rung. Wir brauchen eine bessere Technik zur Löschung beabsichtigt ist. der Bilder im Internet. Wir brauchen mehr Personal für (B) Frau Ministerin von der Leyen, es ist gut, dass Sie das die Ermittlung. Liebe Kollegin Ekin Deligöz, das, was (D) Problem erkannt und sich unsere Forderungen zu eigen Sie gesagt haben, ist ja alles richtig. Das eine zu tun, gemacht haben. In diesem Zusammenhang danke ich be- heißt doch aber nicht, das andere zu lassen. Deswegen sonders Frau Justizministerin Brigitte Zypries. kann ich diese Kritik nicht nachvollziehen. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Jörn Vielleicht sollten einige Kollegen einmal die Presse- Wunderlich [DIE LINKE]) meldungen durchsehen. Europa hat uns für das, was wir auf den Weg gebracht haben, viel Beifall gespendet. Auch die EU-Kommission hat ein entsprechendes Geset- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zesvorhaben auf den Weg gebracht. Das Wort hat die Kollegin Michaela Noll von der CDU/CSU-Fraktion. (Caren Marks [SPD]: Ja genau! Ein Gesetzes- vorhaben!) (Beifall bei der CDU/CSU) Sie erwartet eine EU-weite Einführung von Sperrlisten. Michaela Noll (CDU/CSU): Da ist es gut, wenn Deutschland mit gutem Beispiel vor- angeht. Access-Blocking ist meiner Ansicht nach das ge- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- eignete Instrument, um diesen kommerziellen Markt ren! Norwegen 2004, Schweden 2005, Schweiz 2006. auszutrocknen. Warum betone ich das? Das sind Länder, die Access- Blocking bereits eingeführt haben. Und Deutschland? (Caren Marks [SPD]: Ohne Täterverfolgung!) Wo stehen wir? Seit Jahren diskutieren wir über eine Eine Delegation war – das war eben schon Thema – freiwillige Selbstverpflichtung. Bis heute ist aber nichts in Brasilien. Dort haben wir unseren Staatenbericht vor- geschehen. Viele Länder waren bereits vor uns aktiv. gelegt. Die anderen Staaten waren von dem, was wir er- Deutschland ist noch nicht mit im Boot. Deshalb ist die- reicht haben, begeistert. ser Schritt wichtig. Deshalb bin ich froh, dass unsere Mi- nisterin so hartnäckig ist. (Caren Marks [SPD]: Was Rot-Grün auf den Weg gebracht hat!) (Beifall bei der CDU/CSU – Caren Marks [SPD]: Frau von der Leyen weiß leider erst Wir haben gesagt: Wir werden den Aktionsplan fort- seit einigen Tagen, dass es Kinderpornografie schreiben. Ja, diese Nation nimmt ihre Verantwortung gibt!) wahr. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23175

Michaela Noll (A) (Beifall bei der CDU/CSU – Johannes Singhammer Das Internet vergisst nichts. Bei der nächsten Nach- (C) [CDU/CSU]: So ist es! Richtig!) folgekonferenz möchte ich, sofern ich wieder dabei sein sollte, sagen können: Deutschland 2009, wir waren da- Was haben Sie denn im Laufe von zehn Jahren gemacht? bei. Deutschland stand an der Spitze der Bewegung für Sie haben alles verschlafen. Entschuldigung. Deutsch- eine EU-weite Einführung von Sperrlisten. land und die EU-Kommission drücken aufs Tempo. Das ist schon lange überfällig. Für die Endverbraucher, die hier oben auf der Tribüne sitzen, gilt: Fragen Sie Ihren Provider, ob er unterschrie- Warum Access-Blocking? Es ist eine gute Präven- ben hat! tionsmaßnahme, auch wenn von dem einen oder anderen Danke schön. gesagt wird, es sei nicht das geeignete Mittel. Es geht darum, Zufallskontakte zu unterbinden. In diesem Zu- (Beifall bei der CDU/CSU) sammenhang habe ich zwei kleine, kritische Anmerkun- gen, eine zur Rede des Kollegen Wunderlich und eine Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zur Rede der Kollegin Deligöz. Es ist gefragt worden, ob Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Griefahn von es in Norwegen, das die gleiche DNS-Sperre eingeführt der SPD-Fraktion. hat, nicht Täter gibt, die das notwendige Spezialwissen haben, um die Sperre zu umgehen. Interpol hat Norwe- (Beifall bei der SPD) gen danach gefragt. Die Norweger haben gesagt: Nein, unserer Einschätzung nach machen die Täter das nicht. Monika Griefahn (SPD): Die 20 Prozent, die sich in den sogenannten Peer-to- Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- Peer-Groups aufhalten, werden wir vielleicht nicht errei- gen! Hier haben wir es mit dem etwas merkwürdigen chen. Aber wir erreichen 80 Prozent des Marktes. Ich Eindruck zu tun, es gebe diejenigen, die sperren wollen, finde, damit hätten wir im Vergleich zu heute schon viel und diejenigen, die nicht sperren wollen. Für die SPD- erreicht. Fraktion betone ich: Diese Unterscheidung akzeptieren wir nicht. Jeder hier im Hause ist dafür, den Zugang zu (Beifall bei der CDU/CSU) kinderpornografischen Seiten zu sperren. Werden nur illegale Inhalte gesperrt? Manche Leute (Beifall bei der SPD, der FDP, der LINKEN befürchten ja, wir würden nicht nur das sperren. Ich er- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) laube mir die Antwort der Länder gegenüber Interpol auf die Frage, was die Länder gemacht haben, die diese Seit Ende der 90er-Jahre haben wir von der SPD- Sperre eingeführt haben, wiederzugeben. Sie haben aus- Fraktion in der Bundesregierung und im Parlament be- (B) drücklich gesagt: Es wird nichts anderes gesperrt. Wer reits viel für den stärkeren Schutz von Kindern getan. (D) die Eckpunkte gelesen hat, die im Gesetzentwurf stehen, Auf die einzelnen Punkte wurde hingewiesen: Wir haben weiß, dass dort wortwörtlich steht: Es ist sichergestellt, den Aktionsplan gehabt und Provider dazu bewegt, Sei- dass keine legalen Angebote auf die Liste gelangen. ten herunterzunehmen, die in Deutschland gehostet wer- Also, bitte schön, Bedenkenträger, dies kommt nicht den. Aber wir haben noch nicht alle erforderlichen Maß- zum Tragen! nahmen umsetzen können, was auch daran liegt, dass dieses Thema 2005 noch nicht in der gesamten Bundes- Manche sagen, die Erfolgsquote der DNS liege nur regierung angekommen war; wir hätten seit 2005 den bei 70 Prozent. Was spricht gegen das Mittel? Sperrlis- Aktionsplan fortsetzen und eine gesetzliche Grundlage ten sind meiner Meinung nach besser als Nichtstun. Dies haben können. Bislang haben wir sie leider noch nicht. geht auch an Sie, Herr Kollege Waitz, weil Sie sagten, (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem die Hoffnung sterbe zuletzt, Amerika sei auf einem gu- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Renate ten Weg. Gradistanac [SPD]: Es wurde auf die lange (Beifall bei der CDU/CSU) Bank geschoben!) In diesem Zusammenhang wundere mich auch da- In Norwegen werden täglich 18 000 Seiten geblockt. rüber, warum es so kompliziert sein soll – dies verfolgt Wenn wir dazu übergehen könnten, auf Deutschland mich schon seit 20 Jahren –, die Kinderrechtskonvention hochgerechnet 400 000 Zugriffe zu unterbinden, dann zu unterzeichnen. Damit würde man die Kinderrechte könnte Deutschland mit einer solchen Zahl in die erste wirklich einmal in den Mittelpunkt stellen. Reihe treten. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Jawohl!) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich habe kein Problem damit, dass die Ministerin ges- Ja, wir alle sind gefordert, gegen die Herstellung, die tern die fünf Provider genannt hat; denn viele Mobilbe- Verbreitung und den Verkauf bzw. Kauf von Kinderpor- treiber haben sich ja schon 2008 freiwillig bereiterklärt, nografie mit allen Mitteln und mit aller Deutlichkeit vor- den Vertrag zu unterschreiben. Für diejenigen, die jetzt zugehen. Ja, es kann und muss noch mehr getan werden, noch sagen, dass sie die Gegenargumente der Provider weil diese Gewalt gegen Klein- und Kleinstkinder und nicht kennen, gilt: Sie sind alle über die Presse bekannt die Nachfrage danach einfach nicht hinnehmbar sind. geworden. Meiner Meinung nach sind diese Bedenken Liebe Kolleginnen und Kollegen, was müssen es eigent- längst ausgeräumt. lich für kranke Gehirne sein, die die Nachfrage nach sol- 23176 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Monika Griefahn (A) chen Bildern immer wieder anheizen und dabei nicht vor nicht wahr, dass es keine Proteste gibt. Absolut legale (C) Kindern unter zehn Jahren Halt machen? Mir ist unbe- Seiten werden ebenfalls gesperrt. Wir brauchen eine Lö- greiflich, dass wir immer wieder über die steigende sung, die dies verhindert. Ich möchte nicht in die Situa- Nachfrage diskutieren müssen. tion kommen, die es in China gibt, wo selbst harmlose Seiten wie die Seite der Deutschen Welle über Fußball- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP ergebnisse gesperrt werden. und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist ein Ja, es muss deutlich gesagt werden, dass wir als rot- hinkender Vergleich, Frau Kollegin!) grüne Koalition 2002 mit Gesetzesänderungen erreicht haben, dass Straftaten noch stärker verfolgt werden. Die Das kann leicht passieren, wenn wir Allgemeinvereinba- Verfolgung hat bisher schon dazu geführt, dass mehr sol- rungen schließen und kein spezifisches Gesetz machen. cher Straftaten registriert werden, wodurch auch die Sta- tistik steigt. Es muss uns klar sein, dass durch die bereits Übereinstimmend haben die Experten gesagt, dass ergriffenen Maßnahmen Dinge öffentlich werden. Dies – technisch gesehen – die Seiten bisher nur sehr ineffek- ist auch gut so. An dieser Stelle spreche ich meinen tiv gesperrt werden. Wir wollen, dass es spezifischer und Dank denjenigen aus, die sich diese Bilder ständig angu- versiert gemacht wird, sodass der Zugang wirklich ge- cken müssen, um die Strafverfolgung durchzuführen. Sie stört wird. haben wirklich keinen beneidenswerten Job. Herzlichen Wir wollen auch die strafrechtliche Verfolgung. Ich Dank dafür! glaube, das ist ganz wichtig. Wir brauchen diese drasti- (Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei sche Bekämpfung. Ich denke, dieses ernste Thema eig- Abgeordneten der CDU/CSU) net sich nicht für politisches Hickhack. Wir dürfen nicht dulden, dass weiterhin kinderporno- (Zuruf von der CDU/CSU: Für abwegige Ver- grafische Seiten aufgerufen werden; wir wollen die gleiche auch nicht!) Sperre. Aber wir wollen zu einer Regelung kommen, die Ich wünsche mir, dass wir hier gemeinsam zügig zu Re- den Zugang im Internet durch zielgenaue Technik und gelungen kommen, die Hand und Fuß haben, ausschließ- eine gesetzliche Abgrenzung präziser verhindert. Das ist lich für diesen Fall gelten und nicht Tor und Tür für alles wichtig. andere öffnen. Wir wollen nicht, dass etwas gemacht wird, das tech- nisch größtenteils wirkungslos ist und vor Gerichten kei- Danke schön. nen Bestand hat. Ich habe alles Mögliche darüber gele- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (B) (D) sen, wer betroffen sein könnte. Deswegen bin ich sehr der FDP und der LINKEN) dafür – die SPD-Fraktion hat es angekündigt –, ein or- dentliches Gesetz zu verabschieden zu genau dem Zweck, den Zugang zu Kinderpornografie zu verhin- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dern, und zwar ein Spezialgesetz mit einem entsprechen- Das Wort hat jetzt die Kollegin Dorothee Bär, CDU/ den Titel – das ist das Richtige – und kein allgemeines CSU-Fraktion. Gesetz, auf dessen Grundlage noch andere Internetseiten (Beifall bei der CDU/CSU) gesperrt werden könnten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Dorothee Bär (CDU/CSU): der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- GRÜNEN) ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Griefahn, Eine Anhörung des Unterausschusses Neue Medien ich wäre froh, wenn der Appell, den Sie am Schluss aus- hat gezeigt: Einhellig halten die Experten die ursprüngli- gesprochen haben, auch für die Kolleginnen und Kolle- chen Vorschläge des Familienministeriums für wir- gen Ihrer Fraktion gelten würde, dass es bei diesem kungslos und rechtlich fragwürdig. Ich bin froh, dass Thema kein parteipolitisches Hickhack gibt, sondern jetzt alle an einem Strang ziehen und die gesetzliche dass gemeinsam konstruktiv um Lösungen gerungen Grundlage schaffen wollen. Im Übrigen war auch der wird. Präsident des BKA anwesend und hat eine gesetzliche (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Grundlage gefordert. Deswegen finde ich es gut, dass Renate Gradistanac [SPD]: Eben nicht zuge- wir das jetzt auf den Weg bringen. hört?) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Denn die heutige Debatte hat deutlich gezeigt – da tun des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie, Frau von der Leyen, mir fast ein bisschen leid –, mit Wir müssen hierbei mit Sorgfalt vorgehen. Wir müssen welchen Bedenkenträgern Sie sich über Monate rum- wirklich die treffen, die wir treffen wollen, und wir müs- schlagen mussten. Ich konnte im Vorfeld nicht glauben, sen die Täter ächten. Das ist ein wichtiger Punkt. dass bei diesem Thema so viele Bedenkenträger nicht nur draußen, sondern auch in diesem Hause unter uns Der Verweis auf andere Länder, die bereits ähnliche sind. Das war teilweise sehr beschämend. Sperrungen eingeführt haben, nützt nur bedingt; denn auch da hören wir immer wieder von Protesten. Es ist (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23177

Dorothee Bär (A) Frau Gradistanac, es war einfach peinlich und unmög- die sich seit Jahren ehrenamtlich engagiert, sich für Prä- (C) lich, diejenige anzugreifen, nämlich die Bundesministe- vention stark macht und versucht, traumatisierte Kinder rin von der Leyen, die sich seit Monaten als Einzige ge- wieder ins Leben zurückzuholen. gen die Neinsager, gegen die Abersager, gegen alle (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bedenkenträger durchgesetzt hat. Sie haben darauf hin- NEN]: Sie müssten eigentlich vom ersten Satz gewiesen, dass Sie vor acht Jahren beim Kongress in Ihres Redebeitrags an tiefrot geworden sein! – Yokohama waren. Danach gab es ein paar Jahre eine rot- Caren Marks [SPD]: Jetzt wird es wirklich bit- grüne Bundesregierung, und auch jetzt ist die SPD wei- ter! Geschmacklos!) ter an der Regierung beteiligt. Sie haben acht Jahre lang zugeschaut und greifen jetzt die Ministerin an; das ist Dieser Verein hat internationale Studien erstellt, um doch kein politischer Stil, das ist unmöglich. diesen Missstand zu bekämpfen, weil das eine gemein- same – – (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ja, ja! Erst die Abteilung auflösen und Warum stehen wir heute überhaupt hier? Zum einen sich dann hier auf dem Rücken der Kinder ge- natürlich dank unserer Ministerin – ich bin ihr wirklich sundbeten! Das ist mal wieder typisch! So geht dafür dankbar –, zum anderen aufgrund abscheulicher das aber nicht!) Verbrechen. Ich kann mich nicht erinnern, in meinen sie- ben Jahren Bundestagszugehörigkeit jemals so ekelhafte, – Frau Künast, ich verstehe, ehrlich gesagt, nicht, warum Sie bei diesem Thema so herumgeifern. Das kann ich widerwärtige Schilderungen gehört zu haben, wie sie die nicht nachvollziehen. Ministerin zu Beginn ihrer Rede in den Vordergrund ge- stellt hat. Auch das ist wichtig; denn unter Kinderporno- (Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast grafie kann man sich erst einmal nichts vorstellen. Es ist [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ganz ein- für alle Zuhörer hier, aber auch draußen an den Bildschir- fach! Weil Sie sich hier mal wieder auf dem men ganz wichtig gewesen, dass sie das angesprochen Rücken der Kinder gesundbeten! Ich verstehe hat. Wenn man sich das allein bildlich vorstellt, muss nicht, dass Sie sich für Ihren Redebeitrag nicht man kein einziges dieser Fotos gesehen haben, um zu schämen! Das sollten Sie nämlich tun!) wissen, dass man das ganz dringend bekämpfen muss. An dieser Stelle möchte ich, wie es auch meine Kolle- (Beifall bei der CDU/CSU) gin Noll getan hat, an alle Provider appellieren, mit dem Gesetzgeber zusammenzuarbeiten. Bei diesem Thema Es geht um die Vergewaltigung und Schändung wehr- hat es jeder Einzelne von uns in der Hand, nur mit denen loser Kinder. 43 Prozent der betroffenen Kinder sind (B) zusammenzuarbeiten, die das politische Ziel, diesem (D) jünger als sechs Jahre, über 10 Prozent von ihnen jünger Grauen im Internet ein Ende zu machen, unterstützen. als zwei Jahre. Hier besteht also dringender Handlungs- bedarf. Wir müssen denjenigen, die von diesem Millio- Vielen Dank. nengeschäft profitieren, den Markt rauben. (Beifall bei der CDU/CSU – Caren Marks Wir haben es mit zwei Gruppen schwerkranker Men- [SPD]: Eine armselige Rede!) schen zu tun: zum einen mit Pädophilen, für die das An- schauen derartiger Bilder zur Sucht geworden ist, zum Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: anderen mit denjenigen, die keine Skrupel haben, mit Als letzte Rednerin in dieser Aktuellen Stunde hat die solchen Bildern, also durch Straftaten, Millionen zu Kollegin Kerstin Griese von der SPD-Fraktion das Wort. scheffeln. (Beifall bei der SPD) Ich bin unserer Ministerin wirklich dankbar – ich möchte den Dank von Wolfgang Bosbach aufgreifen –, Kerstin Griese (SPD): dass sie dieses Thema auf die Agenda gesetzt hat. Sie Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich ließ sich auch von denen, die ihr das Leben schwer ma- möchte an den Beginn der Debatte, als der Kollege chen wollten, nicht beirren oder abschrecken, sondern Bosbach sagte, dass wir uns bei diesem Thema alle einig hat ihr Ziel stetig weiterverfolgt. Frau von der Leyen, sind, anknüpfen. Ich finde, bei diesem Thema müssen dass wir heute so weit sind, haben wir Ihnen zu verdan- wir uns auch alle einig sein. ken. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei (Beifall bei der CDU/CSU) Abgeordneten der FDP und der LINKEN) Bei diesem Thema geht es natürlich nicht nur um die Wenn ich mir vor Augen führe, was in dem einen oder rein politische Aufgabe, die gesetzliche Grundlage dafür anderen Redebeitrag gesagt wurde, bin ich allerdings, zu schaffen – dieser Verantwortung müssen wir uns be- ehrlich gesagt, ein bisschen fassungslos. wusst sein –, sondern auch um eine gesamtgesellschaftli- (Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Wir auch!) che Aufgabe, also um eine Aufgabe unserer Zivilgesell- schaft. Deswegen möchte ich an dieser Stelle auch dem Ich will ganz ausdrücklich darauf hinweisen, dass wir Verein „Innocence in Danger“ danken, namentlich seiner uns im Familienausschuss seit vielen Jahren sehr inten- Präsidentin Stephanie von und zu Guttenberg, siv um den Schutz von Kindern und Jugendlichen küm- mern. Dort sind wir uns auch einig. Ich halte es für nicht (Widerspruch bei der SPD) angemessen, sich in dieser Debatte gegeneinander aus- 23178 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Kerstin Griese (A) zuspielen. Für meine Fraktion sage ich ganz deutlich: Drittens. Wir müssen die Täter bestrafen. Wenn man (C) Wir wollen das eine tun und das andere nicht lassen. Wir so tut, als geschähe dies nicht, ist das der Debatte nicht wollen alles tun, was man tun kann, um die Kinderpor- angemessen. Zum Glück werden die Täter bestraft. Seit nografie zu bekämpfen. 2003 gibt es einen eigenen Straftatbestand im Strafge- setzbuch, der die Verbreitung, den Erwerb und den Be- (Beifall bei der SPD – Ingo Wellenreuther sitz von Kinderpornografie unter Strafe stellt. Allein [CDU/CSU]: Deswegen auch die Vertragslö- 2006 wurden auf dieser Grundlage über 1 400 Personen sung!) verurteilt. In den Jahren 2006 bis 2008 kam es zu drei Zu Beginn meiner Rede danke ich der Familienminis- großen Verfahren mit Tausenden Beschuldigten. Das terin, der Justizministerin, dem Innenminister und dem zeigt, wie groß und schlimm das Problem ist; es zeigt Wirtschaftsminister. Ich hoffe, dass Sie uns so schnell aber auch, dass unsere Strafverfolgungsbehörden an sei- wie möglich einen Gesetzentwurf vorlegen. Auch an ner Bekämpfung arbeiten. Deshalb danke auch ich den- dieser Stelle möchte ich niemanden gegen den anderen jenigen – Kollegin Griefahn hat das schon getan –, die ausspielen; denn gerade bei diesem Thema gehört sich die fürchterliche Arbeit auf sich nehmen, diese Internet- das nicht. seiten anzusehen, um die Täter aufzuspüren. Ich glaube, das ist eine ganz schwierige Arbeit; sie muss gemacht (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der werden, damit wir der Täter habhaft werden. Vielen CDU/CSU) Dank dafür. Wir müssen zusammenarbeiten und zügig weitere (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Schritte einleiten. FDP) Ich will deutlich betonen: Der Schutz von Kindern Viertens. Wir müssen die Kinderpornografie im Inter- und Jugendlichen vor diesem furchtbaren Verbrechen ist net und darüber hinaus eindämmen. Um es noch einmal ein zentrales Anliegen. Wir wissen, dass die betroffenen zu sagen: Wenn auf deutschen Servern Kinderpornogra- Kinder durch jeden Klick im Internet wieder zu Opfern fie liegt, werden diese sofort abgeschaltet; denn es ist werden. Wir wissen auch – das ist heute schon mehrfach strafbar. Das geschieht schon jetzt; es wäre schlimm, gesagt worden –: Die Verbreitung von Kinderpornogra- wenn das nicht so wäre. Solche Server werden also nicht fie hat zugenommen, die Opfer werden immer jünger, nur gesperrt, sondern abgeschaltet. Heute sprechen wir und mit der Kinderpornografie wird immer mehr Geld über ausländische Server, deren Inhalte über die deut- verdient. Deshalb brauchen wir ein Gesamtkonzept: zur schen Provider hierhin geleitet werden, sodass man auf Prävention, zum Schutz der Opfer, zur Strafverfolgung sie zugreifen kann. Ich akzeptiere nicht – das sage ich und zur gesellschaftlichen Ächtung der Täter. Eigentlich ausdrücklich –, wenn der Eindruck erweckt wird, es (B) sollte von dieser Debatte ein Signal in diese Richtung (D) gäbe hier eine Spaltung; wir sind uns alle sehr einig, dass ausgehen. solche Inhalte blockiert werden müssen. Das, was in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Norwegen, Schweden, Finnland, Dänemark, den Nieder- der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) landen, Großbritannien, Belgien, der Schweiz und ande- ren Ländern getan wird, wird auch bei uns stattfinden. Es geht, wie gesagt, darum, das eine zu tun und das an- dere nicht zu lassen. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Erstens. Wir müssen alles tun, um Straftaten zu ver- des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE]) hindern. Wir müssen diejenigen finden, die Kinder miss- brauchen. Wir müssen außerdem alles tun, damit diese Wir brauchen dafür europaweite und weltweite Lö- furchtbaren Straftaten gar nicht erst geschehen. Denn sungen; denn nur dann kommen wir weiter. Ich finde es wer als Kind missbraucht worden ist, leidet das ganze gut, dass die EU-Kommission alle Mitgliedsländer auf- Leben unter dem Missbrauch. Unsere Gesetzeslage ist gefordert hat, Kinderpornografieseiten im Internet zu eindeutig: Kindesmissbrauch ist strafbar und verboten. sperren. Ich finde es gut, dass der Weltkongress in Rio deutlich gemacht hat, was noch zu tun ist – es ist noch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten viel zu tun –, um die sexuelle Ausbeutung von Kindern der CDU/CSU) und Jugendlichen zu bekämpfen. Zweitens. Wir müssen die Opfer schützen. Wir müs- sen die Kinder stark machen, damit sie in der Welt zu- Im Zuge der Diskussion um Kinder- und Jugend- rechtkommen und lernen, Nein zu sagen. Sie müssen schutz, die wir im Familienausschuss oft führen, höre ich aber auch wissen, an welche Stellen sie sich wenden oft das Argument, all das bringe nichts. Heute habe ich können, wenn sie Hilfe brauchen. Wir brauchen Schul- in der Zeitung gelesen, dass der Vorstandsvorsitzende psychologen sowie Schulsozialarbeiterinnen und -arbei- des Verbandes der deutschen Internetwirtschaft schon ter. Wir brauchen eine Stärkung der Kinderrechte. Auch jetzt weiß, dass eine Sperre nichts bringt, weil man sie dafür wünsche ich mir ein gemeinschaftliches Engage- umgehen kann und weil dann andernorts veröffentlicht ment in diesem Haus. wird. Ich finde das nicht hilfreich. Wir müssen vonseiten der Politik deutlich machen, welche Regeln und Normen (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der wir in diesem Land setzen; dann müssen wir alles juris- CDU/CSU sowie des Abg. Jörn Wunderlich tisch und technisch Mögliche daran setzen, ihre Einhal- [DIE LINKE]) tung zu gewährleisten. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23179

Kerstin Griese (A) Allen, die schon jetzt sagen, das helfe sowieso nichts, Es geht uns an dieser Stelle um eine ernsthafte De- (C) sage ich: Wir werden alles tun – in allen Facetten –, um batte, die – das will ich gleich sagen – möglichst nicht so Kinderpornografie zu bekämpfen. Es geht um eine ge- aussieht wie die in der letzten Woche, als CDU/CSU und sellschaftliche Ächtung. Hier geht es um ein Verbrechen, FDP die Präsidentin des Bundesamtes für Naturschutz das tagtäglich in Büros stattfindet und so etwas wie eine für ihre Aussagen im Ausschuss angepöbelt haben, Herr weiße Kriminalität ist. Das muss benannt werden, damit Bleser. die Menschen, die das machen, wissen, dass sie ein Ver- brechen begehen, sodass die Opfer geschützt werden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – und so etwas nicht mehr passiert. Peter Bleser [CDU/CSU]: Das war ein bemer- kenswerter Auftritt!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) – Herr Bleser, es gibt, wie immer der Auftritt von Gästen Es ist gut, dass es einen freiwilligen Vertrag mit auch ist, noch lange kein Recht, selber herumzupöbeln. 75 Prozent der Internetanbieter gibt. Ich sage ausdrück- lich: Von dieser Debatte muss ein Signal an die Anbieter (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie waren ausgehen, die bisher noch nicht mitmachen wollen – Free- doch gar nicht dabei!) net, United Internet und Versatel –, sich dieser Vereinba- rung anzuschließen. Außerdem muss ein Gesetz her. Eine Ich habe zum Beispiel gehört, dass Ihr Auftritt manch- freiwillige Vereinbarung ist gut; aber ein Gesetz ist besser, mal auch bemerkenswert ist. um wirklich alle zu erreichen. Ein solches Gesetz muss Ich will an dieser Stelle eine Debatte über den Mais schnell verabschiedet werden. führen und wissen, wer eigentlich mit gespaltener Zunge (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) redet und wer jetzt wirklich für oder gegen MON 810 ist. Wir werden uns diesem Verbrechen entschlossen ent- (Peter Bleser [CDU/CSU]: Das werden Sie gegenstellen. Es ist das Schlimmste, wovon wir in die- erfahren!) sem Land erfahren, das Schlimmste, das Kindern passie- ren kann. Deswegen sollten wir aus dem Deutschen Wenn ich mir die Redenliste anschaue, dann stelle ich Bundestag gemeinsam die klare Botschaft – wir sollten fest, dass sich schon wieder keine Rednerin und kein uns nicht gegeneinander ausspielen lassen – an die An- Redner von der CSU traut, hier das Wort zu ergreifen. bieter von Kinderpornografie und an diejenigen, die sich (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kinderpornografie strafbarerweise ansehen, richten: Wir NEN]: Doppelte Zunge! – Ulrike Höfken werden das nicht dulden; wir werden alles tun, um dieses [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Feige!) Verbrechen zu bekämpfen. Vielleicht ändert sich das ja noch im Laufe der Debatte. (B) Vielen Dank. (D) Ansonsten schließen wir daraus, dass Sie von der CSU (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) mit Blick auf die Europawahl in Bayern anders spre- chen, als Sie es wirklich meinen. Ich glaube, das ist die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: einzig mögliche These. Die Aktuelle Stunde ist beendet. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf: In Bayern sagen Sie Nein, in Berlin reden Sie entwe- Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike der gar nicht oder Sie sagen Vielleicht. Der andere Teil Höfken, Cornelia Behm, Hans-Josef Fell, weite- der Union sagt dann Ja, und in Brüssel wird entweder rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- auch noch einmal Ja gesagt oder dafür gesorgt, dass Mit- NIS 90/DIE GRÜNEN arbeiter vor Abstimmungen in den Ausschüssen – zum Anbau von gentechnisch verändertem Mais Beispiel über den Bt-11-Mais – die Ausschusssitzungen stoppen verlassen, damit sie nicht zeigen, was Deutschland in dieser Sache eigentlich meint. Ich meine, Sie müssten – Drucksache 16/11919 – jetzt endlich einmal Farbe bekennen, und zu dem, was Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Teile dieses Hauses reden, muss es endlich auch Taten Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen geben. Widerspruch. Dann ist so beschlossen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- Es stellt sich natürlich eine Frage an die Landwirt- nerin das Wort der Kollegin Renate Künast vom Bünd- schaftsministerin Frau Aigner. nis 90/Die Grünen. (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): NEN]: Wo ist sie?) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es geht – Wo sie ist? Das ist eine gute Zwischenfrage. Ich habe uns heute und hier darum, den Verkauf und die Aussaat schon fast erwartet, dass sie jetzt nicht hier ist. – Da sie von MON-810-Saatgut, also von Saatgut einer gentech- selber sagt, sie sei kritisch, und da sie auf Messen ein nisch veränderten Maissorte, in Deutschland zu stoppen. Verbot ankündigt, stelle ich ihr die Frage: Warum trauen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Sie sich erstens nicht selbst hierher, und warum verhin- des Abg. Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]) dern Sie zweitens, dass es heute eine Abstimmung in 23180 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Renate Künast (A) dieser Sache gibt, bevor die Bauern aussäen? – Mit Ih- Lassen Sie uns den Blick auf andere Staaten richten, (C) rem Verhalten lassen Sie die Bauern allein. in denen der Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen schon sehr weit verbreitet ist. Nehmen wir zum Beispiel (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kanada und Indien. In Kanada – vor allem im Westen – wird mittlerweile dreifach herbizidresistenter Raps ange- Ich glaube, dass manches, was dort geredet wird, ein- baut. Es gibt Raps, der auf andere artverwandte Pflanzen fach ein Ablenkungsmanöver ist. Wenn Seehofer als Mi- auskreuzt. Im Westen Kanadas baut niemand mehr kon- nisterpräsident es nämlich ernst meinen würde, dann ventionellen – also nicht gentechnisch veränderten – würde er hier stehen und sagen, dass es sein größter poli- Raps an, vom Ökolandbau ganz zu schweigen. Sie haben tischer Fehler war, dass er als Gesundheitsminister 1998 alle die Segel gestrichen. Im Westen Kanadas geht man in Brüssel MON 810 in der EU mit zugelassen hat. mit der Giftspritze durch die Städte, weil die Grünflä- Wenn er ehrlich wäre, dann würde er sagen, dass es der chen mittlerweile aufgrund des Gentechnikeinsatzes mit größte Fehler seiner Amtszeit als Agrarminister war, Super-Unkräutern verunreinigt sind. Das ist die Wahr- 2005 MON-810-Saatgut in Deutschland zugelassen zu heit. haben, von dem wir jetzt nicht wissen, wie wir es wieder loswerden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der SPD und der FDP – Peter (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bleser [CDU/CSU]: Wer hat Ihnen denn das erzählt?) Ich will auf einen Punkt eingehen, der immer genannt wird – er wird bestimmt auch in dieser Debatte ange- Es wäre schön – das sage ich gerade in Richtung FDP, sprochen werden –, nämlich, dass die Befürworter sa- den letzten, die glauben, dass die Märkte dieser Welt al- gen, dass die wissenschaftlichen Risiken nicht nachge- les alleine regeln werden –, wenn das aus einem Fanta- wiesen sind. Wir müssen hier genau hinschauen. Mich sieroman stammen würde. Es wird aber leider von kana- und uns Grüne treibt schon noch so etwas wie ein Vor- dischen Bauern erzählt, die festgestellt haben, dass sie sorgeprinzip. Es geht um die Frage, wie wir mit den Ver- selber dort keine Landwirtschaft mehr betreiben können. brauchern umgehen. Wenn wir uns nicht sicher sind, Das andere Beispiel betrifft die gentechnisch verän- dann muss das Vorsorgeprinzip gelten, das besagt: Wir derte Baumwolle in Indien. Mittlerweile verdienen die lassen nichts zu, bei dem wir noch begründete Zweifel Bauern mit konventionell angebauter Baumwolle mehr daran haben, dass es gefährlich sein könnte. und steigen deshalb wieder aus. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ich komme zum Schluss. Wir haben an dieser Stelle Hans-Michael Goldmann [FDP]: Haben Sie ein Problem, nämlich die Tatsache, dass Zulassungsbe- (B) Zweifel an der Wissenschaft?) hörden und deren Mitarbeiter mit der Wirtschaft verwo- (D) ben sind. An Frau Aigner gerichtet sage ich in diesem – Ich habe keine Zweifel an der Wissenschaft. Ich weiß Zusammenhang eines ganz klar: Wenn sie, was sie im- nur eines: Die WTO erlaubt weltweit den Anbau von mer wieder andeutet, zu MON 810 eine Entscheidung Genpflanzen. Sie erlaubt auch, weltweit die Wälder zu treffen will, dann sollte sie das jetzt tun, bevor die Bau- roden, um danach was auch immer – meinetwegen auch ern aussäen. Dabei sollte sie sich nicht von Herrn Gensoja – anzubauen. Das ist nicht mein Verständnis Bartsch und Herrn Schiemann aus den nachgeordneten von einer gerechten Welt. Behörden beraten lassen. Das sind diejenigen, die gerade (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit Monsanto, Syngenta und anderen Fachartikel da- sowie des Abg. Dr. Wolfgang Wodarg [SPD] – rüber veröffentlichen, wie man möglichst billig ein Mo- Hans-Michael Goldmann [FDP]: Oh!) nitoring durchführen kann, um danach zu entscheiden, ob das Monitoring gut war. Das ist eine Art von Filz, die Wir sollten auch einmal unseren Kenntnisstand prüfen nicht entscheidungserheblich sein darf. bzw. nach dem Stand der Forschung fragen. Bei herbizid- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN resistenten Genpflanzen wird die Wirkung der verstärkt sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- eingesetzten Herbizide auf die Umwelt in der Forschung KEN) kaum untersucht. Auch die Auswirkungen des Anbaus von Bt-Pflanzen auf Bodenorganismen werden nicht er- Wir stellen MON 810 infrage und fordern, es zu ver- forscht. Dabei sind die Bodenorganismen so ziemlich das bieten. Unserer Vorstellung von einer guten Landwirt- Wertvollste, das es in den Böden bzw. auf dem Acker gibt. schaft entspricht, dass die Bauern und die Verbraucher noch Wahlfreiheit haben und dass Monsanto nicht zu In die Zukunft blickend würde ich sagen, dass ange- dem wird, was Microsoft für Computer ist, nämlich ein sichts des Welthungers, unserer Ernährungslage und der Unternehmen, das die Patente auf alle wichtigen Lebens- nachwachsenden Rohstoffe nicht länger die Erdölquel- mittel hält, die zur Ernährung der Bevölkerung dieser len, sondern gute Böden das Objekt der Begierde sein Welt nötig sind, und die Bauern zu Abhängigen macht. werden, das es zu schützen und zu bewahren gilt. Wir Die Verbraucher und Bauern sollen frei entscheiden kön- haben den Anspruch, das zu tun. nen. Niemand darf das Patent auf die wesentlichen Ge- treidearten dieser Welt haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Peter Bleser [CDU/CSU]: Sie wollen die Men- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schen hungern lassen mit Ihrer Technologie- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- verweigerung!) KEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23181

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Peter Bleser (CDU/CSU): (C) Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Bleser von der Die Frage ist schon so oft gestellt worden, dass es CDU/CSU-Fraktion. langweilig ist, sie zu beantworten. (Beifall bei der CDU/CSU – Julia Klöckner [CDU/ (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: CSU]: Ein unabhängiger Landwirt!) Weil Sie sie nicht beantworten wollen!) Das Erste bestätige ich gerne. Damals war Herr Seehofer Peter Bleser (CDU/CSU): Gesundheitsminister; das ist so weit richtig. Das andere Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst ist falsch. Sie wissen genau – ich habe vorhin versucht, einmal will ich Frau Ministerin Aigner entschuldigen. das zu erklären –: Die rechtlichen Grundlagen für den Sie nimmt an der Agrarministerkonferenz in Magdeburg Anbau sind von Frau Künast in Brüssel und Deutschland teil. gelegt worden. Dabei bleibe ich. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast der SPD) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann ist jetzt MON 810 zugelassen worden? Das nimmt Ih- Das ist in Ordnung; sie muss daran teilnehmen. nen doch keiner ab!) Ich bin sehr dankbar, Frau Künast, dass Sie vor mir Frau Künast, ich möchte noch mit etwas aufräumen, gesprochen haben. Denn Sie waren es doch, die mit einer weil das sehr an moralische Dimensionen heranreicht. Stimmenthaltung in Brüssel die Freisetzungsrichtlinie Sie sagen, der ökologische Landbau sei in der Lage, die der Europäischen Union für gentechnisch veränderte Menschheit zu ernähren. Sie wissen genau, dass ein Drit- Pflanzen erst ermöglicht hat. Das war in Ihrer Amtszeit. tel der Menschheit ohne den Einsatz von Pflanzen- schutzmitteln und Dünger schon heute verhungern (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- müsste. neten der FDP) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie haben dann auch den Entwurf eines ersten Gen- NEN]: Falsch! – Zuruf von der SPD: Wegen technikgesetzes im Bundestag eingebracht. Das Gesetz Pflanzenschutzmitteln und Dünger!) ist mit rot-grüner Zustimmung beschlossen worden. Sie müssten dann entscheiden, wen es trifft. Es sind (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht die Reicheren, sondern die Ärmeren, die darunter NEN]: Was steht drin?) leiden müssten. Das müssen Sie sich auch einmal vor- halten lassen, wenn Sie hier solche Thesen vertreten. (B) Wir haben es vor zwei Jahren verschärft und verbessert, (D) weil Sie nicht in der Lage waren, eine gute fachliche (Beifall bei der CDU/CSU) Praxis zu definieren. Wir befassen uns heute in diesem Haus zum 40. Mal (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) seit Januar 2008 mit diesem Thema. Immer wieder die gleiche Leier! Ich frage Sie: Warum machen Sie das? Erst wir haben Wahlfreiheit und Koexistenz in Deutsch- Warum setzen Sie dieses Thema von Sitzungswoche zu land ermöglicht. Sie haben die Rechtsgrundlagen ge- Sitzungswoche auf die Tagesordnung? Gibt es noch De- schaffen und sind hier die erste Kämpferin gegen diese tailfragen zu klären? Nein. Gibt es gesetzlichen Ände- Technologie. Das ist scheinheilig und nicht wahrhaftig, rungsbedarf? Nein. Selbst Sie sehen keinen. Es geht Ih- Frau Künast. nen also lediglich darum, eine Kampagne durchzuführen (Beifall bei der CDU/CSU) und mit der Verunsicherung der Menschen politische Ziele zu erreichen. Das ist Ihr Ziel und sonst gar nichts. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Kollege Bleser, erlauben Sie eine Zwischenfrage Wenn es nur darum ginge, ob MON 810 auf ein paar der Kollegin Höhn? Hektar in Deutschland angebaut werden soll oder nicht, würde ich sagen: Schwamm drüber! Das ist in ökonomi- Peter Bleser (CDU/CSU): scher Hinsicht von keiner Bedeutung. Warum sagen wir Gerne. trotzdem, dass diese Technologie wichtig ist und dass hier nach Recht und Gesetz und nach keinem anderen Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kriterium genehmigt werden muss? Wir tun das, weil wir zutiefst von der Zukunft und dem Nutzen dieser Herr Kollege Bleser, 1998 hat es in Brüssel eine erste Technologie überzeugt sind und weil wir wissen, dass Entscheidung zur rechtlichen Zulassung von MON 810 man damit Pflanzenschutz- und Düngemittel einsparen gegeben. Damals war der Bundesgesundheitsminister kann, dass man damit die Zahl der qualitätsbestimmen- dafür zuständig. Können Sie bestätigen, dass der dama- den Inhaltsstoffe erhöhen kann und dass wir damit auch lige Gesundheitsminister Seehofer und nicht Renate einen Beitrag zur Bekämpfung des Hungers leisten kön- Künast hieß und dass die Entscheidung für MON 810 nen, und zwar ohne Urwälder zu roden, was Sie ja auch sowohl 1998 in Brüssel als auch 2005 von Herrn nicht wollen. Seehofer, der dann Landwirtschaftsminister war, und nicht von Renate Künast getroffen wurde? (Beifall bei der CDU/CSU) 23182 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Peter Bleser (A) Wir sind der festen Überzeugung, dass die Chancen die- Das, was Sie hier betreiben, ist doch Symbolpolitik und (C) ser Technik die Risiken überwiegen. Ich will aber nicht Verunglimpfung von Wissenschaftlern. Das tun Sie verkennen, dass es Ängste und eine Zurückhaltung in schon die ganzen Jahre. Sie verunglimpfen mit Ihren der Bevölkerung gegenüber dieser Technologie gibt. Anschuldigungen Leute, die seriös vorgehen. Das haben Sie übrigens auch vorhin wieder getan, indem Sie die (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Seriosität von Wissenschaftlern infrage gestellt haben. NEN]: Ach! Warum denn?) Frau Künast, das ist nicht in Ordnung. Deswegen gibt es ein strenges Zulassungsverfahren, das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) von verlässlichen und demokratisch geschaffenen wis- senschaftlichen Einrichtungen immer wieder überprüft wird. Deswegen haben wir auch das Gentechnikgesetz Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: verschärft. Herr Bleser, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Künast? Welche Argumente haben Sie vorzubringen, die ge- gen diese Technologie und den Anbau der Maissorte Peter Bleser (CDU/CSU): MON 810 sprechen? Bitte schön. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fragen Sie doch mal Frau Aigner!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Vorgestern wurde ein Gutachten der Technischen Uni- Bitte, Frau Künast. versität München in Bayern veröffentlicht. In einem (Zuruf von der CDU/CSU: Sie hat sich doch Langzeitversuch wurden 36 Kühe in einem Dauerfütte- schon blamiert! – Heiterkeit bei der CDU/ rungsversuch auf MON 810 getestet. Dieses Gutachten CSU) liegt Ihnen vor. Es ist übrigens von der SPD-Fraktion im Bayerischen Landtag beantragt Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Ulrich Kelber [SPD]: Das stimmt! Guter An- – Jeder blamiert sich auch mit seinem Zwischenruf so trag!) gut, wie er kann. Herzlichen Glückwunsch dazu! Das ist Ihrer weiteren parlamentarischen Karriere bestimmt zu- und vom bayerischen Agrarministerium in Auftrag gege- träglich. – Sie haben uns gerade aufgefordert, das Gut- ben worden, das in diesen Fragen völlig unverdächtig ist. achten aus Weihenstephan zu berücksichtigen. Das will In diesem Gutachten steht, dass 38 000 Datensätze ich gerne tun. Es ist druckfrisch. (B) mit modernsten Analysegeräten untersucht worden sind. (D) Es wurde im Gutachten wörtlich festgehalten: Bei Kü- Peter Bleser (CDU/CSU): hen, die mit MON 810 gefüttert wurden, gab es keine Ich kann es Ihnen gerne geben. Auswirkungen auf die Gesundheit und Leistungsfähig- keit im Vergleich zu konventionell gefütterten Tieren. Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Auch die Milch zeigte keine Veränderungen gegenüber Nachdem ich den ersten Blick darauf geworfen habe, Milch von konventionell gefütterten Kühen. – Ich will frage ich mich schon, warum bei den einzelnen Durch- die Süddeutsche Zeitung zitieren, in der Herr Patrick gängen neun Kühe aus den Versuchsreihen gefallen sind. Illinger schreibt: Auch das werden wir klären. Wir werden schauen, wie Rückstände des Genfutters konnten beispielsweise der Auftrag lautete. Nach meinem Kenntnisstand ist die in der Kuhmilch trotz einer Nachweisgrenze von ei- Frage nach den Auswirkungen auf die Natur nicht ge- nigen Billionstel Gramm pro Milliliter nicht gefun- stellt worden, wenn auch dieses Ergebnis hinsichtlich den werden, berichtet der Physiologe Heinrich der Milch herausgekommen ist. Auch wurde nicht die Meyer. Frage der Auswirkung des Maisanbaus auf den Honig gestellt. Es konnten also mit modernsten Analysemethoden keine Veränderungen gegenüber herkömmlicher Milch festge- (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) stellt werden. In der Welt schreibt Herr Miersch: Die Imker sind ja auch Betriebe; sie stellen Honig her. Das gentechnisch hinzugefügte Protein erwies sich Nicht nur das – ihre Bienen tragen auch zur Bestäubung sogar als besonders leicht verdaulich. bei. Wie wir alle wissen, ist die Bestäubung ein zwangs- läufiger Bestandteil des natürlichen Kreislaufs. (Lachen der Abg. Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) Wenn ich verspreche, mir dieses Gutachten genau an- zusehen, versprechen Sie, Herr Bleser, dann, sich das ös- Meine Damen und Herren von den Grünen, ignorieren terreichische Gutachten genau anzusehen, welches erge- Sie solche wissenschaftlichen Aussagen? Das ist doch ben hat, dass die Fruchtbarkeit von Mäusen, die mit keine professionelle Politik. gentechnisch verändertem Futter gefüttert wurden, sinkt? Sie müssen beide Seiten und alle wissenschaftli- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- chen Gutachten berücksichtigen. Das ist keine Einbahn- NEN]: Das Gutachten tue ich in den Schrank, straße, Herr Bleser. in dem das Mäusegutachten aus Österreich steht!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23183

(A) Peter Bleser (CDU/CSU): ern dumm, falsch ausgerichtet; was sie machen, ist eine (C) Frau Künast, Ihr Name hat in der Landwirtschaft nach gesundheitliche Gefahr für Leib und Leben und umwelt- wie vor einen gewissen Klang, und Sie haben Ihren Ruf schädlich. Welche Arroganz drückt sich in Ihrer Einstel- heute noch einmal gefestigt. lung gegenüber diesen Menschen aus? (Heiterkeit bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE Ich kann Ihnen nur sagen: Dieses österreichische Gut- GRÜNEN]: Was wollen Sie denn jetzt eigent- achten hält einer seriösen wissenschaftlichen – – lich?) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Bei mir klatschen die Bauern, bei der Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: CSU nicht!) Herr Kollege Bleser, kommen Sie bitte zum Schluss. – Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, sonst hätte ich Ih- nen berichtet, auf welchen Namen mein Sohn unsere Peter Bleser (CDU/CSU): schlechteste Kuh getauft hat. Ich sage Ihnen eines: Sie werden den Anbau von gen- technisch verändertem Mais in bestimmten Regionen (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP – nicht verhindern; das ist rechtlich gar nicht möglich. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ich habe nichts gegen Kühe! Aber (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bitte: die Antwort!) NEN]: Warten Sie ab!) Dieses österreichische Gutachten ist von seriösen, dafür In wenigen Jahren wird die Praxis Sie widerlegt haben. zuständigen Behörden widerlegt worden. Die EFSA wie Der Geschichte Lauf halten weder Ochs noch Esel auf. auch das BfR haben genau dieses Gutachten als nicht (Sönke Rix [SPD]: Das ist von Honecker!) relevant bezeichnet. Alle die von Ihnen zitierten Pseudo- gutachten sind von den dafür zuständigen Einrichtungen Ich will Ihnen nicht sagen, wen ich damit meine. immer wieder widerlegt worden. Das ignorieren Sie. Herzlichen Dank. Sie, Frau Künast, haben heute den Antrag gestellt, (Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast MON 810 zu verbieten. Die Begründung für diesen An- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Rede trag liefern Sie im ersten Satz. Ich zitiere: trage ich jetzt nach Bayern! Das wollte ich nur Eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung in hören! Danke, Herr Bleser!) Deutschland spricht sich seit Jahren in Umfragen (B) (D) immer wieder gegen den Einsatz der Agro-Gen- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: technik bei der Lebensmittelproduktion aus. Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Christel Happach- Sie machen also Politik aufgrund von Umfragen. Kasan von der FDP-Fraktion. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der FDP) NEN]: Anders als Seehofer!) Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Frau Künast, der Schlag soll mich treffen, wenn ich ein- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir mal auf dieses Niveau absinke, wissen alle: Frau Künast ist Spezialistin für umfrage- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- orientierte Politik, Herr Seehofer macht es ihr nach, und NEN]: Das ist ja eine Beleidigung eines Mi- alle beide werden damit langfristig scheitern. nisterpräsidenten!) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wenn ich also nicht mehr bereit bin, auf wissenschaftli- NEN]: Und Westerwelle? – Sönke Rix [SPD]: cher Basis nach bestem Wissen und Gewissen zu ent- Das kennt die FDP ja gar nicht!) scheiden. Sie entscheiden aufgrund einer Umfrage, die – Westerwelle verfolgt eine vertrauenswürdige und ver- Sie selber in Auftrag gegeben haben, lässliche Linie. (Beifall bei der CDU/CSU) (Lachen bei Abgeordneten der SPD und des und zwar bei einer grünen Tarnorganisation namens BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Campact. Diese Organisation verunglimpft seit zwei Deswegen sind die Umfrageergebnisse für die FDP wun- Jahren gezielt Politiker und Wissenschaftler, indem sie derschön. Wir hoffen, dass sie bis zum Wahltag anhalten. versucht, deren Glaubwürdigkeit zu beeinflussen. (Ulrich Kelber [SPD]: Da muss selbst der Prä- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sident schmunzeln!) Reden Sie doch einmal zum Thema!) – Ich glaube, ich habe das Wort. Welche Arroganz drückt sich in Ihrem Verhalten aus, wenn Sie ignorieren, dass weltweit 13,3 Millionen Bau- Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Ich ern diese Technologie nutzen, und das auf 125 Millionen glaube, diesen Satz kennt hier jeder. Wir alle wissen: Hektar? Diese Ackerfläche ist elfmal größer als die Flä- Hans-Dietrich Genscher ist in der Frage der deutschen che Deutschlands. Nach Ihrer Ansicht sind all diese Bau- Einheit nicht zu spät gekommen. Wir haben die Einheit 23184 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Dr. Christel Happach-Kasan (A) verwirklicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen aus der 1955 gefordert hätte, den VW-Käfer in Deutschland zu (C) CDU, ich will gern zugestehen: Auch Helmut Kohl hatte verbieten. ein wenig Anteil daran. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/ Wirklich eine tolle Maßnahme! Damit kommen wir rich- CSU) tig voran! Aber wir als Liberale sind der Auffassung: Der Mann Sie haben das Thema Bienen angesprochen. Auch das der Einheit, das ist Hans-Dietrich Genscher. ist sehr spannend. Ich bin froh darüber, dass die Bundes- (Beifall bei der FDP – Renate Künast [BÜND- regierung auf eine Frage von mir geantwortet hat: NIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Leute in Leipzig Auf Grundlage der Praxisversuche kann eine toxi- lachen sich gerade tot!) sche Wirkung von Bt-Mais auf gesunde Honigbie- Man fragt sehr selten, wer eigentlich bestraft wird, nenvölker mit hinreichender Sicherheit ausge- wenn politische Entscheidungen zu spät fallen, wenn sie schlossen werden. falsch sind. Ich will Ihnen die Antwort geben: Das ganze Die Bundesregierung hat mir im Ausschuss weiter ge- Land wird bestraft. Nehmen Sie das Beispiel Insulinpro- sagt: Honig enthält im Prinzip 0,5 Prozent Pollen. Ob da duktion: 13,5 Jahre wurde verhindert – die Grünen hat- ein bisschen was vom Bt-Mais dabei ist, ist völlig egal. ten einen Anteil daran –, dass Insulin mit gentechnischen Das Premiumprodukt Honig ist dadurch in keiner Weise Methoden hier in Deutschland produziert wurde. beeinträchtigt. (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Wir (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- reden hier über Mais!) NEN]: Das ist illegal! – Renate Künast Wer hat dafür gezahlt? Dafür haben die Menschen in [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Legal, illegal, Deutschland gezahlt: durch den Abbau von Arbeitsplät- scheißegal!) zen, durch den Verlust von Investitionen, durch den Ver- – Es ist nicht illegal. – Sich auf nicht bestätigte Urteile lust der Weltführerschaft in der Pharmazie. Opfer dieser zu berufen, ist einfach nur dumm. Damit kommen wir politischen Fehlentscheidungen waren die Menschen im nicht weiter. Land; sie wurden für die Politik dieses Landes bestraft. Genau das droht bei der Grünen Gentechnik, und das (Beifall bei der FDP) wollen wir als FDP hier verhindern. Die Forderung nach dem Verbot ist ideologisch be- gründet. Ideologisch begründete Forderungen bedeuten (B) (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Max (D) Lehmer [CDU/CSU]) politische Willkür. Wir als FDP lehnen dies ab. Die Ge- schichte der weltanschaulich und politisch begründeten Mein Kollege Peter Bleser hat auf den bayerischen Verbote zeigt: Solche Verbote sind ein Irrweg. Denken Fütterungsversuch hingewiesen; das brauche ich nicht zu Sie an Galileo Galilei! Die Erde dreht sich um sich selbst wiederholen. Kollegin Künast, sicherlich wissen auch und um die Sonne, wie wir alle heute wissen. Die Grü- Sie, dass es in Bayern ein Monitoring des Anbaus von nen haben schon das Verbot der PET-Flasche, des PAL- Bt-Mais gegeben hat. Dieses Monitoring hat deutlich ge- Fernsehens, des Handys, des PCs gefordert. Auch die In- macht, dass der Anbau von Bt-Mais wesentlich naturver- sulinproduktion mit gentechnisch veränderten Mikro- träglicher ist als die Bekämpfung des Maiszünslers mit organismen wollten sie verbieten. Das alles hat sich chemischem Pflanzenschutz. Dies zeigt, dass es gerade nicht durchgesetzt. in den Gebieten, in denen es Maiszünsler gibt, sinnvoll ist, diese Maissorten anzubauen. Wenn wir daran den- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ken, dass es im Oderbruch Befallsraten von 60 bis NEN]: Dioxin wollten wir verbieten – im Ge- 80 Prozent gibt, dann erkennen wir, dass wir diese Sor- gensatz zu Ihnen!) ten auch in Deutschland brauchen, dass es also anders – Dioxin gibt es nach wie vor. Verbieten kann man es ist, als Frau Aigner es dargestellt hat. nicht. Aber es war sinnvoll, dass insbesondere die (Beifall bei der FDP) schwarz-gelbe Regierung für einen Rückgang der Dioxin- emissionen gesorgt hat. Das ist gut für unsere Wirtschaft. Frau Kollegin Künast, im Prinzip können Sie doch (Beifall bei der FDP) einfach einmal selbst nachlesen, was zum österreichi- schen Mehrgenerationenversuch geschrieben worden ist. Wir in der FDP lehnen ideologisch begründete Ver- Wenn Sie das tun, stellen Sie fest, dass die Futterrationen bote als Angriffe auf die Freiheit und auf den Rechtsstaat eben nicht gleichwertig waren und dass das GVO-Futter ab. Wir sehen in der biotechnologischen Züchtung große wahrscheinlich aufgrund falscher Lagerung mit Schim- Chancen. Wir haben sie realisiert in den Bereichen Arz- melpilzen, mit Mikroben verunreinigt war und dass es neimittel, Vitamine, Enzyme und Aminosäuren. Das ist kein gleichwertiges Futter war. Deswegen kann man aus eine Erfolgsstory. diesen Ergebnissen schlicht und ergreifend gar nichts folgern. Wir wollen, dass über die Zulassung von biotechnolo- gisch gezüchteten Pflanzensorten auf wissenschaftlicher MON 810 wird schon über zehn Jahre angebaut. Ver- Basis entschieden wird. Eine europäische Zulassung gleichbar mit Ihrer Verbotsforderung wäre es, wenn man muss EU-weit gelten – genauso wie die TÜV-Plakette Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23185

Dr. Christel Happach-Kasan (A) deutschlandweit gilt. Wir sind dagegen, dass teressen Deutschlands verspielt, um in der südlichen (C) und Schleswig-Holstein entscheiden können, dass baye- Sandburg Ruhe zu bewahren. Wer Angst erzeugt, macht rische Autos bei ihnen nicht mehr fahren dürfen. Ebenso Menschen unfrei. Wir als Liberale fühlen uns dem freien sind wir dagegen, dass in den Landesparlamenten ent- Menschen verpflichtet und wollen ihn nicht bevormun- schieden werden kann, welche Pflanzensorten in dem je- den, sondern mit den Informationen ausstatten, die er weiligen Land angebaut werden. braucht, um sich entscheiden zu können. Wir wollen Investitionen in biotechnologische Züch- Bei dem Weg, den Seehofer und Söder in Bayern ge- tung, und zwar zur Sicherung der Welternährung; mein gangen sind, würde sich Franz Josef Strauß im Grabe Kollege Bleser hat dies ausgeführt. Frau Kollegin umdrehen. Künast, schauen Sie doch einmal ein bisschen genauer (Beifall des Abg. Dr. Edmund Peter Geisen nach Indien! Sehen Sie sich die IFPRI-Studie an! [FDP] – Sönke Rix [SPD]: Wer ist da noch an Wenn Sie das tun, dann werden Sie feststellen, dass der Regierung? Ich dachte, die FDP regiert in die Bt-Baumwolle sehr wohl dazu beigetragen hat, die Bayern mit! – Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Ernährungssicherheit auf dem Lande zu gewährleisten. Was macht denn die FDP da?) Dies wollen wir fortsetzen. Es gab einmal das Motto: Laptop und Lederhose. Der (Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann Laptop ist unter Herrn Seehofer total unter die Räder ge- [FDP]) raten. An die Adresse der Bundeslandwirtschaftsminis- Ihre Einladung an bestimmte Rednerinnen und Red- terin sage ich: Sie hat den Eid geschworen, dem deut- ner, die nichts weiter betreiben als Diffamierung, die schen Volk zu dienen. Von Gehorsam gegenüber dem sich gegen jegliche wissenschaftliche Erkenntnisse stel- CSU-Vorsitzenden steht darin nichts. len, hilft den Menschen in Indien nicht. Denken Sie an (Beifall bei der FDP – Lutz Heilmann [DIE die Menschen in Indien und nicht bloß an Ihre Wähler- LINKE]: Gibt es jetzt Parteiausschlussverfah- stimmen im Land! ren gegen FDP-Mitglieder in Bayern?) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Sie sind für die Hexenjagd gegenüber Landwirten, die Ulrich Kelber [SPD]: Waren Sie mal in der Bt-Mais anbauen, verantwortlich. Sie sind verantwort- Region? Haben Sie mal mit den betroffenen lich für die Verhinderung von Forschung, für die Zerstö- Bauern in Indien gesprochen?) rung beispielsweise in Üplingen in Sachsen-Anhalt. Sie – Ja, ich habe mit den betroffenen Bauern gesprochen. sind dafür verantwortlich, dass einem Landwirt, der sein Feld für Freisetzungsversuche zur Verfügung stellen (B) (Ulrich Kelber [SPD]: Wann?) wollte, die Tötung seiner Tiere angedroht worden ist. (D) – Ich bin im vergangenen Jahr mit Minister Gabriel nach Das ist die Politik von CSU, SPD und Grünen. Dies leh- Indien gereist und habe selbstverständlich solche Ge- nen wir ab. spräche geführt. Natürlich ist mir da genau das gesagt (Sönke Rix [SPD]: Passen Sie mal bei Ihren worden, was auch in der IFPRI-Studie ausführlich be- Regierungspartnern in Bayern auf!) richtet worden ist. Ich bin in meiner Jugend sehr von dem Stück Bieder- (Ulrich Kelber [SPD]: Die Delegation hat mann und die Brandstifter beeindruckt gewesen. Ich nicht mit Bauern gesprochen!) weiß nicht, ob Sie es kennen. Für mich sind Söder und – Es mag sein, dass die Delegation das nicht getan hat. Seehofer die Biedermänner, die der Brandstiftung zuse- Aber ich bin ein freier Mensch in einem freien Land. Ich hen und dabei – das will ich Ihnen sagen – mit verbren- darf auf einer Reise des Umweltministers auch das Ge- nen werden. spräch mit Gesprächspartnern suchen, die Ihnen nicht in den Kram passen, Herr Kelber. Hören Sie damit auf! Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Was Sie machen, ist einfach unverschämt! Kommen Sie bitte zum Schluss. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Ich bezweifle, dass Sie Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): das gemacht haben! – Renate Künast [BÜND- Es hat sich bis jetzt in Deutschland nicht ausgezahlt, NIS 90/DIE GRÜNEN]: Nennen Sie mal Na- sein Mäntlein politisch nach dem Wind zu hängen; denn men!) wir sind eine Wertegemeinschaft. In Deutschland zählen Wahrhaftigkeit, Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit. Wir wollen Investitionen in biotechnologische Züch- Wir lehnen den Antrag der Grünen ab. tung. Dazu gehören für uns der Goldene Reis und der überflutungsresistente Reis. Danke schön. Wir sind uns bewusst, dass die Bevölkerung eine ge- (Beifall bei der FDP – Zuruf von der SPD: wisse Skepsis gegenüber der neuen Züchtungsmethode Spärlicher Beifall von der FDP!) hat. Skepsis ist also vorhanden. Es gibt aber keinerlei Grund, Angst zu erzeugen. Grüne, CSU und SPD arbei- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ten dabei Hand in Hand. Die Bundeskanzlerin schaut zu. Der Kollege Schmitt möchte eine Kurzintervention Es ist unverantwortlich, wie die Bundeskanzlerin die In- machen. Bitte schön. 23186 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

(A) Heinz Schmitt (Landau) (SPD): Ich will Ihnen auch sagen, dass ich nicht nur in Brasi- (C) Liebe Kollegin Happach-Kasan, wir waren zusam- lien, sondern mit Kollegin Höfken auch in Argentinien men mit Bundesminister Gabriel in Brasilien. Ich erin- gewesen bin. nere mich an viele Gespräche, die wir beide geführt (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ haben, zum Beispiel mit Vertretern der sogenannten DIE GRÜNEN) Kleinbauern, die sich gegenüber der Gentechnologie sehr skeptisch geäußert haben. Die Gespräche mit NGOs Dort haben uns die Bauern etwas anderes erzählt. Sie ha- haben ergeben, dass auf Kleinbauern ein enormer Druck ben uns nämlich gesagt, dass sie das gerne möchten. Im ausgeübt wird, ihre Flächen aufzugeben, weil die neue Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die Bt-Maisanbau- Gentechnologie nur mit großflächigen Anbaumethoden ten illegal erfolgt sind, weil die Brasilianer gemerkt ha- funktioniert. Auch die Vertreter der Kirchen haben im ben, wie erfolgreich er in Argentinien gewesen ist. Erin- Prinzip die Technologie abgelehnt, weil sie nicht zur Lö- nern wir uns daran: Wenn eine Fläche von 120 Millionen sung der Probleme vor Ort führt. Das sind meine Erinne- Hektar von 13 Millionen Landwirten bestellt wird, dann rungen an die Reise ins Amazonas-Gebiet. Ich denke, können das nicht alles Großbauern, sondern müssen das Sie werden sich auch daran erinnern. auch Kleinbauern sein, werter Herr Kollege. (Beifall bei der SPD – Eva Bulling-Schröter Vor diesem Hintergrund glaube ich, dass unsere ge- [DIE LINKE]: Aber ganz anders!) meinsamen Reiseerfahrungen sehr gute Erfahrungen sind. Aber sie tragen nicht dazu bei, zu klären, ob in Bra- silien der Anbau von Bt-Mais bzw. gv-Soja sinnvoll ist Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: oder nicht. Das sollen diese Länder bitte selber entschei- Zur Erwiderung Frau Happach-Kasan. den und nicht wir hier in Deutschland. (Beifall bei der FDP – Renate Künast [BÜND- Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): NIS 90/DIE GRÜNEN]: Potenziell retrograde Lieber Kollege, ich habe sehr gute Erinnerungen an Amnesie!) unsere gemeinsame Reise nach Brasilien, die ich als an- genehm empfunden habe. Ich habe es auch als ange- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nehm empfunden, mit Bundesminister Gabriel zu reisen, Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wolfgang Wodarg weil ich meine, dass er dort ein sehr wichtiges Pro- von der SPD-Fraktion. gramm verfolgt hat. Im Mittelpunkt dieses Programms stand allerdings nicht die Gentechnik – – (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (B) (D) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): NEN]: Bei Ihnen dann ja auch nicht!) Sehr geehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! – Frau Künast, Sie könnten einfach den Mund halten. Sie Als jemand, der sonst in der Gesundheitspolitik und in sind im Augenblick schlicht und ergreifend nicht ge- der Entwicklungspolitik zu Hause ist, bin ich erstaunt fragt. über den Ton, in dem hier über Probleme, die die Men- schen in Deutschland und in der ganzen Welt bewegen, (Ulrich Kelber [SPD]: Das entscheidet der diskutiert wird. Präsident!) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) Im Mittelpunkt der Reise stand insbesondere der Schutz der Urwälder. Wir haben beeindruckende Sied- Ich denke, dass das schwer zu verstehen ist. Ich weiß, lungen im Bereich des Amazonas-Gebietes besichtigt. dass das Thema strittig ist. Aber wir kommen bei diesem Wir haben von den Brasilianern gehört, dass es ihr gro- Thema nur weiter, wenn wir uns ein wenig systemati- ßes Anliegen ist, den Zuckerrohranbau auszubauen und scher und detaillierter mit den möglichen Lösungen aus- Zuckerrohr zur Ethanolproduktion zu nutzen, um dieses einandersetzen. Ethanol auch auf den deutschen Markt zu bringen. In der Entwicklungspolitik gibt es zurzeit ein sehr Bundesminister Gabriel hatte sich insbesondere dafür wichtiges Thema: dass die Agrarindustrie sich überall in eingesetzt, dass wir keine Einfuhrverbote für solches Zu- der Welt Flächen kauft. Wir haben gesehen, dass in Ma- ckerrohrethanol erlassen sollten, weil das genau die Poli- dagaskar ein Drittel der landwirtschaftlichen Fläche von tik sei, die die EU gegenüber solchen Einfuhren früher einer einzigen Firma aufgekauft wurde, die dort eine verfolgt habe. Ich kann mich nicht erinnern, dass Gen- Monokultur plant. Ich habe mit einer Delegation aus technik ein großes Thema gewesen ist. Kongo-Brazzaville gesprochen, die mir berichtet hat, dass entlang der Eisenbahnlinien – das sind viele Hun- (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dert Kilometer – ein 20 Kilometer breiter Streifen aufge- DIE GRÜNEN – Ulrich Kelber [SPD]: Sie kauft worden ist, auf dem der Wald gelichtet und Öl- verdrängen alles!) pflanzen angebaut werden sollen. Auch die Paraguayer haben von ihren Konflikten berichtet. Sie haben große – Nein, das ist nicht mein Problem. Herr Kelber, hören Sorge, weil sehr viele Menschen von ihren Ländereien Sie zu, es ist kein großes Thema gewesen. Es ist einmal vertrieben werden, die als Kleinbauern ihre Existenz am Rande angesprochen worden. durch Subsistenzwirtschaft gesichert haben und jetzt in Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23187

Dr. Wolfgang Wodarg (A) die Slums der Städte vertrieben werden. Deshalb müssen unsere Ernährungsgewohnheiten. Daran geht kein Weg (C) wir anschließend mit unseren Entwicklungshilfepro- vorbei. So wie wir jetzt handeln, machen wir die Welt grammen dafür sorgen, dass sie nicht verhungern und kaputt. menschenwürdig leben können. Das sind die Folgen ei- ner Agrarindustrie, die weltweit eine große Rolle spielt. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Ulrich Es ist nicht so, dass die Menschen durch das Vorge- Kelber [SPD] – Peter Bleser [CDU/CSU]: Was hen der Agrarindustrie mehr zu essen haben. In der Ent- schlagen Sie vor?) wicklungspolitik sehen wir vielmehr das Gegenteil: Die Agrarindustrie verjagt Menschen, die vorher zu essen Auch wenn wir hocheffizient so weitermachen, ist das hatten, und sorgt dafür, dass wir hier jeden Tag billiges keine positive Lösung. Denn unsere Wirtschaft entwi- Fleisch auf dem Teller haben. ckelt sich sehr schnell und im Wettbewerb, aber leider in die falsche Richtung. Hier besteht die Möglichkeit, et- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- was zu ändern. NIS 90/DIE GRÜNEN) Ich will Ihnen ein Erlebnis schildern, das ich gleich zu Das ist der Motor dieser ganzen Misere. Anfang meiner parlamentarischen Laufbahn hatte und In meinem Wahlkreis gibt es eine Wurstfabrik, die das mich damals ziemlich umgehauen hat. Ich bin auf sehr fleißig und produktiv ist. Dort arbeiten Frauen bei einer parlamentarischen Konferenz im Süden Englands 4 Grad an einer Wurstabfüllmaschine im Gruppen- gewesen, einer trilateralen Konferenz, bei der – auf Ini- akkord; das heißt, sie passen auf, dass jede von ihnen tiative von Helmut Kohl, Mitterrand und Major – fran- Leistung bringt. Wenn eine Frau nicht so gute Leistung zösische, englische und deutsche Parlamentarier bringt, verdirbt sie den Schnitt der Gruppe. Das ist schon versammelt waren. Wir hatten uns gemeinsam landwirt- psychologisch ein riesiges Problem. Diese Frauen arbei- schaftliche Betriebe angeschaut. Ich war ja die ersten ten für etwa 1 000 Euro im Monat, und sie müssen bis zu Jahre im Landwirtschaftsausschuss. Anschließend haben 50 Kilometer zur Arbeit fahren, und das, damit die wir sehr gut gegessen. Wir waren eingeladen, saßen an Würstchen dieser Fabrik bei Lidl oder Aldi billiger ange- einer Tafel mit Silber, es gab rosa Vorhänge; wunder- boten werden können als die von der Konkurrenz. Damit schön war das. die Frauen sich diese Würstchen überhaupt leisten kön- Rechts neben mir saß ein englischer Kollege, mit dem nen, müssen sie so billig sein. Das ist ein horrender ich mich über die Probleme der dortigen Landwirtschaft Kreislauf, in dem wir da stecken, der eine Katastrophe – das war noch vor der BSE-Krise – unterhalten habe. für die Landwirtschaft und die Menschen bedeutet, nicht Mein Nachbar links neben mir sprach französisch. Ich (B) nur in den Entwicklungsländern, sondern auch hier bei dachte zunächst, er sei von der französischen Delega- (D) uns. tion. Als ich ihn fragte, woher er käme, antwortete er: (Beifall der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE aus Brüssel. Dass jemand aus Brüssel bei einer trilatera- LINKE] – Peter Bleser [CDU/CSU]: Was hat len Konferenz anwesend war, erschien mir unpassend. das mit Gentechnik zu tun?) Also habe ich ihn gefragt, wen er vertreten würde. Er antwortete: die Firma Monsanto. Auf meine anschlie- Grundsätzlich ist es doch so, dass wir, um gut leben ßende Frage, was er dann hier mache, antwortete er, dass zu können, nicht nur billige Nahrung haben möchten, seine Firma die ganze Veranstaltung finanziert. sondern darüber hinausgehende Wünsche haben. Wir wollen in einer Landschaft leben, in der wir uns gerne ( [CDU/CSU]: Und da waren bewegen. Sie? – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Da war Ihr Appetit weg!) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja!) – Da haben Sie recht. Mein Appetit war in der Tat weg. Wir wollen nicht in bestimmten Jahreszeiten durch große, dreieinhalb bis vier Meter hohe Maiswände fah- (Heiterkeit bei der CDU/CSU) ren und die Landschaft gar nicht mehr sehen, obwohl das Land ganz flach ist. Wir wollen mobil sein in der Land- Die Firma Monsanto ist vielfach überall auf der Welt schaft und einander besuchen können. zur Zahlung von Strafen in Höhe von Millionen Dollar verurteilt worden, weil sie Politiker bestochen hat. Sie (Peter Bleser [CDU/CSU]: Sie wollen Heidi hat Praktiken überall auf der Welt etabliert, die bewir- und Peter zurück!) ken, dass Menschen Hunger leiden. Ich habe kein Ver- trauen in diese Firma wie auch in andere große indus- Wenn Sie sich anschauen, was in den Städten aus der trielle Agrarfirmen, die natürlich die Ansprüche ihrer Mobilität geworden ist, wenn Sie sich das Blech an- Aktionäre befriedigen müssen und die erst an zweiter schauen, das auf den Straßen steht, weshalb die Kinder Stelle – vielleicht aus Marketinggründen – die Ökologie nicht mehr allein auf die Straße gehen können, berücksichtigen. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das kann doch nicht wahr sein, was Sie da reden!) Ich wünsche mir, dass wir unseren Weg finden. Ich wünsche mir, dass wir eine Verbindung herstellen zwi- dann sehen Sie, dass auch dort etwas verkehrt läuft. Wir schen unseren Verbrauchsgewohnheiten und dem, was alle wissen, dass wir eine Energiewende brauchen. Aber durch sie in der Welt verursacht wird. Wenn wir diesen das gilt nicht nur für den Spritverbrauch, es gilt auch für Zusammenhang nicht sehen, dann springen wir zu kurz. 23188 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Dr. Wolfgang Wodarg (A) Mit meiner Fraktion bin ich dagegen, dass wir in die- – Sie können sich meinen Bericht einmal ansehen; ich (C) sem Jahr – bis zum April müssen wir darüber entschei- habe daran jahrelang gearbeitet – sehr differenziert be- den – den Mais der Firma Monsanto in Deutschland an- handelt. säen lassen. Grüne Gentechnik umfasst nicht nur Bt-Toxin produ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zierende Pflanzen; es gibt sehr viele Technologien, um sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- die herkömmliche Züchtung von Pflanzen zu verbessern. KEN) Sie können mit gentechnischen Methoden analytische Ich möchte, dass wir den Anbau verbieten, wie es in Ru- Untersuchungen durchführen und auf molekularer Ebene mänien, Frankreich, Österreich, Ungarn, Griechenland, sehen, welche Vorgänge sich in den Pflanzen abspielen. Polen und Luxemburg der Fall ist. Dieses Wissen können die Züchter nutzen durch entspre- chende Selektionen. Man kann also mit der Forschung, Wenn Sie sich die Karte ansehen, auf der dargestellt die auf diesen Technologien basiert, sehr viel nützliches ist, wo der Mais dieses Jahr angebaut werden soll, dann Wissen schaffen. Was wir heute besprechen, ist nur ein können Sie erkennen, dass das nur in den östlichen Bun- kleiner Bereich. Die Grüne Gentechnologie umfasst da- desländern der Fall ist. neben sehr viele nützliche Methoden. (Peter Bleser [CDU/CSU]: Lassen Sie sie Das Monopolisieren von Saatgut und das In-die-Welt- doch!) Setzen von Pflanzen, die ein Gift produzieren, von dem Ich habe für den Europarat einen Bericht zur Grünen wir nicht wissen, wie es sich auf die Ökokreisläufe lang- Gentechnik erstellt. Gentechnisch veränderte Pflanzen fristig auswirkt, ist etwas anderes. Ich spreche hier gegen werden mit Ausnahme von Spanien vorwiegend im Os- die Freisetzung dieser Pflanzen. ten Europas angebaut. Wir haben uns also in Osteuropa (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- vor Ort angeschaut, warum dies so ist, und festgestellt, NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- dass die Menschen in diesen Ländern überhaupt nicht ten der SPD) wissen, was in ihrem Land angebaut wird. Sie haben deshalb auch kein Problembewusstsein. Die großen Mit meiner Fraktion wünsche ich mir, dass die Landwirt- Konzerne bestechen Politiker und schaffen dort Tatsa- schaftsministerin eine klare Entscheidung fällt, und chen. Auf diese Weise wird die Grüne Gentechnologie zwar, bevor der Mais ausgesät wird. Ich fände es dort eingeführt, was bewirkt, dass gentechnisch verän- schlimm, wenn hier vollendete Tatsachen geschaffen derte Pflanzen überhaupt nicht mehr wegzukriegen sind. würden. Die Bevölkerung will einen solchen Anbau Sie sind überall. Es gibt außerdem noch Gentransfers in nicht; da sind wir uns, glaube ich, alle einig. Ansonsten (B) die Natur, die zu Verunreinigungen führen. sähe die Karte, die ich Ihnen hier gezeigt habe, nicht so (D) aus, wie sie sich hier darstellt. Von einem Anbau ist vor (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- allem die Bevölkerung in Osteuropa betroffen, die nicht NEN]: Das ist die Freiheit der FDP!) so gut Bescheid weiß.

Vizepräsidentin : (Peter Bleser [CDU/CSU]: Oh! Sind die alle Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der dumm in den neuen Bundesländern?) Kollegin Happach-Kasan? – Nein. Aber die Bevölkerungsdichte ist dort sehr ge- ring. Die Landwirtschaft kann dort nicht mehr überle- Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): ben. – Sie glauben das nicht? Fahren Sie doch einmal Ja, klar. durch ! Sehen Sie sich einmal die riesigen Felder an! Wo sind denn da die Landwirte? Ich habe ei- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: nen Landwirt aus Schleswig-Holstein gekannt, der Bitte sehr. 40 Hektar hatte. Nach der Wende ist er in den Osten ge- fahren und hat dort für das Geld, das er für den Verkauf seiner 40 Hektar bekommen hat, 4 000 Hektar gekauft. Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Das ist kein Einzelfall. Herr Kollege Wodarg, Sie kommen wie ich aus Schleswig-Holstein und wissen, dass wir dort mittelstän- dische Pflanzenzüchter haben, die dem Bundesverband Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Deutscher Pflanzenzüchter angehören, in dem mehr als Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des 100 mittelständische Unternehmen zusammengeschlos- Kollegen Vaatz? – Herr Kollege Vaatz, bitte sehr. sen sind. Diese Pflanzenzüchter haben natürlich eine positive Haltung zur Grünen Gentechnik. Sie befürwor- Arnold Vaatz (CDU/CSU): ten diese Technologie und hätten gerne Regelungen, die Herr Kollege Wodarg, ich habe vorhin zur Kenntnis es gestatten, dass sie sich mit gentechnologischer Züch- genommen, dass Sie den Anbau von gentechnisch verän- tung beschäftigen. Wie stehen Sie dazu? derten Pflanzen in Osteuropa und speziell in Ostdeutsch- land – Sie haben gerade eine Karte von Ostdeutschland Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): in die Luft gehalten – im Wesentlichen auf den vermin- Frau Happach-Kasan, ich habe gerade meinen Bericht derten Informationsgrad und das mangelnde Risikobe- für den Europarat erwähnt. Darin habe ich dieses Thema wusststein der Bevölkerung dort zurückführen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23189

Arnold Vaatz (A) Meine Frage ist folgende: Können Sie sich vorstellen, Das Land Rumänien hat sich entschlossen, gentech- (C) dass die Menschen in Ostdeutschland kein vermindertes nisch veränderten Mais nicht anbauen zu wollen. Risikobewusstsein, sondern ein völlig anderes Risikobe- (Beifall der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE wusstsein haben, da sie nämlich die minimalen Risiken, LINKE]) die aus dem Anbau von gentechnisch veränderten Pflan- zen erwachsen, als nahezu lächerlich betrachten und den Das finde ich bemerkenswert. Das Land Rumänien ist daraus zu erwartenden Nutzen gerne für sich in An- Mitglied im Europarat und hat sich an der entsprechen- spruch nehmen wollen? Dies hat einen einfachen Grund: den Debatte beteiligt. Ich habe diese Debatte damals im Im Gegensatz zu manchem aus dem Westen wissen sie, Europarat in Gang gesetzt, um in der Parlamentarischen dass gentechnisch veränderte Pflanzen wie jede andere Versammlung ein Bewusstsein für dieses Problem zu Pflanze, wenn sie vom Menschen genossen wird, im Ma- schaffen. Das war vielen überhaupt nicht gegenwärtig. gen-Darm-Trakt abgebaut werden und überhaupt keine Man wäre in Rumänien bei einer anderen Entscheidung Schädigungen des Menschen verursachen können in der Situation gewesen, dass die dort produzierten Le- bensmittel plötzlich der Kennzeichnungspflicht in ganz (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Europa unterlägen. Die Betroffenen wären in die Falle NEN]: Das wissen Sie doch gar nicht! Haben gelaufen und hätten ihre Produkte nicht mehr vermark- Sie es mal versucht?) ten können, wenn es zu Gentransfers gekommen wäre. und dass Sie mit den Vorstellungen, die Sie ständig pfle- Das ist nicht fair. Die Strategie der beteiligten Unterneh- gen, nämlich dass von gentechnisch veränderten Pflan- men ist unverantwortlich, und deshalb möchte ich, dass zen Gefahr ausgehe, und damit, dass Sie diese Pflanzen wir den Anbau von gentechnisch verändertem Mais ver- als Genmais bezeichnen, obwohl Sie ganz genau wissen, bieten. dass jeder Mais aus Genen besteht, Ich danke Ihnen. (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Oh!) NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- ten der SPD) Gespenster an die Wand malen, die keine reale Begrün- dung haben und nur dazu dienen sollen, die Menschen einzuschüchtern und von Ihren ideologischen Vorstel- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: lungen zu überzeugen. Nächste Rednerin ist die Kollegin Eva Bulling- Schröter für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN) (B) (D) Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Die Verve, mit der Sie das vorgetragen haben, steht in Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! großem Gegensatz zum Inhalt Ihres Einwurfs. Ich bin Wir haben jetzt Ende März. In gut vier Wochen werden Arzt und Umweltmediziner. Ich habe nicht darüber ge- die Äcker wieder mit Mais bestellt. Leider ist auf einigen sprochen, dass Menschen gesundheitlich gefährdet wer- auch die Aussaat des Genmais MON 810 geplant. Um den. Das weiß ich nicht; das mögen Sie bitte zur Kennt- genau zu sein, waren im Februar 3 700 Hektar Anbauflä- nis nehmen. Es gibt noch gar nicht ausreichend viele che beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebens- epidemiologische Untersuchungen darüber, die lange ge- mittelsicherheit gemeldet. Zum Glück werden es wohl nug durchgeführt worden wären, um hier eine Aussage weniger Flächen sein, die mit dem Genmais verunstaltet zu ermöglichen. Dass es den Kühen, die in Bayern mit werden. Das kann zwei Ursachen haben. gentechnisch verändertem Mais gefüttert worden sind, gut geht, freut mich. Erstens erkennen jedes Jahr einige Landwirte mehr, dass sie mit der Entscheidung, Genmais anzubauen, völ- Ich habe davon gesprochen, was in der Landschaft lig unnötig die gentechnikfreie Landwirtschaft und Im- passiert. Wenn Sie einmal zur Kenntnis nehmen, welche kerei gefährden. Debatten, Proteste, Streit mit Nachbarn Bedenken der zuständige Minister von Brandenburg – er und Imkern sind meistens die logische Folge. Viele zie- ist von den Menschen in Brandenburg gewählt worden – hen sich dann von ihrem Vorhaben zurück, und das ist in Bezug auf die Entwicklung, die sein Land besonders auch gut so. heftig trifft, hat, dann wissen Sie, dass auch die Men- Zweitens kann auch die Politik dieses Treiben stop- schen in Ostdeutschland große Angst vor diesem Anbau pen, vor allem Bundeslandwirtschaftministerin Ilse haben und ihn für nicht gut halten. Aigner; das wurde hier schon angesprochen. Es liegt in (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Das ist Un- ihrer Hand, den Anbau von MON 810 in diesem Jahr zu sinn! – Ulrike Flach [FDP]: So ein Quatsch!) untersagen. Es ist kein Geheimnis, dass sich der CSU- Vorsitzende und Ministerpräsident von Bayern gestern Ansonsten würden sie diesen Minister nicht gewählt ha- für ein gentechnikfreies Bayern ausgesprochen hat. Wir ben. wollen das bundesweit. Folgen Sie also bitte Ihrem Par- teivorsitzenden! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Andere Länder haben das schon vorgemacht. Öster- der SPD) reich will den Genmais nicht. In Frankreich sagt selbst 23190 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Eva Bulling-Schröter (A) Sarkozy „Non“ zum Genmais. In Griechenland setzt Genmais nicht gut, wie eine Studie der Universität Jena (C) man lieber auf traditionelle Oliven statt auf Laborpflan- herausgefunden hat, welche aber leider nicht fortgeführt zen aus den Küchen von Monsanto. Warum also unsere worden ist – warum auch immer. Äcker mit einer Pflanze bestellen, welche von so vielen (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- abgelehnt wird? Ich kann das nicht verstehen. Das ist des NEN]: Denen fehlen die Millionen!) Volkes Wille, und wir sind vom Volk gewählt. Die meis- ten Bäuerinnen und Bauern wollen den Genmais In den USA wurde vor kurzem entdeckt, dass man auch MON 810 nicht, Umweltschützerinnen und Umwelt- die Wirkung auf Wasserlebewesen näher untersuchen schützer sowieso nicht. Als umweltpolitische Sprecherin sollte. Die Blackbox Boden ist sowieso immer noch ein meiner Fraktion frage ich mich daher: Was macht der völlig unzureichend untersuchter Lebensraum. Genmais? Wen tötet der Genmais? Wie sicher ist der (Peter Bleser [CDU/CSU]: Da sind Sie aber Genmais? nur einseitig informiert!) Der gentechnisch veränderte Mais MON 810 ist ein Wie lange kann sich Bt-Toxin hier anreichern? Solchen Dauerproduzent von Gift. Anstatt Gift gegen seinen Wi- Fragen müsste in einem sachlichen Zulassungsverfahren dersacher, einen kleinen Schmetterling namens Mais- nachgegangen werden. zünsler bzw. dessen Raupen, dann zu verwenden, wenn die Gefahr am größten ist, wird bei MON 810 schon vor- (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Die sind sorglich Gift produziert. doch alle erörtert worden bei dem Bt-Mais- Monitoring in Bayern! Das wissen wir doch (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und alles!) der FDP) – Ja, in Bayern. – Schaue ich mir allerdings die Bedin- Das ist in etwa so, als wenn ich jeden Morgen anstatt ei- gungen an, unter denen transgene Pflanzen in der EU zu- nes Kaffees erst einmal ein Antibiotikum einnähme. gelassen werden, dann bleiben für uns und die breite (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Nein!) Masse der Bevölkerung noch viele Fragen offen. Ich weiß ja nicht, ob nicht im Laufe des Tages ein hinter- Wir brauchen einen richtigen Crashtest, quasi den listiger Keim auftaucht, welcher mich gegebenenfalls Elchtest für Genpflanzen. So etwas gibt es aber nicht. krank macht. Warum? Die Freunde der Agrogentechnik in den Reihen der (Peter Bleser [CDU/CSU]: Die Elche fressen CDU und FDP werden sicherlich denken – Sie haben ja sie auf!) (B) auch schon gelacht –: Das Gift – es geht hier um ein To- Weil keine der Genpflanzen diese Tests bestehen würde. (D) xin, welches das Bodenbakterium Bacillus thuringiensis Es gäbe keine Agrogentechnik mehr, und die vielen produzieren kann – wird auch im Ökolandbau einge- schönen Milliarden der Konzerne wären in den Sand ge- setzt, kann so schlimm also gar nicht sein. – Da muss ich setzt: BASF, Monsanto und Co. müssten nach neuen Fel- aber sagen: Das ist nicht das Gleiche. Erstens spritzt der dern Ausschau halten, um die Profitmaximierung weiter Biobauer nur dann, voranzutreiben. (Johannes Röring [CDU/CSU]: Der Biobauer Die Linke sagt ganz klar: Wir wollen keine gentech- spritzt? – Peter Bleser [CDU/CSU]: Das ist nisch veränderten Pflanzen, doch verboten!) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: wenn der Schadensdruck so groß ist, dass es dringend Gut, dass wir das jetzt auch wissen!) geboten ist. Zweitens handelt es sich bei dem, was die Ökobauern spritzen, um ein Protoxin, welches erst im weder den Genmais MON 810 noch transgenes Soja aus Körper des Schädlings aktiv wird. Bei Genmais hinge- Brasilien und schon gar nicht die blaue Blume von Frau gen ist es allzeit bereit und jederzeit toxisch. Drittens Happach-Kasan, die sie letzte Woche hier zur Schau ge- wird das Bt-Toxin nach wenigen Tagen abgebaut; beim stellt hat. Genmais bleibt es aber die ganze Vegetationsperiode er- (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Das war halten. Man könnte also sagen: ein giftiger Sommer die- eine Nelke! – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: ses Jahr. Genauso ist bei Insulin diskutiert worden!) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ Liebe Kollegin, Ihnen sage ich: Diese Debatte sollte DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU) ernsthaft geführt werden. Transgene Pflanzen wie Ku- scheltiere ans Podium zu tragen, dient unserer Ansicht Als Umweltschützerin frage ich mich: Welche Aus- nach nicht der Ernsthaftigkeit. wirkung hat die ständige Präsenz eines Giftes auf die Umwelt? Wie wirkt sich das Gift auf Tiere aus, die ei- Wir stimmen dem Antrag der Grünen uneinge- gentlich gar nicht bekämpft werden sollen? Man be- schränkt zu. Ich nenne für die Bevölkerung einmal die zeichnet diese Kollateralschäden als Nicht-Zielorganis- Mehrheitsverhältnisse in diesem Hause: Die SPD und die men. Das Bundesamt für Naturschutz hat dazu schon CSU haben sich wiederholt dazu positioniert. Damit sind einige Publikationen herausgegeben. Diverse Schmetter- theoretisch 222 SPD-Abgeordnete, 53 Linke, 51 Grüne linge müssen die Flügel strecken, wenn in der Nähe und 46 CSU-Abgeordnete für ein sofortiges Anbauver- Genmais steht. Auch den Honigbienen bekommt der bot von MON 810. Das sind 372 Abgeordnete bzw. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23191

Eva Bulling-Schröter (A) 61 Prozent. Das wäre die Mehrheit, die aber leider nicht und qualitativ hochwertige Lebensmittel für ihn und (C) zum Tragen kommt. Ich finde das schade. Es wäre auch seine Kinder zur Verfügung gestellt werden. Wir müssen möglich, dass Sie einen eigenen Antrag einbringen. Wer- die Ängste und Sorgen der Menschen ernst nehmen, und den Sie klüger! Das wäre ein wichtiger Schritt für die wir müssen ausschließen, dass durch Gentechnik Schä- gentechnikfreie Landwirtschaft und Imkerei. den für Mensch und Umwelt entstehen können. Ich habe Ihnen genau zugehört: Wenn jetzt schon Wir haben aber auch Verantwortung gegenüber mög- Herr Honecker und Herr Gorbatschow im Zusammen- lichen Anwendern. Die Koalition hat ein modernes Gen- hang mit der Grünen Gentechnik bemüht werden, dann technikgesetz verabschiedet. sind wir weit gekommen. Noch eine Bemerkung zum Schluss: Bei der bayeri- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: schen Studie wurde nur zu 41 Prozent GVO-Futter ver- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der wendet und nicht zu 100 Prozent. Mehr verträgt eine Kollegin Höfken? Kuh nicht. (Lachen bei der CDU/CSU – Peter Bleser Johannes Röring (CDU/CSU): [CDU/CSU]: Mehr verträgt eine Kuh nicht? Ja, bitte. Was haben Sie für eine Ahnung! Das ist ja abenteuerlich! – Wolfgang Zöller [CDU/ Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): CSU]: Was für eine Sachkenntnis! Sie hat auch nur so viel getrunken, bis es ihr zum Hals Ich muss sagen, diese Debatte ist zum Teil schwer zu stand!) ertragen. (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das stimmt!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. Ich frage mich, was die Kollegen links von mir eigent- lich antreibt, um so sektenhaft zu formulieren. Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Was ich Sie fragen möchte, da Sie von Verantwortung Mehr verträgt eine Kuh nicht! Haben Sie das gehört? reden: Halten Sie es ernsthaft für verantwortungsvoll, in geschlossenen Systemen gentechnisch zu produzieren, (Beifall bei der LINKEN) ohne dass es eine entsprechende Gesetzesgrundlage gibt? Wollen Sie tatsächlich sagen, dass all unsere Ge- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: setze für die Produktion in geschlossenen Systemen un- (B) Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege sinnig seien? War es nicht verantwortungsvoll, dass der (D) Johannes Röring das Wort. damalige Umweltminister Fischer gefordert hat, dass es (Beifall bei der CDU/CSU) erst Gesetze geben muss, nach denen das abläuft, bevor man mit der Produktion beginnt? Ist es Ihre Auffassung, dass man sich von diesem Teil der Gentechnikgesetze Johannes Röring (CDU/CSU): schleunigst verabschiedet, und nennen Sie dies Verant- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die wortung? Frage, ob, in welcher Form und unter welchen Rahmen- bedingungen wir in Deutschland die Grüne Gentechnik nutzen wollen, muss stets vor folgendem Hintergrund Johannes Röring (CDU/CSU): diskutiert werden: Verantwortung. Diese Verantwortung, Liebe Kollegin Höfken, die Realität hat uns da sehr Frau Künast und Frau Bulling-Schröter, nehmen Sie schnell eingeholt. Die Dinge sind produziert worden, – das habe ich gespürt – nicht wahr. und wir haben klare Gesetze in Deutschland. Wir müs- sen ganz einfach feststellen, dass Sie damals diese Angst (Beifall bei der CDU/CSU – Ulrich Kelber in unverantwortlicher Weise geschürt haben, sodass wir [SPD]: Das ist immer ein guter Einstieg in die diese Technik in Deutschland trotz unserer Topwissen- Rede!) schaftler und unserer Topgrundlagenforschung nicht zur Aus der Industrie und der Medizin ist Gentechnik trotz Anwendung bringen konnten; das haben andere ge- ähnlicher Debatten in der Vergangenheit heute nicht macht. Das ist Ihr Beitrag zur Verantwortung. mehr wegzudenken. Ich erinnere nur daran – das wurde (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – vorhin angesprochen –, dass ein hessischer Umweltmi- Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nister namens Fischer unter anderem die Produktion von NEN]: Das war keine Antwort!) gentechnisch verändertem Insulin jahrelang verhindert hat, obwohl das für die Menschen wichtig war. Jetzt ma- Ich fahre fort. Wir brauchen Rechtssicherheit für die chen das eben andere, und wir kaufen es aus dem Aus- Anwender, die diese Technologie nach den gesetzlichen land. Vorgaben anwenden dürfen. Verantwortung haben wir auch in besonderem Maße gegenüber der Forschung, da- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So ist es!) mit sie ohne ideologische Scheuklappen – dies hat übri- Wir reden aktuell über Grüne Gentechnik. Hier haben gens Ihr Fraktionsvorsitzender gestern beim Verband der wir zuallererst Verantwortung gegenüber dem Verbrau- Chemischen Industrie deutlich gesagt – an die wissen- cher. Es muss garantiert werden, dass sichere, gesunde schaftlichen Fragen herangeht. 23192 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Johannes Röring (A) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das war auch stoffe erzeugen wollen, muss die Anbauintensität noch (C) bei der chemischen Industrie!) weiter erhöht werden. All dies negieren Sie. Wir müssen die Risiken aufmerksam analysieren; Es ist unabdingbar, die Leistungsfähigkeit der Pflan- denn wir tragen auch Verantwortung für die Bevölke- zen zu erhöhen. Es gibt viele Ansätze. Die weltweite rung weltweit. Hier können wir mit unserem Stand der Verbreitung von MON 810 erstreckt sich auf fast Wissenschaft dazu beitragen, Lösungen zu erarbeiten, 30 Millionen Hektar Anbaufläche. Im Übrigen gab es die vielen Menschen in der Welt zugutekommen. An die- keine Schadensmeldung, obwohl dieser Mais seit weit ser Stelle lobe ich besonders die Anstrengungen des über zehn Jahren angebaut wird. Die Forderung, den An- Bundeslandwirtschaftsministeriums und des Bundesfor- bau jetzt zu stoppen, kann ich nicht verstehen. schungsministeriums, die in den nächsten fünf Jahren Ich bin darüber erschrocken, wie Sie, Frau Künast, Projekte in der Bioenergie-, Agrar- und Ernährungsfor- über meine Kollegen in der Welt gesprochen haben, die schung an Hochschulen und außeruniversitären For- Sie für zu dumm halten, mit modernen Techniken umzu- schungseinrichtungen in Zusammenarbeit mit Partnern gehen. in der Wirtschaft mit bis zu 200 Millionen Euro unter- stützen. Dabei wird die Grüne Gentechnik eine große (Beifall bei der CDU/CSU) Rolle spielen. Ich habe Landwirte in aller Welt kennengelernt, die im (Peter Bleser [CDU/CSU]: Sehr gut!) Sinne der Landwirtschaft nachhaltig über Generationen produzieren und die sehr wohl verantwortungsvoll mit Wir haben auch Verantwortung dafür, die Bandbreite moderner Technik umgehen können. Über das Märchen der Chancen der Gentechnik weiter zu erforschen. Es von der Abhängigkeit von Kleinbauern von dieser mo- gibt vielversprechende Erfolge. Indien ist bereits ange- dernen Technologie kann ich nur lachen. Wir haben die sprochen worden. Das Märchen von den Landwirten, die Freiheit, auch andere Pflanzen anzubauen. sich umbringen, weil sie in den Klauen der Gentechnik- (Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Das, was Sie industrie sind, muss endlich ausgeräumt werden. sagen, ist fast zynisch, wenn man die Realität (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sieht! – Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE NEN]: Das ist aber kein Märchen!) GRÜNEN]: Aber nicht mit Gentechnik! Da ist die Freiheit zu Ende!) Wir haben im letzten Herbst mit Bauern aus Indien ge- sprochen, die genau das Gegenteil gesagt haben. Diese – Meine lieben Damen und Herren, ich merke, dass Sie Bauern, unter ihnen auch Kleinbauern, äußerten, die Lö- alle Experten sind. Vertrauen Sie einmal einem Land- wirt, der jedes Jahr Pflanzen anbaut! (B) sung über die Bt-Baumwolle, bei der der Wurzelbohrer (D) auf bezahlbare Weise bekämpft wird – im Übrigen nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nur mit der Sorte einer Firma; es gibt mittlerweile zehn bis 20 Sorten und Konstrukte mit starkem Wettbewerb –, Wir bauen diese Maispflanzen an; das sind Hybridpflan- führe dazu, dass die Suizidrate, die erschreckend hoch zen, die man nicht nachbauen kann. Ich fühle mich in war, endlich wieder zurückgehe. Es ist genau das Gegen- keiner Weise abhängig, solange es genug Konkurrenz teil gewesen, und Sie behaupten immer noch das Glei- gibt. Mit Ihrer ablehnenden Haltung fördern Sie die Mo- che. nopolisierung; im Moment dominiert in diesem Bereich eine Firma. Wir müssen für wesentlich mehr Wettbe- (Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast werb sorgen. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt überhaupt nicht! – Ulrich Kelber [SPD]: Das (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ist so was von falsch!) der FDP) Wir dürfen uns den Chancen der Gentechnik nicht – Herr Kelber, ich habe es authentisch geschildert, wie verschließen; denn nur verantwortungsvolle, nachhaltige es Kollegen aus Indien berichtet haben. Was sie mir ge- und zielgerichtete Politik und nicht einseitige Ideologie schildert haben, war sehr glaubhaft. darf hier unser Maßstab sein. Ich muss sagen, dass ich (Ulrich Kelber [SPD]: Ich war vor Ort!) bei Ihrem Antrag nichts von Verantwortung spüre. Ich lehne ihn daher ab. Gentechnik kann also nicht nur Fluch, sondern auch Segen sein. Wir haben auch Verantwortung für eine sich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schnell verändernde Welt, für Menschen, die nicht wie neten der FDP) wir hier in Deutschland und Europa im Überfluss leben und täglich genügend Nahrung haben. Daher werden wir Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: genau beobachten müssen, ob die Gentechnik auch hier Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Kelber für die Lösungen bieten kann. SPD-Fraktion. Ich betone immer wieder – ich habe dies an dieser (Beifall bei der SPD) Stelle schon des Öfteren gemacht –, dass wir mit der Tat- sache umzugehen haben, dass sich weltweit die Acker- Ulrich Kelber (SPD): fläche pro Erdbewohner halbieren wird. Frau Künast, Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und wenn Sie dann auch noch Bioenergie und andere Roh- Herren! Bei dem Thema Grüne Gentechnik ist zumin- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23193

Ulrich Kelber (A) dest ein bisschen Leben in der Debatte. In der Tat sind verschiedene Pflanzen mit deutlich unterschiedlichen (C) aber einige Redebeiträge und auch die Reihenfolge der Standortbedingungen und deutlich unterschiedlichen Rednerinnen und Redner ziemlich vorhersehbar. Anbauvoraussetzungen sind und auch deutlich unter- schiedliche Kenntnisse für deren Anbau vonnöten sind. Ich möchte auf zwei Bereiche eingehen. Frau Kolle- Ich glaube, auch da sind wir einer Meinung. gin Happach-Kasan, FDP, und Kollege Röring, CDU, haben die Situation in Indien angesprochen. Ich glaube, Ich habe die IFPRI-Studie angesprochen; sie ist im es bringt den Menschen, die uns zuhören oder diese De- Oktober veröffentlicht worden. Das Institut hat seinen batte nachlesen – es wird ja alles protokolliert –, nicht Sitz in Washington. Professor von Braun ist Leiter dieses viel, nachzuprüfen, wann wer mit wem auf wessen Ein- Institutes. Er dürfte Ihnen bekannt sein, weil er schon in ladung und wo vor Ort in Indien war. Ich bin nicht ganz Bonn gearbeitet hat, und er ist mir bekannt, weil er zuvor so häufig unterwegs, wie man meiner Webseite entneh- in Kiel gearbeitet hat. men kann; aber auch ich kann eine Indienreise nachwei- sen. (Zuruf des Abg. [SPD]) Als Informatiker habe ich eines gelernt, nämlich Aus- – Herr Kollege Herzog, ich komme selbstverständlich zu sagenlogik. Wenn die Erfahrungen mit Baumwolle in In- meiner Frage. Da brauchen Sie gar keine Sorgen zu ha- dien so hervorragend waren, warum hat sich die indische ben. – Die Ergebnisse dieser Studie machen deutlich, Regierung dann entschieden, beim nächsten Produkt, dass der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln durch den nämlich bei Soja, auf Gentechnikfreiheit im gesamten Anbau von Bt-Baumwolle gemindert werden konnte. Land per Gesetz zu bestehen? Das ist die erste Nach- Dies ist zumindest aus umweltpolitischer Sicht eine frage. sinnvolle Entwicklung. Zweite Nachfrage: Wenn das Produkt so überlegen ist Jetzt will ich auf das Thema Baumwolle zurückkom- und die Bauern die Mehrkosten – es war oft Verschul- men. dung, die zu den Suiziden geführt hat – durch den Erlös locker ausgleichen, warum muss die anbietende Firma (Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Sie machen es Monsanto dann jeden Konkurrenten, jeden Saatzuchtbe- ja richtig spannend! Mittlerweile bin ich auf trieb, der herkömmliche Baumwolle vor Ort anbietet, Ihre Frage wirklich gespannt!) hektisch aufkaufen und dessen Produkte vom Markt neh- men, damit die Bauern in der Region keine Alternative Haben Sie diese Studie eigentlich genau gelesen? Haben mehr haben? auch Sie zur Kenntnis genommen, dass Baumwolle die Pflanze ist, für die in Indien die höchsten Pflanzen- (B) (Peter Bleser [CDU/CSU]: Das ist doch schutzmittelaufwendungen getätigt werden, und sind (D) Quatsch! Das sind doch Märchen!) auch Sie zu dem Schluss gekommen, dass die Entschei- dung der indischen Regierung, weiterhin in Bt-Baum- Das wäre doch nicht notwendig, wenn es so wäre, wie wolle zu investieren, insofern durchaus sinnvoll sein Sie es beschrieben haben. könnte? Frau Happach-Kasan, diejenigen, mit denen Sie gere- det haben und von denen Sie erzählen, sind in der Regel Das hat man in Indien getan. Es gibt zwei Konstrukte, Menschen, die mit dem Einsatz von Grüner Gentechnik die von Monsanto stammen: ein Konstrukt, das in Indien ihr Geld verdienen. Da gilt in der Tat das gute alte Zitat entwickelt worden ist, und ein Konstrukt, das in China von Guido Westerwelle: Wenn man einen Teich trocken- entwickelt worden ist. Das heißt, es entsteht immer mehr legen will, darf man nicht die Frösche fragen. Vielfalt; dieses Thema hat Herr Kollege Röring angesprochen. Vor diesem Hintergrund bin ich der Auffassung, dass die Frage, wie man mit gv-Soja um- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: geht, nichts mit den Erfahrungen, die man in Indien mit Herr Kollege Kelber, gestatten Sie eine Zwischen- Bt-Baumwolle gemacht hat und die insgesamt gesehen frage der Kollegin Happach-Kasan? gut sind, zu tun hat. Würden Sie diese Einschätzung tei- len? Ulrich Kelber (SPD): Selbstverständlich. Ulrich Kelber (SPD): Frau Happach-Kasan, meine wunderschöne Heimat- Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): stadt Bonn hat 320 000 Einwohner. Die Zahl der Men- Kollege Kelber, ich freue mich, dass Sie anerkennen, schen, die dort jemals gewesen ist, geht wahrscheinlich dass die Debatte etwas lebhafter und deshalb auch ein in die Millionen. Auf Ihre Frage, ob ich Herrn Professor bisschen spannend ist. Ich freue mich auch, dass Sie von Braun persönlich kenne, muss ich Ihnen sagen: Ich ebenfalls in Indien waren, weil die Eindrücke, die man kenne nicht alle Menschen, die schon einmal in Bonn dort gewinnt, für eine solche Debatte prägend sind. Ich waren, persönlich. gehe einmal davon aus, dass wir da durchaus überein- stimmen. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Professor Ich könnte mir auch vorstellen, dass wir in der Bewer- von Braun ist aber jemand, den man durchaus tung übereinstimmen, dass Baumwolle und Soja zwei kennen könnte!) 23194 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Ulrich Kelber (A) Ich bemühe mich zwar, möglichst viele Hausbesuche ten. Ich habe beobachtet, dass ihm sämtliche anwesen- (C) und Aktivitäten vor Ort durchzuführen; aber das habe den Abgeordneten der CSU frenetisch Beifall geklatscht ich noch nicht ganz geschafft. haben. (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Schade!) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Genau! Gut, dass wir das Protokoll ha- Ich kenne diese Studie nicht. ben!) (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Auch das Es ist wichtig, zwischen den Pressemitteilungen von ist schade!) Herrn Söder, Herrn Seehofer und neuerdings teilweise Ich lasse sie mir aber gerne zuschicken und lese sie. Sie auch Frau Aigner und dem Verhalten der CSU-Abgeord- wissen so gut wie ich, dass es Hunderte von Studien gibt. neten im Deutschen Bundestag zu unterscheiden. Wahrscheinlich könnte ich Ihnen sofort locker zehn bis zwanzig Studien nennen oder von den Mitarbeitern mei- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem nes Büros heraussuchen lassen, die Sie nicht gelesen ha- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ben. Das ist aber nicht das spannende Spiel. Das ist das Problem, das ich bei Verhandlungen mit un- Beim Thema Soja sagen Sie, gentechnisch veränder- serem Koalitionspartner hinter verschlossenen Türen im- tes Soja sei so überlegen, dass man es anbauen muss. mer wieder habe. Wenn ich daraufhin sage, dass sich die indische Regie- Ich habe mich über die Studie aus Bayern und über rung aufgrund der Erfahrungen mit gentechnisch verän- ihr Ergebnis gefreut. Ich gehöre übrigens zu den Men- derter Baumwolle dazu veranlasst sah, die angeblichen schen, die sich relativ sicher sind, dass sie, wenn sie ihr Vorteile des nächsten Produkts nicht zu nutzen, Leben lang Bt-Mais essen würden, vermutlich nicht da- (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Das ist ran erkranken würden. Ihre Folgerung! Das stimmt aber nicht!) (Beifall der Abg. Dr. Christel Happach-Kasan sondern darauf zu verzichten, dann handelt es sich, was [FDP]) die Aussagenlogik angeht, um den Schluss, dass es im Ich finde es gut, dass sich die SPD-Fraktion damals da- Hinblick auf die Baumwolle Gründe für diese Entschei- für eingesetzt hat, diese Langzeitfütterungsstudie in Auf- dung gegeben haben muss. trag zu geben. (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Ja!) (Peter Bleser [CDU/CSU]: Ja! Sehr gut sogar!) Einen Grund haben Sie übrigens genannt. In der Tat (B) In diesem Zusammenhang habe ich mich an die An- (D) ist Baumwolle eine Pflanze, deren Anbau in der Regel zeige erinnert, die Peter Ramsauer – er ist übrigens der einen sehr hohen Pestizideinsatz zur Folge hat. Interes- Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bun- santerweise hat sich der Pestizideinsatz in den Regionen, destag – im Landtagswahlkampf geschaltet hat. in denen Bt-Baumwolle angebaut wird, keineswegs Richtung null bewegt. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Oh ja!) (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Er wurde aber gemindert!) In dieser Anzeige hieß es sinngemäß, die CSU sei immer gegen diese Langzeitfütterungsstudie gewesen, und die Vielmehr berichten die Bauern, übrigens auch Bauern SPD habe mit ihrem Verhalten gezeigt, dass sie in Wirk- aus anderen Weltregionen wie Südafrika, dass der Um- lichkeit für Gentechnik sei. Diese Anzeige ist vier Tage fang des Pestizideinsatzes innerhalb kürzester Zeit wie- vor der Landtagswahl in der Heimatzeitung von Herrn der den alten Stand erreicht hat. Ramsauer erschienen. So viel zum Thema „Ehrlichkeit (Peter Bleser [CDU/CSU]: Das ist doch kein in der Argumentation“. Wunder! Das ist bei allen Pflanzen so! Eine (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ganz normale Entwicklung!) DIE GRÜNEN) Das Saatgut, das zum Einsatz kommt, ist also teurer, und Fragen der Gefährdung der Gesundheit durch gen- die Kosten für den Pestizideinsatz sind gleich hoch. Das technisch veränderten Mais sind in diesem Zusammen- war auch der Grund für die Verschuldung der Bauern. hang gar nicht entscheidend. Wenn Sie die Position der Sie mussten die Kosten für beides tragen, ohne bessere SPD nachlesen, stellen Sie fest, dass dieses Thema über- Ernten zu haben. haupt nicht angesprochen ist. Vielmehr geht es um Fra- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem gen der Artenvielfalt, der Abhängigkeit und der Wahl- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) freiheit der Verbraucherinnen und Verbraucher. Das sind die entscheidenden Fragen. Das ist der entscheidende Punkt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wie immer hat mir auch heute die Rede meines wer- DIE GRÜNEN) ten Koalitionskollegen Peter Bleser gefallen. Zur Erin- nerung: Peter Bleser ist der agrarpolitische Sprecher der Wir wissen, dass die Konzentration auf wenige Sorten CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Er hat, wie man nachle- einerseits die Art und Weise, wie wir Landwirtschaft be- sen kann, eine fulminante Pro-Gentechnik-Rede gehal- treiben, gefährdet und die Vielfalt des Angebots an Le- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23195

Ulrich Kelber (A) bensmitteln reduziert und andererseits für die Ernährung Gesellschaft: null. Ergo: Es muss ein Verbot des Anbaus (C) gefährlich ist. dieser Pflanzen geben. Ein gutes Beispiel dafür ist Reis. Ich gehe bewusst auf (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mehrere Sorten ein. Es gibt auf der Welt über 60 000 na- DIE GRÜNEN) türliche und auf Grundlage der Kulturvielfalt von Land- Deshalb erwarte ich von Bundeslandwirtschafts- wirten herangezogene Reissorten. Würden wir auf gen- ministerin – selbstverständlich hat sie heute technisch veränderte Reissorten umsteigen, gäbe es am beim EU-Agrarrat zu sein; sie ist hier durch einen Staats- Ende drei, vier oder fünf Sorten. sekretär vertreten –, dass sie wie angekündigt eine Prü- In den 70er-Jahren gab es einen starken Pilzeinfall in fung vornimmt – rechtzeitig, bevor die Landwirte dieses alle Reissorten dieser Welt, teilweise mit bis zu 90 Prozent Saatgut kaufen – und die Aussaat in Deutschland unter- Ernteausfall. Eine Resistenz gegen Pilze ist eine Multi- sagt. Das ist ihre Aufgabe; daran wird man ihre Aussa- geneigenschaft, die man mit Gentechnik auch in den gen der letzten Wochen und Monate messen können. nächsten 30 Jahren vermutlich nicht erreichen wird, son- Frau Aigner wird im Agrarrat auch darüber abstim- dern nur durch Züchtung. Es hat sich unter 60 000 unter- men müssen, ob die Europäische Kommission, die sich suchten Reissorten eine einzige als resistent erwiesen. gerade eine blutige Nase geholt hat, Griechenland und Was wäre passiert, wenn diese eine Sorte entweder ver- Frankreich zwingen kann, ihre Anbauverbote aufzuge- drängt oder vorher vernichtet worden wäre? Übrigens, ben. Ich bin Bundesumweltminister das Tal, in dem diese Reissorte damals entdeckt wurde, dankbar, dass er klare Kante gezeigt hat: Es waren ist heute eine Talsperre; diese Reissorte ist nicht mehr Deutschlands Stimmen, die geholfen haben, dass Öster- existent. reich und Ungarn in ihren Ländern gentechnisch verän- (Dr. Peter Jahr [CDU/CSU]: Das hat mit Gen- derte Pflanzen anbauen dürfen, dass die Europäische technik nichts zu tun!) Kommission unsere Nachbarn nicht zwingen durfte, et- was gegen ihren Willen zu tun. Das ist die Frage der Artenvielfalt. Sie wissen, wie stark der Widerstand der Landwirte gegen die grüne (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Gentechnik ist. Frau Happach-Kasan, ich bin nicht be- Ich hoffe, Frau Aigner hat denselben und stimmt im reit, gegen ihren erklärten Willen die Bevölkerung zu Agrarrat genauso ab. zwingen, diese Produkte direkt oder indirekt zu kaufen, oder die Landwirte zu zwingen, diese Sorten anzubauen. Heute liegt uns ein Antrag vor, den die SPD in allen Punkten unterstützen kann. Das verwundert nicht: Er (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das stimmt! – (B) enthält nur Punkte aus dem Antrag, den wir unserem (D) Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Dazu bin Koalitionspartner in den Jahren 2006, 2008 und – vor ich auch nicht bereit!) wenigen Tagen – 2009 vorgelegt haben. – Sie wehren sich aber gegen eine klare Kennzeichnung. (Peter Bleser [CDU/CSU]: Wir haben ihn (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Nein!) jedes Mal abgelehnt!) Frau Präsidentin, da ich das letzte Mal für meine Wort- Sie wehren sich gegen eine klar nachvollziehbare wahl gerügt wurde, weise ich darauf hin, dass ich jetzt Koexistenz. Somit wollen Sie die Leute zwingen, diese nur meinen Koalitionspartner zitiere; er sagte, das sei Produkte zu sich zu nehmen. ihm scheißegal. Das ist die Wortwahl an dieser Stelle. (Beifall bei der SPD) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wie bitte?) Jede Generation wird für sich neu entscheiden müs- Wir, die SPD-Fraktion, dürfen diesen Antrag nicht sen, ob sie technologische Möglichkeiten, die die Grüne einbringen. Wir dürfen laut Koalitionsvertrag – das ist Gentechnik ihnen bietet, akzeptieren will oder nicht, ob typisch für einen Koalitionsvertrag; Frau Höfken, Frau diese Möglichkeiten Vorteile bringen oder aber gesell- Höhn und Frau Künast wissen, was Koalitionsverträge schaftliche Nachteile überwiegen. sind – einem Antrag der Opposition nicht zustimmen. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Was ist das Deswegen werden wir das heute nicht tun. Wir werden denn für eine Aussage?) weiter für den gleichen Inhalt kämpfen. Wir werden da- rauf drängen, dass wenigstens einer der Abgeordneten Wenn ich heute für meine Generation entscheide, wäge von der CSU, die in jeder Pressemitteilung sagt, sie teile ich die Nachteile und Vorteile für die Gesellschaft ab. diese Position der SPD, zu dieser Meinung steht und sie hier vorträgt. Die CSU sollte nicht versuchen, über die (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Was ist denn Zeitungen der Bevölkerung ein Bild zu vermitteln, das Ihre Generation?) von der Meinung, die sie in Wirklichkeit vertritt, ab- Nachteile: Die Artenvielfalt wird reduziert, die Abhän- weicht. gigkeit gesteigert, die Koexistenz erschwert; die Kosten Was gibt es jetzt zu tun? für gentechnikfreie Landwirtschaft steigen wegen der Vielzahl der Sicherheitsmaßnahmen und der Überprü- Erstens. Wir müssen für verbindlich gentechnikfreie fungen. Nutzen dagegen: keiner. Bestimmte Sorten sind Regionen in Europa sorgen. Die Menschen sollen ent- resistent gegen ein bestimmtes Pestizid, Nutzen für die scheiden können, was passiert, um auch die Kosten der 23196 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Ulrich Kelber (A) gentechnikfreien Landwirtschaft niedrig zu halten. Es Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU): (C) kann nicht sein, dass derjenige, der gentechnikfrei an- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und bauen will, Mehrkosten hat, weil ein anderer eine gen- Herren! Zunächst einmal können Sie davon ausgehen, technisch veränderte Pflanze anbaut, die keinen gesell- dass es Einigkeit unter den CDU/CSU-Agrariern gibt. schaftlichen Nutzen bringt. (Lachen der Abg. Ulrike Höfken [BÜND- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ NIS 90/DIE GRÜNEN] – Ulrich Kelber DIE GRÜNEN) [SPD]: Wo?) Herr Kelber, Sie haben gerade die Kennzeichnung an- Deswegen muss es verbindlich gentechnikfrei sein. Das gesprochen. Sie wissen, dass wir, die Union, beim Gen- kann zum Beispiel durch eine Änderung des europäi- technikgesetz weitergehen wollten, als Sie gegangen schen Rechts geschehen. Dann erwarte ich aber, dass wir sind. Das ist Wahrheit und Klarheit. das mit den Stimmen der CSU-Bundestagsabgeordneten im Bundestag beschließen oder dass die bayerische Lan- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – desregierung irgendwann einmal eine Bundesratsinitia- Ulrich Kelber [SPD]: Das ist Wahn zum Qua- tive einbringt. Das wäre vielleicht wichtiger, als eine drat!) Pressenotiz nach der anderen zu schreiben, in der steht, Auch wenn wir uns jetzt etwa zum vierzigsten Mal was man angeblich vorhat. Tun Sie das doch einfach ein- mit diesem Thema befassen, nenne ich Ihnen zu Beginn mal, anstatt nur davon zu reden. einige Schlagzeilen: „Wir sollen uns nicht in die Natur einmischen“, „Dieser Prozess verändert die Eigenschaf- Zweitens. Wir brauchen gentechnikfreies Saatgut. ten des Lebensmittels“, „Gefährliche und unbekannte Wir müssen sicherstellen, dass diejenigen, die gentech- Substanzen können gebildet werden“, nikfrei anbauen können, auch gentechnikfreies Saatgut bekommen, was nicht schon verunreinigt ist. (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das stimmt ja auch!) (Peter Bleser [CDU/CSU]: Das haben wir doch im Gesetz gemeinsam geregelt!) „Dieser Prozess kann nicht sachgerecht durchgeführt werden, und unvorhergesehene Vorfälle können passie- Wir brauchen eine Demokratisierung der Zulassung, ren“, weil es neben der reinen Überprüfung, ob eine unmittel- (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bare Gefährdung für bestimmte Tierarten oder andere NEN]: Ja!) Pflanzenarten vorliegt, eben auch die Überprüfung der Langzeitfolgen für den Boden, wie Frau Kollegin „Es besteht keinerlei Bedarf dafür“. (B) (D) Künast gesagt hat, und auch der ökonomischen, sozialen (Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und kulturellen Zusammenhänge eines Landes – Stich- NEN]: Richtig!) worte: Verdrängungswettbewerb und Monopolisierung – gibt. Kennen Sie diese Aussagen? Kommen sie Ihnen bekannt vor? Drittens und letztens brauchen wir eine technologie- (Peter Bleser [CDU/CSU]: Alle von den offene Forschung. Das sage ich in Richtung des For- Grünen!) schungsministeriums, das hier zumindest lange Zeit ver- treten war. Technologieoffene Forschung kann nicht Hat das vielleicht mit der Atomenergie oder anderen ak- heißen, dass im Haushalt von Frau Schavan 90 Prozent tuellen Dingen zu tun? Nein, dies waren vor etwa der Mittel für die Lösung bestimmter Probleme in der hundert Jahren die Argumente gegen die Milchpasteuri- Züchtung in die Grüne Gentechnik und keine 10 Prozent sierung. in alternative Technologien gehen. Probleme identifizie- (Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast ren und allen Technologien zur Lösung des Problems [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie gleiche Chancen einräumen, dann könnten wir über ei- weiter! Die Rede kommt gut in Bayern!) nen fairen Umgang mit Grüner Gentechnik reden. Um nicht falsch verstanden zu werden: Wir alle ken- Das ist die eigentliche Politik, die jetzt gemacht wer- nen die Befürchtungen und Ängste hinsichtlich der Gen- den sollte. In dieser Koalition ist sie nicht möglich. Ich technik. Unsere Fraktion nimmt sie sehr ernst. Es macht hoffe auf eine andere Option für eine Mehrheit, um eine aber schon nachdenklich, dass bei den Befragungen vernünftige Gentechnikpolitik machen zu können. ebenfalls herauskommt, dass die Verbraucher zu einem sehr großen Teil der Meinung sind, dass in Lebensmit- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten teln, zum Beispiel in Tomaten, keine Gene enthalten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf sind. Ich will damit sagen – hierin sind wir alle, so von der CDU/CSU: Wir auch!) glaube ich, einer Meinung –: (Ulrich Kelber [SPD]: Jetzt aber vorsichtig, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: was Sie sagen!) Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege Es besteht ein erheblicher Aufklärungsbedarf. Franz-Josef Holzenkamp für die CDU/CSU-Fraktion. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der CDU/CSU) Fangen Sie einmal bei der CSU an!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23197

Franz-Josef Holzenkamp (A) Ich finde, Aufgabe der Politik muss es sein, Unterstüt- nik äußern, von Teilen der Politik in ihrer wissenschaftli- (C) zung und Informationen zu bieten, um diese Wissenslü- chen Integrität diffamiert werden. cke zu schließen, und zwar wissenschaftsbasiert und nicht durch eine reine Emotionalisierung dieser Themen (Beifall bei Abgeordneten der FDP) bzw. durch eine reine Symboldebatte. Wo bleiben Ihre Offenheit und Ihre viel gepriesene Tole- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ranz? Oberstes Gebot bei der Grünen Gentechnik ist für uns (Beifall bei der CDU/CSU) die Sicherheit für Mensch, Tier und Umwelt. Wenn Teile der Politik wissenschaftliche Erkenntnisse als Humbug abtun und die Grüne Gentechnik pauschal Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: und kompromisslos verteufeln, wie soll dann eine trans- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des parente, wissenschaftsbasierte Verbraucheraufklärung Kollegen Kelber? funktionieren? Wir alle wissen, dass sie so nicht funktio- nieren kann, und Sie, meine Damen und Herren insbe- sondere von den Grünen, verhindern es. Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU): Ja, selbstverständlich. Sie schreiben in Ihrem Antrag, die sogenannten Bt- Pflanzen seien „besonders bedenklich hinsichtlich ihrer (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Er hatte schädlichen Wirkungen für Insekten und andere Orga- doch gerade das Wort!) nismen“. Wenn sie so gefährlich sind, wie Sie meinen, dann wundert es mich, warum der Einsatz von Bt-Bakte- Ulrich Kelber (SPD): rien als Spritzmittel im ökologischen Landbau nicht in- Sie ist vergleichsweise kurz. frage gestellt oder debattiert wird. Auch darauf ist schon hingewiesen worden. Sie haben ja gerade indirekt deutlich gemacht, dass Menschen Angst vor gentechnisch veränderten Produk- (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ten haben, weil sie glauben, dass nur in diesen Gene vor- NEN]: Weil das etwas ganz anderes ist!) handen sind. Darf ich im Umkehrschluss davon ausge- Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich will das hen, dass Sie als CDU-Abgeordneter deswegen für die nicht bewerten, sondern nur feststellen – das gilt gene- Atomtechnologie sind, weil Sie die Funktionsweise ei- rell –, dass pflanzeneigene Resistenzen, das heißt eigene nes Nuklearreaktors vollständig verstanden haben? Abwehrkräfte, die höchste Form der Ökologie sind. (B) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (D) Er soll auch erklären, wie es geht!) Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- – Erklären Sie es einfach einmal kurz. NEN]: Das sind aber nicht ihre eigenen Ab- wehrkräfte!) Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU): Fakt ist doch, dass die Pflanzenzüchtung seit Jahrtau- Das ist wieder eine Scheinfrage. Ich habe es nicht an- senden nichts anderes tut, als die Eigenschaften von ders erwartet. Sie hat mit dem Thema der heutigen De- Pflanzen und Tieren zu verändern, und zwar zugunsten batte nichts zu tun. der Menschen, und dabei Gene neu zu mischen. Das ma- chen wir seit etwa 10 000 Jahren. Insofern ist eine diffe- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ulrich renzierte Betrachtung notwendig. Kelber [SPD]: Technikverständnis!) Ich weiß aber auch, dass die Grüne Gentechnik selbst- Ich habe nur deutlich gemacht – das unterstreiche ich verständlich kein Allheilmittel ist. Wir müssen sehr für meine Fraktion ausdrücklich –, dass wir mit den sorgsam mit diesen Themen umgehen. Aber die Grüne Ängsten der Menschen sehr gewissenhaft umgehen. Wir Gentechnik kann helfen, vielen Herausforderungen – sie polemisieren aber nicht, sondern wir informieren, und sind schon benannt worden – gerecht zu werden. Ich zwar einzig und allein auf sachlicher Basis. Das ist der möchte dazu die Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein- Unterschied zwischen uns und Ihnen. Volhard zitieren, die sicherlich nicht in Verdacht gerät, von irgendeiner Seite beeinflusst zu sein: (Beifall bei der CDU/CSU) Es gibt Aufklärungsbedarf, dem wir nachkommen In Deutschland ist noch nicht hinreichend akzep- tiert, dass die Anwendung der Gentechnik in der wollen und müssen, statt die Dinge einfach pauschal zu Pflanzenzüchtung ein noch unausgeschöpftes Po- verteufeln. Wir wissen – das ist schon angeklungen –, tenzial für den ökologischen Landbau, für verbes- dass die Grüne Gentechnik breit genutzt wird. Sie wird serten Umweltschutz, die Erhaltung der Artenviel- weltweit auf über 120 Millionen Hektar eingesetzt. Trotz falt und für die Gesundheit bietet. zahlloser wissenschaftlicher Studien – auch das will ich noch einmal unterstreichen – konnte keinerlei Schädi- Das sagen Externe. Damit sollten wir uns sachlich aus- gung für Mensch, Tier und Natur festgestellt werden. einandersetzen. Ich finde es bedauerlich, dass die Wissenschaftler, die Wir müssen uns entscheiden, ob wir diesen Weg in sich teilweise positiv zum Nutzen der Grünen Gentech- unserem Land mitgehen und mit davon profitieren wol- 23198 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Franz-Josef Holzenkamp (A) len oder ob wir andere über uns hinweg entscheiden las- für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (C) sen. sowie mitberatend an den Ausschuss für Umwelt, Natur- schutz und Reaktorsicherheit und den Ausschuss für die (Peter Bleser [CDU/CSU]: So ist es!) Angelegenheiten der Europäischen Union. Die Abstim- Wer den Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen mung über den Antrag auf Ausschussüberweisung geht verbieten möchte, muss deutlich sagen, dass wir dann in nach ständiger Übung des Hauses vor. Ich frage deshalb: absehbarer Zeit zu diesem Thema in Deutschland auch Wer ist für die Überweisung? – Wer ist dagegen? – Ent- keine Forschung mehr haben werden. haltungen? – Die Überweisung ist so beschlossen. Damit stimmen wir über den Antrag in der Sache heute nicht (Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Das ist Tüdel- ab. kram!) Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b Er muss auch sagen, dass wir uns zukünftig in hohem auf: Maße von anderen Ländern abhängig machen, a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Laurenz (Peter Bleser [CDU/CSU]: Exakt so ist es!) Meyer (Hamm), Eckhardt Rehberg, Wolfgang dass unsere Vorstellungen in Bewertungsfragen interna- Börnsen (Bönstrup), weiterer Abgeordneter und tional weniger relevant sein werden der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Margrit Wetzel, (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Garrelt Duin, Ludwig Stiegler, weiterer Abgeord- Recht hat er!) neter und der Fraktion der SPD und – in diesem Punkt sind wir uns, glaube ich, alle ei- In der Maritimen Wirtschaft Kurs halten nig – dass die Monopolisierung gefördert wird. Genau das wollen wir alle doch gerade nicht. – Drucksache 16/12431 – (Beifall bei der CDU/CSU) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- gierung Sie beklagen zu Recht die Monopolisierung. Aber glauben Sie wirklich, dass Sie sie durch Anbauverbote Bericht der Bundesregierung über die Ent- verhindern? Sie fördern sie doch regelrecht. Das kann wicklung und Zukunftsperspektiven der mari- ich überhaupt nicht verstehen. timen Wirtschaft in Deutschland Wir sind derzeit auf dem besten Weg, hervorragend – Drucksache 16/11835 – ausgebildete Forscher, hochentwickelte Saatgutunter- Überweisungsvorschlag: (B) (D) nehmen und innovative Agrartechnologien auf Nimmer- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und wiedersehen zu exportieren – Insulin, es ist schon ge- Verbraucherschutz nannt, lässt grüßen –, anstatt unsere mittelständischen Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Zuchtunternehmen zu schützen und zu unterstützen. Das Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit kann nicht im Interesse unseres Landes liegen. Ideen Ausschuss für Tourismus sind immer die Lebensgrundlage unseres Landes gewe- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die sen. Dann kann so etwas keine Zukunft haben. Hätte es Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich sehe, Sie sind in der Vergangenheit nicht Forscher wie Mendel, von damit einverstanden. Dann werden wir so verfahren. Liebig oder Thaer gegeben, würden wir heute wahr- scheinlich nicht über Gentechnik reden, sondern über Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat für den Hunger in der Welt und darüber, wie wir ihn besser die Bundesregierung das Wort die Parlamentarische bekämpfen können. Staatssekretärin Dagmar Wöhrl. Lassen Sie uns den Glaubenskrieg beenden! Kehren (Beifall bei der CDU/CSU) wir zu einer differenzierten Sachlichkeit und Betrach- tung zurück! Alles andere ist fahrlässig und gefährlich Dagmar Wöhrl, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- für . Deshalb kann man Ihren Antrag nur ab- minister für Wirtschaft und Technologie: lehnen. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn es einen weltwirtschaftlichen Abschwung Herzlichen Dank. gibt, macht er natürlich auch vor einer Exportnation wie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Deutschland nicht halt, genauso wenig wie vor der mari- neten der FDP) timen Wirtschaft, denn 90 Prozent des Welthandels wer- den über die Seehäfen abgewickelt. Dementsprechend Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: sind inzwischen viele Häfen von der Krise betroffen. Es Ich schließe die Aussprache. gibt Kurzarbeit und erste Entlassungen. Die Charter- raten sind eingebrochen. Allein im letzten Jahr wurden Wir kommen nun zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/ 29 Schiffbauaufträge storniert. In diesem Jahr sind es Die Grünen auf Drucksache 16/11919. Die Fraktion bisher 11. 19 Aufträge stehen auf einer sehr wackligen Bündnis 90/Die Grünen wünscht Abstimmung in der Sa- Basis. Wir müssen zudem sehen, dass es erhebliche Ton- che. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen nageüberkapazitäten gibt. Hinzu kommt die zögerliche Überweisung, und zwar federführend an den Ausschuss Haltung der Banken gerade in den Bereichen der Bau- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23199

Parl. Staatssekretärin Dagmar Wöhrl (A) zeitfinanzierung und der Bauendfinanzierung. Die tig werden. Auch wird es keine Abwrackprämie für (C) Schiffsfonds privater Anleger sind als Finanzierungs- Schiffe geben. Auch das spreche ich hier explizit an, quelle inzwischen fast ausgelaufen. weil ich gerade in letzter Zeit darauf von der Branche an- gesprochen worden bin. Wir haben eine Krise, und die Kurzum: Ich hätte mir für die für die Branche so Krise ist tiefgreifend, aber – davon bin ich wirklich über- wichtige Sechste Nationale Maritime Konferenz, die am zeugt – sie wird nicht von Dauer sein. Auf das Ende der Sonntag in Rostock beginnt, ein wirtschaftlich freundli- Krise müssen wir vorbereitet sein. Wir sind momentan in cheres Umfeld gewünscht. Aber ich glaube, zu Recht sa- einem Tal, aber wir werden wieder herauskommen. Die gen zu können: Wir haben in vielen Bereichen schnell maritime Branche ist eine Zukunftsbranche. und entschlossen gehandelt: auf der einen Seite durch den Bankenschirm, mit dem wir die Funktionsfähigkeit (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie des Finanzsystems gesichert haben, und auf der anderen bei Abgeordneten der FDP) Seite durch die von uns auf den Weg gebrachten zwei Maßnahmenpakete, die mit Kreditprogrammen und Das müssen wir wissen, und das müssen wir uns vor Au- Bürgschaftsmöglichkeiten auch der maritimen Branche gen halten. Die Globalisierung hört nicht von heute auf helfen. Wir haben das Investitionsprogramm aufge- morgen auf. Die Globalisierung wird weiter voranschrei- stockt, von dem die See-Hinterland-Anbindung profitie- ten, die Menschen werden weiter Güter, Nahrung und ren kann und vieles andere mehr. Rohstoffe brauchen. Der internationale Handel wird wie- der zunehmen. Natürlich wird die Seefahrt zukünftig da- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bei eine ganz wichtige Rolle spielen. Wir brauchen also DIE GRÜNEN) weiterhin unsere leistungsfähigen Häfen, die wir haben, Für uns ist es wichtig, dass wir die Liquiditätseng- wir brauchen weiterhin unsere Werften, die hochinnova- pässe, die momentan bestehen, überbrücken und den Un- tiv sind. ternehmen, die gesund sind, helfen, an das andere Ende des Ufers zu kommen. Wir haben es Gott sei Dank ge- Am Sonntag findet die Sechste Nationale Maritime schafft, dass im KfW-Sonderprogramm der Schiffbaube- Konferenz statt. Es wird dort keine Small Talks geben, reich explizit genannt worden ist. und es wird dieses Mal nicht einfach werden. Wir wer- den mit der Krisenbewältigung zu tun haben. Das kann (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: man nicht einfach zur Seite schieben, aber es wird auch Sehr gut!) andere Themen geben. Es wird um Forschung und Ent- Das Programm wird gut angenommen. Ich habe gestern wicklung gehen, es wird um Innovation gehen, und es die Zahlen abgerufen. Es sind inzwischen Kreditanträge wird um Nachwuchssicherung gehen. Ich erwarte mir (B) in einem Volumen von 200 Millionen Euro im Bereich Handlungsempfehlungen von allen Akteuren. Wir wer- (D) der Bauzeitfinanzierung bewilligt worden. Ich glaube, den wieder wie auch bei der letzten maritimen Konfe- das ist eine beachtliche Zahl. Hinsichtlich der Bauendfi- renz ein Pflichtenheft auflegen, das wir genauso wie das nanzierung beträgt die Zahl 5,1 Millionen Euro. Es sind Pflichtenheft abarbeiten werden, das wir zur Fünften Na- noch sehr viele Anträge – ein Volumen von 181 Millio- tionalen Maritimen Konferenz aufgelegt haben. Ich ma- nen Euro – in Bearbeitung. Wir müssen schauen, dass che mir keinen Sorgen, dass wir das schwere Fahrwasser wir noch schneller vorankommen. durchschiffen werden. Wir sind gut aufgestellt. Wir ha- ben unsere Stärken. Wir dürfen nicht nur von den mo- Wir haben CIRR flexibler aufgestellt. Bis jetzt war es mentanen Problemen reden. Wir müssen auch darstellen, nur möglich, CIRR zu beantragen, bevor man einen wo unsere Stärken liegen. Schiffbauauftrag vergeben hat. Zukünftig versuchen wir, das flexibler zu handhaben und auch dann noch CIRR zu (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bewilligen, wenn der Schiffbauauftrag schon erteilt wor- bei Abgeordneten der FDP) den ist. Wir haben die Deckung bei den Hermesbürg- schaften von 80 Millionen Euro auf 300 Millionen Euro Unsere Stärken sind die leistungsfähigen Häfen. Allein erhöht. Wie man sieht, sind wir aktiv geworden. Dane- im letzten Jahr betrug der Umsatz über 320 Millionen ben gab es viele runde Tische mit den Beteiligten, ob das Tonnen. Das muss man sich einmal vorstellen. Wir ha- die Banken, die Reeder oder die Werften gewesen sind, ben eine unwahrscheinlich große Handelsflotte. Die die immer von den Sozialpartnern begleitet wurden. deutschen Reeder haben 3 300 Schiffe. Man muss sich aber über eines klar sein: Der Staat kann (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE nur unterstützend helfen. GRÜNEN]: Aber nicht unter deutscher (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Flagge!) Richtig!) Es sind große Leistungen erbracht worden. Wir haben Richten müssen es die maritimen Akteure selbst. sehr leistungsfähige Werften, die hochinnovativ sind, mit Spitzentechnologie arbeiten und die sich rechtzeitig (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP) darauf eingestellt haben, nicht auf Massengutfrachter zu setzen, sondern die sich spezialisiert haben. Außerdem Wir selbst können uns nicht an einer Werft beteiligen. haben wir sehr leistungsfähige Schiffbauzulieferbe- Das spreche ich ganz klar und deutlich hier aus. Wir triebe mit über 75 000 Mitarbeitern. Was die Export- können auch nicht als Reeder von Containerschiffen tä- quote angeht, liegen wir damit an erster Stelle. 23200 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Parl. Staatssekretärin Dagmar Wöhrl (A) Ich möchte noch etwas anderes erwähnen, worauf ich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) persönlich sehr stolz bin: Unsere Meerestechnologie neten der SPD und des Abg. Hans-Michael – manchmal habe ich das Gefühl, dass sie noch ein Goldmann [FDP] – Wolfgang Börnsen Schattendasein fristet – ist eine Zukunftsbranche. Jeder, [Bönstrup] [CDU/CSU]: Leinen los!) der mich kennt, weiß, dass das für mich ein sehr wichti- Es gilt, Strukturen zukunftsfähig weiterzuentwickeln, ges Thema ist. Unser Energiebedarf und unser Rohstoff- technologische Entwicklungen und Innovationen voran- bedarf werden steigen, und die landseitigen Ressourcen zutreiben und in die Zukunft zu investieren; das ist ge- werden knapper. Das heißt, wir werden Energie und rade im technologischen Bereich ganz wichtig. Wenn be- Rohstoffe zukünftig ökologisch vertretbar aus dem Meer werkstelligt wird, dass jeder in diesem Bereich seine gewinnen müssen. Darauf müssen wir vorbereitet sein. Hausaufgaben macht, dann ist mir nicht bange, sondern Es geht um Exploration, Gewinnung unterseeischer Res- ich glaube, dass wir aus diesem Prozess gestärkt heraus- sourcen und Abtransport der Rohstoffe. Dafür brauchen kommen. wir die richtige Technologie. Wenn ich mir unsere For- schungs- und Wissenschaftsinstitute in diesem Bereich, Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. gerade die in den Küstenländern, anschaue, dann stelle (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ich fest: Wir sind unwahrscheinlich gut aufgestellt. Bis- her stellen wir unser Licht wirklich unter den Scheffel. Ich würde sogar sagen: Wir sind in diesem Bereich so Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: gut aufgestellt, dass wir die Besten auf der ganzen Welt Nächster Redner ist für die FDP-Fraktion der Kollege sind und dass wir auf unsere zukünftigen Aufgaben her- Hans-Michael Goldmann. vorragend vorbereitet sind. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Wolfgang (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]) Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das liegt aber nicht an der Bundesre- Hans-Michael Goldmann (FDP): gierung, sondern an den Unternehmen!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn Sie eine Besuchergruppe wären, würde – Lieber Kollege, wir haben allein in den letzten Jahren ich sagen: Moin! 20 Millionen Euro zur Förderung dieses Bereichs bereit- gestellt. Wenn Sie sich mit diesem Bereich auskennen, (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: dann wissen Sie, was SUGAR ist: Wir fördern in Moin!) 6 000 Metern Tiefe, um Erdgas zu gewinnen und um CO im Meer zu binden. Ich glaube, wir sind auf diesem Dann wüsste sie in etwa, woher man kommt. (B) 2 (D) Forschungsfeld wirklich spitze. Die Entwicklung dort ist (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: zwar noch nicht beendet, aber sehr weit vorangeschrit- Du siehst auch wie ein Kapitän aus!) ten. Um zu untermauern, warum man natürlich eine be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sondere Beziehung zur maritimen Wirtschaft hat, wenn neten der SPD) man aus dieser Region kommt: Papenburg baut ziemlich gute Schiffe. Zum Ende meiner Rede möchte ich eine Hoffnung äu- ßern. Wir haben uns in den letzten Jahren sehr viel Mühe (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hinsichtlich der Nachwuchssicherung in diesem Bereich NEN]: Meyer-Werft!) gegeben; das war auch ein wichtiges Thema der letzten – Frau Dr. Dückert, auch Sie waren schon einmal da und maritimen Konferenz. Alle haben daran gearbeitet; die haben ein Lob ausgesprochen. Ich bin immer froh, wenn Sozialpartner haben kräftig mitgeholfen; die Länder ha- Grüne etwas loben. ben ihre Ausbildungskapazitäten erweitert. Auch von unserer Seite ist sehr viel getan worden; die Verbände Wir sind in besonderer Weise daran interessiert, dass haben ebenfalls sehr viel getan, zum Beispiel sehr viel dieser Bereich Kurs hält. Ich kann das, was Sie gesagt Geld in die Hand genommen. Wir sind auf einem guten haben, im Wesentlichen nur unterstützen: Es ist ein toller Weg: Die Anzahl der Nautiker und die der Schiffsbe- Bereich; es macht unheimlich viel Spaß, für diesen Be- triebstechniker steigen. An der Steigerung der Anzahl reich zu arbeiten. Im Moment hat er – wie viele andere der Ingenieure müssen wir noch arbeiten. Die Abbre- Bereiche – Schwierigkeiten. Aber man muss natürlich cherquote von 30 Prozent in diesem Bereich ist leider auch sagen: Dieser Bereich war in einem Hoch. Das war immer noch zu hoch. besonders positiv und besonders bemerkenswert. Ich kann an die vielen jungen Menschen nur appellie- Ich habe eine besondere Beziehung zum Wahlkreis ren: Meerestechnologie ist eine Zukunftsbranche. Sie . Vielleicht kennen Sie Leer. Es ist relativ einfach, sollten sich von dem momentanen Tief und auch von den sich diesen Namen zu merken: Das, was auf dem Num- Kassandrarufen in fast allen Zeitungen nicht irremachen mernschild der Autos steht, klingt genauso wie der lassen. Ich wiederhole: Es ist eine zukunftsfähige Bran- Name der Stadt. Aber viele wissen nicht, dass Leer der che. Ich kann wirklich mit ruhigem Gewissen sagen: zweitgrößte Reedereistandort der Bundesrepublik Bauen Sie Ihre Zukunft darauf auf! Wenn Sie sich dafür Deutschland ist. Wie kommt das? In Leer gibt es eine entscheiden, haben Sie eine gute Entscheidung getrof- Seefahrtsschule, aus der viele tüchtige Leute hervorge- fen. gangen sind, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23201

Hans-Michael Goldmann (A) (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Ihrem Antrag zum Ausdruck bringen, liebe Kolleginnen (C) Aber in Flensburg gibt es auch eine!) und Kollegen der Koalitionsfraktionen: Das sind die Fristen für die Rückflaggung. Erstens ist nicht ganz rich- die das gemacht haben, was man in dieser Zeit machen tig, was Sie darin sagen. Es geht um 500 Schiffe, und musste: modernsten Schiffbau realisieren, und dies mit zwar bis 2010, aber sei es drum; darüber wollen wir guten finanziellen Rahmenbedingungen, die in Deutsch- einmal hinwegsehen. Aber in dieser Zeit, in der diese land herrschen, die Tonnagesteuer nutzen, Ausbildung Branche unter einem enormen Druck steht, das Ziel zu betreiben, Spezialschiffe auf den Markt bringen. Reeder postulieren, nicht nur 500, sondern 600 Schiffe rückzu- aus dieser Region sind von der Krise nicht derart betrof- flaggen, ist schlicht verkehrt. Das bringt nichts; vielmehr fen wie andere, weil sie in Bezug auf ihre Schiffe eine muss man hier auf Folgendes hinweisen: Wir haben eine gute Mischung haben. besondere Situation. Die Reeder haben ihre Aufgaben Derjenige, der im Moment Containerschiffe hat, ist erfüllt, 500 Schiffe sind da. Wir haben die Möglichkeit, schlecht dran. Mehr als 1 000 davon liegen in Singapur damit das deutsche Register zu stärken, die Ausbil- fest, wie ich gehört habe; auch oben an der Küste liegt dungsplatz- und die Beschäftigungssituation zu verbes- jede Menge davon. Aber wenn man das Richtige macht, sern, aber damit ist es dann auch gut. dann kann man erfolgreich sein; in diesem Bereich, der in klassischer Weise nachhaltig geprägt ist, nämlich öko- Einen anderen Punkt, der uns immer wieder am Her- nomisch, ökologisch und sozial, kann man damit sehr er- zen liegt, sprechen Sie nicht an. Ich verstehe nicht, wa- folgreich sein. rum das Haus – in diesem Falle, kurz gesagt, das Ver- kehrsministerium – so unflexibel ist. Es geht mir um die (Beifall bei der FDP) Übertragung von Aufgaben an Private. In meinen Augen Es war eine gute Idee, die damals unser Kollege ist es einfach haushalterischer Blödsinn – so will ich ein- Robbe hatte, als er in Verbindung mit dem damaligen mal vorsichtig sagen – und fachlich nicht geboten, dafür Bundeskanzler Schröder die maritime Konferenz aus zu sorgen, dass dies sozusagen bundeseigene Schiffe dem Boden gestampft hat – die erste fand in Emden statt – sind. Solche Spezialschiffe können durchaus auch Ree- und den maritimen Koordinator erfunden hat. – Frau der bauen und sie dann dem Bund zur Verfügung stellen, Wöhrl, wir hatten schon einmal einen, der seine Rede bei um damit hoheitliche Aufgaben wahrzunehmen. einem nautischen Essen in Emden mit einem „Glück (Beifall bei der FDP) auf“ abschloss; er kam aus einer etwas anderen Branche. Obwohl Sie aus Nürnberg kommen, haben Sie sich wirk- Hinzu kommt, dass auf diesen Schiffen nicht nur ho- lich sehr gut und sehr schnell eingearbeitet. Es macht heitliche Aufgaben wahrgenommen werden; vielmehr einfach Spaß, Sie auf vielen Veranstaltungen zu hören; kann man das sehr intelligent miteinander vernetzen, ge- (B) (D) das machen Sie gut. rade in der jetzigen Zeit, da die Reeder danach suchen, in welchem Spezialschiffbau sie Aufträge akquirieren kön- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nen, die den Werften dann auch helfen. Wir werden auch in Rostock wieder die Weichenstellun- gen vornehmen, die notwendig sind, um aus den mo- Darüber haben wir auch schon einmal gesprochen, mentanen Schwierigkeiten herauszukommen. Frau Wöhrl: Zukünftig geht es bei aller Vorsicht ent- scheidend darum, dass die deutschen Werften Spezial- Das gilt auch für viele Elemente des heute hier vorlie- schiffbau betreiben. Die Zeit des Containerschiffbaus ist genden Antrags. Die Zukunftsstrategie bei Leadership, vorbei, ob man dies nun beklagt oder nicht, und wir die Investitionsförderung im Schiffbau, die Investitionen müssen unsere Werften dahin gehend konditionieren, in die Wasserstraßen, die Senkung der Lohnnebenkos- dass sie vom Personal und von der technischen Ausstat- ten, die Ausbildungsplatzförderung in der Seeschifffahrt tung her in der Lage sind, diesen Spezialschiffbau zu und der Kampf gegen die Piraterie, all das sind Dinge, realisieren. Darum müssen wir uns gemeinsam küm- die wir nur unterstützen können. mern. Ich bin auch froh darüber, dass wir im Offshore-Be- (Beifall bei der FDP) reich eine raumordnerische Lösung gefunden haben, die dazu führt, dass das Gesamtpotenzial auf den Weg ge- Lassen Sie uns mit ThyssenKrupp Marine Systems bracht werden kann. Das gilt nicht nur für Cuxhaven, beginnen und beobachten, wie die Standortfrage geklärt sondern auch für Emden und andere Standorte an der wird. Sie dürfen das nicht nur ihren speziellen Vorstel- Küste. Jetzt müssen wir noch dafür sorgen, dass wir den lungen unterordnen und entscheiden, für die Bundes- Strom anschließend auf vernünftige Weise an Land be- wehr in Kiel zu bauen, Emden zu schließen und in Ham- kommen. Dazu muss man kluge Wege gehen und groß- burg Passagierschiffe und Megajachten zu bauen. So zügig sein, selbst wenn es manchmal teuer ist; denn wir geht es nicht. Man muss klar feststellen: Für diesen Ver- bekommen diese Trassen nur platziert, wenn wir dabei bund hat es damals politische Weichenstellungen gege- auch die Bürgerinnen und Bürger mitnehmen. Meines ben. Dabei müssen auch Werften nach alter Art wie die Erachtens sind wir hierbei insgesamt auf einem sehr gu- Nordseewerke eine Chance haben; denn sie sind im Spe- ten Weg. zialschiffbau erprobt. Man muss in diesem Bereich Wei- chenstellungen vornehmen. Aber es gibt in diesem Antrag ebenso Schattenseiten, die vielleicht nur aus einer gewissen Unüberlegtheit re- (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sultieren. Ich spreche eine Angelegenheit an, die Sie in NEN]: Genau!) 23202 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Hans-Michael Goldmann (A) Wir müssen auf die Ratifizierung des Seearbeitsüber- In dem Antrag stehen gute und schlechte Dinge. Wir (C) einkommens der Internationalen Arbeitsorganisation werden uns bei der Abstimmung enthalten drängen. Es ist prima, dass Sie, Frau Wöhrl, die Proble- (Zurufe von der CDU/CSU und der SPD: Oh!) matik der Ingenieurslücke angesprochen haben; denn wir haben in diesem Bereich ein riesiges Problem, und und weiterhin die maritime Arbeit positiv begleiten. Wir wir müssen an einem Strang ziehen. Beziehen Sie das sehen uns alle in Rostock wieder. Bis dann. jetzt nicht zu sehr auf örtliche Begebenheiten, aber es ist (Beifall bei der FDP) schon ein dolles Ding, was in der Seefahrtsschule in Leer passiert ist. Über Jahre hat die Seefahrtsschule ver- sucht, sich neue Standbeine zu erarbeiten. Sie ist dabei Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: politisch ungenügend begleitet worden. Das ist zwar in Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Margrit Wetzel der Tat ein Thema der niedersächsischen Ebene, von der SPD-Fraktion. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: (Beifall bei der SPD) Das ist Kommunalpolitik!) Dr. Margrit Wetzel (SPD): aber ich finde, dass wir in Gesamtverantwortung dafür Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sorgen müssen, dass die Entwicklungen in diesem Be- Lieber Herr Goldmann, mit der Enthaltung können wir reich vorangetrieben werden. leben. Lassen Sie mich einen weiteren Bereich ansprechen, (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ach, Frau in dem wir an einem Strang ziehen sollten: Der eine oder Dr. Wetzel, Sie verstehen es eben nicht!) andere von Ihnen kennt sicherlich den berühmten ISPS- Code. Die Überlegung war, den ISPS-Code auf den ge- Ich finde, wir bekommen das auch so hin. samten Bereich der maritimen Wirtschaft, also auch auf Die maritimen Konferenzen sind eindeutig eine Er- die Binnenschifffahrt, zu übertragen. Das ist Schwach- folgsgeschichte. Wir wollen auch in Zeiten der Wirt- sinn. Auch wenn die Amerikaner nach den Erfahrungen, schaftskrise, dass das maritime Bündnis und alle mariti- die sie gemacht haben, extreme Angst vor terroristischen men Vereinbarungen weiter zu einem Erfolg beitragen. Anschlägen haben, was ich verstehen kann, ist ein ISPS- Wir müssen den Stand halten. Deshalb ist die Kernbot- Code, der jeden Container – das sind Millionen und schaft unseres Antrages, den wir sehr bewusst noch vor Abermillionen – scannt, nicht realistisch. Man muss den der maritimen Konferenz platziert haben, klar: Wir wol- Amerikanern deutlich machen, dass das mit uns nicht zu len, dass die Strategie – erfolgreiche maritime Vereinba- realisieren ist. Dieser Ansatz setzt an der falschen Stelle (B) rungen, erfolgreicher Standort Küste – erfolgreich fort- (D) an. Das Verhältnis von Aufwand und Wirksamkeit muss gesetzt wird. erhalten bleiben. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Mein letzter Punkt ist die Stromversorgung von Land. Das ist ein ganz heißes Thema. Wenn die Bild-Zeitung Dass das nicht einfach ist, wissen wir. Den Schiffbau auf der ersten Seite schreibt, dass jemand, der an einer hat es als Erstes sehr hart getroffen; das kann man nicht Schleuse am Nordostseekanal wohnt, meint, er be- wegdiskutieren. Die Aufträge brechen weg. Aber wir komme Krebs, weil Schiffe herumtuckern, dann ist das wissen ebenso, dass die Prozess- und Produktinnovatio- von der Sache her nicht geboten; das ist keine Frage. nen unsere Werften in die Lage versetzen, die Nase welt- Aber wir müssen uns damit beschäftigen. Wenn weit vorn zu haben. Das ist wichtig. Deshalb, Frau 30 Prozent der Staubemissionen an den Küsten durch Wöhrl, ist es Ihre Aufgabe, bei der Europäischen Union Schiffsverkehr entstehen, dann haben wir ein Problem. hartnäckig dafür zu werben, dass die Innovationsförde- rung nicht von Aufträgen abhängig gemacht wird. Aber wir haben auch eine Chance; denn im CO2-Bereich sind die Schiffe absolute Spitze. Was andere Bereiche Auch wir als Parlament haben uns positioniert. Wir – Schwefel und Stickstoff – betrifft, müssen wir im Um- wollen den Werften helfen, indem wir für die Zeit von weltbereich Anstrengungen unternehmen. 2009 bis 2011 auf die Rückzahlung der Innovationsför- (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE derung verzichten. Herzlichen Dank an die Kollegen GRÜNEN]: Den Antrag haben wir schon vor Volker Kröning und Eckhardt Rehberg, denen es maß- Jahren beraten!) geblich zu verdanken ist, dass wir das so festschreiben konnten! – Ja, das ist richtig, aber es ist nicht sehr viel passiert, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) lieber Kollege Steenblock. Wir sind in Hamburg gerade dabei, das Ganze für die großen Passagierschiffe hinzu- Frau Wöhrl, der Arbeitskräftepool steht vor einer Na- bekommen. Wir können alle gemeinsam helfen. Im Be- gelprobe. reich der maritimen Wirtschaft kann uns nichts Schlim- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Den gibt es meres passieren, als dass sich etwas gegen den doch gar nicht!) ökologischen Verkehrsträger Schiff aufbaut, was wir dann nicht mehr lösen können, weil es zu viel Wider- Eigentlich gehen wir seit Jahren davon aus, dass er sich stand gegen gute Lösungen gibt. Deswegen sollten wir in einer Krise wie dieser bewähren würde. So weit ist es in dieser Frage so viele Gemeinsamkeiten wie möglich aber immer noch nicht. Wir müssen die Nachwuchs- erreichen. sicherung großschreiben und vor allen Dingen dafür sor- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23203

Dr. Margrit Wetzel (A) gen, dass die Krisenzeit für Qualifizierung genutzt wird; (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ach, Frau (C) denn wir alle wissen aus den letzten Jahren, dass wir zu Wetzel!) wenig Fachkräfte haben. Qualifizierung in dieser Zeit ist Wir wollen vor allem, dass neue Ziele vereinbart wer- wichtig, um die Fachkräfte halten zu können. den. Wir wollen eine Poolbildung bei Einschiffsreede- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: reien. Auch denen stünde eine Rückflaggungsquote gut Das ist genau richtig!) zu Gesicht. Wenn wir das nicht machen, stehen wir wieder hintan. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Die maritimen Technologien sind schon erwähnt wor- Wir wollen nicht, dass die, die richtig was machen, we- den. Sie haben im Grunde eine glänzende Zukunft. Das niger rückflaggen. Aber die Einschiffsreedereien müssen ist eine Aussicht, die uns alle beflügeln muss. Die deut- ebenfalls gebeten werden, die deutsche Flagge zu unter- schen Unternehmen und die Institutionen haben die nö- stützen. tige Systemkompetenz, um sich diesen Markt der Zu- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wovon kunft zu erschließen. Sie werden das erfolgreich tun, denn?) nicht nur bei der Offshore-Windkraft, sondern auch bei der Polartechnik, der Öl- und Gasgewinnung, der ökolo- Wir wollen vor allen Dingen, dass das Verhältnis der gischen Gewinnung mineralischer Rohstoffe und vor al- deutschen Flagge zur Drittstaatenflagge deutlich verbes- lem mit Blick auf das gewaltige Potenzial an Energie, sert wird. Das schreiben wir in unserem Antrag fest, und das das Meer birgt. Das ist alles längst noch nicht er- das ist wichtig. schlossen. Da haben wir Herausforderungen zu beste- Ein weiterer Punkt unseres Antrages ist die Ausbil- hen. Dabei müssen wir immer bedenken, dass wir eine dung. Ich will jetzt nicht alles wiederholen, was im An- ökologische Verpflichtung haben, sicherlich auch zum trag steht. Wir wissen, wie intensiv die Ausbildungsbe- Nutzen der Wirtschaft – das ist ganz klar –, aber vor al- mühungen in der Vergangenheit waren, aber sie müssen lem zum Nutzen der Menschen und des Klimas. fortgesetzt werden. In den Häfen macht uns große Sorge, dass dort Be- Vor allen Dingen haben wir den sehr positiven Be- schäftigungslosigkeit droht. Darum müssen wir uns reich des Klima- und Umweltschutzes aufgenommen, kümmern. Auf der anderen Seite – da geht ein Dank an der bei den Reedern zum Teil ein bisschen umstritten ist; Frau Roth; das nationale Hafenkonzept hat garantiert denn verbesserte Treibstoffe sind natürlich auch teurer. eine gute Zukunft – bitten wir darum, die Masterpläne Aber die Beschlüsse der IMO zur Reduzierung von Güterverkehr und Logistik auf EU-, Bundes- und Lan- Schwefel-, Stickoxiden und CO2 halten wir für absolut (B) desebene zu verknüpfen, damit die Häfen auch für die richtungweisend. (D) Zukunft gut aufgestellt sind. Es wird garantiert eine po- sitive Zukunft sein, (Hans-Michael Goldmann [FDP]: CO2 ist kein Problem!) (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Schön optimistisch! Das ist richtig!) Allerdings sind wir der Meinung, dass die Schwefel- emissionsüberwachungsgebiete für die Nord- und Ostsee denn der Welthandel wird wieder zunehmen; das ist zu Wettbewerbsverzerrungen führen. Weil sie aber den überhaupt keine Frage. Klimaschutz fördern, wollen wir, dass sie auf die ande- Dann zum Thema Schifffahrt, das Sie eben schon an- ren europäischen Binnenmeere entsprechend ausgewei- gesprochen haben, Herr Goldmann. Es ist richtig: Die tet werden. Daran werden wir noch stark arbeiten müs- Aufträge und die Raten brechen weg. Aber wir alle ha- sen. ben in den vergangenen Jahren verfolgt, welche hervor- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Viel Spaß!) ragenden Umsätze die Reeder gemacht haben. Ein ver- antwortungsvoller Unternehmer legt Polster an und sorgt Es ist richtig, dass die Bundesregierung und die Ree- in guten Zeiten für schlechte Zeiten vor. So einfach ist der eine Studie in Auftrag gegeben haben, in der der das. Preis und die Verfügbarkeit der sauberen Treibstoffe un- tersucht werden sollen. Aber Treibstoffe sind eben nicht (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: alles. Herr Goldmann, Sie hatten schon die Landstrom- Ja!) versorgung erwähnt. Wir halten die Landstromversor- gung durchaus für positiv. Aber wir sehen auch sehr Ich gehe davon aus, dass die Reeder entsprechende Pols- deutlich, dass da noch einige Fragen zu klären sind. ter angelegt haben. Da ist zunächst einmal die Frage: Für welche Häfen Wir haben ganz bewusst gefordert, ein verbessertes und für welche Schiffe? Denn diese Art der Versorgung Rückflaggungsverhalten der Reeder auch in Zeiten der ist nicht für alle Schiffe und für alle Häfen verfügbar. Krise festzuschreiben. Wir stärken damit ganz bewusst Das wissen wir sehr genau. Die nächste Frage lautet: der Staatssekretärin und unseren Vertretern im entspre- Wie sieht die Gesamtumweltbilanz aus? Wir wollen si- chenden Workshop den Rücken. Wir wollen als Parla- cherlich keine Landstromversorgung mit einem Kohle- ment deutlich machen, dass wir die 600 internationalen kraftwerk nebenan. Ich hoffe, darin sind wir uns einig. Handelsschiffe in den Jahren 2009 und 2010 erwarten, im Übrigen nicht erst in den Monaten November und Internationale Standards müssen geklärt werden. Das Dezember 2010; auch das muss einmal betont werden. gilt für die Stromspannung genauso wie für die bordsei- 23204 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Dr. Margrit Wetzel (A) tigen Anschlüsse. Außerdem gehört zur Daueraufgabe, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C) dafür zu sorgen, dass die EU die Befreiung des Land- Nächster Redner ist der Kollege Lutz Heilmann für stroms von der Stromsteuer genehmigt. die Fraktion Die Linke. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Oh!) (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Die Ahnungslosen!) – Natürlich ist das eine Aufgabe. Ich dachte, Sie sind darüber informiert, Herr Goldmann. Lutz Heilmann (DIE LINKE): (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Was soll das Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und denn jetzt, Frau Dr. Wetzel?) Kollegen! Eine gute Nachricht vermeldeten gestern die Es geht weiterhin um technische Innovationen beim Lübecker Nachrichten: Auch wenn die Umschlagszah- Schiffsbau und auch beim Schiffsbetrieb. Wichtig ist, len im vierten Quartal 2008 um 20 Prozent eingebrochen dass wir technologieoffene Lösungen entwickeln. In der sind, gibt es im Lübecker Hafen erst einmal keine Kurz- Seeschifffahrt darf es keine umweltpolitischen Sonder- arbeit. rollen zum Beispiel für Entwicklungsländer geben. An- Ganz anders sieht es bei der HDW-Werft in Kiel aus, sonsten würden Standortverlagerungen drohen. Damit die Kurzarbeit angemeldet hat. Das wurde notwendig, würde sich ein kontraproduktiver Effekt ergeben. weil die Auftraggeber keine Finanzierungszusage von (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) den Banken erhalten haben. Die Kieler Werft Lindenau meldete bereits Insolvenz an. Bei den Werften von Thys- Beim Schiffsbetrieb setzen wir auch auf die Fach- senKrupp in Emden und Kiel wurde vor kurzem der Bau kompetenz gut ausgebildeter und gut qualifizierter von vier Containerschiffen gestoppt. Der Grund waren Crews. Energieeffizientes Fahren, Ausschöpfung aller wiederum fehlende Finanzierungszusagen von Banken. Möglichkeiten zur Emissionsminderung, das Erreichen eines optimalen Verhältnisses von Geschwindigkeit und Die Wadan-Werften in Wismar und Rostock warten Treibstoffverbrauch, eine umsichtige Routenplanung schon seit Monaten auf die versprochenen Aufträge ihrer oder SkySails, also die Ausnutzung der natürlichen Kraft neuen russischen Eigner. Seit September 2008 haben des Windes: All das sollten wir ausnutzen. drei weitere norddeutsche Schiffbaubetriebe Insolvenz angemeldet: die Schichau Seebeckwerft in Bremerha- Beim Emissionshandel sind wir uns ebenfalls einig: ven, die Cassenswerft in Emden und die SMG-Werft in Die Seeschifffahrt soll in den Emissionshandel einge- Rostock. bunden werden. Aber auch da darf es nicht zu Wettbe- Reeder in Wedel erhalten keine Kredite, um den Bau werbsverzerrungen kommen. Ich finde es sehr gut, dass (D) (B) von Schiffen zu Ende zu führen, und gehen sprichwört- die IMO neben dem Emissionshandel auch ein Kompen- lich mit der Dose betteln. Das war letzte Woche Freitag sationsmodell diskutiert. Wenn den Belastungen Einnah- im Schleswig-Holstein-Magazin zu sehen. Der Vorsit- men in gleicher Höhe gegenüberstehen – das gilt auch in zende des Schiffbauverbandes sagte gegenüber dem Entwicklungsländern, wo die größten Effekte erzielt Norddeutschen Rundfunk: Serienschiffbau wird es in werden –, dann sollten wir für die Lösungen offen sein, Deutschland mit Sicherheit nicht mehr geben. die den größten Nutzen für die Ökologie bringen. In den Häfen Hamburgs und Rostocks gibt es Kurzar- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: beit. Die Hamburger Hafen- und Lagergesellschaft rech- Richtig!) net mit einem schwierigen Jahr 2009. Die globale Wirksamkeit geht unseres Erachtens sowohl Dies ist die Realität der letzten Wochen in weiten Tei- auf der Einnahmenseite als auch auf der Ausgabenseite len der maritimen Wirtschaft. Ich bin froh, dass auch von vor. der Frau Staatssekretärin und meinen übrigen Vor- Meine Bitte ist, unseren Antrag zu unterstützen. Die rednern anerkannt wurde, dass wir eine Krise haben; FDP ist damit nicht gemeint, denn Ihr Antrag lässt diese Erkenntnis vermissen. In Ih- rem Antrag blenden Sie diese Realität aus. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Vielleicht besinnt sie sich noch!) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Da haben Sie leider recht!) aber die Grünen und die Linken, die sich bisher noch nicht positioniert haben. In Ihrem Antrag findet sich gerade einmal in zwei Sätzen das Wort „Krise“, ansonsten nicht. Mein Wunsch ist, dass die maritime Konferenz dazu führt, dass wir weiterhin zukunftsweisende Beschlüsse (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja, steht fassen, die den Standort Deutschland wirklich voranbrin- nichts drin!) gen und deutlich machen, dass es sich – auch in der Im Bericht der Bundesregierung ist von einer zyklischen Krise – um eine Erfolgsgeschichte handelt. Dafür müs- Wachstumsdelle die Rede. Von Krise will die Bundesre- sen wir einen klaren Kurs halten. gierung in diesem Bericht nichts wissen. Es ist eine Ver- Danke für die Aufmerksamkeit. höhnung der betroffenen Arbeiterinnen und Arbeiter in den Werften, wenn Sie in Ihrem Bericht schreiben – ich (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) zitiere –: Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23205

Lutz Heilmann (A) Die Bundesregierung hat auf die Herausforderun- Ihr Umweltminister hat letztendlich ganz gut dafür ge- (C) gen der Finanzmarktkrise und ihre Auswirkungen kämpft, dass die für Pkws zulässigen CO2-Werte hoch- auf die Gütermärkte schnell und entschlossen rea- gesetzt wurden und der Klimaschutz im Pkw-Verkehr ad giert. Mit dem Sonderfonds Finanzmarktstabilisie- absurdum geführt wurde. Ich bitte Sie also darum. rung wurde die Grundlage zur Stabilisierung des Bankensektors und zur Kreditversorgung der Wirt- Liebe Kolleginnen und Kollegen, nächste Woche fin- schaft geschaffen. det in Rostock die Sechste Nationale Maritime Konfe- renz statt. Eine Menge Reden und Workshops stehen auf Wo ist die HSH Nordbank, deren Kerngeschäft doch dem Programm. Sogar ein Workshop zum Umweltschutz die Schiffsfinanzierung ist? Können Sie mir sagen, wie ist vorgesehen. Bedauerlicherweise darf der Parlamenta- es sein kann, dass sich eine Bank, in die Sie gerade Mil- rische Staatssekretär des Umweltministers seine Gedan- liarden versenkt haben, weigert, Werften und Reedern ken und Anregungen erst am Ende der Konferenz kund- Finanzierungen zu gewähren? Sie vernebeln, Sie reden tun. Ich hätte es, wenn wir schon von nachhaltiger klein und lassen die Menschen im Regen stehen. Entwicklung und nachhaltiger Politik sprechen, als gut empfunden, wenn der Umweltstaatssekretär die Mög- Erlauben Sie mir jetzt, ein paar Gedanken zu Ihrem lichkeit gehabt hätte, am Anfang der Konferenz über Antrag zu äußern. Zum Abschnitt Schiffbau. Sie spre- Klimaschutz usw. in der maritimen Wirtschaft zu spre- chen von Maßnahmen zur Schließung der Ingenieur- chen, lücke und zur Sicherung des Fachkräftenachwuchses. Das kann ich unterschreiben. Berufe im Schiffbau wer- ( [CDU/CSU]: Das sind Ihre den stark nachgefragt, wie diese Woche auch die Lübe- Prioritäten! Die Tagesordnung!) cker Nachrichten wieder meldeten. Das alles sind zwar schön geschriebene Sätze. Aber was ist, wenn es keine damit seine Anregungen dann in die Workshops einflie- Werften mehr gibt, in denen die Fachkräfte arbeiten kön- ßen können. Ich halte es nicht für richtig, dass er am nen? Ende der Veranstaltung als eine Art Feigenblatt auch noch ein paar Worte sagen darf. Sie wollen prüfen, ob Schiffbauaufträge der Bundes- ministerien bzw. der Bundesbehörden zeitlich vorgezo- Ich vermisse konkrete Workshops dazu – ich war er- gen werden können. Auch hier könnte ich guten Gewis- staunt, dass auch die Bundesregierung anerkennt, dass sens zustimmen, wenn es sich dabei natürlich um zivile wir eine Krise haben; ich habe schon darauf hingewiesen –, und nicht um militärische Schiffsneubauten handelt. wie wir aus der Krise herauskommen wollen. Schaue ich mir die Tagesordnung an, so stelle ich fest, dass es dazu Zum Abschnitt Hafenwirtschaft und Logistik. Die nichts gibt. Soll das wieder in den Anfangsreden hübsch (B) Koalition begrüßt den Entwurf eines nationalen Hafen- dargestellt werden, und dann wird es so gemacht, wie (D) konzepts. Endlich, kann ich nur sagen: Jahrelang haben Sie sich das vorstellen? Das ist nicht der richtige Weg. Sie uns vertröstet. Es gab immer wieder Ausreden. Aber Auch hier zeigt sich klipp und klar, dass Sie die Krise schauen wir uns den Entwurf einfach einmal an: Was völlig ausblenden, nach dem Motto: Was nicht sein darf, stellen wir fest? Nichts ist zu lesen von einer Koopera- kann auch nicht sein. tion der deutschen Seehäfen an der Nordrange, nichts von einer eindeutigen Bevorzugung der Bahn bei der Zum Schluss möchte ich festhalten: Die Regierung Hinterlandanbindung. Die Beseitigung von sogenannten wird ihrer Verantwortung nicht gerecht. Der uns vorlie- Infrastrukturhemmnissen wird zum Oberziel erklärt. gende Antrag blendet die Realität der Krise aus. Glei- ches gilt für den vorgelegten Bericht. Sie vernebeln, Sie (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ist doch reden klein, und Sie lassen die Menschen im Regen ste- gut!) hen. Die Linke fordert einen Schutzschirm für die Men- Umwelt- und Klimaschutz verkommen zu Lippenbe- schen. kenntnissen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das stimmt (Beifall bei der LINKEN) doch nicht!)

Lassen Sie mich gleich zum Kapitel Klima- und Um- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: weltschutz kommen. Sie wollen Bemühungen unterstüt- Das Wort hat nun der Kollege Rainder Steenblock für zen, Schiffsemissionen durch eine landseitige Stromver- die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. sorgung in Häfen zu reduzieren. Frau Kollegin Wetzel, Sie haben das angesprochen; wir haben auf unserer Reise durch Schweden und Dänemark im letzten Jahr Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- recht viel darüber diskutiert. Aber es reicht nicht, sozu- NEN): sagen einen Einheitsstecker für diese ganze Sache zu su- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! chen. Es muss mehr her, zum Beispiel – Sie haben es an- Die Bundesregierung hat ihren Jahreswirtschaftsbericht gesprochen – die Befreiung von der Stromsteuer. Ich 2008 mit dem Motto „Kurs halten!“ versehen. Was aus habe mehrmals nachgefragt: Das Finanzministerium hat diesem Motto am Ende – am Ende des Jahres 2008 und mir immer wieder gesagt, ein entsprechender Antrag sei dann Anfang des Jahres 2009 – wurde, haben wir alle er- eingereicht. Es liege jetzt an der Europäischen Kommis- lebt. Es war notwendig, das Steuer dramatisch herumzu- sion. Ich bitte Sie: Tun Sie als Regierung etwas dafür! reißen, weil Kurs halten manchmal auch bedeuten kann, 23206 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Rainder Steenblock (A) dass man massiv aufläuft und dass große Unfälle gesche- Schiffe, die weltweit abgewrackt werden, werden in In- (C) hen können. dien und in Bangladesch unter menschenunwürdigen und unter ökologisch desaströsen Bedingungen abge- Bei dem, was wir heute haben, wurde nicht nur das wrackt. Das ist eine ganz große Sauerei, die dem interna- Motto des letzten Jahreswirtschaftsberichts abgekupfert, tionalen Recht und dem EU-Recht widerspricht. Denn sondern es wurde damit auch eine völlig ahistorische Be- die Schiffe, die abgewrackt werden, laufen aus den deut- wertung der maritimen Wirtschaft in Deutschland ver- schen Häfen unter der Bedingung aus, dass sie als Abfall bunden. „Kurs halten!“ ist nicht das Motto. Wenn man deklariert werden und in der EU entsorgt werden müs- sich den Antrag, den Sie gestern eingebracht haben, und sen. die Mutter dieses Antrags einmal anschaut, dann stellt man fest, dass das der Antrag ist, den die rot-grüne (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Koalition im Jahre 2005 eingebracht hat. und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Da hast du aber eine komische, selektive Wahrnehmung!) Diese Schiffe werden dann aber erst in internationalen Gewässern als Abfall deklariert. Dann steuern sie Indien – Gucken Sie sich das einmal an, liebe Kollegin. Dieser und Bangladesch an, und da werden die Menschen mit Antrag ist fast wörtlich von dem Antrag abgeschrieben, dem Abwracken dieser Schiffe gequält. Das ist unwür- den Rot-Grün damals eingebracht hat. dig. (Widerspruch und Lachen bei der CDU/CSU) In so einer Situation gilt es, das Potenzial unserer Ich will jetzt gar keine Textexegese machen, aber es ist deutschen Werften zu nutzen und innovative Strategien nicht nur in den Überschriften, sondern auch in der Sa- für das Abwracken von Schiffen zu entwickeln. Wir ha- che das Gleiche. ben zig Ölplattformen und Gasförderstrukturen in der Nordsee, deren Nutzung bald ausläuft und die entsorgt (Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Aber dann müssten werden müssen. Einige erinnern sich vielleicht noch an Sie den Antrag ja für super halten!) das Greenpeace-Shell-Spektakel, das wir einmal hatten. Da ist nicht einmal im Ansatz irgendetwas Neues drin. Das ist ein riesiges ökologisches Problem. Hier wären wir – in dem Sinne, die Krise einmal als Chance zu nut- Der Kollege Heilmann hat an dieser Stelle recht: Die- zen – gut aufgestellt, die Arbeitsplätze in Deutschland ser Antrag bezieht sich in überhaupt keiner Weise auf die innovativ zu nutzen, um ökologische Probleme sozial Situation, in der sich die maritime Wirtschaft im Augen- und auf einem hohen technischen Standard zu lösen. Es blick befindet. In dem Antrag werden Sachen referiert, wäre Aufgabe der Bundesregierung, sich über so etwas (B) die zum Teil völlig richtig sind, die schon immer richtig Gedanken zu machen. (D) waren und die in Zukunft auch richtig sein werden, die mit der Situation heute aber überhaupt nichts, aber auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, gar nichts, zu tun haben. Aber die Staatssekretärin stellt bei der FDP und der LINKEN – Hans-Michael sich hier hin und sagt: Das ist ganz toll, wir haben ein Goldmann [FDP]: Sehr gute Idee!) Kreditvolumen von 200 Millionen Euro für den Schiff- Die Flaggenfrage ist schon angesprochen worden. Die bau in Deutschland. Ich weiß nicht, ob sie schon jemals deutschen Reeder haben international eine machtvolle gehört hat, was es kostet, ein Schiff zu bauen, und um Stellung. Wir sind die „Größten“ auf der Welt, was die welches Volumen es da geht. Die HSH Nordbank ist ei- bereederten Schiffe angeht. Unter deutscher Flagge fährt ner der großen Schiffbaufinanzierer der Welt; sie hat ein allerdings nur eine Minderheit. Deshalb ist das, was Frau Schiffbaukreditvolumen von 100 Milliarden Euro. Wir Wetzel gesagt hat, richtig: Wir müssen uns ehrgeizige haben mit der Bank eine Reihe von Schwierigkeiten. Da Ziele setzen. Die Subventionen, die den deutschen geht es aber um ganz andere Größenordnungen. Mit Reedern gegeben werden, um ihnen einen Vorteil zu ver- 200 Millionen Euro lässt sich jemand aus Saudi-Arabien schaffen, müssen sich in von Deutschland bereederten vielleicht eine Jacht bauen, aber damit lässt sich nicht Schiffen niederschlagen. Es müssen Arbeitsplätze auf die internationale Schiffswirtschaft ankurbeln. Diese Schiffen unter deutscher Flagge geschaffen werden, auf Bundesregierung ist hinsichtlich der Kriterien, um die es denen die ökologischen und sozialen Standards einge- eigentlich geht, jenseits von Gut und Böse. halten werden. Das ist eine soziale Politik. Eine solche Politik wird von uns immer unterstützt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich will das an einem Beispiel noch einmal deutlich machen. Frau Wöhrl hat ja das Stichwort Abwrackprä- Es ist überhaupt gar keine Frage – da bin ich voll da- mie genannt. Worum geht es? Unser Antrag war damals, bei –, dass wir unsere Forschungsstandorte stärken müs- Frau Wetzel, mit dem Stichwort „Innovationskraft stär- sen. Wir haben weltweit führende Forschungsstandorte: ken!“ überschrieben. Ich glaube, wir sind uns alle einig, IFM-GEOMAR in Kiel und AWI in Bremerhaven. Wir dass das richtig ist. Bei dem Stichwort Abwrackprämie haben dort eine hervorragende technische Ausrüstung. möchte ich zu bedenken geben, dass wir – anders als bei Diese Institute sind weltweit Klasse. Wir müssen das dem, was die Bundesregierung mit den Autos macht – auch bei der Ressourcenförderung nutzen. Ich finde, das beim Schiffsabwracken ein echtes globales ökologisches ist eine wichtige Aufgabe. Wir Grüne sagen: Ja, man und soziales Problem haben. Denn zwei Drittel der muss darüber reden. Wir wollen aber auch über die Kri- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23207

Rainder Steenblock (A) terien und die Bedingungen diskutieren. Gashydrate sind Gegenruf des Abg. Rainder Steenblock (C) nicht automatisch die beste Antwort auf die Energie- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Problem krise. Das Gefahrenpotenzial ist nämlich sehr groß. ist nicht, wie sie reinkommen, sondern das Trotzdem muss man sich diesen Fragen nähern. Problem ist, wie sie rauskommen!) Lassen Sie mich ein Letztes dazu sagen, wie man diese Krise als Chance nutzen kann. Wir haben schon Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: vor der Krise bei den Frachtraten eine fallende Tendenz Nächster Redner ist der Kollege Clemens Bollen für gehabt. Man hat schon vor der Krise mit Schiffen kaum die SPD-Fraktion. noch Geld verdient, eben weil es strukturelle Probleme (Beifall bei Abgeordneten der SPD) in diesem Bereich gibt. Deshalb ist es natürlich wichtig, unsere Häfen auszubauen. Wir müssen die Verkehre ver- nünftig organisieren. Clemens Bollen (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wie wollen Papenburg und Leer liegen gar nicht so weit auseinan- Sie denn reinkommen?) der, lieber Rainder Steenblock. Ich komme aus der Re- Dazu sage ich Ihnen Folgendes: Wir führen seit Jah- gion Leer, Papenburg. Insofern kenne ich die Wege. ren eine Debatte über die Hinterlandanbindung der Hä- Ich freue mich, dass bei der Frage der maritimen fen. Wir kommen aber überhaupt nicht voran. Wir müs- Wirtschaft ein so großer Konsens besteht. sen die Waren nicht nur in die Häfen schaffen, sondern sie auch aus den Häfen rausschaffen. Jeder, der weiß, (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: was in den Häfen passiert, weiß auch, dass das Problem Das ist richtig!) darin besteht, die Waren aus den Häfen herauszubekom- Da ich die Gesamtentwicklung in der Werftindustrie men. über Jahre hinweg aus verschiedenen Perspektiven ver- (Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Sie verhindern doch folgen durfte, weiß ich, dass das ein ganz wichtiger den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur!) Schritt ist. Ich erinnere mich noch an die Zeiten, in de- nen die Werftindustrie, die heute eine hochmoderne In- Wir haben Hamburg als Eisenbahnhafen. Das ist sehr dustrie ist, in denen der gesamte maritime Bereich als gut. Aber wir brauchen für Hamburg und Bremerhaven Altbereich bezeichnet wurde. eine vernünftige Anbindung an die Eisenbahn. Der Aus- bau der Knotenpunkte – das wissen alle, die sich mit der (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) Materie ein bisschen beschäftigen – ist das zentrale Deshalb bin ich froh darüber, dass wir diesen Konsens (B) Thema. Wir brauchen keine neuen Autobahnen, sondern gefunden haben. (D) müssen die Hinterlandanbindung der Häfen über die Schieneninfrastruktur ausbauen. Die Maritime Konferenz ist nicht irgendeine Konfe- renz. Sie setzt Maßstäbe für die weitere Entwicklung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hans- Michael Goldmann [FDP]: Ja zu Y?) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Hans-Michael – Herr Goldmann, ich weiß das wohl. Ich wurde in Leer Goldmann [FDP]) geboren. Von daher müssen Sie mich nicht katholisch machen. Ich kenne mich an der Küste relativ gut aus, Sicherlich kann man über Details reden. Herr nicht nur in Leer, nicht nur Ostfriesland, sondern auch in Heilmann, ich freue mich, dass wir darüber diskutieren, Hamburg und Schleswig-Holstein. Ich habe dort überall zu welchem Tagesordnungspunkt ein Staatssekretär re- schon gewohnt. Für jemanden aus Papenburg ist das det. Über die Einrichtung eines Workshops können wir vielleicht ein weiter Weg. gerne reden. Ich glaube aber, dass die Kernprobleme größer sind. Deshalb ist unser Antrag, der auch mit „In (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- stürmischer See Kurs halten“ überschrieben werden NEN – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/ könnte, sehr wohl berechtigt. Hier wurde eben die Zahl CSU]: Da kriege ich ja Heimweh!) 1 000 genannt. Sicher ist auf jeden Fall, dass mehr als Es ist nun einmal so, dass wir eine andere Verkehrs- 500 Schiffe aufliegen. Dies zeigt die gegenwärtige dra- infrastruktur brauchen. matische Situation, die uns allen Sorgen macht. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Was sagt ihr Dennoch sind die Perspektiven der maritimen Wirt- denn zur Y-Trasse?) schaft, wie hier bereits deutlich wurde, durchaus gut. Kurzfristig müssen wir natürlich den Herausforderungen Dafür muss Geld ausgegeben werden. Die Leute dürfen begegnen. Mit unserem Antrag versuchen wir beides: nicht länger vertröstet werden. So sieht Gestaltung der das langfristige Wachstum zu ermöglichen, aber auch Zukunft aus. Dann kann man die Krise als Chance nut- kurzfristige Antworten zu geben. Wir haben im Hinblick zen. Das unterstützen wir. auf die Kurzarbeit zeitnah die richtigen Entscheidungen Danke. getroffen, um die Arbeitsplätze bei Unterbeschäftigung zu erhalten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie bei Abgeordneten der SPD – Hans-Michael Beschäftigung, Wertschöpfung und Ausbildung müs- Goldmann [FDP]: Was sagt ihr zur Y-Trasse? – sen bei diesem industriellen Kern für die Zukunft gesi- 23208 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Clemens Bollen (A) chert werden. Allein in der Werftindustrie sind einschließ- wenn in der Krise die Fachkräfte verloren gingen, die (C) lich der Zulieferer über 100 000 Arbeitnehmerinnen und dann, wenn die Konjunktur wieder anspringt, nicht mehr Arbeitnehmer beschäftigt. Das ist eine enorme Zahl. zur Verfügung stünden. So etwas ist schon häufig pas- Viele denken hier nur an die Werften und an die Küste. siert; das darf nicht wieder passieren. Man muss aber auch die Auswirkungen auf das Binnen- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten land sehen, etwa auf die Verlängerung von Schleusen am der CDU/CSU und der FDP) Neckar oder die Motorenproduktion in Süddeutschland. Die Werftindustrie findet eben nicht nur an der Küste Dies gilt natürlich auch für die Ausbildung der Seeleute. statt; das gilt auch für viele andere Teile der maritimen Etwas stärker muss noch betont werden, dass es unter Industrie. Dies muss immer wieder deutlich gemacht den Bedingungen der Wirtschaftskrise sozial gerecht zu- werden. gehen muss. Es darf nicht zu einem Wettlauf kommen, (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der wer die sozialen Standards zuerst drückt. Die Arbeitneh- FDP) merinnen und Arbeitnehmer haben an dieser Krise über- haupt keine Schuld. Sie liefern Qualität und hohe Leis- Was staatliche Investitionen anbelangt, wird von mir tung im maritimen Sektor. der Versuch unterstützt, in dieser Krise Bauaufträge vor- zuziehen. Die Sicherung der Innovationsfähigkeit ist ein (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zentraler Punkt. Eben ist Papenburg angesprochen wor- der CDU/CSU) den. Lieber Michael Goldmann, wir kennen uns dort aus. Deshalb ist es auch Zielsetzung unseres Antrags, die Die Meyer Werft baut modernste Kreuzfahrtschiffe, die Rahmenbedingungen weiterhin zu verbessern, damit weltweit nachgefragt werden. Dieser industrielle Kern auch künftig in diesem Bereich Wertschöpfung herge- für die gesamte Küste – dies gilt auch für andere Werften – stellt werden kann. Dies gilt ebenso für die Stärkung der macht die globale Spitzenposition deutlich. Die damit Häfen. Gerade in unserer Region ist die Verschlickung verbundenen weiteren Technologien sind für die Wirt- ein Problem, das wir im Hinblick auf die Häfen an der schaft von zentraler Bedeutung. Deshalb müssen auch Unterems zeitnah lösen müssen, damit auch diese Häfen die Innovationen, wie in unserem Antrag gefordert wird, weiter gestärkt werden. unbürokratisch gefördert werden. Dies sage ich auch mit Blick auf Staatssekretärin Wöhrl. Es gibt ja auch Bei- spiele dafür, dass es noch Probleme bei der Innovations- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: förderung gibt. Dazu gehört auch, dass im Schiffbau Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit. Tests unabhängig von konkreten Bauaufträgen durchge- Clemens Bollen (SPD): (B) führt werden können; dies ist für das Entstehen von (D) Know-how ganz wichtig. Noch kurz zum Stichwort Offshorewindenergie: Hier handelt es sich um eine Zukunftstechnologie, für die Liebe Kolleginnen und Kollegen, die deutsche See- jetzt alle Rahmenbedingungen geschaffen werden müs- schifffahrt steht ebenfalls vor großen Herausforderun- sen. gen. Dies wurde eben deutlich, als von den Einbrüchen am Weltmarkt die Rede war. Es wurde der Reederei- Zukunftsweisende Technologien fördern, konkrete standort Leer genannt. Aber auch Haren an der Ems ist Stärkung der maritimen Wirtschaft in der Krise bereit- nicht zu vergessen, Hamburg als großer Reedereistand- stellen, die Anliegen der Unternehmen und Beschäftig- ort natürlich auch nicht. ten ausgewogen im Blick haben, das sind die Ziele unse- res Antrages. Ich freue mich, dass wir da so großen (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Und Rhau- Konsens haben. derfehn! – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Und Schleswig-Holstein!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- – Den wichtigen Standort Haren an der Ems wollte ich SES 90/DIE GRÜNEN) doch einmal genannt haben; ihn haben Sie vergessen. An diesen Beispielen wird deutlich, welche Bedeu- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: tung der Logistik zukommt. Auch hierzu noch eine Zahl: Nächster Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Über 2,7 Millionen Menschen sind in der Logistikkette Kollege Eckhardt Rehberg. beschäftigt. Gerade eine umweltfreundliche Transport- (Beifall bei der CDU/CSU) möglichkeit wie die Schifffahrt muss weiterhin unter- stützt werden. Eckhardt Rehberg (CDU/CSU): (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Wolfgang Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abge- Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]) ordnete! Deshalb sind auch die im Maritimen Bündnis für Ausbil- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Fragt ihn dung und Beschäftigung entstandenen Vorschläge umzu- nicht, wo Hansa Rostock jetzt steht!) setzen. Ich mahne in diesem Zusammenhang noch ein- – Das besprechen wir beide nach Mitternacht. mal den Beschäftigungspool an, über den wir seit vielen Jahren reden. Nun ist der Zeitpunkt gekommen, an dem Natürlich hätte man sich für die Maritime Konferenz dieses Vorhaben umgesetzt werden muss. Es wäre fatal, am Sonntag und Montag in Rostock – ich bin sehr froh, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23209

Eckhardt Rehberg (A) dass sie in Rostock stattfindet – etwas schöneres Wetter schiffen zu einem Neuauftragsbestand von nur noch (C) im wirtschaftlichen Bereich wünschen können. Ich 20 Prozent Containerschiffen zu kommen. Das heißt, glaube, dass die Bundesregierung die Realitäten nicht 80 Prozent der Aufträge betreffen nun Spezialschiffe. ausblendet und dass wir das in dem Antrag und insbe- Das bedeutet Zukunft; das ist der richtige Weg. sondere, Kollege Heilmann, auch beim Handeln in den (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und letzten Wochen und Monaten nicht getan haben. der SPD sowie des Abg. Hans-Michael (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Goldmann [FDP]) der SPD) Herr Kollege Steenblock, wer ist die Mutter dieses Das, was Sie hier gerade geboten haben, war mehr als Antrages? Die Mutter dieses Antrages ist der Antrag der peinlich. Koalitionsfraktionen von Februar 2007. Das ist eine Weiterentwicklung. Ich könnte Horrorszenarien beschreiben ohne Ende. Aber schauen wir uns einmal von den vier Werften, die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und leider Insolvenz anmelden mussten, zwei an. Schichau der SPD) Seebeck Shipyard in Bremerhaven ist im Augenblick da- Wenn ich einmal die Anforderungen durchgehe, die bei, sich in den Bereichen Offshore und Reparaturleis- wir uns als Politik gestellt haben, sehe ich: Wir haben die tungen zu diversifizieren. Das ist doch ein vernünftiger Einführung von CIRR durchgesetzt; Schritt. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Gut!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Hans-Michael heute wird CIRR sogar nachträglich für das vorangegan- Goldmann [FDP] – Wolfgang Börnsen gene Jahr gezahlt. Wir haben die FuE-Mittel bis zum [Bönstrup] [CDU/CSU]: Anerkennen, Mut Jahr 2001 verdoppelt. Wir verzichten auf die bedingte machen!) Rückzahlbarkeit von Zuschüssen für die Innovationsför- derung an kleine und mittlere Unternehmen. Wir haben Die Lindenau-Werft hat den größten Doppelhüllentanker jetzt eine dreijährige Aussetzung beschlossen. Das heißt, der Welt noch auf Kiel. Er wird fertig gebaut; dies ge- wir setzen genau an dem Punkt an, wo es wichtig ist, und schieht übrigens mit Unterstützung des Bundes, der zwar nicht nur bei den Werften, sondern auch bei For- KfW. Die Werft ist im Augenblick dabei, einen Auftrag schung, Entwicklung und Innovation. zum Bau eines Fruchtsafttankers zu akquirieren; das ist ein Hightechtanker. Das heißt, wir werden immer Bewe- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: gung haben. Aber wir müssen konstatieren, dass Weiter- Gut!) (B) entwicklung hier möglich, wichtig und richtig ist. (D) Hier setzt der Bund, hier setzen wir gemeinsam als Bun- Ein Weiteres: Natürlich ist es mir lieber, wenn Werft- destag die Rahmenbedingungen. Das ist richtig und ent- eigner eine Telefonnummer in Deutschland haben und scheidend, um den Werften und dem Schiffbau zu hel- deutsch verstehen. Es ist natürlich schwieriger, wenn es fen, damit sie eine gute Zukunft haben. zu 70 Prozent russische Eigentümer sind. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und An dieser Stelle möchte ich, da ich in den Prozess ein- der SPD) gebunden war, auf Folgendes hinweisen: Innerhalb von Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt, jedenfalls Tagen hat die Landesregierung in Mecklenburg-Vorpom- nach meiner Kenntnis, keine vergleichbare Veranstal- mern, weil der KfW-Schirm noch nicht aufgespannt war, tung in Deutschland, bei der es um eine solch große 60 Millionen Euro Darlehen als Zwischenfinanzierung Branche geht. Seit der ersten Konferenz vor zehn Jahren ausgereicht, damit eine RoPax-Fähre für Stena fertigge- hat sich herauskristallisiert, dass die maritime Wirtschaft baut werden konnte. Dieses Darlehen ist mittlerweile eine für ganz Deutschland systemrelevante Industrie und durch den Bund abgelöst worden. ein für ganz Deutschland systemrelevanter Wirtschafts- Hier zu sagen, wir seien für die Krise nicht gewappnet zweig ist. und reagierten in der Krise nicht richtig, ist eine Verhöh- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und nung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. der SPD – Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- DIE GRÜNEN]: Ja! Deswegen hat Rot-Grün neten der SPD und des Abg. Hans-Michael sie gestärkt!) Goldmann [FDP] – Rainder Steenblock Es gehört zur Aufgabe dieser Konferenz, diese Botschaft [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lächerlich!) zu transportieren. Es gibt keinen anderen Bereich, in Wir haben uns sehr wohl dafür eingesetzt. dem Sozialpartner und Politik auf solch kollegiale Art und Weise zusammenarbeiten. Unsere Erfolge sind be- Ich will noch eine Lanze für die deutschen Werften achtlich. brechen. Manche – ich nehme als Beispiel die Volks- werft in Stralsund – waren zu 100 Prozent eine Tochter Kollege Heilmann, natürlich haben wir uns auch mit der größten Reederei der Welt, A. P. Moeller-Maersk. Blick auf die Krise weitere Aufgaben gestellt. Ich will Sie haben natürlich Containerschiffe bauen lassen. Diese nur einige kurz erwähnen: Wir haben schon im Voraus Werft hat es innerhalb von zwölf Monaten geschafft, von dafür gesorgt, dass der Schiffbau aus der Zinsschranke einem Altauftragsbestand von 80 Prozent Container- ausgenommen wird. Wäre der Schiffbau von der Zins- 23210 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Eckhardt Rehberg (A) schranke betroffen, dann hätten die Werften – so sage ich schiff von Kreuzfahrern wieder unter deutscher Flagge (C) voraus – erhebliche Probleme. fahren zu lassen, ist diese Anstrengung wert. (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und GRÜNEN]: Die haben Probleme!) der SPD) Ich bin dem Finanzminister sehr dankbar, dass er sich Ich weiß, dass das Geld kostet; aber wir können nur die- mit diesem Thema insgesamt befassen wird. sen Weg gehen. Deswegen sage ich Ihnen, Herr Kollege Goldmann: Die Reeder dürfen nicht nur vom Stamme Wir wollen sicherstellen, dass die Landesbürgschaf- Nimm sein. ten der Küstenländer nicht von der EU zurückgenommen werden; hier gibt es einen Prüfauftrag. Wir wollen au- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sind sie ja ßerdem dafür sorgen, dass die Entwicklungshilfe auch nicht!) – Stichwort Indonesien – an Aufträge für deutsche Werf- Auch Geben gehört dazu, jedenfalls nach meiner Auffas- ten gekoppelt werden kann. Auch das ist eine Aufgabe sung. der Politik. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall des Abg. Wolfgang Börnsen der SPD) [Bönstrup] [CDU/CSU]) Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie Ich gehe sogar noch weiter. Auch der Marineschiff- mich zum Schluss noch einige Anmerkungen zum Ha- bau im Ausland bringt den deutschen Werften an Nord- fenverkehr und zu den Hinterlandanbindungen machen. und Ostsee Arbeit. Hier sind uns andere Länder ein Auch in diesem Bereich hat der Bund in den letzten Mo- Stück weit voraus. An dieser Stelle spielt selbstverständ- naten das getan, was getan werden musste. Allerdings lich auch das Vorziehen öffentlicher Aufträge eine Rolle. muss ich darauf hinweisen – das tue ich auch im Namen meiner Kollegen aus den nordwestdeutschen Küstenlän- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dern –, dass an dieser Stelle die Landesregierungen Herr Kollege Goldmann, meiner Meinung nach ste- ebenfalls in der Pflicht sind. hen die Reeder in der Pflicht. Die Politik hat mit großer (Dr. Margrit Wetzel [SPD]: So ist es!) Mühe den Lohnsteuereinbehalt durchgesetzt; Stichwort Tonnagesteuer. Das war keine einfache Aufgabe. Sie müssen baureife Projekte vorhalten. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Richtig! Und wir bleiben dran!) der SPD) (B) (D) Es ist egal, welche politische Farbe eine Landesregie- Bei den bisherigen Maritimen Konferenzen gab es im- rung hat: Eine vernünftige Planung kann man nicht in mer ein Geben und Nehmen. Man kann nicht immer nur einem halben Jahr abschließen. Das dauert teilweise vom Stamme Nimm sein, deutlich länger. Ich appelliere an alle norddeutschen (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) Landesregierungen, baureife Projekte vorzuhalten, sprich Planfeststellungsverfahren durchzuführen. An- sondern man muss das, was man zugesagt hat, auch ein- sonsten bringen uns alle Anstrengungen nicht weiter. halten. Nun möchte ich noch gerne das Thema Küstenwache (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie anreißen. des Abg. Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) (Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Ein wichtiges Thema!) Lassen Sie mich an dieser Stelle an den Patriotismus erinnern, den eine große Reederei in Rostock seit Jahren Das Pallas-Unglück ist mittlerweile zehn Jahre her. Bis an den Tag legt. Ich meine die Reederei Aida, die ihre heute wurde in diesem Bereich allerdings nur relativ we- Kreuzfahrtschiffe in Papenburg bauen lässt; drei Auf- nig getan. Ich kann nur an uns alle appellieren, alle ideo- träge stehen übrigens noch in den Büchern. Da auch dies logischen Scheuklappen fallen zu lassen. ein wichtiges Zukunftsfeld ist, haben wir in unserem An- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: trag formuliert, dass die Herstellung von Wettbewerbs- Richtig!) gleichheit in Europa auch mit Blick auf deutsche See- arbeitsplätze von Bedeutung ist. Wir brauchen eine einheitliche Bundesküstenwache, und zwar auf einer sauberen Rechtsgrundlage. Dadurch, dass der italienische Staat Sozialbeiträge (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem und Steuern komplett übernimmt, verliert diese Reederei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) pro Jahr und Schiff – ich möchte den Betrag einmal nen- nen – rund 5 Millionen Euro. Wenn wir also wollen, dass Wir haben im Augenblick eine Menge Probleme im noch mehr Schiffe unter deutscher Flagge fahren, dann Bereich der maritimen Wirtschaft. Es ist aber falsch, besteht unsere Aufgabe darin, „to level playing field“. Horrorszenarien zu entwerfen. Ich kann mich gut an die Wir müssen gemeinsam dafür sorgen – diese Reederei ist Situation in Mecklenburg-Vorpommern in den 90er-Jah- dazu bereit –, dass in Deutschland die gleichen Bedin- ren erinnern: 1992 Werftenprivatisierung, 1996 Vulkan- gungen wie in Italien herrschen. Das Ziel, das Flagg- Krise. Wir haben es jetzt geschafft, die Studierendenzah- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23211

Eckhardt Rehberg (A) len an der Fakultät für Maschinenbau und Schiffstechnik Es kann nicht sein, dass sich jetzt in der Krise ein- (C) der Uni Rostock gegenüber 1999 zu verdoppeln; das hat zelne Arbeitgeber aus der Verantwortung stehlen und zehn Jahre gedauert. Wir sollten eine Zukunftsbranche, den Eindruck erwecken, sich beispielsweise aus der eine Hightechbranche nicht schlechtreden. Auch die Ausbildung junger Menschen zurückziehen zu wollen. Flugzeugindustrie hat Probleme; sie wird aber nicht Ich sage klar und deutlich: Man kann hier sicherlich schlechtgeredet. nicht alle Arbeitgeber über einen Kamm scheren; die Be- triebsräte vor Ort berichten auch von guten Beispielen. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Der Auto- Es gibt aber auch ein paar schwarze Schafe unter den mobilbau!) maritimen Arbeitgebern, über die man auch am kom- Wir sollten zu unserer maritimen Wirtschaft stehen, zu menden Wochenende reden muss. Hierbei geht es um die den Werften, zum Schiffbau, zur Seeverkehr- und Hafen- Themen Rückflaggung, Ausbildung und Beschäftigung wirtschaft, zur maritimen Technologie insgesamt. in Deutschland. Die Zahl der Ausbildungsplätze in der Seeschifffahrt ist über einige Jahre gestiegen; aber in- Wenn man einen Strich darunter macht, erkennt man: zwischen stagniert die Zahl. Hier müssen wir aufpassen Die maritime Wirtschaft erreicht ein Umsatzvolumen und wieder an die Verantwortung der Unternehmen erin- von 54 Milliarden Euro. Insgesamt arbeiten fast 400 000 nern. Menschen in diesem Bereich. Damit handelt es sich um eine wichtige Branche für Ost, West, Nord und Süd. Trotz der Krise muss in Deutschland am Schiffbau festgehalten werden, gerade auch an der Ostseeküste. Ich darf Sie herzlich nach Rostock einladen und Sie Deshalb ist es zu begrüßen, dass die Bundesregierung dort willkommen heißen. auch die Wadan-Standorte in Wismar und Rostock-War- Danke. nemünde unter den Schutzschirm gestellt hat. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Ich begrüße es außerordentlich, dass sich die Koali- FDP) tion in dem vorliegenden Antrag für eine Stärkung des Fährverkehrs – also für die Verlagerung von der Straße Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: auf die Schiffe – ausspricht und dass sie darin die Forde- Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege rung aufgreift, die seewärtigen Zufahrten und die Hafen- Christian Kleiminger für die SPD-Fraktion. hinterlandanbindungen unter Beachtung ökologischer Kriterien bedarfsgerecht auszubauen und zu verbessern. (Beifall bei der SPD) In diesem Zusammenhang ist auch die Verlängerung (B) Christian Kleiminger (SPD): der TEN-Achse von Rostock über die Ostsee bis hin (D) nach Kopenhagen ein notwendiger Schritt. Er hätte auch Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- für mein Bundesland erhebliche Bedeutung, nicht zuletzt legen! Lassen Sie mich zunächst sagen: Ich freue mich als eine Art Ausgleichsmaßnahme für das Projekt einer sehr, dass mit der Sechsten Nationalen Maritimen Kon- Festen Fehmarnbelt-Querung, das ich übrigens – diese ferenz am kommenden Wochenende eines der wichtigs- persönliche Anmerkung sei mir am Schluss an dieser ten maritimen Ereignisse unseres Landes in meinem Stelle erlaubt – mehr denn je für ökologischen und öko- Wahlkreis Rostock stattfindet. Wir alle in der Region, nomischen Unsinn halte. besonders die zahlreichen Beschäftigten in unserer hei- mischen maritimen Industrie, sind gespannt auf die Dis- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des kussionen und die Ergebnisse; denn die maritime Wirt- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Rainder schaft ist in der Tat eines unserer wichtigsten Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Standbeine. Sie bietet viele Chancen auf gute Arbeit Sehr mutig! – Ingbert Liebing [CDU/CSU]: – das wird im Antrag der Koalition aufgegriffen und an- Das ist doch Quatsch! Wer klatscht denn da?) gesprochen – in den Bereichen Schiffbau und Logistik, Offshorewindenergie und alternative Meerestechnolo- Sie sehen, dass es viel Diskussionsstoff gibt, und ich gie, Wissenschaft, Forschung und ökologische Innova- sage: Herzlich willkommen in Rostock! tionen. (Beifall bei der SPD – Rainder Steenblock Wir sehen in unserer norddeutschen Region eine [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für den wichtige Drehscheibe im Ostseeraum, die es nachhaltig Schluss klatsche ich mal mit!) auszubauen und zu stärken gilt. Natürlich hinterlässt die Wirtschafts- und Finanzkrise aber ihre Spuren. Deshalb setzen die Menschen in Rostock, die Betriebsräte, mit Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: denen ich spreche, gerade jetzt auf das maritime Bünd- Ich schließe die Aussprache. nis. Sie fordern gerade jetzt das ein, wofür Kanzler Gerhard Schröder immer klar gestanden hat: Zugeständ- Tagesordnungspunkt 6 a. Wir kommen zur Abstim- nisse an die Eigentümerseite etwa bei der Tonnagesteuer mung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU werden immer klar und deutlich an die Bedingung der und der SPD auf Drucksache 16/12431 mit dem Titel „In Sicherung von Arbeit und Beschäftigung in der Seewirt- der Maritimen Wirtschaft Kurs halten“. Wer stimmt für schaft geknüpft. diesen Antrag? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist damit mit den Stimmen der Koalitions- (Beifall bei der SPD) fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke 23212 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) und Enthaltungen der Fraktion der FDP und der Fraktion von Bilanzen und das Vertrauen in diese Zahlen. Das ist (C) Bündnis 90/Die Grünen angenommen. gerade in diesen Tagen ein wichtiges Signal. Damit zei- gen wir vor allen Dingen auch, dass wir an verschiede- Tagesordnungspunkt 6 b. Interfraktionell wird die nen Stellen dabei sind, Lehren aus der Finanzkrise zu Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/11835 an ziehen – unter anderem eben auch mit dieser Reform des die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Bilanzrechts. schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Aber nicht an allen!) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Zweitens. Wir bauen Bürokratie ab und erleichtern Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- damit die Bilanzierung. Mit diesem Bürokratieabbau regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes wollen wir vor allen Dingen die kleinen und die mittel- zur Modernisierung des Bilanzrechts (Bilanz- ständischen Unternehmen entlasten. Mehr als rechtsmodernisierungsgesetz – BilMoG) 500 000 Unternehmen in Deutschland sind von diesen – Drucksache 16/10067 – Erleichterungen in Bezug auf die Bürokratie betroffen. All diese werden künftig einfacher bilanzieren können, Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- weil wir die Schwellenwerte anheben. schusses (6. Ausschuss) (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Frau Dyckmans, – Drucksache 16/12407 – das ist wirklicher Bürokratieabbau! Sie hören Berichterstattung: wieder nicht zu! – Gegenruf der Abg. Sabine Abgeordnete Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: Wir sind Klaus Uwe Benneter dabei, Herr Benneter!) Mechthild Dyckmans – Nachdem alle Fraktionen mitbekommen haben, dass es Dr. Barbara Höll um Bürokratieabbau geht, können wir ihn auch bezif- Jerzy Montag fern, Herr Kollege Benneter: Nach Berechnungen des Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die Statistischen Bundesamtes gibt es ein Einsparvolumen Linke vor. von 2,5 Milliarden Euro für die deutsche Wirtschaft. Schon das allein ist ein großer Erfolg dieses Gesetzes. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- FDP) (B) (D) sen. Drittens stärkt die Reform das deutsche Recht im inter- Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat nationalen Wettbewerb. Unser bewährtes HGB-Bilanz- Frau Bundesministerin Brigitte Zypries für die Bundes- recht braucht nämlich die Konkurrenz mit den interna- regierung das Wort. tionalen Standards der Rechnungslegung nicht zu scheuen. (Beifall des Abg. Klaus Uwe Benneter [SPD]) (Daniela Raab [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Es bleibt nicht nur eine vollwertige Alternative zu den Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- internationalen Regelwerken, sondern hat auch den ent- legen sowie insbesondere lieber Kollege Benneter! scheidenden Vorteil, dass es die Nachteile dieser Regel- werke vermeidet. Auch das ist ein gutes Ergebnis. (Dirk Manzewski [SPD]: Warum wird er aus- drücklich genannt?) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) – Weil er geklatscht hat. Die großen, börsennotierten Unternehmen orientieren sich heute an den internationalen Standards der Rech- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nungslegung. Für die kleinen und mittelständischen Un- – Sehr schön. ternehmen – also für das Gros der deutschen Kapitalge- sellschaften – sind diese Regelungen aber viel zu Das Gesetz, das wir heute beschließen, ist die größte kompliziert und deshalb nicht brauchbar. Sie können Reform des Bilanzrechts seit mehr als 20 Jahren. Es ist sich weiterhin nach dem deutschen HGB-Bilanzrecht aber nicht nur eine große Reform – solche Reformen richten, das ihnen ein kostengünstiges und bewährtes sind wir hier in letzter Zeit vom Rechtsausschuss ja ge- Regelwerk an die Hand gibt. wöhnt –, sondern es ist vor allen Dingen auch eine gute Reform; solche Reformen sind wir vom Rechtsausschuss Die Handelsbilanz wird aber in Zukunft durch unsere allerdings auch gewöhnt. Reform aussagekräftiger. Ich will dazu nur zwei Bei- spiele nennen. Zum einen ermöglichen wir mit dieser (Beifall bei der SPD) Reform, künftig selbstgeschaffene immaterielle Vermö- gensgegenstände des Anlagevermögens in der Bilanz zu Wir erreichen mit dieser Reform dreierlei: aktivieren. Das betrifft zum Beispiel Patente. Diese Ver- Erstens. Wir verschärfen die Regeln für die Offenle- mögenswerte sind dann kein totes Kapital mehr, sondern gung von Risiken. Damit stärken wir die Aussagekraft man kann beziffern, wie sie kapitalisiert werden könn- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23213

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) ten, und es entsprechend in der Bilanz ausweisen. Zum (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP (C) anderen werden wir künftig die Rückstellungen für an- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) stehende Verpflichtungen realistischer bewerten. Die neuen Bilanzierungsregeln müssen ab 2010 ange- Zur Verbesserung der Aussagekraft gehört auch, dass wandt werden. Wer möchte, kann sie schon für das Jahr die wirtschaftlichen Risiken bei sogenannten Zweckge- 2009 nutzen. Wir sind deshalb so eilig und haben den sellschaften künftig besser aufgedeckt werden müssen. Bundesrat um Fristverkürzung gebeten, weil die Erleich- Gerade im Zusammenhang mit der Finanzmarktkrise terungen für die kleinen und mittelständischen Unter- war ein relevanter Punkt, dass man nicht richtig ein- nehmen sogar noch rückwirkend für das Bilanzjahr 2008 schätzen konnte, womit bei den Zweckgesellschaften gelten sollen. Das scheinen wir zu erreichen. Soweit ich noch zu rechnen war. Das war in der Bilanz ganz hinten höre, ist der Bundesrat mit einer Fristverkürzung einver- im Anhang im Kleingedruckten versteckt, das keiner standen, sodass das Gesetz rechtzeitig in Kraft treten mehr richtig gelesen hat. Das muss geändert werden. kann. Deswegen haben wir entschieden, dass die Zweckgesell- Ich danke Ihnen noch einmal für die konstruktiven schaften künftig in die Bilanz selbst aufgenommen wer- Beratungen und hoffe, dass alles, was wir uns von die- den müssen. Das ist gerade im Lichte der Finanzmarkt- sem Gesetz versprechen, tatsächlich realisiert wird. krise ein wichtiger Schritt, bei dem das Haus noch über den Regierungsentwurf hinausgegangen ist. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Eine weitere Änderung gegenüber dem Regierungs- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: entwurf betrifft die Fair-Value-Bewertung von Finanz- Die Kollegin Mechthild Dyckmans hat jetzt das Wort instrumenten. Nach den Beratungen im Deutschen Bun- für die Fraktion der FDP. destag wird diese Zeitwertbewertung für normale Handelsunternehmen gestrichen. Sie bleibt also auf die (Beifall bei der FDP) Kreditinstitute beschränkt. Mechthild Dyckmans (FDP): (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- NEN]: Leider!) legen! Vorweg möchte ich mich ganz herzlich bei den Berichterstattern aller Fraktionen und den Mitarbeitern Dafür ist sie nach wie vor sinnvoll. Wir wollen aber aus dem BMJ für die vertrauensvolle und gewinnbrin- keine Schönwetterbilanzierung und haben deshalb einen gende Arbeit bedanken. Diese Arbeit wurde der heraus- Sicherheitsabschlag vorgesehen. ragenden Bedeutung dieses Gesetzesvorhabens gerecht. (B) Als weitere Konsequenz aus der Finanzmarktkrise Gerade weil verschiedene Änderungswünsche – auch (D) werden Kreditinstitute verpflichtet, einen Teil ihres Han- der FDP-Bundestagsfraktion – berücksichtigt wurden, delsgewinns künftig in ein bilanzielles Sicherheitspolster wird meine Fraktion diesem Gesetzentwurf zustimmen. einzubringen. Dazu führen wir einen Sonderposten ein, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) der für die Ausschüttung gesperrt ist. Diese Rücklage wird gebildet, wenn man Gewinne macht, damit sie in Die FDP-Bundestagsfraktion spricht sich seit langem Zeiten, in denen es dem Unternehmen schlecht geht, ka- für ein modernes Handelsrecht aus. Ich selbst habe ziem- pitalisiert werden kann. Diesen Zusammenhang kennen lich bald, nachdem ich in den Deutschen Bundestag ge- wir alle: Spare in der Zeit, dann hast du in der Not. – Das wählt worden war, die Frage an das Justizministerium soll künftig auch für die Gesellschaften gelten. gestellt, wie es mit dem BilMoG weitergeht. Es hat lange gedauert, aber endlich liegt ein Gesetzentwurf Wir haben gerade über diesen Punkt mit den Bericht- vor. Ziel des Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes ist, erstatterinnen und Berichterstattern intensiv beraten. die bewährte HGB-Bilanz zu einer dauerhaften und im Uns allen war dabei sehr wichtig, dass wir die Attraktivi- Verhältnis zu den internationalen Rechnungslegungs- tät der deutschen Kreditinstitute nicht beeinträchtigen. standards vollwertigen, aber kostengünstigen und ein- Ich glaube, wir haben eine gute Lösung gefunden, die facheren Alternative weiterzuentwickeln. Dabei sollen die Kreditinstitute nicht überfordert, aber gleichzeitig die Eckpunkte des HGB-Bilanzrechts und das bisherige deutlich macht, dass wir aus dem, was wir zurzeit erle- System beibehalten werden. Die HGB-Bilanz bleibt also ben, Lehren ziehen. grundsätzlich Grundlage der Ausschüttungsbemessung und der steuerlichen Gewinnermittlung. Es geht mit an- Ich bin den Berichterstatterinnen und Berichterstat- deren Worten darum, das deutsche Bilanzrecht zu einem tern für die konstruktive Zusammenarbeit in diesem und Vorbild für Europa weiterzuentwickeln. Dieses Ziel ist in allen anderen Punkten sehr dankbar. Auch für das Bi- richtig und wichtig und wird von der FDP voll unter- lanzrechtsmodernisierungsgesetz gilt die Struck’sche stützt. Formel: Kein Gesetzentwurf kommt so aus dem Bundes- (Beifall bei der FDP) tag heraus, wie er hineingegangen ist. Es waren immer sehr konstruktive Beratungen, für die ich mich bedanken Darüber hinaus sollen Unternehmen – die Frau Bun- möchte. Ich möchte mich auch bei Herrn Dr. Ernst aus desministerin hat es schon gesagt – von unnötigen Kos- meinem Hause bedanken, der dieses Vorhaben vorberei- ten entlastet werden. Der Druck, der auf vielen Unter- tet und immer intensiv und sachkundig begleitet hat. nehmen liegt, neben den deutschen Bilanzregeln auch Vielen Dank dafür! die internationalen Rechnungslegungsstandards anzu- 23214 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Mechthild Dyckmans (A) wenden, ist enorm. Die internationalen Standards sind Das ist ein gutes Gesetz, aber eines ist uns nicht (C) für den deutschen Mittelstand aber der falsche Weg. gelungen: Wir haben kein von der Rechtssprache her Auch die geplanten internationalen Standards für kleine verständliches Gesetz gemacht. Bei einigen Paragrafen und mittelständische Unternehmen sind nicht zielfüh- und den darin vorgesehenen Verweisungen wird sich der rend, weil sie viel zu kompliziert sind. Besonders her- Anwender erst eine Übersichtsskizze machen müssen, vorzuheben sind für die FDP-Bundestagsfraktion die Re- damit er überhaupt weiß, was gemeint ist. Aber wenn am gelungen im BilMoG, die zu einer Deregulierung und 1. April 2009 der Redaktionsstab Rechtssprache im Bun- einer Kostensenkung bei mittelständischen Unterneh- desjustizministerium seine Arbeit aufnimmt – ich hoffe, men führen. Die Frau Justizministerin hat schon gesagt, dass das nicht nur ein Aprilscherz ist, Frau Bundesjustiz- dass es hier erhebliche Einsparungen für die Unterneh- ministerin –, dann wird das, so hoffe ich, besser werden. men geben wird. Es wird also zu tatsächlichen Entlas- tungen des Mittelstandes kommen. Das begrüßen wir Schönen Dank. sehr. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Klaus (Beifall bei der FDP) Uwe Benneter [SPD] – Jerzy Montag [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Da bin ich mir nicht Das BilMoG hat insbesondere im Umfeld der Finanz- so sicher!) marktkrise eine Bedeutung erlangt, die weit über das In- teresse der reinen Fachöffentlichkeit hinausgeht. Zu nen- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nen sind hier zwei Stichworte: zum einen die Die Kollegin Antje Tillmann spricht jetzt für die Zweckgesellschaften und zum anderen die Fair-Value- CDU/CSU-Fraktion. Bewertungen. Die Verhandlungen über diese beiden Punkte erwiesen sich als äußerst schwierig. Hier war die (Beifall bei der CDU/CSU) Sachverständigenanhörung sehr hilfreich. Selten waren wir so auf fachlichen Rat angewiesen. Deshalb herzli- Antje Tillmann (CDU/CSU): chen Dank an alle Sachverständigen! Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/ Manchmal bedauern wir, dass Demokratie so langwierig CSU und der SPD) ist. Beim BilMoG war es ganz gut, dass wir seit 2007 diskutiert haben, weil wir die Erfahrungen aus der Beim Rückblick auf die Entstehung der Finanzmarkt- Finanzmarktkrise heute mit in die Diskussion über die- krise rückte ein Problem sehr schnell in den Mittelpunkt. ses Gesetz aufnehmen konnten und weil es seitdem um Den findigen Bankern und Juristen war es gelungen, die internationalen Rechnungslegungsstandards für mit- (B) Risiken aus der Bilanz des Mutterunternehmens heraus- telständische Unternehmen sehr ruhig geworden ist. (D) zunehmen und diese Risiken in sogenannte Zweck- Kein Mensch redet mehr davon, dass auch kleine und gesellschaften auszulagern. Damit erfolgte nicht nur eine mittlere Unternehmen diese Rechnungslegungsstandards Bereinigung der eigenen Bilanz, sondern diese Zweck- anwenden. Der Wertansatz des HGB ist deutlich in den gesellschaften waren oftmals auch der deutschen Banken- Vordergrund gerückt. Das ist gut so, und das führt dazu, aufsicht entzogen. Die im Regierungsentwurf zunächst dass wir heute ein Gesetz verabschieden werden, das ge- vorgesehene Erweiterung des Konsolidierungskreises rade kleinen und mittelständischen Unternehmen sehr und damit die Pflicht der Einbeziehung von Zweck- gute Hilfen bietet, zum Bürokratieabbau beiträgt und gesellschaften ging uns nicht weit genug. Wir konnten trotzdem dazu führt, dass Chancen und Risiken in der im Rahmen der Berichterstattergespräche wesentliche Bilanz ausgewiesen werden. Änderungen durchsetzen. Diese werden zwar nicht dazu führen, dass es in Zukunft unmöglich sein wird, Risiken Wir haben seit Beginn dieser Debatte viele Paragrafen zu verlagern – es wird immer Findige geben, die neue des Gesetzes immer wieder durcheinandergewirbelt. Ich Ideen haben –, aber die Verlagerung von Risiken wird möchte mich bei Ihnen, Herr Dr. Ernst, bedanken, dass Sie künftig so weit wie möglich erschwert. das immer mitgemacht haben, dass Sie uns die Vor- und Nachteile jedes neuen Gedankens, den wir formuliert ha- Eine weitere wichtige Änderung, die wir mit Blick ben, aufgezeigt und dass Sie Formulierungsvorschläge auf die Finanzmarktkrise vorgenommen haben, betrifft gemacht haben. die Fair-Value-Bewertung von Finanzinstrumenten. Für einfache Handelsunternehmen bleibt es bei dem Vor- Das Gesetz, das heute vorliegt, ist ein gutes Gesetz. sichtsprinzip des deutschen Handelsgesetzbuchs. Das Es bleibt bei den Deregulierungsmaßnahmen, die schon heißt, es gibt keine Bewertung nach dem beizulegenden im ursprünglichen Referentenentwurf vorgesehen waren. Zeitwert. Aber auch für den Bereich der Banken kam es Wir werden 500 000 Einzelkaufleute um knapp 1 Mil- zu erheblichen Einschränkungen. Einen vollständigen liarde Euro pro Jahr entlasten, weil für die Buchführungs- Verzicht auf die Fair-Value-Bewertung zu fordern, war und Bilanzierungspflichten andere Kriterien gelten als weder möglich noch sinnvoll; denn zum einen entspricht bisher. Wir werden 7 400 Kapitalgesellschaften von Büro- sie schon heute den internationalen Standards, zum ande- kratiekosten in Höhe von 300 Millionen Euro entlasten, ren hätten wir unseren Banken im internationalen Wett- weil wir die Größenklassen neu ordnen. Mehr Unterneh- bewerb sehr geschadet, wenn wir das gemacht hätten. men als bisher kommen in den Genuss der Erleichterun- Wir haben allerdings zwei Sicherungsstufen eingebaut, gen, die für kleine und mittelgroße Kapitalgesellschaften nämlich den Risikoabschlag und die Ausschüttungs- gelten, nämlich dass sie zum Beispiel den Jahresabschluss sperre, die die Frau Justizministerin schon erwähnt hatte. nicht von einem Abschlussprüfer prüfen lassen müssen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23215

Antje Tillmann (A) Die erstmalige Anwendung dieser begünstigenden wir das rückgängig gemacht hätten. Wir werden zwei (C) Vorschrift haben wir praxisgerecht gestaltet. Es kann Sicherheitsposten einführen. Der eine, der Risikoab- durchaus sein, dass wir diese Erleichterungen am Ende des schlag – er ist schon im Gesetz verankert –, wird ergänzt Gesetzgebungsverfahrens sogar schon für das Bilanzjahr durch den Sonderposten „Fonds für allgemeine Bank- 2008 durchsetzen werden, sodass die Unternehmen in risiken“, auf dem in jedem Geschäftsjahr mindestens der jetzigen wirtschaftlichen Krise zusätzliche finanzielle 10 Prozent der Nettoerträge des Handelsbestands aus Mittel zur Verfügung haben. Finanzinstituten – bis zu einer Summe von 50 Prozent der Erträge – zu sammeln sind, sodass diese Institute we- Wir verbessern aber auch die Aussagekraft der Bilanz sentlich besser ausgestattet in die nächste Krise gehen erheblich, um sie damit auch international wettbewerbs- können. fähig zu machen. Es wird künftig möglich sein, Patente, Know-how, Ideen von Start-up-, IT- oder Medienunter- Wir haben uns auch entschieden, bei Finanzinstituten nehmen in der Bilanz auszuweisen. Diese Entwicklungen das Umwidmungsverbot fallen zu lassen. Wenn Banken sind das Potenzial dieser jungen Unternehmen, und sie sich entscheiden, Finanzinstrumente nicht mehr zum können in der Bilanz gezeigt werden, was natürlich erleich- Handel vorzusehen, wird es künftig möglich sein, dass tert, sich am Markt kostengünstig Kapital zu beschaffen. Im diese Instrumente vom Handelsbestand in das Anlage- Interesse des Gläubigerschutzes ist es aber richtig, dieses vermögen umgewidmet werden und damit wesentlich Bilanzierungswahlrecht bei den immateriellen Wirtschafts- weniger scharfen Bewertungsfortschritten unterliegen. gütern mit einer Ausschüttungssperre zu verbinden. Hier Das ist in dieser Krise in der Europäischen Union kurz- sind wir dem alten Grundsatz des Handelsgesetzbuches fristig bei den IFRS geschehen. Wir werden im Gesetz treu geblieben. Das Vorsichtsprinzip ist ein wesentlicher verankern, dass diese Möglichkeit in schwierigen Situa- Maßstab. tionen besteht, etwa wenn der Markt zusammenbricht. Die Aussagekraft der Bilanz wird auch dadurch erhöht, Viele andere im Gesetz verankerte Maßnahmen gründen dass wir die Rückstellungen künftig praxisnäher bewerten. sich auf EU-rechtliche Vorgaben. Wir haben Richtlinien Die Art, wie Rückstellungen bilanzrechtlich behandelt umgesetzt, zum Beispiel hinsichtlich des Unternehmens- wurden, war immer öffentlicher Kritik ausgesetzt, weil in führungsberichtes und zur Errichtung von Prüfungsaus- der Bilanz nie der tatsächliche Wert ausgewiesen werden schüssen. Diese Themen waren offensichtlich so unstreitig, konnte. Künftig werden Rückstellungen mit realistische- dass sie in der Debatte keine große Rolle mehr gespielt ren Werten und dabei zu erwartenden Preis- und Kosten- haben. Wir werden das eins zu eins umsetzen, um im steigerungen bewertet, umgekehrt aber marktgerecht Gesetz keine zusätzlichen Belastungen für Unternehmen abgezinst. Um die Auswirkungen der Bewertung bei zu forcieren. Pensionsverpflichtungen auf die Unternehmen abzumil- (B) (D) dern, lassen wir eine Übergangszeit von 15 Jahren zu, in Ich glaube, dass wir mit der heute zu verabschiedenden denen diese Bewertung vorgenommen werden kann. Da- HGB-Reform eine gute Grundlage gelegt haben, interna- durch werden die Unternehmen in der jetzigen Krise tional wettbewerbsfähige Bilanzrichtlinien zu schaffen nicht unnötig finanziell belastet. und unseren kleinen und mittelständischen Unternehmen den Druck zu nehmen, IFRS anzuwenden. Wir sollten Mir als Steuerpolitikerin ist klar, dass mit dieser realis- diese Schritte jetzt zügig umsetzen und damit den Unter- tischen Bewertung in der Handelsbilanz der Druck steigen nehmen die Möglichkeit bieten, ihr Vermögen, ihr Kapital wird, auch in der Steuerbilanz realistische Werte anzuset- in der Bilanz offen auszuweisen, positiv auszuweisen zen. Das wird auf der Tagesordnung des Finanzausschus- und damit im Wettbewerb standzuhalten. ses bleiben müssen. Heute werden wir aber das HGB re- formieren, und darauf sollten wir uns konzentrieren. Ich danke Ihnen. Anders als im Regierungsentwurf vorgesehen, haben (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) wir uns hinsichtlich der Frage „Zeitwertbewertung bei Unternehmen, die keine Kreditinstitute sind“, entschieden. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der sogenannte Fair Value ist in der Finanzmarktkrise Die Kollegin Dr. Barbara Höll hat jetzt das Wort für zum Angstfaktor geworden. Ich gebe gerne zu, dass auch die Fraktion Die Linke. wir ein bisschen vorsichtiger geworden sind, als wir es zu Beginn der Krise gewesen wären. Wir haben uns ent- (Beifall bei der LINKEN) schieden, im allgemeinen Teil des HGB, also in dem Teil, der auch für Nichtbankinstitute anzuwenden ist, auf Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): eine Fair-Value-Bewertung zu verzichten, auch wenn wir Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! uns dann die Frage gefallen lassen müssen, warum das- Für die Modernisierung des Bilanzrechts erwies sich die selbe Wertpapier in einem Industrieunternehmen künftig Finanzkrise als Segen. Vor zwei Jahren begonnen, sollte anders bewertet werden soll als in einer Bank. Wir sind sie zur Entbürokratisierung der Rechnungslegung, zur sicher, so die Finanzmarktkrise durch Bewertungsverän- Anpassung an die internationale Rechnungslegung und derungen nicht noch zu verschlimmern. zur Öffnung der guten, alten HGB-Bilanz dienen. Bei Kreditinstituten haben wir uns anders entschieden. Die Bilanzierung nach dem Handelsgesetzbuch mit Kreditinstitute haben Finanzinstrumente schon bisher ihrem Vorsichtsprinzip galt als überholt. Zwar birgt die mit dem beizulegenden Wert bewertet. Es wäre ein Wett- HGB-Bilanz ebenfalls Probleme, zum Beispiel die bewerbsnachteil für deutsche Institute entstanden, wenn Möglichkeit zur Ansammlung stiller Reserven, die oft 23216 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Dr. Barbara Höll (A) unversteuert bleiben, aber trotzdem hat sie viel für sich. diese Risiken nicht in seiner Bilanz. Die wirtschaftliche (C) Im Kern sollte sie entsorgt werden, weil sie ein Hemm- Situation stellt sich somit positiver dar, als sie es tatsäch- nis bei der Profitmaximierung insbesondere bei Banken lich ist. Genau diese Intransparenz macht den Charme darstellt. Noch vor einem Jahr konnten die Banken dank von Zweckgesellschaften aus. Ins Gerede gekommen des Fair-Value-Ansatzes bei der Bewertung der Finanz- sind diese Zweckgesellschaften insbesondere im Zusam- instrumente in ihrem Handelsbestand mit ihren Bilanzen menhang mit dem Handel von forderungsbesicherten glänzen. Die Marktwerte überboten stets die Anschaf- Wertpapieren, den sogenannten ABS, durch die Banken. fungspreise. Dadurch entstanden ganz massiv nicht Banken lagerten so im großen Stil ihre Forderungen an realisierte Gewinne, Buchgewinne, die sich bei steigen- Zweckgesellschaften aus und blendeten damit das Aus- den Marktpreisen noch weiter erhöhten. Bankmanager, fallrisiko aus ihrer eigenen Bilanz aus. Analysten und Anleger wollten erreichte Gewinnhöhen immer weiter überbieten. Dadurch waren sie zu immer Zwar müssen Zweckgesellschaften nach den inter- riskanteren Geschäften bereit. Der Übermut, die Gier nationalen Rechnungslegungsvorschriften – IAS – seit und ihre Bonuszahlungen trieben sie an. 2003 bei ihren Initiatoren konsolidiert werden, wenn diese die Mehrheit der Risiken und Chancen tragen. Doch was bis dahin ein Segen für die Geldbörsen von Trotzdem bestätigen Praktiker, dass vor allem durch so- Bankmanagern und Aktionären war, erwies sich zwi- genannte Silokonstruktionen genau diese Vorschrift um- schenzeitlich als Fluch. Durch die Finanzkrise und die Be- gangen wurde. Das große, böse Erwachen kam mit dem wertung nach dem Fair Value entstand bei den Banken ein Crash. Der Gestaltungswut der Banken und ihrer Berater immenser Abschreibungsbedarf. In den Bilanzen befand wollen wir einen Riegel vorschieben. Deshalb unterbrei- sich plötzlich wertloser Schrott, der die Kreditvergabe der ten wir Ihnen heute nochmals einen Änderungsantrag Banken an die Wirtschaft gefährdete und gefährdet. zum § 290 HGB. Vor diesem Hintergrund ist es nur konsequent, dass Vor wenigen Tagen versprach Frau Merkel den Ban- wir alle einen Gang zurückgeschaltet haben und auch Sie ken, ihnen mehr Spielraum bei der Bilanzierung einzu- sich wieder auf den sicherheitsorientierten Ansatz des räumen. Aber damit kehrt die Krise an ihren Ausgangs- Handelsbilanzrechts besonnen haben. punkt zurück, die durch überbewertete Aktiva bei den Banken ausgelöst wurde. Es war ein atemberaubendes (Beifall bei der LINKEN) Tempo, mit dem im Herbst vergangenen Jahres bei den Deshalb begrüßen wir auch wichtige Änderungen, die Bilanzierungsregeln für Banken vom Prinzip des Fair im Gesetzgebungsprozess vorgenommen wurden. Dazu Value abgewichen wurde. Die Deutsche Bank konnte zählt erstens, dass bei Nichtbanken auch zukünftig Finanz- durch diesen Schritt allein im dritten Quartal ihr Vorsteu- (B) instrumente nur mit ihren Anschaffungskosten bilanziert erergebnis um gut 900 Millionen Euro verbessern. Wenn (D) werden sollen. Zweitens gehört dazu, dass es bezüglich man aber die Geister, die man rief, wieder loswerden der Aktivierung von selbsterstellten immateriellen Wirt- will, warum hat man sie erst gerufen? schaftsgütern – ebenfalls den IAS entlehnt – bei einem Zweifellos können mit bilanzrechtlichen Vorschriften Wahlrecht bleiben soll. Drittens zählen dazu der Risiko- Finanzkrisen weder verhindert noch verursacht werden. abschlag für Finanzinstrumente des Handelsbestandes bei Aber Bilanzierungsregeln können Krisen verstärken. Die Banken sowie die ausschüttungsgesperrte Zwangsrück- lage, die diese nach der Neufassung des § 340 e HGB zukünftige Debatte über Bilanzierungsregeln darf des- halb auch nicht davon bestimmt sein, Banken zu ver- künftig bilden müssen. Zwar wird mit der letztgenannten sprechen, ihre Bilanzen nach Bedarf gestalten zu kön- Änderung die Zwangsrücklage Kernkapital der Banken – dies kann das Anliegen einer besseren Risikovorsorge nen. Nicht die Bedürfnisse von Couponschneidern oder Bankmanagern müssen die Debatte bestimmen. Viel- konterkarieren –, allerdings schiebt die dazu verankerte mehr geht es darum, Bilanzen wieder auf den Gläubiger- Regelung immerhin einen Riegel vor, indem nicht reali- sierte Gewinne nicht in Gänze ausgeschüttet werden schutz – Lieferanten und Kreditgeber – auszurichten. können und die Banken über diesen Teil ihres Eigen- In diesem Zusammenhang stehen für uns in der kapitals keine Verfügungsmacht haben. Nach Abwägen nächsten Zeit drei Schwerpunkte im Mittelpunkt. Ers- des Für und Widers können auch wir damit leben. tens. Bilanzen müssen vollständig sein, sie müssen alle Dies sind aus unserer Sicht positive Ansätze. Wichtig Chancen und Risiken der Unternehmen abbilden. Zwei- ist aber auch, für Transparenz in den Bilanzen der Banken tens. Die Rechnungslegung sollte wieder verstärkt eine und Unternehmen zu sorgen sowie deren Risikostrukturen Kontrollfunktion bezüglich der wirtschaftlichen Situa- offenzulegen, um nicht erneut böse Überraschungen wie tion der Unternehmen ausüben. Drittens. Die Bewer- bei IKB und HRE zu erleben. tungsprinzipien müssen einfach, transparent und gestal- tungsneutral sein. Insbesondere unter dem Aspekt der Transparenz geht uns die Reform des Bilanzrechts nicht weit genug. Sie Aus diesem Grund werden wir dem Gesetzentwurf haben, ebenfalls unter dem Schock der Finanzkrise, die nicht zustimmen können, obwohl er einige richtige As- Bilanzierung von sogenannten Zweckgesellschaften im pekte enthält. Wir werden sicherlich weiterhin gemein- HGB eingeführt. Zweckgesellschaften dienen dem Initia- sam in der Diskussion bleiben. tor dazu, bestimmte Unternehmensrisiken zu übernehmen, Ich danke Ihnen. zum Beispiel Verbindlichkeiten oder Forderungen; obwohl er über komplizierte Verträge finanziell haftet, stehen (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23217

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: bei Marktpreisen über den Anschaffungskosten eine (C) Jetzt spricht Jerzy Montag für Bündnis 90/Die Grü- Luftbuchung in die Bilanz gebracht. Nicht realisierte nen. und vielleicht auch nie zu realisierende Werte werden wie real existierende Habenposten bewertet. So aufge- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): hübschte Bilanzen entfernen sich radikal von der ord- nungsgemäßen Buchführung des HGB. In der heutigen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Situation der Finanzmärkte und in der heutigen Debatte Die Bilanzrechtsmodernisierung ist ein erkennbar tro- über eine Wirtschaftskrise wirken sie wie Öl, das man ckenes Thema. Gleichwohl ist es ein sehr wichtiges. Die ins Feuer gießt. Solchen Neuerungen stimmen wir Grü- deutsche handelsrechtliche Rechnungslegung als Grund- nen auf keinen Fall zu. lage für die steuerliche Gewinnermittlung und die Ge- winnausschüttung, errichtet nach den Grundsätzen einer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ordnungsgemäßen Buchführung, steht erkennbar unter Druck. Die Koalition ist hier auch zurückgerudert und hat die Fair-Value-Bewertung für Handelsunternehmen wieder Auf der einen Seite gibt es Rechnungslegungsrege- zurückgenommen. Dort aber, wo sie am gefährlichsten lungen aus den USA – US-GAAP –, auf der anderen ist, bei den mit Finanzinstrumenten handelnden Banken, Seite gibt es die IFRS-Regelungen der Europäischen ist sie im Gesetz geblieben. Das ist ein Fehler, meine Da- Union, die wir 2004 auch für kapitalmarktorientierte Un- men und Herren. Das weiß die Koalition auch, weshalb ternehmen in Deutschland zur Pflicht gemacht haben. sie zwei – allerdings nicht ausreichende – Bremsen ge- Durch diese beiden Regelungen stehen alle international gen das Spiel mit Buchgeld in der Bilanz der Banken tätigen Unternehmen in Deutschland – bis hin zum Ein- eingebaut hat. Vom virtuellen Marktwert soll ein Sicher- zelhandelskaufmann – mehr oder weniger unter dem heitsabschlag abgezogen werden. Also kommt Fair Druck, neben der HGB-Bilanz auch noch freiwillig ei- Value minus X in die Bilanz. Nur leider ist die Höhe die- nen dieser beiden oder gar beide Abschlüsse zu machen. ses X gesetzlich nicht fixiert. Die weltweite Finanzkrise – wie von den Vorrednerin- (Christoph Strässer [SPD]: Dann ist es auch nen und Vorrednern bereits angesprochen – hat eines of- kein X!) fengelegt: Insbesondere die internationalen Rechnungs- Das ist ein Manko. Von den realen Gewinnen beim Han- legungsstandards haben es ermöglicht, dass Risiken aus del mit Finanzinstrumenten müssen die Banken 10 Pro- den Bilanzen ausgelagert worden sind. Ich verweise an zent in einen Fonds für allgemeine Bankrisiken einzah- dieser Stelle nur auf ausgelagerte Risiken im Zusam- len und dort auch gesondert ausweisen. Dies wirkt zwar menhang mit der Hypo Real Estate und der DEPFA, der wie eine Ausschüttungssperre, die dazu dient, dass sich (B) HRE-Tochter in Irland. Wir werden uns mit diesen Pro- (D) die Aktionäre die virtuell gebuchten Gewinne nicht real blemen sogar in einem Untersuchungsausschuss be- auszahlen lassen und damit das Unternehmen nicht aus- schäftigen müssen. räumen können. Der Webfehler bei diesem System ist je- In dieser Situation ist es ein schwieriges Unterfangen, doch, dass dieses Geld – als Sicherheit für die Fair- eine grundlegende Reform des Handelsgesetzbuches zu- Value-Bilanzierung gedacht – gleichzeitig dem Kern- stande zu bringen. Nach unserer Auffassung ist dies im kapital der Banken zugeführt wird und damit der Risiko- Grundsatz gelungen, insbesondere deswegen, weil im absicherung künftiger Kreditausreichungen dient. parlamentarischen Verfahren viele Vorschläge vonseiten Eine Sicherheit für zwei sich addierende Risiken, das der Opposition, auch von uns Grünen, eingeflossen sind. ist eine Mogelpackung an Sicherheit. Damit haben Sie es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) uns, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, letztendlich unmöglich gemacht, dem vorliegenden Ge- Dies ist auch der Grund, weswegen wir dieses Gesetz setzentwurf zuzustimmen. nicht ablehnen. Ich habe nicht die Zeit, Ihnen alle Vor- züge vorzuführen. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Darüber müs- sen wir noch einmal nachdenken!) (Christoph Strässer [SPD]: Das ist aber schade!) Die Verantwortung für zukünftige Bilanzakrobatik der Banken, aufgehübschte Bilanzen und verflüchtigte Das bleibt den Kolleginnen und Kollegen der Koalition Sicherheiten tragen Sie allein. überlassen. Am besten hätte das sicherlich Kollege Merz gekonnt. Leider wird er dazu heute nicht reden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Aber ich höre zu!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt spricht Klaus Uwe Benneter für die SPD-Frak- Aber nun zu der Kritik. Die Bundesregierung wollte tion. eigentlich ursprünglich bei allen Handelsunternehmen die Bewertung von Aktien, Wertpapieren und anderen (Beifall bei der SPD) Finanzinstrumenten vom bisherigen Prinzip der An- schaffungskosten auf das volatile Prinzip des Marktprei- Klaus Uwe Benneter (SPD): ses – euphemistisch und die Tatsachen verschleiernd Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle- „True and Fair Value“ genannt – umstellen. Damit wird ginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! 23218 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Klaus Uwe Benneter (A) Der vorliegende Gesetzentwurf ist gut. Das Gesetz heißt ziehen. Seitens Frau Dr. Höll ist hier schon zu Recht da- (C) Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz. Sie sehen an dem rauf hingewiesen worden, dass an dieser Stelle manipu- Titel, dass wir versuchen, in einem Wort vieles von dem liert wurde, indem Risiken aus der Bilanz ausgelagert unterzubringen, was der Gesetzentwurf beinhaltet. Es wurden. Das wird künftig nicht mehr möglich sein. Der müsste eigentlich noch „Bilanzrechtskostengünstigkeits- sogenannte Schrott wird in den Bilanzen ersichtlich sein gesetz“ oder „Bilanzrechtsvereinfachungsgesetz“ hei- und kann auf diese Weise nicht mehr wegradiert werden. ßen; aber das haben wir in den Titel dann doch nicht mehr aufgenommen. Sie alle haben schon darauf hingewiesen, dass wir ge- genüber dem ursprünglichen Regierungsentwurf in den In allererster Linie ist dieses Gesetz, das wir heute parlamentarischen Beratungen vieles durchgesetzt ha- verabschieden, ein gutes Gesetz für den deutschen Mit- ben. Wir haben erreicht, dass Unternehmen künftig telstand. Es ist auch ein gutes Gesetz für die deutsche einen Konzernabschluss erstellen und einen Konzernla- Bankenlandschaft, Herr Kollege Montag. Die Kredit- gebericht aufstellen müssen, wenn sie auf Tochterunter- institute sind zwar nicht begeistert, dass wir ihnen mehr nehmen mittelbar oder unmittelbar einen beherrschen- Transparenz und Risikovorsorge vorschreiben. Das war den Einfluss ausüben können. Ein beherrschender aber dringend notwendig. Denn aus der Finanzkrise ha- Einfluss besteht nun nach den neuen Regelungen auch ben wir gelernt: Mehr Transparenz und mehr Vorsorge dann, wenn die Mutter bei wirtschaftlicher Betrachtung ist besser für die Banken und für uns alle. die Mehrheit der Chancen und Risiken der Tochter trägt. Auf eine formale Mindestbeteiligung wie bisher kommt Aus der Vielzahl der Einzelregelungen, die ich nicht es nicht mehr an. alle vortragen kann – das hätte auch Herr Kollege Merz nicht geschafft –, Drittens: Zeitwertbewertung bei Finanzinstrumenten (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: gibt es künftig nur im Bankenbereich. Das hat der Kol- Aber der hätte mehr Zeit gehabt!) lege Montag hier moniert. Er hat gemeint, damit würden wir weiterhin zulassen, dass die Zeitwertbewertung Mit- will ich drei Punkte, die mir wichtig erscheinen, hervor- verursacher oder gar Brandbeschleuniger im Zusammen- heben, um zu verdeutlichen, dass es ein gutes Gesetz ist. hang mit einer Finanzmarktkrise sein könnte. Ich denke, dem ist nicht so. Außerhalb des Bankenbereichs gehen Erstens: Entlastung. Dieses Gesetz ist ein Bürokratie- wir auf das bewährte Vorsichtsprinzip zurück. Alle Un- abbaugesetz. Das war immer Ihr Anliegen; hier wurde es ternehmen, selbst wenn sie mit Wertpapieren und Finanz- durchgesetzt. Bisher waren alle Kaufleute zur handels- instrumenten handeln, können weiterhin nach dem rechtlichen Buchführung und zur Aufstellung einer Anschaffungskostenprinzip bilanzieren. Nur bei Kredit- HGB-Bilanz verpflichtet. Das wird jetzt geändert. Wir instituten ist es anders. Warum? Weil das international (B) befreien kleine Einzelkaufleute mit einem Jahresüber- (D) üblich ist schuss bis 50 000 Euro und Umsätzen bis 500 000 Euro von der handelsrechtlichen Buchführungs- und Bilanzie- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rungspflicht. Diese Kaufleute können künftig ihre NEN]: Das ist kein gutes Argument!) Buchführung auf eine einfache Einnahmenüberschuss- rechnung umstellen. Das ist vertretbar und für die betrof- und weil die Zeitwertbewertung – das sollte man fenen Unternehmen eine ganz enorme Arbeitserleichte- wissen – bei uns schon längst gang und gäbe ist, und rung, die auch mit erheblichen Kosteneinsparungen zwar mit Zustimmung der Bankenaufsicht, obwohl sie verbunden ist. Deswegen ist es wichtig, dass dieses Ge- bisher nicht im Gesetz stand. Das heißt, wir regeln einen setz so schnell wie möglich in Kraft tritt. Denn die Über- Zustand, der sich bei uns faktisch längst so abspielt. Wir gangsvorschrift sieht vor, dass man diese Regelung haben jetzt auch Bremsen eingebaut, und zwar sowohl bereits für das Jahr 2008, also für das vergangene Ge- den Risikoabschlag als auch den Sonderfonds, und betei- schäftsjahr, anwenden kann. ligen insofern auch die Aktionäre am Risiko. Zum Bürokratieabbau gehört auch die Anhebung der Wie gesagt, dies alles ist uns in den Beratungen ge- Schwellenwerte um ungefähr 20 Prozent. Sie wissen, lungen. Das war im Regierungsentwurf ursprünglich so wir unterscheiden zwischen kleinen, mittleren und nicht vorgesehen. Deshalb sollte an dieser Stelle ein Lob großen Unternehmungen und Kapitalgesellschaften. Je des ganzen Hauses für Herrn Dr. Ernst zum Ausdruck größer die Gesellschaft ist, desto höher sind die Anfor- kommen, derungen an Rechnungslegung, Transparenz und Prü- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und des fungspflichten. Ein kleines Unternehmen muss bei- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) spielsweise seine Gewinn- und Verlustrechnung nicht offenlegen und seinen Jahresabschluss nicht prüfen las- der unter der bewährten Führung der Bundesjustizminis- sen. Als kleines Unternehmen galt bisher ein Unterneh- terin sehr gute Arbeit leisten konnte. men mit einer Bilanzsumme von bis zu 4 Millionen Entbürokratisierung und Entlastung, Konzernab- Euro. Dieser Wert – das gilt auch für die Umsatzsumme – schlüsse mit allen Zweckgesellschaften und Risikovor- wird erhöht werden. Neben den Einzelkaufleuten wer- sorge beim Handel mit Finanzinstrumenten – das sind im den also auch viele kleine Unternehmungen eine große Wesentlichen die mir wichtigen Stichworte. Wir verab- Kostenersparnis erfahren. schieden heute ein kostengünstiges und vorsichtiges Bi- Zweitens – ganz wichtig –: Zweckgesellschaften. lanzrecht. Es ist einfacher und kostengünstiger als all Hier müssen wir eine Lehre aus der Finanzmarktkrise das, was bisher im Bereich der internationalen Rech- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23219

Klaus Uwe Benneter (A) nungslegungsstandards für die mittelständischen Unter- biet der Rechtspolitik allen Unkenrufen zum Trotz, dass (C) nehmen entwickelt wurde. Das zeigt: Unser HGB ist ein diese Koalition nichts mehr hinbekomme. Das ist Leuchtturm im Dickicht der internationalen Bilanzie- schlichtweg falsch, meine Damen und Herren von der rungsvorschriften und ein sehr gutes Vorbild. Im Bünd- Opposition. nis für das deutsche Recht können wir es international nur zur Nachahmung empfehlen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Das klang heute Mittag ganz anders!) Der Bundespräsident hat vorgestern in seiner viel be- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: achteten vierten Berliner Rede ausgeführt, dass die Be- Der Kollege Dr. Jürgen Gehb hat jetzt das Wort für völkerung einen Anspruch darauf hat, dass die Regie- die CDU/CSU-Fraktion. rung und natürlich auch die Parlamentarier – denn bei (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- uns ist es noch immer so, dass die Parlamentarier die Ge- NEN]: Aber bitte auf Deutsch!) setze verabschieden; manche Zeitungen schreiben ja, die Bundesregierung habe dieses und jenes Gesetz verab- schiedet – handeln und Lösungen anbieten, die nachhal- Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): tig sind. Mit diesem Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich be- bieten wir eine Lösung, die heute, morgen und übermor- dauere alle Zuhörer auf den Besucherrängen, die ausge- gen Bestand haben wird, meine Damen und Herren. rechnet bei dieser Debatte anwesend sein müssen. Es ist schon für uns selber schwer, alles zu verstehen: IFRS, Nun singen wir bei Wahlveranstaltungen oder bei an- IAS, US-GAAP, Fair Value, Fair Value minus X. Das ist deren Veranstaltungen immer das Hohelied auf den Mit- eine Debatte, da lacht das Herz der Zuschauerinnen und telstand. Alle reden vom Mittelstand, aber es wird nichts Zuschauer sowie der Zuhörerinnen und Zuhörer. dafür gemacht! Doch im Zentrum dieses Gesetzes steht endlich einmal der kleine und mittlere Unternehmer. Aber es nützt ja nichts: Die Rechtspolitik wird viel zu häufig auf Mord und Totschlag, Sexualdelikte und Si- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. cherungsverwahrung zurückgestutzt. Dabei bestehen die Mechthild Dyckmans [FDP]) Rechtspolitik und die Juristerei aus einem bunten Strauß, Das sind nicht nur große Worte; er steht wirklich im einem tollen Bouquet von Materien! Dazu gehören na- Zentrum. Wieso? Es ist heute schon gesagt worden, dass türlich auch das Wirtschaftsrecht und das Bilanzrecht. die nicht kapitalmarktorientierten Unternehmer in Zu- Wir haben erst vor kurzem das MoMiG verabschiedet. kunft eine begrenzte Pflicht zur Buchführung, zur Inven- (B) Auch das ist eine Typik im Wirtschaftsrecht: MoMiG, tierung und zur Bilanzierung haben. Ich will einmal die (D) UMAG, KapMuG, BilMoG. Zahlen nennen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Unimog!) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Schon die Abkürzungen zergehen einem auf der Zunge. NEN]: Herr Kollege, die letzten Zuhörer ge- hen weg!) Meine Damen und Herren, das BilMoG ist jetzt der zweite Meilenstein auf dem Gebiet des Wirtschafts- Auch Herr Benneter hat eben die Summen genannt: ab rechts. Ich sehe, Frau Dyckmans nickt. Nicht so zufrie- 500 000 Euro Umsatzerlös und ab 50 000 Euro Gewinn- den war sie damals beim MoMiG, also bei der GmbH- erlös. Aber der Ersparniseffekt für den Mittelstand liegt Reform. Dabei sieht man einmal, welch tolle Entwick- bei über 1 Milliarde Euro. Das muss man sich einmal auf lung die genommen hat. der Zunge zergehen lassen! Wenn wir auch noch die Fälle hinzunehmen, in denen es durch die Schwellen- Ich habe vor etwa einem halben Jahr in meiner Rede wertabsenkung zu weiteren Einsparungen kommt, sind zum Haushaltsplan der Justiz, zum Einzelplan 07, an es round about 1,3 Milliarden Euro. Meine Damen und dieser Stelle prophezeit, dass wir in dieser Legislaturpe- Herren, das ist eine ordentliche Hausnummer. Ich finde, riode auch das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz ver- da zeigt sich endlich einmal, dass man nicht nur leere abschieden. Heute tun wir dies. Das ist nicht nur die Be- Versprechungen macht, sondern dass bei den Leuten wahrheitung einer Prophezeiung von mir, sondern stellt auch etwas ankommt. Die Enttäuschung wäre groß, unter Beweis, dass diese Große Koalition zum einen wenn wir dauernd Begehrlichkeiten weckten und die handlungswillig und zum anderen handlungsfähig ist Lippen spitzten, aber nicht pfeifen. und nicht nach dem römischen Grundsatz vorgeht: Ut desint vires, tamen est laudanda voluntas – Wo auch die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Kräfte versagen, ist nur der Wille zu loben. Nein, wir ha- der SPD) ben es nicht nur beim Willen bewenden lassen. Heute ist ja ein Tag der Danksagung. Alle sagen: Das (Ute Kumpf [SPD]: Würden Sie es bitte über- ist ein schöner Tag für die Rechtspolitik! Jetzt werden setzen?) auch schon die Beamten des Ministeriums gelobt. Herr Ernst ist heute viel gelobt worden – wahrscheinlich auch – Habe ich doch schon gemacht, auch schon für die zu Recht. Gelegentlich denke ich, dass die Beamten das Oberrealschüler: Wenn es auch an den Kräften mangelt, in Erfüllung ihrer beamtenrechtlichen Pflicht machen, so ist dennoch der Wille zu loben. – Wir sind also hand- lungswillig und handlungsfähig, zumindest auf dem Ge- (Heiterkeit) 23220 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Dr. Jürgen Gehb (A) aber vielleicht haben sie es ja auch überobligatorisch ge- Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die (C) macht. Linke vor, über den wir zuerst abstimmen. Es geht um den Änderungsantrag auf Drucksache 16/12425. Wer (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dafür kann man sie einmal loben!) Der Änderungsantrag ist bei Zustimmung durch die ein- Aber damit es nicht heißt, ich sei ein Stoffel, möchte bringende Fraktion und bei Gegenstimmen im übrigen ich natürlich auch allen danken, und zwar in erster Linie Haus abgelehnt. den Berichterstattern, die mit viel Sachverstand und Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in Kompetenz diese schwierige Materie durchdrungen ha- der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Hand- ben: zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Zu- stimmung durch die CDU/CSU, SPD und FDP, ohne Ge- die Antje Tillmann und sogar der Montag haben eben ein genstimmen und bei Enthaltung der Fraktionen Die bisschen dazu beigetragen. Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. (Heiterkeit – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE Wir kommen zur GRÜNEN]: Das lasse ich mir rahmen!) Aber eines will ich sagen, pars pro toto, auch wenn ich dritten Beratung das sonst nicht mache. Einer ist mehrfach genannt wor- und Schlussabstimmung. Wer für den Gesetzentwurf den; es wurde bedauert, dass er nicht geredet hat. Ich stimmen möchte, möge sich erheben. – Gegenstimmen? – meine einen Mann, der seit Jahren mit seiner finanz- Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in dritter politischen, wirtschaftspolitischen und rechtspolitischen Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zu- Brillanz die Säle gefüllt hat, der auch an dieser Gesetzes- vor angenommen. materie Hand und Geist angelegt hat Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c auf: (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie hätten ihn reden lassen sollen!) a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Kauch, Horst Meierhofer, Horst Friedrich (Bay- und der diesem Gesetz im wahrsten Sinne des Wortes reuth), weiterer Abgeordneter und der Fraktion gut getan hat – wie er in seiner zukünftigen Tätigkeit der FDP wahrscheinlich dem ganzen Land gut tun wird. Ich nenne meinen Kollegen, den Parlamentarier Friedrich Elektromobilität – Für einen bezahlbaren und klimaverträglichen Individualverkehr (B) Merz, an dieser Stelle ganz besonders. (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie – Drucksache 16/10877 – des Abg. Klaus Uwe Benneter [SPD]) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für. Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Meine Damen und Herren, jetzt gehen schon die letz- Ausschuss für. Wirtschaft und Technologie ten Zuschauer, wie Herr Montag gesagt hat. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und (Daniela Raab [CDU/CSU]: Nein! Sie kommen!) Technikfolgenabschätzung – Ja, jetzt kommen frische; die können das ja gar nicht b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael wissen. Damit aber damit kein Ursachenzusammenhang Kauch, Horst Meierhofer, Horst Friedrich (Bay- hergestellt wird, sage ich mit Blick auf die Uhr – viel- reuth), weiterer Abgeordneter und der Fraktion leicht bekomme ich einen Bonus für die nächste Rede – der FDP und weil wir gerade beim Danksagen sind, Ihnen allen, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kolle- Elektromobilität durch Änderung von immis- gen, herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und da- sionsschutz- und verkehrsrechtlichen Rege- für, mir so gelauscht zu haben. lungen fördern (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) – Drucksache 16/12097 – Überweisungsvorschlag: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Herr Gehb, ein Bonus für die nächste Rede wird nicht Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit gewährt, aber Sie bekommen einen Bonus für das Publi- Ausschuss für Bildung, Forschung und kum. Das ist so eine Art Publikumsjoker, den wir in Zu- Technikfolgenabschätzung kunft hier verteilen werden. c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstim- Hermann, Hans-Josef Fell, Dr. Anton Hofreiter, mung über den von der Bundesregierung eingebrachten weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Gesetzentwurf zur Modernisierung des Bilanzrechts. Der NIS 90/DIE GRÜNEN Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Umfassende Förderstrategie für Elektromobi- lung auf Drucksache 16/12407, den Gesetzentwurf der lität mit grünem Strom entwickeln Bundesregierung auf Drucksache 16/10067 in der Aus- schussfassung anzunehmen. – Drucksache 16/11915 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23221

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Überweisungsvorschlag: oder dem Bus fahren könnte. Mobilität zum Abgewöh- (C) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) nen – so könnte man das vielleicht zusammenfassen. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Beifall bei der FDP – Peter Hettlich [BÜND- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung NIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch das ist indivi- duell! – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜND- Verabredet ist, hierzu eine halbe Stunde zu debattie- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Was haben Sie ren, wobei die Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten eigentlich gegen Radfahren?) soll. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Wir glauben, dass diese Art der Miesmacherei dem Thema nicht gerecht wird, weil man dadurch Leute aus- Ich eröffne die Aussprache. Der erste Redner in unse- einanderbringt, die man jetzt endlich einmal zusammen- rer Debatte ist Horst Meierhofer für die FDP-Fraktion. bringen könnte. (Beifall bei der FDP) In dem Antrag der Grünen steht zum Beispiel: „Elek- tromobilität löst nicht alle Verkehrsprobleme.“ Das ist Horst Meierhofer (FDP): keine große Neuigkeit; das ist auch uns bekannt. Elek- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tromobilität kann aber einen Beitrag leisten, ebenso wie Es freut mich sehr, dass wir heute endlich im Deutschen die Fotovoltaik, die das Energieproblem nicht alleine lö- Bundestag über das Thema Elektromobilität sprechen. sen kann, die aber ebenfalls einen wichtigen Beitrag leis- Die FDP-Fraktion hat als erste Fraktion einen Antrag tet. Und das zählt schließlich auch. Deswegen sollten wir hierzu eingebracht. Mittlerweile haben wir einen zwei- das nicht schlechtreden, sondern Bemühungen auf die- ten Antrag vorgelegt, weil uns das Thema zum einen sem Gebiet unterstützen. sehr am Herzen liegt und zum anderen sehr begeistert. (Beifall bei der FDP) Das hat viele Gründe: Das ist das erste Mal, dass die Autofahrer einen wirklich nennenswerten Beitrag zum Im Antrag der Grünen kann man auch lesen, dass es Klimaschutz leisten können. Neu ist auch, dass sie die- noch lange dauern wird, bis sich die Elektromobilität sen Beitrag zum Klimaschutz leisten können, ohne ab- durchsetzen wird. Wir hoffen, dass das schnell geht. kassiert zu werden. Zum ersten Mal versucht man nicht, Deswegen bitten wir darum, dass Sie diesen Prozess mit die Autofahrer an der Tankstelle oder auf anderem Weg anschieben und nicht das Haar in der Suppe suchen. Hel- abzuzocken. Man kann frei entscheiden und trotzdem et- fen Sie mit, dass es weitergeht. was Gutes für die Umwelt tun. Deswegen ist die Elektro- Der Antrag der Grünen ist überschrieben mit „Umfas- (B) mobilität aus unserer Sicht ein ganz wichtiges Zukunfts- sende Förderstrategie für Elektromobilität mit grünem (D) thema. Strom entwickeln“. Die Grünen schreiben: „Die Kfz- (Beifall bei der FDP) Steuer für Elektrofahrzeuge wird am CO2-Ausstoß der Stromerzeugung orientiert.“ Das ist der zentrale Unter- Zum ersten Mal hat man die Möglichkeit, die Um- schied zu dem, was wir gerne hätten. Das klingt im ers- welt- und die Verkehrspolitik zu versöhnen. Das ist für ten Moment zwar ganz vernünftig, bedeutet aber für die die FDP entscheidend, weil wir Mobilität nicht verhin- Kunden, die ihr Auto über die Steckdose aufladen, dass dern, sondern ermöglichen wollen. Wir wollen Mobilität sie einmal für den Strom ohnehin die Zertifikate und die auf ökologischem und klimafreundlichem Weg ermögli- Emissionsrechte bezahlen. Zusätzlich soll eine Kfz- chen. Das könnte uns auf diese Art und Weise gelingen; Steuer etabliert werden. Das bedeutet, dass man doppelt (Beifall des Abg. Michael Kauch [FDP]) zur Kasse gebeten wird, obwohl man das Klima nicht zusätzlich schädigt; und das aus reiner Ideologie heraus. im Übrigen ohne den Menschen den Spaß zu verderben. Das ist vollkommen wahnsinnig. Ich glaube, das ist das, was uns von dem einen oder an- deren in diesem Raum unterscheidet. (Beifall bei der FDP – Horst Friedrich [Bay- reuth] [FDP]: Das zeigt, dass die Grünen (Beifall bei der FDP) nichts begriffen haben!) Wir stellen die technischen Innovationen vornan. Wir Dies ist vollkommen sinnlos, weil man damit denjeni- sagen: Die deutsche Automobilindustrie hat hier die gen doppelt bestraft, der sich klimafreundlich und klima- Chance, zukunftsfähige Konzepte zu verwirklichen, und neutral verhält. Dies erschließt sich mir überhaupt nicht. dadurch würden unsere Exportchancen deutlich steigen. Unser Ansatz ist ein ganz anderer: Wir wollen die Kfz- Deshalb haben wir diese Anträge eingebracht. Steuer abschaffen und auf die Mineralölsteuer umlegen. Die Grünen haben ebenfalls einen Antrag zu dieser Dann hätten die Elektromobile tatsächlich einen Vorteil, Thematik eingebracht. Im ersten Moment klingen sie weil für sie diese Steuer nicht mehr gezahlt werden muss ähnlich. Wenn man sie durchschaut, stellt man aber fest, und sie kein Öl verbrauchen. dass der Duktus ein bisschen anders ist. Bei den Grünen (Beifall bei der FDP) geht es um Tempolimit, um kleinere Autos und darum, dass man, wenn möglich, ein bisschen seltener Auto Dadurch könnte man diese Form der Mobilität anschie- fährt, dass man die individuelle Mobilität ein bisschen ben: nicht dadurch, dass man sie bestraft, sondern da- einschränkt, dass man häufiger mit dem Rad, der Bahn durch, dass man sie fördert. 23222 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Horst Meierhofer (A) Wir wollen es klimaverträglich machen. Das ist ein Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) wichtiger Punkt. Die 80 Gramm pro Kilometer, von de- Der Kollege Dr. Andreas Scheuer spricht jetzt für die nen Sie geschrieben haben, kann man mit Elektroautos CDU/CSU-Fraktion. fast schon erreichen; beim jetzigen Energiemix ist man bei circa 90 Gramm pro Kilometer. Auch unser Ziel ist (Beifall bei der CDU/CSU) es, dies deutlich zu senken, indem man die erneuerbaren Energien fördert. Damit kämen wir auf 60 Gramm pro Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU): Kilometer. Das ist keine Zukunftsmusik, sondern das ist Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- machbar. gen! Kollege Meierhofer, über Ihren Schlusssatz habe Es geht aber nicht nur um die erneuerbaren Energien, ich mich schon ein wenig gewundert. Sie haben den Bo- sondern beispielsweise auch um eine Laufzeitverlänge- gen von der Elektromobilität über die Abwrackprämie bis hin zur Großen Koalition gespannt, um die gute rung von Kernkraftwerken. Auch dadurch wird der CO2- Ausstoß reduziert, ebenso dadurch, dass man alte Kohle- Maßnahme der Abwrackprämie zu kritisieren. Sie wer- kraftwerke durch effizientere ersetzt und CCS nicht ver- den als Umweltpolitiker akzeptieren, teufelt, sondern als zusätzliche Option ermöglicht, so- (Horst Meierhofer [FDP]: Nein!) dass man in diesem Bereich CO2-neutral arbeiten kann. Dies brächte uns nach vorn. In diesem Bereich müssen dass neue Fahrzeuge den Fahrzeugbestand in Deutsch- wir aber noch viel Aufklärungsarbeit leisten. land auffrischen. (Beifall bei der FDP) (Horst Meierhofer [FDP]: Neuer Ferrari!) Der entscheidende Punkt sind nicht die Laufzeitver- Dies bedeutet, dass die Abwrackprämie auch zu einer längerung von Kernkraftwerken oder die Steuerkonzepte Schonung des Klimas beiträgt. der Grünen, sondern – an dieser Stelle sind wir dann Das heutige Thema ist die Elektromobilität. Das Elek- doch wieder zusammen – die Tatsache, dass man hiermit troauto wurde 1899 erfunden. Auf der Weltausstellung die erneuerbaren Energien fördern kann. Der große im Jahre 1900 wurde der Lohner-Porsche vorgestellt. Nachteil der erneuerbaren Energien wie Wind und Sonne Dies zeigt, wie lange wir gebraucht haben, bis wir das ist, dass sie nicht grundlastfähig sind. Verwendet man sie Thema Elektromobilität hier im Deutschen Bundestag nach ihrer Einspeisung zur Ermöglichung emissions- diskutieren. Ich hoffe, dass die Entwicklungsstadien in freier Mobilität, können im Gegenzug die Autobatterien den kommenden Jahren nicht mehr so lange dauern, wie auch dafür sorgen, dass Netzschwankungen ausgegli- seit der Erfindung des Elektroautos bis heute vergangen chen werden. Gäben die Batterien der Fahrzeuge, wenn sind. (B) sie nachts in der Garage stehen, wieder Strom ab, könnte (D) dies Schwankungen ausgleichen, die dadurch entstehen, Mobilität wird zunehmend zur sozialen Frage des dass weniger Wind- oder Sonnenenergie eingespeist 21. Jahrhunderts. Bei Pilotprojekten zur Einführung der wird. Dadurch könnte man etwas mehr Grundlastfähig- Elektromobilität müssen wir uns entscheiden, ob wir uns keit erreichen und auf diese Weise die erneuerbaren erst einmal auf die Ballungszentren konzentrieren oder Energien ganz weit nach vorne bringen. Dies wäre prak- ob wir uns zugleich darüber unterhalten wollen, wie die tisch ein Turbo für die erneuerbaren Energien, was wir Elektromobilität im ländlichen Raum aussehen kann. Da als FDP ganz großartig finden. wird der ÖPNV sicherlich eine Vorbildfunktion haben. Dort können wir – auch im Hinblick auf Motorentechnik – (Beifall bei der FDP) vieles in Bewegung bringen. Gestern hat der Haushaltsausschuss die von der Bun- Ich greife fünf Punkte heraus. Erstens ist bei der Elek- desregierung vorgesehenen Mittel zur Förderung der tromobilität entscheidend, wie wir die Infrastruktur ge- Elektromobilität freigegeben. Es waren 500 Millionen stalten. Herr Kollege Meierhofer, es gibt bereits Unter- Euro und damit weniger als ein Fünftel dessen, was in nehmen, die keine staatlichen Subventionen brauchen, die Erforschung der Batterietechnik gesteckt werden sondern diese Chance nutzen und eine Infrastruktur für muss. Dies ist ein riesiger Nachteil, weil die Speicherfä- Elektromobilität in Deutschland aufbauen wollen. In higkeit das Entscheidende ist, um die Elektromobilität Israel, in Kalifornien und in Dänemark laufen bereits voranzubringen und wettbewerbsfähig zu machen. Man Pilotprojekte; dort steht man kurz vor der Einführung. muss also die Batterietechnik so weit entwickeln, dass Wir sollten uns daran beteiligen. Die Bundesregierung größere Radien für Elektromobile möglich werden. macht sehr viel dafür. Sie stellt 500 Millionen Euro für Wenn die Große Koalition hierfür maximal ein Fünftel den Bereich der alternativen Antriebstechniken mit dem der erforderlichen Mittel ausgeben will, dann merkt Schwerpunkt Elektromobilität zur Verfügung; das ist ein man, dass die Problematik den Herrschaften überhaupt Wort. nicht klar ist. Ich hoffe, dass hier noch ein Umdenken stattfindet. Wenn wir in Investitionen von gestern wie Die Unternehmen, die sich hier engagieren und die Abwrackprämien investieren, anstatt uns um Elektromo- jetzt Gespräche führen wollen, planen zum Beispiel, bilität zu kümmern, dann hat dies nichts mit nachhaltiger dass die Verbraucher mit dem Elektroauto ins Parkhaus Mobilität, aber viel mit Politik von gestern zu tun. eines Supermarktes fahren können und dort das Auto zum Aufladen an eine Steckdose anschließen können, Herzlichen Dank. von der genau erkannt wird, um welches Auto es sich (Beifall bei der FDP) handelt und welchen Vertrag der Besitzer mit dem Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23223

Dr. Andreas Scheuer (A) Stromanbieter hat. Außerdem soll es möglich sein, am (Michael Kauch [FDP]: Ja, das ist Aufgabe der (C) Arbeitsplatz in die Tiefgarage zu fahren und das Elektro- Politik! – Horst Meierhofer [FDP]: Ärmel auto dort zum Aufladen anzuschließen. Wenn man billi- hoch!) geren Strom beziehen möchte, soll ein Pendler morgens Ich denke, der „Nationale Entwicklungsplan Elektro- zur Arbeit und abends mit dem Elektroauto nach Hause mobilität“ der Bundesregierung ist der richtige Schritt. fahren können und zum Aufladen Nachtstrom nutzen Auch die Koordinierungsplattform unter den Ministerien können. Diese Projekte sind im Rahmen der Entwick- ist äußerst wichtig, um bei der Entwicklung einer um- lung einer Infrastruktur topaktuell und laufen jetzt an. weltschonenden Antriebstechnik Zeit zu gewinnen. Der Ich glaube, das hat die Bundesregierung mit dem Kon- VDA zum Beispiel hat ein größeres Positionspapier vor- junkturpaket hervorragend unterstützt. Wir wollen an gelegt; manche Universitäten haben Gutachten erstellt. dieser Stelle weiterkommen. Der Pool an Ausarbeitungen ist vorhanden. Wir sollten Damit kommen wir zum zweiten Punkt: Energie- jetzt in die Diskussion einsteigen. Ich denke, die Kolle- sicherheit und Versorgungssicherheit. Mein Vorredner, ginnen und Kollegen der Grünen haben ein Sammelsu- Kollege Meierhofer, hat es angesprochen. Wir müssen, rium von Themen zusammengestellt. Über den einen Herr Kollege Hettlich von den Grünen, offen darüber oder anderen Punkt können wir uns sicherlich noch un- diskutieren, wie wir zu Kernkraftwerken stehen, wenn es terhalten. Selbstverständlich wird sich die Koalition in bei uns vielleicht irgendwann 2 Millionen, 5 Millionen diesen Beratungsmarathon einbringen. Die FDP hat zwei oder 10 Millionen Elektroautos gibt. Wie erreichen wir Anträge zu diesem Thema eingebracht. Ich denke, wir dann Energiesicherheit? Der Strom wird dann wohl nicht sollten ohne Scheuklappen diskutieren. nur aus regenerativen Energiequellen kommen. Lieber Kollege Hettlich, die Grünen haben in ihrem (Beifall bei der CDU/CSU) Antrag einen Zuschuss für Elektroroller in Höhe von 1 000 Euro gefordert. Ich rate euch: Schaut euch die Der dritte entscheidende Punkt betrifft die Weiterent- Preise von Elektrorollern einmal genau an. Momentan wicklung der Batterie. Die weitere Erforschung der gibt es ein Produkt, das nur 1 500 Euro kostet. nächsten Generation der Batterien unterstützt das For- (Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: schungsministerium mit sage und schreibe 60 Millionen Das würde ich aber nicht empfehlen!) Euro. Die Wirtschaft hat sich verpflichtet, mit 360 Mil- lionen Euro einzusteigen. Hier müssen Antworten auf Wenn sich der Staat bei einem Preis von 1 500 Euro mit die Fragen gefunden werden, wie wir Batteriesicherheit 1 000 Euro beteiligt, dann ist das nicht mehr verhältnis- garantieren und die Lebensdauer von Batterien und da- mäßig. mit natürlich auch die Radien für die Fahrten mit Elek- (B) Ein anderer Aspekt, der mich am Antrag der Grünen (D) troautos vergrößern können. stört, ist die Werbung für die japanischen Autohersteller. Der vierte entscheidende Punkt ist der Wirkungsgrad Ich denke, die deutsche Automobilindustrie hat genug des Elektroantriebes. Modelle in der Pipeline, um marktfähig zu sein. Natür- lich gehört zur Realität, dass momentan aufgrund der Der fünfte Punkt ist der Preis. Dieser wird im Antrag Automobilkrise bei der Grundlagenforschung gespart der Kolleginnen und Kollegen der FDP-Fraktion und wird. An dieser Stelle muss vielleicht auch der Staat ein auch im Antrag der Grünen erwähnt. Die Preise müssen bisschen nachsteuern. für die Verbraucher attraktiv sein. Ich habe mir den An- Schauen Sie sich einmal die Modelle an, die auf der trag von Bündnis 90/Die Grünen sehr genau angeschaut, Kollege Hettlich. Wir sollten uns jetzt nicht mit Forde- Motorshow in Detroit vorgestellt wurden, rungen nach Steuerermäßigungen überbieten, keinen (Michael Kauch [FDP]: Das ist doch viel zu Subventionsmarathon beginnen und kein drittes, viertes weit weg!) und fünftes Konjunkturpaket anschließen. beispielsweise die A-Klasse von Mercedes; auch BWM, (Horst Meierhofer [FDP]: Das macht ihr schon Audi, VW und alle anderen großen Automobilhersteller selber!) waren dort mit serienreifen Produkten vertreten. Ich denke, die diesjährige IAA wird ein weiterer Baustein Vielmehr sollten wir jetzt erst einmal die Diskussion da- auf dem Weg hin zu mehr Elektromobilität sein. Die rüber führen, wie wir Elektromobilität in Deutschland neuen Entwicklungen, die dort vorgestellt werden, soll- ganzheitlich und unter Berücksichtigung der fünf ten wir uns genau ansehen. Punkte, die ich vorher genannt habe, einführen. Zum Schluss noch eine kurze Bemerkung zu Ihnen, Alternative Antriebstechniken sind schon serienreif, Herr Kollege Meierhofer. Ich habe viel Sympathie für aber dies bringt uns nichts, wenn deren Einführung an Ihren kurzen, aber sehr guten Vorschlag zur Einführung der mangelnden Infrastruktur scheitert. Dazu kommt die von Wechselkennzeichen für Elektroautos. Diskussion über den Preis. Natürlich kann das Auto rela- (Horst Meierhofer [FDP]: Sehr gut! Das freut tiv günstig sein. Aber wenn die entsprechende Infra- mich!) struktur, um das Auto aufzuladen, fehlt, dann bringen mir das kostengünstigste Auto und vor allem auch ein In Österreich wurden mit Wechselkennzeichen bei her- Steueranreiz, wie ihn die Kolleginnen und Kollegen der kömmlichen Fahrzeugen bereits sehr gute Erfahrungen Grünen fordern, nichts. gemacht. 23224 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Dr. Andreas Scheuer (A) (Horst Meierhofer [FDP]: Genau! Nicht bloß Erstes Kriterium. Es macht, auch im Hinblick auf die (C) bei Oldtimern!) Reduzierung der CO2-Emissionen, nur Sinn, auf Elektro- mobilität umzusteigen bzw. sie weiterhin zu fördern, Warum sollten wir nicht den Anreiz setzen, auch für wenn wir wirklich erneuerbare Energien nutzen. Ich wie- Elektroautos Wechselkennzeichen einzuführen? Das derhole jetzt nicht all das, was wir in den bisherigen De- Auto, das auf Sprit angewiesen ist, steht vielleicht in der batten über dieses Thema gesagt haben. Sie alle kennen Garage, sodass jemand, der in einem Ballungsraum lebt, das Märchen, durch die Nutzung von Atomstrom könne für überschaubare Strecken eventuell das Elektroauto der Umfang der CO -Emissionen verringert werden. Wir nutzt. Das ist ein praxisorientierter Hinweis, den die Ko- 2 haben immer wieder bewiesen, dass das nicht der Fall alition gerne aufgreift. ist. Da die FDP in ihrem Antrag ehrlicherweise formu- (Beifall des Abg. Horst Meierhofer [FDP]) liert, dass dieses Argument ihrer Meinung nach einen Grund für eine Laufzeitverlängerung darstellt, sage ich Natürlich muss ich mich noch mit den Kolleginnen und Ihnen: Das lehnen wir entschieden ab. Kollegen von der SPD beratschlagen, ob wir uns in die- sem Punkt einigen können. Wenn sich die Politik ohne (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Peter Scheuklappen mit diesem Thema befasst, wird es uns Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) gelingen, die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Zweitens. Die Anreize für und der Druck auf die Au- Herr Kollege Hettlich, welche Fraktion ihren Antrag tomobilindustrie, weiterhin verbrauchsarme Fahrzeuge zuerst eingebracht und welche Fraktion den längsten An- mit Verbrennungsmotoren zu entwickeln und ihre Flot- trag verfasst hat, ist nicht entscheidend. Es kommt da- ten dahin gehend zu modernisieren, müssen erhalten rauf an, wer die gemachten Vorschläge letztlich am bes- bleiben. Die Diskussion über verbrauchsarme Fahrzeuge ten zusammenfasst und im Deutschen Bundestag eine und ihre Entwicklung darf nicht abbrechen. Mehrheit organisiert. Wem das gelingt, werden wir am Ende der Debatte feststellen. Ich freue mich auf die Dis- Drittens. Wir werden die Probleme nicht durch Elek- kussionen, die wir, wie gesagt, ohne Ressentiments und tromobilität lösen können, wenn wir nicht zugleich den ohne Scheuklappen führen sollten. ökologisch und ökonomisch sinnvolleren öffentlichen Personennahverkehr ausbauen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Peter (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Dort, wo öffentlicher Nahverkehr möglich ist, ist er im- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: mer sehr viel sinnvoller als Individualverkehr. Der öf- Dorothée Menzner erteile ich jetzt für die Fraktion (B) fentliche Nahverkehr muss bedarfsgerecht gestaltet und (D) Die Linke das Wort. sinnvoll getaktet werden; er muss für die Menschen zu- (Beifall bei der LINKEN) gänglich sein. Damit lässt sich viel mehr CO2, Lärm und Feinstaub reduzieren als mit allen Elektroautos. Dorothée Menzner (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN) Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Probleme, die dazu geführt haben, dass wir über- Kollege Scheuer hat es eben angesprochen: Es nützt haupt über Elektromobilität diskutieren, sind bekannt: nichts, allein die Fahrzeuge in den Blick zu nehmen; wir Lärm und Feinstaub in den Städten, CO2-Emissionen, müssen auch an die Infrastruktur denken. Herr Scheuer, deren Umfang deutlich gesenkt werden muss, und die Sie haben dabei nicht bedacht, dass wir auch das Last- Endlichkeit fossiler Energieträger. Vor dem Hintergrund, und Lademanagement sehr genau in den Blick nehmen dass im Antrag der FDP suggeriert wird, mithilfe der müssen. Wir müssen schauen, wie sich Elektromobilität Elektromobilität könnten wir ganz schnell Lösungen er- in den Spitzenzeiten auswirkt, was sie für unsere Strom- zielen, wage ich zu behaupten: Das ist ein bisschen opti- netze bedeutet. Auch darüber haben wir in der Vergan- mistisch. genheit diskutiert. Wir haben immer wieder vorgebracht, dass die Privatisierung der Stromnetze nicht der goldene In diesem Monat wurde eine Studie des WWF veröf- Weg war. Hier müsste eine ganze Menge passieren. Es fentlicht, in der die Auswirkungen von Elektroautos auf kann auch nicht zukunftsweisend sein, wenn wir zwar den Kraftwerkspark und die CO2-Emissionen in die Abhängigkeit von Ölmultis überwinden, dafür aber Deutschland ausführlich untersucht worden sind. Im Fa- zukünftig in eine verstärkte Abhängigkeit von Strom- zit der Studie heißt es – ich zitiere –: konzernen geraten. Der realistischerweise erwartbare Beitrag der Elek- Für uns ist es wichtig, dass Mobilität umwelt- und tromobilität zur Erreichung der Klimaschutzziele ressourcenschonend, bedarfsgerecht und sozial ausge- bis 2020 ist gering. wogen gestaltet wird. Kurzfristig kann uns die Elektromobilität also nicht hel- (Beifall bei der LINKEN) fen. Nichtsdestotrotz sind wir natürlich gerne bereit, über die Möglichkeiten der Elektromobilität, aber auch Für uns kommt es nicht infrage, hier über Nobelmobili- über Hybridfahrzeuge und andere Vorschläge zu disku- tät, sozusagen über das elektrische Zweitauto für eine tieren. Wir Linke knüpfen die Förderung der Elektromo- Familie, zu diskutieren, aber die Menschen, die Schwie- bilität an eine Reihe wichtiger Kriterien. rigkeiten haben, sich überhaupt mit Mobilität zu versor- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23225

Dorothée Menzner (A) gen, weiterhin mit einem alten, spritfressenden Auto Zeitpunkt ist genau richtig. Wir müssen die Krise nut- (C) durch die Gegend gondeln zu lassen, sie vor verschlosse- zen, um stärker aus ihr herauszukommen, als wir in sie nen Bahnhöfen stehen zu lassen, ihnen keine Busverbin- hineingegangen sind. Wir wollen als stärkste Ökonomie dungen mehr zu bieten und sie dann auch noch die er- in Europa dabei die Musik machen und nicht den ande- höhte Zeche dafür zahlen zu lassen. ren hinterherlaufen. Darüber müssen wir gemeinsam diskutieren, wenn es (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) um neue Formen der Mobilität geht. Elektromobilität Gestern sind die Mittel freigegeben worden. Heute ist kann eine dieser Formen sein. Es wird aber immer da- der Aufruf ins Land gegangen: Man kann sich jetzt be- rauf ankommen, Mobilität sozial gerecht zu gestalten werben, eine Modellregion für Elektromobilität zu wer- und nicht Ökologie gegen Ökonomie und soziale Ge- den. Der Wettbewerb wird von unserem Ministerium rechtigkeit zu stellen. gestaltet. Wir stellen dafür 150 Millionen Euro zur Ver- Ich danke. fügung. (Beifall bei der LINKEN) Die Idee ist, dass die Einführung der neuen Mobilität von den Ballungsgebieten ausgehen wird. Wir haben uns Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: mit den Nahverkehrsgesellschaften, den Energieversor- Jetzt spricht für die Bundesregierung der Parlamenta- gungsunternehmen, der Automobilindustrie und den rische Staatssekretär Ulrich Kasparick. Forschungseinrichtungen verabredet. Durch den Natio- nalen Energiegipfel, den wir vor einigen Tagen zwischen vier Ministerien und der gesamten deutschen Industrie, Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär beim Bundes- die dafür maßgeblich ist, verabredet haben, ist klar, dass minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: alle mitgehen: zum Beispiel die Energieversorger und Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestern auch die Automobilindustrie. Alleine Daimler investiert hat der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestag in den nächsten knapp 12 Monaten bis zu 2 Milliarden die Bundesregierung in die Lage versetzt, ein großes Euro in die Forschung. Paket auf den Weg zu bringen, das zwischen vier Bundes- ministerien verabredet worden ist. Das Bundesministerium Die Wirtschaft hat erkannt, worum es geht. Es geht für Verkehr, das Bundesumweltministerium, das Bundes- darum, in einem globalen Wettbewerb die Standards zu wirtschaftsministerium und das Bundesforschungsminis- setzen. Wir glauben, dass wir mit den Möglichkeiten, die terium haben verabredet: Wir wollen Deutschland zum die deutsche Industrie hat, gut aufgestellt sind. Wichtig Leitmarkt für Elektromobilität machen. an diesem Paket ist, dass wir die gesamte Wertschöp- fungskette abdecken: von der Batterieentwicklung bis (B) (D) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) hin zu integrierten Verkehrskonzepten in den Ballungs- Wir wollen in einem globalen Wettbewerb die Führungs- räumen. Wir müssen hier sehr viel über Softwareanwen- rolle übernehmen. dung, Fahrplangestaltung und die Einbindung des öf- fentlichen Nahverkehrs reden. Wir wollen das für den Die Vereinigten Staaten investieren in den nächsten Bereich der individuellen Mobilität genauso wie für den zehn Jahren 150 Milliarden US-Dollar in erneuerbare Geschäftsverkehr. Es geht dabei also um die Mobilität Energien. Japan investiert in den nächsten zwei Jahren der Wirtschaft genauso wie um die Mobilität im indivi- etwa 2,5 Milliarden US-Dollar. Deutschland ist seit ges- duellen Bereich. tern in der Lage, allein im Bereich der Elektromobilität ein Programm in einem Umfang von über 2 Milliarden Ich komme zum Schluss. Herzlichen Dank dem Haus- Euro zu starten; der öffentliche Anteil, den der Haus- haltsausschuss des Deutschen Bundestages und dem Par- haltsausschuss gestern bewilligt hat, beträgt 500 Millio- lament, dass Sie die Regierung in die Lage versetzen, nen Euro. jetzt mit einem solch konzertierten Paket anzutreten. Sehr erstaunt hat uns allerdings, wie sich die FDP ges- Damit können wir gemeinsam mit der Industrie eine tern im Haushaltsausschuss verhalten hat. Sie hat dieses Hebelwirkung erzielen, die uns mitten in der Krise hilft, Paket nämlich abgelehnt. einer der wichtigsten Branchen in Deutschland frischen Wind unter die Segel zu geben und Mobilität zu organi- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – sieren, die vom Erdöl unabhängig sein wird. Hinzu Horst Meierhofer [FDP]: Zu Recht!) kommt das, was wir seit vergangenem Jahr in Deutsch- land im Rahmen der Wasserstoffstrategie auf den Weg Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: gebracht haben. Der Deutsche Bundestag hat die Bun- Peter Hettlich spricht jetzt für die Fraktion Bünd- desregierung in die Lage versetzt, weitere 500 Millionen nis 90/Die Grünen. Euro einzusetzen, um diese Technologie nach vorn zu bringen. Verabredet ist, dass sich die Industrie im selben Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Volumen beteiligt. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Damit haben wir ein Investitionspaket, das weit über Kollegen! Der Elektromobilität wird in diesen harten 3 Milliarden Euro umfasst, damit wir in einer konzertier- Zeiten offensichtlich die Heilsaufgabe zugewiesen, ei- ten Aktion zwischen Forschung, Bundeswirtschafts- nerseits unser Klima und dazu auch noch unsere Auto- ministerium, Umweltministerium und Verkehrsressort mobilindustrie zu retten und uns andererseits unabhän- die Sache wirklich anpacken und umsetzen können. Der gig von Erdölimporten zu machen und gleichzeitig auch 23226 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Peter Hettlich (A) noch für dauerhaft niedrige Treibstoffkosten zu sorgen. mit dem 100 000-Dächer-Solarstrom-Programm und (C) Ich glaube, damit haben wir uns etwas vorgenommen, dem EEG gezeigt, dass man diese Einführungsschwelle was durch die Elektromobilität nicht geleistet werden mit einer strategischen Förderung überwinden kann. Wir kann und wird; denn sie ist nicht die eierlegende Woll- befinden uns heute im Stadium der Marktreife und kön- milchsau. nen sagen: Der Erfolg spricht Bände. Im Bereich der er- neuerbaren Energien sind allein im letzten Jahr mehr Ar- (Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Herr Kol- beitsplätze geschaffen worden, als Opel zum heutigen lege, Sie sprechen aber schon für die Grünen, Zeitpunkt insgesamt an Mitarbeitern hat. oder?) – Warten Sie einmal ab. Wir sehen also, dass Marktanreizprogramme Sinn machen. Deswegen ist es auch konsequent, dass wir sa- Es ist ein fundamentaler Irrtum, wenn die Automobil- gen: Wir wollen für Plug-in-Hybridfahrzeuge und für industrie und auch einige Politiker glauben, dass es batterieelektrische Fahrzeuge bis zu 5 000 Euro Unter- reicht, einfach den Verbrennungsmotor und den Ben- stützung gewähren, damit eine Markteinführung dieser zintank auszubauen und dafür einen Elektromotor und Fahrzeuge ermöglicht wird. Batterien einzubauen. Für mich ist auch die Frage der Stromdeckung sehr (Horst Meierhofer [FDP]: Doch!) wichtig. Wenn ich davon ausgehe, dass die Zahl von – Nein, das reicht eben nicht; denn es ist auch ein Um- 3 Terawattstunden für 1 Million Fahrzeuge stimmt – sie denken hinsichtlich der Technologie und auf vielen Ebe- ist sehr reichlich bemessen –, dann entspricht das nen erforderlich. Das heißt konkret: Wir brauchen nicht 0,3 Prozent des aktuellen deutschen Stromverbrauchs. nur technischen Lösungen an den Fahrzeugen, sondern Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ihr müsst wir brauchen auch Lösungen um die Fahrzeuge herum mir einmal vorrechnen, warum ihr dann über die Lauf- bzw. bezogen auf unsere Infrastruktur. zeitverlängerung für Kernkraftwerke debattiert. Das ist völlig absurd. Auch wenn die CO2-Emissionen, die geringe Geräusch- entwicklung – übrigens nur bei niedrigen Geschwindig- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN keiten – und die hohe Energieeffizienz der Motoren na- und bei der LINKEN) türlich eindeutig für Elektromobilität sprechen, so lösen Es lohnt sich also immer. Bei 10 Millionen Fahrzeu- wir damit ganz und gar nicht die Probleme, die ich auch gen wären das gerade mal schlappe 3 Prozent. Bis 2020 als Baupolitiker immer wieder anspreche, nämlich die decken wir das mit links aus erneuerbaren Energien ab. zerfaserten Siedlungsstrukturen, die mangelnde Tragfä- higkeit unserer Infrastruktur und besonders den Flächen- (B) (Horst Meierhofer [FDP]: Wir sind (D) verbrauch. ambitionierter!) Ob Ihnen das gefällt oder nicht: Durch die Elektromo- Die entscheidende Frage im Zusammenhang mit der bilität wird von uns ein anderes Mobilitätsverhalten ver- Elektromobilität wird die Reichweite sein. Damit kom- langt und sind neue Mobilitätsketten erforderlich; denn men wir zur Automobiltechnologie. Lieber Andi auf längere Sicht werden die Reichweiten gering sein. Scheuer, du solltest dich mal mit der Technologie von Das liegt an der Speichertechnologie. Wir werden sie Loremo befassen – das war schließlich ursprünglich ein eben mit anderen Verkehrsträgern sehr viel enger vernet- bayerisches Produkt –: Gewichtsreduzierung, Aerodyna- zen müssen. Aus meiner Sicht wird beispielsweise das mik und die Reduzierung des Bordstromverbrauchs, ob Elektrocarsharing in Zukunft eine viel stärkere Rolle bei einem Verbrennungsmotor oder mit Elektroenergie. spielen als im Augenblick das normale Carsharing. Genau das ist die Zukunft. Das gilt übrigens auch für Deswegen unterstützen wir als Grüne alle Bemühun- Fahrzeuge mit konventioneller Antriebstechnik. Dahin gen um eine verbesserte Mobilitätskultur und -qualität; müssen wir kommen. Das bringt einen Vorteil. denn eines sage ich Ihnen auch: Ein „Weiter so wie bis- Ich möchte noch kurz auf neue Technologien wie die her!“ kann es in der Verkehrspolitik, ob mit oder ohne Radnabenmotoren eingehen. Dadurch wird auch eine Elektromobilität, nicht geben. Leistungsreduzierung bei Motoren möglich. Um einen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 100-Kilowatt-Verbrennungsmotor zu ersetzen, ver- sowie der Abg. Dorothée Menzner [DIE braucht man nicht viermal 25 Kilowatt mit einem Rad- LINKE]) nabenmotor. Es ist eine deutliche Verringerung möglich, weil eine höhere Effizienz erreicht wird. Wir als Grüne haben schon 2007 in unserem Energie- konzept bis zum Jahre 2020 mit 1 Million Elektrofahr- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zeugen gerechnet. Wir haben aber auch darauf hingewie- Last but not least brauchen wir eine bessere Batterie- sen, dass der Weg bis dahin steinig und lang ist und dass technologie. In diesem Zusammenhang füge ich hinzu, der Beitrag, der mit der Elektromobilität zum Klima- lieber Ulrich Kasparick, dass 89 Millionen Euro aus dem schutz geleistet wird, zunächst einmal gering ist. Das ist Programm ein bisschen wenig sind. Die Amerikaner auch klar, da man entsprechende Steigerungsraten erst investieren 1,5 Milliarden Dollar in die Förderung der einmal initiieren muss. Batterietechnologie. Wenn wir nicht aufpassen, dann Damit sich das ändert, verweise ich auf ein erfolgrei- werden wir möglicherweise in diesem Bereich den An- ches Konzept: Wir haben bei den erneuerbaren Energien schluss verlieren. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23227

Peter Hettlich (A) Wie gesagt, die Elektromobilität bietet uns Chancen; Damit dies alles Wirklichkeit wird, müssen die deut- (C) sie birgt aber auch Risiken. Wir Grünen sprechen das sche Automobilindustrie, die Wissenschaft und die Ener- auch in unserem Antrag an vielen Stellen an. Aber wir gieversorgungswirtschaft die Akzeptanz von Elektrofahr- gehen diesen Weg mit. Wir wollen der deutschen Auto- zeugen erreichen und geeignete Modelle entwickeln. mobilbranche durchaus eine Zukunft ermöglichen, aber Denn schon heute ist der Wettlauf um neue Technolo- wir gehen dabei nicht kritiklos vor. Insofern denke ich, gien weltweit in vollem Gange. Alle deutschen Auto- dass wir in den nächsten Wochen noch spannende Dis- mobilhersteller arbeiten in Kooperation mit Energie- kussionen zu diesem Thema führen werden. versorgern an der Entwicklung von Elektrofahrzeugen, Danke schön. Batterien und Infrastruktur. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich begrüße es außerordentlich, dass die Bundesregie- rung die Potenziale der Elektromobilität erkannt hat. Ich denke, es ist durchaus etwas Besonderes, wenn sich vier Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ressorts auch parteiübergreifend einigen können, an ei- Rita Schwarzelühr-Sutter hat jetzt das Wort für die nem Strang ziehen und die Elektromobilität nach vorne SPD-Fraktion. bringen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Wir der CDU/CSU) verstehen uns doch!) Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD): Mit 500 Millionen Euro aus dem Konjunkturpaket II Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und werden Forschung und Entwicklung im Bereich Elektro- Kollegen! Ich bin froh, dass mein Kollege Peter Hettlich mobilität gefördert; das ist ein wirklich großer Schritt. zum Schluss noch die Kurve gekriegt hat. Im Titel des Dass die Haushälter jetzt die Mittel freigegeben haben, Antrags der Grünen geht es zwar um eine Förderstrate- ist ein Punkt. Der andere ist: Es ist mit einer Hebelwir- gie für Elektromobilität, aber während der Rede konnte kung zu rechnen, weil sich die Wirtschaft zur Hälfte be- man teilweise glauben, dass ihr gar nicht für Elektromo- teiligen wird. bilität seid, die doch eine große Chance bietet. Deutschland muss weiter seine starke Stellung auf (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ dem Leitmarkt Mobilität sichern. Schon heute stellen DIE GRÜNEN]: Was? Das haben wir aber an- Produkte und Dienstleistungen, die einen Beitrag zur ders gehört!) nachhaltigen Mobilität leisten, einen Weltmarkt mit ei- nem Volumen von 180 Milliarden Euro dar. Bis 2020 Die Frage, mit der wir uns heute beschäftigen, lautet: wird sich dieses Volumen voraussichtlich verdoppeln. Wie sieht die Mobilität in der Zukunft aus? Wie können (B) Ich denke, das ist eine gute Chance, unseren Wirtschafts- (D) wir auch in Zukunft bezahlbare und für jeden zugängli- standort zu sichern und unseren Unternehmen eine Zu- che Mobilität anbieten, die den Anforderungen an den Klimaschutz gerecht wird? Mit anderen Worten: Wir kunftsperspektive aus der Konjunkturkrise heraus zu müssen Mobilität zukunftsfähig machen. bieten. Der starke Trend zur Urbanisierung und das schnelle Danke. Wachstum der Städte werden dazu führen, dass sich in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den Städten der Zukunft auch die Mobilität der Zukunft der CDU/CSU) entscheidet. Diese Potenziale wollen wir nutzen und In- novationen fördern, die Mobilität sauberer, leiser, besser Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: und bezahlbar machen. Elektromobilität bietet hierzu ei- Damit schließe ich die Aussprache. nen hervorragenden Lösungsansatz. Denn insbesondere die Metropolen der Welt brauchen neue postfossile Ver- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf kehrskonzepte. Drucksachen 16/10877, 16/12097 und 16/11915 an die Elektromobilität kann einen wesentlichen Beitrag zur in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Verringerung der CO2-Emissionen im Verkehrssektor leisten. In der Energiebilanz sind elektrische Antriebe im Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Vergleich zum Verbrennungsmotor bereits beim heuti- Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf: gen Kraftwerksmix effizienter und können damit zu ei- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ner Verringerung des CO2-Ausstoßes beitragen. richts des Verteidigungsausschusses (12. Aus- In der Stadt der Zukunft, in der viele Elektrofahr- schuss) zeuge unterwegs sind, kann auch an einer Hauptstraße das Fenster geöffnet werden und man kann in Ruhe die – zu dem Antrag der Abgeordneten Bernd saubere Luft genießen. Emissionen von Schadstoffen Siebert, Ulrich Adam, Michael Brand, weiterer und Klimagasen werden radikal reduziert. Das wird zu Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU einer völlig neuen Lebensqualität in den Ballungszentren sowie der Abgeordneten Rainer Arnold, führen. Dr. Hans-Peter Bartels, Petra Heß, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der SPD Nicht zuletzt entscheidet sich aufgrund der Akzeptanz der Elektromobilität, wie es weitergeht. Dabei spielen Konzept der Inneren Führung stärken und auch emotionale Faktoren eine Rolle. weiterentwickeln 23228 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) – zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit Drittens haben wir, ausgehend vom Leitbild des (C) Homburger, Elke Hoff, Dr. Rainer Stinner, wei- Staatsbürgers in Uniform, die Vorschrift zum lebens- terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP kundlichen Unterricht, die fast 50 Jahre alt war, neu kon- zipiert. Gerade dieser wendet sich nun als berufsethische Innere Führung stärken und weiterent- Unterrichtung an alle Soldatinnen und Soldaten. Ich bin wickeln sowohl der evangelischen als auch der katholischen Kir- – zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried che und auch der Militärseelsorge für die Unterstützung, Nachtwei, Alexander Bonde, Marieluise Beck aber auch für den Beitrag, den sie zur lebenskundlichen (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Frak- Unterrichtung unserer Soldatinnen und Soldaten leisten, tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sehr dankbar. Bundeswehr – Innere Führung konsequent (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) umsetzen Mit der Überarbeitung der drei Zentralen Dienstvor- – Drucksachen 16/8378, 16/8376, 16/8370, schriften haben wir die Innere Führung umfassend wei- 16/12071 – terentwickelt. Wir haben auch der konzeptionellen Vor- Berichterstattung: gabe unseres Weißbuches entsprochen, indem wir die Abgeordnete Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) herausragende Bedeutung der Inneren Führung für den Gerd Höfer Transformationsprozess der Bundeswehr unterstrichen Dr. Rainer Stinner haben. Dr. Hakki Keskin Die Innere Führung bewährt sich in der Praxis. Ich Winfried Nachtwei kann immer wieder bei meinen Truppenbesuchen, sei es Verabredet ist, hierzu eine Dreiviertelstunde zu debat- im Inland, sei es im Ausland, feststellen, dass die Innere tieren. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das Führung von unseren Soldatinnen und Soldaten unmit- so beschlossen. telbar gelebt wird. Dies wird besonders im Auslandsein- satz deutlich. Der Erfolg im Auslandseinsatz hängt auch Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundes- von der Einstellung unserer Soldatinnen und Soldaten minister der Verteidigung, Franz Josef Jung. ab, von ihrem Auftreten und von ihrem Miteinander mit (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. der einheimischen Bevölkerung vor Ort. Eine wichtige Petra Heß [SPD]) Rolle spielt auch das Führungsverhalten der Vorgesetz- ten. Egal wohin ich komme, welcher Auslandseinsatz auch immer es sei, ich höre immer nur Positives von der (B) Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister der Verteidi- Bevölkerung und den politisch Verantwortlichen über (D) gung: das Auftreten unserer Soldatinnen und Soldaten. Auch Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und das hat mit unserer Einstellung zur Inneren Führung zu Herren! Die Innere Führung ist zu einem Markenzeichen tun. Ich bin unseren Soldatinnen und Soldaten sehr der Bundeswehr geworden. Der Staatsbürger in Uniform dankbar, dass sie die Prinzipien der Inneren Führung ist das prägende Leitbild unserer Armee. Ich darf folgen- auch und gerade im Auslandseinsatz leben. den Satz, den mein damaliger Generalinspekteur Ulrich de Maizière zu Recht geprägt hat, hinzufügen: „Innere (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Führung ist der innere Kompass für unsere Soldatinnen bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- und Soldaten, ausgerichtet an den Werten unseres NISSES 90/DIE GRÜNEN) Grundgesetzes.“ Die Innere Führung ist allerdings auch Ich füge hinzu: Wir haben im Zusammenhang mit der ein dynamischer Prozess. Sie muss sich deshalb laufend neuen Dienstvorschrift den Punkt „Familie und Dienst“ mit den sicherheitspolitischen und gesellschaftspoliti- ergänzt. Auch in dieser Hinsicht steht die Bundeswehr schen Veränderungen auseinandersetzen und sich ent- vor neuen Herausforderungen. Wir haben mittlerweile sprechend weiterentwickeln. Ich bin dem Deutschen 16 000 Soldatinnen, was eine Bereicherung für die Bun- Bundestag sehr dankbar, dass er gerade heute diese De- deswehr darstellt. Es ist richtig, dass wir die Möglichkei- batte führt, um zu einer Fortentwicklung und Stärkung ten, Elternzeit und Teilzeit wahrzunehmen, erweitert ha- der Inneren Führung der Bundeswehr beizutragen. Die ben. So haben wir mittlerweile eine flächendeckende Regierung hat mithilfe des Parlaments Folgendes veran- Organisation von Familienbetreuungszentren und El- lasst: tern-Kind-Zimmern an 37 Standorten in der Bundes- Erstens haben wir in dieser Legislaturperiode viel im republik Deutschland eingerichtet. Wir haben konkrete Hinblick auf die Innere Führung erreicht. Wir haben die Maßnahmen für die weitere Verbesserung der Kinderbe- Zentrale Dienstvorschrift neu erlassen, damit die Innere treuung eingeleitet. Dies sind sehr konkrete Punkte. Da- Führung an die Einsatzrealität der Bundeswehr als einer mit sind wir dem Anspruch, Familie und Dienst bzw. Armee im Einsatz für den Frieden angepasst wird. soldatischen Auftrag miteinander zu vereinbaren, unmit- telbar gerecht geworden. Zweitens haben wir die politische Bildung weiterent- wickelt. Das heißt konkret: Sie bietet nun einen geeigne- Zur Inneren Führung gehören auch die Beteiligung ten Rahmen, um unseren Soldatinnen und Soldaten die unserer Soldatinnen und Soldaten, aber ebenso Themen Legitimität der Einsätze der Bundeswehr besser zu ver- wie die sanitätsdienstliche Versorgung und die Erhöhung mitteln. der Attraktivität der Bundeswehr. Ich freue mich sehr Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23229

Bundesminister Dr. Franz Josef Jung (A) darüber – das gehört meines Erachtens ebenfalls zu die- tern anderer Länder spricht, stellt man fest: Die Innere (C) sem Feld –, dass es gestern möglich war, einen Soldaten, Führung ist etwas, worum wir vielerorts beneidet wer- der im Mai des Jahres 2007 im Einsatz in Kunduz erheb- den. lich verwundet worden ist, nachdem er durch eine her- vorragende Rettungskette und Sanitätsversorgung wie- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Winfried derhergestellt war, auf der Grundlage des Einsatz- Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Weiterverwendungsgesetzes als Berufssoldaten zu über- Es ist richtig, der Inneren Führung Aufmerksamkeit nehmen. Dies ist, wie ich finde, ein wichtiges Zeichen, zu schenken und darüber auch im Parlament zu diskutie- dass wir unserer Verantwortung und der Fürsorgepflicht ren. Herr Minister, Sie haben gesagt: Manches wurde ge- gegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten gerecht tan. – In der Tat ist das eine oder andere in dieser Legis- werden. laturperiode getan worden. Ich möchte aber schon sehr (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie deutlich sagen: Es bleibt noch vieles zu tun. bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- Eines der zentralen Ergebnisse des Unterausschusses NISSES 90/DIE GRÜNEN) des Verteidigungsausschusses „Weiterentwicklung der In- Die Bundeswehr steht mitten in der Gesellschaft. Sie neren Führung“ ist, dass deutlich gemacht wurde – und hat ein hohes Ansehen. Die Bundeswehr findet unter zwar quer durch alle Fraktionen –, dass wir eine Steige- 87 Prozent unserer Bevölkerung Zustimmung. Es ist rung der Attraktivität der Bundeswehr brauchen. Die aber auch wahr, dass wir noch mehr Unterstützung unse- Bundesregierung hatte mit der Verabschiedung des rer Auslandseinsätze durch die Bevölkerung und mehr Dienstrechtsneuordnungsgesetzes im November 2008 Kommunikation in den gesellschaftlichen Gruppen brau- eine, wie ich finde, auf absehbare Zeit einzigartige chen. Ich glaube – das spüre ich immer wieder –, dass Chance, die Attraktivität des Dienstes zu steigern. Diese unsere Soldatinnen und Soldaten, die im Interesse unse- Chance wurde aus meiner Sicht vertan. rer Sicherheit ein Risiko für Leib und Leben eingehen, (Beifall des Abg. Dr. Rainer Stinner [FDP]) die Unterstützung unserer Bevölkerung verdienen; denn letztlich tun sie ihren Dienst im Interesse der Bürgerin- Es wurden punktuell kleinere Verbesserungen erreicht; nen und Bürger unseres Landes. aber leider ist auch die eine oder andere Verschlechte- rung zu beklagen. Mittlerweile ist die Innere Führung zum Exportschla- ger geworden. 20 Nationen haben ein Interesse daran, Ich möchte ein Beispiel ansprechen, das heute auch diese Grundprinzipien in ihre Armee einzubeziehen. Ich der Wehrbeauftragte bei der Vorstellung seines Berichtes möchte mich gerade beim Unterausschuss „Weiterent- in der Öffentlichkeit thematisiert hat: Es geht um die Ge- (B) wicklung der Inneren Führung“, der sich mit diesen Fra- bietsärzte und Rettungsmediziner, die der Bundeswehr (D) gen beschäftigt, herzlich dafür bedanken, dass wir in den letzten Jahren in großer Anzahl „von der Fahne gemeinsam die Grundsätze der Inneren Führung der ge- gegangen sind“. Ursache für diese Ärzteflucht sind zum sellschaftlichen Entwicklung immer weiter anpassen. einen deutlich attraktivere Arbeitsbedingungen auf dem Dies ist der beste Weg, die Bundeswehr modern, leis- zivilen Arbeitsmarkt, und das will unter den Bedingun- tungsfähig und damit auch attraktiv zu halten – im Inte- gen von schon etwas heißen. resse unserer Sicherheit, im Interesse von Frieden, Recht (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Wohl wahr!) und Freiheit unseres Vaterlandes. Ursache dafür sind zum anderen die Rahmenbedingun- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) gen des Dienstes, die sich innerhalb der letzten Jahre durchaus verschlechtert haben. Das hat der Wehrbeauf- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: tragte zu Recht angesprochen. Ich möchte hinzufügen: Die Kollegin Birgit Homburger hat jetzt das Wort für Es gibt einen ähnlichen Exodus bei den Transportpiloten die FDP-Fraktion. der Luftwaffe. Wie reagiert die Bundesregierung beim Dienstrechts- Birgit Homburger (FDP): neuordnungsgesetz? Sie nimmt durch die Streichung Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! eines entsprechenden Passus in § 125 des Beamten- Wir debattieren heute das Ergebnis der Arbeit des Unter- rechtsrahmengesetzes und durch die Einführung eines ausschusses „Weiterentwicklung der Inneren Führung“. sogenannten Zustimmungsvorbehalts des Bundesminis- Der Abschlussbericht dieses Unterausschusses mit den teriums der Verteidigung schlicht allen Zeit- und Berufs- Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Inneren Füh- soldaten die Möglichkeit, in ein Beamtenverhältnis zu rung ist bereits am 21. Juni 2007 vorgelegt worden. Es wechseln. Herr Minister, das sind Zwangsmaßnahmen sind also knapp zwei Jahre ins Land gegangen, bis wir statt Attraktivitätssteigerung. Wir sind überzeugt davon, uns heute hier im Plenum damit beschäftigen. Nichtsdes- dass das nicht der richtige Weg ist. totrotz ist es richtig, sich damit zu beschäftigen. Herr Minister, Sie haben es gerade schon deutlich gemacht Die bis 2014 befristete monatliche Zulage in Höhe – ich möchte das für die Fraktion der FDP unterstrei- von 600 Euro für Fachärzte, Rettungsmediziner und chen –: Die Innere Führung ist ein Markenzeichen der Flugzeugkommandanten der Luftwaffe, die im Dienst- Bundeswehr. Sie prägt das Bild der Bundeswehr hier in rechtsneuordnungsgesetz verankert wurde, erscheint als Deutschland und ganz besonders im Ausland; das zeigt eine etwas hilflose Reaktion und, wie wir mittlerweile sich bei den Auslandseinsätzen. Wenn man mit Vertre- wissen, durchaus auch als kontraproduktiv im Binnen- 23230 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Birgit Homburger (A) verhältnis zwischen den Soldatinnen und Soldaten. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) Diese Zusage kann natürlich auch nicht darüber hinweg- Gerd Höfer spricht jetzt für die SPD-Fraktion. täuschen, dass die Bundesregierung grundlegende Pro- bleme der Attraktivität des Dienstes nicht in den Griff Gerd Höfer (SPD): bekommt. Deshalb muss mehr getan werden, als Stillhal- teprämien zu bezahlen und darauf zu hoffen, dass sich Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! die Situation irgendwie ohne weiteres Zutun bessert. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich eine allgemeine Vorbemerkung machen. Erstens. Es ist ein (Beifall bei der FDP) ungewöhnlicher Vorgang, wenn Dinge, die von einem Unterausschuss eines Ausschusses zur Weiterentwick- Wir brauchen also ein Gesamtprogramm zur Attrakti- lung der Inneren Führung vorgelegt worden sind, teil- vitätssteigerung. Das bedeutet aus unserer Sicht, dass weise heute schon in der Praxis umgesetzt wurden. Da- wir endlich eine eigene Besoldungsgruppe S benötigen. für habe ich dem Bundesministerium der Verteidigung Angesichts des Zustandes der Kasernen, in denen und dem Bundesminister zu danken. Dienst getan wird, brauchen wir darüber hinaus auch an Zweitens. Trotz der Kritik von der Kollegin dieser Stelle eine Verbesserung der Situation. Zwar ha- Homburger bedauere ich außerordentlich, dass wir nicht ben wir jetzt durch das Konjunkturpaket II die eine oder zu einem gemeinsamen Antrag durch Integration oder andere Investition zu erwarten; nichtsdestotrotz bleibt Einbeziehung der Anträge der Grünen und der FDP ge- hier einiges zu tun. kommen sind. Wir waren dicht daran, aber in letzter Uns ist immer wieder vorgetragen worden, dass die Minute ist es gescheitert. Rahmenbedingungen des Soldatenberufs von zentraler Ich zitiere aus der neuen Zentralen Dienstvorschrift Bedeutung sind, wenn sich in den nächsten Jahren junge – ZDv – 10/1 „Innere Führung“ – die Soldatinnen und Menschen für einen Dienst in der Bundeswehr entschei- Soldaten auf der Tribüne, die Kameradinnen und Kame- den sollen. Dazu gehören Aspekte wie die Versetzungs- raden werden verstehen, was das ist –: häufigkeit, aber eben auch die von Ihnen angesprochene Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dies ist ein aus Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr er- meiner Sicht ganz zentraler Punkt, an dem sich in der füllen ihren Auftrag, wenn sie aus innerer Überzeu- Vergangenheit zu wenig getan hat, Herr Minister. gung für Menschenwürde, Freiheit, Frieden, Ge- rechtigkeit, Gleichheit, Solidarität und Demokratie Bei Truppenbesuchen, aber im Übrigen auch vom als die leitenden Werte unseres Staates aktiv eintre- Deutschen BundeswehrVerband wird immer wieder vor- ten. getragen, dass der Aspekt der Familienfreundlichkeit (B) sehr wichtig ist. Hierzu steht im Abschlussbericht des Hier wird ein hohes moralisches Rüstzeug für die Solda- (D) Unterausschusses „Innere Führung“ in den Handlungs- tinnen und Soldaten formuliert; denn einerseits geht es empfehlungen – ich zitiere –: um die Bindung der Soldatinnen und Soldaten an das Grundgesetz, andererseits um die Bindung an den Auf- Gerade hier muss die Bundeswehr mit eigenen Ein- trag. richtungen etwas tun, wenn die Kommunen auf- grund ihrer Finanzausstattung sich nicht in der Lage All dies zusammen ist eine militärische Führungs- sehen, gerade an großen Standorten mehr Betreu- philosophie für die Vorgesetzten, aber auch ein Leitbild ungsstätten zu bieten. für den Staatsbürger in Uniform. Diese Vorschrift ist sehr anspruchsvoll. Ich habe im Unterausschuss „Innere Das zieht sich durch sämtliche Stellungnahmen, Herr Führung“ gesagt, normalerweise könne man so etwas in Minister, auch durch die Ihre am heutigen Abend im Ple- einer Vorschrift nicht regeln, weil eine innere Überzeu- num des Deutschen Bundestags. Es ist jedoch festzustel- gung nicht befohlen werden und eine Befolgung dieser len, dass wir über Pilotprojekte bisher nicht hinausge- Grundsätze nicht kontrolliert werden kann. Aber den- kommen sind. Das ist kein Wunder, denn Geld zur noch sollte man auf dieses Leitbild hinarbeiten. Das ist Realisierung dieser Maßnahmen ist im Haushalt nicht die vornehmste Arbeit der Vorgesetzten in diesem Be- verankert worden, obwohl es im letzten Jahr im Rahmen reich. der Haushaltsberatungen versprochen worden ist. Vor diesem Hintergrund sagen wir vonseiten der Was die Bindung an das Grundgesetz betrifft, so wün- FDP-Bundestagsfraktion ganz deutlich, Herr Minister: sche ich mir, dass die politische Bildung einen etwas Wir dürfen, Sie dürfen hier nicht bei Bekundungen ste- stärkeren Stellenwert im Dienstalltag der Bundeswehr hen bleiben; vielmehr muss hier schlicht und ergreifend bekommt, damit man die Bindung an Menschenrechte, gehandelt werden. Wenn Sie auch auf Dauer die Attrak- Menschenwürde, Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit, tivität des Soldatenberufs erhalten wollen, dann muss an Gleichheit, Solidarität und Demokratie zumindest lehrt. den Stellen, an denen wir dringenden Bedarf haben, die Ob und wie stark sie dann internalisiert wird, hängt vom Attraktivität der Truppe gesteigert werden. Dazu gehö- Einzelnen ab. Auf diesen Bereich, Herr Minister, sollte ren eben auch solche „weichen“ Faktoren, über die wir das Augenmerk gerichtet werden. ansonsten nur selten reden. Die Bindung an den Auftrag ist bei der Bundeswehr Vielen Dank. ein Teil der soldatischen Tradition; denn in der Bundes- wehr gilt die Auftragstaktik, die im Gegensatz zur Be- (Beifall bei der FDP) fehlstaktik dem Soldaten eine Eigenverantwortung bei Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23231

Gerd Höfer (A) der Erfüllung des Auftrags einräumt. Er hat somit die schen Eifer – so will ich es einmal nennen – nicht über- (C) Möglichkeit, die Erfüllung dieses Auftrags nach seinem regulieren und nicht eine zusätzliche Bürokratie schaf- Können, Ermessen und Wissen selbst zu gestalten. fen, die die Führer vor Ort vor allem im Einsatz erheblich belastet. Allerdings gibt es auch Gefährdungspotenziale, die ich nennen will, weil alles das, was sich verbessert hat Ich bitte Sie, das mit zu bedenken, und danke für die und verbessert werden wird – das ist ja auch schon auf- Aufmerksamkeit. geführt worden –, von Frau Kollegin Wegener darge- stellt wird. Gefährdungspotenziale liegen unter anderem (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) darin – das hat mit der Institution des Wehrbeauftragten nichts zu tun; er kann nichts dafür; es ist gut, dass es ihn Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: gibt –, dass die Masse der Eingaben – 2008 waren es Für die Linke hat der Kollege Dr. Hakki Keskin das 5 474 – überwiegend von Zeit- und Berufssoldaten ge- Wort. macht werden, am wenigsten von den Wehrpflichtigen. Bei diesen Eingaben ist festzustellen, dass die Masse de- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert rer, die Eingaben eingereicht haben, ihren Disziplinar- Winkelmeier [fraktionslos]) vorgesetzten umgehen. Das wäre, wenn das weiter fort- schreiten würde, eine Umgehung der Prinzipien der Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE): Inneren Führung. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das liegt unter anderem an Folgendem: Wenn der Es geht heute um die Innere Führung der Bundeswehr, Wehrbeauftragte Eingaben hat, wendet er sich an das und dies aus gutem Grund. Die Antragsteller meinen, Ministerium. Im Ministerium geht es die „Hühnerleiter“ dass die Grundsätze, die das Handeln der Soldatinnen herunter, und man kontaktiert den Disziplinarvorgesetz- und Soldaten bestimmen, an neue Realitäten angepasst ten desjenigen, der betroffen ist; der erste ist der Kompa- werden müssen. niechef, der zweite der Bataillonskommandeur. Dann Im Kern geht es um die Frage, wie das bisherige Leit- geht es die Hühnerleiter wieder hoch, und es wird eine bild des Staatsbürgers in Uniform unter den gesellschaft- Entscheidung getroffen. lichen Veränderungen beibehalten werden kann. Mit ge- Dabei sind zwei Aspekte zu beachten. Ich möchte die sellschaftlichen Veränderungen sind in erster Linie die Kameradinnen und Kameraden ermuntern, die Diszipli- zunehmenden Auslandseinsätze der Bundeswehr ge- narvorgesetzten mehr in die Pflicht zu nehmen, bei ihnen meint. Die Soldatinnen und Soldaten müssen auch unter vorbeizuschauen und im gemeinsamen Gespräch die Kampfbedingungen und in einer fremden gesellschaftli- (B) Dinge, die sie beschweren, zu lösen. Dafür ist er da; chen Umgebung ein politisch und moralisch zu verant- (D) denn er hat eine umfängliche Fürsorgepflicht. Wenn also wortendes Handeln unter Beweis stellen. Die Innere die Disziplinarvorgesetzten umgangen werden, dann ist Führung verfolgt also das Ziel, die Bundeswehr in die das kein Zeichen für gelebte Innere Führung. rechtsstaatliche Ordnung einzubinden und in die Gesell- schaft zu integrieren. Damit sollen die Verselbstständi- Ein zweites Gefährdungspotenzial – das werden Sie, gung einer militärischen Eigenkultur und die Entstehung liebe Kolleginnen und Kollegen im Parlament, nicht eines soldatischen Sonderethos ausgeschlossen werden. gerne hören – hat mit der Frage zu tun, ob das Prinzip der Auftragstaktik in der Bundeswehr stringent und dau- Diesem Konzept können wir natürlich zustimmen. erhaft durchgehalten werden kann; denn die Summe der Das Problem ist jedoch seine praktische Anwendung, Anfragen aus dem Parlament und der Berichtsanforde- wie wir dies beispielhaft gerade gesehen haben. In den rungen durch den Verteidigungsausschuss führt dazu, jährlichen Berichten des Wehrbeauftragten werden die dass es die Hühnerleiter wieder heruntergeht und derje- Defizite immer wieder aufs Neue aufgelistet, ohne dass nige, der in irgendeiner Form im Einsatz gehandelt hat, sich daran bislang etwas Grundsätzliches geändert hätte. indirekt dem Parlament gegenüber rechenschaftspflich- Vorfälle wie die körperlichen Misshandlungen von Sol- tig wird, indem er diese Anfragen und Eingaben beant- daten in der Coesfelder Kaserne sind zwar nicht die Re- worten muss. gel, aber leider auch keine Einzelfälle. Es muss klar sein, dass bei der Menschenwürde keine Kompromisse ge- Das verunsichert viele der Kommandeure und Verant- macht werden dürfen. Die Gehorsamspflicht von Solda- wortlichen vor Ort, weil sie sich fragen: Wie weit geht tinnen und Soldaten endet dort, wo erkennbar rechtswid- eigentlich mein Ermessensspielraum? Diesen sollten sie rige Handlungen befohlen werden. Zugleich müssen die im Sinne des Prinzips der Auftragstaktik im Rahmen der Soldatinnen und Soldaten besser vor Verletzungen ihrer Inneren Führung haben. Weiter fragen sie sich: Inwie- Menschenwürde geschützt werden. Daher brauchen sie weit sollen wir uns praktisch für alles rechtfertigen, was mehr Anlaufstellen mit Vertrauenspersonen, an die sie gewesen ist? In Stößen kommen die Anträge und Einga- sich mit ihren Problemen wenden können. ben aus dem Verteidigungsausschuss und dem Parla- ment. Das führt teilweise dazu, dass die Führer vor Ort Die Linke fordert zum wiederholten Male, die Rechte nicht frei sind in ihrer Entscheidung und sich erst rück- des Wehrbeauftragten zu stärken. Seine Arbeit hat sich versichern, was sie zu tun bzw. zu lassen haben. Ich habe bewährt. Unserer Ansicht nach sollte er das Recht haben, gesagt, das ist ein Gefährdungspotenzial. Ich habe nicht eigenständig und ohne konkreten Anlass Berichte vom behauptet, dass es immer und überall so ist. Aber wir Verteidigungsministerium über einzelne Reformvorha- sollten aufpassen, dass wir mit unserem parlamentari- ben anzufordern. Selbstverständlich sollte er auch unan- 23232 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Dr. Hakki Keskin (A) gemeldet Truppenbesuche in den Einsatzgebieten im gung. Wie sieht es aber damit aus? Der Herr Wehrbeauf- (C) Ausland durchführen. tragte hat heute seinen Jahresbericht vorgelegt. Ich schaue mir immer zunächst das entsprechende Kapitel Eines der Hauptprobleme bildet die Überfrachtung an. Es ist schon notorisch, dass immer wieder festgestellt der Bundeswehr mit Sonderaufgaben. Mittlerweile prä- werden muss: Es mangelt an dieser Stelle sehr. Diesmal gen riskante Auslandseinsätze in innenpolitischen Frie- muss der Wehrbeauftragte sogar die Schlussfolgerung denszeiten den Bundeswehralltag. Der Ausnahmefall ist ziehen, dass die Soldatenbeteiligung, dieses wesentliche somit zum Regelfall geworden. Genau aus diesem Element, offensichtlich nicht ernst genommen wird. Grunde wollen die Antragsteller die Grundsätze der In- Dies ist nicht hinzunehmen. neren Führung umstrukturieren. Insbesondere im Koali- tionsantrag sticht dieser Aspekt deutlich hervor. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Hakki Keskin [DIE Die Linke lehnt als einzige Fraktion im Bundestag die LINKE]) Kampfeinsätze der Bundeswehr im Ausland ab. Wir hören immer wieder von Soldaten, dass sie bei (Beifall bei der LINKEN – Winfried Nachtwei Politikerbesuchen in den Einsatzgebieten des Öfteren [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alle Ein- dazu vergattert werden, nicht außer der Reihe an die sätze! Auch Peacekeeping!) Politiker heranzutreten und mit ihnen Gespräche zu füh- Der Kernauftrag der Bundeswehr liegt nach unserer ren. Das ist eine Art Maulkorb. Der Wehrbeauftragte Meinung, lieber Kollege, in der Landesverteidigung. Da- stellt des Weiteren fest, dass die Zahl der anonymen Ein- mit sind die Staatsgrenzen der Bundesrepublik Deutsch- gaben aus Angst vor Benachteiligung eindeutig zuge- land gemeint. Wir können nicht mit Initiativen einver- nommen hat. Dies ist mit den Vorgaben der Inneren Füh- standen sein, die den Zweck haben, die Bundeswehr zu rung nicht vereinbar. einer permanenten Einsatzbereitschaft sogar im Ausland (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu befähigen. Die Sicherheit für Deutschland wird damit gewiss nicht größer, sondern immer stärker gefährdet. Ein weiterer Aspekt, mit dem wir Verteidigungspoliti- ker uns immer mehr beschäftigen müssen und der auch Vielen Dank. vom Wehrbeauftragten heute sehr deutlich genannt wor- (Beifall bei der LINKEN) den ist, ist die Tatsache, dass in den Streitkräften das Vertrauen in die höhere militärische und politische Füh- rung offenkundig bröckelt. Wir wissen, dass dies ver- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schiedene Facetten hat. Als Erstes muss man feststellen, Das Wort hat der Kollege Winfried Nachtwei, Bünd- dass die Spitzen der Politik und wahrscheinlich auch zu (B) nis 90/Die Grünen. (D) einem Teil wir es nicht schaffen, den Auftrag der Bun- deswehr in den Einsatzgebieten überzeugend darzustel- Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): len. Wir müssen plausibel machen, dass die Einsätze Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! aussichtsreich sind. Dass dies noch nicht der Fall ist, ist Die Innere Führung und das Leitbild vom Staatsbürger ein erhebliches Defizit, an dessen Beseitigung intensiv in Uniform sind eine zentrale Lehre aus der verheeren- gearbeitet werden muss. den Aggressionsgeschichte der Wehrmacht. Diese Lehre ist eine wichtige Errungenschaft zur Einbindung von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Streitkräften in die bundesdeutsche Demokratie und ein Die Innere Führung ist nicht nur eine Sache der Bun- Gütesiegel der Bundeswehr. deswehr, ihrer Soldatinnen und Soldaten und der politi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie schen Führung, sondern auch eine Sache der Gesell- des Abg. Hans Raidel [CDU/CSU]) schaft. Das ist bisher fast gar nicht angesprochen worden. Die Wertschätzung der Inneren Führung ist bei allen Fraktionen dieses Hauses insgesamt hoch. Darüber – das (Anita Schäfer [Saalstadt] [CDU/CSU]: Ich sage ich nicht einfach nur daher – besteht Konsens. spreche es an!) Auch wenn wir nachher über die Anträge unterschied- Von vom Balkan und aus Afghanistan zurückkehrenden lich abstimmen, so muss man bei genauem Hinsehen Soldaten hört man fast durch die Bank, dass sie mit ihren doch sagen, dass es sehr viele Überschneidungen gibt. Erfahrungen und Leistungen überwiegend auf Desinte- Auch wenn unser Antrag und der Antrag der FDP abge- resse stoßen. Der Begriff des Bundespräsidenten lehnt werden, werden wir zu weiteren vernünftigen Be- „freundliches Desinteresse“ trifft inzwischen nicht mehr ratungen kommen. zu; er ist inzwischen beschönigend. In Wirklichkeit gibt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN es mittlerweile eher die Reaktion, die kalte Schulter zu sowie bei Abgeordneten der SPD – Anita zeigen, ausgedrückt zum Beispiel in der Frage, an einen Schäfer [Saalstadt] [CDU/CSU]: Sehr gut!) Soldaten gerichtet, der in Afghanistan Schlimmes erlebt und sich fantastisch eingesetzt hat: Warum machst du Nun zu Aspekten, bei denen kein Konsens besteht, das denn für A 10? Du bist doch im Grunde selbst weil sie Probleme im Alltag der Soldaten beleuchten. schuld. Zu einem mündigen Soldaten und einer mündigen Solche Haltungen breiten sich inzwischen aus. Solda- Soldatin gehört selbstverständlich die Soldatenbeteili- ten, die seelisch verwundet aus dem Einsatz zurückkom- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23233

Winfried Nachtwei (A) men – es sind ja viel mehr, als wir wissen –, stoßen in der die Übernahme größerer internationaler Verantwor- (C) der Regel auf wenig Verständnis. Die Erfahrungswelten tung verbunden war? Wichtig war für uns auch, über die von Soldaten im Einsatz, ihren Familien und der Zivilge- Öffnung aller Bereiche des Dienstes bei der Bundeswehr sellschaft driften immer mehr auseinander. Dies ist de für Frauen zu diskutieren und praktikable Lösungen zu facto ein Entfremdungs- und Desintegrationsprozess. finden. Das ist menschlich belastend und politisch hochriskant. Dem muss entgegengewirkt werden. Dem kann aber Im Abschlussbericht des Unterausschusses „Innere nicht einfach durch symbolische Handlungen entgegen- Führung“ wurde dies umfassend dokumentiert. Die Er- gewirkt werden. gebnisse sind in die Gestaltung der neuen Zentralen Dienstvorschrift „Innere Führung“ eingeflossen. Nun Folgendes ist dafür notwendig: Es muss zum einen muss sich diese erneuerte Richtschnur im Alltag der ehrlich mit der Realität der Einsätze umgegangen wer- Truppe beweisen. den. Auch der Wehrbeauftragte hat heute in seinem Jahres- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bericht wieder auf die besondere Bedeutung der Inneren Es muss eine verlässliche Fürsorge für die Soldaten ge- Führung hingewiesen. Dabei wird an einigen Stellen ben, und zwar auch für diejenigen, die ausgeschieden deutlich, wo es bei der Umsetzung im täglichen Dienst- sind und die sehr oft völlig vergessen werden: für die Ve- bereich hapert. Hier gilt es, ständig weiter an Verbesse- teranen. Das ist ein zunehmendes Problem. Ganz ent- rungen zu arbeiten. scheidend ist zum anderen, dass ein wirklicher Dialog Mir sind bei all diesen Fragen einige Dinge besonders inklusive einer Streitkultur zwischen der Zivilgesell- wichtig: Innere Führung besteht nicht nur aus dem Pa- schaft, der Bundeswehr und der Politik zustande kommt. pier der ZDv 10/1. Es reicht nicht, wenn diese ordnungs- Darum steht es zurzeit schlecht. gemäß vereinnahmt im Regal der Vorschriftenstelle steht. Auch allein ihre Lektüre führt noch nicht zu dem Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ziel, den Soldaten zu einem verantwortungsbewusst Herr Kollege Nachtwei! handelnden Staatsbürger in Uniform zu machen. Sicher- heit über ethische Grundsätze, tapferes Dienen, interkul- Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): turelle Kompetenz, wohl verstandenes Traditionsbe- Ich komme zum Ende. wusstsein – all dies lässt sich nicht einfach durch Lesen lernen. Ich nenne auch die politische Bildung und den le- benskundlichen Unterricht in der Bundeswehr. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (B) Nein, Sie müssen schon am Ende sein. Vor allem aber geht es um das gelebte Miteinander in (D) der Truppe und besonders um die Vorbildfunktion des Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vorgesetzten – angefangen beim Gruppenführer in der Grundausbildung, der jedes Quartal mit neuen Wehr- Die Chancen sind gut; aber sie müssen von allen ganz pflichtigen umgeht. Innere Führung ist ein lebendiger anders genutzt werden, weil eine kooperative Friedens- Prozess, der sich auch zwischen den Neuauflagen der politik auf das Zusammenwirken von Zivilexperten, Dienstvorschrift ständig weiterentwickelt. Wir müssen Diplomaten, Polizisten und Soldaten angewiesen ist. dabei übrigens auch darauf achten, dass Innere Führung Danke schön. mit zeitgemäßen Mitteln und Begriffen vermittelt wird. Vor allem aber sind es die Soldaten selbst, die die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Grundlagen der Inneren Führung unter immer wieder sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und neuen Umständen anwenden müssen: ob in ihrer Ver- der SPD) mittlung als Vorgesetzte oder im Handeln auf ihrer Grundlage gegenüber Dritten, im täglichen Dienst am Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Heimatstandort genauso wie im Einsatz. Ich gebe das Wort der Kollegin Anita Schäfer, CDU/ CSU-Fraktion. Dafür müssen wir ihnen aber auch die praktische Möglichkeit geben, beispielsweise im Bereich der Ver- einbarkeit von Familie und Dienst. Dieser Bereich ist als Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): neues Gestaltungsfeld der Inneren Führung auf- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! genommen worden. Dafür ist es nun auch notwendig, die Die Innere Führung in der Bundeswehr steht für die Ein- erforderlichen Teilzeitstellen und die entsprechende Per- bindung der Soldatinnen und Soldaten in das freiheitli- sonalstruktur zur Verfügung zu stellen. Der Bundes- che und demokratische Wertesystem der Bundesrepublik wehrVerband hat kürzlich noch einmal auf die Situation Deutschland. Wir haben uns im Unterausschuss zur In- im Sanitätsdienst hingewiesen. Hier sind derzeit neren Führung ausführlich mit diesem Thema befasst. 800 Stellen wegen familienbedingter Abwesenheit va- Wir haben uns die Frage gestellt: Wie muss dieses be- kant. währte Modell an Veränderungen in Gesellschaft und Politik angepasst werden, an Veränderungen, die direkte Keine Frage: Die sanitätsdienstliche Versorgung un- Auswirkungen auf die Bundeswehr haben, beispiels- serer Soldaten ist hervorragend. Es gilt aber dafür zu sor- weise durch die Erlangung der vollen staatlichen Souve- gen, dass das auch langfristig so bleibt, und zwar im ränität Deutschlands nach der Wiedervereinigung, mit Ausland ebenso wie im Inland. Erste Verbesserungen ha- 23234 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Anita Schäfer (Saalstadt) (A) ben wir gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) bereits erreicht. Wir werden auf diesem Weg weiter vo- Für die SPD-Fraktion gebe ich das Wort der Kollegin rangehen. Dazu gehören die ausreichende personelle Hedi Wegener. Unterfütterung flexibler Besetzungsmöglichkeiten und generell attraktive Dienstbedingungen. Das gilt nicht nur (Beifall bei der SPD) für den Sanitätsdienst, sondern auch für alle anderen Truppengattungen. Hedi Wegener (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Herren und Da- Wir werden uns auch weiter für die Verbesserung der men! Als letzte Rednerin stelle ich fest: Es ist vieles ge- Möglichkeiten zur Kinderbetreuung einsetzen. Hier ha- sagt, aber noch nicht alles. ben wir mit dem Verteidigungsministerium bereits ein ganzes Paket an Maßnahmen geschnürt. Die Umsetzung Ich fange mit dem Antrag der Koalition an. Darin ha- dieser Maßnahmen steckt zwar noch in der Anfangs- ben wir in weiser Voraussicht festgelegt: phase; von einem flächendeckenden Angebot sind wir Die Grundsätze der Inneren Führung sind eine Er- noch weit entfernt. Aber wir von der Union werden da- folgsgeschichte. Sie sind integraler Bestandteil der rauf achten, dass die notwendigen Mittel bereitgestellt Bundeswehr und zugleich ihr charakteristisches, werden und dass qualifiziertes Personal schnellstmög- unverwechselbares Markenzeichen. lich die wichtigen Aufgaben übernimmt. Denn es ist un- erlässlich, dass diese Möglichkeiten auch tatsächlich in Weiter heißt es: der Breite der Truppe ankommen und genutzt werden können. Dazu gehören beispielsweise auch Eltern-Kind- Die Gestaltungsfelder der Inneren Führung müssen Arbeitszimmer für jeden Standort, und zwar mit der not- dynamisch auf die gesellschaftlichen, militärischen wendigen Ausstattung; der Raum allein nutzt nichts. Zu- und technologischen Entwicklungen, die veränder- dem möchte ich noch einmal die Arbeit der Familienbe- ten Einsatzszenarien der Bundeswehr und die stra- treuungszentren hervorheben. Hier sollten wir alles tegischen Veränderungen und Herausforderungen dafür tun, dass ihre Effektivität durch die intelligente reagieren. Sie müssen immer wieder an der Wirk- Vernetzung mit ehrenamtlichem Engagement weiter ge- lichkeit überprüft und … angepasst werden. steigert wird. Um genau diese Entwicklungen geht es. Neben den Die Bundeswehr hat sich mit der Gesellschaft und mit Umwälzungen nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes der internationalen Rolle der Bundesrepublik gewandelt haben sich eben auch die gesellschaftlichen Rahmenbe- und wird sich auch weiter wandeln. Gleichzeitig muss dingungen verändert. Zwei Entwicklungen spreche ich sie ein festes Gerüst aus Werten und Tradition bewahren, an: Zum einen ist dies die Integration von Frauen in die (B) (D) um ihren Soldaten Orientierung zu geben. Das ist die Bundeswehr, eine der größten Herausforderungen in den Herausforderung, vor der die Innere Führung immer ge- letzten Jahren. Zum anderen ist für junge Familien – nicht standen hat und weiter stehen wird. Das ist kein automa- nur für Soldatinnen, sondern auch für Soldaten – die Ver- tischer Prozess. Vielmehr erfordert dies immer wieder- einbarkeit von Familie und Dienst eine ganz zentrale kehrende Überprüfungen und sorgfältige Justierung. Frage der Lebensplanung geworden. Immerhin sind zur- Dieser Verantwortung müssen Parlament und Regierung zeit streitkräfteweit 8,6 Prozent aller Berufs- und Zeitsol- stets aufs Neue gerecht werden. daten Frauen. 16 300 Frauen tun ihren Dienst in der Bun- deswehr. Im Sanitätsdienst haben wir eine Quote von Wegen der besonderen Bedeutung des Themas hätte 41,2 Prozent und bei den übrigen Laufbahnen von ich es begrüßt, wenn wir uns als Ergebnis unserer Bera- 5,4 Prozent. Das ist eigentlich reichlich wenig. Festge- tungen auf einen gemeinsamen Antrag verständigt hät- schrieben hatten wir 50 Prozent und 15 Prozent. Wir sind ten, zumal wir in vielen Bereichen nahe beieinander la- also noch weit von unserem Ziel entfernt, und die Zahl gen. Umso mehr bedauere ich, die Anträge von FDP und der Bewerberinnen und Bewerber ist inzwischen rückläu- Grünen heute ablehnen zu müssen. fig. Woran mag das liegen? Unsere Zusammenarbeit im Unterausschuss „Innere Wir haben in der letzten Woche eine Studie des So- Führung“ war sehr konstruktiv. Im Namen des Vorsit- zialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr mit dem zenden, Herrn Dr. Karl Lamers, möchte ich den Kolle- munteren Titel „Truppenbild mit Dame“ zur Verfügung ginnen und Kollegen dafür noch einmal ganz herzlich gestellt bekommen. Darin werden einige Schwierigkei- danken. Auch Sie, Herr Minister Dr. Jung, und die Mit- ten bei der Vereinbarkeit von Familie und Dienst sowie arbeiterinnen und Mitarbeiter Ihres Hauses möchte ich bei der Teilzeitarbeit beschrieben. Teilzeitarbeit steht bei an dieser Stelle in den Dank einschließen. den meistgenannten Problemen der Frauen in der Bun- deswehr an zweiter Stelle. Bei den Männern steht das Der Weiterentwicklung der Inneren Führung sollten Problem der Vereinbarkeit immerhin auf Platz drei. wir weiterhin gemeinsam große Aufmerksamkeit wid- men, damit sie das Erfolgsmodell bleibt, das die Bundes- Meine Herren und Damen, wir wollen in Zukunft den wehr zu einer fest in der Demokratie verankerten Armee Anteil der Frauen in der Bundeswehr vergrößern. Frauen gemacht hat. wirken integrativ und steigern die Attraktivität der Bun- deswehr. Die Attraktivität der Bundeswehr müssen aller- Herzlichen Dank. dings auch wir steigern. Deshalb fordern wir in unserem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Antrag, dafür Sorge zu tragen, dass zeitgemäße Kon- neten der SPD) zepte zur Vereinbarkeit von Familie und Dienst entwi- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23235

Hedi Wegener (A) ckelt werden. Die Zentrale Dienstvorschrift 10/1, die nicht, erst recht nicht bei Vorgesetzten. Hier ist also noch (C) heute Abend schon mehrfach genannt worden ist, führt einiges zu tun. dazu aus: Ich weiß aber, dass dieses Thema beim General- Die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie inspekteur in guten Händen ist. – Ich vermute, Herr Ge- und Dienst ist eine wesentliche Führungsaufgabe. neralinspekteur, dass Sie sich bei solchen Vorkommnis- Angemessene Rücksichtnahme auf familiäre und sen auch manchmal die Haare raufen. partnerschaftliche Belange der Soldatinnen und Meine Herren und Damen, in einer Broschüre der Soldaten bei der Umsetzung dienstlicher Erforder- Bundeswehr heißt es: nisse ist eine dienstliche Pflicht aller Vorgesetzten und der Personalführung. Die Attraktivität des Dienstes und damit der Erfolg der Personalgewinnung und -bindung ist maßgeb- Im Jahr 2008 haben von den 175 000 Soldaten knapp lich von der Vereinbarkeit von Familie und Dienst 60 000 ein oder mehr Kinder. Von den circa 15 000 Sol- in den Streitkräften abhängig. datinnen, die befragt worden sind, sind es knapp 2 400. Daran wollen wir uns halten. Wir wollen weiterhin daran Im Übrigen sind auch das nicht besonders viele. Immer- arbeiten, dass die Attraktivität der Bundeswehr steigt hin nutzen heute circa 800 Soldaten die Elternzeit, und und es mehr Frauen in der Bundeswehr gibt. Letzteres an 37 Standorten – der Herr Minister hat es gesagt – gibt richte ich besonders an die jungen Damen, die auf der es Eltern-Kind-Zimmer. Herr Minister Jung, als flächen- Tribüne sitzen. deckend würde ich das aber nicht bezeichnen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten In einer Broschüre der Bundeswehr heißt es: der CDU/CSU) Die Attraktivität des Dienstes und damit der Erfolg der Personalgewinnung und -bindung ist maßgeb- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: lich von der Vereinbarkeit von Familie und Dienst Ich schließe die Aussprache. in den Streitkräften abhängig. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Verteidi- gungsausschusses auf Drucksache 16/12071. Unter Nr. 1 Auch der Bericht des Wehrbeauftragten macht deutlich, seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss dass es hier dringenden Verbesserungsbedarf gibt. Ge- die Annahme des Antrags der Fraktionen von CDU/CSU rade heute Morgen hat der Wehrbeauftragte seinen Jah- und SPD auf Drucksache 16/8378 mit dem Titel „Kon- resbericht 2008 vorgestellt, über den wir noch diskutie- zept der Inneren Führung stärken und weiterentwi- ren werden. Von ihm haben wir gehört, dass sich die ckeln“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – (B) (D) Zahl der Eingaben zu diesem Thema verdreifacht hat. Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss- Herr Keskin, in einem Punkt haben Sie in jedem Falle empfehlung ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU nicht recht. Sie haben gefordert, dass der Wehrbeauf- und FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und tragte ohne Anmeldung zu den Soldaten geht. Dies tut er Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange- jetzt schon. Er sagt es vorher natürlich nicht immer den nommen. Abgeordneten, weil diese dann, wenn sie besonders me- Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt diengeil sind, noch vor dem Besuch des Wehrbeauftrag- der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion ten zur Presse gehen. Dies funktioniert natürlich nicht. der FDP auf Drucksache 16/8376 mit dem Titel „Innere Ich halte es für gut, dass er auch heute schon in die Führung stärken und weiterentwickeln“. Wer stimmt für Standorte geht, ohne sich anzumelden. Über dieses diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Thema werden wir aber noch sprechen. Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposi- Herr Robbe macht auf ein weiteres Problem aufmerk- tion angenommen. sam: dass wir uns in Zukunft in stärkerem Maß der Pflege und Betreuung der Familienangehörigen im Aus- Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei- land widmen müssen. Dies ist bei uns im Ausschuss ein ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags ständiges Thema. der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8370 mit dem Titel „Bundeswehr – Innere Führung Meine Herren und Damen, generell kann zwar gesagt konsequent umsetzen“. Wer stimmt für diese Beschluss- werden, dass die Integration der Frauen in die Streitkräfte empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – funktioniert. Es sollte uns aber zu denken geben, dass im- Die Beschlussempfehlung ist ebenfalls mit den Stimmen mer noch ein Drittel der Männer glaubt, dass die Bundes- der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition ange- wehr mit Frauen an Kampfkraft verliere, und ein Viertel nommen. glaubt, die eigene Einheit wäre ohne Frauen besser. Der Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Bericht des Wehrbeauftragten zitiert ein typisches Bei- spiel für die in Männerköpfen scheinbar herrschende Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Denkweise. So äußerte sich ein Bataillonskommandeur richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales zur Anwesenheit einer Soldatin: Das ist ja gut, dann ha- (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten ben wir jemanden, der den Tisch abräumt. – Im normalen Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Barbara Höll, Dr. Dietmar Leben würde frau sagen: „Blödmann, mach doch deinen Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Kram alleine“. Bei der Bundeswehr geht das aber leider DIE LINKE 23236 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Kostenpflichtige Service-Telefonnummer der Das ist der Grund, weshalb die Menschen froh sind, dass (C) Arbeitsagentur in eine gebührenfreie Rufnum- es Servicehotlines gibt: Sie können anrufen, kommen mer umwandeln gut durch und werden beraten. – Drucksachen 16/9097, 16/11802 – Die durchweg hohe Kundenzufriedenheit – das ergibt die Evaluation der Servicetelefone durch die Bundes- Berichterstattung: agentur für Arbeit – und die große Nachfrage zeigen, dass Abgeordnete Katja Mast wir auf einem guten Weg sind. Aber wir wissen, dass wir noch ein Stück des Weges vor uns haben; denn wir wol- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die len uns damit nicht zufriedengeben. Wir wollen die welt- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre beste Arbeitsvermittlung. Dazu gehören die Kundenser- keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. vicehotlines. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gin Katja Mast, SPD-Fraktion. der CDU/CSU) Heute diskutieren wir über die Frage: Muss ich für Katja Mast (SPD): diesen zusätzlichen Telefonservice Gebühren zahlen? In Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- diesem Fall handelt es sich wohlgemerkt nicht um Ge- gen! Menschen in Arbeit vermitteln und ihnen neue bühren an die Bundesagentur für Arbeit – dies könnte Chancen auf Teilhabe geben – das waren unsere Ziele man, wenn man will, dem Antrag entnehmen –, sondern bei der Umwandlung der alten Arbeitsämter zu moder- um Gebühren an die Deutsche Telekom, und zwar zum nen, kundenorientierten Agenturen für Arbeit. Wir ha- normalen Ortstarif. Aktuell betragen die von den Anru- ben die früheren Arbeitsämter umgekrempelt und die fern aus dem Festnetz zu tragenden Gebühren 3,9 Cent Mitarbeiter von Papierkram entlastet; denn klar ist: Je pro angefangener Minute. Auf das Jahr gerechnet entste- mehr Zeit für die persönliche Beratung zur Verfügung hen durchschnittlich Kosten von 1 bis 2 Euro, insbeson- steht, umso schneller findet der oder die Arbeitsuchende dere auch deshalb, weil man sich von der Bundesagentur wieder einen Job. für Arbeit zurückrufen lassen kann und die Dauer der Telefonate deshalb relativ kurz ist. Doch damit nicht genug: Um unser Ziel, mehr Zeit für persönliche Gespräche zu schaffen, zu erreichen, muss- (Zurufe von der LINKEN) ten weitere Schritte gegangen werden. Deshalb wurden Die SPD-Bundestagsfraktion steht zur Selbstverwal- für Standardanfragen Servicetelefonnummern eingerich- tung der Bundesagentur für Arbeit. Der Verwaltungsrat (B) tet. Die telefonische Beratung hat sich in den letzten (D) ist aus Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern sowie zehn Jahren stark verbessert. Während Ende der 90er- Vertretern des Bundesministeriums und der Landes- Jahre nur 30 Prozent der Kundenanfragen ihr tatsächli- arbeitsministerien zusammengesetzt. Dieser Verwal- ches Ziel erreichten, haben wir heute eine durchschnittli- tungsrat genießt unser Vertrauen; dies bedeutet gleich- che Erreichbarkeit von über 80 Prozent. Der Antrag, zeitig Verantwortung. über den wir heute beraten, geht darauf ein. Bei der Modernisierung der Arbeitsvermittlung haben Lassen Sie mich aber noch kurz zur aktuellen Lage wir deshalb eine Dreiteilung der Verantwortlichkeiten kommen. Gerade in der Wirtschaftskrise brauchen wir eingeführt: Die Politik setzt die Rahmenbedingungen, mehr Zeit für die Vermittlung und deshalb mehr Vermitt- das Bundesarbeitsministerium gewährleistet, dass Ge- ler für Arbeitsuchende. Aus diesem Grund haben wir im setze und sonstiges Recht beachtet werden, und ein star- Rahmen unserer Konjunkturprogramme I und II dafür ker Verwaltungsrat als Selbstverwaltungsorgan der Bun- gesorgt, dass sich zusätzlich 5 000 Vermittlerinnen und des-agentur für Arbeit sorgt für die Zweckmäßigkeit und Vermittler intensiv um die Vermittlung kümmern kön- Durchführung der Arbeitsvermittlung selbst und ist auch nen. Kümmerer im Hinblick auf den Servicegedanken bei der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Arbeitsvermittlung. der CDU/CSU) (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Der Verwaltungsrat ist „Kümmerer“? Sehr interessant!) Allein im Jahr 2007 gingen 50 Millionen Anrufe bei den Telefoncentern der Arbeitsagenturen, der Familien- Die Sozialdemokraten sehen in einer gebührenfreien kassen und zahlreicher Arbeitsgemeinschaften ein. Dies Servicetelefonnummer ein berechtigtes Anliegen einer zeigt: Unsere Strategie stimmt. Der Beratungsservice am modernen Dienstleistungseinrichtung, die aus Beitrags- Telefon wird von den Kunden angenommen. Als Bun- und Steuermitteln finanziert wird. destagsabgeordnete aus einem Flächenwahlkreis ist mir klar, woran das liegt. Beispielsweise braucht ein Bewoh- Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, finden, dass es ner aus Sternenfels bis zur Familienkasse in Nagold aber nicht Aufgabe des Parlaments ist, sich in jede orga- zweieinhalb Stunden. Heute ruft er einfach an. Per Tele- nisatorische Detailfrage der Bundesagentur für Arbeit fon geht das schnell, direkt und unbürokratisch. einzumischen. Wir sind der festen Überzeugung, dass diese operativen Fragen bei den Mitgliedern des Verwal- (Zuruf von der LINKEN: Das ist doch über- tungsrats der Bundesagentur für Arbeit in guten Händen haupt nicht das Thema!) sind, daher auch dort zu klären sind und hoffentlich bald Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23237

Katja Mast (A) in unserem Sinne einer kostenfreien Servicehotline ent- Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich weiß, wovon ich (C) schieden werden. rede. – Die Menüstruktur der Hotline ist zudem über- sichtlich und leicht verständlich. Es werden Fragen zu (Beifall bei der SPD) Hartz IV und Kindergeld, zur Berufsberatung und zur Weil wir aber der Auffassung sind, dass dies eine Frage Ausbildungsvermittlung beantwortet. Auch bei Fragen der Selbstverwaltung der Bundesagentur für Arbeit ist, zum persönlichen Fall eines Betroffenen wird kompetent lehnen wir den vorliegenden Antrag ab. weitergeholfen. Jetzt bleiben mir noch zwei Minuten und 30 Sekun- Sicherlich könnte auch hier noch das eine oder andere den Redezeit. Ich schenke sie meinen Kolleginnen und verbessert werden. So könnte zum Beispiel die Möglich- Kollegen als Lebenszeit und schließe damit meinen Re- keit, sich über die Servicenummer arbeitsuchend zu mel- debeitrag. den, für den Anrufer noch besser herausgestellt werden. Bisher ist sie unter dem Menüpunkt „Andere Anliegen“ (Beifall bei der SPD) versteckt.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Am Service macht die Linkspartei ihre Kritik aber gar Der Kollege Heinz-Peter Haustein, FDP-Fraktion, hat nicht fest. – Herr Claus, Sie müssen schon zuhören. – Sie seine Rede zu Protokoll gegeben.1) hat sicher lange gesucht, bis sie endlich glaubte, mit der Gebühr von 3,9 Cent pro Minute ein Haar in der Suppe Ich erteile dem Kollegen Paul Lehrieder, CDU/CSU- gefunden zu haben. Die Arbeitsagenturen würden durch Fraktion, das Wort. die Hotline entlastet, gäben die Einsparungen aber nicht (Beifall bei der CDU/CSU) an die Kunden weiter, heißt es im Antrag der Linkspar- tei. Paul Lehrieder (CDU/CSU): Sie behaupten, die Bundesagentur für Arbeit stelle da- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Damen und mit die Qualität ihrer Beratungsdienste infrage und Herren Kollegen! Es passiert selten, dass die Linkspartei bürde den Arbeitslosen erhebliche Kosten auf. Sie tun die Arbeit der Regierungskoalition in einem ihrer An- so, als hätte die Bundesagentur für Arbeit ihre Service- träge lobt. Wenn das, wie heute, einmal der Fall ist, freut nummer nur im eigenen Interesse, zur eigenen Entlas- uns das natürlich, Herr Claus, auch wenn Ihr Lob leider tung und Rationalisierung eingerichtet etwas versteckt daherkommt. ( [SPD]: Richtig!) (Roland Claus [DIE LINKE]: Was? Wieso? Der erste Satz!) und ihre Kunden einer teuren kommerziellen Hotline (B) ausgeliefert, die nur die Taschen des Anbieters füllt. So (D) Darüber kann man sich wirklich freuen: dass die Bun- diskreditieren Sie letztlich die Absichten der Bundes- desagentur für Arbeit bürgernahe telefonische Beratung agentur für Arbeit. anbietet, seit sich die Arbeitsverwaltung dank der umfas- senden Reformen der Großen Koalition von einer (Andrea Nahles [SPD]: Richtig!) schwerfälligen Behörde zu einer modernen Dienstleis- Sie verknüpfen Dinge, die nichts miteinander zu tun tungsbehörde am Arbeitsmarkt gewandelt hat. Unser haben. Ziel war es, sie so weit wie möglich an den Bedürfnissen der von ihr betreuten Kunden auszurichten. Auch des- (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Das steht doch halb wurde das Modell des Kundenzentrums zum Herz- gar nicht drin!) stück der Reform der Organisation der Arbeitsverwal- tung. Um die Arbeitsabläufe möglichst reibungslos zu Die Entlastung der Arbeitsagenturen durch die Service- gestalten, den Kunden als Menschen in den Mittelpunkt telefonnummer und die Kosten dafür laufen auf ver- zu stellen und ihm so kompetent und so schnell wie schiedene Ebenen. Vielleicht ist Ihnen nicht bewusst, möglich zu helfen, hat die Bundesagentur für Arbeit dass Entlastungen nicht nur in Form von Geld, sondern 52 Servicecenter eingerichtet. Hier nehmen etwa auch in Gestalt kürzerer Bearbeitungszeiten, qualitativ 3 000 Mitarbeiter für 480 Arbeitsagenturen telefonische besserer Beratung und letztlich von Lebensqualität wei- Anfragen entgegen. tergeben werden können. Die Servicecenter setzen sich mit den Problemen der Bürgerinnen und Bürger direkt In einem „Selbstversuch“ konnte sich mein Büro da- auseinander und können vieles schon im Vorfeld durch von überzeugen, dass – jenseits der sonst für Hotlines oft eine einfache Auskunft klären. So werden die Arbeits- typischen minutenlangen Wareschleifen – Anrufe bereits vermittler vor Ort entlastet. Sie haben nun freie Kapazi- nach wenigen Sekunden entgegengenommen wurden. täten und können sich stärker auf ihre Hauptaufgabe (Elke Reinke [DIE LINKE]: Habt ihr das konzentrieren: Arbeitslose wieder in Arbeit zu vermit- schon einmal ausprobiert?) teln. Ich glaube, da ziehen wir am selben Strang. – Ja, natürlich, Frau Reinke. Am meisten profitieren aber die Menschen, die auf ihre örtliche Arbeitsagentur angewiesen sind. Zu den (Roland Claus [DIE LINKE]: Sogar auf früheren Zuständen wird sicher niemand mehr zurück Bundestagskosten!) wollen. Wenn Sie, liebe Kollegen von der Linkspartei, einmal mit Betroffenen gesprochen hätten, hätten sie Ih- 1) Anlage 2 nen sicherlich berichtet, wie das war: Wer nämlich noch 23238 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Paul Lehrieder (A) vor wenigen Jahren mit seinem zuständigen Arbeitsamt Der Vorschlag der Fraktion Die Linke lautet: Die bun- (C) verbunden werden wollte, hatte oft mit langen Warte- desweite Servicetelefonnummer der Arbeitsagentur soll schleifen und besetzten Leitungen zu kämpfen. Er für Anrufende kostenfrei sein. musste es in vielen Fällen mehrmals probieren, bis er mit (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Schon seinem Sachbearbeiter sprechen konnte. Dafür mussten wieder verdreht!) auch damals schon Telefongebühren aus eigener Tasche gezahlt werden. Unter dem Strich kostete das sicher um Es geht nicht darum, dass wir die Möglichkeit der Te- einiges mehr als die 3,9 Cent, die jetzt pro Minute zu lefonberatung infrage gestellt hätten; das haben wir zahlen sind, ganz zu schweigen von den Gebühren, die überhaupt nicht getan. Wir haben auch nichts – das vor der Telekom-Privatisierung fällig waren. wurde uns vorhin unterstellt – in unserem Antrag ver- steckt, sondern das wird gleich im ersten Satz hervorge- Es kann also keine Rede davon sein, dass Arbeitslose hoben. Wir wollen, dass es kostenfrei geschehen kann. über die Servicenummer zusätzlich zur Kasse gebeten Die Linke schlägt zur Finanzierung vor, dass die Kosten werden. Die Zahlen, um die es hier geht, müssen wir ins mit dem Rahmenvertrag zwischen Bundesagentur und rechte Licht rücken: 3,9 Cent pro Minute kostet ein An- Telekom abgegolten werden; dafür gibt es allemal Spiel- ruf bei der Servicehotline der Arbeitsagentur. Ein Anruf raum. beim Servicecenter wird in durchschnittlich zwei bis fünf Minuten bearbeitet, wie mir eines der Servicecenter Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bundestag hätte auf Anfrage mitteilen konnte. Damit reden wir von Kos- es heute in der Hand gehabt, eine kleine Verbesserung ten zwischen 7,8 und 19,5 Cent pro Anruf. Jeder wird der Lebenslage von Arbeitsuchenden zu beschließen. sich sicherlich ausrechnen können, was es kosten würde, (Beifall bei der LINKEN) wenn die örtlichen Arbeitsagenturen stattdessen mit öf- fentlichen Verkehrsmitteln aufgesucht werden müssten. Es geht immerhin um 7 Millionen Menschen, die Die Kosten für Fahrscheine liegen nicht im Centbereich, ALG II beziehen; durch den Fortgang der Krise werden sondern in vielen Fällen bei 2 Euro. Betroffene, die nicht mehr Menschen davon betroffen sein. Bekanntlich hat in der Stadt, sondern in ländlichen Gebieten leben, wer- allein VW angekündigt, in diesem Jahr alle 16 500 Leih- den noch um einiges tiefer in die Tasche greifen müssen, arbeiterstellen zu streichen. wenn sie ihre Arbeitsagentur direkt mit dem ÖPNV oder In diesem Hause sind 480 Milliarden Euro zur Ban- auch mit dem eigenen Kfz erreichen wollen. Bis zur kenrettung in einer historischen Schrecksekunde be- Höhe von 6 Euro muss die Fahrt zur Arbeitsagentur im schlossen worden. 4 Cent pro Gesprächsminute sollen Übrigen von den Arbeitslosen selbst getragen werden; nicht drin sein? Ich bitte Sie! Das ist doch absurd. Wa- (B) das ist Ihnen sicherlich bekannt. rum folgen Sie unserem Antrag nicht? (D) Ich könnte noch einiges zu diesem Thema sagen. Ich (Beifall bei der LINKEN) möchte aber das gute Beispiel der Kollegin Mast auf- Ich gebe zu: Ich konnte mir bis eben nicht vorstellen, greifen und Ihnen die verbleibenden drei, vier Minuten dass Sie den Antrag wirklich ablehnen wollen. Ich Redezeit als verbleibende Lebensarbeitszeit schenken. dachte, das läuft anders, so wie wir es auch aus dem Bundestag kennen. Ich dachte, dass Sie uns wortreich, Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. sozusagen im Würgegriff des Sachzwanges, erklären, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) warum das alles nicht geht, dann aber wenigstens – auch das kennen wir – einen ähnlichen Koalitionsantrag nach- schieben, mit dem Sie dieses Anliegen bedienen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Andrea Nahles [SPD]: Sie haben nicht verstan- Ich gebe das Wort dem Kollegen Roland Claus, Frak- den, dass es um Selbstverwaltung geht!) tion Die Linke. Sie aber sagen dazu Nein. (Beifall bei der LINKEN) Die SPD hat sich jetzt selbst verordnet, öffentlich nicht mehr von dem Begriff zu reden. Roland Claus (DIE LINKE): Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, die Schere Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! der Agenda 2010 haben Sie aber offenbar noch immer Zugegeben, ich habe gegen Anträge der Fraktion Die im Kopf, und das ist fatal. Linke in diesem Haus schon weitaus klügere Argumente (Beifall bei der LINKEN) als die soeben von den Vorrednern vorgetragenen gehört. Nun will ich mich kurz mit den Einwänden beschäfti- (Wolfgang Grotthaus [SPD]: Ich habe auch gen: schon klügere Anträge gehört!) Zum einen sagt man: Das kostet nicht viel. Was aber – Geben Sie es einmal zu Protokoll, dass wir fast aus- ist „nicht viel“? Ich denke, wir alle als Bundestagsabge- schließlich sehr kluge und gute Anträge einbringen. ordnete haben keine Ahnung davon, was von Arbeitslo- sigkeit Betroffene an Lebenslagen in diesem Lande er- (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Das hat er dulden müssen. Wir sollten uns dieses Argument nicht nicht gesagt!) zu eigen machen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23239

Roland Claus (A) Weiter sagen Sie: Die reden da vielleicht zu lange. Ich Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: (C) kann nur zurückfragen: Wollen wir die Leute zum Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ Schweigen bringen, oder wollen wir ihnen helfen? CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines (Beifall bei der LINKEN – Katja Mast [SPD]: Zweiten Gesetzes zur Änderung des Con- Es hat doch kein Mensch gesagt, dass sie zu terganstiftungsgesetzes lange reden!) – Drucksache 16/12413 – Schließlich kommen Sie mit dem wirklich absurden Überweisungsvorschlag: Argument, dass die Bundesregierung der BA nicht hi- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend neinreden könnte. Dabei weiß niemand besser als die Rechtsausschuss Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wie oft gerade Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit dieses Bundesministerium in die BA hineinregiert. Das Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO ist doch nun wirklich ein alter Hut. Da lachen ja die Hühner. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre (Beifall bei der LINKEN) keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Selbst wenn Sie mit dem Kostenargument recht hät- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- ten: All das, was hier passiert, ist immer ein Akt der gin Antje Blumenthal, CDU/CSU-Fraktion. Entwürdigung und Diskriminierung. In unserem Grund- gesetz heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantast- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Marlene bar“. Es gibt danach aber einen zweiten Satz: „Sie zu Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]) achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. Während der erste Satz also gewissermaßen Antje Blumenthal (CDU/CSU): ein Gebot ist, ist der zweite Satz ein Staatsauftrag. Die- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sen Staatsauftrag negieren Sie, wenn Sie sich hier einem In der Debatte am 22. Januar dieses Jahres zu unserem so einfachen Vorschlag widersetzen. Antrag „Angemessene und zukunftsorientierte Unter- stützung der Contergangeschädigten sicherstellen“ ha- (Andrea Nahles [SPD]: Sie reden völlig an der ben wir unseren Gesetzentwurf angekündigt. Ich habe Sache vorbei!) damals gesagt, dass wir die Hände nicht in den Schoß le- Meine Damen und Herren, ein ganz kleines Stück die- gen werden. ser versagten Würde hätten wir den Betroffenen heute Mit unserem heute vorgelegten Gesetzentwurf bewei- (B) zurückgeben können. Selbst dazu sind Sie nicht bereit. sen wir, dass wir die Probleme der contergangeschädig- (D) Sie sind und bleiben offenbar eine Große Koalition der ten Menschen angepackt haben und Lösungen vorlegen. sozialen Kälte. Es tut mir leid. Die Lösungen weisen deutliche Verbesserungen für die (Beifall bei der LINKEN – Dr. Ralf Betroffenen aus. Brauksiepe [CDU/CSU]: Oje! – Manfred Natürlich haben die Meinungen der Betroffenen auch Grund [CDU/CSU]: Das muss Ihnen gar nicht unsere Beratungen bestimmt. Aber durch ihre Uneinig- leidtun!) keit war das leider nicht immer ganz einfach. Uns ist be- wusst, dass wir es nicht allen recht machen können, aber Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ich denke, wir erreichen mit diesem Gesetzentwurf ein Die Kollegin Brigitte Pothmer hat ihre Rede zu Proto- gutes Ergebnis. koll gegeben.1) Ich freue mich sehr – lassen Sie mich dies als ersten (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Punkt nennen –, dass wir uns über die Öffnung der Aus- schlussfrist einigen konnten. Ich schließe die Aussprache. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- neten der SPD) schusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Kostenpflichtige Ser- Ich denke, das ist ein Meilenstein für die Betroffenen, vice-Telefonnummer der Arbeitsagentur in eine gebüh- aber auch für uns Parlamentarierinnen und Parlamenta- renfreie Nummer umwandeln“. rier der Großen Koalition. Ich habe mir das im Januar noch nicht vorstellen können, aber es ist geglückt. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 16/11802, den Antrag der Fraktion (Christel Humme [SPD]: Ausdauer zahlt sich Die Linke auf Drucksache 16/9097 abzulehnen. Wer aus!) stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt Bisher konnten nur bis zum 31. Dezember 1983 ge- dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung stellte Anträge anerkannt werden. Nach diesem Zeit- ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei punkt gestellte Anträge mussten wegen Fristversäumnis Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der abgelehnt werden. Nun öffnen wir die Ausschlussfrist Fraktion Die Linke angenommen. vom 1. Juli 2009 bis zum Dezember 2010. Die Betroffe- nen erhalten damit die Möglichkeit, in diesem Zeitraum 1) Anlage 2 von 18 Monaten einen neuen Antrag zu stellen und da- 23240 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Antje Blumenthal (A) mit Leistungen nach dem Conterganstiftungsgesetz zu (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Wie (C) beantragen. So wie die bisher Leistungsberechtigten ihre großzügig!) Leistungen beziehen, gilt das dann auch für die neu An- Die Betroffenen selbst können durch Wahlen entschei- erkannten. den, wer diese zwei Vertreterinnen oder Vertreter sind. Nicht nur die Menschen, die bisher von der Aus- Weiter ist vorgesehen, dass auch eine contergangeschä- schlussfrist betroffen waren, werden bei Anerkennung digte Person im Stiftungsvorstand sitzen wird. ihrer Schädigungen eine finanzielle Unterstützung erhal- Bereits in der Anhörung im letzten Jahr hat uns eine ten. Auch die bereits jetzt Leistungsberechtigten erhalten Stiftungsexpertin Hinweise gegeben, wie die Stiftung ef- noch ab diesem Jahr eine jährliche Sonderzahlung. Die fizienter arbeiten kann. Deshalb werden die Zuständig- Firma Grünenthal hat zugesagt, 50 Millionen Euro in die keiten zwischen dem Stiftungsrat und dem Stiftungsvor- Conterganstiftung einzuzahlen. Weitere 50 Millionen stand neu geregelt und klar getrennt. Der Stiftungsrat Euro werden aus dem Stiftungsvermögen der Contergan- soll als Kontroll- und Aufsichtsorgan fungieren und stiftung aufgebracht. Diese insgesamt 100 Millionen Euro grundsätzliche Fragen entscheiden, während der Vor- erhalten die Betroffenen und die nachträglich anerkannten stand die Entscheidungen ausführt. Wir versprechen uns contergangeschädigten Menschen über einen Zeitraum dadurch eine effizientere Arbeit der Stiftung. Diese wol- von 25 Jahren. Das sind bis zu maximal 4 000 Euro je len wir noch erhöhen, indem wir die Stiftungsaufgaben nach Schweregrad der Behinderung. in Vermögensverwaltung, Beratung und Auszahlung der Wir wurden oft gefragt, warum die 100 Millionen Leistungen neu aufteilen. Dadurch werden wir die Ver- Euro nicht sofort ausgeschüttet werden. Wir haben auch waltungskosten weiter reduzieren können. lange über diese Möglichkeit diskutiert. An die durch- Ob es in Zukunft eine Geschäftsstelle geben wird, die schnittliche Lebenserwartung eines Menschen ange- für die Beratung der Betroffenen, Koordination, Projekt- lehnt, war zunächst an einen Auszahlungszeitraum von förderung und Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist, wird 35 Jahren gedacht worden. Aber auch hier sind die For- sich zeigen, wenn die Umstrukturierung der Stiftung derungen der Betroffenen unterschiedlich. Einige verlan- stattfindet. gen die sofortige Auszahlung, andere wünschen sich, dass die Sonderzahlungen gestaffelt werden. Der nun Wie Sie sehen, haben wir viel erreicht. Ich möchte festgelegte Zeitraum von 25 Jahren gewährleistet den noch ein weiteres Beispiel bringen, das zeigt, dass wir Betroffenen eine dauerhafte finanzielle Zusatzleistung, die Nöte der contergangeschädigten Menschen nicht nur die durch Zins und Zinseszins größer ausfällt als eine sehen, sondern diese auch schnell lösen können. Uns er- einmalige Ausschüttung. reichten in letzter Zeit Briefe von Betroffenen, die in der gesetzlichen Krankenversicherung freiwillig versichert (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (D) sind. Ihre monatliche Unterstützungsleistung wird von Damit die jährlichen Sonderzahlungen an die Menschen den Krankenversicherungen als beitragspflichtige Ein- vollständig ausgezahlt werden können, wird der Bund nahme angesehen. Wir haben darauf sofort reagiert und die Verwaltungskosten der Stiftung vollständig und ohne im Gesetzentwurf klargestellt, dass die Leistungen auch Minderung übernehmen. für freiwillig Versicherte anrechnungsfrei sind. Meine Damen und Herren, ein weiterer Schritt ist es, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die Stiftung umzustrukturieren. Bisher sah der Stiftungs- neten der FDP) zweck vor, einerseits monatliche Leistungen für die con- Es ist, glaube ich, niemandem zu vermitteln, dass für ein tergangeschädigten Menschen zu erbringen und anderer- und dieselbe Leistung unterschiedliche Entscheidungen seits Projekte generell für behinderte und damit nicht nur getroffen werden. Damit können sich die Krankenkassen für contergangeschädigte Menschen zu fördern. Uns war jetzt nicht mehr herausreden. es wichtig, dass die Stiftungsgelder ausschließlich den contergangeschädigten Menschen zugute kommen. In unserem Antrag im Januar hatten wir angekündigt, eine mögliche Dynamisierung der monatlichen Leistun- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gen zu prüfen. Wie Sie dem Gesetzentwurf entnehmen neten der SPD) können, wird künftig die monatliche finanzielle Unter- Deshalb sollen auch nur noch Projekte unterstützt wer- stützung dynamisiert und somit an die Steigerung der ge- den, die den Conterganopfern helfen. Demzufolge kann setzlichen Renten automatisch angepasst. Ich spreche der Stiftungsrat von 15 auf maximal 7 Mitglieder ver- hier bewusst von der „monatlichen finanziellen Unter- kleinert werden, da die Vertreter der Wohlfahrtspflege, stützung“. Auch dies ist eine Forderung der Betroffenen. der Sozialhilfeträger und der Behindertenorganisationen Sie finden den Begriff „Rente“ nicht zutreffend und wol- nicht mehr erforderlich sind. Viele Betroffene haben den len eine klare Abgrenzung zum Rentenbegriff. Wunsch geäußert, mehr Mitspracherecht bei der Stiftung (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Sie wollen eine zu erhalten. Entschädigung!) (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Richtig!) Ich denke, mit diesem Gesetz werden wir den Betrof- – Herr Seifert, hören Sie bitte zu! – Wir sind diesem fenen in Zukunft ein Stückchen mehr gerecht werden. Wunsch nachgekommen und haben festgelegt, dass nun Viele Wünsche und Forderungen werden mit diesem Ge- zwei contergangeschädigte Menschen im Stiftungsrat setzentwurf umgesetzt. Da im Mai eine Anhörung zu un- vertreten sein werden. serem Gesetzentwurf durchgeführt wird, haben die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23241

Antje Blumenthal (A) Betroffenen noch einmal die Gelegenheit, Stellung zu rer Sicht gangbarer und unbürokratischer Weg der Dyna- (C) nehmen. Ich hoffe, gemeinsam mit den Betroffenen und misierung. Wir sind aber der Meinung, dass gleichzeitig Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, zu die monatliche Zahlung in geeigneten Zeiträumen, zum einem erfolgreichen Abschluss zu kommen. Beispiel alle fünf Jahre, grundlegend überprüft werden sollte, da mit fortschreitendem Alter der Contergange- Vielen Dank. schädigten der Hilfebedarf weiter zunehmen dürfte. Frau (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Kollegin Blumenthal, hier hätte die FDP gerne eine ent- sprechende Klarstellung im Gesetz. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Der zweite Punkt ist der Fristausschluss. Bis zum Ich gebe das Wort dem Kollegen Heinrich Kolb, 31. Dezember 1983 mussten Ansprüche bei der Stiftung FDP-Fraktion. „Hilfswerk für behinderte Kinder“, die 2005 in „Conterganstiftung für behinderte Menschen“ umbe- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): nannt wurde, geltend gemacht werden, um einen An- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! spruch auf Zahlung zu erhalten. Der Gesetzgeber ging Debatten über die Belange contergangeschädigter Men- davon aus, dass diese Frist ausreichend ist. Wir wissen schen sind keine einfachen Debatten. Ich finde es gleich- nunmehr alle, dass diese Annahme nicht zugetroffen hat. wohl erfreulich, dass wir heute erneut darüber debattie- Ich kann nicht verstehen, dass diese alte Frist jetzt durch ren können und dass es uns absehbar wohl gelingt, die eine neue Frist bis zum 31. Dezember 2010 ersetzt wird. Leistungen für den Kreis der Betroffenen zu verbessern. Die FDP hält diesen Zeitraum für zu kurz, da auch heute Im letzten Jahr konnten wir mit der Zustimmung aller noch Betroffene des Conterganskandals entdeckt wer- Fraktionen des Hauses eine Verdoppelung der monatli- den, die schon deshalb die Frist nicht wahrnehmen kön- chen Renten – künftig: monatliche finanzielle Unterstüt- nen, weil sie von ihrer Betroffenheit nichts wissen. Das zung – erreichen. Heute gehen wir den ersten Schritt hin gilt insbesondere dann, wenn Contergan auch innere Or- zu einer jährlichen Einmalzahlung und einer automati- gane geschädigt hat. Der Sinn der durch Gesetz vom sierten Dynamisierung der monatlichen Rente. Bei allen 17. Dezember 1971 errichteten Stiftung des öffentlichen verständlichen Frustrationen, die die Betroffenen ob der Rechts ist und war es aber, Individualleistungen für alle Politik der letzten Jahrzehnte im Bereich Contergan er- Behinderten, deren Fehlbildungen durch Thalidomid, fahren haben, halte ich das im letzten Jahr Erreichte für also Contergan, hervorgerufen wurden, zu erbringen. sehr bemerkenswert, wobei sich die FDP – das will ich Wer eindeutig zu dieser Gruppe gehört – dieser Meinung sehr deutlich sagen – immer dessen bewusst ist, dass alle bin ich schon, und dieser Meinung ist auch meine Frak- Leistungen den gesundheitlichen Schaden und die seeli- (B) tion –, muss auch Leistungen nach diesem Gesetz unab- (D) sche Belastungen der Betroffenen nicht wirklich werden hängig von Ausschlussfristen erhalten können. Wenn der ausgleichen können. vorliegende Gesetzentwurf davon ausgeht, dass 60 Pro- (Beifall bei der FDP – Dr. Ilja Seifert [DIE zent all derjenigen, die noch Anträge auf Leistung stel- LINKE]: Sehr wahr!) len, nach dem Gesetz den Rentenhöchstsatz beziehen werden, dann zeigt das aus meiner Sicht sehr deutlich, Am 22. Januar 2009 hat der Deutsche Bundestag ei- dass die Fristsetzung falsch war und auch eine neue Frist nem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und den Anforderungen wohl nicht gerecht werden wird. der FDP zur Sicherstellung einer angemessenen zu- kunftsorientierten Unterstützung contergangeschädigter (Beifall bei der FDP) Menschen zugestimmt. In ihrer Rede zu diesem Antrag hat meine Fraktionskollegin Ina Lenke Gemeinsamkei- Ich will ganz deutlich sagen: Egal ob es sich um ten betont, aber auch deutlich gemacht, dass einige For- 100 oder 500 Personen handelt und egal in welchem derungen der FDP über den gemeinsam mit der Koali- Umfang es gegebenenfalls Nachzahlungen geben wird, tion beschlossenen Antrag hinausgehen. Für die FDP- die FDP ist für die sofortige Streichung sowohl der alten Fraktion sah sie insbesondere bei zwei Punkten keinen als auch der neuen Frist. Das ist für uns der einzig ver- Prüfbedarf mehr bzw. hielt diese für umsetzungsreif. nünftige Weg. Diese beiden Punkte waren die Dynamisierung des Ren- tenanspruchs und die Streichung des Fristausschlusses. (Beifall bei der FDP) Frau Kollegin Blumenthal, ich begrüße grundsätzlich, Viele der weiteren im Gesetz vorgesehenen Regelun- dass sich die Koalition dieser Auffassung mit dem vor- gen kann die FDP unterstützen. Wir halten es für sinn- liegendem Gesetzentwurf weitgehend angenähert hat. voll, dass der Stiftungszweck sich künftig ausschließlich Allerdings sehen wir noch immer Änderungsbedarf: auf Contergangeschädigte bezieht und damit der eigent- Ich beginne – erster Punkt – mit der Dynamisierung liche Sinn der Stiftung nochmals unterstrichen wird. Es des Rentenanspruchs. Vor der Erhöhung der Contergan- ist auch richtig, den Verwaltungsapparat durch den Bund renten zum 1. Juli 2008 erfolgte die letzte Rentenerhö- zu finanzieren. Wir haben Zweifel, ob man tatsächlich hung für Conterganopfer zum 1. Juli 2004. Diese langen eine hauptamtliche Geschäftsführung benötigt. Sollte Zeiträume zwischen den Anpassungen sind unbefriedi- diese Geschäftsführung aber tatsächlich eingerichtet gend, da die Inflation die Rentenerhöhung aushöhlt. Die werden, plädieren wir dafür, dass auf jeden Fall ein oder prozentuale jährliche Anpassung der gesetzlichen Rente zwei Behinderte eingestellt werden, bevorzugt aus der auf die Conterganrenten zu übertragen, ist ein aus unse- Gruppe der betroffenen Menschen. 23242 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Dr. Heinrich L. Kolb (A) Ich komme zum Schluss. Die von der Grünenthal wir dafür im ganzen Haus Unterstützung hatten. Dafür (C) GmbH eingebrachte Spende von 50 Millionen Euro danke ich; denn trotz aller Wahlkampfankündigungen tut ermöglicht es, eine jährliche Sonderzahlung für den be- es manchmal ganz gut, vernünftig miteinander zu spre- sonderen Bedarf der contergangeschädigten Personen chen, wenn es darum geht, etwas für betroffene Men- auszuschütten. Darüber hinaus werden wir nochmals schen zu tun. 50 Millionen Euro aus dem Stammvermögen der Stif- tung unmittelbar an die leistungsberechtigten Personen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) auszahlen. Der Kapitalstock der Stiftung wird bis auf ei- Der zweite Schritt war, einen Antrag zu stellen, in nen Restbetrag von 7 Millionen Euro nach und nach auf- dem all die Fragen behandelt werden, die die Menschen gezehrt. Durch diese langfristige Kapitalisierung des betreffen, etwa: Wie kann man mit dem Verschleiß von Stiftungsvermögens fließt dieses somit dem Kreis der Gelenken oder der Wirbelsäule umgehen? Welche Hilfs- betroffenen Menschen zu, also denen, die einen An- mittel gibt es? Vor allem alte Menschen haben häufig spruch darauf haben. keine Hilfsmittel. Ein junger Mensch kann trainieren, bis er mit den Zehen einen Stift halten kann, um zu schrei- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ben. Wer 65 Jahre alt ist, kann das nicht mehr ohne Wei- Herr Kollege Kolb, Sie müssen jetzt wirklich zum teres, ebenso wenig wie er mit den Zähnen einen Reiß- Schluss kommen. verschluss zuziehen kann. Wir haben relativ wenig Erfahrung in diesem Bereich, und wir wollen, dass da- rüber geforscht wird, wie geholfen werden kann, zum Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Beispiel durch die Entwicklung von Hilfsmitteln. Eine Ja. – Insgesamt stehen den Betroffenen damit 100 Mil- weitere in diesem Antrag gestellte Frage lautete: Welche lionen Euro nebst Erträgen für die jährlichen Sonderzah- besonderen Bedürfnisse hat diese Gruppe Menschen? Es lungen zur Verfügung. Die FDP hält den hier aufgezeig- sind nicht viele Bedürfnisse; ihre Anzahl ist überschau- ten und eingeschlagenen Weg für gut und wird den bar. Gesetzentwurf unterstützen. Wir wollen, dass Erfahrungen europaweit ausge- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. tauscht werden, ungeachtet der Tatsache, dass – anders (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) als bei Contergan – die Einnahme eines Präparates, für dessen Herstellung es eine Lizenz gab, nicht in die Zu- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ständigkeit des deutschen Staates fällt. Der Klarheit we- gen muss man auch sagen: Für Schädigungen durch Mit- Ich gebe das Wort der Kollegin Marlene Rupprecht, tel, die nicht in Deutschland hergestellt wurden, sind wir SPD-Fraktion. (B) nicht zuständig. (D) (Beifall bei der SPD) In diesem Zusammenhang danke ich der FDP dafür, dass sie diesen Antrag unterstützt hat. So wird deutlich: Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Wir ziehen am selben Strang, auch wenn man das eine Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! oder andere im Laufe des Prozesses korrigieren muss. Jahrelang beschäftigen wir uns jetzt mit den Folgen von Ich denke, die Fraktionen werden so viel Größe haben, Contergan und den Schädigungen, die Menschen davon- sich das noch einmal anzuschauen und im Dialog ver- getragen haben, weil ihre Mütter in der Schwangerschaft nünftige Lösungen zu finden. Thalidomid eingenommen haben. Rund 10 000 Kinder wurden vor rund 50 Jahren weltweit geboren, die nicht Ich möchte an dieser Stelle zwei Frauen danken, die alle durch das Medikament Contergan, aber durch den ganz hervorragend verhandelt haben: Ich möchte Wirkstoff Thalidomid geschädigt worden sind. Diese Christel Humme und dafür danken, dass sie 10 000 Kinder kamen fehlgebildet zur Welt. In Deutsch- sich mit Grünenthal zusammengesetzt haben, land gibt es noch etwa 2 700 Menschen, die durch dieses (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Schlafmittel geschädigt wurden. Die meisten betroffenen Menschen haben versucht, ihr Leben trotz starker und ohne dass es dafür eine Rechtsgrundlage gab; ich will stärkster Behinderung zu leben und damit klarzukom- das hier betonen. Wir können im Nachhinein bedauern, men. Ich glaube, das hätten sie auch weiterhin so ge- dass damals Verträge geschlossen wurden. Diese Ver- macht, wenn nicht im Fernsehen ein Film gelaufen wäre, träge sind vom Verfassungsgericht überprüft worden, der alle aufgeschreckt und auch die gezeigt hat, die nicht und man hat festgestellt: Juristisch lässt sich daran nichts so tough sind, die nicht ohne Weiteres mit allen Schwie- mehr ändern. Wir mussten also verhandeln. rigkeiten klarkommen. Manchmal wirken mediale Er- eignisse sehr aufrüttelnd. In diesem Fall begrüße ich das Dieses Verhandlungsergebnis sind die 50 Millio- mediale Ereignis, weil es dazu beitrug, die ganze Proble- nen Euro, die jetzt in die Stiftung einfließen. Die ersten matik noch einmal genauer anzuschauen. Wir haben in 50 Millionen Euro, das heißt 100 Millionen DM, waren drei Schritten darauf reagiert. längst aufgebraucht. Auch der Bund hatte in diese Stif- tung 100 Millionen DM eingebracht; das muss man hier Der erste Schritt war, dass wir die monatlichen Zah- ebenfalls sagen. Wir haben die Bundesmittel seit 1980 lungen verdoppelt haben. Dass die betroffenen Men- um 220 Millionen DM aufgestockt. Das heißt, in diese schen doppelte Leistungen erhalten, hat am 1. Juli des Stiftung sind viele Bundesmittel geflossen; sonst hätten letzten Jahres Gesetzeskraft erhalten. Ich glaube, dass die Leistungen nicht erbracht werden können. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23243

Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (A) (Beifall der Abg. Ilse Falk [CDU/CSU]) wir, dass wir so gearbeitet haben, dass das Gesetz zu- (C) mindest diese Zahl von Jahren überdauert. Ich halte et- Wir haben im Rahmen der vorherigen Gesetzgebung was davon, Gesetze zu verabschieden, die nicht hingehu- und der Beratung des Antrages mit den Betroffenen ge- delt sind, wie man bei uns im Süddeutschen sagt, sprochen. Für diejenigen, die erst sehr spät – beispiels- sondern die fundiert und gut sind. Ich bin davon über- weise als ihre Mutter auf dem Sterbebett lag – erfahren zeugt; ansonsten würde ich heute nicht hier stehen und haben, dass ihre körperlichen Beeinträchtigungen da- es vertreten. In diesem Sinne hoffe ich auf die Unterstüt- durch verursacht waren, dass ihre Mütter Contergan ein- zung aller in diesem Hause. genommen hatten, war mit dem Fristende in den 80er-Jahren die Tür zu. Das heißt, sie hatten keine Danke schön. Chance mehr auf Entschädigung, auch wenn sie darauf (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der einen Anspruch hatten. Deshalb öffnen wir das Ganze FDP) noch einmal. Wir wollen es nicht gänzlich öffnen, weil die Zahl derer, die betroffen sind, überschaubar ist. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Diejenigen, die nun im Nachhinein vor allem im Hin- Nächster Redner ist der Kollege Ilja Seifert, Fraktion blick auf Schädigungen innerer Organe untersucht wer- Die Linke. den und untersucht worden sind, bekommen ab 1. Juli 2009 die Chance, bis zum 31. Dezember 2010 noch ein- Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): mal Anträge zu stellen. Wenn sie ihre Anträge in diesem Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jahr stellen, bekommen sie auch die jährliche Einmal- Meine Damen und Herren! Heute, genau heute tritt die zahlung bereits für das jetzt laufende Jahr. UNO-Behindertenrechtskonvention für Deutschland in Diejenigen, deren Anträge bislang aufgrund der Frist- Kraft. Seit heute ist der Staat verpflichtet, hat er sich versäumnis abgelehnt wurden, werden wir anschreiben; selbst verpflichtet, umfassende Teilhabe für alle Men- wir wollen also, dass sie darüber informiert werden, ei- schen mit Behinderung zu ermöglichen. Mit dem, was nen Antrag einreichen zu können. Wir wollen aber auch Sie hier vorlegen, erreichen Sie dies nicht einmal für die über die Medien darauf hinweisen – ich nehme an, dies kleine Gruppe der Contergangeschädigten. wird das Ministerium machen –, dass jetzt noch einmal Zumindest Folgendes muss ich noch einmal sagen: die Chance besteht, seinen Antrag auf monatliche Leis- Wir können hier reden, worüber wir wollen, aber der tungen und Einmalzahlungen zu stellen. Vergleich, der seinerzeit geschlossen wurde, steht auf Frau Blumenthal, ich sage es auch hier: Selbst wenn sittenwidriger Grundlage. Er wurde unter Druck erzeugt, wir manchmal hart miteinander gerungen haben und ich und insofern ist er immer noch anfechtbar. Aber unab- (B) hängig davon hat sich der Staat verpflichtet, das zu über- (D) zuweilen beinahe daran verzweifelt bin, dass wir genau nehmen, was eigentlich Grünenthal machen müsste. In- dann, wenn wir meinten, die letzte Mine geräumt zu ha- sofern freue ich mich, dass in Ihrem jetzt vorliegenden ben, die nächste entdeckt haben, haben wir sie doch im- Gesetzentwurf gegenüber Ihrem Antrag vom Januar tat- mer wieder gemeinsam weggeräumt. Die letzte davon sächlich einige positive Fortschritte zu verzeichnen sind. haben wir noch am letzten Freitag miteinander aus der Sie will ich durchaus würdigen, zum Beispiel die Dyna- Welt geschafft. Es war manchmal schwierig, aber wir misierung der monatlichen Entschädigung. Aber wenn haben es geschafft, im Interesse der Betroffenen einen wir wirklich helfen wollten, müssten wir im ersten vernünftigen, guten Gesetzentwurf vorzulegen. Schritt mindestens 50 Prozent drauflegen; denn Deutsch- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) land liegt immer noch am Ende aller Länder, die solche Entschädigungen zahlen. Wir sind immer noch diejeni- Auf dieses gemeinsame Ringen bezieht sich meine gen, die am allerwenigsten zahlen. Bitte an die Kolleginnen und Kollegen der Opposition, auch wenn wir jetzt Wahlkampf haben. Es gibt viele Weiterer Punkt. Sie wollen die Dauer der Ausschüt- Punkte, bei denen Sie sich gut profilieren können. tung, die Sie jährlich vornehmen, von 35 auf 25 Jahre re- Selbstverständlich ist es auch Ihr Recht, uns vorzufüh- duzieren. Na toll! Viele der Betroffenen sagen ohnehin: ren, wenn Sie glauben, dass wir gravierende Fehler ge- Gebt uns das, was uns zusteht, sofort! Darauf wollen Sie macht haben. Im Interesse der Menschen bitte ich aber nicht eingehen. Sie können sich aber nicht damit heraus- darum, dass wir im Gesetzgebungsverfahren – wir haben reden, dass es Streit hierüber gibt. Ermöglichen Sie doch heute die erste Lesung – ebenso, wie wir es bisher in der Wahlfreiheit, sagen Sie: Wer das Geld gleich haben will, Behindertenpolitik praktiziert haben, eng zusammenar- bekommt es gleich, wer es sich 25 Jahre lang auszahlen beiten und das Gespräch suchen, wenn uns noch etwas lassen will, kann es sich 25 Jahre lang auszahlen lassen. auffällt. Ich bitte darum, sich darauf verständigen zu Das wäre Wahlfreiheit, das wäre Selbstbestimmung. können. Es wäre für die Betroffenen ein gutes und auch (Christel Humme [SPD]: Das ist kein solidari- für uns ein würdiges Signal nach außen, dass wir eine scher Gedanke!) Lösung gefunden haben, wenn wir am 1. Juli sagen könnten: Das Gesetz ist verabschiedet, es tritt in Kraft, Nächster Punkt. Sie heben die Ausschlussfrist auf, und die betroffenen Menschen haben etwas davon. wenn auch nur für kurze Zeit. Sie sagen, am Tag der An- tragstellungen bekommen die Leute ihre Rente, ihre Ent- Wir haben uns vorgenommen, dass wir diese Rege- schädigung. – Damit ignorieren Sie, dass diese Menschen lung in den nächsten 25 Jahren nicht wieder aufdröseln schon 50 Jahre lang mit ihrer Behinderung leben. Wenn und noch einmal von vorn beginnen. Vielmehr hoffen man schon nicht jeden Cent, der diesen Menschen rück- 23244 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Dr. Ilja Seifert (A) wirkend zustehen müsste, berechnen will, wäre es das Legislaturperiode und auch in den weiteren Beratungen (C) Mindeste, ihnen eine Einmalzahlung von 100 000 Euro die Folgen des Conterganskandals politisch aufzuarbei- zukommen zu lassen. Das wäre ungefähr das, was sie in ten. Insofern wäre es falsch, Frau Humme, diesen Ge- den 50 Jahren bzw. seit es diese Stiftung gibt, nicht be- setzentwurf gering zu schätzen oder als ungenügend ab- kommen haben. Das wäre angemessen. Ich finde, man zuqualifizieren; das tue ich ausdrücklich nicht. sollte daran erinnern, dass wir selbst mit der Verdopplung der Renten, die 2008 vorgenommen worden ist, hinter Wir begrüßen, dass der Kreis derer, die nach dem Con- dem bleiben, was alle anderen Länder gemacht haben. terganstiftungsgesetz entschädigt werden, mit diesem Dass es eine rückwirkende Zahlung nach Ihrem Gesetz- Gesetzentwurf auch für solche Personen geöffnet wird, entwurf nicht geben soll, ist nicht in Ordnung. die aufgrund der Einnahme von Contergan eine Schädi- gung erlitten, die nicht äußerlich sichtbar ist. Ich teile al- Letzter Punkt. Sie wollen die Besetzung der Stif- lerdings die Bedenken bezüglich der neuen Fristsetzung, tungsgremien ändern. Einverstanden; aber die Linke ist die Herr Kolb vorgetragen hat. Was wollen Sie tun, wenn ein heftiger Verfechter des Selbstvertretungsrechts der wieder Personen – die Contergangeschädigten sind ja um Betroffenen. Mindestens die Hälfte aller Plätze in diesen die 50 Jahre alt – entdecken, dass sie Schädigungen der Gremien müssten von Betroffenen besetzt werden. Min- inneren Organe haben, die durch die Einnahme von Con- destens die Hälfte heißt, da es um ungerade Zahlen geht, tergan verursacht worden sind? Angesichts der geringen die Mehrheit. Warum trauen Sie den Betroffenen nicht Zahl derer, auf die das noch zutreffen dürfte, ist ein Frist- zu, ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände – auch verzicht im Laufe der Beratungen meiner Meinung nach wenn diese noch so verkrüppelt sind – zu nehmen? Ha- durchaus zu bedenken. ben Sie den Mut dazu! Dann werden wir gemeinsam et- was erreichen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN) Vielen Dank. Wir begrüßen ausdrücklich, dass der vorliegende Ge- (Beifall bei der LINKEN) setzentwurf vorsieht, dass Contergangeschädigte aus den Erträgen des Stiftungsvermögens jetzt gezielt gefördert Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: werden sollen. Außerordentlich positiv hervorzuheben Ich gebe das Wort dem Kollegen Markus Kurth, ist auch die automatisierte Dynamisierung der monatli- Bündnis 90/Die Grünen. chen Leistungen sowie deren Umbenennung von „Rente“ in „monatliche finanzielle Unterstützung“. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Reform des Conterganstiftungsgesetzes muss Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- nach unserer Auffassung allerdings die Möglichkeit ei- (B) gen! In Zeiten wie diesen, wo die Große Koalition wich- ner Einmalzahlung für die Betroffenen eröffnen, die dies (D) tige Entscheidungen wie die Bekämpfung der Steuerhin- ausdrücklich wünschen. Warum soll es nicht möglich terziehung nicht mehr treffen zu können scheint, in sein, wenn ein Betroffener dies wünscht, den auf ihn ent- Zeiten wie diesen, wo die Regierungsfraktionen teil- fallenden Anteil des gesamten Stiftungsvermögens in weise grob unverantwortlich handeln wie bei der Weige- Form einer Einmalzahlung zu gewähren? Im Sinne des rung, das Funktionieren der Jobcenter sicherzustellen, in Wunsch- und Wahlrechts würde das den individuellen Zeiten wie diesen, wo Union und SPD alles in allem ein Wünschen – auch Sie von den Liberalen müssten das als dunkles Gemälde des Zerfalls zeichnen, ist man für je- freiheitliche Partei gut finden – entsprechen. Die ande- den hellen Pinselstrich dankbar. ren, die die Auszahlung über einen längeren Zeitraum (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bevorzugen, könnten diese Möglichkeit wählen; das restliche Vermögen würde sich weiter verzinsen. Ein aufhellender Tupfer in der schwarz-roten Düster- nis (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Lachen der Abg. Christel Humme [SPD]) Angesichts des eingangs beschriebenen Zustands der Großen Koalition ist das Erreichte durchaus anerken- ist zweifelsohne die vorliegende Neufassung des Con- nenswert. Ich weiß aus Zeiten der rot-grünen Koalition terganstiftungsgesetzes. Sicher, der Punkt, der die Ge- selbst, wie schwierig es sein kann, als Sozialpolitiker für schädigten des Conterganskandals am meisten bewegt, gesellschaftliche Minderheiten Mittel loszueisen, selbst nämlich eine nach heutigen Maßstäben angemessene Ent- wenn dies, wie in diesem Fall, vollkommen berechtigt schädigung, dürfte aus ihrer Sicht nicht befriedigend ge- ist. Insofern gebührt der Dank im bisherigen Prozess löst sein. Die große Aufgabe einer grundsätzlichen Neu- ausdrücklich den Kolleginnen Antje Blumenthal und bemessung der monatlichen Ausgleichszahlung bleibt Marlene Rupprecht. Auch wenn in der Entschädigungs- aus meiner Sicht und nach Auffassung meiner Fraktion, frage sicherlich weiterhin Meinungsunterschiede beste- Bündnis 90/Die Grünen, bestehen. hen werden und wir weiterhin auf unserem Standpunkt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) beharren werden, hoffe ich doch insgesamt auf gute und konstruktive Beratungen in diesem Hause. Es bleibt in der Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland, die Haftungsnachfolge wirksam wahrzu- Danke schön. nehmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Der vorliegende Gesetzentwurf stellt aber eine durch- sowie der Abg. Marlene Rupprecht [Tuchen- aus brauchbare Grundlage dar, um in der kommenden bach] [SPD]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23245

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Die zweite Rolle, die der Dienstwagen spielt – neben (C) Ich schließe die Aussprache. der Möglichkeit des Transports, die natürlich wichtig ist, aber nicht das Wichtigste –, ist die eines Statussymbols. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Deswegen muss es immer ein relativ neuer und relativ wurfs auf Drucksache 16/12413 an die in der Tagesord- großer Wagen sein. Das Image muss gut sein; je höher nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es der Posten dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. (Widerspruch bei der CDU/CSU) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: – ich glaube, bei Ihnen ist das noch eher so als bei uns –, umso größer muss der Wagen sein. An diesen Fakten Beratung des Antrags der Abgeordneten – da können Sie, meine Kollegen, so viel polemisieren, Dr. Gerhard Schick, Winfried Hermann, Bettina wie Sie wollen – kommen Sie nicht vorbei. Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich nehme keine Schuldzuweisung vor und sage nicht, Besteuerung von Dienstwagen CO2-effizient ausrichten und Privilegien abbauen dass es Ihre Schuld ist. – Drucksache 16/10978 – Reden wir weiterhin über die Fakten. Häufig sind Dienstwagen ein fester Bestandteil der Mitarbeitermoti- Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) vation und Teil der Bezahlung. In der Tat werden Ge- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie haltsteile umgewidmet und für Dienstwagen verwandt. Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Das wertet dieses Statussymbol noch einmal auf. An die- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ser Stelle muss schon die Frage erlaubt sein, ob die All- Haushaltsausschuss gemeinheit die Statussymbole unserer Führungskräfte Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die subventionieren muss. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Nach unserem Vorschlag, den wir Ihnen heute vorle- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten gen, hätten wir auf der Basis der heutigen Dienstwagen- soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so be- flotte Steuermehreinnahmen von 2,7 Milliarden Euro, schlossen. wenn wir eine Abschreibung vornähmen, die sich nach Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- dem CO2-Ausstoß richtete. Unser Vorschlag ist – das ist gin Sylvia Kotting-Uhl, Bündnis 90/Die Grünen. ja auch unser Ziel in der Umwelt-, Verkehrs- und Klima- (B) schutzpolitik –, für Wagen mit einem CO2-Ausstoß bis (D) zu 120 Gramm pro gefahrenen Kilometer die volle Ab- Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schreibungsmöglichkeit einzuräumen. Für Wagen mit ei- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nem CO2-Ausstoß bis zu 240 Gramm pro gefahrenen Guten Abend! Es ist spät; man sieht es an den geleerten Kilometer gibt es einen Abschreibungsfaktor, der sich Reihen. aus dem Zielwert – das sind die 120 Gramm – und dem (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Es ist nie Istwert – das ist der Wert des tatsächlich ausgestoßenen zu spät! – [CDU/CSU]: Spät CO2 – errechnet. Bei einem Ausstoß über 240 Gramm ist relativ!) pro gefahrenen Kilometer ist keine Abschreibung mehr möglich. Das ist die Null-Bürokratie-Variante. – Für das Parlament ist es offensichtlich spät. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir reden heute über das Thema Dienstwagen. Wel- che Rolle haben die Dienstwagen überhaupt bei uns? Das soll natürlich in vergleichbarer Weise auch für die Kraftstoffkosten und für die private Nutzung von Dienst- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Der ist schon wagen gelten. vorgefahren!) Aus umweltpolitischer Sicht ist das Ziel allerdings Wenn ich im Freundes- oder Bekanntenkreis oder heute nicht – das will ich den Herren Finanzpolitikern, die Mittag bei einer Besuchergruppe frage, was sie meinen, nach mir reden, sagen –, die Steuermehreinnahmen zu wie viel Prozent neu zugelassener Wagen auf unseren halten. Wir wollen geringer werdende Steuermehrein- Straßen wohl die Dienstwagen ausmachen, dann kom- nahmen an dieser Stelle; denn unser Ziel ist ein geringe- men Schätzungen von 10 bis – ganz mutig – 20 Prozent. rer CO2-Ausstoß auf unseren Straßen. Wenn ich dann sage, dass es 60 Prozent sind und bei den Mittelklasse- und Oberklassewagen sogar 85 Prozent, Die Regierung hat leider fatalerweise versäumt, so- dann sind alle sehr erstaunt. wohl bei der Abwrackprämie als auch bei der Neurege- lung der Kfz-Besteuerung eine ökologische Komponente Damit haben die Dienstwagen eine extreme Relevanz einzuführen. Das widerspricht allem, was wir ständig in für den Gebrauchtwagenmarkt. Denn ein Merkmal der Ihren Reden hören. Sie sprechen immer davon, wie not- Dienstwagen ist, dass sie relativ schnell wieder abgesto- wendig es sei, einen Anstoß für ökologische Innovatio- ßen werden. Nach circa zwei Jahren sind es Auslaufmo- nen zu geben und für den Verkehr auf der Straße den delle; dann gibt es neuere Modelle, also muss ein neuer CO2-Ausstoß zu senken. Aber es werden keine Len- Dienstwagen her. kungsinstrumente vorgeschlagen. 23246 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Sylvia Kotting-Uhl (A) Der zentrale Hebel sind in der Tat die Dienstwagen. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Thea Dückert (C) Wenn die Regierung jetzt die letzte Gelegenheit ergreift [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist das und wenigstens bei den Dienstwagen zupackt und um- denn für eine Argumentation? – Sylvia steuert, dann ist tatsächlich die Möglichkeit gegeben, ein Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: anderes Image für Dienstwagen zu etablieren. Wenn wir Was tun wir denn der Automobilindustrie an?) unsere Ziele erreichen wollen, dann kann das Image für die große Zahl von Dienstwagen, die jedes Jahr neu zu- Ihr Antrag ist aus meiner Sicht an wirtschaftlicher gelassen werden, nicht mehr sein: möglichst groß, mög- und steuerlicher Unbedarftheit nicht zu überbieten. lichst PS-stark und möglichst hoher CO2-Ausstoß. Es (Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ muss ein modernes, ein ökologisches und ein zukunfts- CSU]) fähiges Auto sein, das möglichst wenig CO2 ausstößt. Nur mit einer solchen Imageveränderung bekommen wir Sie sprechen von einem Abbau von Privilegien und mei- den Innovationsdruck in der Automobilindustrie endlich nen dabei die AfA. Die Abschreibung zeichnet aber le- hin. diglich den Wertverlust des Firmenvermögens nach. Es geht um den Werteverzehr während der betriebsgewöhn- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lichen Nutzungsdauer. Bei den Abschreibungsregelun- gen handelt es sich nicht um irgendwelche steuerlichen Ich hatte heute Morgen das Vergnügen, an einem Privilegien. Es geht vielmehr um die zutreffende Ermitt- Frühstück des BDI teilzunehmen und ein Gespräch mit lung der jährlich absetzbaren Abnutzungskosten als Be- einem Vertreter des Verbandes der Automobilindustrie triebsausgaben. zu führen. Er sagte mir: Ihr Umweltpolitiker wollt im- mer eine angebotsorientierte Politik betreiben und sagt, (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- was wir machen sollen – zum Beispiel die Grenzwerte NEN]: Das bestreitet doch niemand!) vermindern. Es muss aber auch jemand diese Wagen kaufen. Wenn die entsprechende Nachfrage nicht vor- Jetzt lautet Ihre Forderung, das System der AfA, das handen ist, dann können wir so viel produzieren, wie wir System der Absetzbarkeit von Betriebsausgaben, mit ei- wollen. ner ökologischen Ausrichtung zu versehen. Hier besteht aber die Möglichkeit, Nachfrage zu (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE schaffen. Ich garantiere Ihnen: Wenn diese Abschrei- GRÜNEN]: Ja!) bungsmöglichkeiten hinsichtlich des CO2-Ausstoßes de- Dies widerspricht aber den Grundprinzipien unseres gressiv gestaltet werden, dann schaffen wir Nachfrage. Steuerrechts und führt zu einer ganz erheblichen Ver- Das ist ein guter Grund für die Automobilindustrie, an- komplizierung. (D) (B) dere Wagen zu entwickeln, zu produzieren und auf den Markt zu bringen. Diese Wagen haben ein anderes (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Image. Dann haben wir endlich erreicht, wovon wir die NEN]: Sie haben doch gerade eine Kfz-Steuer ganze Zeit reden, nämlich weniger CO2-Ausstoß auf un- beschlossen, die sich am CO2-Ausstoß orien- seren Straßen. tiert! Wo sind Sie denn? Haben Sie Ihre eigene Regierungspolitik nicht mitgekriegt?) Gutes Gelingen! Wir brauchen derzeit aber keine Verkomplizierung, son- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dern eine Vereinfachung unseres Steuerrechts. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Olav Gutting, CDU/ Es wäre einfach widersinnig, zwei im Anschaffungspreis CSU-Fraktion. und in der Nutzungsdauer gleiche Wirtschaftsgüter nur deshalb unterschiedlich zu behandeln, weil sie sich im (Beifall bei der CDU/CSU) Kraftstoffverbrauch bzw. beim CO2-Ausstoß unterschei- den. Olav Gutting (CDU/CSU): Das würde, wenn man dies konsequent umsetzt, be- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und deuten, dass man letztendlich sämtliche Maschinen und Herren! Eines muss man Ihnen, liebe Kolleginnen und sämtliche Heizungsanlagen mit einem höheren CO2- Kollegen von den Grünen, lassen: Mutig sind Sie. Ausstoß sowie Gebäude, die vielleicht nicht ausreichend gedämmt sind, zukünftig anders abschreiben müsste als (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES andere. 90/DIE GRÜNEN – Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und konse- (Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): quent!) Es geht hier um eine Steuersubvention! Es gehört wirklich Mut dazu, in der aktuellen Krise, von Das würde bedeuten, dass ein Betrieb, der einen Kühl- der vor allem unsere Automobilhersteller und deren Zu- schrank kauft, der vielleicht ein bisschen mehr Strom lieferer betroffen sind und in der Hunderttausende von verbraucht als ein anderer, diesen nicht mehr abschrei- Menschen Angst haben, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, ben dürfte. Entschuldigung, das ist doch absurd. Da kann solche Forderungen zu stellen. man doch überhaupt keine Grenze ziehen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23247

Olav Gutting (A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sie haben vergessen, in Ihrem Antrag die anderen (C) Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Lenkungselemente, die es bereits gibt, zu erwähnen. An NEN]: Den Emissionshandel finden Sie wahr- der Tankstelle findet ja schon eine Lenkung statt, indem scheinlich auch absurd?!) für größere Fahrzeuge, die mehr verbrauchen, über die Mineralölsteuer und die Ökosteuer höhere Energiesteu- Es leuchtet keinem ein, welche Ungleichbehandlung Sie ern und zusätzlich eine höhere Kfz-Steuer gezahlt wer- bei abnutzbaren Wirtschaftsgütern vornehmen wollen. den muss. Das heißt, es gibt schon Lenkung im Markt, Welche Verkomplizierung das darüber hinaus für das und der Gesetzgeber hat schon erhebliche Anreize für deutsche Steuerrecht zur Folge hätte, will ich mir gar kleinere Kfz mit einem gewöhnlich auch geringeren nicht ausmalen. Schadstoffausstoß geschaffen. Es geht bei Ihrem Hinweis auf angebliche Steuerpri- (Beifall bei der CDU/CSU) vilegien aus meiner Sicht letztendlich nur darum, eine populistische Neiddebatte loszutreten. Sie sagten ja vor- Diese Anreize werden mit der Umstellung der Kfz- hin selbst, dass es etwas ganz Schlimmes ist, wenn je- Steuer, die wir ja gerade beschlossen haben und die sich mand einen Dienstwagen hat. nun am CO2-Ausstoß orientiert, noch deutlich erhöht. Es gibt keine besseren Lenkungs- und Steuerungselemente (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- als diese beiden Komponenten: Kfz-Steuer und Energie- NEN]: Hören Sie doch einfach einmal zu!) steuer zusammen. Das wird am Markt Wirkung zeigen. Schauen Sie sich einmal die Zahlen an: Der ganz über- Hingegen kann ich als Baden-Württemberger bei wiegende Teil der Dienstwagen sind Klein- und Mittel- dem, was Sie hier vorschlagen, nur die Hände über dem klassewagen Kopf zusammenschlagen und den Kopf schütteln. Sie setzen bewusst die Arbeitsplätze von Zehntausenden Ar- (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE beitnehmerinnen und Arbeitnehmern in unserem Land GRÜNEN]: Nein, sind sie nicht! Falsch infor- aufs Spiel. Das können die Beschäftigten in der Automo- miert!) bilindustrie derzeit wirklich nicht brauchen. Warum las- sen Sie die Leute nicht einfach die Autos kaufen, die sie und eben nicht Ihr Porsche Cayenne, den Sie immer wie- wollen? Wir haben doch bereits Lenkungselemente. Las- der anführen. Es stimmt einfach nicht, dass die von Ih- sen Sie doch die Leute, wenn sie Lust haben, mehr Geld nen angesprochene 1-Prozent-Regelung bei der privaten auszugeben! Das können sie doch gerne machen. Wissen Nutzung von Dienstfahrzeugen ein steuerliches Privileg Sie: Ihr Antrag passt letztlich genau zu Ihrer Linie ist. Es ist lediglich eine allgemein anerkannte und sach- (B) gerechte Vereinfachungsregel, die sich in der Vergangen- (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) heit bewährt hat. NEN]: Sicherlich!) und zu dem Ziel, die Deindustrialisierung Deutschlands Der Vorteil aus der Pkw-Gestellung durch den Arbeit- voranzutreiben. In diese Richtung geht Ihr Antrag. geber wird beim Arbeitslohn hinzugerechnet. Das heißt, die Privatnutzung des Dienstfahrzeuges ist mit dem per- (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen beim sönlichen Steuersatz zu versteuern. Dabei wird der Brut- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tolistenpreis des Kfz zugrunde gelegt, bei größeren Fahr- zeugen also ein höherer Preis. Ihre Statussymbole Dazu passt es auch, dass Ihre Kollegin, die Fraktions- werden zu Recht von vornherein mit einem höheren vorsitzende Künast, schon mehrmals in der Öffentlich- Wert angesetzt und sind folglich höher steuerlich belas- keit dazu aufgerufen hat: Leute, kauft Hybridautos von tet. Toyota! Tolle Idee! Ich frage mich: Wozu brauchen wir in Deutschland überhaupt noch eine Automobilindus- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Eben!) trie? Sie nennen in Ihrem Antrag ein Beispiel: die An- (Beifall bei der CDU/CSU) schaffung eines Porsche Cayenne zu einem Preis von Mit Ihren dauernden Angriffen auf die deutschen Auto- 68 000 Euro. Wenn wir diesen Preis ansetzen, dann be- bauer und insbesondere auf die daran hängenden Ar- deutet das nach der 1-Prozent-Regelung eine Versteue- beitsplätze gefährden Sie Zehntausende von Jobs bei rung von monatlich 809 Euro für den Nutzer dieses Daimler, Audi, BMW, Porsche und VW. Fahrzeuges. Bei einer Abschreibung von fünf Jahren ist das ein zu versteuerndes Einkommen von insgesamt fast (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE 50 000 Euro. Wenn wir angesichts dieser Preisklasse von GRÜNEN]: Es wird nicht dadurch wahrer, einem Steuersatz von fast 50 Prozent ausgehen, dann er- dass Sie es jede Minute wiederholen!) hält der Staat von dem Nutzer dieses Pkws Steuereinnah- Das werden wir verhindern. men von über 24 000 Euro. Das ist mehr als der Steuer- ausfall, den Sie dem Unternehmen ankreiden. Das ist (Beifall bei der CDU/CSU) mehr als das, was dem Staat nach Ihrem Antrag verloren Das Gebot der Stunde heißt Vertrauen. Das Gebot der gehen soll. Die Steuereinnahmen aus der privaten Nut- Stunde heißt Stabilität, zung gleichen somit die Steuerminderung aus der Ab- schreibung bei einem Unternehmen, also aus dem jährli- (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE chen Werteverzehr, gewöhnlich wieder aus. GRÜNEN]: Keine Experimente!) 23248 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Olav Gutting (A) auch in der Steuergesetzgebung. Es heißt aber nicht ideo- Es gibt einen weiteren wichtigen Gesichtspunkt: Der- (C) logisch geprägte Steuererhöhung zur weiteren Verunsi- selbe Besteuerungsgegenstand kann nicht willkürlich oft cherung bei Kfz-Käufern. besteuert werden. Nach Ihrem Antrag wäre bei Dienstwa- gen der CO2-Anteil die Grundlage nicht nur bei der Kfz- (Beifall bei der CDU/CSU) Besteuerung und bei der Abschreibung, sondern – so hät- ten Sie es ja gerne – auch noch bei der Besteuerung des- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: jenigen, der dieses Auto privat nutzt. Der CO2-Anteil Der Kollege Dr. Volker Wissing, FDP, hat seine Rede würde also sozusagen dreimal besteuert. Herr Gutting, zu Protokoll gegeben.1) Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass die Mine- ralölsteuer dadurch eine CO2-Komponente erhalten hat, Ich rufe deshalb den Kollegen Reinhard Schultz, dass wir sie unter dem Stichwort Ökosteuer aus Klima- SPD-Fraktion, auf. schutzgründen bewusst erhöht haben. Das wäre sozusa- gen die vierte Besteuerung desselben Gegenstandes. Ich Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): glaube, das wäre wirklich des Guten zu viel. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kotting-Uhl, ich weiß nicht, wo Sie die Zahlen, Ich will jetzt nicht ganz so martialisch zu dem Antrag die Sie hier genannt haben, herhaben. Die Zulassungs- sprechen, sondern versuchen, kollegial zu argumentie- zahlen von 2008 sind allgemein zugänglich und eindeu- ren. tig. Sie sagten, 60 Prozent der Neuzulassungen seien Auch wir in der SPD-Fraktion haben uns insbeson- Dienstwagen. 2008 waren es 30,3 Prozent. Das ist eine dere im letzten Jahr Gedanken gemacht, ob wir eine öko- Abweichung, die größer ist, als ein Schätzfehler es sein logische Steuerung in die Dienstwagenbesteuerung ein- kann. Das sind Zahlen aus der amtlichen Zulassungssta- bauen sollen. Das war zu einem Zeitpunkt, zu dem wir tistik. nicht davon ausgehen konnten, dass wir kurzfristig zu ei- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das war die ner Kraftfahrzeugsteuerreform kommen. Die haben wir Kumulierung wie bei der Steuer!) nun, und zwar mit einer – aus Ihrer Sicht vielleicht nicht hinreichenden, Wenn Sie sich die Zusammensetzung der Fahrzeuge ansehen, stellen Sie fest, dass 73,9 Prozent zur Mini- und (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE Mittelklasse gehören oder Mini-Vans oder Vans sind. GRÜNEN]: Richtig!) Auch das sind keine Geschäftsführerbrummer, sondern Nutzfahrzeuge. aber doch deutlich erkennbaren – CO2-Komponente. Ich (B) bin überzeugt, dass wir im Lauf der nächsten Jahre diese (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE (D) CO2-Komponente ausbauen werden. GRÜNEN]: Aber an denen ändern wir ja auch (Beifall bei der SPD) gar nichts!) Es gab bei uns viele, die gerne jetzt schon einen etwas Wissen Sie, woran das liegt? Solche Autos werden nicht progressiveren Teil da reingebracht hätten. Aber solche in erster Linie von „Bonzen“ oder vergleichbaren Ge- Reformen verlangen natürlich nach Kompromissen in- stalten gefahren. Das sage ich in Anführungszeichen we- gen des Vorwurfs: Bonzenauto gleich CO2-Schleuder. nerhalb einer Koalition. Nichtsdestotrotz ist der CO2- Anteil deutlich erkennbar und wird auch spürbar auf das (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist aber Käuferverhalten wirken. Das ist ein Beitrag zum Klima- nur im Münsterland so!) schutz im Straßenverkehr. Deswegen sind aus unserer Sicht Sonderbetrachtungen, die aus einer Zeit stammen, – Das ist die klare münsterländische Sprache. – Solche zu der wir nicht glaubten, uns mit den Ländern über die Autos werden von Monteuren, Außendienstmitarbeitern, Kfz-Steuerreform einigen zu können, völlig überflüssig Vertretern und Handwerkern gefahren. Viele von denen geworden. Aus diesem Grund wird es von uns jetzt und haben nicht viel Geld, stehen entweder in einem abhän- in absehbarer Zeit keine Unterstützung dafür geben. gigen Beschäftigungsverhältnis oder sind selbstständig. Sie nutzen diese Autos im Wesentlichen tatsächlich zu (Beifall bei der SPD) beruflichen Zwecken. Es gibt auch einige grundsätzliche Argumente, die da- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – gegen sprechen. Herr Gutting hat darauf hingewiesen: Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir vertreten – und darauf sind wir vom Bundesverfas- NEN]: Da ändert sich nichts!) sungsgericht aus guten Gründen mehrfach hingewiesen worden – das Nettobesteuerungsprinzip. Wissen Sie, wie viele Fahrzeuge von den im Jahr 2008 zugelassenen 960 000 Dienstfahrzeugen zur Ober- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sollten wir klasse zählen? Ich sage es Ihnen, da Sie die Statistik of- normalerweise!) fensichtlich nicht gelesen haben: 1,5 Prozent dieser Tatsächlich entstehender Aufwand muss also bei der Ge- Fahrzeuge zählen zur Oberklasse. winnermittlung vor Besteuerung berücksichtigt werden. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Hört! Hört! – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Hört! 1) Anlage 3 Hört!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23249

Reinhard Schultz (Everswinkel) (A) Jetzt können Sie die gehobene Mittelklasse, die meines reswagen und junge Gebrauchte über die Umweltprämie (C) Erachtens noch nicht in den Bereich Luxus gehört, be- schneller verkaufen zu lassen. trachten, die 8,3 Prozent ausmacht. Ein besonderes Är- Insofern hinken Sie mit Ihrem Antrag von der Sache gernis sind die 7,6 Prozent Geländewagen. Diese werden und der statistischen Grundlage her sowie aus verfas- sicherlich nicht nur von Forstwirten, Bauingenieuren sungsrechtlicher Sicht – eigentlich unter jedweden Ge- und Brückenbauern gefahren. Das will ich gar nicht aus- sichtspunkten – hinter der Wirklichkeit her. Ich hätte es schließen. Diese Autos bilden aber im Verhältnis zu den verstanden, wenn Sie über Ihren Antrag, der aus dem 73,9 Prozent an kleinen und mittleren Fahrzeugen, die letzten Jahr stammt, früher diskutiert hätten. Dann hätte mit Image und Status überhaupt nichts zu tun haben, dies zumindest noch den Reiz gehabt, über eine Alterna- eine kleine Menge. tive zu einer nicht vorhandenen CO2-orientierten Kraft- fahrzeugsteuer zu diskutieren. Aus heutiger Sicht ist die- Natürlich gibt es auch den Fall, dass Mitarbeiter von ser Antrag meines Erachtens ein Dokument der Firmen im Gesamtgefüge dessen, was sie geldlich und un- Vergangenheit, das an Bedeutung verloren hat. Sie soll- entgeltlich an Vorteilen bekommen – quasi ins Gehalt ein- ten gar nicht erst darüber abstimmen lassen. gepreist –, einen Dienstwagen gestellt bekommen – weil sie relativ viel im Außendienst sind –, den sie auch privat (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) nutzen können. Derjenige zahlt einen angemessenen An- teil. Der muss steuerlich geltend gemacht werden. Im Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Augenblick ist das 1 Prozent vom Listenpreis. Auch da- Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin rüber müssen wir in einer Zeit, in der die Automobil- Barbara Höll, Fraktion Die Linke. preise fallen, gelegentlich einmal nachdenken. Selbst Neufahrzeuge sind heute weit unter Listenpreis zu be- (Beifall bei der LINKEN) kommen. Ich finde es nicht ganz zeitgemäß, wenn bei ei- nem Handwerker, der sich einen alten Mercedes Kombi Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): für 15 000 Euro kauft, ein Listenpreis von 40 000 Euro Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- als Besteuerungsgrundlage herangezogen wird. Das sage gen! Reden wir Klartext: Der Ausstoß von Treibhausga- ich bewusst in meiner Eigenschaft als Mittelstandspoliti- sen ist die Hauptursache für den Klimawandel. Seine ker. Darüber muss man bei Gelegenheit sicher einmal Abwendung erfordert ein gesellschaftliches Umdenken, nachdenken. Das steht nicht ganz oben auf der Tagesord- gerade auch in Zeiten der Krise, Herr Gutting. Nur weni- nung, ist aber dennoch ein wichtiger Punkt. ger Autoverkehr ist langfristig der wirksame Ansatz, um den Klimawandel noch zu stoppen. Dies erfordert ge- (Beifall bei der CDU/CSU) waltige Veränderungen im Denken und im Handeln. Wir (B) brauchen die stärkere Regionalisierung der Wirtschafts- (D) 30 Prozent dieser Dienstwagen stellen den Großteil strukturen, das Zusammenführen von Wohnen, Arbeiten der Neuzulassungen; das ist überhaupt nicht zu bestrei- und Leben, um das Pendeln zu reduzieren, den verstärk- ten. Frau Kotting-Uhl, Sie haben die Schlüsselrolle zwar ten Einsatz von umweltgerechter und energiesparender beschrieben, aber leider nicht richtig. Wissen Sie, was Technik, den Ausbau der erneuerbaren Energien usw. durch Dienstwagen entsteht? Durch den relativ schnellen Die Liste ließe sich fortführen. Umsatz – Dienstwagen werden schnell verkauft – kommt es relativ schnell zu Innovationen. Vielleicht Allein der Verkehrssektor verursacht insgesamt kommt es nicht immer zu den Innovationen, die wir uns 20 Prozent der Treibhausgasemissionen. Bei Personen- wünschen. Manche Sachen sind viel zu langsam gekom- kraftwagen stagnieren die Emissionen seit Jahren auf ho- men. Ich führe sehr kritische Diskussionen mit der Auto- hem Niveau. Einerseits steigen die Fahrleistungen konti- mobilindustrie hinsichtlich ihrer Produktpolitik, was nuierlich an, andererseits sinken der durchschnittliche Kraftstoffverbrauch und damit die Emissionen zu lang- Umweltfreundlichkeit und CO2-Verbrauch anbelangt. Trotzdem ist festzuhalten, dass durch den schnellen Um- sam. Klimaschutzaspekte werden in diesem Bereich von satz der Dienstwagen Innovationen viel schneller in die der Bundesregierung nach unserer Einschätzung nur äu- Breite gegeben werden, als das in der Vergangenheit der ßerst unzureichend beachtet. Fall war, wo ausschließlich die Premiumfahrzeuge Inno- Nun, in der dramatischen Wirtschaftskrise, werden vationsträger gewesen sind. Das hat sich vollständig ver- ökologische Aspekte erst recht nachrangig behandelt. ändert. Das finde ich gut. Wie so oft droht der Blick wieder einmal auf das Wohl und Wehe des Fetischs Auto verkürzt zu werden. Dabei Ein Nebeneffekt ist, dass diese relativ schnell ver- geht es doch konjunkturpolitisch nicht nur ums Auto; kauften Dienstwagen – als Jahreswagen oder junge ge- auch alle anderen Arbeitsplätze brauchen angesichts des brauchte – dazu beitragen, dass auch Leute, die kein di- dramatischen Ausmaßes der Krise einen Schutzschirm. ckes Portemonnaie haben, relativ schnell an ein Problematisch an der Abwrackprämie ist, dass gezielt neuwertiges Auto kommen. Das empfinde ich nicht un- ein einzelner Wirtschaftssektor gehätschelt wird. Warum bedingt als Nachteil. Das kann ich nicht kritisieren. nicht auch Abwrackprämien für alte Geschirrspüler, Waschmaschinen und Tiefkühlgeräte, die alle Strom- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) und Wasserschlucker sind? Herr Gutting hat zu Recht darauf hingewiesen, dass dies Aus Klimaschutzperspektive ist die Abwrackprämie angesichts der heutigen Situation auf dem Automobil- nicht richtig, da sie niemanden davon abhält, einen Sprit- markt überhaupt kein Nachteil ist. Wir fördern es ja, Jah- schlucker zu kaufen. Sie hätten wenigstens Parameter 23250 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Dr. Barbara Höll (A) einführen müssen und in der Krise die Chance ergreifen Einheit in Vielfalt – Kulturpolitik in und für (C) können, Geld ganz gezielt dafür einzusetzen, Anreize für Europa aktiv gestalten Investitionen in energiesparendere Motoren zu setzen. So ließe sich Klimaschutz verwirklichen, und gleichzei- – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Uschi tig würden Arbeitsplätze in der deutschen Automobilin- Eid, Undine Kurth (Quedlinburg), Marieluise dustrie gesichert. Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Grünen greifen nun mit dem sogenannten Dienst- wagenprivileg einen kleinen Teilbereich heraus. Die Rich- Vielfalt verbindet – Europäische Kultur stär- tung hat Charme; wir brauchen hier ein politisches ken und weiterentwickeln Zeichen. Anreize zum Kauf von spritsparenden Kraftfahr- – Drucksachen 16/11221, 16/10339, 16/12137 – zeugen sind auch aus Sicht der Linken eine sinnvolle Maßnahme. Aber die Probleme werden sich damit leider Berichterstattung: nicht lösen lassen. Einerseits besteht bereits heute ein gro- Abgeordnete Dr. Stephan Eisel ßer Teil der Dienstwagen aus kleinen, preiswerten und so- Steffen Reiche (Cottbus) mit spritsparenden Wagen. Es sind die Kleinwagen von Christoph Waitz Kranken- und Altenpflegerinnen, von Pizzalieferanten Dr. Lukrezia Jochimsen und zahlreichen anderen Außendienstmitarbeiterinnen Undine Kurth (Quedlinburg) und -mitarbeitern. Sie sind heute schon aufgrund ihrer ge- ringen Einnahmen schlicht und ergreifend gezwungen, b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- auf sparsame Kleinwagen zurückzugreifen. richts des Ausschusses für Kultur und Medien (22. Ausschuss) zu der Unterrichtung durch die Andererseits sind die großen Dienstwagen, also die Bundesregierung eigentlichen Spritschlucker – geben wir es zu –, oftmals mehr Statussymbole als Transportmittel. Deren steuerli- Vorschlag für einen Beschluss des Europäi- che Mehrbelastung müsste schon enorm ausfallen, um schen Parlaments und des Rates über das Pro- einen Umstieg auf kleinere, weniger repräsentative Fahr- gramm „Kultur 2007“ (2007–2013) zeuge zu erreichen. Daher stellt sich die Frage: Kann der KOM (2004) 469 endg.; Ratsdok. 11572/04 CO2-Ausstoß über steuerliche Maßnahmen dieser Art – Drucksachen 16/820 Nr. 72, 16/1700 – vermindert werden? Es ist leider eine Illusion, dass Steu- ern bei denen, die sich „dicke“ Autos leisten können, das Berichterstattung: Verhalten ändern. Ich glaube, dass sich kaum jemand Abgeordnte Johann-Henrich Krummacher von seinem großen Schlitten trennt, wenn er ein paar Steffen Reiche (Cottbus) (B) Euros mehr Steuern zahlen muss. Christoph Waitz (D) Dr. Lukrezia Jochimsen Belassen wir es deshalb nicht bei Symbolpolitik, son- Katrin Göring-Eckardt dern konzentrieren wir uns auf die Kernaufgaben: Ver- kehrsvermeidung und neue innovative Techniken. c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christoph Waitz, Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Dr. Danke. Claudia Winterstein, weiterer Abgeordneter und (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. der Fraktion der FDP Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]) Europäische Kulturpolitik neu ausrichten – Drucksache 16/11909 – Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Ich schließe die Aussprache. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Drucksache 16/10978 an die in der Tagesordnung aufge- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Stephan Eisel, CDU/CSU-Fraktion. verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 c auf: Dr. Stephan Eisel (CDU/CSU): a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe richts des Ausschusses für Kultur und Medien Kolleginnen und Kollegen! Bitte gestatten Sie mir, dass (22. Ausschuss) ich zu Beginn dieser Debatte zunächst an den vor fast ge- – zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang nau einem Jahr verstorbenen Kollegen Johann-Henrich Börnsen (Bönstrup), , Dorothee Krummacher erinnere. Denn ihm oblag in seiner Tätig- Bär, weiterer Abgeordneter und der Fraktion keit im Kulturausschuss seinerzeit die Berichterstattung der CDU/CSU zu diesem Thema. Er hat die Initiative ergriffen, aus dem sowie der Abgeordneten Steffen Reiche (Cott- Enquete-Bericht „Kultur in Deutschland“ im Rahmen bus), Monika Griefahn, Siegmund Ehrmann, der europäischen Kulturpolitik eine erste Konsequenz zu weiterer Abgeordneter und der Fraktion der ziehen. Ich habe diese Berichterstattung übernommen. SPD Ich glaube, wir alle denken mit großer Hochachtung und Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23251

Dr. Stephan Eisel (A) Respekt an Johann-Henrich Krummacher, der diesen Kultur gemacht wird. Kultur beinhaltet die Freiheit des (C) Prozess eingeleitet hat. Einzelnen, seine Entfaltungskraft, die Zivilgesellschaft vor Ort. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Maßnahmen, die wir in unserem Antrag genannt haben und deren Umsetzung wir von der Bundesregie- Europäische Kulturpolitik steht dafür, dass Europa, rung fordern, sind ganz überwiegend Maßnahmen, bei dass die Europäische Union nicht einfach eine Freihan- denen es um die Stärkung der Vielfalt geht. Europäische delszone ist, auch nicht nur eine politische Interessen- Kulturpolitik ist das klassische Beispiel für die Umset- gemeinschaft, sondern eine Kultur- und Wertegemein- zung des Subsidiaritätsprinzips. Sie muss von unten schaft, eine Gemeinschaft, in der die Achtung vor der nach oben wachsen. Würde des Menschen, vor der Freiheit des Einzelnen und vor der Verantwortung für das Gemeinwohl im Mit- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) telpunkt steht. Nur der Bezug auf diese Grundwerte macht die politischen Entscheidungen in sich schlüssig. Wir fordern, mehr für den Kulturaustausch zu tun; Das merken wir gerade in diesen Zeiten der Krise. denn Vielfalt heißt, voneinander zu lernen. Wir wollen Netzwerke fördern; denn durch Netzwerke wird die Die europäische Geschichte hat gezeigt, dass diese Vielfalt miteinander in Verbindung gebracht. Wir schla- Grundwerte keineswegs selbstverständlich sind. Gerade gen vor, die Modalitäten der Beantragung von Kultur- die Geschichte des letzten Jahrhunderts mit den totalitä- projekten, die auf europäischer Ebene durchgeführt wer- ren Diktaturen, die diese Grundwerte massiv verletzt ha- den, zu vereinfachen. ben, hat gezeigt und ruft in Erinnerung, dass wir etwas dafür tun müssen, dass die Achtung vor der Würde des (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) Menschen, der Freiheit des Einzelnen und der Verant- Wir sind der Meinung, dass es einen Überbrückungs- wortung für das Gemeinwohl erhalten bleibt. fonds geben muss. Er ist auch in finanzieller Hinsicht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- von Bedeutung, weil bei vielen europäischen Projekten neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE erwartet wird, dass die Antragsteller sie vorfinanzieren. GRÜNEN) Das ist gerade für kleine Initiativen ein Problem. Wir wollen außerdem, dass die kulturelle Eigenart nationaler Dies ist einer der ersten und wichtigsten Punkte in un- Minderheiten – ich denke zum Beispiel an die Sorben – serem Antrag. Ich will das in diesem Jahr der Gedenk- mehr als bisher zur Geltung kommt. Dabei geht es um tage und Jubiläen nicht am deutsch-französischen Bei- die Kraft Europas, die Vielfalt unserer Geschichte und spiel, sondern am deutsch-polnischen Beispiel deutlich die Vielfalt des kulturellen Alltags. (D) (B) machen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: neten der SPD und der Abg. Dr. Lukrezia Sehr gut!) Jochimsen [DIE LINKE] – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Vergiss die Friesen Vor 70 Jahren, am 23. August 1939, haben sich zwei to- nicht!) talitäre Regime zusammengeschlossen und den soge- nannten Hitler-Stalin-Pakt geschlossen; dies geschah vor Hinzu kommt der Gesichtspunkt der Einheit. Wie wir allem auf Kosten des polnischen Volkes. Auch das ist wissen – das müssen wir allerdings mehr als bisher reali- europäische Geschichte. Zwei Generationen später wa- sieren –, leben nur 7,5 Prozent der Weltbevölkerung in ren es das polnische Volk mit der Gründung von Solidar- den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. In der Welt nosc und der polnische Papst, die die Voraussetzungen sind wir also nur eine kleine Gruppe. In der globalisier- dafür geschaffen haben, dass wir Deutsche in diesem ten Welt werden wir Europäer allerdings gemeinsam Jahr 20 Jahre Mauerfall feiern können. wahrgenommen. Deshalb muss sich die Vielfalt zu einer gemeinsamen Stimme entwickeln. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir schlagen vor, darüber nachzudenken, eine euro- Auch das ist europäische Geschichte. Es zeigt unsere päische Kulturstiftung zu gründen. Wir brauchen eine Verpflichtung und gibt uns die Hoffnung, dass wir diese Stimme Europas, auch im medialen Bereich, um in der Werte mit dem, was wir im Rahmen der europäischen globalisierten Welt ein Instrument zur Verfügung zu ha- Kulturpolitik politisch bewegen, stabilisieren und beför- ben, mit dem wir unsere Grundwerte und unsere Über- dern können. zeugungen in die Welt transportieren und vertreten kön- Die Kraft Europas und die kulturellen Leistungen Eu- nen. ropas haben die Zerrissenheit unseres Kontinents über- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- standen. Die Kraft Europas ist die kulturelle Vielfalt. neten der SPD) Deshalb haben wir unseren Antrag mit „Einheit in Viel- falt“ überschrieben. Außerdem begrüßen wir die Initiative des Europäischen Parlaments, in Brüssel ein Haus der europäischen Ge- Wer europäische Kulturpolitik betreibt, kann dabei schichte zu errichten, nicht so verfahren wie bei der Fahrt in einem Heißluft- ballon – wenn man weit weg ist vom Grund und kein (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Lüftchen weht –, sondern muss sich dorthin begeben, wo Gute Idee!) 23252 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Dr. Stephan Eisel (A) um den Menschen deutlich zu machen, welch eine Er- Steffen Reiche (Cottbus) (SPD): (C) folgsgeschichte die europäische Einigung ist. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jean Monnet soll gesagt haben, wenn er Europa noch Allerdings ist es uns hier im Parlament nicht gelun- einmal neu begründen könnte, würde er mit der Kultur gen, durch einen gemeinsamen Antrag aller demokrati- beginnen. Das ist zumindest gut erfunden. Wir sollten es schen Fraktionen Einheit in Vielfalt zu demonstrieren. jetzt im Blick behalten, wo Europa in die vermutlich (Beifall der Abg. Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE schwerste Wirtschafts- und Finanzkrise seit dem Zwei- LINKE]) ten Weltkrieg, seit der Gründung der Europäischen Union hineingeht. – Frau Kollegin, ich sagte: aller demokratischen Fraktio- Manche sprechen von einer Kultur-, ja Demokratie- nen; krise, die dem zugrunde liegt, vielleicht aber zumindest (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) folgt. Um Europa trotz dieser Herausforderung zu be- wahren, es so zu entwickeln, dass es gestärkt aus der das habe ich mit Absicht so formuliert; insofern haben Krise herauskommt, bedarf es der europäischen Kultur – Sie an der falschen Stelle geklatscht. – Das ist bedauer- nicht nur unserer Konfliktlösungskultur, sondern einer lich, weil wir damit auch ein Beispiel dafür hätten geben Kultur, die uns Orientierung gibt, uns aus der Krise he- können, dass es möglich ist, sich trotz aller Vielfalt zu ei- rauszukommen hilft, einen gemeinsamen Boden schafft, nigen. wo in dieser Situation sicher geglaubte Fundamente doch wegbrechen. Ich möchte den Kollegen, die an den langwierigen Verhandlungen beteiligt waren, herzlich danken. Ich be- Hätten wir nur eine Wirtschaftsunion, wären wir danke mich insbesondere bei Frau Kollegin Eid, die das wirklich arm dran. Aber wir haben auch eine Union der Ziel der Vielfalt der Positionen und des Respekts vor un- europäischen Kulturen. So wie durch die Wirtschafts- terschiedlichen Positionen auch in den Diskussionen union Wohlstand und Attraktivität Europas gesteigert über diesen Antrag immer wieder hochgehalten hat. Ich werden, so steigert auch die europäische Kultur, die Sin- bedanke mich auch beim Kollegen Waitz – er ist heute fonie der Kulturen Europas, den Wohlstand und die At- nicht hier –, für den es einfacher gewesen wäre, einen traktivität der Europäischen Union. Nicht nur um die im gemeinsamen Antrag zustande zu bringen, wenn die Maastrichter Vertrag begründete europäische Bürger- Kulturpolitiker in seiner eigenen Fraktion etwas mehr schaft mit Leben zu erfüllen, benötigt Europa eine ge- Gehör gefunden hätten. meinsame europäische Kultur, die im harmonischen Konzert der verschiedenen europäischen Kulturen be- (Dr. Uschi Eid [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- steht. Wir brauchen gemeinsame kulturelle Werte; denn (B) (D) NEN]: Ja, das stimmt!) sie bedeuten eine gemeinsame Werteorientierung, was die Basis und die Struktur des gesellschaftlichen, des Ich danke auch dem Kollegen Reiche, der in der ihm ei- ökonomischen und des politischen Systems angeht. genen Nachdrücklichkeit mehr auf die Koalitionseinheit als auf die -vielfalt Wert gelegt hat. Diese Krise wird die gemeinsame europäische Kultur entwickeln und stärken; zum einen, weil uns die gemein- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Al- sam gemachten Erfahrungen prägen werden, und zum lerdings! In seiner unnachahmlichen Art!) anderen, weil wir ohne ein Mehr an europäischer Kultur nicht heil aus dieser Krise herauskommen werden. Be- Wichtig ist, dass wir uns, auch wenn wir heute keinen merkenswert ist: Die Europäer erwarten jetzt geradezu gemeinsamen Antrag verabschieden, in der Sache einig europäische Antworten auf die aktuellen Entwicklungen. sind und bei der Konkretisierung dessen, was in unserem Antrag steht, gemeinsam vorgehen. Wir müssen die Die europäische Kultur entsteht und wächst in den Vielfalt Europas und die Vielfalt unserer kulturellen Ge- Städten und Gemeinden. Sie wird von den Regionen ge- schichte im Rahmen dieses Antrags umsetzen, um der fördert und prägt diese. Die Nationen Europas sind Kul- Freiheit der Menschen, der Achtung voreinander und turräume. Wie andere Nationen ist auch Deutschland dem Respekt voreinander im Alltag der Kulturpolitik eine Kulturnation. Aber auch Europa ist ein Kulturraum. Geltung zu verschaffen. Die Ebenen haben sich eigentlich immer gegenseitig ge- stärkt; sie nehmen sich nichts weg, indem sie eigene (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Kompetenzen wahrnehmen und Aufgaben erfüllen, son- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE dern bilden gemeinsam das europäische Kulturquartett. GRÜNEN) Städte spielen die erste Geige, Regionen spielen den sta- bilen Grundton der Bratsche, die Nationen verstärken Vizepräsident Dr. h. c. : das Ganze mit dem satten Ton des Cellos, und Europa Der Kollege Christoph Waitz hat seine Rede zu Proto- trägt wie der Kontrabass die gemeinsame Grundmelodie. koll gegeben.1) Ein Instrument nimmt die Melodie des anderen auf und führt sie weiter. Daraus entsteht die Harmonie und Fülle Ich erteile das Wort dem Kollegen Steffen Reiche für des europäischen Kulturquartetts. die SPD-Fraktion. Deshalb ist es gut, dass wir heute auf der Grundlage des gemeinsam beschlossenen Kapitels „Kultur in 1) Anlage 4 Europa“ im Schlussbericht der Enquete-Kommission Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23253

Steffen Reiche (Cottbus) (A) „Kultur in Deutschland“ gleich über drei Anträge disku- Europa gemeinsam durchgeführt, europäische Verbände (C) tieren. Dabei überwiegen Gemeinsamkeiten; aber die organisieren, europäische Stiftungen finanzieren, und Akzente sind an manchen Stellen verschieden gesetzt. durch europaweite Tagungen werden der Austausch und Wir sind ganz nah beieinander. die Planung neuer gemeinsamer Projekte ermöglicht. Noch nie hat Kultur in der Europäischen Union eine Meines Erachtens finden sich bei immer mehr Vorha- so anerkannte Rolle gespielt wie heute. Sie wird geför- ben auch immer mehr Partner, die sich etwas zu sagen dert, ist Gegenstand größter europäischer Kongresse; haben und gemeinsam mehr als alleine schaffen. Ein Parlament, Kommission und Rat sehen die europäische großartiges Beispiel dafür ist der europäische Film. Im- Kulturförderung zunehmend als ihre eigene Aufgabe an. mer mehr Filme sind Koproduktionen, immer mehr Im Rahmen des Programms „Kultur“ werden im Zeit- Filme werden von zwei oder drei und mehr europäischen raum von 2007 bis 2013 erhebliche Mittel zur Verfügung Partnern gemacht. Durch regionale und nationale Film- gestellt. fördermittel werden europäische Meisterwerke ermög- licht: Filme, die in Europa spielen und von Europäern Wir haben in den letzten zehn Jahren Bundeskultur- für Europäer gedreht wurden. Plötzlich gelingt uns, was politik gemeinsam erkannt: Wenn ein Akteur mehr auf- die Nationalstaaten vergeblich forderten: Der europäi- tritt, stärkt das die Kultur und die Länder. Im Grunde ist sche Film spielt neben dem US-amerikanischen eine ste- das eifersüchtige Wachen darüber, wer zuständig ist, ein tig wachsende Rolle. In manchen Wochen dominiert er Reflex von gestern. Wir müssen die deutsche Erfahrung sogar schon die Kinos in Europa. für Europa nutzbar machen. Den Nationen wird durch Europa als Kulturakteur nichts genommen. Im Gegen- Einige der im Antrag angesprochenen Projekte sind teil: Europa fördert den europäischen Kulturdialog, hilft mittlerweile zum Glück schon im Werden. Der Europäi- uns, das Gemeinsame der verschiedenen nationalen Kul- sche Rat möchte die zwischenstaatliche Initiative für ein turen zu erleben. Europa hilft uns, die europäische Kul- europäisches Kulturerbesiegel nach dem Vorbild der tur im Dialog der Kulturen zu entwickeln. Europäischen Kulturhauptstädte in eine förmliche Initia- In Berlin bin ich Potsdamer, in Bayern bin ich Bran- tive der Europäischen Union umwandeln. Schließlich denburger, in Frankreich bin ich Deutscher, und in wird die Kommission sehr bald eine Empfehlung hin- China, in Australien und in Amerika bin ich Europäer. sichtlich der Kulturhauptstädte Europas 2012 und 2013 Ich fühle mich so, und ich werde so gesehen. Deshalb ist abgeben. es gut, dass es die offene Methode der Koordinierung Wir halten die Idee, dass wir 2010 neben Pécs als gibt. Europäische Kulturhauptstadt und dem Ruhrgebiet als (B) Die Union leistet einen Beitrag zur Entfaltung der Europäische Kulturhauptstadtregion auch eine Kultur- (D) Kulturen der Mitgliedstaaten unter … gleichzeitiger hauptstadt Europas benennen, die noch nicht in einem Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes. EU-Mitgliedsland liegt, nämlich Istanbul, für so zu- kunftsweisend, dass wir sie über das Jahr 2010 hinweg So steht es im Vertragswerk der Union. fortgesetzt wissen wollen. Es muss dafür Sorge getragen werden, dass dieser Standpunkt auch bei der Abgabe der Der Wirtschafts- und Lebensraum und die gemein- Empfehlung durch die Kommission berücksichtigt wird. same Unionsbürgerschaft haben gemeinsame kulturelle Wurzeln und mehr als je zuvor auch eine gemeinsame Das EU-Kulturförderprogramm für 2007 bis 2013, kulturelle Zukunft. Wir müssen anerkennen, dass es ne- mit 408 Millionen Euro über die gesamte Laufzeit aus- ben unseren Kommunen und Ländern sowie dem Bund gestattet, hat nur etwas mehr als rund 7 Cent pro Bürger einen weiteren Akteur in der Kulturpolitik gibt, nämlich und Jahr zur Verfügung. Die Forderung nach mehr Geld auf europäischer Ebene die Europäische Union. liegt da auf der Hand. Deshalb sollte sich die Bundes- regierung im Rat verstärkt dafür einsetzen, dass ein an- Wir können deshalb nicht die Tatsache ignorieren, gemessener Anteil vom EU-Haushalt kulturellen Zwe- dass die Maßnahmen der EU tief in unsere Kulturpolitik cken dient. Wir hätten uns hier eine deutlichere Bindung hineinwirken. In der Konsequenz muss man dann aber auf einen Anteil von 1 Prozent gewünscht, hoffen aber eben auch bereit sein, dieses kulturpolitische Wirken nach wie vor, dass dieser Wunsch hinsichtlich eines An- mitzugestalten. Wegen seiner Bedeutung ähnlich der in teils von 1 Prozent von anderen zukünftig als angemes- der Wissensgesellschaft sollte man damit ebenso ähnlich sen angesehen wird. der Methode der offenen Koordinierung folgen. Mit Recht dürfen wir eben auch erwarten, dass das „Was ist dieses Europa?“, fragt der Dichter Paul subsidiäre Prinzip der Kulturpolitik dadurch nicht ge- Valéry. Die Antworten sind so unterschiedlich wie die fährdet wird. Auch durch den Bologna-Prozess wurde Menschen, die sie geben. Aber die, die aus Afrika und das Fortschreiten der Wissenschaft nicht infrage gestellt. anderen Krisenregionen der Erde hierher zu uns nach Es geht auch nicht um Entdemokratisierung, da durch Europa kommen, reizt sicherlich auch der Wohlstand. Es die Methode der offenen Koordinierung das administra- ist aber nicht nur eine ökonomische Hoffnung, sondern tive Handeln der EU-Staaten nicht ersetzt wird. auch ein kulturelles Versprechen, das Europa so faszinie- rend macht. Die Kultur in Europa zu entwickeln und zu Kultur in Europa – europäische Kultur – ist überall im bewahren und die europäische Kultur zu stärken, sind Aufwind. Die Künstler treffen sich zu gemeinsamen wir also nicht nur den Europäern, sondern auch der Welt Projekten, Ausstellungen werden an mehreren Orten in gegenüber schuldig. 23254 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Steffen Reiche (Cottbus) (A) In dieser Verantwortung stehen wir. Deshalb finde ich Mitarbeit an einem gemeinsamen Antrag bereit. Der ist (C) es gut, dass wir diesen Antrag gemeinsam eingebracht leider nicht zustande gekommen. haben und dass wir uns trotz zweier unterschiedlicher Warum wir angeblich keine demokratische Fraktion Anträge im Kern so nahe sind. und unsere Wähler keine Demokraten sind, müssen Sie Vielen Dank. uns eines Tages noch einmal genau erklären, lieber Herr Kollege. Das sind Sie uns und vor allen Dingen unseren (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Wählern schuldig. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN – Dr. Stephan Eisel Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: [CDU/CSU]: DKP-Leute, Stasi-Leute, SED- Das Wort hat nun Kollegin Lukrezia Jochimsen für Leute! Das ist alles nicht demokratisch!) die Fraktion Die Linke. Sie haben wieder mit Hinweis darauf, wir seien keine (Beifall bei der LINKEN) demokratische Fraktion, die Zusammenarbeit mit uns abgelehnt. Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): (Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Was machen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sie denn mit den Stasi-Spitzeln in Ihrer Frak- Entdeckung der kulturellen Dimension Europas auch tion?) und gerade als Element der europäischen Integration ist So ist leider ein gemeinsamer Antrag nicht zustande eine existenzielle Aufgabe der Politik. Sie ist Aufgabe gekommen, und wir haben heute über drei verschiedene und Abenteuer gleichermaßen. Denn historisch haben Anträge zu befinden, die so verschieden gar nicht sind. sich die durchaus sehr unterschiedlichen Kulturen Euro- Wir werden keinen der Anträge ablehnen. Dem der Grü- pas für sich und sogar gegeneinander entwickelt, mit be- nen werden wir zustimmen, da er aus unserer Sicht die wussten und nichtbewussten Einflussnahmen, Nach- weitergehenden Forderungen enthält und den Intentio- ahmungen, Unterdrückungen und Ablehnungen. nen des Berichts der Enquete-Kommission am ehesten Es ist auch deswegen keine leichte Aufgabe, weil die entspricht. Den Vorschlag, einen großen europäischen Dimension Europas innerhalb der EU bisher vor allem Kunstpreis auszuloben und vor allem den, einen europa- als Wirtschaftsverbund, Währungseinheit, politische weiten Feiertag zu schaffen, finden wir gut. Struktur, Rechtskonstruktion und Sicherheitsbündnis be- „Culture comes before Economy“, soll Kommissions- stimmt wurde. Das war auch im Lissabon-Vertrag der präsident Barroso konstatiert haben. Wenn das stimmt, Fall, den wir gerade deshalb ablehnen, weil wir uns als dann müsste den Millionen Kulturschaffenden in Europa (B) (D) eine proeuropäische Partei begreifen ein neuer Stellenwert eingeräumt werden. Ihre soziale (Lachen des Abg. Dr. Stephan Eisel [CDU/ Lage ist schlecht. Ihre Arbeitsbedingungen und ihre so- CSU]) ziale Sicherung sind schlecht. Ihre urheberrechtlichen Belange werden missachtet. Wenn da politisch nicht ge- – ja, Herr Kollege –, die eine andere, eine bessere EU gengesteuert wird, entsteht gerade durch das Aufblühen will: ohne Ausgrenzung und Armut, ohne eine wach- einer Kulturwirtschaft ein Kulturwirtschaftsproletariat. sende soziale Spaltung. Wir wollen vor allem eine fried- Das dürfen wir nicht zulassen. liche EU, die im Sinne der Charta der Vereinten Natio- nen Krieg ächtet. (Beifall bei der LINKEN – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Nur schlechtma- (Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Das steht alles chen!) im Lissabon-Vertrag drin!) Leider bleiben, was diese Kernfrage betrifft, alle drei Auch das ist für uns ein Fundament der kulturellen Di- Anträge vieles schuldig. Damit bleibt dieser Bereich mension Europas. eine Aufgabe für uns alle in der Zukunft. Spät setzt nun die Erkenntnis ein, dass die europäi- Ich danke Ihnen. sche Integration ohne kulturellen Dialog nicht gelingen kann. Wir plädieren für eine Politik, die sich auf den (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Schutz und die Förderung von Kultur in ihrer Vielfalt Steffen Reiche [Cottbus] [SPD]) richtet und der Kulturpolitik einen höheren Stellenwert gibt. Wir sehen in der Mitteilung der Kommission über Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: eine europäische Kulturagenda den Beginn für eine Das Wort hat nun Kollegin Uschi Eid, Fraktion Bünd- neue, abgestimmte europäische Kulturpolitik, die Ein- nis 90/Die Grünen. heit und Vielfalt schützt und fördert, wie im Antrag auch mehrfach betont wird. Wichtig ist dabei, dass die Kultur Dr. Uschi Eid (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nicht nur eine wirtschaftliche, sondern vor allem eine ge- Guten Abend, Herr Präsident! Verehrte Damen und sellschaftliche Produktivkraft ist. Herren! Ich freue mich, dass wir noch vor Ostern Gele- In der Enquete-Kommission hatten wir uns partei- genheit haben, über die europäische Kulturpolitik im übergreifend auf eine Analyse der Situation und die da- Bundestag zu debattieren. Trotz langer und intensiver rauf basierenden Handlungsempfehlungen geeinigt. Bemühungen gelang es uns nicht, heute einen interfrak- Meine Fraktion war zu jeder Zeit zu einer konstruktiven tionellen Antrag zur europäischen Kulturpolitik vorzule- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23255

Dr. Uschi Eid (A) gen. Wie Sie wissen, ist meine Fraktion mit einem An- und eine belastbare Basis für die europäischen Bezie- (C) trag in Vorleistung gegangen, in der Hoffnung, dass am hungen zu schaffen. Der kulturelle Austausch und der Ende des Beratungsprozesses ein interfraktioneller An- langfristige Dialog können viel dazu beitragen. Aller- trag steht. Ein solcher war leider nicht möglich. dings kann auch ein unbedachtes Wort eines Ministers in kürzester Zeit mehr zerstören, als langfristige Dialoge Alle Anträge, über die wir heute abstimmen, orientie- und Begegnungen bewirken können. So haben Minister ren sich an den Empfehlungen der Enquete-Kommission Steinbrücks Ausfälle gegenüber der Schweiz – das kann „Kultur in Deutschland“ und unterscheiden sich deshalb ich Ihnen nicht ersparen – irreparable Schäden in unse- nur in wenigen Punkten. Aus diesem Grund wird sich rem Verhältnis verursacht, die auch durch die beste kul- meine Fraktion bei der Abstimmung über die Beschluss- turelle Kooperation und 100 Goethe-Institute nicht be- empfehlung des Ausschusses zum Antrag der Koalition hoben werden können. Ich fordere die Bundeskanzlerin und zum Antrag der FDP enthalten. an dieser Stelle auf, dafür zu sorgen, dass so etwas nicht Uns allen ist klar, dass die Europäische Union nicht wieder vorkommt. nur unter wirtschaftlichen und politischen Gesichtspunk- (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Gott sei ten zu betrachten ist, sondern dass mit der EU-Erweite- Dank ist sie nicht da!) rung auch das Zusammenleben von Menschen mit ihren unterschiedlichen Kulturen, Sprachen, Traditionen und Als Süddeutsche, die für die grenzüberschreitenden Be- ihrer Geschichte eine große Herausforderung für die eu- lange zwischen der Schweiz und Baden zuständig ist, ropäische Einigung darstellt. liegt mir das ganz besonders am Herzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Die Ich will nun einige Punkte nennen, die uns Grüne im Schweiz und Baden?) Hinblick auf die europäische Kulturpolitik besonders wichtig sind. Zentrales Anliegen ist es, die Identifikation – Für uns alle da unten – die Badener, die Alemannen der Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten mit den und diejenigen am Bodensee – ist das ganz wichtig. Das europäischen Werten zu unterstützen und eine gemein- sieht man vielleicht da oben durch eine etwas andere same europäische Öffentlichkeit zu befördern. Deshalb Brille. fordern wir in unserem Antrag die Bundesregierung auf, sich vor allem für die Maßnahmen einzusetzen, die die- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: sen staaten- und kulturübergreifenden europäischen Greif nicht den Präsidenten an!) Charakter besonders unterstreichen, – Ich meinte nicht Sie, Herr Präsident; ich meinte jene (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bank dort. (D) sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ich zum Beispiel eine europäische Akademie der Künste, dachte, in Stuttgart!) die Stärkung des europäischen Films, eine mediale Des Weiteren halten wir eine stärkere Vernetzung und Stimme Europas via Internet oder Rundfunk oder auch Kooperation von einzelnen Kulturakteuren innerhalb der die Einführung eines europäischen Feiertags am 9. Mai. EU sowie die Etablierung einer gemeinsamen europäi- Wir wollen besonders kleinere, grenzüberschreitende schen außenkulturpolitischen Strategie für dringend er- Künstler- und Kulturinitiativen in Europa stärken; denn forderlich. Europa wächst von unten her zusammen.Wir wollen die Cultural Contact Points stärken, damit sie Künstlern und Ich hoffe sehr, dass die Bundesregierung die vorlie- Kulturschaffenden mehr Hilfestellung und Informatio- genden Anträge als Startsignal versteht und sich stärker nen über Projekte der EU-Förderung geben können. als bisher in der Europäischen Union für eine Intensivie- rung des Kunst- und Kulturaustauschs und der Begeg- Der Erinnerungsarbeit und der Aufarbeitung von Ver- nung einsetzt, um die europäische Einigung durch kul- brechen in Kriegen und Diktaturen messen wir einen be- turpolitische Impulse voranzubringen. sonders hohen Stellenwert bei. Deutschland hat dabei angesichts der furchtbaren Naziverbrechen, die ganz Ich danke Ihnen. Europa überzogen haben, eine besondere Verantwor- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tung. Ein sensibler Umgang mit der Vergangenheit, die sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Verantwortung für die eigene Geschichte und der konti- der SPD und der Abg. Dr. Lukrezia Jochimsen nuierliche Dialog zwischen den europäischen Partnern [DIE LINKE]) sind unerlässlich für ein friedliches Zusammenleben in Europa. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich schließe die Aussprache. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- der SPD und der Abg. Dr. Lukrezia Jochimsen empfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf [DIE LINKE]) Drucksache 16/12137. Der Ausschuss empfiehlt unter Die jüngsten Spannungen im deutsch-polnischen Ver- Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme hältnis zeigen, dass noch viele Anstrengungen nötig des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD sind, um das Vertrauen unserer Nachbarn zu gewinnen auf Drucksache 16/11221 mit dem Titel „Einheit in 23256 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Vielfalt – Kulturpolitik in und für Europa aktiv gestal- Kolleginnen und Kollegen Raidel, Reichel, Hoff, Höger (C) ten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer und Bonde.1) stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- fehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU und der SPD Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp- fehlung des Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der gegen die Stimmen der FDP bei Stimmenthaltung der Fraktion der FDP mit dem Titel „Schutzsystem gegen Linken und der Grünen angenommen. Sprengfallen unverzüglich beschaffen“. Der Ausschuss Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- sache 16/8242, den Antrag der Fraktion der FDP auf nen auf Drucksache 16/10339 mit dem Titel „Vielfalt Drucksache 16/6999 abzulehnen. Wer stimmt für diese verbindet – Europäische Kultur stärken und weiterentwi- Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- ckeln“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss- der CDU/CSU, der SPD und der Linken gegen die Stim- empfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU, der men der FDP bei Enthaltung der Grünen angenommen. SPD und der FDP gegen die Stimmen der beiden ande- Tagesordnungspunkt 15: ren Fraktionen angenommen. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- CSU und der SPD empfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf Pakistan stabilisieren und seine demokratische Drucksache 16/1700 zu der Unterrichtung durch die Entwicklung vorantreiben Bundesregierung mit dem Titel „Vorschlag für einen Be- schluss des Europäischen Parlaments und des Rates über – Drucksache 16/12432 – das Programm ‚Kultur 2007‘ (2007 – 2013)“. Der Aus- Es ist vereinbart worden, die Reden zu Protokoll zu schuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine geben. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be- und Kollegen Haibach, Pflug, Riemann-Hanewinckel, schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Hoff, Gehrcke und Nachtwei.2) tungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig an- genommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag auf Drucksache 16/12432. Wer stimmt für diesen Antrag? – Abstimmung über den Antrag der Fraktion der FDP Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist auf Drucksache 16/11909 mit dem Titel „Europäische mit den Stimmen der CDU/CSU und der SPD gegen die Kulturpolitik neu ausrichten“. Wer stimmt für diesen Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grünen und der Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – (B) FDP angenommen. (D) Der Antrag ist mit den Stimmen der CDU/CSU und der SPD gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der Tagesordnungspunkt 16: Grünen und der Linken abgelehnt. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Wolfgang Nešković, Sevim Dağdelen, Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt kommt Arbeit weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE auf mich zu. Die muss ich jetzt noch bewältigen. Haben LINKE Sie ein bisschen Geduld mit mir! Rücknahme der Klage gegen Italien vor dem (Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Wir stärken Internationalen Gerichtshof und Entschädi- Ihnen dabei den Rücken!) gung für italienische und griechische NS-Opfer Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: – Drucksache 16/12168 – Überweisungsvorschlag: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Auswärtiger Ausschuss (f) richts des Verteidigungsausschusses (12. Aus- Innenausschuss schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Elke Rechtsausschuss Hoff, Birgit Homburger, Dr. Rainer Stinner, wei- Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Bär, Schutzsystem gegen Sprengfallen unverzüg- Griefahn, Hoyer, Jelpke und Wieland. lich beschaffen

– Drucksachen 16/6999, 16/8242 – Dorothee Bär (CDU/CSU): Wir sind heute nicht hier, um die deutsche Verantwor- Berichterstattung: tung für die Gräuel des NS-Regimes vor und während des Abgeordnete Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) Zweiten Weltkrieges infrage zu stellen oder die Untaten Gerd Höfer zu verharmlosen. Wir sind heute ebenso nicht hier, um Elke Hoff Sinn und Zweck von Entschädigungen für die Opfer die- Paul Schäfer (Köln) ser Verbrechen zu hinterfragen. Alexander Bonde

Interfraktionell ist vereinbart worden, die Reden zu 1) Anlage 5 Protokoll zu geben. Es handelt sich um die Reden der 2) Anlage 6 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23257

Dorothee Bär (A) Der Antrag der Fraktion Die Linke, der heute vorliegt, entziehen dürfen, noch entziehen können. Es geht hier (C) zielt darauf ab, dass die Bundesregierung ihre Klage ge- nicht um die Leugnung der deutschen Vergangenheit, wir gen Italien vor dem Internationalen Gerichtshof zurück- wollen uns nicht vor Zahlungen drücken. Es geht hier um zieht und italienische sowie griechische NS-Opfer ent- die Lösung einer rechtlichen Frage, die durch das Verhal- schädigt. Der Beweggrund der Bundesregierung, Klage ten Italiens aufgeworfen wurde. Wenn die Bundesrepublik einzureichen, ist nicht der, keine Verantwortung für die jetzt kein Zeichen setzt, wird die Immunität unseres Staa- Geschehnisse in Distomo und Civitella zu übernehmen, tes auch von anderen Ländern angegriffen werden. sondern ein rechtlicher. Es geht darum, den Schutz eines Ebenso wird die Staatenimmunität auch für andere Län- essenziellen Grundsatzes des Völkerrechts, nämlich die der infrage gestellt. Das dürfen wir nicht zulassen. Die Staatenimmunität, nochmals bestätigen zu lassen. Italien einzige Lösung ist die Klage vor dem Internationalen Ge- hat die Staatenimmunität Deutschlands verletzt, indem es richtshof. Wie bereits angemerkt, hat dies auch Italien Klagen gegen die Bundesrepublik zuließ und diesen Kla- eingesehen und respektiert die Klage der Bundesrepublik. gen stattgegeben hat. Die Staatenimmunität ist eines der wichtigsten Prinzipien des Völkerrechts und muss daher Der Antrag, der uns heute vorliegt, hat das Anliegen unbedingt gewahrt bleiben. Dies ist im Interesse Deutsch- der Bundesregierung nicht erfasst und versteht den Kern lands und auch im Sinne der internationalen Gemein- der Sache bewusst falsch. Es bleibt anzumerken, dass der schaft. Ohne dieses Prinzip wäre es unmöglich, nach Antrag, der uns heute vorliegt, von einer Partei kommt, einem Konflikt zwischen Staaten wieder eine Friedens- die als Staatspartei der DDR 40 Jahre lang überhaupt ordnung herzustellen. Ohne dieses Prinzip wäre es keine Veranlassung gesehen hat, ausländische NS-Opfer ebenso unmöglich, die Vergangenheit hinter sich zu las- zu entschädigen. sen und wieder in die Zukunft zu schauen. Monika Griefahn (SPD): Das Prinzip der Immunität heißt nicht, dass wir die Die Verbrechen, die von Deutschland ausgehend von Vergangenheit vergessen. Es ist dafür da, gemeinsam und 1933 bis 1945 geschehen sind, gehören zu den dunkelsten konstruktiv an einer besseren Zukunft zu arbeiten und aus Kapiteln unserer Geschichte. Wir haben in Deutschland vergangenen Erfahrungen zu lernen. Italien hat sich dazu auch heute, über 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten entschieden, das Prinzip der Staatenimmunität zu verlet- Weltkriegs, nach wie vor uneingeschränkt die Verantwor- zen. Jedoch respektiert Italien die Entscheidung der Bun- tung, an diese Vergehen zu erinnern, der Opfer zu geden- desregierung, Klage vor dem Internationalen Gerichts- ken und alles dafür zu tun, dass die Erinnerung an sie hof einzureichen, und ist der Ansicht, dass die Anhörung Mahnung für zukünftige Generationen ist. auf positive Weise zur Klärung der Angelegenheit beitra- gen wird. Es ist keine Frage: Deutschland steht zu seiner Verant- (B) wortung. Aus diesem Grund wurden in der Vergangenheit (D) Ich bin mir sicher, dass Italien weiß, dass es hier nicht auch Opferentschädigungen gezahlt. Im Zuge des 1961 darum geht, sich vor Entschädigungen zu drücken. Die abgeschlossenen Globalabkommens waren das für italie- Aufarbeitung der Geschehnisse im Dritten Reich hat in nische NS-Opfer 40 Millionen DM. Daneben erhielten der deutschen Kultur zu Recht einen sehr hohen und über- über 3 000 zivile Zwangsarbeiter Leistungen durch die aus wichtigen Stellenwert. Wir tragen unserer Vergan- Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ be- genheit Rechnung, nicht nur durch symbolische Handlun- ziehungsweise die Jewish Claims Conference in Höhe von gen, wie zum Beispiel durch die Errichtung von circa 1,89 Millionen Euro. Gedenkstätten, sondern auch durch finanzielle Entschä- digungszahlungen. Solche Zahlungen hat auch Italien er- In dem Friedensvertrag zwischen Deutschland und halten. Bereits in den 60er-Jahren hat die Bundesrepublik Italien 1947 hat Italien eine Verzichtserklärung für wei- Deutschland umfassende und abschließende Entschädi- tere Entschädigungszahlungen abgegeben. Trotzdem sind gungsvereinbarungen mit beiden Ländern getroffen. Da- vor italienischen Gerichten derzeit über 50 Einzel- und nach hat Deutschland für die Opfer der NS-Verfolgung in Sammelklagen gegen Deutschland anhängig, mit denen Italien insgesamt 40 Millionen Deutsche Mark an Italien von der Bundesrepublik Schadensersatz im Zusammen- und 115 Millionen Deutsche Mark an Griechenland ge- hang mit dem Zweiten Weltkrieg verlangt wird. Einige zahlt. Darüber hinaus wurden weitere Entschädigungs- Fälle betreffen italienische Militärinternierte, die nach leistungen für circa 1 000 italienische Militärinternierte 1943 von Deutschland inhaftiert wurden und in Deutsch- gezahlt. Auch im Rahmen der Stiftung „Erinnerung, Ver- land Zwangsarbeit leisten mussten. In anderen Fällen antwortung und Zukunft“ haben 3 395 zivile italienische klagen die Opfer oder die Nachfahren von Opfern deut- Zwangsarbeiter finanzielle Zuwendungen erhalten. Ita- scher Kriegsverbrechen in Italien. Gleichzeitig wird vor lien hat infolgedessen im eigenen Namen und im Namen italienischen Gerichten versucht, ein in Griechenland ge- seiner Staatsangehörigen auf alle Ansprüche gegen gen Deutschland ergangenes Urteil wegen eines SS-Mas- Deutschland und seine Staatsangehörigen verzichtet, so- sakers 1944 in Distomo zu vollstrecken. fern sie auf Rechte und Tatbestände zurückgehen, die in der Zeit des Zweiten Weltkriegs entstanden sind. Es be- Ich glaube, bei dieser Aufzählung wird klar, dass hier steht somit kein Grund für eine zusätzliche Zahlung von eine wahre Prozesslawine droht. Die Klagen stehen im Entschädigungsleistungen. Konflikt mit der völkerrechtlich gewährleisteten Staaten- immunität. Das Prinzip der Staatenimmunität besagt, Ich möchte hierbei nochmals unterstreichen, dass un- dass kein Staat wegen seines hoheitlichen Handelns vor sere moralische Verantwortung natürlich unabhängig den Gerichten eines anderen Staates verklagt oder gegen von den Rechtsfragen besteht und wir uns dieser weder ihn vollstreckt werden kann. Dieses Prinzip gilt selbstver-

Zu Protokoll gegebene Reden 23258 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Monika Griefahn (A) ständlich nicht nur für Deutschland, sondern für alle diese Konferenz, bei der es um die deutsch-italienische (C) Länder und macht überhaupt erst möglich, dass es eine Kriegsvergangenheit und das Schicksal der italienischen internationale friedliche Zusammenarbeit geben kann. Militärinternierten gehen wird. Dies ist die Auftaktveran- Nach den zahlreichen internationalen Konflikten, wovon staltung zu einer gemeinsamen Historikerkommission, der Zweite Weltkrieg sicherlich der schwerste war, muss die ab morgen ihre Arbeit aufnehmen wird, aus der am es so ein Prinzip geben, damit man irgendwann wieder in Ende auch ein Bericht hervorgeht. Sowohl Deutschland eine Situation der Befriedung kommt. Ohne dieses Prin- als auch Italien haben leidvolle Erfahrungen mit totalitä- zip gäbe es eine individuelle Klagewelle gegen Staaten ren Regimen. Mit der gemeinsamen historischen Aufar- weltweit, was nicht nur zur totalen internationalen beitung können wir auch eine gemeinsame Erinnerungs- Rechtsunsicherheit, sondern auch global zu einer politi- kultur schaffen. schen Eiszeit führen würde. Wenn wir etwas in die Breite schauen, dann sehen wir Der italienische Kassationshof sieht das anders: Er auch viele andere Beispiele dafür, dass Deutschland sei- hat in insgesamt drei Urteilen entschieden, dass sich ner Verantwortung für ein gutes Verhältnis mit Italien ge- Deutschland in diesen Fällen der Kriegsverbrechen nicht recht wird. In keinem anderen Land haben wir so viele auf Staatenimmunität berufen könne. Wenn dieses Prinzip kulturelle Institutionen wie in Italien. Allein fünf wissen- recht behielte, dann müsste das in ähnlichen Fällen auch schaftliche Institute, vier Häuser mit Stipendien für für andere Kriege gelten. Künstler, sieben Goethe-Institute, die Villa Vigoni, drei Sie sehen, wie weitreichend die Konsequenzen wären, Deutsche Schulen, insgesamt über 30 deutsch-italieni- wenn das grundlegende Prinzip der Staatenimmunität, sche Kulturinstitute – das ist so viel wie nirgendwo sonst. das das internationale Miteinander gewährleistet, außer Und auch Italien ist in Deutschland mit der weltweit Kraft gesetzt wird. Ich zitiere jemanden, der nach eigener größten Zahl von Kulturinstituten vertreten. Ich glaube, Aussage das Urteil des italienischen Kassationshofes für das allein zeigt schon sehr deutlich, wie weit wir in den sehr gefährlich hält: „Wenn die Gerichte von Fall zu Fall 65 Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs schon ge- entscheiden, ob einem Staat Immunität zukommt, wird kommen sind. das Prinzip der Staatenimmunität unberechenbar. Die Ich würde mir wünschen, dass dieser gemeinsame Weg Welt braucht aber Rechtssicherheit. Sonst gerät alles aus noch weiter verstärkt wird. Derzeit wird an einer Inter- den Fugen.“ Dieses Zitat stammt nicht von einem Deut- netplattform für deutsche und italienische Jugendliche schen, sondern vom italienischen Außenminister Frattini. gearbeitet. Ich finde das sehr begrüßenswert und würde Die italienische Regierung ist in dieser Frage der glei- mir wünschen, dass wir in diese Richtung noch weiter ge- chen Auffassung wie die deutsche Regierung, und das hen und nach dem Vorbild des deutsch-französischen zeigt mir, dass es richtig ist, auch im Sinne der inter- (B) oder deutsch-polnischen Jugendwerks auch ein deutsch- (D) nationalen Gemeinschaft auf dem Prinzip der Staaten- italienisches Jugendwerk ins Leben rufen. Das ist natür- immunität zu bestehen. lich auch immer eine Frage des Geldes, aber ich denke, Ich sage noch einmal ganz klar: Damit treten wir kei- hier können wir wirklich nachhaltig in die deutsch-ita- nen Millimeter von der Verantwortung Deutschlands zu- lienischen Beziehungen investieren und zur Verständi- rück. Wir relativieren nicht unsere Schuld, zu der wir gung beitragen. nach wie vor klar stehen. Die deutsche Regierung ist sich mit der italienischen darin einig, dass es zwei Dimensio- Noch ein Wort zu dem besonderen Fall, bei dem vor nen der Debatte gibt: zum einen die juristische und zum italienischen Gerichten versucht wird, ein in Griechen- anderen die politisch-moralische. Beide sind zwar mit- land gegen Deutschland ergangenes Urteil wegen eines einander verflochten, aber die Rechtsfrage lässt sich SS-Massakers 1944 in Distomo zu vollstrecken. Das nicht moralisch aus der Welt schaffen, und genauso wenig höchste griechische Gericht hat beschieden, dass dieses kann unsere Verantwortung für eine gesellschaftliche Urteil wegen der geltenden Staatenimmunität gar nicht Auseinandersetzung mit dem Unrecht des Zweiten Welt- vollstreckt werden kann. Deswegen versuchen die Kläger krieges durch einen Gerichtsbeschluss erledigt werden. jetzt, es in Italien vollstrecken zu lassen. Auch wenn die Der juristische und der politisch-moralische Prozess er- Rechtslage in diesem Fall vonseiten der griechischen Ge- gänzen sich. Keiner wäre, für sich allein, in der Lage, die richte unumstrittener ist, so wird doch klar, dass wir in Grundlage für eine gute gemeinsame Zukunft zu legen. der politisch-moralischen Dimension der deutsch-grie- Stattdessen wollen wir das gemeinsam angehen. chischen Beziehungen noch lange nicht am Ziel sind. Ich würde mir deshalb ein ähnliches Zeichen, wie es die Au- Deswegen haben am 18. November im letzten Jahr ßenminister in Italien gesetzt haben, und einen ähnlichen Außenminister Franco Frattini und Frank-Walter Anstoß wie die Historikerkommission auch in Griechen- Steinmeier mit ihrem gemeinsamen Besuch der Gedenk- land wünschen. stätte „La Risiera di San Sabba“ – des einzigen KZs Ita- liens – ein in der Öffentlichkeit beider Länder viel beach- Abschließend möchte ich den in meinen Augen wich- tetes Zeichen für die Anerkennung des Leids der Opfer tigsten Aspekt des Konfliktes unterstreichen. Anstatt dass des Nazifaschismus gesetzt. Außerdem haben die Minis- dieser Konflikt Deutsche und Italiener entzweit hätte, hat ter Historiker beider Länder zu einer gemeinsamen Kon- uns das Problem eher zusammengeführt, und darüber bin ferenz in das deutsch-italienische Begegnungszentrum ich sehr froh. Der vorliegende Antrag bestätigt leider der Villa Vigoni eingeladen. Die heutige Debatte findet zu wieder einmal meinen Eindruck, dass die Linke mehr da- einem guten Zeitpunkt statt, denn genau morgen beginnt ran interessiert ist, Symbolpolitik zu fordern, als dass sie

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23259

Monika Griefahn (A) sich für realistische Maßnahmen einsetzt. Deswegen wer- rekt an die griechische Regierung, die für die Verwen- (C) den wir dem Antrag nicht zustimmen können. dung der Mittel verantwortlich war. Im Falle Italiens wurde die Frage der Entschädigungen durch den Frie- Dr. Werner Hoyer (FDP): densvertrag des Jahres 1947 und ein 1961 geschlossenes Abkommen abschließend geregelt. Vor diesem Hinter- Hintergrund des heute hier zu diskutierenden Antrages grund ist es schlichtweg unredlich, zu behaupten, sind mehr als 50 Einzel- und Sammelklagen gegen die Deutschland habe sich bei der Aufarbeitung von Kriegs- Bundesrepublik Deutschland, die sich auf den Zeitraum verbrechen mehr oder weniger aus der Verantwortung von 1943 bis 1945 beziehen und die in Italien derzeit an- gestohlen. hängig sind. Diese Klagen sind von ehemaligen Zwangs- arbeitern, Militärinternierten und Opfern der Verbrechen Das Prinzip der Staatenimmunität ist ein Stabilitäts- der NS-Besatzung sowie deren Angehörigen angestrengt faktor für die internationalen Rechtsbeziehungen und hat worden. Daneben wird vor italienischen Gerichten ver- sich nach meiner Überzeugung auf den Versöhnungspro- sucht, das in Griechenland ergangene „Distimo“-Urteil zess nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges positiv und zu vollstrecken. nicht etwa negativ ausgewirkt. Es schützt nicht zuletzt auch die Bundesrepublik Deutschland und andere Staa- Lassen Sie mich mit einer Vorbemerkung beginnen: ten vor Entschädigungsforderungen, denen sie in der Deutschland kann und will sich der moralischen Verant- Summe niemals gerecht werden könnten. wortung für das unermessliche Leid, das die nationalso- zialistische Herrschaft über Europa und darüber hinaus Diese Auffassung vertreten wir übrigens nicht alleine, gebracht hat, niemals entledigen. Die Erinnerung an die sondern wir teilen sie auch mit Verantwortungsträgern in NS-Kriegsverbrechen wird immer lebendig sein – als Italien. Am 20. Juni 2008 hat sich der italienische Außen- Mahnung für uns alle, und für viele Opfer und deren An- minister Frattini wie folgt geäußert: „Ich halte dieses Ur- gehörige leider auch als Teil ihrer ganz persönlichen teil …“, gemeint war das Urteil des Kassationsgerichts- Biografie. Dass Deutschland heute seinen Platz als hofes vom 6. Mai, „… für gefährlich. Wenn die Gerichte gleichberechtigter Partner in der Mitte Europas einneh- von Fall zu Fall entscheiden, ob einem Staat Immunität men kann, verdanken wir nicht zuletzt auch den Opfern zukommt, wird das Prinzip der Staatenimmunität unbere- der NS-Gewaltherrschaft, die Deutschland nach dem chenbar. Die Welt braucht aber Rechtssicherheit. Sonst Zweiten Weltkrieg eine neue Chance gegeben haben. Das gerät alles aus den Fugen.“ verpflichtet Deutschland in besonderem Maße dazu, aktiv Beiträge zu Frieden, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit und Das griechische Verfassungsgericht hat bereits am zu der Durchsetzung der Menschenrechte zu leisten. 17. September 2002 Weltkriegsklagen in Griechenland wegen der deutschen Staatenimmunität für unzulässig (B) Der italienische Kassationsgerichtshof hat in bislang erklärt. Entsprechend verfuhr der Areopag später bei an- (D) insgesamt drei Urteilen entschieden, Deutschland könne deren Weltkriegsklagen. Auch das Bundesverfassungsge- sich im Falle von Verbrechen gegen die Menschlichkeit richt in Karlsruhe entschied, dass es keine juristische nicht auf den Grundsatz der Staatenimmunität beziehen, Grundlage für Klagen gebe, die eine Haftung des deut- und damit den Weg frei gemacht für die Fortsetzung der schen Staates für in Griechenland begangene Kriegsver- Verfahren sowie weitere Entschädigungsklagen. Die Bun- brechen begründen könnten. desregierung hat sich dem entgegengestellt und inzwi- schen Klage vor dem Internationalen Gerichtshof einge- Wenn zu solch grundsätzlichen Fragen wie der Staaten- reicht. immunität international unterschiedliche Rechtsauffas- sungen bestehen, dann ist es eine Selbstverständlichkeit, Die Fraktion Die Linke hat dies zum Anlass genom- dies durch ein internationales Gericht überprüfen zu las- men, die Bundesregierung dazu aufzufordern, die Klage sen. Die Klage der Bundesregierung, die sie am 23. De- vor dem IGH zurückzuziehen und die Urteile der italieni- zember 2008 beim Internationalen Gerichtshof einge- schen Gerichte anzuerkennen. reicht hat, trägt dem Rechung und ist nach Auffassung meiner Fraktion auch sehr gut begründet. Die Klage im- Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich: Die FDP-Bun- pliziert in keiner Weise, Schuld oder Verantwortung rela- destagsfraktion unterstützt die Bundesregierung in ihrer tivieren zu wollen. Klage vor dem IGH und in ihrer Rechtsauffassung hin- sichtlich der hier dargestellten Problematik ausdrück- lich. Und ich füge hinzu, dass ich den hier vorliegenden Ulla Jelpke (DIE LINKE): Antrag der Fraktion Die Linke für unverantwortlich Wie die Bundesrepublik mit den Opfern von Wehr- halte. Das gilt sowohl für die Anschuldigung, „das bishe- machts- und SS-Verbrechen umgeht, ist ein einziges de- rige Verhalten der Bundesregierung [sei] eine Verhöh- mütigendes Trauerspiel. Sie versucht, so billig wie mög- nung der Opfer und eine Blamage für die Bundesrepublik lich davonzukommen, und verweigert bis heute den Deutschland“, als auch für die Forderung, Deutschland Menschen, die Massaker der Nazitruppen überlebt ha- solle auf seine Staatenimmunität verzichten. ben, bzw. ihren Angehörigen jegliche Entschädigung. Die Bundesrepublik Deutschland begann bereits im In mehreren Grundsatzentscheidungen hat der italie- Jahre 1960 im Rahmen eines Vertrages mit Griechenland nische Gerichtshof bestätigt, dass die überlebenden Op- über die abschließende Regelung der Entschädigungs- fer bzw. ihre Nachkommen einen Rechtsanspruch auf Ent- frage für begangenes NS-Unrecht mit der Zahlung von schädigung haben; dazu gehören neben italienischen insgesamt 115 Millionen DM. Die Zahlungen gingen di- Opfern auch die Überlebenden des SS-Massakers im

Zu Protokoll gegebene Reden 23260 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Ulla Jelpke (A) griechischen Distomo. Die Bundesregierung ist jedoch nicht die berechtigten Forderungen der noch lebenden (C) nicht bereit, diese Urteile zu akzeptieren, sondern klagt NS-Opfer aushebeln. gegen Italien vor dem Internationalen Gerichtshof. Die Ein Wort zur Staatenimmunität. Dahinter will sich die Fraktion Die Linke fordert, diese Klage zurückzuziehen Bundesregierung ja verstecken, weil nach ihrer Sicht der und den NS-Opfern endlich zu ihrem Recht zu verhelfen. Dinge die italienischen Bürgerinnen und Bürger nicht Die Bundesregierung hat NS-Opfer jahrzehntelang das Recht haben, den deutschen Staat zu verklagen. Man mit dem Hinweis vertröstet, erst müsse Deutschland ei- muss doch festhalten: Die deutschen Soldaten, die in Ita- nen Friedensvertrag unterzeichnet haben. Dann, nach lien gewütet und Dutzende von Massakern, Tausende von dem Zwei-plus-Vier-Vertrag und der Wiedervereinigung, Morden begangen haben, waren doch keine durchgedreh- hieß es plötzlich, so viele Jahrzehnte nach Kriegsende ten Einzeltäter! Die Verbrechen waren keine individuel- seien Entschädigungsansprüche nicht mehr legitim. len Exzesse, sondern sie waren von der obersten politi- schen und militärischen Führung des Deutschen Reiches Auf den Versuch, sie auf so infame Weise auszutrick- ausdrücklich gewollt und sogar regelrecht angeordnet; sen, haben griechische und italienische Opferverbände die Rache- und Sühnebefehle des Oberkommandos der juristisch geantwortet, und sie haben Recht erhalten, was Wehrmacht zeigen das ja mehr als deutlich. Die Massaker Die Linke ausdrücklich begrüßt. Denn es gilt festzuhal- waren Chefsache, die Soldaten, die sie ausgeführt haben, ten: Es hat bisher keine Entschädigung für die Opfer von sind deshalb nicht weniger verbrecherisch, aber dass der Wehrmachtsverbrechen gegeben! Die Bundesregierung Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches die Verantwor- verweist immer wieder auf das sogenannte Globalabkom- tung dafür nun von sich weisen will, ist perfide. men aus den 1960er-Jahren, als 40 Millionen D-Mark ge- zahlt wurden, und vergisst dabei stets den Hinweis, dass Doch nicht nur politisch ist die sogenannte Staaten- diese – sowieso lächerlich geringe – Summe nur für so- immunität in diesem Fall eindeutig abzulehnen, sondern genannte NS-typische Verfolgung gedacht war. Verbre- auch juristisch – das haben sowohl der griechische chen gegen die Menschheit, wie sie Wehrmacht und Waf- Areopag als auch der italienische Corte di Cassazione fen-SS in Italien vor allem während ihres Rückzuges ab entschieden: Für solche Verbrechen gegen die Mensch- Herbst 1943 begangen haben, fielen nicht in diese Kate- heit, wie sie die Nazitruppen verübt haben, gibt es keine gorie. Immunität. Auch die italienischen Militärinternierten, die unter Nebenbei sei erwähnt: Dass die italienische Regierung völkerrechtswidrigen Bedingungen zur Zwangsarbeit in sich hier auf die Seite der Bundesregierung schlägt, kann Deutschland gezwungen wurden, sind nie entschädigt kaum verwundern, schließlich hat auch Italien noch so worden. Vielmehr wurden sie aus der Zwangsarbeiter- manche Leiche aus seiner faschistischen Kriegführung (B) Entschädigung explizit ausgeschlossen. Die Linke bzw. während der 1930er- und 1940er-Jahre im Keller liegen (D) die PDS hat diesen Ausschluss aus der Entschädigung und fürchtet offenbar, seinerseits verklagt zu werden. immer kritisiert. Zu Recht, wie italienische Gerichte nun Eine widerliche Kumpanei! feststellen, denn auch die Militärinternierten haben von Die Bundesregierung hat noch nie das Gespräch mit ihnen grünes Licht für Entschädigungsklagen bekommen. den NS-Opfern gesucht. Sie schreckt nicht einmal davor Das Bedauern, das die Bundesregierung regelmäßig zurück, diese nun zu diffamieren und ihnen vorzuwerfen, bekundet, wenn sie auf die deutschen Verbrechen ange- ihre Klagen stellten „eine ernsthafte Belastung der sprochen wird, kann ich mittlerweile nur noch als heuch- deutsch-italienischen Beziehungen“ dar. So steht es in lerisch bezeichnen. Sie vergießt Krokodilstränen, will der Klageankündigung, die Ende Dezember vorigen Jah- sich aber so billig wie möglich aus der Affäre ziehen. Es res beim IGH eingereicht worden ist. Hinter solchen Wor- reicht allenfalls für symbolische Gesten, die kaum etwas ten steckt eine Kaltblütigkeit, die einen schaudern lässt. kosten. Die gleiche Bundesregierung, die es ablehnt, rechtskräf- tige Urteile von EU-Mitgliedstaaten zu akzeptieren und Als Antwort auf die Urteile der Gerichte haben sich die den Opfern des Nazirechts Entschädigung zu gewähren, deutsche und die italienische Regierung darauf geeinigt, wirft ausgerechnet diesen Opfern vor, die Interessen des eine Historikerkommission einzusetzen. Das ist schön deutschen Staates zu gefährden. und billig und verpflichtet zu nichts. Es ist bezeichnend, was die zuständige Kulturabteilung der deutschen Bot- Die Fraktion Die Linke ist dieses Trauerspiel leid, und schaft in Rom auf die Frage meines Büros geantwortet damit wissen wir uns einig mit den Opfern des „Dritten hat, ob denn auch Opferverbände an der Arbeit dieser Reiches“ und den Geboten der Humanität. Die Bundes- Kommission teilnehmen könnten: „Natürlich nicht“, hieß regierung hat mit den Urteilen der griechischen und der es da. Ohne den Mitgliedern der Kommission ihren guten italienischen Justiz die Quittung für ihr entschädigungs- Willen absprechen zu wollen: Das zeigt schlagend, dass politisches Versagen erhalten. Wir fordern sie nun auf, die die Kommission von der Bundesregierung lediglich als Klage vor dem Internationalen Gerichtshof zurückzuzie- Feigenblatt gesehen wird, welches die Blöße ihres Versa- hen und endlich die rechtskräftig gewordenen Entschädi- gens kaschieren soll. gungsansprüche zu akzeptieren. Ich bin sehr gespannt darauf, wie die anderen Fraktionen dieses Parlamentes Für Die Linke sind symbolische Gesten durchaus not- auf unseren Antrag reagieren. Es geht hier auch um die wendig, ebenso wie historische Aufarbeitung. Doch we- Glaubwürdigkeit der deutschen Geschichtspolitik. Las- der Tagungen noch protokollarische Auftritte in KZ-Ge- sen Sie den Opfern des Nationalsozialismus endlich Ge- denkstätten können reale Politik ersetzen und schon gar rechtigkeit zuteil werden!

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23261

(A) Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dem Internationalen Gerichtshof. Das ist in dieser Form (C) Soldaten der Wehrmacht und der Waffen-SS haben im nicht zu unterstützen. Denn mit der Anerkennung der Ur- Zweiten Weltkriege eine Reihe unsäglicher Massaker an teile und der Rücknahme der Klage würde das Prinzip der Zivilisten angerichtet. Besonders betroffen davon waren Staatenimmunität aufgegeben. Dieses Prinzip gehört ab 1943 Italien und Griechenland, aber auch das ehema- aber zu den Kernbeständen des internationalen Rechts. lige Jugoslawien. Mit der Behauptung, gegen Partisanen Es kann und sollte nicht durch eine alleinige deutsche vorzugehen, wurde die Bevölkerung ganzer Dörfer kalt- Entscheidung ausgesetzt und infrage gestellt werden. blütig zusammengetrieben und systematisch ermordet. Das ändert aber nichts an der moralischen Pflicht, Dabei spielte es keine Rolle, ob es sich um Männer oder schnellstmöglich einen Weg zu finden, die Opfer von da- Frauen, um Alte oder Kinder handelte. mals angemessen, unbürokratisch und schnell für ihre Dieses Vorgehen wurde oftmals als „Kollektivstrafe“ Leiden zu entschädigen. gerechtfertigt. Allen bekannt ist etwas das Massaker an den Ardeatinischen Höhlen bei Rom. Nachdem eine Wi- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: derstandsgruppe 33 deutsche Soldaten bei einem An- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf schlag getötet hatte, haben die verantwortlichen Kom- Drucksache 16/12168 an die in der Tagesordnung aufge- mandeure aus Gefängnissen in Rom 335 Personen – die führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- bestialische Logik hieß: zehn Italiener müssen für jeden verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung toten Deutschen sterben – zusammengetrieben, vor die so beschlossen. Tore der Stadt transportiert und dort systematisch er- schossen. Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 17 a und 17 b: Ähnlich liegt der Fall bei der Ermordung von 228 Be- wohnern des griechischen Ortes Distomo. Auch hier ver- a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- barg sich hinter der Schutzbehauptung der „Vergeltungs- regierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten aktion“ für den Tod einiger deutscher Soldaten ein Gesetzes zur Änderung des Telekommunika- systematischer Massenmord. tionsgesetzes Es gibt viele weitere Fälle dieser Art und es gibt die – Drucksache 16/10731 – große Gruppe der sogenannten Militärinternierten, de- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- nen der Status der Kriegsgefangenen damals verweigert ses für Wirtschaft und Technologie (9. Aus- wurde und die deshalb Zwangsarbeit leisten mussten. schuss) Italienische Gerichte haben nun bis zur höchsten In- (B) – Drucksache 16/12405 – (D) stanz entschieden, dass die Bundesrepublik Deutschland schadensersatzpflichtig ist und dass diese Ansprüche Berichterstattung: auch vollstreckt werden können. Auch Hinterbliebene Abgeordnete Gudrun Kopp und Nachfahren der griechischen Opfer haben in Italien b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela versucht, ihre Schadensersatzansprüche vollstrecken zu Piltz, Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Hans-Joachim lassen. Otto (Frankfurt), weiterer Abgeordneter und der Es steht für mich völlig außer Frage, dass es die Pflicht Fraktion der FDP der Bundesregierung ist, die Hinterbliebenen der Opfer Möglichkeiten missbräuchlicher Ortung von zu entschädigen und dafür zu sorgen, dass diese Ereig- Mobiltelefonen mittels privater Anbieter be- nisse – zum Beispiel in der deutsch-italienischen Histori- gegnen kerkommission – restlos aufgeklärt werden und ihrer ge- bührend gedacht wird. – Drucksache 16/9608 – Die pauschalen Zahlungen, die in den 60er-Jahren von Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein der Bundesrepublik geleistet wurden, waren nicht ausrei- Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor. chend. Sie waren zudem eine Form der allgemeinen Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu Wiedergutmachung. Viele derer, die in der einen oder an- diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Es deren Form Opfer des nationalsozialistischen Besat- handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kolle- zungsregimes, der Wehrmacht und der Waffen-SS gewor- gen Krogmann, Dörmann, Otto (Frankfurt), Schui und den sind, haben diese Zahlungen nicht erreicht. Und auch Dückert.1) im Rahmen der Entschädigung der ehemaligen Zwangs- arbeiter, die von der rot-grünen Bundesregierung mit der Wir kommen damit zur Abstimmung über den von Gründung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Zukunft“ ermöglicht wurde, blieben diese Opfer außen Änderung des Telekommunikationsgesetzes. Der Aus- vor. Es ist also höchste Zeit, dass auch für die Opfer des schuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in sei- NS-Terrors in Südeuropa eine ähnliche Entschädigung ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12405, bereitgestellt wird. den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck- sache 16/10731 in der Ausschussfassung anzunehmen. Der vorliegende Antrag will aber etwas anderes. Er fordert die Anerkennung der Urteile aus Italien und Grie- chenland und die Rücknahme der deutschen Klage vor 1) Anlage 7 23262 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung der FDP (C) schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – angenommen. Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- Tagesordnungspunkt 19: wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der FDP bei – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Enthaltung der Linken und der Grünen angenommen. regierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Zivildienstgesetzes Dritte Beratung und anderer Gesetze (Drittes Zivildienstge- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem setzänderungsgesetz) Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – – Drucksache 16/10995 – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- wurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- angenommen. ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss) Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/12456. Wer stimmt für die- – Drucksache 16/12372 – sen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Berichterstattung: Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist gegen die Abgeordnete Markus Grübel Stimmen der FDP mit den Stimmen des Hauses im Übri- Sönke Rix gen abgelehnt. Ina Lenke Wir kommen zum Antrag der Fraktion der FDP auf Elke Reinke Drucksache 16/9608 mit dem Titel „Möglichkeiten Kai Gehring missbräuchlicher Ortung von Mobiltelefonen mittels pri- – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) vater Anbieter begegnen“. Abweichend von der Tages- gemäß § 96 der Geschäftsordnung ordnung soll über den Antrag heute abgestimmt werden. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – – Drucksache 16/12373 – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen der Berichterstattung: beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Abgeordnete Dr. Ole Schröder FDP und Grünen bei Enthaltung der Linken abgelehnt. (Erfurt) Tagesordnungspunkt 18: Roland Claus (B) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Anna Lührmann (D) richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Josef Philip Winkler, Rainder Steenblock, weite- der FDP vor. rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre NIS 90/DIE GRÜNEN Reden zu Protokoll gegeben: Grübel, Rix, Lenke, Für eine zukunftstaugliche und menschen- Reinke, Gehring und der Parlamentarische Staatssekretär rechtlich fundierte Europäische Migrations- Kues.2) politik Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- – Drucksachen 16/10341, 16/12464 – desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände- rung des Zivildienstgesetzes und anderer Gesetze. Der Berichterstattung: Ausschuss für Familien, Senioren, Frauen und Jugend Abgeordnete Reinhard Grindel empfiehlt auf Drucksache 16/12372, den Gesetzentwurf Rüdiger Veit der Bundesregierung auf Drucksache 16/10995 in der Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Ulla Jelpke dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen Josef Philip Winkler wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen sind Beratung mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktio- zu Protokoll gegeben: Kammer, Veit, Wolff (Rems- nen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen Murr), Dağdelen und Sarrazin.1) angenommen. Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss Dritte Beratung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- che 16/12464, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/ und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Die Grünen auf Drucksache 16/10341 abzulehnen. Wer Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung wurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Linken angenommen.

1) Anlage 8 2) Anlage 9 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23263

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Abstimmung über den Entschließungsantrag der FDP dient, wenn der Altersunterschied zwischen Kind und El- (C) auf Drucksache 16/12457. Wer stimmt für diesen Ent- tern mehr als 40 Jahre beträgt. schließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- gen? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen Die FDP fordert nun, die Frage des Alters stets einzel- der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der fallbezogen – das heißt individuell – zu beurteilen. Da- FDP bei Stimmenthaltung von Grünen und Linken abge- rüber hinaus soll gesetzlich festgehalten werden, dass ein lehnt. Altersunterschied von mehr als 40 Jahren im Einzelfall als unschädlich anzusehen ist. Aus Sicht der Union ist Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf: dieses Anliegen grundsätzlich berechtigt. Die gesell- schaftlichen Bedingungen haben sich langfristig verän- Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina dert. Die Annahme, dass ein Altersunterschied von mehr Lenke, Sibylle Laurischk, Miriam Gruß, weiterer als 40 Jahren in der Regel nicht dem Wohl des Kindes Abgeordneter und der Fraktion der FDP dient, kann so nicht mehr aufrechterhalten bleiben. Wir Adoptionen von minderjährigen Kindern för- stellen fest, dass Mütter ihre Kinder heute immer später dern zur Welt bringen. Schwangerschaften bei 40-jährigen Frauen sind heute längst keine Seltenheit mehr. Anders – Drucksache 16/12293 – als früher ist hiermit weder unter medizinischen noch un- Überweisungsvorschlag: ter psychologischen Gesichtspunkten ein signifikant er- Rechtsausschuss (f) höhtes Risiko verbunden. Dies gilt insbesondere auch für Auswärtiger Ausschuss die Kinder. Die Menschen werden zudem immer älter. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Sechzigjährige sind heute gesünder und vitaler als noch Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die vor 20 Jahren. Ein Altersunterschied von mehr als Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die 40 Jahren kann deshalb nicht länger per se ein Grund für Reden der Kolleginnen und Kollegen Granold, die fehlende Eignung der Bewerber sein. Im Übrigen ist Lambrecht, Lenke, Wunderlich und Deligöz. es nicht gerechtfertigt, dass bestimmte Personengruppen – ich denke hierbei insbesondere an Prominente wie Ute Granold (CDU/CSU): Herrn Schröder – privilegiert werden, indem bei ihnen Heute beraten wir in erster Lesung den Antrag der ein größerer Altersunterschied offenbar kein Problem FDP, der sich mit der Adoption minderjähriger Kinder darstellt. Angesichts dieses Widerspruches dürfen wir uns befasst. Wir begrüßen diese Debatte, denn das Thema ist nicht wundern, dass die Akzeptanz der gängigen Adop- wichtig. tionspraxis mehr und mehr schwindet. In diesem Sinne äußerte sich auch die Bundesregie- (B) Die Union spricht sich grundsätzlich für eine Förde- (D) rung der Adoptionen von minderjährigen Kindern aus. rung. So heißt es in der Antwort auf eine Kleine Anfrage Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der nach wie der FDP-Fraktion aus der letzten Legislaturperiode mit vor hohen Zahl von Abtreibungen sowie der wachsenden Blick auf die Frage des Altersunterschiedes und etwaiger Zahl von Kindesmisshandlungen und -vernachlässigun- Nachbesserungen: „In diesem Zusammenhang sollte die gen. Es wäre für diese Kinder besser, ein neues Zuhause gesellschaftliche Entwicklung und der veränderte Alters- bei den vielen Eltern zu finden, die sich heute leider oft aufbau der Gesellschaft berücksichtigt werden (…)“. Die vergeblich um ein Kind bemühen. Der Gesetzgeber ist ge- Union teilt insofern die Kritik an der geltenden Praxis fordert, hier im Sinne der Kinder die richtigen gesetzli- und den einschlägigen Empfehlungen zum Altersunter- chen Rahmenbedingungen zu schaffen. Wir unterstützen schied. Eine gesetzliche Klarstellung, dass es keine obere daher grundsätzlich die Zielsetzung des Antrages, die Altersgrenze gibt, halten wir jedoch weder für ein geeig- Adoption von minderjährigen Kindern zu fördern. netes Instrument noch für erforderlich. Die Frage der persönlichen Eignung unter Berücksichtigung des Alters- Das deutsche Adoptionsrecht sieht eine Höchstalters- unterschiedes unterliegt einer stetigen dynamischen Ent- grenze für adoptionswillige Eltern nicht vor. Die Anneh- wicklung und sollte deshalb nicht durch eine konkrete ge- menden müssen lediglich ein bestimmtes Mindestalter er- setzliche Regelung zum Altersunterschied abschließend reicht haben. Dieses beträgt 21 Jahre bzw. bei festgelegt werden. Stattdessen präferieren wir eine am Stiefkindadoptionen 25 Jahre. Im Übrigen spielt das Alter Kindeswohl orientierte Einzelfallprüfung. Der richtige der Annehmenden lediglich mittelbar eine Rolle bei der Weg ist daher eine Änderung der einschlägigen Empfeh- Prüfung der Eignung der Bewerber und der Frage, ob zu lungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landes- erwarten ist, dass zwischen dem Annehmenden und dem jugendämter. Die Union wird darauf hinwirken, dass eine Kind eine Eltern-Kind-Beziehung entsteht. Die Frage der entsprechende Änderung zeitnah geprüft und gegebenen- Eignung der Bewerber muss also letztlich in jedem Ein- falls umgesetzt wird. zelfall von den zuständigen staatlichen Stellen geprüft und beantwortet werden. Nach dem Willen der FDP soll darüber hinaus eine Gesetzesänderung dahingehend vorgenommen werden, Die Empfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft dass bei Stiefkindadoptionen wie im geltenden Recht der der Landesjugendämter, die in der Praxis eine wichtige Erwachsenenadoptionen die Möglichkeit gegeben wird, Richtlinie darstellen, sehen allerdings im Alter der Be- das Verwandtschaftsverhältnis zu beiden leiblichen El- werber einen Indikator für andere Merkmale – etwa die ternteilen bei einem einvernehmlichen Wunsch von Gesundheit oder Belastbarkeit. Insofern gehen die Emp- Mutter, Vater sowie adoptionswilligem Stiefelternteil und fehlungen davon aus, dass es dem Wohl des Kindes nicht einer entsprechenden notariellen Beurkundung beizube- 23264 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Ute Granold (A) halten. Schon bei der Überarbeitung des Lebenspartner- Jedes Kind braucht Mutter und Vater für eine gesunde (C) schaftsgesetzes im Jahr 2005 und der damit verbundenen Entwicklung. Der Bezug zu beiden Geschlechtern ist da- Einführung der Stiefkindadoption durch gleichge- bei von zentraler Bedeutung. Die Union steht mit dieser schlechtliche Lebenspartnerschaften hat die Union da- Einschätzung nicht allein. Ich möchte darauf hinweisen, rauf hingewiesen, dass das geltende Recht der Stiefkind- dass sich unter anderem auch die frühere Vizepräsidentin adoption Mängel aufweist und diese zunächst überarbeitet des Deutschen Bundestages von Bündnis 90/ Die Grünen, werden sollten, bevor man darüber diskutiert, ob der , in der Vergangenheit wiederholt gegen ein Kreis der Berechtigten in einem weiteren Schritt auf Adoptionsrecht gleichgeschlechtlicher Lebenspartner gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften erweitert ausgesprochen hat. Ich zitiere: „Kinder wollen einen Va- wird. Wir sind damals mit unseren Bedenken leider nicht ter und eine Mutter.“ Es gibt berechtigte Zweifel, dass gehört worden. Offensichtlich ging es einigen damals eine gemeinsame Adoption durch gleichgeschlechtliche wohl mehr um die Selbstverwirklichung der gleichge- Lebenspartnerschaften generell mit dem Kindeswohl ver- schlechtlichen Lebenspartner als um die Interessen der einbar ist. Solange aussagekräftige empirische Untersu- Kinder. Die Stiefkindadoption bringt für die betroffenen chungen nicht vorliegen, sollte sich der Gesetzgeber in Kinder zum Teil erhebliche Nachteile. Aus diesem Grund dieser Frage unbedingt zurückhalten. Im Übrigen weise plädieren wir dafür, das Recht der Stiefkindadoptionen ich darauf hin, dass derzeit noch ein Normenkontrollver- sorgfältig zu überprüfen und dann gegebenenfalls zu no- fahren Bayerns zur Stiefkindadoption durch gleichge- vellieren. Es verbieten sich jedoch in diesem sensiblen schlechtliche Lebenspartnerschaften vor dem Bundesver- Bereich Schnellschüsse jeder Art. fassungsgericht anhängig ist. Eine Entscheidung wird für dieses Jahr erwartet. Wir sollten zunächst die abschlie- Im Übrigen bezweifele ich, dass sich die Kolleginnen ßende Klärung der damit verbundenen verfassungsrecht- und Kollegen von der FDP überhaupt darüber im Klaren lichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht sind, was sie hier eigentlich fordern. Bei der Erwachse- abwarten. Bis dahin verbietet sich jede weitere Gesetzes- nenadoption werden gemäß § 1770 BGB bei entsprechen- änderung in diesem Bereich von selbst. dem Wunsch die aus der Abstammung herrührenden Ver- Zu den weiteren Vorschlägen der FDP ist Folgendes zu wandtschaftsverhältnisse des Angenommenen durch die sagen: Die summarische Prüfung der Anerkennungsfä- Annahme grundsätzlich nicht berührt. Im Falle des Todes higkeit unbegleiteter Adoptionen durch die deutschen des Angenommenen sind deshalb seine leiblichen Eltern Auslandsvertretungen erscheint grundsätzlich sinnvoll. und seine Adoptiveltern nebeneinander erbberechtigt. Darüber hinaus – das ist das Entscheidende – bleiben in Die Forderung, sich bei den Landesjugendämtern an- diesem Fall die gegenseitigen Unterhaltspflichten beste- gesichts des geplanten Ausbaus der Kindertagesbetreu- (B) hen. Die Beibehaltung des Verwandtschaftsverhältnisses ung für die Streichung jener Empfehlung einzusetzen, wo- (D) entsprechend der Erwachsenenadoption würde folglich nach die Erziehung des Kindes nicht überwiegend durch bedeuten, dass das betroffene Kind gegenüber dem abge- außerhalb der Familie stehende Personen wahrgenom- benden leiblichen Elternteil nicht nur berechtigt, sondern men werden soll, lehnen wir hingegen ab. Die persönli- zusätzlich auch erb- und unterhaltspflichtig wäre. Das che Betreuung durch die Eltern entspricht generell – und Kind wäre somit später zum Beispiel gegenüber drei El- nur darum geht es bei den Empfehlungen – eher dem Kin- ternteilen unterhaltspflichtig. Mit dem zusätzlichen Ver- deswohl als die Betreuung durch Fremde. Dies gilt erst wandtschaftsverhältnis sind zudem weitere für das Kind recht, wenn man berücksichtigt, dass Adoptivkinder viel- negative Rechtsfolgen verbunden. Anders als bei der Er- fach ein schweres Schicksal haben und deshalb in der Re- wachsenenadoption wird das Kind hier aber nicht ge- gel eine besondere persönliche Erziehung und Fürsorge fragt, ob es diese Rechtsfolge wünscht. Vor diesem Hin- durch die Eltern benötigen. Aber auch hier gilt: Die tergrund kann ich mir nicht vorstellen, dass dies wirklich Frage der Betreuungssituation ist lediglich indikatori- so gewollt ist. Diese Fragen müssen zunächst einmal ge- scher Natur. klärt werden. Insofern kann dem Antrag schon aus diesem Zusammenfassend ist also festzuhalten: Für die Union Grund nicht zugestimmt werden. stand und steht das Kindeswohl stets an erster Stelle und Soweit die FDP erneut die gemeinsame Adoption nicht die Interessen bzw. die Selbstverwirklichung der El- durch eingetragene Lebenspartnerschaften fordert, kann tern. Deshalb sind wir alle gehalten, mit diesem Thema ich hier für die Union ganz klar sagen: Dies lehnen wir äußerst sensibel umzugehen. Die Adoption stellt für die ab. Entscheidender Maßstab ist und bleibt für uns das betroffenen Kinder immer einen sehr tiefen Einschnitt in Kindeswohl. Wir stellen nicht in Abrede, dass sich homo- ihr Leben dar. Ihr Schutz muss daher absolute Priorität haben. sexuelle Menschen genauso wie heterosexuelle Eltern rührend um ihre eigenen, um adoptierte oder um die Kin- der ihres Lebenspartners kümmern können und wollen. Christine Lambrecht (SPD): Wir können jedoch nicht mit Sicherheit ausschließen, Wir beraten heute in erster Lesung den von der Frak- dass eine Adoption durch gleichgeschlechtliche Partner- tion der FDP eingebrachten Antrag „Adoptionen von schaften – dies gilt sowohl für die Stiefkindadoption, aber minderjährigen Kindern fördern“. Der Antrag enthält noch mehr für die gemeinsame Adoption – sich negativ einige positive Anregungen, die vom Ansatz her überle- auf das Kindeswohl auswirkt. Diesbezüglich sind noch genswert sind. Für die Prüfung tiefgreifender Änderun- keine fundierten Daten über die Auswirkungen auf die be- gen in sehr verschiedenartigen Bereichen und Problem- troffenen Kinder vorhanden. kreisen brauchen wir jedoch noch Zeit. Es gibt viele

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23265

Christine Lambrecht (A) offene Fragen, bei denen vorrangig das Kindeswohl durch eine frühzeitige Einbindung der Adoptionsvermitt- (C) – ganz im Sinne von Art. 21 c der UN-Kinderrechtskon- lungsstellen kann sichergestellt werden, dass das Kindes- vention – zu beachten ist. Dort heißt es unter c „Die Ver- wohl gesichert ist, das den Leitgedanken unseres Adop- tragsstaaten, die das System der Adoption anerkennen tionsrechts bildet. oder zulassen, gewährleisten, dass dem Wohl des Kindes bei der Adoption die höchste Bedeutung zugemessen Bezüglich der Auslandsadoptionen regt der Entschlie- wird; die Vertragsstaaten stellen sicher, dass das Kind im ßungsantrag außerdem an, durch ein Forschungsvorha- Fall einer internationalen Adoption in den Genuss der für ben zu ermitteln, ob begleitete Auslandsadoptionen dem nationale Adoptionen geltenden Schutzvorschriften und Kindeswohl zuträglicher sind als unbegleitete, dazu emp- Normen kommt.“ fiehlt der Antrag eine Evaluierung der in den letzten Jah- ren geänderten adoptionsrechtlichen Vorschriften sowie Vor diesem Hintergrund, also dem der Wahrung des einen Bericht an den Deutschen Bundestag. Das Kindeswohls, sind noch viele Fragen zu klären. Daher BMFSFJ plant, ein Forschungsvorhaben zum Adoptions- lehnen wir den Antrag der FDP insgesamt ab. So regt der recht durchzuführen, das auch die im Antrag einbezoge- Antrag bezüglich Auslandsadoptionen an, bei unbegleite- nen Aspekte aufnimmt. Im Vorfeld hierzu wurde eine qua- ten Adoptionen, das sind selbst organisierte Adoptionen, lifizierte Literaturrecherche in Auftrag gegeben, die dem schon vor der Einreise des Kindes nach Deutschland die Thema Adoption trotz Wissenszuwachs noch eine Vielzahl Anerkennungsfähigkeit der Auslandsadoption zu prüfen. von offenen Fragen zuweist. Eine interministerielle Ar- Das soll von den Auslandsvertretungen summarisch zu beitsgruppe, unter anderem bestehend aus dem BMJ, prüfen sein. BMFSFJ und dem Auswärtigen Amt unter Beteiligung der Auslandsvermittlungsstellen, hat die Arbeit aufge- Bei der Verhinderung von unbegleiteten Adoptionen nommen und ist derzeit dabei, Lösungen zum Problem- sehe auch ich Handlungsbedarf. Sie sind im Inland nicht kreis der Auslandsadoptionen zu erarbeiten. Sie wird sich möglich, Jugendämter werden automatisch als Bera- an dem Forschungsvorhaben beteiligen. tungs- und Begleitinstanz eingeschaltet. Das Haager Adoptionsübereinkommen lässt unbegleitete Auslands- Zudem regt der Antrag an, eine Empfehlung der Lan- adoptionen für die Vertragsstaaten, darunter die Bundes- desjugendämter aufzuheben, die besagt, dass Adoptivkin- republik Deutschland, nicht zu. Die Frage ist, wie seine der nicht überwiegend von außerhalb der Familie stehen- Regelungen, unter anderem das hier vorgesehene Adop- den Personen erzogen werden dürfen. Die Bundesebene tionsvermittlungsverfahren, in der Praxis durchzusetzen kann aber weder direkt noch indirekt Einfluss auf die sind. Im Ausland sind unbegleitete Adoptionen oftmals Landesjugendämter nehmen, da diese zur Landesverwal- möglich und werden häufig von Privatpersonen begleitet. tung gehören. Unbegleitete Adoptionen können in Deutschland legal (B) (D) anerkannt werden. Hier ergeben sich große Bedenken, Weitere Änderungen im familienrechtlichen Bereich wie das Kindeswohl gewahrt werden kann, das den Leit- des Adoptionsrechts schlägt der Antrag dahin gehend vor, gedanken in unserem Adoptionsrecht darstellt. Dabei dass bei der Bewertung des Altersunterschiedes zwischen handelt es sich in dem FDP-Antrag um einen Vorschlag Adoptionsbewerbern und Adoptivkindern ein Altersun- zur Verwaltungspraxis, der derzeit schon beachtet wird. terschied von 40 Jahren im Einzelfall möglich ist. Auch Er reicht im Übrigen auch nicht aus, unbegleitete hier kann von der Bundesebene kein Einfluss auf die Lan- Auslandsadoptionen zu verhindern. In visum- und pass- desjugendämter genommen werden. Im Übrigen prüfen rechtlichen Fragen prüfen die deutschen Auslandsvertre- die Landesjugendämter schon jetzt das Alter der Adoptiv- tungen schon jetzt im Vorfeld die Frage der Anerken- eltern individuell. Die Empfehlungen zur Adoptionsver- nungsfähigkeit einer im Ausland erfolgten Adoption. Dies mittlung bestätigen dies. Auch kennt das Familienrecht geschieht unabhängig davon, ob die Auslandsadoption keinen Höchstaltersunterschied, den es zu ändern gäbe. unter Beteiligung einer deutschen Auslandsvermittlungs- Die Vormundschaftsgerichte können auch bereits jetzt ei- stelle erfolgt ist oder „unbegleitet“ vorgenommen wor- nen Altersunterschied von mehr als 40 Jahren im Einzel- den ist. Die Erstreckung der Wirksamkeit einer ausländi- fall als rechtlich unbedenklich ansehen. Es gibt dort kei- schen Adoption auf Deutschland ist Grundvoraussetzung nen Automatismus im Hinblick auf die Altersgrenzen, es dafür, dass Kinder im Weg des Familiennachzuges nach zählt nur die Gesamtbetrachtung, ob eine Adoption dem Deutschland einreisen dürfen. Maßgeblich für die Aner- Kindeswohl dient und zu erwarten ist, dass zwischen dem kennungsfähigkeit eines ausländischen Adoptionsdekrets Annehmenden und dem Kind ein Eltern-Kind-Verhältnis ist vor allem, dass eine dem deutschen Recht genügende entsteht. Kindeswohlprüfung vorgenommen worden ist. Fehlt es nach summarischer Prüfung der Auslandsbehörden da- Ein weiterer Vorschlag der FDP im Familienrecht be- ran, kann die Einreise des Kindes schon jetzt untersagt zieht sich darauf, bei Stiefkindadoptionen wie bei Er- werden. wachsenen-Adoptionen die Verwandtschaft zu den leibli- chen Eltern bei Einverständnis aller beizubehalten. Dies Unbegleitete Auslandsadoptionen sind außerdem bedeutet einen Bruch zum geltenden Familienrecht, denn wirksamer dadurch zu verhindern, dass die Adoptionsbe- hier gilt, dass die Adoption mit allen Konsequenzen end- werber frühzeitig dazu angehalten werden, deutsche Aus- gültig ist. Auch lässt das Europäische Adoptionsüberein- landsvermittlungsstellen in die Auslandsadoption einzu- kommen von 1967, 2008 gerade revidiert und derzeit zur binden. Ihre Einschaltung ist für Adoptionen aus Staaten, Ratifizierung im BMJ, eine solche Änderung nicht zu. die wie Deutschland dem Haager Adoptionsübereinkom- Verwandtschaftsbeziehungen zum leiblichen Elternteil, men von 1993 angehören, sowieso vorgeschrieben. Nur auch die unterhaltsrechtlichen und erbrechtlichen An-

Zu Protokoll gegebene Reden 23266 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Christine Lambrecht (A) sprüche an die leiblichen Verwandten des Kindes sind mit Wie zu erkennen ist, handelt es sich bei der Adoption (C) der Annahme vollständig aufgehoben. Enge Ausnahmen um ein sehr komplexes Thema, und sicherlich bedarf die bestehen nur bei der Annahme von Minderjährigen durch Aufarbeitung vor allem im Sinne des Kindeswohls einer nahe Verwandte und bei einem verwitweten Elternteil. Ob gründlichen Vorbereitung und nimmt noch Zeit in An- für weitere Ausnahmen ein Bedürfnis besteht, ist fraglich. spruch. Mit der Stiefkindadoption erhält das Kind eine vollstän- dige Familie, in der es sich entwickeln und entfalten kann. Ina Lenke (FDP): Der tatsächliche Kontakt zu dem leiblichen Elternteil Im Jahr 2007 wurden 4 509 Kinder und Jugendliche muss nicht zwangsläufig durch die Adoption abbrechen. adoptiert. Etwa 55 Prozent der adoptierten Minderjähri- gen wurden von einem Stiefelternteil oder von Verwand- Dazu schlägt die FDP vor, gleichgeschlechtlichen ten als Kind angenommen. Das ist positiv zu bewerten. Paaren, die in einer Lebensgemeinschaft zusammenle- ben, die gemeinsame Adoption zu ermöglichen. Zur An- 32 Prozent der adoptierten Kinder besaßen nicht die gleichung der Lebenspartnerschaft an die Ehe im Adop- deutsche Staatsangehörigkeit. In der Antwort des Staats- tionsrecht und zur Ermöglichung einer gemeinsamen sekretärs aus dem Familienministerium auf die Frage Adoption für eingetragene Lebenspartnerschaften habe nach unbegleiteten Adoptionen wird der Anteil auf ich bereits Stellung genommen. Ein erster Schritt in diese 50 Prozent geschätzt. Richtung war die Stiefkindadoption, die seit Beginn 2005 Die Zahl der zur Adoption vorgemerkten Kinder blieb möglich ist. Das von der rot-grünen Koalition 2004 ver- mit 886 gegenüber 2006 unverändert. Demgegenüber ha- abschiedete Gesetz zur Überarbeitung des Lebenspart- ben 8 914 Adoptionswünsche vorgelegen, also ein Kind nerschaftsrechts glich nach der Einführung des Lebens- auf 10 mögliche Adoptiveltern. partnerschaftsgesetzes von 2001 weiterhin die Rechte und Pflichten in der Lebenspartnerschaft denen in der Bei eingetragenen Lebenspartnerschaften besteht bis- Ehe so weit wie möglich an. Es wurde im Zuge dessen her in Deutschland nur die Möglichkeit der Stiefkind- auch ein kleines Adoptionsrecht, die Stiefkindadoption adoption. Das heißt, dass ein Elternteil der leibliche Va- leiblicher Kinder der Lebenspartnerin oder des Lebens- ter oder die leibliche Mutter ist. Ansonsten können nur partners eröffnet. So ist es durch die Stiefkindadoption Einzelpersonen adoptieren. seit Beginn 2005 erstmals möglich in Deutschland, dass Eine gesetzliche Altersbeschränkung bei Adoptionen zwei Mütter oder zwei Väter rechtlich als Elternpaar an- nach oben gibt es in Deutschland zwar nicht, aber die Ar- erkannt werden. Die gemeinschaftliche Annahme bleibt beitsgemeinschaft der Landesjugendämter hat sozusa- aber Ehepaaren vorbehalten. Aufgrund des Verbotes von gen festgelegt, dass der Altersunterschied zwischen dem (B) Kettenadoptionen kann ein adoptiertes Kind auch nicht adoptieren Kind und den Adoptiveltern nicht größer als (D) durch weitere Personen adoptiert werden. In Deutsch- 40 Jahre sein soll. Diese Regelung sollte überdacht wer- land leben mindestens 13 000 Kinder bei homosexuellen den, da es nicht nur Einzelfälle sind, wenn Mütter selbst Paaren. Oft stammen diese Kinder aus vorangegangenen heutzutage auch einige Jahre über das 40. Lebensjahr hi- Beziehungen, immer öfters werden Kinder aber auch via naus ein Kind gebären. Samenspende hineingeboren. Wenn uns auch sehr nah ist, dass Eltern ein Kind zu Das Recht eingetragener Lebenspartner, gemein- adoptieren wünschen, so steht doch an erster Stelle das schaftlich ein Kind anzunehmen, bedeutet nach der Stief- Wohl des Kindes. Darüber besteht sicher hier im Hause kindadoption einen neuen Schritt. Allerdings behält auch Einvernehmen. Eine Adoption in ein anderes Land sollte das Europäische Adoptionsübereinkommen von 1967 die grundsätzlich nur dann erfolgen, wenn die Adoptions-Be- gemeinsame Adoption Ehegatten vor. Über die Aufhe- dürftigkeit des Kindes gegeben ist, das heißt in der Her- bung des Verbots wird diskutiert. Selbstverständlich ha- kunftsfamilie eine Verbleib nicht möglich ist und sich im ben wir uns wie immer an den Wünschen und Bedürfnis- Heimatstaat des Kindes keine geeigneten Bewerber und sen der Menschen zu orientieren. Für die Änderungen des Bewerberinnen finden. Adoptionen aus Nichtvertrags- Adoptionsrechts müssen die gesellschaftlichen Rahmen- staaten des Haager Übereinkommens über den Schutz bedingungen stimmen. Sicherlich kann sich gerade im von Kindern (HAÜ) sind nach der Rechtslage möglich. Fall von Pflege- und Adoptivkindern ein gesellschaftli- Jedoch wird die Anerkennung bei 4 Prozent der Adoptio- ches Bedürfnis für eine gemeinschaftliche Adoption die- nen in Deutschland versagt. Wenn man auch noch weitere ser Kinder durch gleichgeschlechtliche Paare durchset- Verfahren mit in die Berechnung einbezieht, dann werden zen. Dass die Paare selbstbewusst zu ihrer Lebensweise circa 10 Prozent der gerichtlichen Anerkennungsverfah- stehen, wurde von den Adoptionsvermittlungsstellen, die ren abgelehnt. Das ist für Kinder, die bereits in Deutsch- Erfahrungen mit homosexuellen Paaren hatten, als posi- land sind, eine schwere und schwierige Sache. tiv für die Entwicklung der Kinder beurteilt. Es bleibt Die FDP-Bundestagsfraktion fordert die Bundesregie- aber noch abzuwarten, wie sich die gesellschaftliche rung auf, das Adoptionsrecht einer Prüfung zu unterzie- Akzeptanz nach der Einführung der Stiefkindadoption hen und erstens bei unbegleiteten Adoptionen vor Ein- weiterentwickelt. Das BMJ hat dazu eine Rechtstatsa- reise der Kinder nach Deutschland eine Prüfung der chenforschung zur Situation von Kindern in Lebenspart- Anerkennungsfähigkeit der Adoption bei den deutschen nerschaften in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse eine Auslandsvertretungen durchführen zu lassen; zweitens solide Tatsachengrundlage für eine Diskussion über die nicht mehr als Voraussetzung für eine Adoption zum Zulassung der gemeinsamen Adoption liefern soll. Beispiel die Nichterwerbstätigkeit eines Elternteils zur

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23267

Ina Lenke (A) Auflage zu machen, das heißt die Streichung von Zif- Ergebnisse der ressortübergreifenden Bund-Länder- (C) fer 6.4.2.12 der Empfehlungen zu Adoptionsvermittlung Gruppe zu informieren. der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter, drittens auch eingetragenen Lebenspartnerschaften die Die Linke unterstützt die Forderung, auch gleichge- gemeinsame Adoption zu ermöglichen, viertens das die schlechtlichen Paaren eine gemeinsame Adoption zu er- Prüfung des Alters der Adoptivmutter oder des Adoptiv- möglichen. Auch eine grundsätzliche Erforschung zum vaters nicht nach einer starren Altersgrenze, sondern in- Gelingen von Adoptionen sowie eine adoptionsrechtliche dividuell beurteilt werden soll, fünftens den Paragrafen Evaluation sind zu befürworten. Zudem ist die beabsich- des BGB so zu ändern, das der Altersunterschied zum tigte Beibehaltung des Verwandtschaftsverhältnisses bei Kind von 40 Jahren im Einzelfall nicht maßgeblich ist, Stiefkindern richtig, um adoptierten Kindern ein Recht sechstens dass bei Einvernehmen von Mutter, Vater und auf Herkunft zu gewähren. Verständlich ist aus Sicht der adoptionswilligem Stiefelternteil bei notarieller Beurkun- FDP auch die geforderte Streichung von Ziffer 6.4.2.12 dung das Verwandtschaftsverhältnis zu beiden leiblichen der Empfehlungen zur Adoptionsvermittlung der Bundes- Elternteilen beibehalten werden kann, siebtens For- arbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter. Angesichts schungsvorhaben in die Wege zu leiten, welche Faktoren des Kita-Ausbaus könnte die Forderung, wonach die Er- zum Gelingen von Adoptionen beitragen, achtens Erfah- ziehung des Kindes nicht überwiegend durch außerhalb rungen mit den geänderten adoptionsrechtlichen Vor- der Familie stehende Personen wahrgenommen werden schriften zu evaluieren und den Deutschen Bundestag soll, möglicherweise anachronistisch sein. Dabei müsste über die Ergebnisse der ressortübergreifenden Bund- man sich allerdings auch über den Begriff des „überwie- Länder-Gruppe zu informieren. genden“ Aufenthalts unterhalten, der durch Ganztags- kitas nach Ansicht der Linken noch nicht erfüllt wäre. Mit Ich freue mich auf konstruktive Diskussionen im Aus- einer Streichung der Vorschrift begibt man sich allerdings schuss. in die Gefahr, dass die Erziehung des Kindes durch die Adotpiveltern nicht mehr Voraussetzung für eine Adop- tion ist. Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Mit dem vorliegenden Antrag werden die gegenwärti- Die Einzelfallprüfungen – auch bezogen auf die 40-Jah- gen Zustände im Zusammenhang mit Adoptionen Minder- res-Differenz – dürften sinnvoll sein. Nicht in jedem Fall jähriger zutreffend dargestellt. Die Bundesregierung sollte dieser Altersunterschied entscheidend sein. Eine wird unter anderem aufgefordert, „bei unbegleiteten summarische Prüfung der Anerkennungsfähigkeit der Adoptionen von Kindern vor Einreise der Kinder in die Adoption durch die deutschen Auslandsvertretungen se- Bundesrepublik Deutschland bzw. bei Visumserteilung hen wir aufgrund vieler negativer Erfahrungen beim Fa- (B) eine summarische Prüfung der Anerkennungsfähigkeit miliennachzug hingegen kritisch: Die Auslandsvertretun- (D) der Adoption bei den deutschen Auslandsvertretungen gen sind ohnehin überlastet und die Qualität einer durchführen zu lassen.“ Die Regierung soll sich bei den solchen Vorprüfung wäre möglicherweise unzureichend. Landesjugendämtern angesichts des geplanten Ausbaus Die sich hieraus ergebenden zeitlichen Verzögerungen der Kindertagesbetreuung für eine Streichung von Zif- würden zudem alle Einreisen adoptierter Kinder aus dem fer 6.4.2.12 der Empfehlungen zur Adoptionsvermittlung Ausland treffen. Angesichts der schon jetzt langen Verfah- der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter rensdauer wäre eine Verlängerung unzumutbar. Dies wird einsetzen, wonach die Erziehung des Kindes nicht über- in den Ausschussberatungen noch zu thematisieren sein, wiegend durch außerhalb der Familie stehende Personen um letztlich einen Antrag zu formulieren, welcher der zu wahrgenommen werden soll. erhoffenden Intention des vorliegenden Antrags – dem Kindeswohl – entspricht und der von allen Fraktionen ge- Gleichgeschlechtlichen Paaren, welche in einer Le- tragen werden kann. benspartnerschaft zusammenleben, soll die gemeinsame Adoption ermöglicht werden. Bei den Landesjugendäm- Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tern soll die Bundesregierung darauf hinweisen, dass es In der UN-Kinderrechtskonvention, die die Bundes- sich bei der Prüfung des Alters des Adoptionsbewerbers republik Deutschland 1992 ratifiziert hat, findet sich ein um ein Merkmal handelt, dessen Bedeutung für die Adop- Artikel, von dem ich finde, er sollte zum Leitsatz der Kin- tion in jedem Fall individuell zu beurteilen ist. Der § 1743 derpolitik werden. Hier steht unter Drittens: „Bei allen BGB ist dahingehend zu ändern, dass gesetzlich festge- Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von halten wird, dass ein Altersunterschied zwischen dem zu öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen adoptierenden Kind und den Adoptionsbewerbern von Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetz- mehr als 40 Jahren im Einzelfall als unschädlich angese- gebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kin- hen werden kann. Gesetzliche Änderungen sind dahin des ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen gehend vorzulegen, dass bei Stiefkindadoptionen wie bei ist.“ Ich betone „vorrangig“. Da dies für alle Kinder Erwachsenenadoptionen ermöglicht wird, das Ver- gleich welcher Herkunft gilt, ist damit aus meiner Sicht wandtschaftsverhältnis zu beiden leiblichen Elternteilen auch schon das Wesentlichste zum Antrag der FDP gesagt. bei einvernehmlichem Wunsch von Mutter, Vater und Es kommt aus der Perspektive der Kinder immer auf den adoptionswilligem Stiefelternteil bei notarieller Beurkun- Einzelfall an. dung beizubehalten. Die Erfahrungen der letzten Jahre mit den geänderten adoptionsrechtlichen Vorschriften Werte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, auch sind zu evaluieren und der Deutsche Bundestag über die wenn ich Ihnen in einigen Punkten Ihres Antrages zu-

Zu Protokoll gegebene Reden 23268 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Ekin Deligöz (A) stimme, so teile ich nicht Ihre Motivation, die dahinter- kriminierung ist nicht gerechtfertigt. Sie schadet auch (C) steckt. Sie argumentieren mit Ihrem Hinweis auf die rück- immer dort dem Kindeswohl, wo sie die Stigmatisierung läufigen Adoptionszahlen bevölkerungspolitisch. Als bereits bestehender Familien mit gleichgeschlechtlichen Familienpolitiker sollten wir uns allerdings ausschließlich Eltern fördert. auf die familiären Rahmenbedingungen und damit vorran- Sie wissen, an diesem Punkt sind wir Grüne uns aus- gig auf das Kindeswohl konzentrieren. In Ihrem Antrag nahmsweise mal mit der FDP einig. Was die anderen vermisse ich die Erklärungen für die rückläufigen Zahlen Punkte anbelangt; werden wir uns mit diesen im weiteren der Adoptionen. Sie verweisen nicht auf Probleme, die es Verfahren noch kritisch beschäftigen müssen. mit dem Adoptionsverfahren gibt, geschweige denn, dass Ihre Forderungen entsprechende Lösungen und Antworten sind. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Ich stimme Ihnen zu, dass sich unsere Gesellschaft ver- Drucksache 16/12293 an die in der Tagesordnung aufge- ändert und auch das Adoptionsrecht kontinuierlich auf führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Vorlage den Prüfstand gestellt werden muss, damit es den gegen- federführend beim Rechtsausschuss beraten werden soll. wärtigen und zukünftigen Gegebenheiten auch gerecht Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann wird. Lassen sie mich vor diesem Hintergrund noch zu eini- ist die Überweisung so beschlossen. gen Forderungen aus Ihrem Antrag etwas sagen. Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 21 a Die Tatsache allein, dass die Menschen immer älter und b: werden, begründet für mich nicht, dass damit auch die Empfehlungen der BAG-Landesjugendämter zum Alters- a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ unterschied zwischen Adoptivkind und seinen Adoptions- CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines eltern aufgeweicht werden sollten. Es handelt sich, wie Gesetzes zur Neuregelung der zivilrechtlichen Sie selber schreiben, um Empfehlungen, die im Einzelfall Vorschriften des Heimgesetzes nach der Föde- und vor allem orientiert am Kindeswohl geprüft werden. ralismusreform Verraten Sie mir bitte, warum es hier einer gesetzlichen – Drucksache 16/12409 – Klarstellung bedarf? Überweisungsvorschlag: Wie Sie wissen, haben wir Grüne uns immer für den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Rechtsausschuss Ausbau der Kindertagesbetreuung stark gemacht. Ich bin Ausschuss für Wirtschaft und Technologie der Auffassung, dass es für die Mehrheit der Kinder ein Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Gewinn ist, Angebote der frühkindlichen Bildung in Verbraucherschutz (B) Anspruch zu nehmen. Bei jüngst adoptierten Kindern ist Ausschuss für Arbeit und Soziales (D) es meiner Meinung nach sehr stark vom Einzelfall abhän- Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung gig, ob diese Kinder besser ausschließlich von ihren Eltern betreut werden sollten oder ein Angebot der b) Beratung des Antrags der Abgeordneten frühkindlichen Bildung ergänzend förderlich sein kann. Elisabeth Scharfenberg, Britta Haßelmann, Die Landesjugendämter sollen Ihre Empfehlung bei der Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der nächsten Überarbeitung des Papiers überdenken. Es liegt Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mir aber nicht, die Bundesregierung aufzufordern, sich Betreutes Wohnen für ältere Menschen – Qua- pauschal gegen eine Empfehlung der BAG auszusprechen. litätskriterium Nutzerorientierung Die Lebensformen der Menschen sind in den letzten – Drucksache 16/12309 – Jahrzehnten immer vielfältiger geworden. Neben der Überweisungsvorschlag: klassischen Familie mit zwei verheirateten leiblichen Eltern Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) haben vielfältige weitere Formen des Zusammenhalts und Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Miteinanderlebens an Bedeutung gewonnen. Diese reichen Verbraucherschutz von nichtehelichen Lebensgemeinschaften, Ein-Eltern- Ausschuss für Gesundheit oder Patchwork-Familien, gleichgeschlechtlichen Partner- Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die schaften bis hin zu familiären Netzwerken, die auch Men- Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die schen ohne verwandtschaftliche Bindung einschließen. Reden der Kolleginnen und Kollegen Grübel, Graf (Ro- Für uns Grüne ist Familie da, wo Kinder sind. Wir for- senheim), Laurischk, Seifert, Scharfenberg und des Par- dern schon lange die Anerkennung der Vielfalt familiärer lamentarischen Staatssekretärs Kues. Lebensformen. Anders als Eheleuten ist eingetragenen Lebenspartnerinnen oder Lebenspartnern eine gemein- Markus Grübel (CDU/CSU): same Adoption gegenwärtig nicht möglich. Mit dem Gesetz Durch die am 1. September 2006 in Kraft getretene Fö- zur Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes und an- deralismusreform sind die Gesetzgebungszuständigkei- derer Gesetze im Bereich des Adoptionsrechts hat meine ten zwischen Bund und Ländern neu aufgeteilt worden. Fraktion bereits gefordert, bestehende Benachteiligungen Die Gesetzgebungskompetenz für das Heimrecht ist im endlich zu korrigieren. Ein genereller Ausschluss vom Bereich der öffentlichen Fürsorge auf die Länder über- gemeinsamen Adoptionsrecht stellt die Fähigkeit von tragen worden. Das heißt, für die ordnungsrechtlichen Lesben und Schwulen zur Kindererziehung aus ideologi- Vorschriften auf dem Gebiet des Heimrechts sind allein schen Gründen pauschal infrage. Diese willkürliche Dis- die Länder zuständig. Viele Bundesländer haben mittler- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23269

Markus Grübel (A) weile eigene Heimgesetze erlassen. So hat unter anderem Erstens. Die Verbraucher haben einen Anspruch auf (C) Baden-Württemberg seit dem 1. Juli 2008 ein eigenes Informationen vor dem Vertragsschluss. Die Unterneh- Landesheimgesetz. Andere Bundesländer wie Nordrhein- men müssen schriftlich und leicht verständlich Auskunft Westfalen und Bayern haben auch eigene Landesheimge- über Leistungen, Entgelte und das Ergebnis von Quali- setze erlassen. tätsprüfungen geben. Der Bund bleibt aber weiterhin für die zivilrechtlichen Zweitens. Die Verträge werden grundsätzlich auf un- Regelungen zuständig. Demnach stehen die in den §§ 5 bestimmte Zeit und schriftlich abgeschlossen. Für die bis 9 und 14 des Heimgesetzes enthaltenen Regelungen Kurzzeitpflege kann eine Befristung vereinbart werden. weiterhin der Gestaltung durch den Bundesgesetzgeber offen. Da nun die ordnungsrechtlichen und zivilrechtli- Drittens. Das vereinbarte Entgelt muss angemessen chen Vorschriften nicht mehr in einem Bundesgesetz ge- sein. Erbringt das Unternehmen vertraglich festgelegte regelt werden können, ist es notwendig, die zivilrechtli- Leistungen nicht oder nicht wie vereinbart, kann die Ver- chen Vorschriften in einem gesonderten Gesetz zu regeln braucherin oder der Verbraucher das Entgelt entspre- und diese darüber hinaus auch weiterzuentwickeln. chend kürzen. Viertens. Bei Änderung des Pflege- oder Betreuungs- Gab es anfänglich noch Meinungsverschiedenheiten bedarfs haben die Verbraucher Anspruch auf eine ent- mit den Ländern bezüglich der Zuständigkeit, so ist diese sprechende Anpassung des Vertrags. In besonderen Fäl- jetzt geklärt: Der Bund, federführend das zuständige len können die Vertragsparteien vereinbaren, dass das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Unternehmen von der Anpassungspflicht befreit ist. Jugend, hat daher einen Gesetzentwurf zur Neuregelung der zivilrechtlichen Vorschriften des Heimgesetzes nach Fünftens. Eine Kündigung des Vertrags ist für die Un- der Föderalismusreform erarbeitet, dessen Kernbestand- ternehmen nur aus wichtigen Gründen möglich. Die Ver- teil Art. 1, nämlich der Gesetzentwurf zur Regelung von braucher können dagegen den Vertrag jederzeit kurzfris- Verbraucherverträgen über Wohnraum mit Pflege- oder tig kündigen. anderen Betreuungsleistungen (WBVG) ist. Mit dem WBVG werden die vertragsrechtlichen Vor- Diesen Gesetzentwurf stellen wir heute in erster Le- schriften des Heimgesetzes abgelöst und weiter entwi- sung im Plenum vor. Ich denke, dies ist ein parteipolitisch ckelt. Für die Anwendbarkeit des Gesetzes kommt es nicht unstreitiges Gesetz, welches wir sachorientiert im Aus- mehr auf die Einrichtungsform an, maßgeblich sind aus- schuss und im Plenum debattieren können. Ich sehe hier schließlich die vertraglichen Vereinbarungen. Das Ge- keine ideologischen Aufhänger, die dazu führen könnten, setz gilt für Verträge, die die Überlassung von Wohnraum dass wir hier in parteipolitisches Gezänk verfallen. mit Pflege- oder Betreuungsleistungen verbinden. Der (B) Anwendungsbereich des Gesetzes ist daher nicht auf (D) Mit dem Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz Heime beschränkt, ebenso werden auch neue Wohn- und (WBVG) wollen wir den Schutz älterer, pflegebedürftiger Betreuungsformen erfasst. und behinderter Menschen stärken. Das nun vorgelegte Gesetz soll vor Benachteiligung bei Verträgen, die für die Ausgenommen sind Verträge, bei denen neben dem Überlassung von Wohnraum mit Pflege- oder Betreu- Wohnraum allgemeine Betreuungsleistungen wie die Ver- ungsleistungen geschlossen werden, schützen. Gerade im mittlung von Pflegeleistungen, Notruf- oder hauswirt- Alter, bei Pflegebedürftigkeit oder bei Behinderung schaftliche Versorgungsdienste angeboten werden. möchten die Menschen so selbstbestimmt und selbststän- dig wie möglich leben. Zudem haben sich die starren Im ursprünglichen Referentenentwurf, der auf einige Grenzen zwischen ambulant betreuten und stationären Kritik gestoßen war, fiel das klassische betreute Wohnen Wohnformen aufgelöst. Die Angebotsvielfalt wurde durch bzw. das Wohnen mit Service in den Anwendungsbereich die neuen Wohn- und Betreuungsformen viel größer. des Gesetzes. Dies hätte dazu geführt, dass Wohnungsun- Gleichzeitig sind die Inhalte der Angebote, wie zum Bei- ternehmen zu Heimbetreibern geworden wären, mit der spiel beim „Betreuten Wohnen“, häufig unklar. Im Koali- Folge, dass dies praktisch das Aus für Seniorenwohn- tionsvertrag haben wir uns dafür ausgesprochen, neue anlagen bedeutet hätte, die bisher nicht vom Heimgesetz Wohn- und Betreuungskonzepte zu unterstützen und die erfasst wurden. Die Präzisierung des Anwendungsbe- Widersprüche zwischen Heimrecht und den Vorschriften reichs wird die in Deutschland dringend notwendigen In- des SGB XI zu beseitigen. Der jetzt vorgelegte Gesetzent- vestitionen in den Neu- und Umbau von seniorengerech- wurf greift diese Forderungen auf. ten Wohnungen weiter zunehmen lassen. Bis 2020 werden zusätzlich noch 800 000 altengerechte Wohnungen benö- Älteren Menschen, und nur diese leben in der Regel in tigt. Heimen bzw. in Pflegeeinrichtungen, fehlt oft das Wissen und die Erfahrung, um als gleichberechtigte Verhand- Ich selbst habe zum Referentenentwurf eine Veranstal- lungs- und Vertragspartner aufzutreten. Das WBVG si- tung in meinem Wahlkreis Esslingen durchgeführt und chert den Verbraucherschutz für die Bewohnerinnen und Heimbetreiber, Heimaufsicht und Heimbeiräte eingela- Bewohner von Pflegeeinrichtungen, es stärkt aber auch den. Neben dem Anwendungsbereich wurden auch noch den Schutz für diejenigen, die sich für eine neue Wohn- einige andere Punkte kritisiert, die mittlerweile im Ge- und Betreuungsform entscheiden. setzentwurf nachgebessert wurden. So wurden die vorver- traglichen Informationspflichten so gefasst, dass den Zu den wichtigsten Vorschriften des Wohn- und Betreu- Leistungskomplexen nach dem SGB XI und den Rahmen- ungsvertragsgesetzes gehören: bedingungen bei Anspruch auf Sozialhilfe stärker Rech-

Zu Protokoll gegebene Reden 23270 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Markus Grübel (A) nung getragen wird. Die Beschränkung der Nachholung zweifelt. Wenn wir nicht aufpassen und der Bund nicht (C) des schriftlichen Vertragsabschlusses auf zwei Wochen handelt, gibt es in Zukunft nicht nur einen Flickenteppich wurde aufgehoben. Eine Harmonisierung mit den Vor- bei den ordnungsrechtlichen Regelungen des Heimrechts, schriften des SGB XI und SGB XII erfolgt hinsichtlich sondern auch ein undurchschaubares Gestrüpp von ver- vertraglicher Vereinbarungen über die Generalklausel tragsrechtlichen Regelungen für die pflegebedürftigen des § 15 WBVG. Das zeigt, es sind bereits Verbesserungen Verbraucher bzw. ihre Angehörigen. gegenüber dem Referentenentwurf erreicht worden. Es liegt jetzt an uns Fachpolitikern, im Ausschuss und aus Die Große Koalition versucht nun, das Beste aus die- den Ergebnissen der Anhörung das Beste zu machen und ser Situation zu machen. Wir sind der Auffassung, dass das Gesetz in Detailfragen noch nachzujustieren. die verbraucherschutzrechtlichen Regelungen im Heim- recht keine Ländersache sind und nach der Rechtssyste- Wir haben es hier jedoch mit einer sehr trockenen und matik allein dem Bund die Gesetzgebungskompetenz zum Teil hoch komplexen Materie des Zivilrechts zu tun, zusteht. Wir haben jetzt mit dem WBVG einen Gesetzent- bei der sich in Detailfragen manchmal nur noch speziali- wurf vorgelegt, der sich sehen lassen kann. sierte Rechtsanwälte auskennen. Dabei dürfen wir das zentrale Ziel nicht aus dem Auge verlieren: mehr Ver- Das Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz ist ein Ver- braucherschutz für die Seniorinnen und Senioren, aber braucherschutzgesetz, das älteren Menschen und pflege- nicht zulasten der Anbieter und vor allem nicht mehr oder betreuungsbedürftigen Personen sowie behinderten Bürokratie. Es darf keinen „Überschutz“ geben. Die Volljährigen einen besonderen Verbraucherschutz ein- Heimverträge müssen verständlich und möglichst auch räumt. Durch passgenaue zivilrechtliche Regelungen er- nicht zu lang gefasst sein. Ich weiß, wovon ich spreche, halten diese Personengruppe – die einen besonderen als Notar habe ich oft genug diese Erfahrung gemacht. Schutzbedarf hat, weil sie besonders vulnerabel ist – und Heimverträge mit 20 oder 30 Seiten sollten tunlichst ver- die jeweiligen Anbieter vergleichbar einem Mietvertrag mieden werden und nicht eine Folge des Gesetzes sein. eine deutschlandweit einheitliche vertragliche Grund- lage für die Überlassung von Wohnraum und die gleich- Das Gesetz soll zum 1. September 2009 in Kraft treten. zeitige Erbringung von Pflege- oder Betreuungsleistun- Eine Übergangsvorschrift stellt sicher, dass die Neurege- gen. lung erst sechs Monate nach ihrem Inkrafttreten Anwen- dung auf Verträge findet, die nach dem bisherigen Heim- Das Ziel unseres Gesetzes ist, die Selbstständigkeit recht abgeschlossen wurden. Für andere Altverträge wie und die Selbstbestimmung auch bei besonderem Hilfebe- zum Beispiel Miet- und Dienstverträge im Bereich des be- darf zu sichern, den pflege- oder betreuungsbedürftigen treuten Wohnens gilt das Gesetz auch zukünftig nicht. Be- Menschen Wahlfreiheit bezüglich ihrer Versorgung zu (B) troffen sind circa 680 000 ältere Menschen, die in rund gewährleisten und so dazu beizutragen, dass diese Perso- (D) 10 500 Pflegeheimen leben. Daneben gelten die Regeln nengruppe selbstständig den Alltag meistern und selbst- auch für Menschen in ambulanten Betreuungsformen. bestimmt Entscheidungen bezüglich ihrer Unterbringung Insgesamt ist mit jährlich circa 300 000 Vertrags- und der benötigten Leistungen treffen kann. Das wird abschlüssen zu rechnen. nicht in wirklich allen Fällen möglich sein, aber der Ge- setzentwurf ist zumindest ein Beitrag zu mehr selbststän- diger Teilhabe einer Personengruppe, die bei rechtlich Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): komplexen Entscheidungen häufig überfordert ist. Denn Die Föderalismusreform vor fast zwei Jahren hat diese Verträge müssen häufig in schwierigen Lebenspha- Nachwirkungen für den Ausschuss Familie, Senioren, sen und akuter Bedarfslage unter großem Zeitdruck ab- Frauen und Jugend: Die Koalitionsfraktionen bringen geschlossen werden. Die Verträge müssen diese Gruppe heute in erster Lesung als Paralleleinbringung einen Ge- so weit wie möglich vor Übervorteilung schützen. setzentwurf zu Regelung von Verträgen über Wohnraum mit Pflege- oder Betreuungsleistungen, das sogenannte Zum Aufbau des komplizierten Gesetzeswerkes: Das WBVG-E, in den Deutschen Bundestag ein. Gesetz ist ein sogenanntes Artikelgesetz und enthält vor allem natürlich das neue Wohn- und Betreuungsvertrags- Wie einige von Ihnen wissen, war ich eine entschie- gesetz, das die früheren zivilrechtlichen Regelungen des dene Gegnerin der Verlagerung des Heimrechts auf die Heimgesetzes, also des Heimvertragsrechtes ablöst. Da- Länder. Wie ist der derzeitige Sachstand? Zwar hält sich rüber hinaus enthält es Folgeänderungen für die Pflege- die Mehrheit der Bundesländer noch mit einer Entwick- versicherung und die Sozialhilfe sowie das Inkrafttreten lung eines eigenen Heimgesetzes zurück. Das alte Heim- des Gesetzes zum 1. September 2009. gesetz behält dadurch in diesen Bundesländern seine Gültigkeit, wobei wir zugeben müssen, dass es mit seiner Bewährte zivilrechtliche Regelungen des bisherigen Beschränkung auf das Heim künftig den modernen Wohn- Heimgesetzes werden in dem neuen Gesetz übernommen. formen zum Beispiel von pflegebedürftigen Senioren Neu geregelt bzw. ergänzt werden Vorschriften über vor- nicht mehr wirklich gerecht wird. Zur Kenntnis nehmen vertragliche Informationspflichten, die wichtige Verbrau- müssen wir auch, dass mittlerweile drei unionsgeführte cherschutzregelungen enthalten, zudem gibt es Verbesse- Bundesländer – Bayern, Baden-Württemberg und Nord- rungen beim Vertragsinhalt, der Vertragsanpassung, der rhein-Westfalen – ein eigenes Heimrecht beschlossen Entgelterhöhung und bei der Kündigung eines entspre- haben. In diesem wurde durch eigene entsprechende Re- chenden Vertrages. In den §§ 3 und 6 des WBVG werden gelungen das Recht des Bundes, die zivilrechtlichen Re- Informationspflichten vor Vertragsschluss und verbes- gelungen des Heimrechts weiterhin zu gestalten, ange- serte Regelungen zur Vertragstransparenz aufgenom-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23271

Angelika Graf (Rosenheim) (A) men; auch werden Regelungen zum Schutz vor benachtei- Man kann die Rückübertragung des Heimrechts auf (C) ligenden Vertragsklauseln getroffen. die Länder als Arbeitsbeschaffungsprogramm für Juris- ten bezeichnen, da viele juristische Unklarheiten bleiben. Bereits bei der Diskussion um die Verlagerung der Ge- Die FDP hat 2006 bei der Grundgesetzänderung einen setzgebungskompetenz an die Länder war uns klar, dass Änderungsantrag – Drucksache 16/813 – in den Bundes- ein novelliertes Heimgesetz oder ein Heimvertragsgesetz, tag eingebracht, um dies noch zu verhindern. Wir und an- wie es uns jetzt vorliegt, mit dem SGB XI, also der Pfle- dere Fraktionen dieses Hauses haben diese Entwicklung geversicherung, harmonisiert werden muss. Und wir ha- von Anfang an abgelehnt. Wie weitreichend die Folgen ben uns das nicht leicht gemacht. Besonders bezüglich sein werden, ist immer noch nicht absehbar. Besonders der Regelungen für den bedauerlichen Fall des Todes ei- Befürchtungen wegen der drohenden Absenkung der nes Heimbewohners gab es bei unseren internen Diskus- Fachkraftquote, noch 50 Prozent, scheinen berechtigt, da sionen noch einigen Klärungsbedarf. § 15 WBVG und einzelne Bundesländer dies bereits thematisiert haben. weitere Einzelregelungen zielen nun auf diese Harmoni- Solange im jeweiligen Bundesland noch kein neues Län- sierung mit den sozialrechtlichen Vorschriften, worüber derheimrecht verabschiedet wurde, gilt weiterhin das ich sehr froh bin. Und auch Regelungen zur Berücksich- Bundesheimrecht. tigung ersparter Aufwendungen für Zeiten der Abwesen- heit des Verbrauchers und zur Fortgeltung des Vertrags Das Heimrecht kann in seiner bestehenden Form nicht bei Tod des Verbrauchers dienen der Harmonisierung mit vollständig in Länderkompetenz übertragen werden. Das Vorschriften der Sozialen Pflegeversicherung. Und wir war auch das Ergebnis der Expertenanhörung im Deut- wollen nicht, dass die vielen neuen Wohnformen von schen Bundestag im Zuge der Föderalismuskommission. Senioren, die seit einigen Jahren so vielfältig entstehen Alle zivilrechtlichen Regelungsbereiche, wie die Regelun- und sich etablieren, durch die neuen Regelungen und gen zum Heimvertrag, gehören zur Bundeskompetenz. neue bürokratische Hürden gefährdet sind. Dies gilt auch für die Regelungen zum finanziellen Schutz der Heimbewohner und zu deren Mitwirkung. Hier darf Daher wird die SPD bei den weiteren Beratungen es keine untereinander abweichenden Regelungen auf – zum Beispiel der gestern beschlossen Anhörung – da- Länderebene geben. Eine solche Zersplitterung liegt we- rauf achten, dass diese Maßgaben bei dem neuen Wohn- der im Interesse des Bürgers noch in dem des Zusammen- und Betreuungsvertragsgesetz auch gezielt berücksich- halts in der Gesellschaft. Das vorliegende Gesetz regelt tigt werden. also die Bereiche der §§ 5 bis 9 und § 14 des alten Heim- gesetzes, deren Neuregelung gemäß der durch die Föde- ralismusreform veränderten Gesetzgebungszuständigkei- Sibylle Laurischk (FDP): ten erforderlich geworden ist. (B) Das Heimrecht befindet sich in einem Umbruch. Mit (D) Inkrafttreten der Föderalismusreform 2006 wurde die Aufgrund veränderter Familienstrukturen, zunehmen- Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes im Heimrecht der Mobilität und der Vereinzelung von Menschen nimmt trotz heftiger Kritik von vielen Fachleuten und Verbänden die Gruppe der sogenannten modernen Pflegebedürfti- auf die Bundesländer übertragen. gen zu, die in ihrem Wohnumfeld kein stabiles Unterstüt- zungsnetz haben. Für sie und auch für die Gruppe der Das im Jahre 1974 in Kraft getretene Heimgesetz schwerstpflegebedürftigen alten und der schwerst- und wurde zum damaligen Zeitpunkt auf Anregung der Bun- schwerstmehrfachgeschädigten behinderten Menschen desländer geschaffen und als entscheidender Schritt be- bleibt bisher häufig nur eine Unterbringung im Heim. grüßt, die weithin zersplitterten landesrechtlichen Dies wird dazu führen, dass die Zahl der Heimplätze in Zuständigkeiten für Heime grundsätzlich und bundes- den nächsten Jahren kontinuierlich steigen wird, wenn einheitlich zum Schutz der Bewohner zu sichern und mit nicht vehement gegengesteuert wird. der Heimmindestbauverordnung einen Standard für die Länder wie Schweden zeigen, dass Menschen mit ei- baulichen Voraussetzungen zu schaffen. Noch immer ist nem Unterstützungsbedarf auch ohne Heime zurechtkom- das Heimgesetz ein Schutzgesetz. Darüber hinaus sind in men können. Dort gibt es vielfältige Unterstützungsange- das Heimrecht auch Qualitätselemente integriert – Heim- bote, die den betroffenen Bürgern ein normales Leben im mindestbauverordnung, Heimpersonalverordnung –, die Rahmen ihrer Verhältnisse ermöglichen. Ich will nicht be- weit über eine Gefahrenabwehr hinausgehen. Das Heim- streiten, dass ich auch diesen Weg für schwierig halte. recht hat eine besonders starke Verzahnung mit anderen Dennoch: Vorfahrt für ambulante Versorgung. Regelungen in anderen Rechtsbereichen, unter anderem dem SGB XI. Es hat also als Bundesgesetz ganz wesent- Den Liberalen ist es daher ein besonderes Anliegen, lich dazu beigetragen, die Rahmenbedingungen für Men- dass bei der Neugestaltung der zivilrechtlichen Vorschrif- schen mit Hilfe-, Pflege- und Betreuungsbedarf grund- ten größte Sorgfalt herrscht. Gerade bei der Definition sätzlich zu verbessern. Es hat im Zeitraum seines des Anwendungsbereichs des neuen Wohn- und Betreu- Bestehens zahlreiche Nachbesserungen erfahren, eine ungsvertragsgesetzes muss sichergestellt sein, dass Entwicklung, die den zu schaffenden Ländergesetzen erst Vorkommnisse wie die behördliche Bewertung einer noch bevorsteht. Meines Erachtens ist das eine eher un- Seniorenwohngemeinschaft als Heim endgültig der Ver- günstige Entwicklung für die Betroffenen und wohl auch gangenheit angehören. Mich erfüllen daher Meldungen ein Grund, warum erst wenige Bundesländer, wie zum mit Sorge, die diese Zielsetzung nur teilweise erreicht se- Beispiel Baden-Württemberg, ein eigenes Landesheimge- hen, da die verwendeten Rechtsbegriffe zu unbestimmt setz geschaffen haben. seien. Zwar finden sich in der Gesetzesbegründung Er-

Zu Protokoll gegebene Reden 23272 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Sibylle Laurischk (A) läuterungen der Begriffe, dies ist aber nicht ausreichend. restlichen Paragrafen wurden bzw. werden in den Län- (C) Ich richte daher die dringende Bitte an die Bundesregie- dern zu eigenen Heimgesetzen verarbeitet. Nimmt man rung, mögliche Änderungsanregungen aus den Reihen das alte Heimgesetz, wird deutlich, dass sein Auseinan- der Sachverständigen auch tatsächlich ernst zu nehmen derreißen die Sache für die Betroffenen kaum leichter und und umzusetzen. verständlicher machen wird. Mit mindestens zwei Gesetzen sowie darauf aufbauenden Verordnungen und Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Rechtsprechungen werden sich die „Verbraucher“ und „Unternehmer“ (im alten Heimrecht heißen sie noch „die Die UN-Behindertenrechtskonvention ist seit heute in Bewohnerin/der Bewohner“ und „der Träger“) befassen Kraft. Darüber freue ich mich, und nimmt man die vielen bzw. auseinandersetzen müssen. Presseerklärungen von heute zur Hand, scheinen sich noch mehr darüber zu freuen. Obwohl die Vorgaben die- Gestärkt werden sollen mit dem neuen Gesetz die ser Konvention seit heute in Deutschland für Politik, Ver- Rechte der Verbraucher. Das begrüßt und unterstützt Die waltung und für die Gerichte verbindliches Recht sind, Linke. Gerade die zumindest teilweise Trennung von Leis- werden die Betroffenen wohl leider noch sehr lange war- tungen, die das Wohnen betreffen, von den verschiedenen ten müssen, bis diese Konvention in ihrem wirklichen Le- Betreuungsleistungen ist überfällig und sinnvoll. Damit ben greift. Die Beauftragte der Bundesregierung für die ist zumindest theoretisch möglich, Pflege- oder Versor- Belange behinderter Menschen forderte heute in ihrer gungsleistungen nicht vom Heimbetreiber, sondern von Presseerklärung dazu auf, die Impulse dieser Behinder- externen Anbietern zu beziehen. Ich hoffe, dass mit dieser tenrechtskonvention ganz konkret für die Gestaltung ei- Wahlmöglichkeit auch mehr Qualität bei den Leistungen ner inklusiven Gesellschaft zu nutzen. Allerdings hat auch kommen wird. sie schon ein bisschen kapituliert. Erst „In der kommen- den Legislaturperiode muss es einen detaillierten Offen bleiben allerdings weiterhin eine Reihe von Aktionsplan zur Umsetzung der Ziele der Konvention ge- Punkten, die von den in Heimen und ähnlichen Einrich- ben. Ein solcher Plan muss in enger Zusammenarbeit mit tungen lebenden Menschen seit langem gefordert werden. behinderten Menschen und ihren Interessenverbänden Dazu gehören das Recht auf eigene Schlüssel, das Recht entstehen“, so Evers-Meyer. Obwohl die Bundesrepublik auf geschlechtergleiche Assistenz, akzeptable Regelun- Deutschland zu den Erstunterzeichnern gehörte und bei gen zu Haustieren, uneingeschränktes Besuchsrecht, dem entsprechenden Willen schon längst Bundesregie- Kontaktmöglichkeiten zum Heimbeirat oder nachteils- rung, Behindertenorganisationen und andere gesell- freie Beschwerdemöglichkeiten für angestellte Pflege- schaftliche Kräfte an einem Tisch sitzen könnten, um ei- kräfte. Notwendig ist auch eine verbindliche bundesweite nen Aktionsplan zu erarbeiten, wird nun auf frühestens Fachkräftequote. Vielleicht wird einiges davon in den (B) 2010 vertröstet. Landesgesetzen vernünftig geregelt. Vielleicht? (D) Art. 19 der Behindertenrechtskonvention verpflichtet Offen bleibt ebenfalls die Einbeziehung bzw. Abgren- Bund und Länder unter anderem zu gewährleisten, zung zu betreuten Wohnformen. Insofern unterstützen wir a) dass Menschen mit Behinderungen „die Möglichkeit den Antrag der Grünen. haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entschei- Die Rechte der Bewohnerinnen und Bewohner zu stär- den, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet ken, wäre auch ohne Föderalismusreform möglich gewe- sind, in besonderen Wohnformen zu leben; b) Menschen sen. Aus den in Bundeskompetenz verbliebenen sechs mit Behinderungen Zugang zu einer Reihe von gemeinde- Paragrafen werden im neuen Gesetz 17 Paragrafen, und nahen Unterstützungsdiensten zu Hause und in Einrich- ich bezweifle, dass die neuen Heimgesetze der Länder tungen sowie zu sonstigen gemeindenahen Unterstüt- kürzer und auch verständlicher werden. Insofern also: zungsdiensten haben, einschließlich der persönlichen Ich bin auf die Meinung der Sachverständigen bei der An- Assistenz, die zur Unterstützung des Lebens in der Ge- hörung am 22. April gespannt. meinschaft und der Einbeziehung in die Gemeinschaft so- wie zur Verhinderung von Isolation und Absonderung von An der zentralen Frage – Warum will die große Mehr- der Gemeinschaft notwendig ist“. Daran muss sich ab so- heit der Menschen im Alter, bei Pflegebedarf oder der fort jede Heimgesetzgebung messen. Insofern möchte ich Menschen mit Behinderungen nicht in ein Heim? – mo- hier noch einmal für Die Linke ausdrücklich betonen, gelt sich die Bundesregierung auch mit diesem Gesetzent- dass die Veränderungen bei der Zuständigkeit im Heim- wurf vorbei. Insofern bleibt der für diese Wahlperiode an- recht mit der 2006 in Kraft getretenen Föderalismus- gekündigte Paradigmenwechsel leeres Gerede. reform der falsche Weg waren. Die Kleinstaaterei bringt für Heimbewohnerinnen und Bewohner keine Verbesse- Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rungen. Auch solch katastrophale Zustände, dass ein jun- NEN): ger Mann mit Behinderungen wie Matthias Grombach aus Sachsen-Anhalt seit Jahren gegen seinen Willen in ei- Nun wird zeitlich Druck gemacht, nachdem es so lange nem Heim leben muss, gehören trotz UN-Behinderten- hat auf sich warten lassen – die Neuregelung der zivil- rechtskonvention und Föderalismusreform zum Alltag. rechtlichen Vorschriften des Heimgesetzes nach der Fö- deralismusreform. Einigen Bundesländern war diese Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Koalition Wartezeit deutlich zu lang. Nach der beschlossenen Fö- wird nun der Versuch unternommen, aus den in Bundes- deralismusreform sind sie recht zeitnah dazu übergegan- kompetenz verbliebenen §§ 5 bis 9 und 14 des Heimgeset- gen, ihre nun ordnungsrechtliche Kompetenzrolle wahr- zes ein neues, in sich schlüssiges Gesetz zu machen. Die zunehmen. Herausgekommen sind dabei klangvolle

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23273

Elisabeth Scharfenberg (A) Gesetzesvorhaben wie beispielsweise das am 3. Juli 2008 alt sind und mehrfache gesundheitliche Einschränkungen (C) durch den Bayerischen Landtag beschlossene Gesetz zur aufzeigen – und einen damit einhergehenden Hilfe- und Regelung der Pflege-, Betreuungs- und Wohnqualität im Unterstützungsbedarf. Eigentlich genau die Gruppe, die Alter und bei Behinderung (Pflege- und Wohnqualitätsge- eben nicht mehr die selbstbestimmten Nutzer und Nutze- setz – PfleWoqG). rinnen sind, für die sie gehalten werden. Und genau hier beißt sich die Katze in den Schwanz: Fehlende Transparenz, fehlende Mindeststandards, Für die Länder war an einem bestimmten Punkt nicht fehlender Rechtsschutz und fehlende Verbraucherorien- mehr klar, für was sie zuständig sind und was vom Bund tierung führen dazu, dass sich viele Inanspruchnehmer zu regeln ist. Damit hat die Föderalismusreform das von des betreuten Wohnens betrogen und in die Irre geführt uns vorausgesagte und befürchtete Chaos zutage ge- fühlen – weil sie eine Leistung oft für viel Geld eingekauft bracht. Deshalb überrascht es uns nicht, dass durch die haben, die nicht hält, was sie verspricht. Dies ist auch die Länder Ausführungen vorweggenommen wurden, die Realität des betreuten Wohnens – es gibt hier Menschen, jetzt erst durch das „Neue Heimgesetz“ nach der Föde- die in einer völlig unpassenden Wohnform landen und ralismusreform geregelt werden: doppelte, ja dreifache vorher gar nicht wussten, auf was sie sich hier einlassen. Arbeit, weil die Länder ihre teilweise verabschiedeten So zum Beispiel bemerkten Bewohner, durch den bei- Regelungen nun noch einmal überdenken und anpassen ßenden Geruch im Hause alarmiert, dass die Leiche des müssen. 73-jährigen Nachbarn in der Katholischen Betreuten Se- Verehrte Kolleginnen und Kollegen von Union und niorenwohnanlage bei Hamburg bereits seit zehn Tagen SPD, was nun einmal lange währt, wird schlussendlich unentdeckt in einer Wohnung lag – betreutes Wohnen und gut, diesen Eindruck konnte ich bei der Sichtung des Re- keiner da, keine Betreuungsperson, nicht einmal ein ferentenentwurfs noch teilen. So gelang es dem Referen- Hausmeister. tenentwurf in seiner neuen Denkweise, aus Sicht des Mit Ihrer Entscheidung, das betreute Wohnen aus dem Verbraucherschutzes innovative Wege zu gehen und kon- Gesetzentwurf zu streichen, überlassen Sie Menschen mit sequent außer den stationären Einrichtungen auch Wohn- einem besonderen Schutzbedarf schutzlos dem freien gruppen und betreute Wohnformen mitzudenken. Und nun Markt. Verantwortungslose Anbieter und alle, die diesen liegt uns ein Gesetzesentwurf vor, der sich von der begrü- Markt nutzen und minderwertige Ware anbieten, tummeln ßenswerten und überraschenderweise neuen Denkweise sich weiterhin auf dieser Wohnwiese und kein Gesetz weit verabschiedet und unsinnige Trennungen vornimmt, die und breit, das ihnen Einhalt gebietet. Für mich eine inhu- meines Erachtens sachlich nicht haltbar sind. mane Entscheidung, die mir nochmals vor Augen führt, Alle Angebote, die Wohnraum überlassen und außer- dass Ihnen Lobbyisten wichtiger sind als die Bürgerinnen (B) dem Pflege- und andere Betreuungsleistungen vorhalten und Bürger. (D) oder vermitteln – und dies betrifft die klassischen Formen des betreuten Wohnens –, sind gestrichen: nicht ein einzi- Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der ger Passus findet Anwendung. Der überwiegende Anteil Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Ju- der Wohngruppenangebote unterliegt voll und ganz und gend: ohne Differenzierung der zivilrechtlichen Regelung des Wohn- und Betreuungsvertragsgesetzes. Was dies für die Zu Beginn dieser Legislaturperiode haben CDU, CSU Weiterentwicklung des alternativen Wohnangebots be- und SPD im Koalitionsvertrag gemeinsam eine Novellie- deutet, ist noch nicht ganz abzusehen. rung des Heimgesetzes vereinbart. Mit der Föderalismus- reform 2006 hat sich der Rahmen für die beabsichtigte Das verstehe, wer will – entweder wird ein Gesetz er- Neuregelung geändert. Die Länder können jetzt den ord- lassen, in dem der Verbraucherschutz oberste Priorität nungsrechtlichen Teil des Heimgesetzes durch eigene hat, oder wir liberalisieren den Markt und überlassen al- heimrechtliche Vorschriften ersetzen. Der Bund ist wei- les und jedem sich selbst. Wenn etwas sachlich keinen terhin für den zivilrechtlichen Teil des Heimgesetzes zu- Sinn ergibt, aber politisch trotzdem von der Koalition ständig. durchgesetzt wird, verbirgt sich dahinter wie so oft in die- ser Legislatur eine erfolgreiche Einflussnahme von Lob- Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Neuregelung byverbänden, wie in diesem Falle von Anbietern des be- der zivilrechtlichen Vorschriften des Heimgesetzes ma- treuten Wohnens. Die Koalition hat mit diesen Anbietern chen wir von dieser Gesetzgebungskompetenz Gebrauch besonderes Mitleid, denn sie waren und sind es bisher und entwickeln die vorhandenen Regelungen zu einem nicht gewohnt, dass man ihnen rechtliche Vorschriften modernen Verbraucherschutzgesetz weiter. Dazu werden macht. Sie sahen sich durch den Referentenentwurf in ih- die den Heimvertrag betreffenden Vorschriften des Heim- rer Existenz bedroht, weil man ihnen ein Mindestmaß an gesetzes durch ein neues Wohn- und Betreuungsvertrags- Leistungstransparenz, Qualität und Verbraucherorientie- gesetz abgelöst. rung abverlangte. Eine wirklich unzumutbare Forde- Wir wollen ältere Menschen sowie pflegebedürftige rung! oder behinderte volljährige Menschen vor Benachteili- Leider ist die Lobby der Nutzerinnen und Nutzer des gungen bei Verträgen schützen, in denen die Überlassung betreuten Wohnens nicht schlagkräftig genug, um ihre In- von Wohnraum mit der Erbringung von Pflege- oder teressen in dem Gesetzgebungsverfahren zum Tragen zu Betreuungsleistungen verknüpft ist. Wir wollen dazu bringen. Dies liegt daran, dass die meisten bei Einzug in beitragen, dass der in der Charta der Rechte hilfe- und eine betreute Wohnform bereits zwischen 75 und 79 Jahre pflegebedürftiger Menschen verankerte Anspruch auf

Zu Protokoll gegebene Reden 23274 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Parl. Staatssekretär Dr. Hermann Kues (A) Selbstbestimmung auch im Zivilrecht die notwendige Ab- Das Gesetz soll zum 1. September 2009 in Kraft treten. (C) sicherung erfährt. Für vor diesem Zeitpunkt geschlossene Heimverträge ist eine Übergangsvorschrift vorgesehen. Für andere Altver- Für die Verbraucherinnen und Verbraucher geht es bei träge gilt das Gesetz nicht. Hier haben sich die Beteilig- diesen Verträgen vielfach um Entscheidungen, die trotz ten auf eine bestimmte Rechtslage eingestellt, die nach- ihrer weitreichenden Bedeutung schnell getroffen werden träglich nicht mehr verändert werden soll. müssen. Es geht um die Veränderung des Lebensmittel- punkts und die Absicherung von Betreuung und Pflege. Mit dem Gesetz können wir noch in dieser Legislatur- Das notwendige Wissen und die erforderliche Erfahrung, periode einen wichtigen Beitrag zum Schutz älterer, pfle- um die komplexen Angebote und Vertragsgestaltungen gebedürftiger und behinderter Menschen leisten und überschauen zu können, ist jedoch häufig nicht gegeben. diese zugleich in ihrem Anspruch auf Selbstbestimmung stärken. Hier setzen wir mit dem Gesetz an. Wir schaffen Son- derregelungen gegenüber dem Bürgerlichen Gesetzbuch, die auf die besondere Situation dieser Menschen zuge- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: schnitten sind: Vorvertragliche Informationspflichten Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf und entsprechende Transparenzanforderungen an den den Drucksachen 16/12409 und 16/12309 an die in der Vertrag sichern die Entscheidungsfreiheit der Verbrau- Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. cherinnen und Verbraucher. Mindestanforderungen an Sie sind damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Leistungen des Unternehmers sowie die Angemessen- die Überweisung so beschlossen. heit des Entgelts schützen vor Benachteiligung bei der Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 22 a Ausgestaltung der Vertragsgegenstände. Besondere An- und b: forderungen an Entgelterhöhung und Vertragsanpassung bei Änderung des Pflege- oder Betreuungsbedarfs be- a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ulla rücksichtigen die langfristige Bindung der Verbrauche- Jelpke, Wolfgang Nešković, Sevim Dağdelen, rinnen und Verbraucher. Kündigungsvorschriften und das weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE Verbot abweichender Vereinbarungen zulasten des Ver- LINKE eingebrachten Entwurfs eines … Geset- brauchers sichern das erzielte Schutzniveau. Dabei be- zes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes rücksichtigen wir an jedem Punkt die notwendige Harmo- (Änderung der Altfallregelung) nisierung mit den sozialleistungsrechtlichen Regelungen – Drucksache 16/12415 – insbesondere der Sozialen Pflegeversicherung. Überweisungsvorschlag: Anders als das bisherige Heimgesetz knüpft die Neure- Innenausschuss (f) (B) Rechtsausschuss (D) gelung nicht mehr an bestimmte Wohn- oder Einrich- Ausschuss für Arbeit und Soziales tungsformen an. Entscheidend sind allein die konkreten Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Vertragsinhalte. Damit wird der Anwendungsbereich des Gesetzes für zukünftige Entwicklungen geöffnet und ein b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef klarer rechtlicher Rahmen auch für neue Wohn- und Be- Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Birgitt treuungsformen geschaffen. Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Entwicklung neuer Wohn- und Betreuungsformen ist eine Bereicherung. Sie ermöglicht hilfebedürftigen Verlängerung der Frist für die gesetzliche Alt- Menschen, ein für sie passendes Angebot zu finden und fallregelung ihre individuellen Wünsche und Vorstellungen zu ver- – Drucksache 16/12434 – wirklichen. Das wollen wir unterstützen. Gleichzeitig Überweisungsvorschlag: sind die Inhalte der neu entstehenden Angebote aber viel- Innenausschuss (f) fach noch unklar. Gerade hier besteht besonderer Schutz- Ausschuss für Arbeit und Soziales bedarf. Deshalb beschränkt sich das Gesetz nicht auf den Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Verbraucherschutz von Menschen in Heimen oder ande- Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die ren stationären Pflegeeinrichtungen. Es ist bei entspre- Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die chender Vertragsgestaltung vielmehr auch auf das soge- Reden der Kolleginnen und Kollegen Grindel, Veit, nannte betreute Wohnen und andere neue Wohn- und Wolff (Rems-Murr), Jelpke und Winkler. Betreuungsformen anwendbar. Es trägt durch seine Schutzvorschriften dazu bei, dass das Vertrauen der Ver- Reinhard Grindel (CDU/CSU): braucherinnen und Verbraucher in diese Angebote ge- An den Beginn der Debatte gehört die Feststellung, stärkt wird. dass die gesetzliche Altfallregelung und die Bleiberechts- Nicht erfasst wird das sogenannte Service-Wohnen, regelung der Innenministerkonferenz wesentlich erfolg- bei dem neben dem Wohnraum ausschließlich allgemeine reicher gewesen sind, als das von der Opposition im Vor- Betreuungsleistungen wie Notrufdienste oder Leistungen feld vermutet worden ist und bis zum heutigen Tag leider der hauswirtschaftlichen Versorgung Gegenstand der behauptet wird. Insgesamt ist bis zum Stichtag 30. Sep- vertraglichen Vereinbarung sind. Diese Angebote dienen tember 2008 rund 52 000 bisher Geduldeten eine Aufent- nicht in gleichem Maße der Bewältigung eines durch haltserlaubnis nach diesen beiden Regelungen erteilt Alter, Pflegebedürftigkeit oder Behinderung bedingten worden. Die heutige Zahl dürfte bei rund 60 000 Perso- Hilfebedarfs. nen liegen, die einen abgesicherten Aufenthaltsstatus Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23275

Reinhard Grindel (A) haben. Das ist weit mehr als bei jeder anderen vergleich- higkeit nachzuweisen, den Lebensunterhalt selbst bestrei- (C) baren Regelung dieser Art. Das ist eine großartige huma- ten zu können. nitäre Leistung, bei der der Staat Integrationsleistungen der geduldeten Ausländer anerkannt hat und in einer Nur muss dazu Folgendes gesehen werden: Die augen- Situation hilft, bei der eine sofortige Abschiebung blickliche Lage auf dem Arbeitsmarkt ist – Gott sei schlechthin nicht vertretbar wäre. Dank – immer noch so, dass wir deutlich weniger Ar- beitslose haben als zu dem Zeitpunkt, als die Bleibe- Aber angesichts des Umstandes, dass hier gerade die rechts- bzw. Altfallregelung beschlossen worden ist. Inso- Linkspartei sich aufplustert, haltlose Unterstellungen fern vertreten wir als CDU/CSU die Auffassung, dass es verbreitet und diesen Antrag zur Verlängerung der ge- im Augenblick keinen Bedarf für hektische Aktivitäten des setzlichen Fristen für die Altfallregelung stellt, lohnt es Gesetzgebers gibt. Wir sagen ausdrücklich zu, dass wir sich vielleicht, einfach einmal in die jeweiligen Bundes- die Lage auf dem Arbeitsmarkt im November sehr genau länder zu schauen, wer besonders intensiv von der Alt- beobachten werden. Sollte sich dann wirklich eine dra- fall- und Bleiberechtsregelung Gebrauch macht und wer matische Änderung der Lage ergeben, die zu unüber- hier besonders restriktiv vorgeht. Und da ist schon inte- windlichen Hürden für die Geduldeten führen würde, ressant, dass wir in Bayern, Baden-Württemberg, Nord- dann sind wir bereit, über eine zeitnahe Verlängerung der rhein-Westfalen oder Hessen, also in den Ländern, in Fristen im Aufenthaltsgesetz nachzudenken. Das kann denen Union und FDP die Verantwortung tragen, Ableh- man innerhalb weniger Wochen gesetzgeberisch auf den nungsquoten haben, die unter 10 Prozent liegen. Die mit Weg bringen, zumal es ja auch eine irrige Vorstellung ist, Abstand höchste Quote von Antragsablehnungen bzw. dass nun ab 2. Januar 2010 alle Geduldeten sofort abge- Anträgen, die immer noch nicht bearbeitet worden sind, schoben werden würden, wenn sie bis dahin nicht in die haben wir ausgerechnet in Berlin mit über 50 Prozent. Altfallregelung einbezogen wären. Insofern hat der Ge- Also genau da, wo die Linkspartei die politische Verant- setzgeber zu Beginn der nächsten Legislaturperiode ei- wortung trägt, wird besonders hartherzig und besonders nen hinreichenden zeitlichen Spielraum. schleppend mit den Anträgen der geduldeten Personen Aber ich will im Lichte der derzeitigen Arbeitsmarkt- umgegangen. Da kann ich nur sagen: Halten Sie sich mal lage, wo wir ja immer noch eine Vielzahl offener Stellen lieber zurück, hier im Bundestag äußerlich wohlfeile An- auch in Berufszweigen haben, die keine hohen Qualifika- träge zu stellen und maßlose Reden zu halten, und tun Sie tionsanforderungen stellen, wenn ich etwa an die Berei- lieber dort etwas, wo Sie zum Handeln in der Lage sind. che der Pflege oder des Einzelhandels denke, betonen, Die Linkspartei ist in dieser Frage – wie ja auch in vielen dass wir auch von den Geduldeten nicht den Druck neh- anderen, wo Sprüche und politisches Handeln weit aus- men dürfen, sich ganz engagiert um eine dauerhafte be- einanderklaffen – absolut unglaubwürdig! (B) rufliche Eingliederung zu bemühen. Was die Linkspartei (D) Dass in den Ländern sehr im Sinne der Prämierung und auch die Grünen hier vorschlagen, läuft im Kern auf von gelebter Integration und eben nicht engherzig über eine allgemeine Bleiberechtsregelung ohne Integrations- die Anträge entschieden wird, lässt sich an der hohen leistungen hinaus. Genau das haben wir nicht gewollt. Quote der positiv beschiedenen Anträge ablesen. Wir Wir wollten nach dem Motto „Fördern und Fordern“ mit wissen doch alle, dass viele Asylbewerber im Rahmen der der von uns getroffenen Gesetzesänderung einen Anreiz Verfahren – gerade bei der Erstantragstellung – nicht so schaffen: für ganz konkrete Schritte hin zu einer berufli- mitwirken, wie das nach den Buchstaben des Gesetzes chen Integration und zu einer schulischen Integration der vorgeschrieben wäre. Und wenn man die Gesetzesformu- Kinder. Das würde konterkariert, wenn wir den Anträgen lierung sehr buchstabengetreu auslegen würde, könnte der Grünen und der Linkspartei folgen würden. Deshalb das in vielen Fällen einer Einbeziehung in die Altfallre- lehnen wir sie ab. gelung entgegenstehen. Aber die Behörden in den Län- dern – und ich wiederhole, das sind in den meisten Fällen Rüdiger Veit (SPD): unionsregierte Länder – richten sich ganz offenbar an Als sich Union und SPD vor nunmehr dreieinhalb Jah- den konkreten Integrationsleistungen der Geduldeten ren zur Großen Koalition zusammentaten, schrieben sie aus. Und das ist auch richtig so. Wenn eine Familie sich sich bekanntermaßen folgenden Prüfauftrag in den Ko- durch eigener Hände Arbeit ernähren kann, wenn sie ihre alitionsvertrag: „Wir werden das Zuwanderungsgesetz Kinder erfolgreich auf die Schule schicken, wenn sie sich anhand der Anwendungspraxis evaluieren. Dabei soll in unsere Gesellschaft eingegliedert haben und dem Staat insbesondere auch überprüft werden, ob eine befriedi- nicht auf der Tasche liegen und wenn sie schon so lange gende Lösung des Problems der so genannten Kettendul- in Deutschland leben, dass eine Rückkehr in das Heimat- dungen erreicht worden ist.“ land kaum vertretbar wäre, dann wollen wir ihnen eine faire Chance für ein Leben in unserem Land geben. Und Ich erinnere daran, dass die rot-grüne Koalition mit ich wiederhole mit allem Nachdruck: Diese faire Chance dem Zuwanderungsgesetz die Duldung eigentlich gene- kriegen sie vor allem in Ländern, die von CDU und CSU rell abschaffen wollte. Dies ist damals jedoch am Wider- regiert werden. Insofern haben wir wahrlich keinen stand der CDU/CSU im Bundestag und Bundesrat ge- Nachholbedarf in Hinweisen, wie man humanitär mit scheitert. Im Ergebnis waren Ende des Jahres 2006 rund dem Problem umgeht, dass es wegen der außergewöhn- 180 000 Ausländer – darunter etwa 50 000 Kinder – le- lichen Verschlechterung der Lage auf dem Arbeitmarkt diglich im Besitz einer Duldung, das heißt, ihre Abschie- infolge der weltweiten Finanzmarktkrise jetzt vielleicht bung war nur ausgesetzt und die Betroffenen haben sozu- etwas schwerer ist, eine Beschäftigung und damit die Fä- sagen auf gepackten Koffern ohne jede vernünftige

Zu Protokoll gegebene Reden 23276 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Rüdiger Veit (A) Zukunftsperspektive hier in Deutschland gelebt, und zwar Interesse müssen wir gemeinsam diskutieren, um die Frist (C) Zigtausende von ihnen schon sechs bzw. acht oder noch des § 104 a Abs. 5 AufenthG zu verlängern, das heißt ih- mehr Jahre lang. nen noch mehr Zeit für die Arbeitssuche geben zu können. Um diesen Missstand zu beheben, verhandelte die Der Gesetzentwurf der Linken greift dies wie folgt auf: Große Koalition über eine gesetzliche Altfallregelung. Die Aufenthaltserlaubnisse sollen hiernach unabhängig Wir alle wissen, wie kontrovers sich die Verhandlungen von der Lebensunterhaltssicherung erteilt werden. Auf gestalteten. Doch wir wissen auch, dass wir am Ende ei- die Lebensunterhaltssicherung ganz zu verzichten, ist nen Kompromiss gefunden haben. Er mag in der Öffent- aber zu weitgehend und nicht durchsetzbar. Auch bei den lichkeit umstritten gewesen sein, und er mag den Bericht- Aufenthaltserlaubnissen zu anderen Zwecken, abgesehen erstattern auf beiden Seiten viele Zugeständnisse von einigen humanitären Titeln, wird nie ganz auf die Le- abverlangt haben. Doch letztlich zählt nur eines: Hat er bensunterhaltssicherung verzichtet. Deshalb empfehle den Menschen, die wir erreichen wollten, geholfen? Und ich, diesen Antrag abzulehnen. hier lautet die Antwort Ja. Ich habe selber gesagt, dass die Regelung des § 104 a des Aufenthaltsgesetzes dann Sachgerechter ist der Antrag von Bündnis 90/Die Grü- ein Erfolg ist, wenn wir mit ihr und dem IMK-Beschluss nen. Er fordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem mehr als 50 000 Menschen den Weg in die Aufenthalts- die Gültigkeit der Aufenthaltserlaubnis auf Probe über erlaubnis ebnen können. Die jüngste umfassende Auswer- die in § 104 a AufenthG genannte Frist hinaus angemes- tung aus dem September 2008 verdeutlicht, dass dieses sen verlängert wird. Auch aus der Sicht der SPD-Frak- Ziel erreicht worden ist. 52 977 ehemals Geduldete haben tion wäre ein sofortiges Handeln des Gesetzgebers drin- eine Aufenthaltserlaubnis bekommen. gend geboten, um eine entsprechende Gesetzesnovelle noch vor der Sommerpause zu verabschieden und Nach dreieinhalb Jahren der Großen Koalition ist je- schnellstmöglich in Kraft zu setzen. Leider konnten wir doch nicht nur die Zeit für eine Bilanz gekommen. Es unseren Koalitionspartner hiervon – noch? – nicht über- bleibt uns vielmehr auch noch ein halbes Jahr, in dem wir zeugen. Auch in der CDU/CSU-Fraktion sieht der eine als Gesetzgeber noch handeln können, vielleicht sogar oder andere zwar das Problem, glaubt aber an eine recht- müssen. Denn es geht um die Frage, ob der eben darge- zeitige Lösungsmöglichkeit nach der Bundestagswahl. stellte Erfolg auf der Kippe steht. Sie alle kennen die Zah- Genau hier habe ich aber meine Zweifel. Eine handlungs- len: Von den 28 721 Aufenthaltserlaubnissen, die nach fähige Mehrheit – welche auch immer – und eine neue der gesetzlichen Altfallregelung erteilt wurden, sind Bundesregierung werden die Sacharbeit frühestens im 23 334 auf Probe erteilt. Das bedeutet: Auch diese Per- November aufnehmen, und die dann noch verbleibenden sonen müssen bis Ende 2009 ihren Lebensunterhalt ver- wenigen Wochen bis zum Jahresende reichen sicherlich dienen können. Das ist nicht immer leicht. Hier darf ich (B) für ein fristgerechtes Handeln nicht mehr aus. (D) auf den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen verweisen, der zu Recht die Probleme aufführt, die ehemals Gedul- Hinzu kommt aber vor allem: Wenn nach geltender dete bei der Arbeitssuche haben. Ich will sie nicht alle Rechtslage die Gültigkeit der Aufenthaltserlaubnis auf wiederholen, aber einen herausgreifen, der mir beson- Probe abläuft, haben die Betreffenden natürlich noch we- ders wichtig erscheint. Als wir die Frist Dezember 2009 niger Chancen, gegebenenfalls eine neue Arbeitsstelle zu beschlossen, konnte keiner von uns die einschneidende finden oder auch nur zu behalten. Eine ungewisse Zukunft Wirtschaftskrise des Jahres 2008 erahnen, die im Laufe ist aber vor allem für die Betroffenen eine völlig unnötige des Jahres 2009 ihre Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt psychische Belastung. Nicht zuletzt ist eine unklare Ent- noch stärker als heute zeigen wird. wicklung der Rechtslage für die Ausländerbehörden mehr Mit milliardenschweren Konjunkturpaketen, die in der als lästig. Geschichte unserer Republik ohne jedes Beispiel sind, Ich rege daher dringend an, dass wir in einem unmit- versuchen wir, die absehbare negative Wirtschaftsent- telbar nach Ostern anzuberaumenden Berichterstatterge- wicklung zumindest abzufedern. Mit der gleichen logi- spräch mit Staatssekretär und seinen schen Konsequenz sollten wir als Gesetzgeber aber auch Fachleuten im BMI gemeinsam zu einer vernünftigen und überall dort handeln, wo ansonsten unbeabsichtigte Kon- zeitnahen Lösung kommen. sequenzen drohen. Damit meine ich die vormals eben nur geduldeten ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbür- ger, die unter den erschwerten Wirtschafts- und Arbeits- Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): marktbedingungen eben auch schlechtere Chancen ha- Die Reform des Bleiberechts durch die Bundesregie- ben, ihre Arbeitsstelle zu behalten oder eine neue zu rung im Sommer 2007 war ein längst überfälliger Schritt. finden. Wenn infolgedessen nun eine große Zahl derer, die Wenn bei lange geduldeten, gut integrierten Ausländern die Aufenthaltserlaubnis auf Probe erhalten haben, eine Abschiebung nicht mehr vertretbar ist, muss dieser zurück in die Duldung fielen, so wäre dies für alle Betei- Tatsache durch eine vernünftige und unbürokratische Re- ligten fatal: für die SPD-Fraktion, weil sie dem Richt- gelung Rechnung getragen werden. linienumsetzungsgesetz trotz erheblicher Bedenken in an- deren Punkten vor allem deshalb zugestimmt hat, um die Doch die entscheidenden Kriterien waren und sind Altfallregelung zu erreichen; für die Große Koalition, „lange geduldet und gut integriert“. Aus Sicht der FDP weil damit ein gemeinsam erstrittener Erfolg gefährdet muss die tatsächliche Integration das entscheidende Kri- wäre; und für die Betroffenen, denen eine einmal einge- terium sein, nachgewiesen durch eigenständigen Lebens- räumte Perspektive wieder genommen würde. In ihrem unterhalt, deutsche Sprachkompetenz und Akzeptanz im

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23277

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (A) persönlichen sozialen Umfeld auch außerhalb der Mi- Der Antrag der Grünen ist dagegen diskussionswür- (C) grantengesellschaft. dig. Zwar weckt er ebenfalls Zweifel an der aus Sicht der FDP unverzichtbaren Forderung nach selbstverdientem Der eigenständige Lebensunterhalt ist dabei von ent- Lebensunterhalt, der ergänzenden SGB-II-Anspruch aus- scheidender Bedeutung. Das Zahlenmaterial, das Grüne schließt. Allerdings weisen die Grünen zu Recht darauf und Linke in den vorliegenden Anträgen zitieren, deutet hin, dass die Bundesregierung lange Zeit geduldete Men- genau darauf hin, dass dies eine für die Integration sehr schen durch ein Arbeitsverbot an der Integration in den bedeutsame Anforderung ist. Es ist berechtigt, die Frage Arbeitsmarkt gehindert hat. Zudem wollen die Grünen nach der Perspektive eines gesicherten Lebensunterhal- nicht das „Aufenthaltsrecht auf Probe“ durch das Aufent- tes zu stellen. Und es ist zutiefst inhuman, Menschen hier haltsrecht nach § 23 Abs. 1 Satz 1 ersetzen, wie das die eine Aufenthaltsperspektive vorzugaukeln, die hier ihren Linkspartei tut, sondern nur die Fristsetzung, bisher Lebensunterhalt nicht selbst verdienen können. Wer so et- 31. Dezember 2009, verlängern. Darüber lässt sich ange- was tut, der hält Alimentierung für humane Politik. Wir sichts des langjährigen Arbeitsverbotes und angesichts Liberalen halten es dagegen für human, Menschen Chan- der wirtschaftlich angespannten Situation reden. cen für ein erfülltes Leben zu eröffnen. Dazu gehört auch, klar zu sagen, wer im Hinblick auf den Arbeitsmarkt nach Das eigentliche Problem, für Migranten welcher Art Deutschland passt und wer nicht. auch immer den Zutritt zum Arbeitsmarkt und damit die Integration in Deutschland zu erleichtern, kann keine Es wird in diesem Zusammenhang einmal mehr deut- Ausländergesetzgebung leisten, sondern nur eine konse- lich: Arbeit ist ein bedeutender Integrationsfaktor. Der quente Deregulierung des Arbeitsmarktes. Zusammenhang von Arbeitserlaubnis und Aufenthalts- recht muss deshalb eine besondere Aufmerksamkeit fin- Ulla Jelpke (DIE LINKE): den. Arbeit ermöglicht den Zuwanderern, finanziell auf Wie Sie wissen, ist die Beendigung der sogenannten eigenen Beinen zu stehen und fördert dadurch das Selbst- Kettenduldungen eine wesentliche innenpolitische For- wertgefühl nicht nur des Berufstätigen, sondern auch der derung der Linksfraktion. Einen geeigneten Gesetzent- Familienangehörigen. Sie ermöglicht soziale Kontakte wurf haben wir bereits zu Beginn dieser Wahlperiode hier und schafft Akzeptanz in der Bevölkerung. Dies ist auch vorgelegt. Danach sollte die Erteilung eines Aufenthalts- im Interesse der Gesellschaft als Ganzes. Ohne gleichbe- titels allein von der bisherigen Aufenthaltsdauer abhän- rechtigten Arbeitsmarktzugang können Zuwanderer sich gig sein. An dieser Forderung halten wir auch weiterhin nicht aus ihrer ökonomischen Abhängigkeit befreien. Er- fest. Die Entwicklungen bei der Zahl der Geduldeten und werbstätigkeit ist die Grundlage für wirtschaftliche Ei- insbesondere der langjährig Geduldeten zeigen, dass das genständigkeit. Deshalb ist es notwendig, dass mit der Problem mit der aktuellen Altfallregelung nur kurzfristig (B) (D) Aufenthaltserlaubnis automatisch auch die Aufnahme ei- gelindert werden konnte. Die Zahl derjenigen, die seit ner Erwerbstätigkeit ermöglicht wird. mehr als sechs Jahren lediglich geduldet werden, stagniert seit über einem Jahr. Es ist nicht auszuschlie- Die große Schwierigkeit einer sinnvollen Bleiberechts- ßen, dass sie auch wieder steigt. Deshalb brauchen wir regelung besteht darin, einerseits den unhaltbaren Zu- gesetzliche Regelungen, die die Entstehung von Ketten- stand der Kettenduldungen abzuschaffen, andererseits duldungen dauerhaft verhindern und bestehende Ketten- aber die Zuwanderung nach Deutschland so zu steuern, duldungen beenden. dass diese auch nachhaltige Akzeptanz bei den Bürgerin- nen und Bürgern findet. Auch hier muss die Integration Leider konnte sich die Linksfraktion mit ihrem Vor- die Leitlinie sein. schlag damals nicht durchsetzen. Stattdessen wurde zu- nächst von der Innenministerkonferenz und dann vom Gerade in diesem Zusammenhang müssen wir endlich Bundestag eine völlig ungenügende und hartherzige Re- auch beim Problem der sogenannten Altfälle ehrlich den gelung beschlossen. Im Sommer 2007 trat eine soge- Tatsachen ins Auge schauen. Dazu gehört, die Arbeits- nannte Altfallregelung für langjährig geduldete Flücht- marktverhältnisse zu akzeptieren und die daraus resultie- linge in Deutschland in Kraft. Wir haben schon damals renden Schlussfolgerungen klar zu ziehen: Wir brauchen scharf kritisiert, dass der Bundestag diese Bleiberechts- qualifizierte Zuwanderung. Wer dem Daueraufenthalts- regelung an eine ganze Reihe von Bedingungen geknüpft recht Letzterer in vermeintlich humanitärer Gesinnung hat. Wer eine Aufenthaltserlaubnis beantragt, muss geset- das Wort redet, riskiert die steigende Ablehnung der Be- zestreu gewesen sein, darf keine Verbindungen zu ver- völkerung gegen Zuwanderer und könnte den Boden für meintlichen Extremisten haben, soll immer mit der Aus- gesellschaftliche Spannungen aufgrund des Vorwurfs der länderbehörde kooperiert haben. Die schwierigste Hürde Ausnutzung des Sozialsystems bereiten. ist aber der eigenständige Lebensunterhalt. Das geht aus den Zahlen, die wir regelmäßig erfragen, ganz klar her- Der Antrag der Linken hat exakt die entgegengesetzte vor. 80 Prozent derjenigen, die das Bleiberecht beantragt Zielsetzung: Er verneint die Notwendigkeit einer eigen- haben, sind nur im Besitz einer sogenannten Aufent- ständigen Lebensunterhaltssicherung für Menschen, die haltserlaubnis „auf Probe“. Das sind insgesamt über ein Aufenthaltsrecht in Deutschland suchen, und akzep- 28 000 Menschen. Können sie zum 31. Dezember dieses tiert ausdrücklich, dass er „Kosten in unbekannter Höhe Jahres nicht nachweisen, von eigenem Gehalt leben zu durch die Gewährung von Sozialleistungen“ verursacht. können, droht der Rückfall in die Duldung. Und in eini- Eine solche Rücksichtslosigkeit gegenüber unserem gen Fällen, das muss man ganz klar sagen, droht die so- Sozialsystem trägt die FDP nicht mit. fortige Abschiebung.

Zu Protokoll gegebene Reden 23278 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Ulla Jelpke (A) Davor hat die Linke von Beginn an gewarnt. Leider Chance erhalten, eine eigenständige wirtschaftliche (C) wurden unsere Warnungen von der Realität noch über- Existenz in ihrer neuen Heimat aufzubauen. holt, denn die derzeitige Wirtschaftskrise war im Sommer 2007 noch nicht absehbar. Migrantinnen und Migranten Bereits frühzeitig geäußerte Befürchtungen von uns in Beschäftigungssektoren mit geringen Qualifikations- scheinen sich nun zu bestätigen: Die gesetzliche Altfall- anforderungen werden am härtesten getroffen. Wer nur regelung – eines der innenpolitischen Kernvorhaben der eine gering qualifizierte Beschäftigung hat, ist von Ar- Großen Koalition – droht leerzulaufen: Nicht nur, dass beitsplatzverlust und Lohneinbußen am stärkten betrof- bislang lediglich rund ein Viertel aller infrage kommen- fen. Es ist naheliegend, dass gerade die ehemals Gedul- den Personen ein vorläufiges Bleiberecht erhalten haben – deten im besonderen Maße von dieser Entwicklung es besteht die akute Gefahr, dass ein Großteil derjenigen, betroffen sind. die eine „Aufenthaltserlaubnis auf Probe“ erhalten haben, diese Ende 2009 nicht wird verlängern können Zum Kriterium des eigenständigen Lebensunterhalts und infolgedessen wieder in die Duldung zurückfallen ist mittlerweile auch ein Urteil des Bundesverwaltungs- wird. gerichts ergangen. Dieses Urteil hat klargestellt, dass auch jeder nur theoretisch bestehende Anspruch auf er- Um dem vorzubeugen – und zwar rechtzeitig und nicht gänzende Hilfen des Staates bedeutet, dass dieses Krite- erst nach der Wahl des nächsten Bundestages –, haben rium nicht erfüllt wird. Die Konsequenzen dieses Urteils wir den vorliegenden Antrag eingebracht. Er beinhaltet sind noch nicht im Einzelnen absehbar. Die erforderli- zwei Forderungen: zum einen eine Fristverlängerung für chen Verdienstgrenzen liegen über dem, was die Auslän- die Stellung von Anträgen nach der gesetzlichen Altfall- derbehörden bisher als Verdienstgrenzen festgelegt hat- regelung. Denn es zeichnet sich ab, dass es aus Gründen, ten, abgesehen von allen Unterschieden zwischen den die nicht in der Person der Bleiberechtskandidatin oder Bundesländern. Gerade für Familien mit mehreren Kin- des Bleiberechtskandidaten liegen, für viele potenziell dern, in denen nur ein Elternteil erwerbstätig sein kann, Begünstigte der Altfallregelung unmöglich sein wird, in- wird mit diesem Urteil eine geradezu unüberwindliche nerhalb der gesetzlichen Frist, 31. Dezember 2009, die Hürde geschaffen. Auch hier muss gegengesteuert wer- Vorgaben der gesetzlichen Bleiberechtsregelung zu erfül- den, um nicht ausgerechnet die Familien faktisch von der len. Bleiberechtsregelung auszuschließen. Spät – nämlich erst Ende Juni 2008 – hat die Große Koalition ihr „Bundesprogramm zur arbeitsmarktlichen Deshalb fordern wir mit dem vorliegenden Gesetzent- Unterstützung für Bleibeberechtigte und Flüchtlinge mit wurf, bei der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnisse Zugang zum Arbeitsmarkt“ aufgelegt. Auch hierüber auf den eigenständigen Lebensunterhalt zu verzichten. werden Begünstigte der Altfallregelung die geforderte Dies muss selbstverständlich auch für die auf Probe er- (B) Lebensunterhaltssicherung nicht bis Ende 2009 nachwei- (D) teilten Aufenthaltserlaubnisse gelten. Die Gesetzesände- sen können, vergleiche Bundestagsdrucksache 16/11361. rung dient in erster Linie dem Ziel, den ursprünglichen Gesetzeszweck auch wirklich erreichen zu können, näm- Ebenfalls bereits jetzt zeichnet sich ab, dass der Zu- lich eine langfristige Aufenthaltsperspektive für die Be- gang zum Arbeitsmarkt trotz dieser Maßnahmen für viele troffenen. Geduldete wegen struktureller Barrieren unmöglich ist. Zum einen bestand jahrelang ein Arbeitsverbot für gedul- Mit diesem Status quo soll dem Bundestag in der kom- dete Menschen, sodass es sich größtenteils um ungelernte menden Wahlperiode die Gelegenheit gegeben werden, Arbeitskräfte handelt, zum anderen sind die Jobs am un- eine dauerhaft wirksame Bleiberechtsregelung zu be- teren Ende der Lohnskala oft nicht lebensunterhaltssi- schließen. Aber wir können nicht mehr bis zur nächsten chernd. Dazu kommt, dass dieser Personenkreis für die Wahlperiode warten. Die Koalition hat die derzeitige Re- Sicherstellung des Lebensunterhaltes aufgrund der An- gelung so gestrickt, dass noch in diesem Jahr etwas getan rechnung von Freibeträgen – Urteil des Bundesverwal- werden muss. Der nächste Bundestag wird aller Erfah- tungsgerichtes vom 26. August 2008 – einen wesentlich rung nach nicht mehr genug Zeit haben, noch in diesem höheren Verdienst erwirtschaften muss als vergleichbare Jahr eine Neuregelung zu beschließen. Zudem muss der deutsche Arbeitnehmer. Bundesrat dem ebenfalls zustimmen. Ich kann also alle Fraktionen nur einladen, unseren Vorschlag zügig zu be- Im Übrigen wird die aktuelle Wirtschaftskrise diesen raten. Personenkreis vergleichsweise heftiger treffen als an- dere. Im Ergebnis werden also viele der momentan mit ei- Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ner Aufenthaltserlaubnis auf Probe ausgestatteten NEN): Flüchtlinge aufgrund des Stichtages 31. Dezember 2009 zum 1. Januar 2010 wieder in die Duldung zurückfallen. Im Rahmen des sogenannten Richtlinienumsetzungsge- Zusammen mit den neu hierherkommenden Flüchtlingen setzes wurde im Sommer 2007 mit den §§ 104 a und 104 b werden Kettenduldungen also genau nicht abgeschafft, Aufenthaltsgesetz eine Bleiberechtsregelung für langjäh- wie es der Gesetzgeber wollte, sondern erneut festge- rig geduldete, hier lebende Menschen geschaffen. Die schrieben. Fraktionen von CDU/CSU und SPD hatten diese Rege- lung als „Richtungswechsel“ gefeiert: Integrationswil- Die zweite Forderung in unserem Antrag ist eine groß- lige Ausländerinnen und Ausländer, die lange Jahre bei zügigere Auslegung der „Lebensunterhaltssicherung“ uns mit einer Duldung in Angst vor Abschiebung und Aus- beim Übergang der „Aufenthaltserlaubnis auf Probe“ weisung gelebt hätten, würden nun eine realistische zur „normalen Aufenthaltserlaubnis“ – zum Beispiel

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23279

Josef Philip Winkler (A) über die Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz: – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des (C) § 104 a Abs. 5 Aufenthaltsgesetz schreibt vor, dass eine von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Aufenthaltserlaubnis nach § 104 a Aufenthaltsgesetz eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 4. Juli nach dem 31. Dezember 2009 nur dann verlängert wer- 2008 zwischen der Regierung der Bundesrepu- den kann „wenn der Lebensunterhalt des Ausländers bis blik Deutschland und der Regierung von Jer- zum 31. Dezember 2009 überwiegend eigenständig durch sey über die Zusammenarbeit in Steuersachen Erwerbstätigkeit gesichert war oder wenn der Ausländer und die Vermeidung der Doppelbesteuerung mindestens seit dem 1. April 2009 seinen Lebensunterhalt bei bestimmten Einkünften nicht nur vorübergehend eigenständig sichert“. – Drucksache 16/12067 – Am 26. August 2008 hat nun das Bundesverwaltungs- Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- gericht in einem Grundsatzurteil in einem Fall des Fami- schusses (7. Ausschuss) liennachzugs (1 C 32.07) die Voraussetzungen für die Si- cherung des Lebensunterhalts deutlich verschärft: Der – Drucksache 16/12449 – Lebensunterhalt ist demzufolge nur dann gesichert, wenn das gemäß SGB II anrechenbare (und nicht das Netto-) Berichterstattung: Einkommen so hoch ist, dass kein ergänzender SGB-II- Abgeordnete Manfred Kolbe Anspruch mehr besteht. Regelungen zu sogenannten Ab- Lothar Binding (Heidelberg) setz- und Freibeträgen sind nach Ansicht des Bundesver- Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die waltungsgerichtes auch im Aufenthaltsrecht anwendbar. Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Ob diese Leistung tatsächlich in Anspruch genommen Reden der Kolleginnen und Kollegen Binding (Heidel- wird oder ob man aus Gründen der – vermeintlichen – berg), Aufenthaltssicherung darauf verzichtet, ist nach dem Ur- teil gänzlich unerheblich. Infolge dieses Grundsatzurteils (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Es gilt ist nunmehr ein deutlich höheres (Erwerbs-)Einkommen das gedachte Wort!) erforderlich, um den Lebensunterhalt zu decken. „Aus Thiele, Kolbe, Höll und Schick. Sicht der Bundesregierung ergibt sich aus dem [o. g.] Ur- teil des BVerwG kein unmittelbarer gesetzgeberischer Manfred Kolbe (CDU/CSU): Handlungsbedarf“ (Bundestagsdrucksache 16/10986). Es bestehen aber unstreitig untergesetzliche Handlungs- Jersey ist mit 90 000 Einwohnern die bevölkerungs- möglichkeiten des Bundes – namentlich auf der Ebene der reichste der Kanalinseln, 20 Kilometer vor der Küste der Normandie gelegen und als solche letztes Relikt des mittel- Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz. alterlichen englischen Festlandsbesitzes in der Norman- (B) (D) Im Rahmen der derzeit laufenden Verhandlungen zwi- die. Jerseys staatsrechtliche Lage ist fast so kompliziert schen Bund und Ländern zu den Verwaltungsvorschriften wie die vor der Wiedervereinigung. Es gehört zum Aufenthaltsgesetz sollte daher unbedingt eine Klar- nicht zum Vereinigten Königreich und untersteht damit stellung erfolgen, die Anforderungen an die Lebensunter- nicht der Gesetzgebung des britischen Parlaments. Viel- haltssicherung in Fällen des gesetzlichen Bleiberechts so mehr ist es unmittelbarer Kronbesitz – crown dependency – zu handhaben, dass Härtefälle vermieden werden. mit eigener Gesetzgebung, Verwaltung und insbesondere Steuersystem. Damit möglichst viele geduldete Menschen von der jet- zigen Bleiberechtsregelung profitieren können, muss sie Wirtschaftlich ist die Insel Tourismusziel und Finanz- kurzfristig nachgebessert werden. Ich hoffe sehr, dass es platz. Die Hälfte des Bruttosozialprodukts stammt aus der gelingt, in den anstehenden Beratungen im Innenaus- Finanzbranche, und dort arbeitet ein Viertel der Beschäf- schuss hierfür einen interfraktionellen Konsens zu errei- tigten. chen. Was zieht die Banken auf die kleine, windige Kanal- insel? Offenbar hängt dies damit zusammen, dass Jersey Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: keine allgemeine Körperschaftsteuer erhebt und nur Ban- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf ken und Versicherungen mit dem erträglichen Steuersatz den Drucksachen 16/12415 und 16/12434 an die in der von 10 Prozent belastet. Der Einkommensteuersatz be- Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – trägt ebenfalls maßvolle 20 Prozent in der Spitze. Des- Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Überwei- halb gilt Jersey bisher trotz des unwirtlichen britischen sungen so beschlossen. Wetters auch als „Steueroase“. Hier böte sich dem Bundes- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: finanzminister eine weitere Gelegenheit, den Kanalinsel- indianern mit der Kavallerie oder vergleichbaren maritimen – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Fortbewegungsmitteln zu drohen. Allerdings hat er dies von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs bisher wohlweißlich unterlassen. Es ist nicht einmal eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 4. Juli bekannt, ob er in dieser Sache mit seinen Parteifreunden 2008 zwischen der Regierung der Bundesrepu- Tony Blair oder Gordon Brown schon einmal ernsthaft blik Deutschland und der Regierung von geredet hat. Jersey über den Auskunftsaustausch in Steu- ersachen Deutschland hat mit dem Abkommen mit Jersey vom 4. Juli 2008 erstmals ein Abkommen über Auskunftsaus- – Drucksache 16/12066 – tausch für Besteuerungszwecke mit einem Gebiet unter- 23280 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Manfred Kolbe (A) zeichnet, das in der „Steueroasenliste 2000“ der OECD nicht nur in der Karibik oder in Asien gibt, sondern dass (C) aufgeführt war. Infolge der Listung durch die OECD hat auch Kernmitgliedsländer der EU wie Großbritannien sich die Regierung von Jersey in einer politischen Erklä- ihre Oasen gepflegt haben. Gleiches gilt auch für Luxem- rung vom 22. Februar 2002 gegenüber der OECD zur burg oder Österreich, die bis heute nicht die EU-Stan- Akzeptanz der OECD-Standards zu Transparenz und dards bei Zinseinkünften praktizieren. Deshalb halte ich effektivem Auskunftsaustausch verpflichtet. es auch für unfair, wenn der Bundesfinanzminister immer nur die Schweiz oder Lichtenstein ins Visier nimmt und Zunächst hatte Jersey die Umsetzung dieser Verpflich- andere Staaten mit möglicherweise mehr Einfluss ver- tung davon abhängig gemacht, dass die OECD-Grundsätze schont. zu Transparenz und Auskunftsaustausch auch von anderen Staaten akzeptiert werden, die zwar nicht in der „Steuer- Heute ist jedenfalls ein guter Tag für die Bekämpfung oasenliste“ aufgeführt sind, die aber ebenfalls ein Umfeld der Steuerhinterziehung. Die Unionsfraktion begrüßt die bieten, welches es nichtansässigen Personen ermöglicht, in beiden Abkommen und wird ihnen zustimmen. ihrem Heimatstaat Steuern zu hinterziehen, sogenannter Level-Playing-Field-Vorbehalt. Auf Deutsch: Ich mache nichts, wenn du nichts tust. Gemeint waren mit den anderen Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): die OECD-Mitgliedstaaten Österreich, Luxemburg und Aus der Kapitalverkehrsfreiheit, einer der vier Grund- die Schweiz und außereuropäische Finanzzentren wie freiheiten innerhalb der Europäischen Union und Voraus- Singapur und Hongkong. Bei ihnen allen ist der Level- setzung für die Entstehung globaler Finanzmärkte heuti- Playing-Field-Vorbehalt sehr beliebt, da dann keiner mit ger Prägung, ergeben sich Schwierigkeiten für die der Einführung der OECD-Standards beginnen muss und Durchsetzung länderspezifischer Besteuerungsansprü- sichergestellt ist, dass nichts passiert. che. Würden sich alle Länder fair verhalten, gäbe es keine Probleme. Leider ist dies nicht so. Die Steuerbehörden in Erst der stärker werdende politische Druck hat Jersey Deutschland stehen vor der Herausforderung, dass ei- dann zur Unterzeichnung des Abkommens vom 4. Juli 2008 nige Staaten und Gebiete keine oder zumindest nur sehr bewegt. Am 2. März 2009 ist dem die Isle of Man gefolgt, geringe Steuern erheben und zugleich keinen Zugang zu und am heutigen 26. März 2009 hat auch die Kanalinsel Informationen ermöglichen, die für die Besteuerung in Guernsey unterschrieben. Deutschland zwingend erforderlich sind. Dazu gehören Das Auskunftsabkommen entspricht im Inhalt und Auf- insbesondere Bankinformationen, Informationen über Ei- bau weitgehend dem OECD-Musterabkommen für Aus- gentumsverhältnisse an Rechtsträgern, die der Steuerhin- kunftsaustausch aus dem Jahre 2002. Das Abkommen terziehung – oder drastischer ausgedrückt: der Steuer- berechtigt die deutschen Finanzbehörden und Strafver- flucht – dienen. Dieser schädliche Steuerwettbewerb geht (B) folgungsbehörden, Jersey um Auskunft in einer konkreten zulasten der bei weitem überwiegenden Anzahl steuerehr- (D) Steuersache zu ersuchen, die Gegenstand einer Ermittlung licher Bürgerinnen und Bürger. Um dies einzudämmen oder Untersuchung ist. Auskünfte sind in jedem Verfahrens- und zurückzudrängen, sind wir auf internationale Zusam- stadium zu erteilen, das nicht nur im Strafverfahren, sondern menarbeit und Unterstützung angewiesen. Die Organisa- bereits im Steuerfestsetzungsverfahren. tion für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- lung, OECD, hat hier wertvolle Vorarbeiten geleistet und Natürlich mag man es bedauern, dass Jersey sich als Grundsätze zu Transparenz und effektivem Auskunfts- faktischer Bestandteil der Europäischen Union nicht zur austausch entwickelt. Einführung der weitergehenden EU-Standards bereit erklärt hat, aber immerhin ist die Anerkennung der Der Abschluss des Abkommens zwischen Deutschland OECD-Standards ein erster richtiger Schritt. und Jersey über den Auskunftsaustausch in Steuersachen, die Zusammenarbeit in Steuersachen und die Vermeidung Doppelbesteuerungsabkommen mit Jersey: Am gleichen der Doppelbesteuerung bei bestimmten Einkünften ist ein 4. Juli 2008 wurde auch ein Mini-DBA mit Jersey unter- erster wichtiger Erfolg im Kampf gegen schädlichen zeichnet. Mit diesem Abkommen erkennt Deutschland Steuerwettbewerb. Jersey setzt damit die OECD-Stan- Jerseys Verpflichtung zur internationalen Zusammenarbeit dards zu Transparenz und Auskunftsaustausch gegenüber und zum Auskunftsaustausch auf der Grundlage der der Bundesrepublik um. OECD-Standards an. Das DBA beschränkt sich auf die Vermeidung der Doppelbesteuerung bei Alterseinkünften, Wir erhoffen uns davon eine wichtige Signalwirkung Bezügen aus öffentlichen Kassen und Unterhaltsleistungen für die Etablierung einer effektiven internationalen für Studenten, Praktikanten und Lehrlinge. Zusammenarbeit in Steuersachen, die den legitimen Be- steuerungsanspruch Deutschlands durchsetzt, eine Be- Die praktischen Auswirkungen sind daher gering, steuerung von im Ausland erzielten Kapitalerträgen aber immerhin ist es gelungen, bei der Besteuerung der ermöglicht und damit eine Gleichbehandlung aller hier- Alterseinkünfte durchzusetzen, dass auch Sozialversiche- zulande Steuerpflichtigen begründet. Die am 2. März rungsrenten, die nach dem deutschen Recht der nach- 2009 unterzeichneten Abkommen mit der Isle of Man so- gelagerten Besteuerung unterliegen, im Quellenstaat wie die für heute geplante Unterzeichnung eines Abkom- Deutschland zu besteuern. mens mit Guernsey zeigen die Verhandlungserfolge der Die beiden heute vorliegenden Abkommen sind ein Bundesregierung und unsere Fortschritte bei der Durch- Beitrag zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung und zur setzung von Transparenz und Kooperation. Ein schöner Eindämmung eines schädlichen Steuerwettbewerbs von Anlass, unserem Finanzminister Peer Steinbrück und den sogenannten Steueroasen. Es zeigt, dass es Steueroasen Beamtinnen und Beamten im Ministerium zu danken.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23281

Lothar Binding (Heidelberg) (A) Das Abkommen über den Auskunftsaustausch in Steu- Konkret geht es um die Vermeidung der Doppelbesteu- (C) ersachen ist das erste seiner Art mit einem Gebiet, das die erung bei Alterseinkünften, bei Bezügen aus öffentlichen OECD auf ihrer Liste aus dem Jahr 2000 als Steueroase Kassen sowie von Unterhaltsleistungen für Studenten, geführt hatte. Die Regierung von Jersey kommt damit ih- Praktikanten oder Lehrlinge. Jersey besteuert zwar das rer entsprechenden Zusage gegenüber der OECD aus Einkommen natürlicher Personen mit einem Steuersatz dem Jahr 2002 nach. Wir legen damit die vertragliche von 20 Prozent, eine allgemeine Körperschaftsteuer hin- Grundlage für eine effiziente Zusammenarbeit zwischen gegen wird nicht erhoben. Lediglich Banken und Versi- den Steuerbehörden, die mehr als eine politische, aber cherungen werden mit einem Körperschaftsteuersatz in rechtlich unverbindliche Absichtserklärung ist. Höhe von 10 Prozent belegt. Die Vereinbarung sieht im Einzelnen vor, dass Altersbezüge nur von der Vertrags- Denn bislang hatte Jersey die Zusage zur Umsetzung partei besteuert werden, in der der Empfänger seinen der OECD-Standards davon abhängig gemacht, dass sich Wohnsitz hat. Ruhegehälter aus öffentlichen Kassen so- auch alle anderen Staaten daran orientieren. Auch wie Renten aus der Sozialversicherung werden hingegen solche, die – bislang und immer noch – der Steuerhinter- von derjenigen Vertragspartei besteuert, aus der sie ziehung Vorschub leisten und von diesem schädlichen in- stammen. Hält sich ein Student, Lehrling oder Praktikant ternationalen Steuerwettbewerb profitieren. Dieser soge- aus Deutschland auf Jersey auf, darf der Ansässigkeits- nannte Level-Playing-Field-Vorbehalt war in der Praxis staat, also Jersey, Unterhaltszahlungen nur dann besteu- der internationalen Steuerpolitik weniger ein Appell an ern, wenn sie aus Jersey selbst stammen; kommen die Un- Fairness und Gleichbehandlung aller Finanzzentren und terhaltszahlungen hingegen aus Deutschland, werden sie „Steueroasen“, sondern ein willkommener Vorwand, um von der Besteuerung freigestellt. eigene Wettbewerbsvorteile zu konservieren und wir- kungsvolle Besteuerung mit grenzüberschreitenden Sach- In Anlehnung an die EU-Zinsrichtlinie hat sich Jersey verhalten zu blockieren. außerdem dazu verpflichtet, auf Zinszahlungen, die von Banken, Stiftungen oder Trusts zugunsten von Personen Das zwischenstaatliche Abkommen mit Jersey orien- in einem Mitgliedsland der EU geleistet werden, einen tiert sich in Aufbau und Inhalt weitgehend am OECD- Quellensteuerabzug in Höhe von derzeit 20 Prozent vor- Musterabkommen für Auskunftsaustausch aus dem Jahr zunehmen und 75 Prozent davon an den jeweiligen Mit- 2002. Es regelt den Austausch von Bankinformationen gliedstaat zu überweisen. und Informationen über Eigentumsverhältnisse an Rechtsträgern – etwa Stiftungen, Briefkastenfirmen oder Trotz dieser guten Entwicklung bleibt uns als langfris- Trusts. Diesen Informationsaustausch benötigen die tige Aufgabe, nicht nur mit Jersey, aber auch mit Jersey, deutschen Steuerbehörden für Ermittlungen und Untersu- einen automatischen Auskunftsaustausch in Steuersachen (B) chungen bei einem Verdacht auf Steuerhinterziehung oder – im ganz normalen Festsetzungsverfahren – zu vereinba- (D) -betrug ebenso wie für normale Besteuerungszwecke. ren. Vor dem Wort „automatisch“ schrecken natürlich noch einige Staaten zurück, aber als Motivation für ein Deutsche Finanz- und Strafverfolgungsbehörden ha- faires Verhältnis zwischen Steuerbürger und Staat auf der ben künftig im Zuge einer Ermittlung oder Untersuchung Grundlage des Wohnsitzlandprinzips ist der automati- die Möglichkeit, Jersey um Auskünfte in einer konkreten sche Auskunftsaustausch sehr gut geeignet. Steuersache zu ersuchen. Dies gilt nicht erst in einem Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung, sondern auch im normalen Steuerfestsetzungsverfahren. Die Kanalin- Carl-Ludwig Thiele (FDP): sel verpflichtet sich, entsprechende Informationen vorzu- Die FDP stimmt den beiden Gesetzentwürfen zu, halten oder alles dafür zu tun, um diese Informationen zu sowohl dem Gesetzentwurf zum Abkommen mit Jersey beschaffen. Unsere Steuerbehörden bekommen damit ein über den Auskunftsaustausch in Steuersachen als auch wirksames Werkzeug zur Ermittlung der Besteuerungs- dem Gesetzentwurf zum Abkommen mit Jersey über die grundlage in die Hand, um Bankinformationen und Infor- Zusammenarbeit in Steuersachen und die Vermeidung der mationen über die Eigentumsverhältnisse an Gesellschaf- Doppelbesteuerung bei bestimmten Einkünften. ten und die Begünstigten anderer Rechtsträger zu erhalten. Das grundlegende Abkommen mit der Kanalinsel Jersey über den Auskunftsaustausch ist ein Signal für einen ver- Das Abkommen über den Auskunftsaustausch steht in nünftigen Umgang mit dem, was viele „Steuerparadiese“ einem engen Zusammenhang mit dem ebenfalls unter- nennen. Es ist ohne verbale Kraftmeierei gelungen, die zeichneten Abkommen über die Zusammenarbeit in Steu- Insel Jersey zu einer Zusammenarbeit mit den deutschen ersachen und die Vermeidung der Doppelbesteuerung bei Finanzbehörden zu bewegen, die den Regeln des OECD- bestimmten Einkünften. Ich unterstreiche dabei, dass un- Standards zu Transparenz und effektivem Auskunftsaus- sere Arbeitsrichtung dabei schon explizit in der Über- tausch entspricht. Es sind nicht „Indianer“ und „Kavalle- schrift verdeutlicht wird, nämlich die Vermeidung der rie“ bemüht worden oder, was einem bei dieser Insel viel- Doppelbesteuerung und die Verhinderung der Steuerver- leicht hätte einfallen können, „Piraten“ und „Fregatten“. meidung und Steuerhinterziehung. Das ist ein wichtiger Es ist gegenüber Jersey kein Porzellan zerschlagen worden, Schritt, der auch schon darauf hindeutet, dass wir, bezo- wie es sozialdemokratische Spitzenkräfte bei unseren gen auf unsere internationalen Kontakte und bilateralen südlichen Nachbarn in der Schweiz geschafft haben. Abkommen, auch Steuervermeidung und Steuerhinterzie- hung zum Schutz des Steuersubstrats in Deutschland in Geräuschlos ist es lobenswerterweise auch gelungen, den Blick nehmen. am 2. März ein Abkommen mit der Isle of Man und – nach

Zu Protokoll gegebene Reden 23282 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Carl-Ludwig Thiele (A) den Planungen – am heutigen Tage ein Abkommen mit bedenklicher Weise in Rechtsverordnungen gepackt wer- (C) der Kanalinsel Guernsey zu unterzeichnen. den. Das Abkommen über den Auskunftsaustausch verdient Die Bundesregierung sollte ihre Kräfte nicht auf den deshalb Anerkennung, weil es das legitime Interesse zweifelhaften Entwurf eines Steuerhinterziehungsbekämp- Deutschlands an einer Bekämpfung des unlauteren Steuer- fungsgesetzes konzentrieren, sondern auf den Abschluss wettbewerbs und einer Bekämpfung der Steuerhinterzie- weiterer Abkommen à la Jersey. Dieser Weg ist offensicht- hung wahrt, ohne dabei über die Stränge zu schlagen. Mit lich erfolgversprechend. Auf ihm sollte fortgefahren werden, den Beratungen zur Eindämmung des unlauteren Steuer- zumal weltweit von Staaten wie Australien, Großbritan- wettbewerbs wurde auf OECD- und EU-Ebene übrigens nien und USA schon fast 50 Abkommen mit Steueroasen, schon zur Zeit der Koalition von CDU/CSU und FDP in zum Beispiel mit den Cayman-Inseln, abgeschlossen wor- der zweiten Hälfte der 90er-Jahre begonnen, um hier ein- den sind. mal Legendenbildungen vorzubeugen. Die Wurzel allen Übels aber ist unser undurchschau- An der Notwendigkeit einer Bekämpfung der Steuer- bares Steuerrecht mit seinen hohen Steuersätzen, mit deren hinterziehung hat meine Fraktion nie einen Zweifel gelas- weiterer Erhöhung die SPD liebäugelt. Eine echte Steuer- sen. Steuerhinterzieher schädigen die steuerehrlichen reform, die das deutsche Steuerrecht bei den Steuerpflich- Bürgerinnen und Bürger sowie die gesetzestreuen Unter- tigen wieder akzeptabel machen würde, hat die Große nehmen. Die Steuersätze könnten niedriger sein, wenn es Koalition erst überhaupt nicht in Erwägung gezogen. gelänge, die Steuerhinterziehung zu beseitigen oder sie Stattdessen hat sie die größte Steuererhöhung in der doch zumindest massiv zurückzudrängen. Die Deutsche Geschichte der Bundesrepublik Deutschland durch- Steuergewerkschaft spricht von einem jährlichen Einnah- gesetzt. Das Steuerreformkonzept der FDP, das in seinen menverlust für den Staat von 30 Milliarden Euro. Allein auf Grundzügen seit langem auf dem Tisch liegt, würde der dem Gebiet des Umsatzsteuerbetrugs liegen die Steueraus- Steuerhinterziehung in weiten Bereichen den Boden ent- fälle laut Ifo-Institut bei 17,5 Milliarden Euro. ziehen.

Wenn sich das Abkommen mit Jersey über den Aus- Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): kunftsaustausch an den OECD-Standards orientiert, dann Nach jahrelangem Stillstand in der politischen Diskus- heißt das, dass ein begründeter Anlass für das Auskunfts- sion um Steueroasen erleben wir derzeit geradezu eine ersuchen vorliegen muss. Die erbetenen Informationen Konjunktur bei diesem Thema. Erinnern wir uns: Herr müssen für die Besteuerung „voraussichtlich erheblich“ Eichel schwang noch das stumpfe Schwert der Steueram- sein. Ein automatischer Auskunftsaustausch, gewisser- nestie, um Steuersünder freundlichst ins Inland zurückzu- (B) maßen eine Rasterfahndung, oder unbegrenzte Spontan- bitten. Herr Steinbrück führte eigens die Abgeltungsteuer (D) auskünfte sind nicht zulässig. Fishing Expeditions, die ein, nach dem Motto, „25 Prozent von Hundert sind bes- ohne jeglichen konkreten Anlass Material über Steuer- ser als 0 Prozent von nichts“. Nun wird mit Folterwerk- pflichtige sammeln sollen, sind nicht Gegenstand des Ab- zeugen, wie zum Beispiel einseitigen Maßnahmen, ge- kommens. Die OECD befürwortet keine „Fischzüge“ in droht. einem anderen Staat nach dem Motto „Ich hätte gern alle Namen mit dem Buchstaben A.“ Dies hat der Vertreter Die Versuche scheinen zu fruchten: So hat Jersey be- der OECD, Geoffrey Owens, in der „FAZ“ vom 20. Fe- reits im vergangenen Jahr ein Doppelbesteuerungsab- bruar 2008 zu Recht gesagt. An diesen Bedingungen für kommen und ein Abkommen über den Informationsaus- den Informationsaustausch ist bei weiteren Abkommen tausch unterzeichnet. Beide liegen uns heute zur dieser Art festzuhalten. abschließenden Beratung vor. Die Isle of Man tut es, nach Auskunft des BMF, heute. Zweifellos ist das endlich ein Die Notwendigkeit, Steuerhinterziehung zu bekämpfen, Schritt in die richtige Richtung. Allein die Möglichkeit, rechtfertigt noch längst nicht alle Mittel. Der Referenten- Auskünfte über steuerrelevante Sachverhalte oder Eigen- entwurf bzw. die Kabinettsvorlage eines Gesetzes zur tumsverhältnisse von Steuerinländern bekommen zu kön- Bekämpfung schädlicher Steuerpraktiken und der Steuer- nen, ist besser, als permanent in die Geheimhaltungs- hinterziehung, über das in der Koalition zurzeit nach schranken gewiesen zu werden. Positiv ist auch, dass das Kräften gestritten wird, scheinen das zu vergessen. Auskunftsersuchen mit Jersey nach OECD-Standard ver- einbart wurde, Jersey den Finanzbehörden also auch Eine unkooperative Haltung solcher Staaten, die den ohne Verdacht auf Steuerstraftaten Daten liefern muss. OECD-Standard nicht erfüllen, darf nicht dazu führen, dass steuerehrliche Bürgerinnen und Bürger sowie Allerdings wird am Beispiel Jersey das Problem jahre- Unternehmen mit wirtschaftlichen Kontakten zu diesen langen Duldens von Steueroasen offenbar: In Jersey – so Gebieten unter den Generalverdacht der Steuerhinter- haben es die Vertreter des BMF gestern zugeben müssen – ziehung gestellt und mit übermäßigen bürokratischen existieren weder Register über Unternehmen und Stiftun- Pflichten überzogen werden. Auf die Entscheidungen der gen, noch Daten über Steuerpflichtige. Damit wird jedes Regierungen in diesen Ländern haben diese Steuerpflich- Auskunftsersuchen deutscher Finanzbehörden – trotz Ab- tigen schließlich keinen Einfluss. Ebensowenig kann es kommen – bis auf Weiteres ins Leere laufen. Zwar hat bei diesen Ländern und Gebieten angehen, dass euro- Jersey zugesagt, diesen Zustand zu ändern und seine päisches Recht und völkerrechtliche Vereinbarungen wie Rechtslage anzupassen. Aber auf die Geschwindigkeit Doppelbesteuerungsabkommen verletzt werden oder dass dieses Prozesses hat die Bundesrepublik keinen Einfluss. Regelungen, die in das Gesetz gehören, in rechtsstaatlich Vor diesem Hintergrund geht es bei beiden Abkommen

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23283

Dr. Barbara Höll (A) – auch das ist O-Ton des BMF-Vertreters – eher um einen der Konsequenz könnte die strategische Geschäftspolitik (C) „präventiven Effekt“, um ein „Zeichen“, und um mehr der Bank maßgeblich beeinflusst werden. Immerhin un- nicht. Deshalb haben wir es vorerst mit blanker Symbolik terhält die Commerzbank in zahlreichen Steueroasen, wie zu tun. zum Beispiel Andorra, den Cayman Islands, Liechten- stein, Luxemburg, Malta und Singapur, Niederlassungen An dem derzeitigen Zustand wird sich also mittelfristig oder bietet den Service von Relationship Managern an. nichts ändern. Das ist schon ein Skandal, finde ich. Denn Laut einer Antwort auf eine Kleine Anfrage unserer Frak- am Fiskus vorbeigeschleust werden kann nur Kapital. tion beabsichtigt die Regierung weder, sich über die Tä- Dadurch werden Kapitaleinkommen massiv gegenüber tigkeiten der Bank in den Steueroasen Kenntnisse zu ver- Arbeitseinkommen privilegiert. Dies zu dulden, heißt zu schaffen, noch diese Tätigkeiten im Sinne ihrer eigenen dulden, dass gegen alle Grundsätze der Steuergerechtig- Einnahmen einzustellen. Sie päppelt also die Bank mit keit verstoßen wird. Dazu kommt, dass Steueroasen sich Steuergeldern auf und duldet gleichzeitig, dass eben diese durch die Verweigerung der Herausgabe von Informatio- Bank aktiv bei der Steuerhinterziehung mitmischt. Dieses nen zu den Einkommen von Steuerpflichtigen anmaßen, Verhalten spricht für sich. Steuerausländer ganz oder überwiegend von der Steuer zu befreien und damit die Einnahmen und die Finanzie- Unsere Fraktion hat klipp und klar gesagt: Wir sind für rung öffentlicher Aufgaben anderer Staaten zu unterlau- einen automatisierten Informationsaustausch zwischen fen. Dies – ebenso wie der immense Schaden von rund den Staaten, für die Kontrolle des Kapitalverkehrs ins 400 Milliarden Euro ausfallender Steuereinnahmen – ist Ausland, für die massive Ausweitung der EU-Zinsrichtli- absolut nicht zu rechtfertigen. nie, für Anhebung der Zahl der Steuerfahnder und Be- triebsprüfer, für einen zentralen Steuervollzug beim Bund Deshalb hat unsere Fraktion die Regierung bereits und für die Überarbeitung der Doppelbesteuerungsab- Anfang vergangenen Jahres aufgefordert, einseitige kommen mit dem Ziel, von der Freistellungs- auf die An- Maßnahmen gegen sogenannte unkooperative Staaten zu rechnungsmethode zu wechseln. ergreifen. Deshalb begrüßen wir auch den Referentenent- wurf eines Steuerhinterziehungsgesetzes aus dem Hause Steueroasen leben von dem Kapital, das in sie fließt Steinbrück. Dieser sieht steuerliche Einschränkungen und sie blühen lässt. Sie auszutrocknen, ist ganz einfach. vor, wenn Zahlungen an Personen oder Vereinigungen Drehen wir den Geldhahn endlich zu und stoppen die mit Sitz oder Geschäftsleitung in einem „unkooperativen Steuerflucht! Staat“ geleistet werden bzw. dort Geschäfte gemacht wer- den. Aus unserer Sicht sind derartige Maßnahmen sowohl Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gegenüber den Steueroasen selbst als auch gegenüber Jersey ist eine der typischen Steueroasen. Über 600 Mil- (B) den Steuerflüchtigen legitim. Denn was treibt Letztere liarden Dollar werden dort nach Auskunft der Jersey (D) an? Nicht etwa das komplizierte Steuerrecht oder zu hohe Financial Services Commission verwaltet. Allein die Steuern hierzulande – wie CDU/CSU und verschiedene Deutsche Bank hat 79 verschiedene Tochtergesellschaf- Sachverständige in der gestrigen Anhörung glauben ma- ten auf dieser Mini-Insel im Ärmelkanal. Präsent sind chen wollten. War Herr Zumwinkel also zu dumm fürs auch Dresdner Bank und Sal. Oppenheim. Stolz wirbt die deutsche Steuerecht? Nein. Die zuständige Staatsanwäl- Insel mit dem Schutz vor der Neugier ausländischer Fi- tin Frau Lichtinghagen brachte es auf den Punkt: Es ist nanzämter. Jersey, so heißt es auf der Internetseite von die blanke Gier. Jersey Finance, schütze gemeinsam mit anderen gut re- gulierten Jurisdiktionen das Recht auf Privatheit und Ver- Nun haben wir Zweifel, dass durch den Finanzminister traulichkeit von Finanzinformationen – ein Euphemismus tatsächlich Änderungen angestrebt werden: Erstens für ein Bankgeheimnis. Und mit diesem Inselstaat hat die schwebt der Referentenentwurf wie ein Phantom über der Bundesregierung Abkommen über den Auskunfts- Debatte. Der Finanzminister hat ihn bis jetzt noch nicht austausch in Steuersachen und über die Zusammenarbeit ins Kabinett und ins Parlament eingebracht. Mittelfristig in Steuersachen und die Vermeidung von Doppelbesteue- wird er sich damit als Drohkulisse auch überlebt haben. rung bei bestimmten Einkünften geschlossen, um die es Zweitens passt diese „Kavallerie“ des Herrn Steinbrück heute geht. Diese Abkommen sind nun auch mit Guernsey auch nicht zu den Zusagen, die dem Regierungschef von und der Isle of Man auf dem Weg. Es geht also in der heu- Luxemburg, Juncker, auf dem deutsch-französischen Gip- tigen Debatte auch um die Frage, ob wir mit diesem Weg fel vor Kurzem gemacht wurden: Dort hat Deutschland richtigliegen. klargemacht, dass Luxemburg, Österreich und Belgien nicht auf der OECD-Liste der Steuerparadiese stehen Zwei Ziele sind für uns Grüne dabei wichtig. Das erste werden. Damit werden alle nationalen Maßnahmen durch Ziel ist die Finanzmarktstabilität. Steueroasen sorgen für internationales Gemauschel konterkariert. Wie ernst sol- instabile Finanzmärkte, weil Geldströme durch verschie- len wir Sie da noch nehmen? dene Gesellschaften in Steuer- und Regulierungsoasen verschleiert werden. Keine Finanzaufsicht kann gute Ar- Alles also nur Wahlkampfgetöse? So ist es. Denn dort, beit leisten, wenn wesentliche Transaktionen auf Off- wo die Regierung tatsächlich Einfluss auf das Austrock- shore-Plätzen stattfinden. nen von Steueroasen nehmen kann, lehnt sie das ganz be- wusst ab: So wurde in der gestrigen Anhörung auch die Das zweite Ziel ist die Steuergerechtigkeit. Wenn Fi- unselige Rolle deutscher Banken bei der Steuerhinterzie- nanzströme verschleiert werden, dann ist Steuergerech- hung in Steueroasen beleuchtet. So hält der Bund inzwi- tigkeit nicht zu erzielen, weil sich gerade die reichsten schen 25 Prozent plus eine Aktie an der Commerzbank. In und vermögendsten Menschen häufig der Steuerpflicht

Zu Protokoll gegebene Reden 23284 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Dr. Gerhard Schick (A) entziehen. Gestern ist das bei der Anhörung im Finanz- sionen ausgeweitet wird: Geografisch müssen weitere (C) ausschuss sehr deutlich geworden. Offen werben auch Länder einbezogen werden, es müssen neben Zinserträ- deutsche Banken von Steueroasen aus um das Geld auch gen alle Formen von Kapitalerträgen berücksichtigt wer- deutscher Kunden. den, und neben natürlichen Personen sollten auch juris- tische Personen dieser Regelung unterworfen werden. Wer diese zwei Ziele teilt, muss dem Steueroasen-Un- wesen umfassend ein Ende bereiten. Kleinstverbesserun- Ich will aber noch einen weiteren Punkt ansprechen. gen reichen nicht aus; sie können höchstens unter Beibe- Wer es ernst meint im Kampf gegen das Oasenunwesen, haltung des Oasenwesens partielle Verbesserungen in darf auch den Konflikt mit den Banken nicht scheuen. einzelnen Steuerverfahren erreichen. Wir Grünen wollen Auch die deutschen Banken sind ziemlich aktiv in den aber dem Steueroasen-Unwesen umfassend zu Leibe rü- Steueroasen, und zwar gilt das nicht nur für die großen cken. Deshalb meinen wir: Deutschland darf sich nicht zu Privatbanken, sondern auch für die DZ Bank aus dem ge- früh mit kleinen Zugeständnissen aus den Oasenstaaten nossenschaftlichen Sektor und die Landesbanken aus zufriedengeben. Deswegen lehnen wir die vorliegenden dem öffentlich-rechtlichen Sektor. Meine Forderung ist Abkommen als unzureichend ab. hier ganz klar: Neben dem Druck auf die Steueroasen, den der Bundesfinanzminister ausübt, sollte er auch mal Als ich zu Anfang der Legislaturperiode anfing, je- Druck auf die deutschen Banken ausüben, die aktiv mit weils den Tagesordnungspunkt Doppelbesteuerungsab- dabei sind, wenn es darum geht, in Steueroasen intrans- kommen aufzurufen, da schien das vielen noch ein un- parente Geschäfte zu machen. Sehr bemerkenswert ist wichtiges Thema. Heute stehen die Steueroasen auf der auch, dass selbst einfache Fragen, zum Beispiel um wel- Tagesordnung der Regierung weiter oben und damit na- che Art von Tochtergesellschaften es sich in Jersey han- türlich auch die Abkommen, die wir mit anderen Staaten dele, vom Vertreter der Deutschen Bank bei der gestrigen in Bezug auf Doppelbesteuerung, Informationsaustausch Anhörung nicht beantwortet wurden. und andere steuerliche Sachverhalte schließen.

Damals schien die Befolgung der OECD-Standards Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: zum Informationsaustausch, die die sogenannte kleine Wir kommen damit zur Abstimmung über den von Auskunftsklausel vorsehen, noch ein wichtiger Fort- der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu schritt. Wenn man sich aber diese Auskunftsrechte ge- den Abkommen mit der Regierung von Jersey über nauer anschaut, dann muss man feststellen: Das reicht den Auskunftsaustausch in Steuersachen. Der Finanz- bei weitem nicht aus. Die USA haben seit 2001 ein sol- ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a auf Druck- ches Abkommen mit Jersey und haben insgesamt in nur sache 16/12449, den Gesetzentwurf der Bundesregie- (B) vier Fällen Auskünfte auf der Grundlage dieses Abkom- rung auf Drucksache 16/12066 anzunehmen. Ich bitte (D) mens erhalten. In sieben Jahren vier Fälle? Das soll ein diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, relevanter Fortschritt sein und die Steueroase Jersey un- sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- schädlich machen? Ich glaube nicht, dass wir uns dieser gen? – Der Gesetzentwurf ist damit gegen die Stimmen Illusion hingeben sollten. Jersey beruhigt denn auch seine der Grünen mit den Stimmen des Hauses im Übrigen an- Kunden, dass man die neuen Informationsaustauschab- genommen. kommen nicht zu fürchten brauche, sie kämen sowieso nur in den seltensten Fällen zur Anwendung. Abstimmung über den von der Bundesregierung ein- gebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen mit der Der Kern des Problems ist, dass man als deutsche Fi- Regierung von Jersey über die Zusammenarbeit in Steu- nanzbehörde schon sehr viel wissen muss, um eine spezi- ersachen und die Vermeidung der Doppelbesteuerung bei fische, individualisierte Anfrage stellen zu können, wie bestimmten Einkünften. Der Finanzausschuss empfiehlt sie das Abkommen vorsieht; denn die verschiedenen unter Buchstabe b auf Drucksache 16/12449, den Gesetz- rechtlichen Konstruktionen verschleiern gezielt die Ei- entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12067 gentümer. Deswegen sollten wir uns nicht mit diesen mi- anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- nimalen Zugeständnissen zufriedengeben und auch nicht wurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt ein Doppelbesteuerungsabkommen als Gegenstück zu dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit diesen unzureichenden Zugeständnissen von Jersey ab- den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die schließen. Stimmen der Grünen bei Enthaltung der Linken ange- Nötig ist ein automatischer Informationsaustausch für nommen. Kapitalerträge in ganz Europa. Das muss auch mit Jersey Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a und 24 b auf: das Ziel sein. Die geringen Summen, die Jersey im Rah- men der Quellenbesteuerung bislang überweist, zeigen, a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- dass die bisherigen Vereinbarungen, die denen mit der neten Birgitt Bender, Dr. Harald Terpe, Ulrike Schweiz oder Liechtenstein entsprechen, völlig ungenü- Höfken, weiteren Abgeordneten und der Fraktion gend sind, um die Besteuerung deutscher Anlagegelder in BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- Jersey sicherzustellen. Jährlich sind bislang etwa wurfs eines Gesetzes zur Verankerung eines 900 000 Euro überwiesen worden; das dürfte weit unter- umfassenden Schutzes vor Passivrauchen im halb dessen liegen, was eigentlich erzielt werden müsste. Arbeitsschutzgesetz Deswegen unterstützen wir Grünen auch das Anliegen, dass die europäische Zinssteuer-Richtlinie in drei Dimen- – Drucksache 16/10337 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23285

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Räume zulässig sein. Ja, Frau Kollegin Bender, es ist (C) ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) richtig: Politik muss mit Taten und nicht nur mit Worten aufwarten. Daran misst die Bevölkerung zu Recht unser – Drucksache 16/12351 – aller Handeln. Der Politik wird in Gänze der Vorwurf ge- Berichterstattung: macht, nur zu häufig Sonntagsreden zu halten, dem kein Abgeordneter Wolfgang Grotthaus Montagshandeln folgt. Darunter leiden wir alle. Denn es geht um die Glaubwürdigkeit der politischen Klasse in b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Gänze, um die es nicht gut bestellt ist. richts des Ausschusses für Gesundheit (14. Aus- schuss) Eine Ursache für diese Partei- und Politikverdrossen- – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Carola heit sind Anträge und Gesetzentwürfe wie Ihre. Um große Reimann, Lothar Binding (Heidelberg), Worte sind Sie, meine Damen und Herren von Dr. Margrit Spielmann und weiterer Abgeord- Bündnis 90/Die Grünen, darin nicht verlegen. Aber es neter sind Worte, denen keine Taten folgen – können. Die Beto- nung liegt auf „können“. Denn Sie fordern eine Gesetzes- Effektiven Schutz vor Passivrauchen zügig änderung, für die uns als Bund die Rechtsetzungskompe- gesetzlich verankern tenz fehlt. Das wissen Sie genau, meine Damen und – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Herren von Bündnis 90/Die Grünen. Denn Ihnen ist be- Höfken, Birgitt Bender, Volker Beck (Köln), kannt, dass ein umfassendes Rauchverbot für alle Ar- weiterer Abgeordneter und der Fraktion beitsstätten auch und insbesondere Gaststätten betreffen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN würde. Die Gesetzgebungszuständigkeit für das Gaststät- tenrecht steht aber seit der Föderalismusreform im Jahre Wirksamen Schutz vor Passivrauchen im öf- 2006 den Ländern zu. Seitdem hat der Bund nur noch eine fentlichen Raum umsetzen eingeschränkte Rechtsetzungskompetenz im Arbeits- – zu dem Antrag der Abgeordneten Birgitt schutz. Dem Bund ist es deshalb rechtlich nicht möglich, Bender, Dr. Harald Terpe, Ulrike Höfken, wei- dritte Personen in Arbeitsstätten vor den Gefahren des terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Passivrauchens durch eine entsprechende Regelung in NIS 90/DIE GRÜNEN der Arbeitsstättenverordnung bundesweit einheitlich zu schützen. Dies war das Ergebnis von Rechtsprüfungen im Bundesweit einheitlichen Schutz vor Passiv- Rahmen der Beratungen zum Gesetz Schutz vor den Ge- rauchen in Gaststätten verankern fahren des Passivrauchens. In diesem Rahmen wurde (B) – Drucksachen 16/2730, 16/2805, 16/10338, schon damals auch geprüft, ob der Bund zu einer Strei- (D) 16/12408 – chung des § 5 Abs. 2 Arbeitsstättenordnung befugt sei, wie sie von Ihnen, meine Damen und Herren von Berichterstattung: Bündnis 90/Die Grünen, gefordert wird. Nach dieser Vor- Abgeordnete Maria Eichhorn schrift hat der Arbeitgeber in Arbeitsstätten mit Publi- Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die kumsverkehr Nichtraucherschutzmaßnahmen nur inso- Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die weit zu treffen, als die Natur des Betriebes und die Art der Reden der Kolleginnen und Kollegen Connemann, Beschäftigung es zulassen. Damit wird insbesondere den Eichhorn, Reimann, Volkmer, Parr, Bunge und Bender. Betreibern von Ein-Raum-Gaststätten erlaubt, auch we- niger einschneidende Maßnahmen zum Schutz ihrer Be- schäftigten zu treffen. Die verfassungsrechtlichen Prü- Gitta Connemann (CDU/CSU): fungen ergaben seinerzeit, dass mit einer solchen „Politik muss mit Taten und nicht nur mit Worten auf- Streichung die Regelungskompetenz der Länder verletzt warten.“ Mit diesen Worten beendete Frau Kollegin würde. Nur wenn alle Länder sich gemeinsam für ein ein- Birgitt Bender am 18. Dezember 2008 ihre Rede. In der heitliches und umfassendes Rauchverbot in Gaststätten damaligen ersten Lesung versuchte sie, die Anträge und entscheiden würden, käme eine Streichung dieser Vor- den Gesetzentwurf zu begründen, die von der Fraktion schrift in Betracht. Bis dahin ist es Sache der Länder, in Bündnis 90/Die Grünen zum Thema Passivrauchen ein- gebracht worden sind. Sie versuchte es, aber es gelang der Frage des Nichtraucherschutzes eine Regelung zu ihr nicht. treffen, die auch zugunsten der Beschäftigten wirkt. Denn nachdem sich ein Teil der Forderungen bereits Dies ist sicherlich unbefriedigend. Denn die Gefahren durch die Regelungen des Gesetzes zum Schutz vor den des Passivrauchens sind unbestritten. Es ist wissenschaft- Gefahren des Passivrauchens vom 27. Juli 2007 erledigt lich bewiesen, dass Passivrauchen das Risiko für chroni- hat, richtet sich das Augenmerk von Bündnis 90/Die Grü- sche Erkrankungen mit gegebenenfalls tödlichem nen nun noch auf den Bereich des Arbeitsschutzes. So soll Ausgang erhöht. Deshalb hat ja auch der Deutsche Bun- ein umfassendes Rauchverbot für alle Arbeitsstätten in destag im Mai 2007 reagiert und das Gesetz zum Schutz das Arbeitsschutzgesetz aufgenommen und im selben vor den Gefahren des Passivrauchens verabschiedet. In Zuge § 5 Arbeitsstättenverordnung aufgehoben werden. diesem Rahmen wurde § 5 Abs. 1 Arbeitsstättenverord- Nur wenn der Arbeitgeber durch technische Sicherungen nung, der den Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz regelt, einen vollständigen Schutz anderer vor Passivrauch ge- um folgende Regelung erweitert: „Soweit erforderlich, währleisten kann, sollen Ausnahmen für abgetrennte hat der Arbeitgeber ein allgemeines oder auf einzelne Be- 23286 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Gitta Connemann (A) reiche der Arbeitsstätten beschränktes Rauchverbot zu das Passivrauchen. Die durch das Rauchen verursachten (C) erlassen.“ Gesundheitskosten betragen rund 17 Milliarden Euro. Die Länder haben demgegenüber sehr unterschiedli- Die freiwilligen Vereinbarungen mit dem Deutschen che Regelungen in ihren jeweiligen Nichtraucherschutz- Hotel- und Gaststättenverband haben nicht zu Verbesse- gesetzen getroffen. Noch einmal: Dies ist unbefriedigend. rungen des Nichtraucherschutzes geführt. Daher war es Denn damit gleicht die deutsche Nichtraucherschutz- folgerichtig, gesetzlich tätig zu werden. Der Bund hat in landschaft einem Flickenteppich. Was im einen Land dieser Legislaturperiode gesetzliche Regelungen in seinem erlaubt ist, ist im anderen verboten. Aber genau diese Un- Kompetenzbereich getroffen. terschiedlichkeit ist Ergebnis der föderalen Struktur und der Verantwortung der Länder für die Gaststättengesetz- Bereits im Jahr 2006 trat das Gesetz zur Änderung des gebung. Diese dürfen wir durch konkurrierendes Bundes- Vorläufigen Tabakgesetzes in Kraft. Das Gesetz umfasst recht nicht unterlaufen oder uns damit in Konflikt setzen, ein Werbe- und Sponsoringverbot in Hörfunk, Presse und so wünschenswert es auch wäre, aus dem Flickenteppich gedruckten Veröffentlichungen. Es regelt außerdem ein ein Ganzes zu machen. Aber der Zweck heiligt eben nicht Verbot des Sponsorings von Hörfunk und Veranstaltungen die Mittel. durch Tabakfirmen. Daneben enthält es ein Verbot, Tabak- erzeugnisse kostenlos zu verteilen. Es gibt aber auch inhaltliche Bedenken. Denn von der von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gewünschten Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zum Schutz vor den Neuregelung wären nicht nur Arbeitnehmerinnen und Ar- Gefahren des Passivrauchens im Jahr 2007 hat der Bund beitnehmer betroffen, sondern im Falle von Alten- und den Nichtraucherschutz dort geregelt, wo er zuständig ist. Pflegeheimen oder Heimen für behinderte Menschen, die Alle Einrichtungen des Bundes sowie der Verfassungs- ja ebenfalls Betriebe sind, auch deren Bewohner. Diese organe des Bundes, die Verkehrsmittel des öffentlichen Arbeitsstätten sind aber gleichzeitig Wohnstätten. Ich Personenverkehrs und Personenbahnhöfe der öffent- habe bereits in der ersten Lesung darauf hingewiesen, lichen Eisenbahnen sind seitdem rauchfrei. Das Gesetz wiederhole es aber angesichts der Bedeutung. Die Situa- beinhaltet außerdem die Anhebung der Altersgrenze für tion der Bewohner von solchen Einrichtungen würde sich den Erwerb und Konsum von Zigaretten auf 18 Jahre. Ab mit einer Umsetzung des vorliegenden Gesetzesentwurfes 1. Januar 2009 dürfen Zigaretten an Automaten erst an einschneidend ändern. Eine Umsetzung des Rauchver- Volljährige abgegeben werden. bots auf alle Arbeitsstätten hätte zur Folge, dass ältere, Damit ist die Regelungskompetenz des Bundes ausge- pflegebedürftige, behinderte Menschen in ihrem Privat- schöpft. Die Zuständigkeit für landeseigene Einrichtungen bereich nicht mehr rauchen dürften. Es muss hier einen und die Gastronomie liegt bei den Ländern. Diese sind be- (B) Spielraum geben, welche Schutzmaßnahme im Einzelfall reits tätig geworden und haben Nichtraucherschutzgesetze (D) angemessen ist. Diesen geben Gesetzentwurf und Anträge für die Bereiche verabschiedet, für die sie zuständig sind. von Bündnis 90/Die Grünen nicht. Auch wenn es im Bereich der Gaststätten noch Nach- Wegen dieser rechtlichen und inhaltlichen Bedenken besserungsbedarf gibt, so haben doch all die genannten lehnen wir diese ebenso ab wie den Antrag einiger Abge- Maßnahmen dazu beigetragen, dass die Menschen in un- ordneter unter der Überschrift „Effektiver Schutz vor serem Land heute besser denn je vor dem gefährlichen Passivrauchen zügig gesetzlich verankern“. Denn der Tabakrauch geschützt sind. dort geforderte Gesundheitsschutz von Arbeitnehmerin- nen und Arbeitnehmern wird schon heute von der Arbeits- Die vorliegenden Anträge und der Gesetzentwurf der stättenverordnung vorgeschrieben. Nach § 5 Abs. 1 Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zielen darauf ab, die ge- Satz 1 ist der Arbeitgeber verpflichtet, die erforderlichen setzlichen Regelungen zu Rauchverboten in öffentlichen Maßnahmen zu treffen, damit die nicht rauchenden Be- Einrichtungen und in den Gaststätten zu überarbeiten. schäftigten in Arbeitsstätten wirksam vor den Gesund- Das Arbeitsschutzgesetz soll nach Vorstellung von Bünd- heitsgefahren durch Tabakrauch geschützt sind, gege- nis 90/Die Grünen im Sinne eines umfassenden Gesund- benenfalls auch durch ein Rauchverbot. Hinsichtlich der heitsschutzes für Arbeitnehmer überarbeitet werden. Wahl der konkreten Maßnahmen innerhalb des Betriebes § 5 der Arbeitsstättenverordnung gewährleistet einen lässt die Vorschrift aber dem Arbeitgeber und den Be- Gesundheitsschutz für Arbeitnehmer. Der Arbeitgeber hat triebs- und Personalräten Regelungsspielraum, der an- die Aufgabe, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, gesichts der Vielgestaltigkeit der betrieblichen Verhält- um die nicht rauchenden Beschäftigten wirksam vor dem nisse notwendig ist. Tabakrauch zu schützen. In Arbeitsstätten mit Publikums- Deshalb werden wir den vorliegenden Gesetzesent- verkehr muss der Arbeitgeber die Schutzmaßnahmen je- wurf und alle weiter vorgelegten Anträge ablehnen. doch nur insoweit treffen, wie es die Natur des Betriebes zulässt. Maria Eichhorn (CDU/CSU): Die Streichung dieses Absatzes, wie die Grünen es Rauchen und Passivrauchen sind das größte Gesund- fordern, würde nicht in Kneipen gelten, die vom Inhaber heitsrisiko für Atemwegs-, Herz-Kreislauf- und Krebs- alleine beziehungsweise von seinen Angehörigen mit erkrankungen in Deutschland. Dies ist unbestritten. Das geführt werden. Außerdem wären durch eine solche Re- Deutsche Krebsforschungszentrum geht davon aus, dass in gelung nur die Arbeitnehmer geschützt, nicht aber die Deutschland jährlich bis zu 140 000 Menschen an den Fol- Gäste. Für sie sind nach der Föderalismusreform die gen des Rauchens sterben, mindestens 3 300 allein durch Länder über das Gaststättenrecht zuständig. Dies ist von

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23287

Maria Eichhorn (A) Vertretern des Justizministeriums, des Innenministeriums gen zum Nichtraucherschutz für öffentliche Gebäude, für (C) und des Arbeitsministeriums übereinstimmend bereits am die der Bund zuständig ist, auf Bundesebene erlassen, die 15. Januar 2007 bei einer Anhörung des Petitionsaus- ohne jede Diskussion heute große allgemeine Akzeptanz schusses des Bundestages festgestellt worden. Die Forde- genießen. rung von Bündnis 90/Die Grünen, den Schutz vor Passiv- rauch über das Arbeitsschutzgesetz bundeseinheitlich zu Jetzt liegt aus der Anfangszeit der Diskussion um den regeln, geht demnach an der Realität vorbei. Nichtraucherschutz noch ein Antrag der Grünen vor. Die- sen lehnen wir zum jetzigen Zeitpunkt ab, denn nach dem Eine klare Regelung ist nur über das Gaststättenrecht Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom Sommer möglich, dies liegt in der Hand der Länder. Hier wäre eine 2008 haben die Bundesländer noch bis zum Ende dieses einheitliche Regelung sinnvoll, um die Menschen überall in Jahres Zeit, ihre einzelnen Gesetze zum Schutz vor dem Deutschland gleichermaßen vor den Gefahren des Tabak- Passivrauchen zu überarbeiten. Ich plädiere deshalb da- rauches zu schützen. Im Urteil vom 30. Juli 2008 hat das für, abzuwarten, ob die Länder ihre Hausaufgaben ma- Bundesverfassungsgericht ganz klar herausgestellt, dass chen und in dem Prozess eine dem Nichtraucherschutz auch ein ausnahmsloses Rauchverbot in Gaststätten zum dienliche, einheitliche Linie finden. Sollte dies allerdings Schutz vor den Gefahren des Passivrauchens verfassungs- nicht gelingen, wonach es im Moment aussieht, müssen gemäß ist. Es sei zudem gerecht, da für alle gastronomi- wir prüfen, ob ein bundeseinheitliches Vorgehen doch schen Einrichtungen und Kneipen dann die gleichen ge- möglich ist. Mit einem Flickenteppich von 16 unter- setzlichen Bestimmungen gelten würden. schiedlichen Nichtraucherschutzgesetzen ist niemandem gedient. Das Bundesverfassungsgericht hat die Bundesländer daher aufgefordert, bis zum 31. Dezember 2009 ihre Ge- Eine Bundesregelung könnte über den Arbeitsschutz setze zum Rauchverbot neu zu fassen und gerecht für alle getroffen werden. Nach der intensiven Diskussion der Beteiligten zu gestalten. Diese Chance muss von den Län- vergangenen Monate favorisiere ich diesen Weg jedoch dern ergriffen werden, um eine einheitliche Gesetzeslage nicht mehr, da sich gezeigt hat, dass auch dieser Ansatz zu schaffen. Nur so kann Rechtssicherheit und Klarheit Lücken aufweist. Denn die so geregelten Rauchverbote geschaffen werden. Notwendig sind klare Regelungen. gelten nur für Lokale mit Angestellten, reine Familienbe- Jede Ausnahmeregelung führt zu einer unübersichtlichen triebe bleiben außen vor. Wer keine Bedienungen oder Rechtslage und zur Benachteiligung betroffener Gruppen. Putzfrauen angestellt hat, dem kann man dann auf dieser Basis kein Rauchverbot vorschreiben. Deshalb halte ich Mehrere repräsentative Umfragen des Deutschen eine Variante, zu der die Verfassungsrichter in ihrem Ur- Krebsforschungszentrums haben ergeben, dass es bei der teil einen Hinweis gegeben haben, für sinnvoller, nämlich Bevölkerung eine große Zustimmung für einen umfassenden (B) eine bundeseinheitliche Regelung mit dem Gesundheits- (D) Nichtraucherschutz gibt. Weiterhin wünschen sich die schutz zu rechtfertigen. Dies wäre über § 74 des Grund- Menschen eine für alle Bundesländer einheitliche Gesetz- gesetzes möglich, welcher erlaubt, Maßnahmen gegen gebung. Die Meinung der Bevölkerung muss in den Neu- gemeingefährliche Krankheiten zu ergreifen. fassungen der Gesetze Berücksichtigung finden. Falls die Länder die ihnen zur Verfügung bleibende Der Blick ins europäische Ausland zeigt: Nur mit einem Zeit nicht sinnvoll nutzen, muss das Problem bundesein- absoluten Rauchverbot kann letztlich das vorrangige Ziel heitlich gesetzlich geregelt werden. Denn es geht nicht des Gesundheitsschutzes realisiert und gewährleistet wer- einfach nur um eine unangenehme Belästigung der Nicht- den. So wird die strikte italienische Regelung von 80 Pro- raucher, sondern um eine eindeutig nachgewiesene Ge- zent der Bevölkerung befürwortet und ist erfolgreich im sundheitsgefahr. Es ist wissenschaftlicher Konsens, dass Sinne des Gesundheitsschutzes. Bereits fünf Monate nach Passivrauchen das Risiko für chronische Erkrankungen Inkrafttreten des Nichtraucherschutzgesetzes ist der Ver- erhöht, die tödlich enden können. Ein Blick in die wissen- kauf von Zigaretten um 13 Prozent zurückgegangen. Es schaftlichen Publikationen zeigt: Wir reden hier nicht nur ist zu erwarten, dass sich dieser positive Trend auch in von Augenbrennen, sondern von Herzerkrankungen, Deutschland durchsetzt, wenn ausnahmslose Rauchver- Schlaganfällen und Lungenkrebs! Bei Erwachsenen führt bote bundesweit eingeführt werden. Passivrauchen unter anderem zu einem um 24 Prozent er- Der Bund kann nach Aussage verschiedener Ministe- höhten Risiko für Lungenkrebs und einem um 25 Prozent rien diese Regelungen jedoch nicht treffen. Es liegt an den erhöhten Risiko für koronare Herzerkrankungen. Laut ei- Bundesländern, ihre Bürger in allen öffentlichen Räumen ner Studie des Deutschen Krebsforschungszentrums ster- zu schützen. ben in Deutschland jährlich circa 3 300 Personen, weil sie Passivrauch ausgesetzt sind. Konsequente Rauchver- bote sind das einzig probate Mittel gegen diese völlig un- Dr. Carola Reimann (SPD): nötigen Todesfälle. Unser Gruppenantrag war die Initialzündung für eine Diskussion in Bund und Land, die jetzt nach der Födera- Inzwischen haben sich auch erste Studien mit den ge- lismuskommission I und dem Gaststättenrecht in Länder- sundheitlichen Auswirkungen eines Rauchverbots in öf- hand dazu geführt hat, dass wir verschiedenste Regelun- fentlichen Räumen auf die Bevölkerungsebene befasst. In gen in Bundesländern im Bereich der Gaststätten haben. diesen Studien wurden Herzinfarktraten in der Bevölke- Dies führt immer wieder zu Diskussionen. Gesundheits- rung auf Basis von Daten zu Krankenhauseinweisungen politisch ist dies keine ideale Lösung. Deswegen haben und Krankenhausdiagnosen vor und nach Einführung ei- wir ab 1. September 2007 geltende konsequente Regelun- nes Rauchverbots in öffentlichen Räumen verglichen.

Zu Protokoll gegebene Reden 23288 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Dr. Carola Reimann (A) Bisher publizierte Studien aus Italien und den USA zeigen Sollten die Länder allerdings den Nichtraucherschutz (C) eine deutliche Verringerung der Herzinfarktraten von weiter aushöhlen, indem sie zum Beispiel den Gastwirten 8bis 19 Prozent. in Einraumgaststätten anheimstellen, das Rauchen zu ge- statten, ist der Bundestag gefordert. Im Interesse des Ge- Passivrauchen verursacht immens negative gesund- sundheitsschutzes der Bevölkerung müssten wir in der heitliche Wirkungen. Rauchverbote zeigen überaus posi- nächsten Legislaturperiode eine bundeseinheitliche Re- tive Effekte. Zudem sprechen sich 75 Prozent der Bürger gelung treffen. Mögliche Wege dazu hat das Bundesver- für einen strikten Nichtraucherschutz aus. Deshalb sind fassungsgericht aufgezeigt. jetzt die Bundesländer gefordert, verantwortungsvoll zu handeln. Wenn sie bis Ende 2009 keine zufriedenstellen- den Nichtrauchergesetzgebungen vorweisen können, Detlef Parr (FDP): werden wir prüfen, wie wir den Nichtraucherschutz bun- Bereits kurz vor Weihnachten haben wir uns mit der deseinheitlich regeln können. Frage beschäftigt, ob der Bund ein umfassendes Rauch- verbot in Gaststätten über die Arbeitsstättenverordnung Dr. Marlies Volkmer (SPD): beschließen sollte. Seit Dezember hat sich die Lage in Deutschland aus liberaler Sicht verbessert – und den Ge- Mit dem Bundesnichtraucherschutzgesetz ist ein gro- setzesentwurf obsolet gemacht. ßer Schritt in Richtung rauchfreie Luft und damit für den Gesundheitsschutz getan worden. Im Gesetz wurden Re- Im Sommer 2008 urteilte das Bundesverfassungsge- gelungen zum Nichtraucherschutz in Bundesbehörden richt, dass eine Überarbeitung der Nichtraucherschutzge- und öffentlichen Verkehrsmitteln getroffen. setze nötig war. Die Bundesländer wurden aufgefordert, ihre Gesetze unter Beachtung der Eigenverantwortung Die Rauchfreiheit in diesen Bereichen ist eine deutli- der Bürger und ihrer freiheitlichen Rechte zu überarbei- che Verbesserung. Der Bundesgesetzgeber hat klar ge- ten. Die Richter haben treffend erkannt, dass ein umfas- macht, dass Nichtrauchen das Normale ist und es auf sender Nichtraucherschutz auch dann gewährleistet wer- rauchfreie Luft einen Rechtsanspruch gibt. den kann, wenn Ausnahmen möglich sind. Nach der Föderalismusreform liegt das Gaststätten- recht leider in der Zuständigkeit der Länder. Ihnen oblag Die meisten Bundesländer nutzen die Möglichkeit, es nun, für ihre Behörden und für die Gaststätten Rege- sich für ein weniger strenges Rauchverbot zu entschei- lungen zu treffen. Die Verabredung von Eckpunkten gab den. Ausnahmen sind ausdrücklich zugelassen. Während Anlass zur Hoffnung, ein Flickenteppich unterschiedli- sich Ende 2008 viele Länder noch in der Ausarbeitung ih- cher Regelungen könnte vermieden werden. In den kon- rer Gesetze befanden, sind wir bereits einige Monate spä- kreten Gesetzgebungsverfahren wurde diese jedoch ent- ter einen Schritt weiter. In Bayern, NRW, Brandenburg (B) täuscht. Alle Länder haben Ausnahmen vom Rauchverbot und Rheinland-Pfalz werden die novellierten Gesetze ge- (D) zugelassen, die wegen der damit verbundenen Ungleich- rade den Parlamenten zugeleitet oder dort in den Aus- behandlung Anlass zu Klagen gaben. schüssen diskutiert. Nach der Vorgabe des Bundesverfas- sungsgerichtes müssen die Novellierungen bis zum Die Gerichte haben diesen Klagen zum Teil stattgege- 31. Dezember 2009 abgeschlossen sein. Wir befinden uns ben. Insbesondere das Urteil des Bundesverfassungsge- voll im Zeitplan, es besteht kein Druck, über den Bund zu- richts hat bestätigt, dass solche Ausnahmen – je nach sätzliche Regelungen zu treffen. Und wir befinden uns Ausgestaltung – unzulässige Ungleichbehandlungen dar- nicht im rechtsfreien Raum: Für die Übergangsphase bis stellen können. Das heißt aber nicht, dass das Rauchver- Ende des Jahres haben die Richter klare Vorgaben ge- bot unzulässig ist, sondern es eben die Ausnahmen davon macht. sind. Die Grünen versuchen mit ihrer Initiative, diesen Pro- Für mich ist deshalb der Teil der Urteilsbegründung zess zu torpedieren und an anderer Stelle eine Überregu- von größter Bedeutung, der bestätigt, dass der Staat den lierung zu erzwingen. Wie ich bereits am 18. Dezember Gesundheitsschutz höher ansiedeln darf als die Freiheit erklärte, möchte ich das Augenmerk auf die Arbeitsplätze der Berufsausübung und die Handlungsfreiheit der Rau- in der Gastronomie richten. Die meisten Bundesländer chenden. Ein generelles Rauchverbot ohne Ausnahmen haben sich entschieden, Ausnahmeregelungen in der wäre deshalb zulässig. Gastronomie zuzulassen. Diese Position teilt im Übrigen auch die Bevölkerung. Die meisten Bürgerinnen und Bür- In seinem Minderheitenvotum formuliert Bundesver- gen wollen kein Totalverbot. In seiner abweichenden fassungsrichter Bryde deutlich, was in der Urteilsbegrün- Meinung erklärt der Verfassungsrichter Johannes dung nur zwischen den Zeilen zum Ausdruck kommt: Es Masing, dass ein vollständiges Rauchverbot nicht ver- gibt eine Kompetenz des Bundes zur Regelung genereller hältnismäßig ist, sondern eine Bevormundung der Bürger Rauchverbote. darstellt. Was richtig ist, bleibt richtig. Das Bundesverfassungsgericht ist in dieser Frage der Zurück zu den Arbeitsplätzen in der Gastronomie: Seit Diskussion in den Parlamenten voraus. Unser Ziel muss Oktober 2002 ist in § 5 der Arbeitsstättenverordnung es sein, diesen Vorsprung aufzuholen. (ArbStättV) der Schutz des Arbeitnehmers vor Passivrau- Die Bundesländer sind aufgefordert, die Ungleichbe- chen geregelt. § 5 ArbStättV statuiert kein generelles handlung ihrer Gastronomen aufzuheben. Wir appellie- Rauchverbot in Arbeitsräumen, sondern verpflichtet den ren an die Bundesländer, einen generellen Nichtraucher- Arbeitgeber, nichtrauchende Beschäftigte zu schützen. schutz in der Gastronomie gesetzlich zu verankern. Die Arbeitgeber haben somit die Aufgabe, im Rahmen ei-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23289

Detlef Parr (A) ner Gefährdungsbeurteilung zu ermitteln, ob und in wel- ist europarechtlich nicht begründbar. Zudem wäre die Er- (C) chem Umfang die Beschäftigten in ihrer Gesundheit ge- arbeitung einer neuen Richtlinie sehr umstritten, da fährdet werden oder sein könnten. Darunter fällt auch der ebenfalls keine eindeutige rechtliche Grundlage besteht. Schutz vor Passivrauchen. Dem Arbeitgeber wird ein Er- Zum jetzigen Zeitpunkt eine erneute Regelung durchzu- messensspielraum zugebilligt, der unternehmerische As- drücken, solange noch nicht mal die Vorgaben für die pekte wie Kosten, das zahlenmäßige Verhältnis von Rau- aktuell gültigen Gesetze überarbeitet sind, ist weder sinn- chern und Nichtrauchern im Betrieb sowie Fragen der voll noch effizient, gleichgültig, ob es sich um den Bund Branchenüblichkeit berücksichtigt. Fazit: Die vorliegen- oder die EU-Kommission handelt. den Regelungen sind umfassend, eine weitere Regulie- rung durch den Bund ist überflüssig. Eigenverantwortung Ich hoffe, dass dieser Aktionismus nicht durch Erfolg gekrönt wird. Die Grünen sollten sich an die Regelungen kann gelebt werden. Staatliche Gängelung brauchen wir halten, die sie in den mitregierten Ländern unterstützen: nicht. In Bremen haben sich die Grünen zusammen mit SPD, Trotzdem werden immer wieder Rufe nach einer Ver- CDU und FDP für eine liberale Lösung eingesetzt. schärfung der Arbeitsstättenverordnung, ArbStättV, durch den Bund laut, obwohl die geltenden Regelungen Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): bereits heute im Einklang mit dem WHO-Rahmenüber- Das Versagen der Bundesregierung beim Schutz vor einkommen zur Eindämmung des Tabakkonsums stehen. Passivrauchen insbesondere in Gaststätten ist ein Lehr- Jetzt sowohl das Arbeitsschutzgesetz sowie die Arbeits- stück mangelnden politischen Willens und/oder Könnens. stättenverordnung grundlegend zu ändern, um vor Pas- Es ist ein markantes Beispiel einer Politik, die keine Ver- sivrauchen am Arbeitsplatz zu schützen, ist weit über das antwortung für unbequeme Entscheidungen übernehmen Ziel hinausgeschossen. will, aber trotzdem Entscheidungen ankündigt, die sie aber in Wirklichkeit nie treffen oder durchsetzen will. Auch auf europäischer Ebene gibt es immer wieder vereinzelt Versuche, eine umfassende Regulierung beim Wie steht es derzeit mit der Gesetzgebung? Das Wort Rauchen zu erreichen. Nach wie vor verfügt die Euro- Flickenteppich hat vermutlich selten besser gepasst als päische Union mit gutem Grund allerdings nicht über bei den Regelungen zum Schutz vor dem Gefahrenstoff eine allumfassende Gesetzgebungskompetenz und kann Rauch. Statt einer einheitlichen Regelung, die es allen kein generelles Rauchverbot erlassen. Auch die EU-Ver- Bürgerinnen und Bürgern, über kurz oder lang, deutlich tragsbestimmungen in den Bereichen Gesundheits-, Ver- leichter machen würde, sich damit zu identifizieren oder braucher- oder Arbeitnehmerschutz sehen ein solches sie auch nur zu akzeptieren, haben wir nun 16 verschie- Verbot nicht vor. Es ist lediglich möglich, dass die EU denen Regelungen in den Bundesländern. Und daran (B) flankierende Maßnahmen zur Unterstützung, Koordinie- trägt diese Bundesregierung großen Anteil. Eine klare, (D) rung oder in Ergänzung der bereits ergriffenen Maßnah- wenn auch strikte Regelung hätte viel weniger Wider- men der Mitgliedstaaten zum Gesundheitsschutz durch- stand und Aufruhr erzeugt. An dieser Stelle wird oft zu führt. Ob und wann die EU eine solche Initiative ins Recht auf die Einführung des Sicherheitsgurtes hingewie- Leben rufen wird, ist ungewiss, zumal auch in Brüssel und sen. Vor Einführung gab es große Skepsis und Ablehnung. Straßburg Wahlkampf angesagt ist. Ende Oktober 2008 Jahre später waren diese fast völlig verschwunden. Das hatte der Kommissar für Beschäftigung und soziale An- Sein bestimmt eben auch das Bewusstsein. Das, was die gelegenheiten Vladimir Spidla, Tschechien, einen Vorstoß Bundesregierung beim Schutz vor Passivrauchen in der zum Rauchverbot gewagt. In gemeinsamer Sache mit der Gastronomie mit zu verantworten hat, schafft aber höchs- Kommissarin für Gesundheit Androulla Vassiliou, tens Bewusstseinsstörungen. Zypern, soll es eine Initiative zur Einführung eines euro- Letztlich haben wir es in der Gastronomie mit drei paweiten Rauchverbots am Arbeitsplatz geben. Der Vor- Gruppen von passivrauchenden Personen zu tun: mit stoß von Kommissar Spidla kam nicht wirklich gut an. Ein Gästen – Erwachsenen wie Kindern – , mit Arbeitgebe- EU-weites Rauchverbot käme einer Aushebelung des rinnen und Arbeitgebern und mit Arbeitnehmerinnen und Subsidiaritätsprinzips gleich und verursachte zu Recht Arbeitnehmern. Betrachten wir diese drei Gruppen, müs- heftige Reaktionen. Ende Januar 2009 hat Vladimir sen wir feststellen, dass die Gäste noch am ehesten die Spidla sich erneut für ein Rauchverbot an allen Arbeits- freie Wahl und Möglichkeit haben, dem Passivrauchen plätzen ausgesprochen. Konkret liegt auch heute noch auszuweichen. Besonders Arbeitnehmerinnen und Ar- nichts auf dem Tisch. Laut einer Antwort der Gesund- beitnehmer können dies aber nicht, ohne ihren Arbeits- heitskommissarin Vassiliou vom 3. März 2009 auf eine platz aufzugeben. Letzteres zu fordern wäre zynisch. Da- Frage des österreichischen EU-Abgeordneten Andreas her muss besonders ihnen der größtmögliche Schutz vor Mölzer erwägt die Kommission derzeit, „einen Vorschlag dem gefährlichen Passivrauchen ermöglicht werden. für eine Empfehlung des Rates vorzulegen, um die Mit- gliedstaaten dabei zu unterstützen, umfassende Rauch- Dieser Schutz ist in einem von SPD-Abgeordneten verbote gemäß ihrer Verpflichtungen aus dem FCTC zu initiierten Antrag vom September 2006 gefordert worden. beschließen und einzuführen.“ Ein konkreter Entwurf ist In dem Antrag wird der Bundestag aufgefordert – ich zi- aber Sache der neuen Kommission, die erst Ende des Jah- tiere –, „Einen Gesetzentwurf in den Deutschen Bundes- res ins Amt kommt. Fraglich ist nach wie vor, ob der Kom- tag einzubringen, welcher Arbeitnehmerinnen und Ar- mission entsprechende rechtliche Mittel überhaupt zur beitnehmer in Zukunft an allen Arbeitplätzen (also auch Verfügung stehen: Der Erlass einer Verordnung, die un- im Bereich der Gastronomie) ausnahmslos vor Passiv- mittelbar in nationales Recht umgesetzt werden müsste, rauchen schützt“. Die SPD-Abgeordneten haben in der

Zu Protokoll gegebene Reden 23290 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Dr. Martina Bunge (A) letzen Woche diesem Antrag im Gesundheitsausschuss Von beidem sind die Regierung und die FDP weit ent- (C) nicht zugestimmt. Vermutlich wird das auch die Fraktion fernt. heute nicht tun. Ich frage mich da, ob die SPD-Abgeord- neten auch von der bereits benannten Bewusstseinsstö- Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): rung erfasst wurden oder ob es ihnen nur an Durchset- zungsvermögen gegenüber der CDU/CSU fehlt. Wir reden heute über den Schutz vor Passivrauchen. Kein neues Thema, aber eines, das der Sache nach nicht Dem Antrag der Grünen, die sich bemüht haben, über erledigt ist. Denn der Flickenteppich der Regelungen für Veränderungen im Arbeitsschutzgesetz und in der Ar- die Gaststätten, den wir bundesweit vorfinden, kann nicht beitsstättenverordnung einen Weg aufzuzeigen, wie der zufriedenstellen – uns Grüne jedenfalls nicht. Andere, die Arbeitsschutz an allen Arbeitsplätzen verankert werden einst mit großem Elan in die Debatte gingen, haben inzwi- kann, tritt die SPD entgegen, indem sie sich auf mögliche schen kapituliert. Oder, liebe Kolleginnen und Kollegen verfassungsrechtliche Bedenken zurückzieht. Die CSU von der SPD, sollen wir etwa annehmen, dass es Ihnen meint gar, die Regelung würde nur die Arbeitnehmerin- von vorneherein nur um verbale Entschlossenheit ging, nen und Arbeitnehmer schützen, nicht die Gäste. Als ob in das Ergebnis aber zweitrangig war? Jedenfalls war es ein der Gastronomie die Bedienung und der Gast sich nicht trauriger Anblick, als im Gesundheitsausschuss alle an- in den gleichen Räumen aufhalten würden! Die CDU wesenden SPD-Mitglieder sich bei ihrem eigenen Antrag meint, der Antrag wolle nur vernebeln, dass eben nicht mit der Forderung zum Nichtraucherschutz im Arbeits- nur Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer betroffen sind, schutz enthielten. Ist das politische Entschlossenheit auf sondern eben auch Gäste, und versucht daraus irgend- sozialdemokratisch? welche Gründe zur Ablehnung des Antrags zu konstruie- ren. Und ich sage Ihnen dazu gleich: Ja, auch in privaten Wir Grünen haben seit 2006 mehrere konkrete Vor- Räumen, beispielsweise in der ambulanten Pflege müssen schläge in den Bundestag eingebracht, zuletzt unseren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor Passivrauchen Gesetzentwurf „Verankerung eines umfassenden Schut- geschützt werden. Es kann nicht angehen, dass der zes vor Passivrauchen im Arbeitsschutzgesetz“, der in Wunsch zu rauchen des einen über den Wunsch nach Ge- der Zielrichtung mit dem Gruppenantrag von Carola sundheitsschutz des anderen gestellt wird. Von der FDP Reimann und anderen übereinstimmt. Eine umfassende ist in dieser Frage eh nichts zu erwarten. Für die Gesund- Regelung im Arbeitsschutz hätte den Vorteil, dass alle Ar- heit ist für sie jeder selbst verantwortlich, daher seien Re- beitnehmerinnen und Arbeitnehmer – auch die in der gelungen zum Gesundheitsschutz grundsätzlich unnötig. Gastronomie – profitieren, und das wäre schon die halbe Hier lautet die Devise: Wir warten beim Passivrauchen Miete für rauchfreie Lokale. Oder sollen wir es vielleicht gerne bis zum Sanktnimmerleinstag. gut finden, dass jetzt für die Kneipe in andere (B) Regelungen gelten als in Ludwigshafen? Der Rhein trennt (D) Ich halte alle diese Gründe nur für vorgeschoben und zwar Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, aber die widersprüchlich. Das eigentliche Problem ist doch, dass Menschen auf beiden Seiten des Flusses verdienen den weder die CDU/CSU, die SPD noch die FDP an einem gleichen Schutz vor Passivrauchen. wirklichen wirksamen Schutz vor Passivrauchen bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Gastronomie- Und für die, die es vergessen oder verdrängt haben, sei bereich interessiert sind. Dann sollen sie aber auch klar an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts erinnert. sagen, dass sie es richtig finden, dass zahlreiche Arbeit- Rauchverbote in Gaststätten sind ohne Ausnahme mög- nehmerinnen und Arbeitnehmer an Arbeitsplätzen be- lich! Mit dem derzeitigen Regelungsgewirr erzeugt man schäftigt sind, an denen sie tagtäglich Passivrauchen und doch erst den Widerstand der Bürgerinnen und Bürger, damit erheblichen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt auf den sich andere dann berufen. CDU/CSU und FDP sind. Ich frage mich allerdings, warum der Schutz vor waren in diesen Debatten für einen konsequenten Schutz Passivrauchen dann an anderen Arbeitsplätzen durchge- vor Passivrauchen schon immer die absoluten Bremser setzt wurde. Oder ist nur die Gesundheitsgefährdung von und verkauften dies als Freiheit. Dass die Freiheit auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der Gastrono- Grenzen hat, wo sie der Gesundheit der anderen schadet, mie in Ordnung, während andere Arbeitnehmerinnen und blieb außen vor. Aber auch das SPD-geführte Arbeitsmi- Arbeitnehmer selbstverständlich zu schützen sind? Wenn nisterium zog kräftig mit am Bremshebel. Ich sage Ihnen: wenigstens die Interessen der Gastronomen dabei eine Freiheit hat ihre Grenzen, wo sie der Gesundheit der an- Rolle spielen würde, aber wie heißt es in dem eigenen An- deren schadet! Aber die FDP lernt nie dazu: „Freie Fahrt trag der SPD-Abgeordneten so schön: Es ist wissen- für freie Bürger“ – auch da bleiben der CO2-Ausstoß, die schaftlich belegt, dass eine rauchfreie Gastronomie zu Klimaschädigung oder die Verkehrstoten außen vor. Umsatzsteigerungen, nicht zu Umsatzminderungen ge- „Freier Qualm für freie Raucher“ lautet das Motto für führt hat. Und die Praxis zeigt dies auch sehr gegenwär- den Schutzzaun um die Raucherinnen und Raucher. Die tig bei uns in den Bundesländern, wo der Schutz vor Pas- Mehrheit, die unter dem Qualm leidet, ist nicht im Blick. sivrauchen in der Gastronomie einigermaßen konsequent Bei der FDP ist die Freiheit in schlechten Händen! umgesetzt wird. Wenn wir zum Ende dieser Legislaturperiode Bilanz Ich denke, jedem in diesem Hause ist klar, dass der ziehen, dann haben wir erreicht, dass die öffentlichen Ge- wirksame Schutz vor Passivrauchen in der Gastronomie bäude und die öffentlichen Verkehrsmittel ebenso wie der auf Dauer nur Gewinne und Gewinner bringen wird. Um Bundestag größtenteils rauchfrei sind. Mich stört dabei diese Erkenntnis umzusetzen, braucht es nur den Willen nicht, dass es die Möglichkeit gibt, Raucherräume einzu- und den Mut, vernünftige Politik um- und durchzusetzen. richten. Dies habe ich immer unterstützt. Dass jedoch kei-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23291

Birgitt Bender (A) nerlei Vorkehrungen wie Be- und Entlüftung oder leichter sache 16/10338 mit dem Titel „Bundesweit einheitlichen (C) Unterdruck, um die Umgebung vor dem Qualm der Rau- Schutz vor Passivrauchen in Gaststätten verankern“. Wer cherräume zu schützen, vorgeschrieben sind, ist ein Skan- stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dal. Hier hat die Bundesregierung versagt. Endlich eine dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung vernünftige Verordnung zu erlassen, ist die unerfüllte ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP ge- Hausaufgabe, die dringend angegangen werden muss. gen die Stimmen der Grünen und der Linken angenom- Wenn die Bundesregierung nichts tut, dann ist das Parla- men. ment in der neuen Legislaturperiode gefragt. Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b: Die Situation in den Gaststätten lässt sehr zu wün- schen übrig. Der von uns als Flickenteppich unterschied- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette lichster Regelungen in den Bundesländern vorhergesagte Hübinger, Stefan Müller (Erlangen), Michael Zustand ist leider Realität geworden und wird sich im Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Frak- Laufe dieses Jahres vermutlich noch verschärfen. Hier tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulla erleben wir gerade ein massives Rollback. Wir Grünen Burchardt, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Willi werden auch in den Ländern dafür kämpfen, dass die Aus- Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion nahmen vom Rauchverbot nicht die Regel werden. der SPD Sie sehen, wir werden auch in der nächsten Legislatur- UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Ent- periode nicht arbeitslos und es wird weitere Debatten und wicklung“ weiterhin aktiv umsetzen – Folge- – so hoffe ich – Entscheidungen geben, die den Schutz vor aktivitäten zur UNESCO-Weltkonferenz ent- Passivrauchen weiter vorantreiben. Wir Grünen werden wickeln nicht locker lassen. – Drucksache 16/12450 –

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Wir kommen damit zur Abstimmung über den Ge- Hirsch, Dr. Petra Sitte, Volker Schneider (Saar- setzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur brücken) und der Fraktion DIE LINKE Verankerung eines umfassenden Schutzes vor Passivrau- UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Ent- chen im Arbeitsschutzgesetz. wicklung“ konsequent umsetzen Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt auf – Drucksache 16/12306 – Drucksache 16/12351, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/10337 abzu- Folgende Redner haben ihre Reden zu Protokoll ge- (D) (B) lehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu- geben: Hübinger, Burchardt, Meinhardt, Schneider stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da- (Saarbrücken), Eid und Storm. gegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD Anette Hübinger (CDU/CSU): und FDP gegen die Stimmen von Linken und Grünen ab- Die bisherige Umsetzung der UN-Dekade „Bildung gelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung für nachhaltige Entwicklung“ in Deutschland wird inter- die weitere Beratung. national als beispielhaft anerkannt. Zu diesem positiven Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- Zwischenfazit gelangte Dr. Roland Bernecker, General- empfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Druck- sekretär der Deutschen UNESCO-Kommission e. V., in sache 16/12408. Der Ausschuss empfiehlt unter der Sitzung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Buchstabe a die Ablehnung des Antrags der Abgeordne- Technikfolgenabschätzung am 4. März 2009. Diese Ein- ten Reimann, Binding, Spielmann und weiterer Abge- schätzung ist sehr erfreulich und sollte von allen Frak- ordneter auf Drucksache 16/2730 mit dem Titel „Effekti- tionen des Deutschen Bundestags entsprechend zur ven Schutz vor Passivrauchen zügig gesetzlich verankern“. Kenntnis genommen werden. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt Zu dieser positiven Beurteilung trägt bei, dass sich in dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh- Deutschland eine Vielzahl von unterschiedlichen Akteu- lung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP ren engagieren, schon circa 800 Projekte zur Thematik gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung der Lin- existieren und es auf Basis des Nationalen Aktionsplans ken angenommen. gelungen ist, Fortschritte in allen Bereichen der Bildung Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss, den An- bei der Verankerung des Leitbilds der nachhaltigen Ent- trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- wicklung zu erreichen. sache 16/2805 mit dem Titel „Wirksamen Schutz vor Passivrauchen im öffentlichen Raum umsetzen“ für erle- Dass die Konferenz „World Conference on Education digt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- for Substainable Development – Moving into the Second lung? – Wer stimmt dagegen? – Einstimmig ist die Be- Half on the UN Decade“ in der Zeit vom 31. März bis zum schlussempfehlung angenommen. 2. April 2009 in Bonn stattfindet, ist sicherlich auch als Anerkennung des deutschen Engagements zu werten. Die Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch- Konferenz widmet sich der Bilanz der letzten fünf Jahre stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des und bietet somit allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- aus den UNESCO-Mitgliedstaaten, aber auch uns Abge- 23292 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Anette Hübinger (A) ordneten des Deutschen Bundestages die Möglichkeit zur spätestens vier Jahren explodieren wird und die Erholung (C) Reflektion. der Weltwirtschaft bedroht. Nicht umsonst haben wir weit über 3 Milliarden Euro an Hilfen für die energetische Ge- Neben der Bestandsaufnahme der bisherigen Umset- bäudesanierung bereitgestellt – ein besonders gutes Bei- zung umfasst das Aufgabenspektrum der Weltkonferenz spiel für nachhaltige Entwicklung, können wir hier doch die Erörterung von strategischen Leitlinien für die zweite in den kommenden 15 Jahren bis zu 50 Milliarden Euro Hälfte der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Ent- Heizkosten einsparen und die Belastung der Atmosphäre wicklung“. In diesem Zusammenhang wird zu klären sein, mit CO erheblich verringern. welche neuen Akteure gewonnen werden müssen, wie 2 zukünftig Ressourcen für die umfangreichen weltweiten Nachhaltige Entwicklung, das heißt Kurswechsel, neu Aktivitäten mobilisiert werden können und wie der Nord- denken und anders entscheiden als bisher. Es heißt raus Süd-Austausch intensiviert werden kann. Die Ergebnisse aus den alten Routinen in Wirtschaft, Wissenschaft und der Konferenz werden in einer „Bonner Erklärung“ mün- Politik, es heißt, sich daran zu orientieren, dass der Er- den, welche – und dies unterstreicht den Stellenwert die- halt der natürlichen Lebensgrundlagen die Vorausset- ses Papiers – dem Exekutivrat und der Generalkonferenz zung für eine zukunftsfähige wirtschaftliche und soziale der UNESCO vorgelegt werden. Entwicklung ist. Die anstehende Weltkonferenz ist in meinen Augen Nachhaltigkeit braucht die Einsicht, dass es keine Per- eine geeignete Plattform, die bisherige Umsetzung zu spektive für eine Zukunft gibt, in der alle Menschen gut le- analysieren, weiterführende Strategien für die zweite ben können, wenn die alten Routinen, zu entscheiden, bei- Hälfte der Dekade zu entwickeln und den Blick auch behalten werden. Ändern müssen sich die täglichen schon auf die Zeit nach Ablauf der UN-Dekade zu richten. Entscheidungen, die Art und Weise, wie Menschen ihre Deshalb bekräftigen wir im Rahmen unseres Antrages die Bedürfnisse befriedigen, wie sie miteinander und mit ih- Ziele der UN-Dekade, regen darüber hinaus Maßnahmen rer natürlichen Umwelt umgehen. Weniger wird dann für die zweite Hälfe der Dekade an und fordern die Bun- mehr: mehr Wohlstand und mehr Lebensqualität durch desregierung auf, geeignete Perspektiven zur weiteren weniger Energie- und Ressourcenverbrauch, weniger Verankerung von Bildung für nachhaltige Entwicklung Schadstoffe, Emissionen und Abfälle. Gerade in Zeiten nach Auslaufen der UN-Dekade zu eröffnen. Daran an- der Krise ist Nachhaltigkeit das höchste Gebot – und da- knüpfend rege ich an, vonseiten der Bundesregierung ei- für brauchen wir Bildung und die Kreativität der nachfol- nen Bericht über die Ergebnisse und die daraus abzulei- genden Generationen. tenden Konsequenzen zu erstellen. Dieser kann eine gute Deshalb hat es sich als besonders weitsichtig erwie- Grundlage bilden, um den Nationalen Aktionsplan wei- sen, dass die Vereinten Nationen und die UNESCO mit ih- terzuentwickeln und – wie schon angesprochen – Per- (B) rem weltweiten Projekt „Bildung für nachhaltige Ent- (D) spektiven für die Verankerung des Themas „Bildung für wicklung“ nicht einfach nur für ein Jahr, sondern eine nachhaltige Entwicklung“ für die Zeit nach Auslaufen ganze Dekade lang für den entscheidenden Beitrag der der UN-Dekade aufzuzeigen. Bildung zur Nachhaltigkeit werben. Ob Aufschwung oder Als Deutscher Bundestag begleiten wir die Dekade seit Krise, in beiden Zeiten geht ohne Bildung gar nichts, will 2004 intensiv. Der damals verabschiedete Antrag wurde man die Herausforderungen einer ökologisch, ökono- von allen Fraktionen des Hauses einstimmig angenom- misch und sozial nachhaltigen Entwicklung konstruktiv men. Nicht zuletzt diese breite Zustimmung war ein nutzen. Grund dafür, weshalb die UN-Dekade in Deutschland in Die Mitglieder des Ausschusses für Bildung, For- so vorbildlicher Weise umgesetzt wurde. Deshalb werbe schung und Technikfolgenabschätzung begrüßen es des- ich dafür, dass der vorliegende Antrag der Fraktionen der halb nachdrücklich, dass Deutschland vom 31. März bis CDU/CSU und der SPD mit einer ebenso breiten, frak- zum 2. April dieses Jahres Gastgeber der UNESCO-Welt- tionsübergreifenden Mehrheit verabschiedet wird. konferenz zur Halbzeit der Dekade ist. Bei dieser hochka- rätig besetzten Konferenz geschieht, was gerade in der Ulla Burchardt (SPD): Krise jetzt ganz wichtig ist: über den Tellerrand blicken. Mitten in der Krise über Nachhaltigkeit zu reden, das Wir wollen sehen, was andere Länder für die nachhaltige mag einigen Ignoranten dieser Tage seltsam erscheinen. Entwicklung erreicht haben und was noch gemeinsam zu Müssen wir in Zeiten wie diesen nicht unseren eigenen tun ansteht. Und wir wollen eigene Fortschritte vorzei- Kopf retten? Muss der Staat dieser Tage nicht erst einmal gen. Das sind einige. Das Neue fällt nicht vom Himmel, es die Fehler des Raubtierkapitalismus auswetzen – sind da muss gelernt werden. Nachhaltigkeit war und ist der Auf- Umweltschutz, Bildung und Nachhaltigkeit nicht purer trag zum Paradigmenwechsel: raus aus der Kurzatmig- Luxus? Genau das sind sie nicht. Wenn wir in diesen Ta- keit, auch von Wahlperioden, hin zur langfristigen Per- gen die Augen vor der Zukunft verschließen und falsche, spektive. nicht nachhaltige Entscheidungen fällen, dann setzen wir die eigene und die Zukunft unserer Kinder aufs Spiel. Was in Rio de Janeiro 1992 als erstes Herantasten be- gann, hat der Bundestag in den vergangenen Jahren im- Erst vor ein paar Tagen hat es ein Bericht der Interna- mer wieder begleitet und angetrieben. Hier sind in den tionalen Energieagentur ganz dick unterstrichen: Wir letzten 15 Jahren die inhaltlichen Grundlagen gelegt und müssen uns jetzt wappnen für die Energiewende, für mehr die entscheidenden Weichen für eine Institutionalisierung nachhaltiges Wirtschaften und regenerative Energiefor- der Nachhaltigkeitsidee gestellt worden, an erster Stelle men – sonst werden wir machtlos, wenn der Ölpreis in durch die Arbeiten der beiden Enquete-Kommissionen

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23293

Ulla Burchardt (A) „Schutz des Menschen und der Umwelt“, die den Auftrag Patrick Meinhardt (FDP): (C) von Rio auch als Auftrag für die bundespolitische Ebene Der Umstand, dass Deutschland vom 31. März bis von der Leitidee bis zur Handlungsempfehlung durch- 2. April Gastgeber der UNESCO-Weltkonferenz „Bil- buchstabiert haben. Als wichtig für den eigenen Erkennt- dung für nachhaltige Entwicklung“ ist, ehrt uns. Wir kön- nisfortschritt erwiesen sich auch die Studien des Büros nen damit einen wichtigen Impuls für eine globale Strate- für Technikfolgenabschätzung, unserer „eigenen“ wis- gie zur verstärkten Zusammenarbeit und Entwicklung senschaftlichen Beratungskapazität. unter ökonomischen, ökologischen, sozialen und ethi- schen Aspekten liefern. Ja, gerade Wertefragen sollten Genauso richtig ist aber auch: Die Weltdekade ist wie wieder verstärkt auf der Bildungsagenda stehen. Es gilt, die nachhaltige Entwicklung kein Projekt, das sich vom gemeinsam mit unseren Nachbarstaaten Antworten auf Parlament beschließen und von der Regierung exekutie- drängende Fragen der Zukunft zu entwickeln und eine ge- ren lässt. Ohne das Engagement und die Beteiligung vie- meinsame Basis für eine weiterführende, systematische ler Menschen aus den unterschiedlichsten gesellschaftli- Politik zu schaffen. chen Bereichen ist eine nachhaltige Zukunftsgestaltung nicht zu machen. Gerade wir Liberale haben kein Problem damit, dass Lösungs- und Diskussionsansätze von der Situation in je- Ein Beispiel ist das Engagement der Mitarbeiter von dem Land abhängen. Und so verwundert es kaum, dass „Zweitsinn“, die in Dortmund aus Müll begehrte Designer- die Staaten sehr unterschiedlich mit den zu lösenden Pro- möbel machen. Heute out, morgen hip: Kleine und mittel- blemen umgehen. Allein auf nationaler Ebene findet sich ständische Unternehmen in Kooperation mit der Techni- eine Vielzahl von Akteuren aus Verwaltungen, Wirtschaft schen Universität Dortmund sorgen dafür, dass das und Nichtregierungsorganisationen, die mit dem Ziel der Abfallvolumen deutlich sinkt, indem Möbel, die sonst Verankerung der Bildung für nachhaltige Entwicklung weggeworfen würden, als Rohstoff für die Herstellung (BNE) erfolgreich zusammenwirken. Der Weg der Projekt- neuer Möbel genutzt werden und einen „zweiten Sinn“ auszeichnungen in Deutschland motiviert Schüler und erhalten – wie der Sessel Pixelstar, der aus recycelten Schulen, Lehrer und Eltern. Dieser Weg muss weiter ver- Span-, Pressstoff- und Tischlerplatten, aufgesägten Mas- folgt werden. sivholztischen und gebrauchten Schaumstoffresten aus alten Matratzen gemacht wird. Das Ding sieht Klasse In den vergangenen Wochen hat sich die AG-Bildung aus – und könnte die Bestuhlung im Bundestag vielleicht der FDP-Bundestagsfraktion einige dieser Erfolg ver- eines Tages ersetzen. sprechenden Projekte etwas genauer angesehen. Erst vorgestern saßen wir mit Vertreterinnen des Projekts „Nachhaltigkeit gestalten“ hat etwas mit Wissen und „leuchtpol“ zusammen. „leuchtpol“ will auf eindrucks- (B) Können zu tun; nachhaltige Zukunftsgestaltung braucht volle Weise Kindern im Kindergartenalter die Lust auf (D) neue Qualifikationen im umfassenden Sinne: „sustain Entdecken, Lernen und Verstehen wecken und zugleich abilities“! Dazu gehört neues Sach- und Fachwissen über für Erzieher und Erzieherinnen professionelle Weiterbil- die komplexen Zusammenhänge zwischen Mensch, Natur dungsseminare anbieten. So können sie Themen aus dem und Technik. Bereich Energie und Umwelt aktiv und spannend präsen- tieren lernen und Kinder anregend auf der Erkundung des Aber damit aus der Vision Nachhaltigkeit auch Wirk- Themenspektrums begleiten. Die Eon AG bringt sich als lichkeit wird, kommt es eben nicht nur auf das Wissen an. Hauptsponsor ein und fördert, frei von ideologischen „Sustain abilities“, das meint Fähigkeiten, dieses Wissen Zwängen oder Vorgaben, einen verantwortungsvollen auch anwenden zu können. Und das genau sind die Fähig- Umgang der Kinder mit natürlichen Ressourcen. Auch keiten, die hierzulande bislang auf allen Bildungsebenen der Einsatz der Telekom-Stiftung in der frühkindlichen zu wenig gefördert werden: vernetztes und vorausschauen- Bildung ist nicht hoch genug einzuschätzen. des Denken, Probleme angemessen kommunizieren zu können, sich in die Lage anderer hineinversetzen zu kön- Ein weiteres Projekt sind die Agenda-21-Schulen. De- nen und nicht zuletzt die Fähigkeit zu lebenslangem Ler- ren Arbeit ist wirklich hervorzuheben. Auf der Grundlage nen. eines Gutachtens von Professor Dr. Gerhard de Haan und Dorothee Harenberg vom Arbeitsbereich Umweltbildung Jetzt bietet sich die Chance, die Leitidee der Nachhal- der FU Berlin ist ein Programm aufgelegt worden, das tigkeit dauerhaft in informellen Bildungsprozessen wie in die „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ für allge- den klassischen Bildungsinstitutionen zu verankern – von meinbildende Schulen zum Ziel hat. Dabei konzentrieren der Grundschule bis zur Hochschule, in die berufliche sich die Ideengeber auf drei Module, „Interdisziplinäres Aus- und Weiterbildung. Gelänge das in den verbleiben- Wissen“, „Partizipatives Lernen“ und „Innovative Struk- den Dekade-Jahren, dann wäre das für das Bildungsan- turen“. Das Land Niedersachsen hat hier eine Vorreiter- gebot wie die Bildungspraxis in Deutschland ein qualita- rolle eingenommen und sich an dem Programm mit dem tiver Meilenstein. Vorhaben „Entwicklung und Erprobung einer ‚Bildung für eine nachhaltige Entwicklung‘ durch neue Formen Ich wünsche mir, dass diese – und auch die kommende – der Kooperation von Schulen, Umweltbildungszentren Bundesregierung die Ziele der UN-Dekade umsetzt und und anderen Partnern“ maßgeblich beteiligt und kann ihre Verankerung in allen Bildungsbereichen noch ver- mittlerweile eindrucksvolle Ergebnisse präsentieren. Ge- stärkt. Nachhaltigkeitsthemen sind nicht irgendein Zu- rade wenn es gilt, schwächeren Schülerinnen und Schü- satzmodul – und erst recht kein Spaß. Sie sind Quer- lern Perspektiven für den weiteren Werdegang zu eröff- schnittsanliegen: für die ganze Gesellschaft. nen und berufliche Chancen zu bieten, liefert dieses

Zu Protokoll gegebene Reden 23294 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Patrick Meinhardt (A) Projekt wertvolle Ansätze. Und für uns Liberale ist beson- Die Linke versteht die Forderung nach nachhaltiger (C) ders wichtig: Es ist ein konkreter Schritt zu mehr Bil- Bildung dagegen als umfassende Aufgabe – und vor die- dungsgerechtigkeit! Deswegen gilt: Alle Beteiligte müs- sem Hintergrund definieren wir in unserem Antrag drei sen mitgenommen werden. Herausforderungen: Erstens: Bildung ist nur dann nach- haltig, wenn alle gleichermaßen an Bildung teilhaben Heute ist ein Tag mit besonderer Symbolkraft. Die UN- können. Noch so löbliche Vorzeigeprojekte helfen nicht Behindertenrechtskonvention tritt in Deutschland in wirklich weiter, wenn es nicht gelingt, diese Errungen- Kraft. Gerade die damit verbundene Zielsetzung für mehr schaften in die Fläche zu übertragen und den Projektcha- integrative Bildungspolitik muss für uns Verpflichtung rakter zu überwinden. Zweitens braucht bessere Bildung sein. Das Motto der UNESCO „Bildung für alle“ hat auch bessere Rahmenbedingungen. Mit der UN-Dekade nicht allein die geografische Dimension, die Nord-Süd- „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ werden hehre Kooperation im Blick. Es bezieht sich auch auf die Frage, Ziele formuliert, die auch meine Fraktion unterstützt. Was wie behinderte und nicht behinderte Menschen besser aber sind solche Zielsetzungen wert, solange im deut- miteinander und besser voneinander lernen können. schen Bildungssystem Ganztagsschulen noch immer nicht die Regel sind, es an Lehrerinnen und Lehrern man- Die Fraktion Die Linke hat sich selber übertroffen. Sie gelt, zu wenig Kleinkinder einen Krippen- und/oder Kita- zieht nun sogar die UN-Dekade dazu heran, um wieder platz erhalten, Tausende Jugendliche ohne Ausbildungs- einmal die ewige linke Litanei von der „Überwindung des platz im Regen stehen gelassen werden, jede bzw. jeder gegliederten Schulsystems“ hinunterzuleiern. Durch Zehnte die Schule ohne Abschluss verlässt oder die Be- ständiges Wiederholen wird auch die falscheste Lösung treuungsquote an den Hochschulen immer weiter sinkt? nicht richtiger. Es reicht nicht, die Proklamation der Ziele zu bejubeln, es Das Thema Bildung zur nachhaltigen Entwicklung ist Aufgabe der Politik, für bessere Rahmenbedingungen geht uns alle an. Es ist eine gesellschaftliche Aufgabe, in der Bildung zu sorgen. Nicht zuletzt wäre es notwendig, fordert auch die Eltern zu mehr Erziehung und sollte ei- dass Bildung endlich als gesamtstaatliche Aufgabe von nen Konsens weit über die Parteigrenzen hinweg ermög- Bund und Ländern wahrgenommen und die Bildungs- lichen. Deswegen ist es für mich hochgradig bedauerlich, kleinstaaterei überwunden wird. dass es nicht gelungen ist, einen fraktionsübergreifenden Die dritte Herausforderung betrifft die inhaltliche Antrag zu Bildung für nachhaltige Entwicklung zu verab- Seite der Bildung: Ziel der UN-Dekade ist es unter ande- schieden. Die FDP-Bundestagsfraktion hatte ihre Bereit- rem auch mithilfe der Bildung zu einer sozialen und de- schaft zur Kooperation signalisiert. Doch die Koalition mokratischen Entwicklung der Gesellschaft beizutragen. aus CDU und SPD hat es vorgezogen, Oppositionsfrak- Damit dieses Ziel gelingt, muss vieles geändert werden. tionen auszuklammern und einen eigenen Weg zu (B) Bildungsinstitutionen müssen durch umfassende Mitbe- (D) beschreiten. Schade! Das Resultat, als Kompromiss der stimmungsrechte aller Beteiligten grundlegend demokra- Regierungsfraktionen, dieser vorliegende Antrag „UN- tisiert werden. Lernende sollen nicht mehr in Konkurrenz Dekade ,Bildung für nachhaltige Entwicklung‘ weiterhin zueinander lernen müssen, sondern gemeinsam und soli- aktiv umsetzen – Folgeaktivitäten zur UNESCO-Weltkon- darisch. Es reicht nicht, Demokratie zu lehren; das eigene ferenz entwickeln“ ist dann auch kaum dazu geeignet, Leben demokratisch mitbestimmend zu gestalten, muss laute Begeisterung hervorzurufen. Den Geist der Innova- für junge Mensch ganz konkret erfahr- und praktizierbar tion atmet er sicher nicht. Dennoch halten wir den hier sein. verfolgten Ansatz, ganz im Gegensatz zu dem Antrag von der Linken, für vertretbar. Die Linke setzt sich dafür ein, dass diese drei Heraus- forderungen umgesetzt werden. Nur dann kann die UN- Gerade in der Bildungspolitik darf es keine Opposition Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ ernsthaft um der Opposition willen geben – zumindest nicht von zu einem Erfolg werden. Anstelle von unverbindlichen uns Liberalen. Wir stimmen dem Ziel zu, mit diesem An- Absichtserklärungen, richten wir in unserem Antrag kon- trag die UNESCO-Weltkonferenz Bildung für nachhaltige krete Forderungen an die Bundesregierung. Dazu gehört Entwicklung in Deutschland zu begrüßen. insbesondere die Erhöhung der Bildungsausgaben auf mindestens 7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, und Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): das so schnell als irgend möglich und nicht irgendwann. Ab kommenden Dienstag lädt Deutschland als Gastge- Auch strukturell liegt einiges im Argen. Ganz oben auf ber zur UNESCO-Weltkonferenz „Bildung für nachhal- der Tagesordnung muss die Abschaffung des gegliederten tige Entwicklung“ nach Bonn. Mit dieser Konferenz fällt Schulsystems und die Einführung von Gemeinschafts- der Startschuss für die zweite Halbzeit der UN-Dekade schulen stehen, in denen alle Kinder und Jugendlichen gleichen Namens. „Bildung für nachhaltige Entwick- gemeinsam lernen und individuell gefördert werden. In lung“, das wäre ein guter Anlass, die Nachhaltigkeit des der beruflichen Bildung muss jeder und jede Jugendliche eigenen, des deutschen Bildungssystems auf den Prüf- durch eine gesetzliche Umlagefinanzierung das Recht auf stand zu stellen und Verbesserungen einzufordern. Statt- einen Ausbildungsplatz erhalten, und das Studium darf dessen beschränkt sich der vorliegende Antrag der Gro- nicht zu einem Privileg für Reiche verkommen. ßen Koalition auf (im Übrigen ungerechtfertigte) Lobeshymnen und unverbindliche und schwammige Ab- Wer die Ziele der UN-Dekade „Bildung für nachhal- sichtserklärungen. Chance verpasst, kann ich Ihnen da tige Entwicklung“ wirklich ernst nimmt, muss aber vor nur sagen. allem mit dem größten Übel im deutschen Bildungssystem

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23295

Volker Schneider (Saarbrücken) (A) aufräumen: der erschreckenden sozialen Ungleichheit. klar sei muss: Nicht nur die Quantität darf eine Rolle (C) Internationale Bildungsvergleichsstudien haben immer spielen, sondern auch die Lerninhalte! wieder belegt, dass Kinder aus bildungsfernen Haushal- Auch der UNESCO-Weltbildungsbericht 2009 macht ten, mit Migrationshintergrund oder mit Behinderungen überdeutlich, dass den großen Worten der Weltgemein- im deutschen Bildungssystem ausgegrenzt und fallen ge- schaft angemessene Taten noch fehlen. Immer noch gehen lassen werden. Diese Erkenntnisse dürfen nicht einfach 75 Millionen Kinder weltweit nicht zur Schule, in Afrika hingenommen werden. Es muss das oberste Ziel der Bil- südlich der Sahara sind es sogar fast ein Drittel aller dungspolitik sein, diese Ungerechtigkeit aufzuheben und Kinder. 16 Prozent der erwachsenen Weltbevölkerung das Recht auf Bildung für alle durchzusetzen. Das ist für können nicht lesen und schreiben. Zwei Drittel dieser An- uns Linke der Maßstab, an diesem werden wir Erfolg und alphabeten sind Frauen. Die Weltgesellschaft ist hin- Misserfolg dieser Dekade in unserem Land messen. sichtlich ihrer Bildungssysteme nicht zukunftsfähig. Da- bei haben sich 164 Länder im Jahr 2000 auf dem Dr. Uschi Eid (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Weltbildungsforum in Dakar verpflichtet, sechs Bildungs- Wir begrüßen, dass die Bundesregierung die interna- ziele bis zum Jahr 2015 zu erreichen: Ausbau der früh- tionale Gemeinschaft zur UNESCO-Weltkonferenz „Bil- kindlichen Förderung und Erziehung, Grundschulbil- dung für nachhaltige Entwicklung“ nach Bonn eingela- dung für alle Kinder weltweit, Absicherung der den hat und vorher mit dem VENRO-Kongress „Global Lernbedürfnisse von Jugendlichen und Erwachsenen, Learning, weltwärts and beyond“ die Möglichkeit eröff- Halbierung der Analphabetenrate unter Erwachsenen, net, die internationale Sichtweise von Nichtregierungsor- Gleichberechtigung der Geschlechter und Verbesserung ganisationen in die Weltkonferenz einzubringen. Es ist der Bildungsqualität. gut, dass der Deutsche Bundestag diese Konferenz zum Der UNESCO-Weltbildungsbericht macht die riesigen Anlass nimmt, über den Stand der Umsetzung zur Halb- Unterschiede zwischen armen und reichen Ländern deut- zeit der UN-Dekade in Deutschland eine Zwischenbilanz lich und zeigt, dass es immer noch die gleichen Gründe zu ziehen. sind, die dazu führen, dass die gesteckten Ziele verfehlt Bei der Umsetzung kommt es vor allem darauf an, werden: erstens unzureichende Einkommen, zweitens Be- nicht nur interessante Dekade-Projekte auszuzeichnen, nachteiligung von ethnischen Gruppen sowie Mädchen sondern – und hier sind insbesondere die 16 Länder und und Frauen, drittens Sprachendiskriminierung und vier- deren Bildungsministerien gefragt – eine Umsteuerung tens Ausschluss von Behinderten. im Bildungssystem, im Curriculum, in der Aus- und Fort- Die nationalen Regierungen müssen höhere Investi- bildung der Lehrkräfte und im Hochschulwesen vorzu- tionen in Bildung vornehmen und Anreize für Mädchen (B) nehmen. und benachteiligte Gruppen setzen. Um nur ein Beispiel (D) zu nennen: Wer nimmt denn ernst, dass fast 10 Prozent Der Bildungsleitgedanke der Nachhaltigkeit und neue der Mädchen deshalb die Schule abbrechen, weil es in Anforderungen an das Lernen in einer international ver- den Schulen keine oder keine getrenntgeschlechtlichen netzten Lebenswelt sind in den nationalen Bildungsbe- Toiletten gibt, die Schülerinnen aber zur Körperhygiene richten, die alle zwei Jahre im Auftrag der Ständigen während ihrer Menstruation eine private Sphäre brau- Konferenz der Kultusminister der Länder und des Bun- chen? Mit dem Bau separater Schultoiletten durch desministeriums für Bildung und Forschung erstellt wer- UNICEF konnte zum Beispiel in Bangladesch der Schul- den, immer noch kein Thema. So wird Bildung für nach- besuch von Mädchen um 11 Prozent erhöht werden. haltige Entwicklung auch im jüngsten Bildungsbericht nicht erwähnt, ebenso wenig im Fortschrittsbericht 2008 Selbstverständlich muss auch mehr Gewicht auf die der Bundesregierung zur nationalen Nachhaltigkeitsstra- Qualität von Bildungsinhalten gelegt und Toleranz, ge- tegie. genseitiger Respekt und demokratisches Verhalten einge- übt werden. Wir müssen nicht nur in Deutschland unsere Hausauf- gaben erledigen, um das Leitbild einer zukunftsfähigen Die Verletzung von Kinderrechten in anderen Teilen Entwicklung in unserem Bildungswesen wirkungsvoll zu der Welt darf den Blick auf die Situation in Deutschland verankern, sondern auch einen Beitrag dazu leisten, das nicht verstellen. In unserem Land existiert ein nicht zu Menschrecht auf Bildung durchzusetzen und die Ziele übersehender Zusammenhang zwischen sozialer Her- „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ und „Bildung für kunft sowie Migrationshintergrund und Bildungserfolg alle“ weltweit zu einem wirkungsvollen Programm zu und damit ein markanter Unterschied hinsichtlich der In- verbinden. anspruchnahme des Bildungsangebotes. Die Studie „Un- genutzte Potenziale“ von 2009 hat in jüngster Zeit die Die Schritte auf dem Weg zur Erreichung des 2. Mil- prekäre Situation für die (meisten der) fast 20 Prozent der lenniumsziels – Grundbildung für alle – sind unge- deutschen Bevölkerung mit Migrationshintergrund dar- nügend. Bis ins Unerträgliche wachsende Klassengrö- gestellt: „Zugewanderte sind im Durchschnitt schlechter ßen, unzureichende Lernbedingungen, fehlende oder gebildet, häufiger arbeitslos und nehmen weniger am öf- völlig unterqualifizierte Lehrerinnen und Lehrer und fentlichen Leben teil als die Einheimischen.“ Dies hat keine Priorisierung bei den Mittelzuweisungen in natio- meines Erachtens zwei verschiedene Ursachen. Zum ei- nalen Haushalten oder im Rahmen der internationalen nen gibt es Eltern, die es sich tatsächlich nicht leisten Zusammenarbeit stärken die Befürchtungen, dass dieses können, ihren Kindern eine gute Bildung zu ermöglichen, Millenniumsziel nicht erreicht wird. Wobei eines auch und zum anderen gibt es Eltern, die das Angebot nicht in

Zu Protokoll gegebene Reden 23296 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Dr. Uschi Eid (A) Anspruch nehmen wollen! Gegen beides muss etwas un- das Erreichte auszutauschen und die strategischen Leit- (C) ternommen werden, da hierdurch den Kindern Chancen linien für die weitere Arbeit in der zweiten Hälfte der De- genommen werden. Wichtig wäre eine hinreichende Inte- kade zu beraten. Die Teilnahme von über 50 Ministerin- gration von Migrantinnen und Migranten in die Gestal- nen und Ministern aus aller Welt unterstreicht die große tung unserer Bildungsprozesse. Bedeutung der UN-Dekade und der Bonner Weltkonfe- renz. Eine erfolgreiche Bildungspartizipation ist ein wichti- ges Element der präventiven Armutsbekämpfung. Da- Warum misst die Bundesregierung dem Thema Bil- rüber hinaus kann eine wirksame Strategie nur durch dung für nachhaltige Entwicklung eine so große Bedeu- vernetzte und nachhaltige Zusammenarbeit der unter- tung bei? Was ist der besondere Beitrag der Bildung für schiedlichen Träger und Einrichtungen für Bildung und nachhaltige Entwicklung für die Bewältigung der großen Sozialarbeit ihre Kraft entfalten. Gleichzeitig gilt: Ohne Herausforderungen, vor denen wir in Deutschland und ausreichende Bildung ist Integration nahezu unmöglich. weltweit stehen? Eigentlich bedürfte es keines besonderen Hinweises Leitbilder einer nachhaltigen Entwicklung sind dauer- darauf, dass in das Menschenrecht auf Bildung auch hafter Wohlstand, die langfristige Verfügbarkeit von Res- Menschen mit Behinderung eingeschlossen sind. Aber sourcen sowie Bedingungen, die weltweit eine soziale Menschen mit Behinderung gehören zu den Gruppen, die Teilhabe möglichst vieler Menschen ermöglichen. Der in den Bemühungen zur Umsetzung der Bildung für nach- Bildung für nachhaltige Entwicklung kommt dabei eine haltige Entwicklung, in der Millenniumserklärung und in Schlüsselrolle zu. den Zielen des Weltbildungsforums in Dakar 2000 kaum Nachhaltige Entwicklung umfasst zahlreiche Felder Berücksichtigung finden. Nach Schätzungen der UNESCO des politischen Handelns. Zuallererst geht es darum, dass besuchen in Entwicklungsländern weniger als 1 bis 5 Pro- wir alle lernen müssen, mit den begrenzt vorhandenen na- zent der Kinder mit Behinderung eine Schule. 97 Prozent türlichen Ressourcen sorgfältiger umzugehen. Hierbei ist der Erwachsenen mit Behinderung sind Analphabeten. ein Ausgleich zwischen den Ländern des Nordens und des Der Umgang mit behinderten Menschen in unserem eige- Südens eine grundlegende Frage der Gerechtigkeit. nen Bildungssystem entspricht durchaus nicht den Grundvorstellungen von Gerechtigkeit und Zukunfts- Darüber hinaus macht insbesondere die gegenwärtige fähigkeit. 85 Prozent der Kinder mit sonderpädagogi- weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise deutlich, dass schem Förderungsbedarf sind in Sonderschulen unterge- wir prinzipiell darüber nachdenken müssen, wie wir bracht und nur 15 Prozent werden an allgemeinbildenden unser Handeln verändern müssen, um nachhaltiges Schulen unterrichtet. Wachstum zu erreichen. Gerade dieser Aspekt von (B) Nachhaltigkeit – das nachhaltige wirtschaftliche Han- (D) Hans Jonas hat in seinem Buch „Das Prinzip Verant- deln – rückt nun verstärkt auch in das öffentliche Inte- wortung“ einen neuen kategorischen Imperativ geprägt: resse. „Gefährde nicht die Bedingungen für den indefiniten Fortbestand der Menschen auf Erden, handele so, dass Hier gibt es hervorragende Beispiele unter den die Wirkungen Deiner Handlung verträglich sind mit der 800 ausgezeichneten Dekade-Projekten. So lernen zum Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Beispiel Schülerinnen und Schüler in sogenannten Schü- Wenn unser Bildungssystem in der Lage wäre, diesen Im- lerfirmen nachhaltiges Wirtschaften. In einem Projekt, perativ zu vermitteln, wären wir einen großen Schritt in das sich KonsumGlobal nennt, werden von Jugendlichen unserem Bemühen um Zukunftsfähigkeit und Gerechtig- für Jugendliche Stadtführungen zum Thema nachhaltiger keit in unserer Gesellschaft vorangekommen. Konsum und Globalisierung angeboten. Jugendliche be- kommen einen Einblick in die Auswirkungen und Zusam- Andreas Storm, Parl. Staatssekretär bei der Bun- menhänge unseres Konsumverhaltens, beispielsweise desministerin für Bildung und Forschung: indem sie lernen, die Weltreise einer Jeans vom Baum- wollfeld bis zum Ladentisch nachzuvollziehen. Die UN-Dekade Bildung für nachhaltige Entwicklung nähert sich ihrer Halbzeit. In Deutschland können wir auf Ein Schwerpunkt der Aktivitäten des Bundesministe- fünf Jahre erfolgreiche Umsetzung zurückblicken. riums für Bildung und Forschung für Bildung für nach- haltige Entwicklung ist die Bereitstellung einer Plattform Zahlreiche Projekte und Initiativen aus allen Bil- für alle Beteiligten durch die Förderung der Deutschen dungsbereichen tragen zur Verankerung dieses wichtigen UNESCO-Kommission. So wurde eine „Organisations- Themas bei. Allein über 800 Projekte konnten bislang als struktur“ mit einem Nationalkomitee, einem Runden offizielle Dekade-Projekte ausgezeichnet werden. Die Tisch und thematischen Arbeitsgruppen fest etabliert und Umsetzung der Dekade in Deutschland gilt international insbesondere auch die Zusammenarbeit vielfältiger Ak- als vorbildlich. Dies ist sicherlich ein wesentlicher Grund teure aus Politik und Zivilgesellschaft sichergestellt. dafür, warum die UNESCO die Einladung des Bundesmi- nisteriums für Bildung und Forschung angenommen hat, Darüber hinaus engagiert sich das BMBF für die Inte- die Halbzeitkonferenz in Deutschland abzuhalten. gration von Bildung für nachhaltige Entwicklung in ver- schiedenen Bildungsbereichen. Lassen sie mich exempla- Vom 31. März bis 2. April 2009 werden insgesamt risch drei Beispiele herausgreifen: rund 900 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus über 150 UNESCO-Mitgliedstaaten zu dieser Konferenz in Die Neuordnung der beruflichen Ausbildung durch die Bonn erwartet. Hier geht es vor allem darum, sich über Schaffung neuer und die Modernisierung bestehender

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23297

Parl. Staatssekretär Andreas Storm (A) Berufe ist eine kontinuierliche Aufgabe des BMBF. Unser Strommarkt durchgreifend regulieren – Ener- (C) Ziel ist es, die Erlangung von Gestaltungs- und Hand- giepreissenkungen durchsetzen lungskompetenzen im Sinne der Zusammenführung wirt- – Drucksache 16/11908 – schaftlicher Leistungsfähigkeit, des Schutzes der natürli- Überweisungsvorschlag: chen Lebensgrundlagen und sozialer Verantwortung als Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) übergreifende berufliche Qualifikationsanforderung in Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und die Ausbildungsordnungen aufzunehmen. Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Mit dem Rahmenprogramm „Forschung für Nachhal- Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll tigkeit“ fördert das BMBF gezielt Innovationen für eine gegeben: Dr. Pfeiffer, Hempelmann, Kopp, Hill, Höhn. nachhaltige Entwicklung. Im Mittelpunkt stehen die vier Aktionsfelder Nachhaltigkeit in Industrie und Wirtschaft, nachhaltige Konzepte für Regionen, nachhaltige Nutzung Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): von Ressourcen und Strategien für gesellschaftliches „Alle Jahre wieder …“ heißt es in dem uns allen be- Handeln. Das Programm verbindet dabei technologi- kannten Kinderlied. Das wäre schön, wenn es nur alle schen Fortschritt mit gesellschaftlichen Prozessen und Jahre vorkommen würde. Aber Anträge der Linken, Teile der Wirtschaft in Deutschland öffentlich zu kontrollieren zielgerichtetem Transfer in das Bildungssystem. oder am besten gleich zu verstaatlichen, kommen inzwi- Des Weiteren fördern wir auch in diesem Kontext ge- schen täglich. Im Energiebereich waren es erst die Netze, zielt den wissenschaftlichen Nachwuchs. Ein Beispiel da- jetzt sind es die Strompreise. Morgen wollen sie wahr- für ist das Fachprogramm des DAAD „Studieren und scheinlich auch noch den Stromverbrauch staatlich regu- Forschen für die Nachhaltigkeit“. Mit dieser Maßnahme lieren. Was sie fordern, ist nichts anders, als das Rad der werden die internationale Fachkommunikation, Qualifi- Geschichte wieder zurückzudrehen. Davor kann ich nur zierung und Forschung zu ausgewählten Themenberei- warnen. chen der Nachhaltigkeitsforschung wie beispielsweise Stein ihres Anstoßes sind Preiserhöhungen von einigen Land- und Forstwirtschaft, biogene Ressourcen, Wasser Energieversorgern in Deutschland bei gleichzeitigen unterstützt. Preissenkungen auf den Brennstoffmärkten, also bei Steinkohle und Erdgas. Daraus ziehen Sie den Schluss, Ich bin sehr zuversichtlich, dass von der Halbzeitkon- dass die Märkte nicht funktionieren, Missbrauch ferenz deutliche Impulse für die zweite Hälfte der UN-De- herrscht, Monopolstellungen ausgenutzt werden und ge- kade ausgehen werden und damit zur nachhaltigen Ent- nerell die Preise nichts mit Angebot und Nachfrage zu tun wicklung auf der ganzen Welt beigetragen werden kann. (B) haben. Es wäre wirklich schön, wenn die Welt so einfach (D) Bildung für nachhaltige Entwicklung verdient entschie- wäre! Leider ist das nicht so, und ich erkläre Ihnen auch den mehr öffentliche Aufmerksamkeit. Zurzeit wird dieses gerne, warum. Thema noch zu häufig lediglich in Fachzirkeln diskutiert. Wir müssen insbesondere durch Beispiele guter Praxis Wer heutzutage Strom produziert, ist darauf angewie- mehr Menschen für Bildung für nachhaltige Entwicklung sen, seinen Brennstoff auf dem Markt zu kaufen. Schon im Interesse der Versorgungssicherheit unseres Landes wer- interessieren. Die Weltkonferenz und die zweite Hälfte der den diese Brennstoffe langfristig erworben. Das bedeutet, Dekade bieten uns die große Chance, dieses Interesse dass der Preis für Kohle oder Erdgas zu einem Zeitpunkt hervorzurufen und Bildung für nachhaltige Entwicklung vereinbart wird, der lange vor dem tatsächlichen Ver- fest in unserem Bildungssystem zu implementieren. brennen liegt. Kauft man heute Brennstoff günstig ein, kann man seinem Kunden frühestens im nächsten oder Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: übernächsten Jahr einen guten Preis bieten. Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Eine andere Option sind Preisanpassungsformeln. Antrag der Fraktionen CDU/CSU und SPD auf Drucksa- Viele Verträge vereinbaren einen Basispreis und eine ela- che 16/12450? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – borierte Preisformel, die zum Beispiel die Inflation oder Der Antrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die erhöhte Lohnkosten beinhaltet. Und diese Formeln ver- Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. weisen dann auch sehr häufig auf den Preis eines anderen Gutes. Sehr viele langfristige Gaslieferverträge sind zum Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke Beispiel an den Preis für Öl gekoppelt. Folglich werden auf Drucksache 16/12306. Wer stimmt für diesen An- die Veränderungen im Referenzwert dann nur zeitverzö- trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der An- gert weitergegeben. So ist es üblich, dass sich der Gas- trag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP preis an den Ölpreis nach einem halben Jahr anpasst. gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grü- Wenn jetzt der Ölpreis sinkt, fallen die Gaspreise erst in nen abgelehnt. einigen Monaten. Als der Ölpreis aber vor einem Jahr stieg, stiegen die Gaspreise auch erst mit einem halben Tagesordnungspunkt 26: Jahr Verzögerung. Wir reden hier über normale Markt- Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- vorgänge und nicht über Abzockerei. Kurt Hill, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Da kommen wir schon zum zweiten Aspekt, nämlich Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion dem Vorwurf der unkontrollierten Bereicherung. Mir ist DIE LINKE unklar, woher der Gedanke kommt, dass es keine Kon- 23298 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Dr. Joachim Pfeiffer (A) trolle der großen Stromversorgungsunternehmen gibt. die klassischen Marktteilnehmer, konkurrieren aber nicht (C) Kaum einer anderen Branche hat der Staat so viele ver- mit ihnen. Denn letztlich wird der Strom irgendwann von schiedene Kontrollinstanzen auferlegt wie dem Energie- einem Kraftwerk physisch produziert und von einem Ver- handel. Neben der Bundesnetzagentur, und der Bundes- braucher abgenommen. Banken helfen nur bei der richti- anstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, haben gen Allokation. auch die Kartellämter der Länder und des Bundes sowie die Wettbewerbsdirektion der Europäischen Kommission Ein Missverständnis scheint schließlich auch in dem ein genaues Auge auf alle Aktivitäten der Unternehmen. Konzept des Derivatemarktes zu liegen. Es würde an die- Der Antrag erwähnt selbst die Untersuchungen der Kom- ser Stelle viel zu weit führen, den Begriff des Derivates mission. Genau hier zeigt sich doch, dass es kein Schlupf- korrekt abzugrenzen. Aber anscheinend soll der Termin- loch, keinen Persilschein für Energieversorgungsunter- handel mit Strom damit gemeint sein. Wer vom Stromhan- nehmen gibt. Wenn unlauter gehandelt wird, wird del redet, spricht automatisch von Terminhandel. Denn dagegen durch die zuständigen Behörden vorgegangen. der Strom, den ein Kraftwerk produziert, muss vor der Produktion schon verkauft sein. Er ist schließlich nicht Daher brauchen wir keine Strompreisaufsichtsbehörde lagerbar. Kann ein Kraftwerksbetreiber seinen Strom mehr. Diese Behörde wurde abgeschafft, um überhaupt nicht verkaufen, wird er seinen Brennstoff nicht verbren- den Weg für einen Energiemarkt frei machen zu können. nen. Es ist daher nicht nur vernünftig, sondern praktisch Die Strompreisaufsicht ist nämlich nicht die Rettung vor notwendig, dass Strom langfristig verkauft wird. Nur so einer monopolisierten Versorgungswirtschaft, sie ist ein können letztlich auch die Versorgungssicherheit und ein wesentliches Element davon. Wenn die Preise zentral stabiler Strompreis für die Endkunden garantiert werden. staatlich festgelegt werden, gibt es keinen Anreiz, besser Der diffamierte Derivatehandel ist also ein Instrument und billiger zu werden. Es gibt keinen Anreiz, sich als des Stromhandels, das auf Grund der Nichtlagerbarkeit neuer Versorger auf dem Markt etablieren zu wollen. Es absolut zwingend ist. Und das gilt auch für den echten gibt keinen Anreiz, als Kunde zu einem anderen Versorger Derivatehandel, also rein finanzielle Produkte. Denn zu wechseln, schließlich haben alle den gleichen Preis. auch diese Produkte dienen nicht der Spekulation son- Wir wollen aber nicht mehr die behäbigen Staatsmonopo- dern der Absicherung von Preisen für Hersteller und Ab- listen von einst. Wir wollen Unternehmen, die im Wettbe- nehmer, sie erzeugen also wirtschaftliche Planbarkeit. werb um Kunden stehen, sich gegenseitig zu mehr Effi- Ein letztes Missverständnis räume ich auch noch zienz treiben, sorgen aber zugleich mit unseren Regeln gerne aus: Sinken die Preise etwa, weil die Banken und dafür, dass die Sicherheit der Energieversorgung nicht Hedgefonds sich aus dem Stromhandel zurückgezogen gefährdet wird. Nur so können wir auch Teil eines euro- haben? Nein, natürlich nicht! Die Preise sinken, weil die päischen Marktes sein, weil genau das auch das Leitmo- Nachfrage aufgrund der aktuellen Wirtschaftskrise sinkt. (B) tiv der gesamten europäischen Energiepolitik ist. Es wäre (D) Es wird weniger gearbeitet, da wird weniger Strom benö- fatal, aus dem europäischen Konzert auszuscheiden: Der tigt. Und das Gleiche gilt auch für die Brennstoffe, auch Weg ist richtig, und wir müssen ihn weitergehen. hier sinkt die Nachfrage, sodass die Preise nach unten ge- Schließlich unterstellt der Antrag der Linken, dass der hen. Strommarkt „hochspekulativ“ ist, sich die Beteiligung Wahrscheinlich haben Sie nicht viel davon verstanden von Banken, Finanzdienstleistern und Hedgefonds als oder verstehen wollen, aber ich fasse es Ihnen trotzdem sehr nachteilig erweist und der „Derivatehandel“ verbo- gerne nochmals zusammen: ten gehört. Das ist Quatsch! Der Strommarkt ist ein Wa- renmarkt, das bedeutet, dass Waren hergestellt und ver- Eine Strompreisaufsicht einzuführen, vernichtet Wett- kauft werden; der Markt sorgt dafür, dass Hersteller und bewerb, statt ihn zu stärken. Gegen missbräuchlich über- Abnehmer – bzw. beim Strom meistens Weiterverteiler – höhte Verbraucherpreise gehen die Wettbewerbsbehör- einander treffen. Weil die Elemente der Preisbildung und den vor. die sehr stabile Abnehmerstruktur weitestgehend bekannt sind, bietet sich der Markt für Spekulation gerade nicht Den Derivatehandel zu verbieten, hieße, dem Strom- an. Die allermeisten Teilnehmer haben nämlich ein Pro- handel seine dringend benötigte Langfristigkeit zu neh- dukt, das sie verkaufen wollen – sogar müssen –, oder men. Aber nur durch Langfristigkeit können stabile Ver- brauchen genau dieses Produkt für ihre eigenen Endkun- sorgung und auch stabile Preise geschaffen werden. den. Die Märkte sind also von echten physischen Interes- Die Kontrolle des gesamten Stromhandels einer öffent- sen getrieben. Die Rolle von anderen Spielern auf dem lichen Einrichtung zu übergeben, ist unnötig, da der ge- Markt, wie Banken, ist weiterhin stark beschränkt. Zu- samte Handel bereits einer entsprechenden Kontrolle gleich handelt es sich aber um eine wichtige Rolle. Denn durch staatliche Stellen unterliegt. Jede Regulierung Banken bringen dem Markt die dringend benötigte Liqui- sollte im Übrigen immer im europäischen Kontext ge- dität. Jeder wird wohl der These zustimmen, dass ein schehen. Markt umso besser ist, je mehr Marktteilnehmer es gibt. Damit steigt die Chance, zu einem beliebigen Zeitpunkt Den Stromhandelsmarkt nur für Unternehmen zu öff- kaufen oder verkaufen zu können. Was hilft es, einen nen, die „unmittelbar physische Stromgeschäfte“ durch- Markt zu haben, wenn ich keinen Handelspartner finde? führen wollen, hieße, dem Markt dringend benötigte Li- Banken helfen hier, sie ermöglichen mehr Handel. Natür- quidität zu entziehen. Die Folge wären deutlich lich verdienen Banken daran, das ist aber auch legitim, schwankendere Preise und gerade damit eine höhere At- weil sie einen Service für den Markt bieten. Sie ergänzen traktivität für spekulative Geschäfte.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23299

Dr. Joachim Pfeiffer (A) Den Spotmarkt – der Strombörsen oder aller kurzfris- Stromkunden den Versorger oder zumindest den Tarif ge- (C) tiger Geschäfte? – vollständig den Regeln des Wertpa- wechselt. Eine staatliche Preisaufsicht würde diesen ge- pierhandelsgesetzes, WpHG, zu unterwerfen, bedeutete rade aufkeimenden Wettbewerb gleich wieder zunichte eine erstickende Überregulierung eines Marktes. Müss- machen. Die jüngsten Untersuchungen des Internetpor- ten dann auch Obsthändler auf einem Großmarkt dem tals Verivox zeigen sogar, dass sich der Wettbewerb im WpHG unterworfen werden, wenn sie Äpfel verkaufen? Endkundenmarkt im Strom- wie im Gasmarkt 2008 so gut Im Übrigen gilt: Wenn Spotmarktpreise manipuliert wer- wie noch nie entwickelt hat. Im Durchschnitt kann jeder den sollten, haben sowohl die Börsenaufsicht als auch die Kunde in Deutschland zwischen 53 Strom- und acht Gas- Wettbewerbsbehörden die Möglichkeit, einzugreifen, ein anbietern wählen und so bis zu 400 Euro im Vergleich Kontrollvakuum besteht also nicht. zum Tarif des Grundversorgers sparen. Aber diese Fakten werden Sie nicht wahrhaben wollen, Mit der Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbe- da sie Sie nur in Ihrer Parallelwelt stören. Darum wird es schränkungen haben wir dem Bundeskartellamt mehr an dieser Stelle leider auch weiterhin heißen: „Alle Tage Macht im Kampf gegen missbräuchlich überhöhte End- wieder …“ kundenpreise eingeräumt. Das ist der richtige Weg – und er zeigt erste Erfolge, wie die ebenfalls auflagenbewehrte Einstellung des Missbrauchsverfahrens gegen 29 Gas- Rolf Hempelmann (SPD): versorger bis Anfang Dezember 2008 gezeigt hat. Der vorliegende Antrag der Linken versucht, einen 127 Millionen Euro müssen über eine zweimonatige Ver- ausschließlichen Zusammenhang zwischen den Strom- schiebung der Preiserhöhung und Boni in diesem Jahr an preiserhöhungen am Jahresanfang und einem Markt- die Kunden zurückgegeben werden. Weitere Verfahren machtmissbrauch durch die großen Energieversorgungs- gegen Gasversorger stehen nach Aussage des Bundeskar- unternehmen herzustellen, den es in dieser Reinform tellamtes kurz vor dem Abschluss. Im Strommarkt hat das sicher nicht gibt. Es ist zweifellos richtig, dass zahlreiche Bundeskartellamt dagegen noch gegen keinen einzigen Stromvertriebe ihre Preise Anfang 2009 erhöht haben. Versorger ein Missbrauchsverfahren eröffnet. Auch das Die meisten Vertriebe haben – ganz unabhängig davon, ist ein Indiz dafür, dass es mit dem Wettbewerb dort so ob sie zu einem Großkonzern gehören oder nicht – ihren schlecht nicht bestellt ist. Strom für 2009 zu einem kleinen Teil bereits im Jahr 2007 und zum überwiegenden Anteil im ersten Halbjahr 2008 Die von den Linken geforderte staatliche Preisaufsicht beschafft. Ein Blick in die Statistik zeigt, dass die Groß- auf Länderebene konnte die Verbraucher dagegen schon handelspreise zu dem Zeitpunkt deutlich über denen von in der Vergangenheit nicht vor Preiserhöhungen schützen heute lagen. Die Linken begründen dies nun ausschließ- und sie wird dies auch in Zukunft nicht können. Die (B) lich mit einem Missbrauch der Marktmacht durch die Energiekostenentwicklung der vergangenen Jahre stellt (D) großen vier EVUs und vergessen, einen Zusammenhang für immer mehr Haushalte eine ganz erhebliche Belas- zwischen den hohen Öl- und Gaspreisen, den – als Folge tung dar – auch wenn die Energiepreise jetzt konjunktur- des weltwirtschaftlichen Wachstums – hohen CO2-Zerti- bedingt fallen. Die Menschen erwarten von der Politik, fikatepreisen und den Strompreisen an der EEX herzustel- Handlungsoptionen aufgezeigt zu bekommen. Dabei soll- len. ten wir der Bevölkerung jedoch keine unhaltbaren Versprechungen machen. In Zeiten einer wachsenden Der Vorwurf, Eon und RWE hätten in der Vergangen- globalen Energienachfrage und gleichzeitig knapper heit ihre – zweifelsohne vorhandene – Marktmacht miss- werdender Ressourcen wäre es falsch, Hoffnungen auf braucht, ist sicher durchaus richtig. Die mittlerweile dauerhaft niedrige Energiepreise zu wecken. gegen Auflagen eingestellten Verfahren der EU-Kommis- sion bestätigen dies. Seither hat sich jedoch sehr viel in Nationale Politik kann auf die Preisentwicklung auf Sachen Transparenz insbesondere auf dem deutschen den Weltmärkten nur sehr bedingt Einfluss nehmen. Sie Strommarkt getan. Die Transparenzinitiative wird auch kann aber dabei mithelfen, wenn schon nicht die Preise, 2009 mit einer gemeinsamen Internetplattform bei der so doch die Kostenbelastung für die Verbraucher im be- EEX weiter fortgesetzt. Was den Bereich der Strom- und zahlbaren Rahmen zu halten. Ganz oben auf der Tages- Gasnetze angeht, so konnte nach mehreren Jahren Regu- ordnung muss deshalb stehen, gleichen Lebenskomfort lierung durch die Bundesnetzagentur sowie durch gesetz- bei sinkendem Energieverbrauch zu ermöglichen. Die geberisches Handeln wie die Kraftwerksnetzanschluss- Koalition hat ihre Energie- und Klimapolitik auf diese verordnung ein diskriminierungsfreier Netzzugang Maxime ausgerichtet. Ein wesentlicher Pfeiler unserer weitgehend hergestellt werden. Politik ist das integrierte Energie- und Klimaprogramm, in dem wir zahlreiche Maßnahmen aus allen Politikberei- Die von den Linken in fast jedem Antrag zur Energie- chen gebündelt haben. Kraft-Wärme-Kopplung und der politik wiederholte Forderung nach einer Wiedereinfüh- verstärkte Einsatz erneuerbarer Energien im Strom- und rung einer Strompreisaufsicht bei den Ländern wird auch Wärmesektor verringern unsere Importabhängigkeit und dadurch nicht richtiger, dass man sie gebetsmühlenartig mindern die Energiekostenbelastung der privaten Haus- wiederholt. Was falsch ist, bleibt falsch! Die staatliche halte. Preisaufsicht hat sich immer nur auf den Vertrieb bezo- gen. Hier hilft uns kein Rückfall in die staatliche Preis- Schon seit Jahren schaffen wir darüber hinaus mit dem aufsicht, sondern nur mehr Wettbewerb. Im Strom-End- CO2-Gebäudesanierungsprogramm Anreize zur energeti- kundenmarkt kommt dieser Wettbewerb mittlerweile sehr schen Gebäudesanierung. Allein im vergangenen Jahr gut in Gang. Im Jahr 2007 haben rund 1,3 Millionen wurden mehr als 100 000 zinsgünstige Kredite und Zu-

Zu Protokoll gegebene Reden 23300 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Rolf Hempelmann (A) schüsse mit einem Volumen von 6,4 Milliarden Euro für Nichtsdestotrotz finden wir in diesen Grenzen auf der (C) energetische Sanierungen oder energiesparende Neubau- Endverbraucherstufe heute durchaus lebhaften Wettbe- ten zugesagt. Seit 2006 konnten rund 800 000 Wohnungen werb. Wer hier den richtigen Tarif wählt, kann mehr spa- energieeffizient saniert oder neu errichtet werden. ren als die im Antrag der Linken aufgeführten Mehrkos- Gleichzeitig mit der dauerhaften Entlastung der Haus- ten von bis zu 80 Euro im Jahr, die als Preiserhöhung von halte bei ihrer Energiekostenrechnung werden damit seit einigen Energieversorgern gefordert werden. 2006 jährlich bis zu 220 000 Arbeitsplätze in der mittel- Für die grundlegenden Strukturen des Wettbewerbs ständischen Bauwirtschaft und im lokalen Handwerk ge- auf dem deutschen Strommarkt bleibt aber richtig, dass sichert. Im Rahmen des ersten Konjunkturprogramms hat wir hier dringend Veränderungen brauchen. Die FDP- die Koalition die Mittel für die CO2-Gebäudesanierung Bundestagsfraktion hat daher in ihren Anträgen wieder- für 2009 bis 2011 um je 580 Millionen Euro auf rund holt eine Stärkung des Bundeskartellamtes gefordert und 1,5 Milliarden Euro jährlich aufgestockt. eine Erweiterung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbe- Ein weiteres Element des integrierten Energie- und schränkungen um das Recht, bei Missbrauch einer markt- Klimaprogramms ist das ebenfalls bereits verabschiedete beherrschenden Stellung auch eine horizontale oder ver- Gesetz zur Liberalisierung des Zähl- und Messwesens. tikale Entflechtung vornehmen zu können. Ob sich der von der europäischen Kommission gegenüber Eon er- Anfang 2010 haben Endkunden das Recht, sich intelli- zwungene Verkauf eines Teils seiner Kraftwerkskapazitä- gente Strom- und Gaszähler einbauen zu lassen. Damit ten positiv auf dem Markt auswirken wird, bleibt abzu- schaffen wir Transparenz über den tatsächlichen Ener- warten. gieverbrauch und eröffnen neue Möglichkeiten zur gezielten Last- und Verbrauchssteuerung. In das Gesetz Bedauerlich ist, dass sich auch bei der Auflösung der haben wir auch die Pflicht für Energieversorgungsunter- zahlreichen Verflechtungen zwischen den großen Ener- nehmen aufgenommen, spätestens Ende 2010 tageszeit- gieversorgern und Stadtwerken noch keine durchgrei- oder lastvariable Tarife anbieten zu müssen. Damit eröff- fende Verbesserung zeigt. Der Verkauf der Thüga kommt nen sich für Verbraucher und Energieversorger neue anscheinend nicht voran. Möglichkeiten. Statt an den Wurzeln des Problems, nämlich dem feh- Diesen Weg gilt es fortzusetzen, beispielsweise durch lenden Wettbewerbs bei der Stromproduktion anzusetzen, Ausweitung des Contractings auf den Mietwohnbereich. will der Antrag der Fraktion Die Linke an den Sympto- Contracting ist die Brücke ins Zeitalter der Energie- men kurieren. Die vorgeschlagene Rückkehr zu einer dienstleistungen, ermöglicht ein professionelles Manage- Strompreisaufsicht bei den Ländern mag populär sein, ment der Energieverbräuche und generiert – wenn es gut eine Lösung für das Preisproblem wird sie in keinem Fall (B) ausgestaltet ist – Einsparungen von Energiekosten. Wir bringen. Die Strompreisaufsicht würde uns zurück in den (D) wollen deshalb möglichst noch in dieser Wahlperiode Zustand vor der Liberalisierung katapultieren. Genau eine Regelung zur Erleichterung von Contracting im diese Aufsicht hat es nicht verhindern können, dass die Mietwohnbereich verabschieden. Strompreise in Deutschland zu Beginn der Liberalisie- rung zu den höchsten Europas zählten. Die Kontrolleure Im Rahmen des noch für diese Legislaturperiode ge- bei den Ländern waren den kontrollierten Unternehmen planten Energieeffizienzgesetzes wollen wir darüber hi- vom Wissensstand jederzeit unterlegen. Das Ganze war naus einen Energieeffizienzfonds einrichten, der paritä- nichts anderes als ineffziente Basarökonomie. tisch aus öffentlichen und privaten Mitteln gespeist wird. Für den Wettbewerb käme die Rückkehr zur Preisauf- Mit Mitteln aus diesem Fonds sollen vor allem eine Ener- sicht einer Katastrophe gleich. Neue Stromanbieter und giesparberatung insbesondere finanzschwacher privater Händler würden zusammen mit den von ihnen geschaffe- Haushalte sowie ein anschließender Zuschuss für den nen Arbeitsplätzen wieder vom Markt gefegt. Das Recht Austausch alter Haushaltselektrogeräte durch neue des Verbrauchers, sich seinen Stromanbieter auszusu- Geräte mit der jeweils höchsten Energieeffizienzklasse chen, wäre bei einem Einheitspreis Makulatur. Der ge- finanziert werden. samte Energiehandel würde gegen die Wand gefahren. Denn steigen die Erzeugerpreise infolge von Preissteige- Sie werden verstehen, dass wir aus all diesen Gründen rungen auf dem Markt für CO2-Zertifikate, so müsste der den vorliegenden Antrag ablehnen. Stromhandel im Einkauf höhere Preise zahlen, könnte aber diese Preissteigerungen nicht mehr an die Endkun- Gudrun Kopp (FDP): den weitergeben. Das heißt, die Stromhändler würden Der Antrag der Fraktion Die Linke ist für mich ein Bei- hohe Verluste aufhäufen. Damit würde genau die Situa- spiel, wie man aus einer Analyse des deutschen Strom- tion erzeugt, die in Kalifornien zum Zusammenbruch der marktes, der ich teilweise zustimme, dennoch vollständig Stromversorgung geführt hat. falsche Schlussfolgerungen ziehen kann. Auch die FDP- Die Forderung, den gesamten Stromhandel einschließ- Bundestagsfraktion hat immer kritisiert, dass der deut- lich außerbörslichen Geschäften einer öffentlichen Ein- sche Strommarkt in seiner wettbewerblichen Struktur im- richtung zu übertragen, zeigt was wirklich gewollt ist, mer noch erhebliche Defizite aufweist. Solange wir auf nämlich eine De-facto-Verstaatlichung der Stromwirt- der Erzeugerebene ein Duopol von zwei Versorgern ha- schaft. Dazu passt auch die Forderung der Fraktion Die ben, bleibt auch der Spielraum für Preiswettbewerb auf Linke, die Energienetze in staatliches Eigentum zu über- den folgenden Absatzstufen begrenzt. führen. Dass der Staat mit einem Anteil von fast 40 Pro-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23301

Gudrun Kopp (A) zent an den Stromkosten der Haushalte bereits heute der senkungen sind deshalb erst ab Herbst zu erwarten. Des- (C) größte Preistreiber ist, bleibt leider unerwähnt. halb müssen wir jetzt den Spekulanten das Handwerk legen. Ein Verbot des hoch spekulativen Derivatehandels Die FDP-Bundestagsfraktion ist dafür, dass Marktmacht durch Hedgefonds und Banken verhindert eine erneute dort, wo sie von marktbeherrschenden Unternehmen ausge- Preisspirale nach oben, bevor diese wieder Spielgeld ha- übt wird, effektiv kontrolliert wird und gegen Missbrauch ben. Das ist doch klar: Hedgefonds kaufen keinen Strom, durch das Kartellamt oder die EU-Kommission streng vor- um ihre Büros mit elektrischer Energie zu versorgen, son- gegangen wird. Wichtige Handelseinrichtungen wie die dern um 30 Prozent Profit zu machen. Das Stromgeschäft Strombörse EEX müssen mit Aufsichtssystemen gekoppelt gehört zurück in die Hände der Stadtwerke, und der Mo- werden, die Preismanipulation verhindern können. Des- nopolwirtschaft der Konzerne muss durch eine wirksame halb fordern wir eine Marktbeobachtungsstelle, die in der Preisaufsicht ein Ende bereitet werden. Lage ist, die Handelsprozesse an der Börse zu überwa- chen und einem Manipulationsverdacht sofort nachzuge- Die Linke fordert deshalb eine wirksame Strompreis- hen. Die Handelsteilnehmer als solche zu beschränken, aufsicht mit Zuständigkeit bei den Ländern einzuführen, bringt dagegen nichts. Damit wird nur Handelsliquidität der gegenüber die Energieversorger die Zusammenset- vom Markt genommen. Der Handel über zukünftige zung aller Tarife vorab offenlegen müssen. Gleichzeitig Preise ist aufgrund der erforderlichen Prognosen immer soll ein Verbraucherbeirat den Stromkundinnen und spekulativ, egal wer an diesem Handel beteiligt ist. Stromkunden ein Mitspracherecht gewährleisten und in deren Interesse die behördliche Tätigkeit zu überwachen; Die richtige Botschaft sollte also nicht der Ruf nach den Derivatehandel sowie Hedgefonds an der Strombörse mehr Staat sein, sondern bessere wettbewerbliche Struk- zu verbieten und die Kontrolle des gesamten Stromhan- turen und strikte Missbrauchsaufsicht. dels einschließlich außerbörslicher Geschäfte einer öf- fentlichen Einrichtung zu übertragen; am Stromhandels- Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): markt nur Teilnehmer zuzulassen, die unmittelbar physische Stromgeschäfte durchführen, und den Spot- Die Konjunktur bricht ein. Die Leute verlieren ihre markt für den kurzfristigen Handel vollständig den Re- Jobs. Schon wird Lohnverzicht gefordert und selbst Autos geln des Wertpapierhandelsgesetzes zu unterwerfen, um erhalten „Sozialhilfe“. Nur die Stromkonzerne machen unzulässige Preisauftriebe für den langfristigen Termin- weiter wie bisher. Auch Anfang 2009 stiegen die Strom- markt zu unterbinden. rechnungen wieder einmal um 10 Prozent – als gäbe es keine Krise. Das ist für Die Linke völlig inakzeptabel. Das Wir fordern die Bundesregierung auf, sich endlich auf ist Diebstahl per Steckdose. die Seite der Verbraucherinnen und Verbraucher zu stel- len, um die Abzocke per Steckdose zu beenden. (B) Schlimmer noch: Dieser Feldzug gegen die Verbrau- (D) cherinnen und Verbraucher wird maßgeblich von der Bundesregierung betrieben. Erstens: CDU/CSU und Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): SPD haben die Strompreisaufsicht Mitte 2007 abge- Steigende Energiepreise sind ein soziales Problem und schafft. Seit diesem Zeitpunkt verteuert sich elektrische ein wichtiges Thema. Wir haben darüber an dieser Stelle Energie doppelt so schnell. Denn niemand sieht dem Kar- schon oft diskutiert – mindestens vierzehnmal in den letz- tell hinter der Steckdose mehr auf die Finger. Zweitens: ten drei Jahren. Vierzehnmal wurde die Preistreiberei der Wirksame Maßnahmen der EU-Kommission gegen die Energiekonzerne gescholten, vierzehnmal der mangelnde Energiekonzerne zur Eindämmung der Monopolwirt- Wettbewerb auf den Strom- und Gasmärkten beklagt. schaft werden von der Bundesregierung gezielt verhin- Vierzehnmal wurde auf die prekäre Situation einkom- dert. Erst diese Woche hat sie einen Vorschlag Brüssels mensschwacher Haushalte hingewiesen und vierzehnmal zur Zerschlagung des Stromkartells zu Fall gebracht – Energiesparen als Lösung eingefordert. Und noch eines ganz nach dem Wunsch von Eon, RWE und Co. Drittens: war in allen Debatten gleich: Vierzehnmal wurde die Un- die Große Koalition sieht dem Treiben von Hedgefonds tätigkeit der Bundesregierung kritisiert und das geschah und Banken an der Strombörse EEX tatenlos zu. Dort jedes Mal zu Recht. werden durch den Handel mit Derivaten künstliche Strompreise erzeugt, die weit über den nachvollziehbaren Über 80 Prozent der Stromversorgung werden von den Stromgestehungskosten liegen. Die Strombörse war bis vier großen Energiekonzernen beherrscht, und die Bun- zur Wirtschaftskrise nichts anderes als eine Gelddruck- desregierung tut nichts, um dieses Kartell aufzubrechen. maschine für Spekulanten. Die Wirtschaftskrise selbst ist Die Übertragungsnetze gehören zu 100 Prozent den glei- der beste Beleg für die Zockerei an der EEX. Kaum geht chen vier Konzernen, und wenn es nach der Bundesregie- den Hedgefonds und Banken das Geld aus, sinkt der Han- rung geht, wird das auch immer so bleiben. Sie haben delspreis auf ein Drittel. nichts getan, um den Konzernen die Macht über die Netze zu nehmen, und jede Initiative abgeblockt, die darauf ab- Beim Blick auf die Stromrechnung reiben sich nun zielte. Sie haben tatenlos zugesehen, wie die Energiekon- viele Verbraucherinnen und Verbraucher die Augen. Die zerne den Verbrauchern Jahr für Jahr Milliarden für ge- Spekulanten sind pleite und trotzdem drehen RWE und schenkte Emissionszertifikate in Rechnung stellten, statt Eon an der Preisschraube. Der Grund: Viele Stadtwerke diese unverdienten Profite abzuschöpfen und an die Ver- und Regionalversorger mit geringer Eigenversorgung braucher zurückzuerstatten. Und Sie haben auch Hin- mussten sich weit im Voraus mit verfügbarem Strom vom weise auf Manipulationen an der Leipziger Strombörse Markt eindecken. Sie bekommen jetzt die Energie gelie- nicht zum Anlass genommen, endlich durchzugreifen. fert, die sie vor einem Jahr teuer kaufen mussten. Preis- Das Ergebnis dieser Politik sind fehlender Wettbewerb,

Zu Protokoll gegebene Reden 23302 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Bärbel Höhn (A) unfaire Preise und Energiekonzerne, die schalten und Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll (C) walten können, wie sie wollen. gegeben: Carsten Müller, Röspel, Pieper, Dr. Sitte, Sager. Genauso ernüchternd sieht Ihre Bilanz beim Thema Energieeffizienz aus. Dabei ist mehr Energieeffizienz nicht nur ein Weg, die Energiekosten der Verbraucher zu Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU): senken. Investitionen in mehr Energieeffizienz sind auch In Deutschland und Europa kann unsere Zukunft nur in das beste Konjunkturpaket: Sie schaffen Arbeitsplätze, der Entwicklung hin zur Dienstleistungs- und Wissensge- modernisieren unsere Wirtschaft und sparen Ressourcen. sellschaft liegen. Nur so können wir in Zeiten zunehmen- Doch statt eine Energiesparoffensive zu starten, lähmt der Globalisierung im direkten Wettbewerb mit anderen sich die Bundesregierung im Streit zwischen Umweltmi- Großwirtschaftsräumen wie Asien oder Nordamerika be- nister und Wirtschaftsminister. stehen. Die Umsetzung der europäischen Energieeffizienz- Richtlinie ist jetzt schon seit über zehn Monaten überfäl- Die Vernetzung der zahlreichen Spitzenforschungsein- lig. Das hat der Bundesregierung schon einen blauen richtungen Europas zu einem Europäischen Forschungs- Mahnbrief aus Brüssel eingebracht. Und das Energie- raum ist daher ein wichtiges Element zur besseren Nut- effizienzgesetz der Bundesregierung musste im Kabinett zung unserer wissenschaftlichen Ressourcen. Nur so kann schon dreimal ergebnislos vertagt werden. Notwendig langfristig eine Sicherung von Arbeitsplätzen und damit wären die Einrichtung eines Energiesparfonds, ein ver- die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit erreicht werden. pflichtendes Energieaudit für energieintensive Unterneh- Wesentliche Elemente zur Verwirklichung eines Europäi- men und die Vorgabe verbindlicher Einsparziele für die schen Forschungsraums sind dabei das EU-Forschungs- Energieversorger. Indem sie nichts davon beschließt, ver- rahmenprogramm und das 3-Prozent-Ziel für Forschung gibt die Bundesregierung die Chance, die Verbraucherin- und Entwicklung. Die CDU/CSU-Bundestagfraktion setzt nen und Verbraucher zu entlasten, das Klima zu schützen sich darüber hinaus dafür ein, dass wir in Deutschland und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Freuen können sich 10 Prozent des BIP für Bildung und Forschung erreichen. darüber nur die Energiekonzerne, die an niedrigeren En- ergierechnungen kein Interesse haben. Die Bundesregierung mit unserer Ministerin Dr. und die CDU/CSU-Bundestagsfraktion Die Bundesregierung ist entweder nicht willens oder unterstützen diese Bemühungen. Denn Freiheit und Mo- nicht fähig, mehr Energieeffizienz, faire Preise und ech- bilität sind immer Grundlage für herausragende Wissen- ten Wettbewerb durchzusetzen. Ich fürchte, daran wird schaft und Forschung. Nur mit Exzellenz und Innovation auch eine fünfzehnte oder sechzehnte Bundestagsdebatte haben wir den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen nichts ändern. Da hilft nur eine neue Bundesregierung. (B) Herausforderungen der Zukunft etwas entgegenzusetzen. (D) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Auch die EU Kommission versucht, den Europäischen Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Forschungsraum weiter zu entwickeln. In Ihrer Mittei- Drucksache 16/11908 an die in der Tagesordnung aufge- lung zur „Gemeinsamen Programmplanung“ empfiehlt führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- sie, die Koordinierung der nationalen Forschungspro- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos- gramme auf EU-Ebene zu verstärken. Diesen neuen An- sen. satz der EU-Forschungszusammenarbeit begründet die Kommission vor allem damit, dass die bisherigen Bemü- Tagesordnungspunkt 27: hungen der Koordinierung unzureichend seien. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Diese Feststellung der Kommission ist undifferenziert richts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) und unzutreffend. Wir haben durch unsere Bemühungen zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung bereits viel erreicht, um die Leistungsfähigkeit des euro- päischen Forschungsraumes zu erhöhen. Die Mitglied- Mitteilung der Kommission an das Europäi- staaten haben in den letzten Jahren erhebliche Anstrengun- sche Parlament, den Rat, den Europäischen gen unternommen, um die nationalen Förderprogramme in Wirtschafts- und Sozialausschuss und den ihrer Wirksamkeit zu verbessern und die internationale Ausschuss der Regionen Gemeinsame Planung Zusammenarbeit zu verstärken. Dass diese Bemühungen der Forschungsprogramme: bessere Bewälti- erfolgreich sind, zeigen die Ergebnisse der regelmäßigen gung gemeinsamer Herausforderungen durch unabhängigen Evaluierungen. Zusammenarbeit (inkl. 11935/08 ADD 1 und 11935/08 ADD 2) Die Methode der offenen Koordinierung hat sich in KOM(2008) 468 endg.; Ratsdok. 11935/08 diesem Zusammenhang als sehr erfolgreich erwiesen. Im Vordergrund steht dabei die freiwillige Zusammenarbeit – Drucksachen 16/10286 Nr. A.76, 16/12416 – der einzelnen Mitgliedstaaten und der Erfahrungsaus- Berichterstattung: tausch anhand modellhafter und bewährter Beispiele aus Abgeordnete Carsten Müller (Braunschweig) der Praxis (best practice). Auf diese Art der Politikkoor- René Röspel dinierung wurde beispielsweise ein Reform- und Diskus- Cornelia Pieper sionsprozess auf einzelstaatlicher Ebene in Gang gesetzt, Dr. Petra Sitte der als Ergebnis nationale FuE-Investitionszielvorgaben Krista Sager in allen Mitgliedstaaten vorweisen kann. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23303

Carsten Müller (Braunschweig) (A) Darüber hinaus besteht in bestimmten Gebieten be- den Europäischen Forschungsraum effektiv und schlag- (C) reits eine enge Vernetzung bzw. Koordination, unterstützt kräftig, gibt Impulse für neue Innovationen. Eine Konzen- durch das derzeitige 7. Forschungsrahmenprogramm so- trierung ist gut zur Stärkung der Forschung. Sie darf aber wie weitere europäische Initiativen, wie dem Europäi- nicht bevormunden. schen Forschungsrat und dem Europäischen Institut für Forschung und Technologie. Besonders bei Großprojekten ist eine europaweite Zu- sammenarbeit und in diesem Rahmen eine Vernetzung Verbindliche Regelungen für die Einrichtung von sinnvoll und wünschenswert, da die einzelnen Mitglied- Strukturen sind wichtig für eine effiziente gemeinschaftli- staaten solche Aufgaben aufgrund ihres Umfangs nicht che Forschung in Europa. Derzeit ist aber keine Notwen- alleine schultern können. Von einer generellen Festle- digkeit für die Einführung weitergehender Steuerungs- gung von Forschungsthemen seitens der europäischen maßnahmen zu erkennen. Vielmehr ist es wichtig, Ebene ist jedoch dringend abzusehen. Das bisher gel- zunächst die neuen Instrumente der Forschungskoordi- tende und durch den Europäischen Verfassungsvertrag nierung auf ihre Wirksamkeit hin durch eine Evaluierung weiter gestärkte Prinzip der Subsidiarität darf in diesem zu gegebener Zeit zu überprüfen. Dies gilt für die Einrich- Zusammenhang ebenfalls nicht verletzt werden. Vor dem tung des Europäischen Forschungsrats (ERC) und die Hintergrund unserer ureigenen nationalen Interessen Errichtung des Europäischen Instituts für Innovation und kann eine zentral von Brüssel ausgehende Zuweisung von Technologie (EIT). Vor der Einführung neuer Verfahren Forschungsgebieten und Forschungsthemen nicht akzep- muss in jedem Fall sichergestellt werden, dass keine wei- tiert werden. teren bürokratischen Hürden und finanziellen Belastun- gen für die Mitgliedstaaten entstehen. Die EU-Mitgliedstaaten befinden sich im Bereich der Forschung nicht nur mit anderen Wirtschaftsräumen, In einer Videokonferenz mit EU-Forschungskommis- sondern auch untereinander im Wettbewerb. Nicht zuletzt sar Potocnik hatte man den Eindruck, dass auch die Kom- hat die nationale Festlegung von Forschungsschwer- mission selbst nicht genau weiß, was sie will. Die EU- punkten ebenfalls enorme Auswirkungen auf die wirt- Kommission blieb sehr im Ungefähren und hat damit kei- schaftliche Leistungsfähigkeit und somit auch auf den nen Anlass gegeben, Kompetenzen an sie abzugeben. Arbeitsmarkt unseres Landes. Deutschland ist heute in Denn Kompetenzen gibt man nur dann ab, wenn man der vielen Forschungsbereichen im weltweiten Vergleich füh- Überzeugung ist, dass sie auch kompetent ausgefüllt wer- rend. Eine zentralisierte Planung würde den Verlust von den. Technologieführerschaft nach sich ziehen, mit direkten negativen Auswirkungen auf unseren Wirtschaftsstandort Die geplanten Maßnahmen müssen in jedem Fall si- und unseren Arbeitsmarkt. cherstellen, dass die Entscheidungsfreiheit der einzelnen (B) Mitgliedstaaten über Art und Inhalt der nationalen For- Forschung und Entwicklung sind wichtig – besonders (D) schung unangetastet bleibt. Die Kommission darf sich auf auch in Zeiten der wirtschaftlichen Krise. Die kommen- diesem Weg keine zusätzlichen Kompetenzen wie zum den Herausforderungen an unsere Gesellschaft sind be- Beispiel die abschließende Entscheidung über Aufbau reits heute bekannt: demografischer Wandel, begrenzte und Standort von Forschungsinfrastrukturen aneignen. Energieressourcen, Pandemien. Wir haben jetzt die Eine solche Vorgehensweise verletzt das Subsidiaritäts- Chance, uns durch intensive Forschungs- und Entwick- prinzip. Die Planung der Forschungsschwerpunkte der lungsinvestitionen darauf vorzubereiten und eine techno- Mitgliedstaaten ist keine originäre Aufgabe der EU-Kom- logische Spezialisierung zu erreichen. Darin liegt die Zu- mission. Dies gilt insbesondere dann, wenn auf diesem kunft der Mitgliedstaaten und der EU. Daher ist es umso Weg finanzielle Mittel aus den bestehenden Programmen bedeutsamer, dass sich die Mitgliedstaaten in diesem Be- entzogen werden. Will die EU eigene Instrumente imple- reich stark aufstellen können, um so der Krise erfolgreich mentieren, muss sie dafür auch eigenes Geld in die Hand zu begegnen. nehmen. Der Europäische Forschungsraum ist ein wichtiges Die Einführung von weiteren Maßnahmen zulasten der Element zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas finanziellen Ausstattung von laufenden Programmen ist im globalen Wettbewerb um Innovationen und Technolo- kontraproduktiv und schwächt die positive Entwicklung gien. Deutschland ist Teil dieses Forschungsraumes und des Europäischen Forschungsraumes. Geld muss grund- unterstützt die gemeinsame Koordinierung auf der Ebene sätzlich in Maßnahmen und konkrete Projekte gesteckt der EU. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit von For- werden und nicht in Strukturen. Es gilt zu verhindern, schung und Innovation hat sich in unserer Gesellschaft dass die sowieso schon als koordinierendes Element sehr durchgesetzt. Heute sind drei von vier Europäern davon stark bürokratisch belastete EU nicht weitere Verwal- überzeugt, dass Forschung und Entwicklung unsere Zu- tungsstrukturen aufbaut, die Kosten und Aufwand verur- kunft sichern. Diese positive Haltung dürfen wir durch sachen. Dies öffnet Tür und Tor für einen Zugriff auf die eine Überregulierung nicht ohne Not aufs Spiel setzen. Kompetenzen der Mitgliedstaaten und möglicherweise auf finanzielle Mittel, die für andere gemeinsame For- René Röspel (SPD): schungsprogramme der Mitgliedstaaten vorgesehen wa- Das Europäische Parlament hat 2006 für den Zeit- ren. raum des 7. Forschungsrahmenprogramms von 2007 bis Es gibt genug andere Ideen, die zu verfolgen sich 2013 über 50 Milliarden Euro an Haushaltsmitteln be- lohnt. Mit dem ERC und dem EIT wird bereits ein hohes reitgestellt. Das ist mehr als eine Verdoppelung des Maß an Forschungskoordinierung umgesetzt. Das macht Budgets des 6. Rahmenprogramms. Mit diesen Geldern

Zu Protokoll gegebene Reden 23304 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

René Röspel (A) werden zum Beispiel die Zusammenarbeit von Wissen- Einbindung der Wissenschaft in die Themensuche; der (C) schaftlern aus verschiedenen Ländern zu einem Thema Aufbau neuer Instrumente, anstatt auf bereits bestehende unterstützt oder die Grundlagenforschung von Spitzen- zurückzugreifen bzw. diese zu reformieren; die starke nachwuchswissenschaftlern durch den Europäischen Rolle der EU-Kommission, bei gleichzeitiger finanzieller Forschungsrat finanziert. Im Durchschnitt gibt die Euro- Enthaltsamkeit, besonders da man aus der Erfahrung päische Kommission bis 2013 jedes Jahr circa weiß, dass gemeinsame Koordinierung einen erhöhten 7 Milliarden Euro für Forschung aus. Das ist viel Geld, Verwaltungs- und Kostenaufwand zur Folge hat; die Ge- aber auch gut angelegtes. fahr der Unübersichtlichkeit und Intransparenz der EU- Das diesjährige Budget des deutschen Ministeriums Forschungsförderung durch die Auslagerung auf eine für Bildung und Forschung liegt, nach einer ordentlichen weitere Exekutivagentur mit eigenem Management und Steigerung, bei über zehn Milliarden Euro. Davon gehen Regeln; die mögliche Diskontinuität des Bereiches „Ko- 3,5 Milliarden in die Projektförderung und 3,9 Milliarden operation“ im 8. Forschungsrahmenprogramm. Euro werden für die Förderung der großen Forschungs- Solche einstimmige Kritik ist selten und darf nicht einrichtungen verwendet. Hinzu kommen Gelder der überhört werden. Aus diesem Grund haben wir SPD-For- Bundesländer. Natürlich finanzieren auch alle anderen schungspolitiker gemeinsam mit den Kollegen aus der europäischen Mitgliedstaaten nationale Forschungspro- Union den vorliegenden Antrag in den Ausschuss für Bil- jekte, einige mehr, andere weniger. Circa 85 Prozent aller dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung einge- öffentlichen Forschung wird innerhalb der Europäischen bracht. Besonders gefreut hat es mich, dass dieser dort Union auf nationaler Ebene geplant und finanziert. Im einstimmig, sprich von allen Fraktionen des Deutschen Verhältnis dazu wirkt das 7. Forschungsrahmenpro- Bundestages, beschlossen wurde. Auch der Bundesrat gramm somit gleich viel kleiner. und die Bundesregierung haben bereits zur Gemeinsa- Es gibt Themen, die aufgrund ihrer Komplexität oder men Programmplanung kritisch Stellung bezogen. Die auch wegen ihrer gesellschaftspolitischen oder interna- Gemeinsame Programmplanung wird somit sowohl von tionalen Bedeutung forschungspolitisch nicht von einem der gesamten deutschen Wissenschaft wie auch allen For- Staat allein gelöst werden können. Ein Beispiel wäre die schungspolitikern als kritisch eingeschätzt. Forschung im Bereich des Klimawandels, denn dies be- trifft alle Staaten. Aber auch die Finanzierung von Groß- Die Bundesregierung hat bereits im Dezember letzten projekten wie X-FEL bei Hamburg kann nur von mehre- Jahres ihre Kritik an der Gemeinsamen Programmpla- ren Staaten gemeinsam geleistet werden. Deshalb nung in Brüssel sehr deutlich vorgetragen. Ein Resultat arbeitet Deutschland mit vielen Ländern, auch außerhalb war die Schlussfolgerung des Wettbewerbsrates vom der Europäischen Union, im Bereich Forschung bereits 2. Dezember 2008, in der einige deutsche Verbesserungs- (B) (D) jetzt sehr eng zusammen. vorschläge aufgenommen wurden. Grundlegende Pro- bleme bestehen an der Gemeinsamen Programmplanung Die Europäische Kommission ist der Meinung, dass aber nach wie vor. Entscheidend wird jetzt sein, wie sich die Forschungskooperation stärker ausgebaut werden die Detaildiskussionen entwickeln. Wir schicken die Bun- müsste. Und da das meiste Geld für Forschung, wie oben desregierung jetzt mit Forderungen und einem starken beschrieben, nicht durch die Kommission, sondern durch Mandat in diese Verhandlungen. Wir wollen, dass erst die die Mitgliedsstaaten vergeben wird, sollen die Mitglied- Erfahrungen und Evaluationen mit den neu geschaffenen staaten ihre Programme besser aufeinander abstimmen. Initiativen und Einrichtungen abgewartet werden, bevor Sie empfiehlt, auf der Basis der Freiwilligkeit und der va- neue Maßnahmen aufgebaut werden. riablen Geometrie gemeinsame Forschungsprogramme zu definieren, zu entwickeln und umzusetzen. Die „Koor- Und wir wollen bei aller Sinnhaftigkeit Gemeinsamer dinierung der Koordinierung“ will die Kommission dabei Programmplanung die Kompetenz der Mitgliedstaaten selbst übernehmen. bei der Forschungsförderung und das Subsidiaritätsprin- Prinzipiell ist der Aufruf zu einer engen For- zip wahren. schungskooperation natürlich zu begrüßen. Und sie ist in der Praxis ja auch schon alltägliches und notwendiges Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal darauf hin- Geschäft. Wir als SPD glauben aber, dass der von der weisen, dass auch das forschungsstarke Deutschland in Kommission vorgeschlagene Weg nicht der richtige ist. den letzten Jahrzehnten von der europäischen For- Damit stehen wir nicht allein. In Vorbereitung für diesen schungsförderung sehr profitiert hat. Deshalb ist uns zum Entschließungsantrag haben wir alle deutschen For- Beispiel auch die Zukunft des Forschungsrahmenpro- schungsorganisationen um eine Stellungnahme gebeten. gramms sehr wichtig. Es geht uns hier also nicht darum, Herr Professor Rietschel beispielsweise, Präsident der die gesamte EU-Forschungsförderung zu kritisieren. Leibniz-Gemeinschaft, bringt es in seiner Antwort auf Aber wenn das Konzept der EU-Kommission für eine Ge- den Punkt: „Auch ich betrachte die derzeitigen for- meinsame Programmplanung im so großen, die europäi- schungspolitischen Entwicklungen in Europa in Teilen sche Idee mittragenden Mitgliedstaat Deutschland so mit Sorge.“ Alle Forschungsorganisationen sehen die klar von Wissenschaft und Politik abgelehnt wird, dann von der Kommission propagierte Gemeinsame For- muss auch in Brüssel umgedacht werden. schungsplanung eher kritisch. Erlauben Sie mir bitte an dieser Stelle einmal, meinem Anbei möchte ich einige der Hauptkritikpunkte aus den Mitarbeiter Richard Müller für die Recherche und Vorbe- Antwortschreiben nennen, die wir teilen: die fehlende reitung dieser Rede ganz herzlich zu danken.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23305

(A) Cornelia Pieper (FDP): Einrichtungen wie die Einrichtung des Europäischen (C) Um eines gleich voranzustellen: Meine Fraktion und Forschungsrates, ERC, und die Errichtung des Europäi- ich stehen hinter der Ihnen heute zur Abstimmung vorlie- schen Institutes für Innovation und Technologie, EIT, in genden Beschlussempfehlung. Wir stimmen dieser zu. Budapest beschlossen? Ist es jetzt nicht besser, erst ein- mal zu sehen, welchen Glanz diese Einrichtungen in un- Grundsätzlich begrüße ich es, wenn innerhalb des sere gemeinsame „europäische Hütte“ bringen? Europäischen Forschungsraumes gemeinsame Forschungs- programme durchgeführt werden. Das fördert nicht nur Ich frage mich auch, ob die geplanten Maßnahmen für die Zusammenarbeit der nationalen Wissenschafts- und den Wettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten im Euro- Forschungsakteure der EU-Mitgliedstaaten bei der Be- päischen Forschungsraum nicht eher hinderlich sind. antwortung all jener wichtigen Fragestellungen, die aus Zerstören sie nicht vielmehr die jedem Wettbewerb inne- der Sicht eines Staates nicht oder nur unter erheblichem wohnenden mobilisierenden Kräfte? Ich spreche mich Mitteleinsatz bearbeitet werden können. Trotzdem müs- ganz klar und deutlich dafür aus, dass die Kompetenzen sen wir innerhalb der EU der 27 das Subsidiaritätsprin- der Mitgliedstaaten bei der nationalen Forschungsförde- zip beachten. Die Europäische Gemeinschaft ist erst ge- rung uneingeschränkt erhalten bleiben. Eine Planung der fragt, wenn der einzelne Nationalstaat seine Aufgaben Forschungsprogramme, wie sie die Kommission vor- nicht mehr aus eigener Kraft lösen kann, oder die Auf- schlägt, sollte von der europäischen Agenda verschwin- gabe von gesamteuropäischem Interesse ist und von vorn- den. herein den Einzelnen überfordern würde. In dem uns hier vorliegenden Fall unternimmt die Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Kommission unter dem Deckmantel einer Gemeinsamen Meine Fraktion muss sich ja häufiger des Vorwurfs er- Programmplanung aber den Versuch, direkten Einfluss wehren, sie agiere europafeindlich. Dies ist mitnichten auf die nationalen Forschungsprogramme auszuüben, der Fall, auch dann nicht, wenn Initiativen europäischer ohne überhaupt ein Signal für eine grundsätzliche finan- Gremien und Insititutionen kritisiert werden. Dies hat zielle Beteiligung zu geben. Brüssel beabsichtigt, anstatt kürzlich der gesamte Forschungsausschuss getan, indem sich dem Gedanken des Bürokratieabbaus verpflichtet zu er einstimmig eine kritische Entschließung zum hier dis- fühlen, neue Hierarchien und Verwaltungsapparate auf- kutierten Papier der EU-Kommission verabschiedet hat. zubauen. So fließt immer mehr Geld in die Verwaltung als Da einstimmige Beschlüsse auch im Ausschuss für Bil- in die Forschung. Und das finde ich schlichtweg empö- dung und Forschung selten sind, lohnt ein genauer Blick rend. Was ist das für eine Forschungspolitik, die sagt, auf das kritisierte Vorhaben der Kommission. wenn es eines Tages einen entsprechenden europäischen Die Kommission stellt eine grundlegende Kritik der (B) Mehrwert gibt, dann könnte das später auch eine finan- (D) zielle Beteiligung der EU bedeuten? Die erheblichen Be- Forschungspolitiken der Mitgliedsstaaten an den An- denken der deutschen Seite – ob aus der Politik oder aus fang: Förderprogramme, die nicht europaweit oder in der Wissenschaftsgemeinschaft – sind Ihnen bekannt. multilateralen Verbünden koordiniert würden, seien „zer- splittert“ und damit „ineffizient“. Das sind 85 Prozent Damit wir uns richtig verstehen: Ich spreche mich der Programme – aus Sicht der EU-Kommission viel zu nicht gegen den Gedanken der Weiterentwicklung des viel. Es werde zuviel doppelt geforscht, die Zersplitterung Europäischen Forschungsraums und der europäischen behindere den freien Wissensaustausch und zudem seien Forschungslandschaft aus. Die Forschungsrahmenpro- die nationalen Programme häufig „nicht tiefschürfend“ gramme der vergangenen 25 Jahre haben sich als ein genug. Im Vergleich mit den USA, so die Kommission, sei durchaus lernfähiges und immer wieder neu organisie- Europa mit solch einer fragmentierten Forschungsland- rendes System erwiesen und waren erfolgreich. Europa schaft nicht wettbewerbsfähig. Daher müsse nun die hat neue Instrumente für die Wissenschaftszusammenar- Kommission – nicht der Rat oder das Europäische Parla- beit geschaffen. Genannt seien hier besonders der Aus- ment wohlgemerkt – das Heft des Handelns in die Hand schuss für wissenschaftliche und technologische For- bekommen und neben den eigenfinanzierten Projekten schung, CREST, das Europäische Forschungsforum, des Forschungsrahmenprogramms auch die strategische ERF, der Europäische Forschungsbeirat, ERAB und die Planung und Steuerung der nationalstaatlichen For- Europäische Wissenschaftsstiftung, EWS. Mit dem Be- schungsförderung übernehmen. schluss zur Schaffung des Europäischen Forschungs- raums, EFR, im Jahr 2000 haben wir die Wissenschafts- Den Beweis für die These mangelnder Wettbewerbsfä- und Forschungskooperation auf eine völlig neue Grund- higkeit der europäischen Forschung bleibt die Kommis- lage gestellt. Die Ausrichtungen des sechsten und des sion jedoch schuldig. Ihre Argumentation fußt auf der siebten Forschungsrahmenprogramms auf die Stärkung bloßen Behauptung, dass Masse gleich Klasse sei. Wenn der europäischen Zusammenarbeit haben ihr Ziel nicht man nur alle nationalen Programme zusammenführe, so verfehlt. die Argumentation, dann kämen auch die besten Ergeb- nisse heraus. Dies gilt, so meine ich, für die meisten For- Doch das, was jetzt hier passiert, können und wollen schungsfelder nicht. Im Gegenteil, es ist gerade die Dif- wir nicht einfach so hinnehmen! Es ist schlichtweg nicht ferenz und die Pluralität, die innovatives Wissen wahr, wenn die Kommission behauptet, dass die For- hervorbringt: die Unterschiedlichkeit der Forschungs- schungserträge aus den nationalen Forschungsförderun- traditionen, die verschiedenen Schwerpunkte, die in den gen nicht ausreichen. Das Gegenteil ist der Fall. Und was Ländern gesetzt werden. Das Wettbewerbsprinzip ist der Europa angeht: Haben wir nicht gerade erst wieder neue Wissenschaft inhärent, es wird gerungen um neue Er-

Zu Protokoll gegebene Reden 23306 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Dr. Petra Sitte (A) kenntnisse und um die besten Problemlösungen. Würde Sicht einer freien Wissenschaft in gesellschaftlicher Ver- (C) man hier Themen von europäischer Ebene vorgeben und antwortung. Das schließt eine Vielfalt der Förder- und Fi- institutionell zusammenbinden, wäre das für den wissen- nanzierungsstrukturen ein, die möglichst demokratischer schaftlichen Wettbewerb aus unserer Sicht nicht förder- Kontrolle unterliegen sollen. lich. Es bleibt offen, worin der echte „europäische Mehr- wert“ dieser europäischen Top-down-Steuerung besteht. Die Linke fordert die Bundesregierung auf, die Finan- zierung und die Strukturen des Forschungsrahmenpro- Der Forschungsausschuss hat zu Recht das Problem gramms zu stärken. Derzeit wird die Ausrichtung des der Subsidiarität angesprochen, denn über Forschungs- 8. Rahmenprogramms debattiert. Dabei wäre es sinnvoll, förderung werden Weichen für gesellschaftliche Entwick- den Bereich „Kooperation“ auch finanziell auszubauen lungspfade gestellt. Der vorliegende Kommissionsent- und fortschrittliche Elemente wie die „Gender Action wurf birgt die Gefahr, dass den Haushaltsgesetzgebern Plans“ in das Programm zu integrieren. Zudem ist die der Mitgliedsstaaten die Hoheit über die Forschungsfi- Rolle der Wissenschaft bei der Definition der For- nanzierung in ihren eigenen Etats abhanden kommt. Der schungsfelder zu stärken. Europafreundlich zu sein, heißt SET-Plan zur Energieforschung wird als Vorbild für die engagiert an der Diskussion um europäische Politik teil- Gemeinsame Programmplanung genannt. An diesem zunehmen. Das hat der Ausschuss mit seiner Entschlie- Vorbild lassen sich auch die Gefahren erkennen: Eine von ßung geleistet, der wir uns als Linke anschließen. der KOM gesteuerte Programmplanung im Energiebe- reich kann bedeuten, dass Deutschland zukünftig hohe Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Millionenbeträge in die Entwicklung von neuen Atomre- aktoren investiert, obwohl unsere Politik am Atomaus- Es wichtig und richtig, den Europäischen Forschungs- stieg festhalten will. Solch ein Vorgehen ist nicht demo- raum weiterzuentwickeln. Ein weit verzweigter, tragfähi- kratisch zu nennen und widerspricht damit dem Prinzip ger und dynamischer Europäischer Forschungsraum der Subsidiarität. braucht dazu effiziente Strukturen und Förderinstru- mente, die gute Zusammenarbeit und Koordinierung ge- Die Kommission beruft sich auf das Konzept des Euro- währleisten. Der Vorschlag der Europäischen Kommis- päischen Forschungsraums. Die Initiative soll dazu die- sion aber, hierfür ein neues Instrument, die Gemeinsamen nen, die Mobilität des Wissens als „fünfte Grundfreiheit“ Programmplanung, zu installieren, wirft zahlreiche Fra- sicherzustellen. Wir als Linke begrüßen das Entstehen ei- gen auf. nes europäischen Forschungsraums und erwarten, dass dieser tatsächlich zu einem Raum des freien Austauschs Der Gemeinsamen Programmplanung liegt die Idee und der Mobilität wird. Er soll Rahmen für diesen Aus- zugrunde, den Programmplanungsprozess im Europäi- tausch setzen und interne Barrieren abbauen. Zu fragen schen Forschungsraum über die Festlegung von gemein- (B) (D) ist jedoch, ob damit auch die Ausrichtung der For- samen Themen auf freiwilliger Basis zu steuern. Aber der schungsprogramme auf von der Kommission definierte dabei von der EU-Ebene favorisierte Top-Down-Ansatz Großziele verbunden werden muss. Nach den Erfahrun- beim Join-Programming stieß in seiner Ursprungsfas- gen mit anderen kommissionsgeführten Forschungsini- sung zu Recht auf Kritik und Widerstand. Denn dieser An- tiativen der EU wie etwa den Europäischen Technologie- satz läuft auf eine Zentralisierung europäischer For- plattformen können wir nur unsere Skepsis ausdrücken. schungsplanung hinaus. Damit würde die EU-Ebene Auch in der gemeinsamen Programmplanung will die ihren Machtanspruch überdehnen. Kommission die Industrie an der Planung und Ausrich- Alle Fraktionen hier im Bundestag sind sich darin ei- tung der Programme beteiligen. Es wäre fatal, wenn das nig, dass dies keine positive Entwicklung gewesen wäre. Konzept des Europäischen Forschungsraums unter das Daher war es richtig, dass dieser Ansatz auch von deut- Paradigma des Lissabon-Prozesses und damit der Stand- scher Seite nicht akzeptiert wurde und sich infolgedessen ortkonkurrenz mit den anderen großen Wirtschaftsregio- in seiner ursprünglichen Form auch nicht durchsetzen nen gestellt würde. Dies dient weder einer freien und ge- konnte. Der Kompromiss sieht nun eine Entschärfung des sellschaftsverantwortlichen Forschung noch macht es die Top-Down-Ansatzes vor. Die Gruppe, die die Themenfin- Verantwortung Europas zu einer globalen Zusammenar- dung vornimmt, ist – anders als von der Kommission zu- beit bei der Lösung wichtiger Fragen wie dem Klimawan- nächst vorgeschlagen – eine Untergruppe der CREST- del oder der grassierenden Armut deutlich. Gruppe. Damit haben die Mitgliedstaaten ihre Entschei- Der Forschungsausschuss fordert in seiner Entschlie- dungsgewalt über die Themenfindung behaupten können. ßung zu Recht, dass erst einmal ähnlich gelagerte Initia- Die Kompromissentscheidung, nun einen Prozess der tiven wie ERA-Net oder die genannten Gemeinsamen Gemeinsamen Programmplanung nach dem durch Technologieinitiativen in ihren Auswirkungen evaluiert CREST modifizierten Top-Down-Prinzip anzustreben, werden, bevor ein derart weitgreifender Ansatz der Kom- lässt aber immer noch zahlreiche Fragen offen: mission eingebracht wird. Bis Sommer 2009 sollen die Bereiche für eine gemeinsame Planung ermittelt, bis Unklar ist zum Beispiel, in welchem Verhältnis die Ge- Ende 2009 bereits Empfehlungen für die Einleitung von meinsame Programmplanung zu anderen, bereits beste- Initiativen durch die KOM gegeben werden. Dieses Vor- henden Instrumenten wie dem Siebten Forschungsrah- gehen kann nur als unseriös eingeschätzt werden und menprogramm, dem Europäischen Forschungsrat oder wird dem proklamierten Anspruch eines „langfristigen auch dem EIT steht. Neue Ansätze sind kein Wert an sich, und strategischen Prozesses“ in keiner Weise gerecht. sie müssen sinnvoll eingebettet sein in die vorhandenen Der Europäische Forschungsraum dient aus unserer Instrumente der europäischen Forschungsförderung. Es

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23307

Krista Sager (A) macht jedenfalls keinen Sinn, die begrenzten Ressourcen Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent- (C) zur Fortentwicklung der europäischen Forschungsland- haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig schaft in immer neue Instrumente zu stecken, anstatt be- angenommen. währte Strukturen, Institutionen und Programme weiter- Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 28 a und zuentwickeln. 28 b: Viele der bestehenden Instrumente haben in der Ver- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker gangenheit sinnvolle Impulse gesetzt und leisten bereits Beck (Köln), Thilo Hoppe, Ute Koczy, weiterer ihren positiven Beitrag für Zielsetzungen, die jetzt mit der Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Gemeinsamen Programmplanung umgesetzt werden sol- DIE GRÜNEN len. Die Forschungsrahmenprogramme zum Beispiel sind äußerst effizient und erfolgreich für die grenzüber- Humanitäre Katastrophe in Sri Lanka verhin- schreitende Forschungskooperation. Die Forschungs- dern rahmenprogramme haben auch dazu beigetragen, dass – Drucksache 16/12436 – Themen von gesamteuropäischer Dimension identifiziert und inhaltliche Schwerpunkte abgestimmt werden. Wel- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) chen zusätzlichen Nutzen und welche neuen Potenziale Auswärtiger Ausschuss soll nun die Gemeinsame Programmplanung als ein wei- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und teres Instrument der Koordinierung tatsächlich bringen? Entwicklung Dieses Problem führt zu einer weiteren offenen Frage. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Bislang ist noch völlig intransparent und schwer vorstell- richts des Ausschusses für Menschenrechte und bar, wie der Prozess der Themenfindung, die die Gemein- Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag same Programmplanung leisten soll, tatsächlich erfolgt. der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Wie sollen prioritäre Themen in Zukunft konkret identifi- Marieluise Beck (Bremen), Alexander Bonde, ziert werden? Nach welchen Kriterien? Welchen Mehr- weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- wert bringt hier die neue Form der Koordinierung? NIS 90/DIE GRÜNEN Unklar ist ferner die Frage der Finanzierung. Die Weitere Verschlechterung der Rechtssituation Kommission beabsichtigt nicht, sich an der Finanzierung von Homosexuellen in Nigeria verhindern der Gemeinsamen Programmplanung zu beteiligen. In – Drucksachen 16/12107, 16/12459 – dem von der Regierungskoalition vorgelegten Antrag zum Join-Programming wird hingegen gefordert, dass die Berichterstattung: (B) EU-Ebene bei der Finanzierung unterstützen soll, aller- Abgeordnete Hartwig Fischer (Göttingen) (D) dings nicht aus bestehenden Forschungsprogrammen. Angelika Graf (Rosenheim) Die Finanzierungsfrage ist aber völlig offen und die Vor- Burkhardt Müller-Sönksen stellungen dazu äußerst unklar. Wir Grüne haben im For- Michael Leutert schungsausschuss dem Koalitionsantrag trotz dieser Marieluise Beck (Bremen) Schwäche zugestimmt. Auf keinen Fall aber darf es da- Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll rauf hinauslaufen, dass eine solche Finanzierung auf gegeben: Haibach, Fischer (Göttingen), Riemann- Kosten anderer, bewährter Programme und erfolgreich Hanewinckel, Graf (Rosenheim), Leibrecht, Leutert, etablierter Strukturen geht. Beck (Köln). Für die Stärkung des Europäischen Forschungsraums halten wir eine andere Initiative allerdings durchaus für Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): sinnvoll. Ich meine das Thema gemeinschaftlicher Die Situation der Homosexuellen in Nigeria hat sich Rechtsrahmen für europäische Großforschungsinfra- seit der parlamentarischen Behandlung am 26. April strukturen (ERI) und auch die Frage nach einer Mehr- 2007 nicht zum Positiven verändert. Deshalb gebe ich wertsteuerbefreiung für Organisationen mit dieser neu zu meine Rede, die ich damals gehalten habe, im folgenden schaffenden Rechtsform (ERIC). Hier sollte sich die deut- Wortlaut zu Protokoll. Wir müssen weiter darauf achten, sche Regierung dafür einzusetzen, dass sich der ECOFIN dass wir die Menschenrechtsverletzungen nicht akzeptie- für eine solche Befreiung ausspricht, damit die Beratun- ren. gen zu dieser Frage beim Wettbewerbsrat im Mai zu ei- Die nigerianische Regierung hat im Jahre 2005 einen nem erfolgreichen Abschluss gebracht werden können. umfassenden Gesetzentwurf gegen gleichgeschlechtliche Zu diesem Thema hat sich die Koalition leider bisher Partnerschaften verabschiedet. Nach diesem soll nicht nicht positioniert. Ein positives Ergebnis wäre tatsäch- nur die Anerkennung solcher Partnerschaften ausge- lich ein Schritt, um den Europäischen Forschungsraum schlossen sein, nein, sogar die Eingehung einer gleichge- voranzubringen. schlechtlichen Partnerschaft, Vorbereitungshandlungen hierzu und die Mitwirkung daran sollen mit bis zu 5 Jah- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ren Freiheitsentzug bewehrt werden. Gleiches soll da- Wir kommen zur Abstimmung. Der zuständige Aus- nach für die Werbung für und die Darstellung solcher schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, in Partnerschaften sowie die Eintragung homosexueller Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vereine und Clubs gelten. Die 1999 in den nördlichen eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Bundesstaaten eingeführte Sharia-Strafgesetzgebung 23308 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Hartwig Fischer (Göttingen) (A) sieht noch härtere Strafen für Homosexualität vor, die Dazu gehören unter anderem der nigerianische Men- (C) dort als „Sodomie“ bezeichnet wird. So stellt zum Bei- schenrechtsbeauftragte, der Justizminister sowie der spiel der nördliche Bundesstaat Zamfara den gleichge- Rechtsausschuss von Senat und Repräsentantenhaus. Bei schlechtlichen Kontakt von zwei Frauen aufgrund der diesen Demarchen wurde deutlich gemacht, dass das vor- Sharia mit bis zu 50 Stockschlägen unter Strafe. Ich gesehene Gesetz in zahlreichen Bestimmungen im Wider- möchte hier nur eine bekannte Verurteilung anführen: spruch zu internationalen Verträgen steht, deren Partei Anfang 2002 wurde ein Mann im Bundesstaat Zamfara auch Nigeria ist. Die EU-Missionsleiter haben die Ange- wegen Sodomie zu 100 Stockschlägen und einer 1-jähri- legenheit seit 2006 aufmerksam verfolgt und sie auch mit gen Gefängnisstrafe verurteilt. den Organisationen der nigerianischen Zivilgesellschaft erörtert, die gegen den Gesetzentwurf ins Feld ziehen. Die geringe Zahl an bekannten Verurteilungen erklärt Die EU hat dabei hervorgehoben, dass dieses Gesetz, sich dadurch, dass die Betroffenen Schutzgelder zahlen falls es verabschiedet wird, gegen universelle Menschen- oder in den Süden des Landes fliehen und überhaupt sehr rechtsstandards verstößt. Neben den Bemühungen der vorsichtig agieren, um sich nicht „erwischen“ zu lassen, EU-Missionsleiter hat der nigerianische Senator, der dem und dass zudem sehr wenige Informationen nach außen zuständigen Ausschuss vorsteht, eine Überarbeitung des dringen. Durch Berichte von Amnesty International ist Entwurfs zugesagt und will sicherstellen, dass dieser auf bekannt, dass viele Homosexuelle ein Doppelleben füh- internationaler Ebene akzeptabel ist und mit der nigeria- ren. Auf der einen Seite führen sie eine heterosexuelle Be- nischen Verfassung im Einklang steht. ziehung, aber nur, damit sie damit ihre homosexuelle Be- ziehung vor dem Staat verdecken können. Wir müssen allen Staaten, die mit Deutschland zusam- menarbeiten wollen, deutlich machen, dass eine vertrau- Am 14. Februar gab es zu dem Gesetzesvorschlag der ensvolle Zusammenarbeit nur möglich ist, wenn das Land nigerianischen Regierung eine öffentliche Anhörung im die Menschenrechte achtet und auch einhält. Die derzei- Repräsentantenhaus mit NROs, an der – nach anfängli- tige Entwicklung ist ein klarer Verstoß gegen die Men- chen Schwierigkeiten – auch Vertreter von Interessengrup- schenrechte, deshalb muss Deutschland auch bei den pen der Homosexuellenverbände teilnehmen konnten. Am nächsten Regierungsverhandlungen deutlich machen, 22. Februar wurde der Senat mit dem Gesetzesvorschlag dass wir dies nicht akzeptieren und dies auch Auswirkun- befasst. Nach Einschätzungen von Beobachtern vor Ort gen auf die zukünftige Zusammenarbeit hat. Wir werden gibt es im Repräsentantenhaus Unterstützung für das Nigeria deutlich machen, dass es sich mit seiner Behand- Gesetz, während der Senat gespalten scheint. Vor einer lung der Homosexuellen von seiner bisher positiven Ent- möglichen Verabschiedung wird der Entwurf nun im wicklung entfernt und in alte Zeiten zurückfällt. Die Ein- Ausschuss für Justiz, Menschenrechte und Rechtsangele- haltung der Menschenrechte ist ein Grundbaustein einer (B) genheiten des Senats behandelt. Die nigerianischen Zei- lebendigen Demokratie. (D) tungen berichten allerdings offen über das Thema. Holger Haibach (CDU/CSU): Ist das was sich gerade in Nigeria abspielt, ein Einzel- Die gegenwärtige Lage in Sri Lanka ist besorgniserre- fall? Mit Verlaub, nein! In den meisten afrikanischen gend. Es scheint, als seien beide Seiten des seit Jahrzehn- Ländern werden Schwule und Lesben verfolgt. In Sim- ten währenden Konfliktes, Regierung und die sogenannte babwe verglich Staatschef Mugabe Schwule mit Schwei- tamilische Befreiungsarmee LTTE, bereit, in eine Art von nen und Hunden. In Namibia hat die Polizei Anweisung, Endkampf einzutreten, und dies ohne Rücksicht auf Ver- Homosexuelle festzunehmen und des Landes zu verwei- luste, bei Freund und Feind, bei den eigenen Kräften und sen. Auch in Kenia ist Homosexualität unter Männern ge- auch bei der Zivilbevölkerung. setzlich verboten. Dabei sind die Rahmenbedingungen für das Eingrei- Aber es gibt auch andere afrikanische Länder, die mit fen der internationalen Gemeinschaft, besonders für diesem Thema weit offener umgehen. Ich möchte dabei Deutschland und die EU, sowie auch für Hilfsorganisa- noch mal das Augenmerk auf Südafrika lenken. Südafrika tionen, denkbar ungünstig. Weder Regierung noch LTTE hat als erstes afrikanisches Land die Homo-Ehe seit dem sind offenbar zur Zeit willens, ihre militärischen Aktivitä- 30. November 2006 legalisiert. Es ist nicht zu verschwei- ten zugunsten von Verhandlungen einzuschränken, die gen, dass dies auch in Südafrika ein steiniger Weg war Regierung, weil sie sich militärisch beinahe am Ziel und die Abstimmung im Parlament sehr knapp war. Die- wähnt; die LTTE, weil sie sich zu einem „Kampf bis zum ser positive Ansatz muss ein Signal an alle anderen afri- letzten Atemzug“ entschieden hat. kanischen Staaten sein, denn Südafrika zeigt damit, dass es gegen jede Art von Diskriminierung und Vorurteilen Mit welcher Skrupellosigkeit dabei vorgegangen wird, ist. Diese Offenheit Südafrikas und die Achtung der Men- zeigt ein Beispiel der vergangenen Wochen: Da lässt die schenrechte müssen unterstützt werden. LTTE zwei Flugzeuge, voll mit Bomben und Sprengstoff, über die Hauptstadt Colombo fliegen, in der Absicht, Wie kann die Bundesrepublik Deutschland nun aber sinnlos Menschenleben zu vernichten. Daraufhin lässt die den Menschen in Nigeria helfen? Im Zusammenhang mit Regierung diese beiden Flugzeuge von der Luftwaffe ab- der Verabschiedung des Gesetzentwurfes zur gleichge- schießen – über Wohngebieten, den Tod von unschuldigen schlechtlichen Partnerschaft gab es sowohl EU-Troika – Zivilisten wissentlich in Kauf nehmend. Gleichzeitig, das als auch Demarchen aller EU-Missionschefs bei ver- beschreibt der vorliegende Antrag richtig, drohen Hun- schieden nigerianischen Dienststellen. derttausende von Menschen Geiseln dieses Konflikts zu

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23309

Holger Haibach (A) werden, entweder in Lagern der Regierung oder in den Außenminister Steinmeier und unsere SPD-Justizministe- (C) hart umkämpften Rückzugsgebieten der LTTE. rin Zypries werden sich im Rahmen ihres Menschen- rechtsdialoges mit Nigeria selbstverständlich dafür ein- Insofern sind die Forderungen, die von Bündnis 90/ setzen, dass die Menschenrechte von Homosexuellen in Die Grünen hier erhoben werden, nicht falsch: Einstel- Nigeria verwirklicht werden können. lung der Kampfhandlungen, eine aktive Rolle der inter- nationalen Gemeinschaft, der wichtige und notwendige Dieser Menschenrechtsdialog stellt allerdings kein Einsatz der Nachbarn, der Appell zur Einhaltung von Menschenrecht über ein anderes. Ohne die Situation von menschenrechtlichen und humanitären Standards. Homosexuellen zu relativieren: Homosexuelle sind nicht die einzige Gruppe, die keinen ausreichenden Menschen- Allerdings stellt sich bei allem, was daran richtig ist, rechtsschutz durch ihre nigerianische Regierung erhält. die Frage nach dem Wie, die der Antrag nicht beantwor- In Nigeria – einem Staat, in dem zum großen Teil das tet. Denn so einfach ist das alles nicht. Deutschland und islamische Recht der Scharia gilt – sind die Menschen- die EU haben hier eine Verantwortung, aber wir sollten würde verletzende Strafen wie die Todesstrafe, das uns auch eingestehen, dass unsere Möglichkeiten be- Auspeitschen, Steinigungen oder Amputationen leider grenzt sind. gängige Praxis. Zudem: Regelmäßig werden von nige- Ein Weiteres kommt hinzu, das in diesem Antrag keine rianischen Sicherheitskräften schwere Menschenrechtsver- Erwähnung findet. Die militärische Auseinandersetzung letzungen gegenüber Zivilisten begangen, beispielsweise wird, zu welcher Zeit auch immer, ein Ende finden. Und – außergerichtliche – Hinrichtungen, Vergewaltigungen, dann? Soweit dies zurzeit übersehen werden kann, gibt es Folter, Entführungen und Erpressung sowie die Zerstö- zwar Überlegungen und Vorstellungen für eine Verfasst- rung von Wohnraum. heit des Landes, die ein friedliches Zusammenleben zu- Auch Gewalt gegen Frauen ist in Nigeria allgegen- mindest möglich macht. Aber wie viel Akzeptanz diese wärtig. Dabei geht es um häusliche Gewalt und um Vorstellungen haben, wenn große Teile der Opposition an Vergewaltigungen und sexuellen Missbrauch durch Verhandlungen nicht einmal teilnehmen, das ist zumin- Staatsrepräsentanten. Ebenso sind Meinungs- und Ver- dest mehr als fraglich. sammlungsfreiheit von Menschenrechtsverteidigern und Und schließlich wäre dann die wichtige Frage zu be- Journalisten regelmäßig durch Drohungen und Über- antworten, wie eigentlich die Wunden, die in der Seele ei- griffe der nigerianischen Geheimpolizei bedroht. Selten nes ganzen Volkes nach beinahe 25 Jahren bürgerkriegs- werden diese schweren Menschenrechtsverletzungen ähnlicher Zustände entstanden sind, wieder geschlossen strafrechtlich verfolgt und die Verantwortlichen zur Re- werden können. Dazu gehört die juristische Aufarbeitung chenschaft gezogen. (B) der Vergangenheit, dazu gehört aber auch der schmerz- Ich stelle fest: Nigeria ist kein Staat, in dem aus- (D) volle Prozess der Versöhnung. Und auch diese Zukunfts- schließlich Homosexuelle diskriminiert werden. Wie perspektive gehört in einen solchen Antrag. schon gesagt: Die Menschenrechte von Schwulen haben für uns hohe Priorität weltweit. Für die Zukunft sollte Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): man jedoch den Fokus des menschenrechtlichen Engage- Der heute zu beratende Antrag zur Rechtssituation der ments bezüglich Nigerias insofern erweitern, als man Homosexuellen in Nigeria von der Fraktion Bündnis 90/ auch die anderen Menschenrechtsverletzungen in einen Die Grünen ist im Prinzip ein guter Antrag. Wir – die Antrag mit aufnimmt. SPD-Bundestagsfraktion – haben uns dafür eingesetzt, dass wir aus diesem Antrag der Grünen einen gemeinsa- Christel Riemann-Hanewinckel (SPD): men Antrag mit allen Bundestagsfraktionen machen, im In Sri Lanka hat sich der seit vielen Jahren andau- Sinne der Sache. Leider war das mit der CDU/CSU- ernde Bürgerkrieg dramatisch zugespitzt. Die sri-lanki- Fraktion aber wieder einmal nicht möglich. Unser sche Regierung will offenbar bis zum bitteren Ende gegen Koalitionspartner lehnt unsere Bemühungen, übergrei- die LTTE kämpfen. Sie lehnt Verhandlungen ab und ak- fende Anträge zur weltweiten Lage und zum Menschen- zeptiert ausschließlich eine bedingungslose Kapitulation. rechtsschutz von Homosexuellen zu initiieren, bereits seit Im Norden der Insel werden die Rebellen der LTTE immer geraumer Zeit ab. Dabei müsste auch die Union einsehen, weiter eingekesselt. Nach dem Fall einiger wichtiger dass die heutige Rechtssituation für Homosexuelle in Ni- Orte scheinen die Kämpfe in die Endphase zu gehen. geria eine menschenrechtliche Katastrophe ist. Der aktu- ell im nigerianischen Repräsentantenhaus diskutierte Die Lage der Menschen im Kampfgebiet ist besonders Gesetzentwurf zum „Verbot gleichgeschlechtlicher Ehe- verhängnisvoll. Auf einer Fläche von 50 km² verteidigen schließungen“ wird die diskriminierende und für Homo- sich die Kämpfer der LTTE, und geschätzte 130 000 bis sexuelle gefährliche Rechtssituation aber noch weiter 200 000 Zivilisten sind den Angriffen von beiden Seiten manifestieren. ausgesetzt. Die Menschen zwischen den Fronten sind un- säglichem Leid ausgesetzt: Artilleriebeschuss, Bombar- Langer Rede kurzer Sinn: Die Menschenrechtspoliti- dierungen, Granatfeuer, Vergewaltigungen, Hunger, Not ker der SPD hätten gern dem Antrag zugestimmt, sind und Elend. Menschenrechtsverletzungen durch beide Sei- aber an die Koalitionsdisziplin gebunden. Der Koali- ten werden in Kauf genommen, gezielt eingesetzt und sind tionsvertrag schreibt ein einheitliches Abstimmungsver- alltäglich geworden. Unter den eingeschlossenen Zivilis- halten der Koalitionsfraktionen fest. Wir wissen aber ten sind Schwerverletzte, alte Menschen, Frauen und auch: Unsere Bundesregierung, das heißt unser SPD- Kinder. Es fehlt ihnen an allem: überlebensnotwendige

Zu Protokoll gegebene Reden 23310 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Christel Riemann-Hanewinckel (A) Medikamente, Trinkwasser, Nahrungsmittel. Die hygieni- und im März nach Colombo reisen. Dies wurde von der (C) sche und soziale Versorgung ist nicht gewährleistet. Bei sri-lankischen Regierung bisher abgelehnt. tropischen Temperaturen harren sie in Erdbunkern aus. Dort kann nicht gekocht werden. Ein Überleben ist zum Der Antrag, den wir heute beraten, beschreibt die Sor- Teil nur durch den Verzehr von Beeren, Blättern und Wur- gen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen über die furcht- zeln möglich. Im Kreuzfeuer kann selbst die Verrichtung bare Situation der Menschen in Sri Lanka. Die Forderun- der menschlichen Notdurft außerhalb der Bunker tödlich gen bleiben zum Teil hinter dem zurück, was Deutschland sein. und die EU und auch Teile der internationalen Gemein- schaft bereits getan haben bzw. was sie von den Kriegs- Wer den Versuch wagt, aus dem Kessel zu fliehen, parteien gefordert haben. Eine Solidaritätserklärung mit schafft es nur unter gefährlichsten Bedingungen und der notleidenden Zivilbevölkerung braucht keine An- muss damit rechnen, sein Leben zu verlieren. Wer es tragsform. Wir haben diesen Konflikt auf der Tagesord- schafft, dieser Hölle zu entfliehen, findet sich schwer ver- nung und wurden in den Ausschüssen bereits unterrichtet. letzt, ohne Hab und Gut und getrennt von den Angehöri- Die zentrale Frage bleibt weiterhin offen: Wie geht die gen möglicherweise in einem der wenigen Krankenhäu- sri-lankische Regierung mit den Autonomiebestrebungen ser wieder. Die Versorgung der Kranken mit 100 g Reis der Tamilen um? Wir werden die Entwicklungen in Sri pro Tag lässt keinen ernstlichen Willen der sri-lankischen Lanka weiter beobachten und unsere Erwartungen deut- Regierung an ihrer Gesundung erkennen. Die Kranken- lich zum Ausdruck bringen. Deutschland wird weiterhin häuser werden überwacht. Das Militär ist überall prä- humanitäre Hilfe leisten und für politische Verhandlun- sent. gen zur Verfügung stehen. In sogenannten Transitlagern sind zurzeit weitere 45 000 Menschen untergebracht. Die Lager sind mit Sta- Harald Leibrecht (FDP): cheldraht umzäunt, die Binnenflüchtlinge dürfen das Ge- Wir debattieren hier heute über zwei sehr wichtige biet nicht verlassen. Einigen Hilfsorganisationen ist der Themen. Daher hat es mich auch etwas irritiert, dass wir Zugang zum Lager gelungen. Was die Mitarbeiter berich- in einer Debatte sowohl die Situation in Sri Lanka als teten, ist erschreckend: Die Menschen haben keinen Kon- auch die Verschlechterung der Rechtssituation von Ho- takt zur Außenwelt. Sie sind kaum bekleidet, Lebensmittel mosexuellen in Nigeria diskutieren. Ich finde nicht, dass sind verdorben und die Tagesration mit 600 Kalorien ist diese Vorgehensweise der Wichtigkeit dieser völlig unter- völlig unzureichend. Schwer traumatisierte Menschen schiedlichen humanitären Probleme gerecht wird. bleiben sich selbst überlassen. Mütter flehen darum, ihre Kinder aus dem Lager geben zu dürfen. Die Menschen Ich werde mich daher auf die Lage in Sri Lanka be- schränken, da ich die Entwicklungen in diesem Land (B) werden vom Militär in drei „Sicherheitskategorien“ ein- (D) geteilt und drangsaliert. Die Kindernothilfe berichtete, schon seit einigen Jahren beobachte und die Kürze eines dass Personen, die Verbindungen zur LTTE unterhalten, Redebeitrages schon für die Erklärungen der komplizier- abgeführt und erschossen werden. Sicherheitsüberprüfte ten Verhältnisse in Sri Lanka kaum ausreicht. und unverdächtige Menschen sollen in sogenannte Wel- Mit Abscheu haben wir einige furchtbare Bilder und fare Centres verbracht werden und später in ihre Heimat Berichte, die uns aus Sri Lanka erreichen, gesehen und zurückkehren können. Augenzeugen berichteten, dass gehört. Mit roher Gewalt und erschreckender Brutalität diese Unterkünfte vergitterte, viel zu kleine Behausungen gehen Militär und tamilische Rebellen gegeneinander vor seien, in denen ein Aufenthalt von bis zu fünf Jahren ge- und nehmen dabei keine Rücksicht auf die Leiden der Zi- plant sei. vilbevölkerung. All dies macht mich fassungslos. Eine politische Lö- Für ausländische Beobachter ist es kaum möglich, in sung des Konflikts wird immer unwahrscheinlicher. Den- die Kampfgebiete zu gelangen. Man gewinnt den Ein- noch: Die LTTE und die sri-lankische Regierung müssen druck, dass die Regierung die Vorgehensweise der tami- die Waffen ruhen lassen, um Verletzte zu bergen, Tote zu lischen Rebellen toleriert: Um die staatliche Propa- begraben und die eingeschlossenen Menschen evakuie- gandamaschinerie am Laufen zu halten, lässt man zu, ren zu können. Die humanitäre Hilfe muss allen Bedürfti- dass die LTTE (Liberation Tigers of Tamil Eelam) die gen in ausreichendem Maße zukommen. Zivilbevölkerung als menschlichen Schutzschild miss- braucht. Es ist ein abscheuliches Spiel mit Menschenle- Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier ben, das derzeit auf Sri Lanka zu beobachten ist. Und es hat am 21. Januar 2009 einen Waffenstillstand gefordert, sind sowohl die tamilischen Befreiungstiger der LTTE als um die Versorgung der Binnenflüchtlinge zu ermöglichen. auch die sri-lankische Regierung, die dafür verantwort- Er hat beide Seiten zu Verhandlungen aufgerufen. Auch der lich zu machen sind. Generalsekretär der Vereinten Nationen Ban Ki-moon äu- ßerte sich besorgt über die humanitäre Lage und forderte Während die Regierung das Vanni-Kampfgebiet kom- den Schutz der Zivilbevölkerung. Die EU-Außenkommis- plett abgeriegelt hat, keine medizinische Versorgung für sarin Ferrero-Waldner und auch die tschechische EU- die notleidende Zivilbevölkerung zulässt und die Men- Ratspräsidenschaft äußerten im Gespräch mit dem sri- schen in den Flüchtlingscamps – laut Aussagen meiner lankischen Außenminister Bogollagama die Erwartung, Quellen – „verrotten“ lässt und dabei auch noch Fami- dass ein militärischer Sieg die Gelegenheit sein solle, ei- lien auseinanderreißt, hat sich die LTTE über die letzten nen Prozess der Versöhnung und des Wiederaufbaus in Jahre anscheinend ein großes Waffenarsenal zugelegt Gang zu setzen. Die EU-Troika wollte bereits im Februar und ist momentan zu einem langen, quälenden Stellungs-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23311

Harald Leibrecht (A) krieg in der Lage, in dem sie die Zivilbevölkerung als Viertens. Die Länder, die für die Waffenlieferungen an (C) Schutzschild benutzt und ihre Kinder als Soldaten Regierung und Rebellen verantwortlich sind, sind zu ei- zwangsrekrutiert. nem Stopp dieser Waffengeschäfte aufzufordern. Einige vom Tsunami betroffene Gebiete sind auch Fünftens. Die Finanzströme der in Deutschland täti- Jahre nach der Katastrophe von 2004 weit davon ent- gen tamilischen Hilfsorganisationen im Hinblick auf Waf- fernt, wieder bewohnbar zu sein. Die LTTE aber konnte fengeschäfte sind zu überprüfen. sich seitdem angeblich sehr gut ausgestattete Quartiere, Waffenlager und sogar eine kleine Flugzeugflotte auf- Die Situation in Sri Lanka ist fatal. Der Einfluss der in- bauen, finanziert, so scheint es, durch Hilfsgelder, die of- ternationalen Gemeinschaft ist seit dem Rückzug der fiziell für den Wiederaufbau und die Zivilbevölkerung SLMM gering. Nicht zuletzt deswegen ist die Bundesre- vorgesehen waren. Beide Seiten stehen sich also in die- gierung aufgefordert, alles im Rahmen ihrer Möglichkei- sem endlosen Konflikt auf Sri Lanka leider in nichts nach. ten zu unternehmen und ihren Einfluss auf die Konflikt- Wir sind dazu aufgerufen, das Leid der Zivilbevölkerung parteien geltend zu machen, um eine weitere Eskalation so weit wie möglich zu lindern. der Gewalt zu verhindern – zum Wohle der sri-lankischen Zivilbevölkerung! Gleichzeitig aber müssen wir uns verstärkt darüber Gedanken machen, mit welcher langfristigen politischen Michael Leutert (DIE LINKE): Lösung es nach einer Beendigung des gewaltsamen Kon- flikts auf Sri Lanka weitergehen soll. Wie stellt sich die Die politische Situation in Sri Lanka gibt Anlass zu sri-lankische Regierung das Zusammenleben mit der ta- höchster Sorge. Die bürgerkriegsähnliche bewaffnete milischen Minderheit nach einem militärischen Sieg über Auseinandersetzung in Sri Lanka dauert nun schon über die Befreiungstiger vor? Sind nach über 26 Jahren Bür- 25 Jahre an. Ihre Vorgeschichte ist aber für das Verstehen gerkrieg die entstandenen Wunden noch zu heilen? der Konfliktnatur notwendig. Es ist nicht einfach nur ein ethnischer Konflikt. Wer diese Deutung bevorzugt, macht Seitdem sich die von Norwegen geführte internatio- sich ein viel zu einfaches Bild. An anderen Orten der Welt nale Sri Lanka Monitoring Mission (SLMM) im Januar leben auch verschiedene Nationalitäten in einem Staat 2008 nach mehrfacher Verletzung des Waffenstillstandes zusammen, ohne dass es sogenannte ethnische Konflikte von 2002 durch Regierung und Befreiungstiger aus Sri gibt. Hier, in Sri Lanka, liegt ein postkolonialer Konflikt Lanka zurückgezogen hat, scheint es keinerlei Einfluss vor. mehr von internationaler Seite auf die Konfliktparteien zu geben. Mitarbeiter von politischen Stiftungen und Vertre- Deutschland ist ein Staat – wie andere europäische ter diplomatischer Vertretungen wurden zuletzt von der Staaten auch – mit einer kolonialen Vergangenheit. Zuge- (B) (D) Regierung an ihrer Arbeit in der Konfliktregion gehindert geben, im Gebiet des heutigen Sri Lanka hat sich diese und bedroht. Ein solches Verhalten der sri-lankischen Re- deutsche Vergangenheit nicht abgespielt. Aber wir sollten gierung ist absolut inakzeptabel! langsam einmal eine politische Sensibilität dafür ausbil- den, was die koloniale Vergangenheit für Verheerungen Das Internationale Rote Kreuz (ICRC) ist die letzte in- angerichtet hat. Deswegen müssen wir ein Interesse an ternationale Organisation, die noch vor Ort tätig ist. An- der Befassung mit diesem Konflikt im Bundestag haben. geblich wird es aber auch deren Vertretern immer mehr Daher begrüßt meine Fraktion auch den Antrag der Grü- erschwert, die bedürftigen Menschen zu erreichen. Die nen. Ohne einer detaillierten Debatte vorgreifen zu wol- sri-lankische Regierung verweigert nun selbst die Versor- len, teilt meine Fraktion die darin aufgestellten Forde- gung der Menschen in den Flüchtlingscamps! rungen. Es gibt mehrere Forderungen, die wir als FDP-Frak- Ein anderer Antrag der Grünen thematisiert die tion angesichts der prekären Lage in Sri Lanka an die Situation der Homosexuellen in Nigeria. Es geht aber Bundesregierung stellen: nicht nur um die Strafbarkeit homosexueller Handlungen oder um die Diskriminierung anderer Lebensweisen, son- Erstens. Die Bundesregierung muss sich innerhalb der dern bereits schon um die Strafbarkeit der Thematisie- EU für ein konzertiertes Vorgehen gegenüber der sri-lan- rung von Anliegen Homosexueller. Die Beschlussempfeh- kischen Regierung einsetzen. lung des Ausschusses lautet Ablehnung. Man könnte auch Zweitens. Dies schließt ein, die sri-lankische Regie- sagen, dass die Mehrheit von CDU/CSU und SPD ihr rung dazu zu drängen, dass anerkannte internationale Unbehagen an der nigerianischen Praxis vielleicht rein Hilfsorganisationen wie beispielsweise das Rote Kreuz verbal äußern will, daraus aber keine politischen Hand- die Menschen in den Flüchtlingscamps wieder versorgen lungen folgen sollen. Das ist aber nichts anderes als dürfen. Komplizenschaft mit Homophobie. Wir haben damals im Ausschuss keine Vorschläge gehört, die vielleicht effekti- Drittens. Der sri-lankischen Regierung gegenüber ist ver sein könnten als die, die im Grünen-Antrag empfohlen deutlich zu machen, dass die weitere Einschränkung der worden sind. Wir haben bis jetzt keinen anderen Antrag Pressefreiheit sowie die Behinderung der Arbeit von in- der Koalition zum Thema vorliegen. Allein schon deshalb ternationalen Hilfsorganisationen, politischen Stiftungen wird meine Fraktion gegen die Beschlussempfehlung und diplomatischen Vertretern absolut inakzeptabel sind stimmen. Sie wird es aber vor allem deswegen tun, weil und gegebenenfalls mit den entsprechenden Konsequen- wir die Lageeinschätzung und die Forderungen des An- zen geahndet werden. trags der Grünen teilen.

Zu Protokoll gegebene Reden 23312 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

(A) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ner Gefahr für die Menschenrechte aller Nigerianerinnen (C) Gleichgeschlechtliche Partnerschaften sind „gegen und Nigerianer werden kann. Der Willkür sind hier Tür Gott, gegen die Bibel, unnatürlich, zwecklos, ungesund, und Tor geöffnet. unkulturell, unafrikanisch und unnigerianisch. Sie sind Vor diesem Hintergrund, verehrte Kolleginnen und eine Perversion und eine Abartigkeit, die dazu geeignet Kollegen von den Koalitionsfraktionen, macht es mich ist, sozialen und kulturellen Holocaust in diesem Land zu fassungslos, wie Sie zum wiederholten Mal – und im Men- betreiben. Sie führen zum Aussterben der Menschheit und schenrechtsausschuss kommentarlos – unseren Antrag dürfen in Nigeria niemals Fuss fassen.“ So weit ein Aus- ablehnen. Einen wortgleichen Antrag von uns haben Sie zug aus der Stellungnahme der Anglikanischen Kirche in 2007 mit der Begründung abgelehnt, der Gesetzentwurf Nigeria während der parlamentarischen Anhörung zur stünde ja noch nicht zur Abstimmung an. Nun steht er zur sogenannten „Same Sex Marriage Prohibition Bill“, ei- Abstimmung an, und es zeigt sich, dass Ihre Begründung nem Gesetzentwurf zum Umgang mit Homosexuellen, am zur Ablehnung 2007 nur fadenscheinig war. Offenbar gibt 11. März 2009. Diese hasserfüllte Äußerung der Anglika- es bei einigen Mitgliedern Ihrer Fraktionen noch immer nischen Kirche macht das Umfeld und die Atmosphäre in Vorbehalte, was die Menschenrechte von Homosexuellen Nigeria deutlich, in der nun dieses Gesetz – nachdem es angeht, anders kann man sich Ihr Abstimmungsverhalten bereits 2006 einen Anlauf gegeben hatte – verabschiedet gar nicht erklären. Auch ein Signal für einen gemeinsa- werden soll. men Textentwurf, wie bereits 2007 von uns angeboten, ha- Nigeria ist – wie leider noch immer viele Länder auf ben wir von Ihnen nicht erhalten. Angesichts des Leids, der Welt – kein Land, in dem man als Homosexueller das dieses Gesetz, sollte es in Kraft treten, verursachen sorglos leben kann. Verhaftungen und Bedrängung von wird, fällt mir dazu nur ein Wort ein: schäbig! Homosexuellen haben nach Berichten von Amnesty Inter- Ich hoffe, dass die Bundesregierung nun trotzdem alles national und Human Rights Watch in den letzten Jahren in ihrer Macht Stehende tun wird, um zusammen mit ihren noch zugenommen. Einvernehmlicher gleichgeschlechtli- europäischen Partnern gegenüber der nigerianischen cher Verkehr wird bereits jetzt mit bis zu 14 Jahren Ge- Regierung und dem nigerianischen Parlament zu de- fängnis bestraft. Im Norden Nigerias steht unter der marchieren. Homosexuellenrechte sind Menschenrechte! Scharia-Gesetzgebung darauf der Tod durch Steinigung. Sollte der Gesetzesentwurf tatsächlich verabschiedet Auch wenn es in diesen Tagen stark danach aussieht, werden, so wird eine bereits unerträgliche Situation wei- dass der Bürgerkrieg in Sri Lanka zugunsten der Regie- ter verschlimmert. Der Gesetzesentwurf oder Teile davon rung ausgeht, ist damit der 25 Jahre alte Konflikt im Land verletzen das Recht auf Freiheit von Diskriminierung, das längst nicht beendet. Die Brutalität beider Konfliktpar- Recht auf Familienleben, die Religions- und Glaubens- teien, die tausende Zivilistinnen und Zivilisten das Leben (B) freiheit, die Meinungsfreiheit und die Versammlungsfrei- gekostet hat, bildet vielmehr die Grundlage für zukünftige (D) heit. Der Gesetzesentwurf verletzt damit auch die nigeri- Unruhen und Auseinandersetzungen. Dass die Regierung anische Verfassung, die Allgemeine Erklärung der von Sri Lanka meint, eine langfristige Lösung könne aus Menschenrechte, die Afrikanische Menschenrechtscharta den Gewehrläufen kommen, erfüllt uns mit großer Sorge und den Internationalen Pakt über bürgerliche und poli- für die Zukunft Sri Lankas. Die Regierung von Präsident tische Rechte. Rajapakse hat erklärt, die Kämpfe gegen die LTTE wür- Darüber hinaus hat sich Nigeria als Mitglied des Men- den erst beendet, wenn diese „endgültig ausgelöscht“ schenrechtsrates verpflichtet, die höchsten Standards an- seien. Wer glaubt, dass damit der Bürgerkrieg in wenigen zulegen, um die Menschenrechte zu gewährleisten und zu Wochen beendet sein wird, täuscht sich. schützen, unabhängig von der sexuellen Identität eines Im unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, Menschen. Während einer Debatte zum Universal Perio- sich viel stärker als bisher für einen sofortigen Waffenstill- dic Review, UPR, im Menschenrechtsrat im Februar 2009 stand zwischen der Regierung Sri Lankas und der LTTE hat der Vertreter Nigerias geäußert, es sei ihm keine einzusetzen, damit es den Zivilistinnen und Zivilisten ermög- Gruppe von Lesben, Schwulen oder Transgender in Nige- licht wird, die Kampfzone zu verlassen. Die Regierungstrup- ria bekannt, aber als nigerianische Staatsbürger verfüg- pen haben die LTTE auf ein Gebiet von nur 50 Quadratkilo- ten diese über die in der Verfassung Nigerias garantierten meterzusammengedrängt. Bis zu 170 000 Zivilistinnen und Rechte. Zivilisten sollen sich dort noch aufhalten, die meisten von ih- Der Gesetzesentwurf wird erhebliche Auswirkungen nen verletzt, ohne Zugang zu medizinischer Versorgung, zu auf die Menschenrechtsarbeit in Nigeria haben. Es steht Nahrungsmitteln und sauberem Wasser. Die humanitäre Ka- zu befürchten, dass es verstärkt zu Verhaftungen von Per- tastrophe spitzt sich dramatisch zu, wie den Berichten des sonen kommt, denen Homosexualität oder die Unterstüt- Internationalen Komitees des Roten Kreuzes zu entnehmen zung von Homosexuellen vorgeworfen wird, darunter fal- ist. Die eingeschlossenen Zivilistinnen und Zivilisten müssen len dann auch Menschenrechtsverteidiger. Der Vertreter dringend evakuiert werden. Nigerias vor dem Menschenrechtsrat wird dann auch in Es gibt es Hinweise darauf, dass die Menschen, die aus Zukunft keine zivilgesellschaftliche Gruppe von Homose- dem Kampfgebiet fliehen konnten, in Flüchtlings- und xuellen kennen, die für ihre Rechte eintreten, denn unter Übergangslagern festgehalten werden. Dabei wird offen- diesem neuen Gesetz würden selbst private Treffen zu ei- bar mit vermeintlichen LTTE-Kämpfern kurzer Prozess ner Gefahr werden. Personen, die eine gleichgeschlecht- gemacht. Es gibt Berichte über Erschießungskomman- liche Hochzeit beobachten oder zugegen sind, können bis dos, über „Verfahren“ gegenüber den Flüchtlingen, die zu fünf Jahre ins Gefängnis kommen, was letztlich zu ei- jegliche Menschenrechtsstandards außer Acht lassen.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23313

Volker Beck (Köln) (A) Diese Vorwürfe müssen aufgeklärt werden, und die Re- Verteidigungsausschuss (C) gierung von Sri Lanka muss dringend ermahnt werden, Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und die von ihr übernommenen und die universal gültigen Entwicklung Menschenrechtsverpflichtungen im Umgang mit allen Bürgerinnen und Bürgern Sri Lankas einzuhalten. Dazu b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- gehört auch, dass Journalistinnen und Journalisten, so- richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- wohl inländische als auch internationale, sich frei und nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge- ungehindert bewegen, recherchieren und ihre Meinung ordneten Winfried Nachtwei, Dr. Wolfgang äußern dürfen – auch und gerade, was die Situation in Strengmann-Kuhn, Kerstin Müller (Köln), weite- den Flüchtlingslagern betrifft. Die Anzahl der Morde an rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Journalistinnen und Journalisten in Sri Lanka in den letz- NIS 90/DIE GRÜNEN ten Jahren ist erschreckend. Für eine restriktive Rüstungsexportpolitik – Ohne die Einhaltung von Menschenrechtsstandards Parlamentarische Kontrollmöglichkeiten ver- und den Schutz vor Diskriminierung wird es zu keiner bessern tragfähigen Lösung des blutigen Konflikts in Sri Lanka kommen. Dazu gehört perspektivisch ein gewisses Maß – Drucksachen 16/11388, 16/11975 – an Autonomie im Norden und Osten der Insel, ein bewuss- Berichterstattung: tes Programm, das die starke wirtschaftliche Ungleich- Abgeordneter Rolf Hempelmann heit zwischen den Landesteilen abbaut, und eine erkenn- bare Akzeptanz für die Bewahrung der kulturellen Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll Identität von Minderheiten in Staat und Gesellschaft. gegeben: Fritz, Hempelmann, Kopp, Schäfer (Köln), Doch das ist Zukunftsmusik. Nachtwei. Die Bundesregierung und die EU sollten es allerdings nicht bei reinen Appellen an die Regierung belassen. Sie Erich G. Fritz (CDU/CSU): sollte sich in der EU für die Aussetzung von Handelsprä- Auch wenn der Rüstungsexportbericht 2007 erneut zu ferenzen einsetzen. Sie sollte in der Weltbank und der unattraktiver Zeit auf der Tagesordnung des Deutschen Asiatischen Entwicklungsbank klarstellen, dass dies nicht Bundestages steht, so diskutieren wir innerhalb von drei die Zeit für Neuzusagen in der Zusammenarbeit ist, und Monaten immerhin zum zweiten Mal über Rüstungs- bis auf Weiteres eine entsprechende Aussetzung in den exporte – und dies in Zeiten, in denen die Wirtschafts- und Bereichen fordern, die nicht direkt mit der Verbesserung Finanzkrise die Tagesordnung bestimmt und die Bundes- der humanitären Lage zu tun haben. tagswahl ihre Schatten voraus wirft. (B) Schauen wir uns die Zahlen in diesem in der Tat wieder (D) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: einmal sehr spät vorgelegten Rüstungsexportbericht Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf 2007 an, so wird deutlich, dass die Gesamttendenz im Drucksache 16/12436 an die in der Tagesordnung aufge- mehrjährigen Vergleich der Rüstungsexporte nach wie führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein- vor eine starke Kontinuität zeigt. Die vorhandenen verstanden. Dann haben wir das so beschlossen. Schwankungen bzw. Aufs und Abs ergeben sich vor allem aus zwei Gründen: Zum Ersten ist das Gesamtvolumen so Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- gering, dass einzelne Großaufträge wie etwa die Ausfuhr empfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/ von Schiffen bereits zu einem nennenswerten Ergebnis Die Grünen mit dem Titel „Weitere Verschlechterung der führen, und zum Zweiten ist das internationale Engage- Rechtssituation von Homosexuellen in Nigeria verhin- ment der Bundeswehr im Rahmen friedenserhaltender dern“. Der Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 16/12459, Maßnahmen sowie die Notwendigkeit zur Schaffung von den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf innerer Stabilität und Sicherheit in fragilen Partnerlän- Drucksache 16/12107 abzulehnen. Wer stimmt für diese dern auch mit dem Export notwendigen Materials ver- Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent- bunden. haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- Dies erklärt etwa die Tatsache, dass Afghanistan zu ei- men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen nem der wichtigsten Empfängerländer deutscher Rüs- der Oppositionsfraktionen angenommen. tungsexporte zählt. Der Großteil der Lieferung nach Af- Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 29 a und ghanistan hat 2007 aus Panzern für den im Süden des 29 b: Landes stationierten NATO-Partner Kanada bestanden. Es wäre undenkbar, hätten wir unseren Verbündeten im a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- gefährlicheren südlichen Teil Afghanistans die Hilfe ver- regierung weigert. Bericht der Bundesregierung über ihre Ex- Ich möchte nicht allzu viele Zahlen nennen, aber auf portpolitik für konventionelle Rüstungsgüter wenige Eckwerte von besonderer Bedeutung eingehen: im Jahre 2007 (Rüstungsexportbericht 2007) Der Gesamtwert der 2007 erteilten Einzelausfuhrgeneh- – Drucksache 16/11583 – migungen betrug 3,7 Milliarden Euro, womit ein leichter Rückgang gegenüber dem Vorjahr – 4,1 Milliarden Euro – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) zu verzeichnen ist. Mit circa 66 Prozent entfällt der über- Auswärtiger Ausschuss wiegende Anteil der Genehmigungen auf EU-, NATO- 23314 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Erich G. Fritz (A) und NATO-gleichgestellte Länder, mit denen bekannter- durch staatliche oder staatsnahe Lieferanten außerhalb (C) maßen vielfältige Kooperationen im Rüstungsbereich be- der EU. Andererseits wird dort, wo der Staat das Macht- stehen. Der Anteil der Ausfuhren in Drittländer ist von monopol hat und es auch gegenüber organisierten krimi- 29 Prozent auf 33 Prozent gestiegen. nellen Strukturen durchsetzen muss, die Lieferung von Handfeuerwaffen auch weiter sinnvoll sein, wenn er ver- Wichtigste Empfängerländer waren die USA, die antwortlich kontrolliert wird. Die dauerhafte Verringe- Schweiz und das Vereinigte Königreich. Außerhalb der rung der Kleinwaffen auf der Welt bleibt ein wichtiges EU/NATO waren es Afghanistan, Südkorea und Pakistan. Ziel. Zu den exportstärksten Branchen zählten in 2007 die Begrüßenswert ist, dass der Rüstungsexportbericht Landfahrzeugindustrie, militärische Elektronik und Luft- 2007 erstmals Daten zu der im Jahr 2006 neu eingeführ- fahrttechnik. ten Kontrolle von Vermittlungsgeschäften für Rüstungs- Der Gesamtwert der 2007 erteilten Sammelausfuhrge- güter enthält und damit ein zusätzlicher Schritt in Rich- nehmigungen belief sich in 2007 auf 5,1 Milliarden Euro tung Transparenz getan worden ist. Insofern wiederholt und ist damit gegenüber dem Vorjahr angestiegen (3,5 der heute ebenfalls zur Diskussion stehende Antrag der Milliarden Euro). Da es sich bei den Sammelausfuhrge- Grünen die uns bekannten Forderungen nach mehr Kon- nehmigungen jedoch um Rüstungskooperationen mit an- trolle und Transparenz, übergeht die aktuellen rechtli- deren EU-, NATO- und NATO-gleichgestellten Staaten chen Entwicklungen auf europäischer Ebene und ver- handelt, sind diese Zahlen ein Zeichen dafür, dass die Eu- gisst, dass die Rüstungsexportpolitik unter Rot-Grün ropäisierung des Rüstungssektors zunimmt. Und dies ist keinesfalls restriktiver und verantwortungsvoller war, als ja auch politisch so gewollt! Wirklich nachvollziehbar ist sie es heute ist. Vielmehr steht die Rüstungsexportpolitik für die Mitglieder des Deutschen Bundestages die Bedeu- der Bundesregierung in großer Kontinuität der unter- tung dieser Genehmigungsform nach wie vor nicht. schiedlichen Regierungen und bleibt auch künftig restrik- tiv und verantwortungsbewusst. Wünschenswert ist – da Der Wert der tatsächlich aus Deutschland ausgeführ- herrscht Konsens im Parlament – tatsächlich eine zeitna- ten Kriegswaffen ist erneut gegenüber dem Vorjahr leicht here Vorlage der Rüstungsexportberichte. zurückgegangen – auf circa 1,1 Milliarden Euro. Damit liegt der Anteil von Kriegswaffen an den deutschen Ge- Die Frage des Endverbleibs von Rüstungsgütern, auch samtexporten bei circa 0,11 Prozent der deutschen Ge- in Kooperationsprojekten, beschäftigt uns seit Jahren. samtexporte. Das ist der niedrigste Wert seit 2002. Ein Nicht nur einmal habe ich den Standpunkt vertreten, dass Anteil von immerhin 75 Prozent des Gesamtwertes entfiel den entsprechenden Vorschriften in den deutschen dabei auf Ausfuhren in EU-, NATO und NATO-gleichge- Grundsätzen keine wirklich kontrollierbare Endver- (B) stellte Länder. Die übrigen Exporte umfassen hauptsäch- bleibsregelung gefolgt ist. Freilich gibt es Grundlagen für (D) lich die Ausfuhr von U-Booten nach Südkorea, die etwa eine Verbesserung in der Praxis: Zum einen regelt Art. 4 82 Prozent aller Drittlandsexporte ausmachen. der Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern Die Genehmigungswerte für sogenannte Kleinwaffen, den Endverbleib, zum anderen ist der EU-Verhaltens- insbesondere automatische Handfeuerwaffen, sind mit kodex für Waffenausfuhren am 8. Dezember 2008 durch 48 Millionen Euro gegenüber den beiden Vorjahren um Beschluss des Rates der EU-Außenminister zu einem circa 30 Prozent gestiegen, für die Gruppe der Drittstaa- rechtlich verbindlichen Gemeinsamen Standpunkt aufge- ten von 15,6 Millionen Euro auf 30,2 Millionen Euro. wertet worden. Dafür haben sich die Bundesregierung Mexiko und Saudi-Arabien sind die beiden größten und die CDU/CSU-Bundestagsfraktion seit Jahren einge- Hauptabnehmer. 11 Millionen Euro gingen an die mexi- setzt. kanischen Polizeibehörden und weitere 11 Millionen Euro an die Armee Saudi-Arabiens, einen staatlichen Die im Zusammenhang mit der Europäisierung des Endverwender also und strategischen Partner Deutsch- Rüstungssektors oftmals geäußerte Kritik, dass die Ex- lands. So erschreckend der enorme Anstieg beim Export portkontrollen auf europäischer Ebene vergleichsweise von Kleinwaffen ist, so deutlich muss auch darauf hinge- schwach entwickelt seien, weckt die besondere Aufmerk- wiesen werden dürfen, dass es auch hier ein Auf und Ab samkeit des Bundestages. Wir werden genau beobachten, und keinesfalls einen stetigen Zuwachs gibt. 2002 und wie der Gemeinsame Standpunkt sich in der Praxis aus- 2003, also unter Rot-Grün, lagen die Zahlen mit 62 Mil- wirken wird. Es gibt durchaus gute Ansätze, von denen lionen Euro und 53 Millionen Euro weitaus höher. Und es wir aber noch nicht wissen, wie sie in der Verwaltungs- gibt Hinweise, dass der Kleinwaffenexport in 2008 deut- wirklichkeit umgesetzt werden: Die Frage des Endver- lich zurückgegangen ist. Dass die sogenannten Kleinwaf- bleibs ist in Art. 5 des Gemeinsamen Standpunktes gere- fen in vielen Krisen-, Bürgerkriegsstaaten und instabilen gelt. Zudem gelten auch innerhalb der EU die üblichen Ländern mit fehlenden staatlichen Strukturen oder Ausei- Reexportbestimmungen für Drittlandexporte, das heißt, nandersetzungen rivalisierender Machtgruppen sowie der Empfänger deutscher Exportgüter muss vor einem ethnisch motivierten Gewalttaten und Sezessionsbestre- Reexport eine Genehmigung der Bundesregierung einho- bungen eine für die Bevölkerung katastrophale Rolle len. Damit gewährleistet die Bundesregierung, dass von spielen, ist unzweifelhaft richtig. Deshalb muss vor allem Drittstaaten keine Technologien an Länder exportiert dem schwarzen und grauen Markt für Kleinwaffen auf der werden, bei denen deutsche Zulieferungen enthalten sind, Welt der Kampf angesagt werden, vor allem aber auch die nach deutschem Exportrecht nicht genehmigungsfä- der unverantwortlichen Verbreitung von Kleinwaffen hig wären.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23315

Erich G. Fritz (A) Dennoch bleibt die Frage, wie etwa Sturmgewehre von chen, die Rüstungsexportberichte wieder einzeln und (C) Heckler & Koch nach Georgien gelangen konnten. An möglichst zeitnah im Plenum zu debattieren. Der vorlie- Lücken in der Gesetzgebung kann das eigentlich nicht lie- gende Rüstungsexportbericht für 2007 ist im Dezember gen. Die vorliegenden Regelungen müssen natürlich vom Kabinett verabschiedet worden. auch konsequent angewandt werden. Insofern besteht nach wie vor Verbesserungsbedarf, an dem die EU ge- Die Zahlen für den Berichtszeitraum erscheinen auf genwärtig arbeitet. Ich denke dabei an den Vorschlag den ersten Blick insgesamt ermutigend. Zwar wurde im für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und Vorfeld mehrfach kritisiert, dass der Gesamtumfang deut- des Rates zur Vereinfachung der Bedingungen für die in- scher Rüstungsexporte im Jahr 2007 gestiegen ist. Diese nergemeinschaftliche Verbringung von Verteidigungsgü- Entwicklung beruht vor allem auf einem Zuwachs der tern. Ziel dieser bis 2012 umzusetzenden sogenannten Sammelausfuhrgenehmigungen im Rahmen von wehr- Transferrichtlinie ist es, den Transfer von Verteidigungs- technischen Kooperationen mit EU- und NATO-Partnern gütern innerhalb der EU durch ein einfacheres und ein- – so zum Beispiel der Lieferung von deutschen Kompo- heitliches System zur Lizenzvergabe zu erleichtern und nenten. Auf nationaler Ebene ergibt sich jedoch ein ande- zugleich die Transparenz und Rechenschaftspflicht inner- res Bild. So ist sowohl die Gesamtsumme der Einzelaus- halb der EU zu erhöhen. Dies ist ein weiterer richtiger fuhrgenehmigungen als auch die Zahl der tatsächlich und notwendiger Schritt auf dem Weg zu effizienterer exportierten Kriegswaffen gegenüber den Vorjahren zu- Überwachung und stärkerer Kontrolle des Exports im rückgegangen. Der überwiegende Anteil davon, also Binnenmarkt auf europäischer Ebene. etwa 75 Prozent, entfällt auf EU-, NATO- und NATO- gleichgestellte Länder. Exporte in Drittstaaten umfassten Diese Entwicklung, wie natürlich auch die rechtliche in jenem Jahr vor allem U-Bootlieferungen nach Südko- Verbindlichkeit des Gemeinsamen Standpunktes, sollten uns hoffnungsfroh stimmen, dass die Transparenz künftig rea. Dabei ist der Anteil der Ausfuhren in Entwicklungs- weiter erhöht und das Kontrollregime innerhalb der EU länder wie schon in den letzten Jahren weiter zurückge- durch die Durchführung strikterer Verfahren zur Harmo- gangen auf circa 1,1 Prozent. Insgesamt ist der Anteil von nisierung der Ausfuhrkontrollstrategien der Mitglied- Kriegswaffen an den deutschen Gesamtexporten mit staaten verbessert wird. 0,11 Prozent in diesem Jahr so niedrig wie schon seit 2002 nicht mehr. Gerne wiederhole und erinnere ich an das, was ich be- reits im Dezember an dieser Stelle gesagt habe, weil es Hierzu möchte ich anmerken, dass es relativ müßig ist, nichts an seiner Aktualität eingebüßt hat: Wir alle hoffen, diesen Zahlen allzu großen Aussagewert zuzurechnen, das neue Miteinander der Weltgemeinschaft infolge der weil aus der Summe einzelner Exportgeschäfte nicht die Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise führe zu politische Strategie dahinter ableitbar ist. Letztlich zählt (B) der weltweiten Erkenntnis, dass auch militärische Sicher- ja nicht der Wert eines Geschäfts, sondern das Empfän- (D) heit eine wichtige Voraussetzung staatlicher Stabilität gerland. sein kann, dass aber militärische Sicherheit nicht Frieden und Verständnis über ethnische, kulturelle und religiöse Gleichzeitig würde ich mir wünschen, dass künftig Grenzen hinweg ersetzen kann. In diesem Sinne sollte die präzisere Aussagen dazu getroffen werden, wie viele An- Bundesregierung ihre restriktive und verantwortungs- träge eigentlich abgelehnt worden sind. Die Praxis der volle Rüstungsexportpolitik weiterführen und die Harmo- wehrtechnischen Industrie, in der Regel zunächst einmal nisierung auf europäischer Ebene weiter stützen und vo- informell vorzufühlen, ist äußerst intransparent. Auch ranbringen. würde es mich interessieren, welchen Stellenwert Nach- forschungen über den Endverbleib der Exporte haben. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sieht auch den en- Immer wieder einmal hört man, dass Waffenlieferungen gen Zusammenhang mit den hoffentlich wieder in Gang über Schmuggelwege dann doch ihren Weg in Krisenge- kommenden Bemühungen um Abrüstung sowohl im kon- biete finden. Das darf nicht passieren. Es zeigt aber auch, ventionellen wie vor allem im Bereich der Massenver- dass eine nationale Rüstungsexportkontrolle allein nicht nichtungswaffen. Nur über solche Initiative wird ein brei- ausreicht. Anstrengungen zur Intensivierung der interna- tes Bewusstsein in der Völkergemeinschaft zu erzielen tionalen Zusammenarbeit auf diesem Gebiet sind das A sein, dass Entwicklung und Frieden mit immer weniger und O. Waffen das Ziel der internationalen Politik sein muss. Neue Instabilitäten können durch unkontrollierte Waffen- Es ist daher zu begrüßen, dass die EU-Außenminister lieferungen vor allem in Krisengebiete und Entwick- bei ihrem Treffen vor drei Monaten beschlossen haben, lungsländer, wie bei einigen Lieferländern zu beobach- den EU-Verhaltenskodex für Rüstungsexporte zu einem ten, erst entstehen oder verschärft werden. Deshalb ist rechtlich verbindlichen Gemeinsamen Standpunkt zu auf- international der Versuch zu machen, die Transparenz zuwerten. Das ist bemerkenswert – schließlich hat sich von Rüstungsexportpolitik jenseits der EU, die einen er- Frankreich lange dagegen ausgesprochen. Der überar- heblichen Fortschritt gemacht hat, ebenfalls zu erhöhen beitete Kodex nennt acht Kriterien wie die Menschen- und damit einen Beitrag zu weniger Rüstungsexport zu rechtslage oder die regionale Stabilität, die bei Rüstungs- leisten. exportentscheidungen zu berücksichtigen sind. Außerdem sind damit Berichtspflichten, ein intensivierter Informa- Rolf Hempelmann (SPD): tionsaustausch und Konsultationsmechanismen verbun- Zunächst einmal möchte ich hervorheben, dass wir den. Die Rüstungsexportkontrolle verbleibt zwar weiter heute unser in der letzten Debatte zu den Rüstungsexport- in nationaler Verantwortung. Gleichzeitig trägt der berichten 2004 bis 2006 gegebenes Versprechen wahrma- Kodex aber zu einer europäischen Harmonisierung der

Zu Protokoll gegebene Reden 23316 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Rolf Hempelmann (A) Rüstungsexportkontrolle bei. Die Aufwertung des Kode- der Bundesregierung sowohl formal als auch inhaltlich (C) xes werte ich auch als wichtigen Impuls für die Initiative mangelt: Transparenz und Verbindlichkeit. Bis heute gibt zur Schaffung eines rechtlich verbindlichen internationa- es keinen festen Zeitpunkt, zu dem die Bundesregierung len Waffenhandelsabkommens. sich verpflichtet, den Rüstungsexportbericht vorzulegen. So dauert es nach Abschluss des Berichtsjahres nicht selten Neben dem Rüstungsexportbericht beraten wir heute über zwölf Monate bis zur Veröffentlichung der Rüstungs- einen Antrag der Grünen, der vor allem darauf abzielt, exportzahlen durch die Bundesregierung, und das, obwohl die parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten der deut- die Bundesregierung bereits immer bis Juni nach Abschluss schen Rüstungsexportpolitik zu verbessern. Die Kollegin- des Berichtsjahres die entsprechenden Zahlen an die Euro- nen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen bemängeln päische Union melden muss. Es darf deshalb erstaunen, darin insbesondere, dass die Regierung ohne Mitwirkung dass es scheinbar mehr als ein halbes Jahr benötigt, um des Parlaments Entscheidungen über Rüstungsexporte diese Zahlen in eine für das Parlament und die Öffentlich- treffen kann. Es ist jedoch nicht ohne Grund so, dass der keit präsentable Form zu bringen. Dies ist ein Mangel an Schwerpunkt der Verantwortung bei der Bundesregie- Aktualität, der seit längerem nicht nur von der FDP, sondern rung und die Kontrollverantwortung beim Parlament auch von Parlament und NGOs kritisiert wird. Und am liegt. Rüstungsexportentscheidungen werden im Einzel- Rande sei bemerkt, die Gemeinsame Konferenz für Kirche fall getroffen und geprüft. Dabei spielen betriebswirt- und Entwicklung, die jedes Jahr ihren eigenen unabhängi- schaftliche Kennzahlen einzelner Unternehmen eine gen Rüstungsexportbericht auf Basis der an die EU gemel- Rolle, die so nicht veröffentlicht werden können. Eine of- deten Zahlen herausgibt, schafft es übrigens in der Hälfte fene Diskussion im Bundestag wäre unter diesen Bedin- der Zeit. gungen gar nicht möglich. Hinzu kommt, dass Parlamen- tarier realistisch gesehen nicht jede Einzelentscheidung Es wird Aufgabe der nächsten Bundesregierung sein, prüfen können. Unsere Aufgabe liegt vielmehr darin, dies besser zu machen und einen Rüstungsexportbericht Transparenz einzufordern und ein Auge auf die Entwick- vorzulegen, der es nicht an der nötigen Aktualität vermissen lung auf dem sensiblen Markt der Rüstungsgüter und der lässt und auch zeitnah im Parlament debattiert werden diesbezüglichen Exporte zu haben. Die Bundesregierung kann. ist seit dem Jahr 2000 dazu verpflichtet, dem Bundestag Wenn die Bundesregierung in ihrer Pressemitteilung jährlich einen Bericht über die Rüstungsexporte des je- vom 17. Dezember 2008 darauf verweist, dass man im weils letzten Jahres zuzustellen. Dieser Bericht wird auch Jahr 2007 die geringste Zahl an Kriegswaffen seit 2002 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Es ist – das will exportiert habe, dann ist dies lediglich ein schwacher ich wiederholen – Auffassung der SPD-Bundestagsfrak- Versuch der Augenwischerei. Deutschland zählte auch im tion, dass diese Berichte dann auch tatsächlich zeitnah Jahr 2007 zu den führenden Exporteuren von konventio- (B) (D) auf die Plenartagesordnung gesetzt und debattiert wer- nellen Rüstungsgütern weltweit, insbesondere im schwie- den müssen. Wir haben heute einen guten Neuanfang ge- rigen Bereich der Kleinwaffenexporte ist unter der Großen macht. Koalition ein erheblicher Anstieg zu verzeichnen. Gerade Außerdem möchte ich daran erinnern, dass es einen aus diesem Grunde haben wir eine besondere Verantwor- Unterausschuss Abrüstung, Rüstungskontrolle, Nichtver- tung zu Transparenz und Nachvollziehbarkeit unserer breitung gibt. Dieses Gremium widmet sich intensiv Ausfuhrentscheidungen. Und es ist deshalb besonders är- Themen wie Streumunition, Kleinwaffen oder privaten gerlich, wenn sich beim näheren Hinsehen zeigt, dass es Sicherheitsanbietern, die ebenfalls von anderen Aus- dem Rüstungsexportbericht auch inhaltlich in einzelnen schüssen begleitet werden. Es ist unsere Pflicht, die Ent- Bereichen an Klarheit und Vollständigkeit mangelt. wicklungen auf diesen Gebieten langfristig und voraus- Besonders auffällig ist in diesem Zusammenhang der schauend zu begleiten. Es ist nicht sinnvoll, kurzsichtig Bereich der Sammelausfuhren für Rüstungsgüter. Die anhand von aktuell anstehenden Exportentscheidungen Zahlen der vergangenen Jahre belegen den Trend eines aktiv zu werden. Deshalb kann ich und auch meine Frak- steigenden Gesamtvolumens an Sammelausfuhren, der sich tion – obwohl wir uns in vielem ja auch einig sind – den im aktuellen Rüstungsexportbericht dadurch bestätigt, dass vorliegenden Antrag nicht mittragen. im Jahr 2007 die Summe der Sammelausfuhren erstmals das Gesamtvolumen an Einzelgenehmigungen für Rüs- Gudrun Kopp (FDP): tungsgüter überschritten hat. Diese konstant zunehmende Es ist schon bemerkenswert; da musste das Parlament Zahl an Sammelausfuhrgenehmigungen ist das Ergebnis über drei Jahre warten, um ein einziges Mal einen Rüs- einer wachsenden Bedeutung der innereuropäischen Rüs- tungsexportbericht der Bundesregierung im Plenum dis- tungskooperation. Das ist aus Sicht der FDP-Bundestags- kutieren zu können; und nun haben wir die zweite Debatte fraktion in jeder Hinsicht begrüßenswert. Problematisch zur Rüstungsexportpraxis der Bundesregierung in nicht ist aber, dass die Bundesregierung die Ausfuhren in eu- ganz drei Monaten, wenn auch zu nachtschlafener Zeit ropäische Partnerstaaten lediglich in einer pauschalen und zu einem Bericht, dessen Zahlen bereits in die ver- Gesamtsumme in ihrem Rüstungsexportbericht ausweist gangene Diskussion eingeflossen sind, da dieser noch und damit von Parlament und Öffentlichkeit nicht nach- schnell zwei Tage vor der letzten Plenardebatte veröffent- vollzogen werden kann, an welche Staaten der EU Aus- licht wurde. fuhren stattgefunden haben und wohin Rüstungsgüter mit deutschen Komponenten über den Endhersteller expor- Gerade aus diesem Grunde steht die heutige Debatte tiert wurden. Dies ist aber notwendig. Denn trotz des symbolisch dafür, woran es den Rüstungsexportberichten rechtsverbindlich gewordenen EU-Verhaltenskodexes für

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23317

Gudrun Kopp (A) Waffenausfuhren wird die Abwägung über eine endgül- ders, verantwortungsvolle und restriktive Rüstungsex- (C) tige Ausfuhrentscheidung auch weiterhin auf nationaler portpolitik auch. Ebene in den einzelnen EU-Staaten getroffen werden. Aus Solange Fragen des Friedens weniger Schutzbedürfnis diesem Grunde ist es wichtig, sichtbar zu machen, welche genießen als die geschäftlichen Interessen einzelner Un- EU-Staaten Empfänger deutscher Ausfuhren und mögli- ternehmen, sind Verhaltenskodizes für Rüstungsexporte che Exporteure von Rüstungsgütern mit deutschen Kom- nicht das Papier wert, auf dem sie geschrieben sind. ponenten sind. Dies kann aber nur eine differenziertere Gerne jammert die Bundesregierung mit, wenn mal wie- Angabe der genehmigten Sammelausfuhren leisten. der deutlich wurde, wie lange deutsche Kleinwaffen, wie Darüber hinaus fehlen im Rüstungsexportbericht wich- zum Beispiel das vor mehr als drei Jahrzehnten entwi- tige Kategorien, um das Bild deutscher Ausfuhrpolitik zu ckelte G-3-Sturmgewehr von Heckler&Koch im Sudan, komplettieren. Die Anzahl und die Zielländer der geneh- weltweit auf den Kriegsschauplätzen eingesetzt werden. migten Exporte für Elektroschockgeräte und Fußfesseln Genauso gerne wird geleugnet, dass die jetzigen Exporte sind auch weiterhin nicht Bestandteil des Kanons, den der von Kleinwaffen oder gepanzerten Fahrzeugen eine ähn- Rüstungsexportbericht umfasst, obwohl seit Jahren durch liche Lebenszeit haben. Wer weiß schon, wie die heute an Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty Internatio- sogenannte strategische Partner gelieferten U-Boote in nal gewarnt wird, dass diese Geräte in einigen Staaten 20 Jahren eingesetzt werden? Die Bundesregierung auf gezielt zur Folter eingesetzt werden. Um hier Missbrauch jeden Fall nicht. Das System der Endverbleibskontrolle entgegenzuwirken, der insbesondere dadurch möglich spottet jeder Beschreibung. Kontrolle bedeutet hier, dem wird, dass einzelne Empfängerländer diese Güter an Empfänger tief in die Augen zu schauen und zu vertrauen, Drittstaaten weiterexportieren, ist es erforderlich, den dass er es schon nicht böse meint. Handelsfluss transparent und den Endverbleib nachvoll- Obwohl die Praxis also zeigt, wie lückenhaft die Erfas- ziehbar zu machen. sung der Rüstungsexporte ist, arbeitet die Bundesregie- Ein belastbarer Rüstungsexportbericht muss darüber rung daran, das Exportkontrollsystem für konventionelle hinaus den aktuellen Entwicklungen und Proliferations- Rüstungsgüter weiter auszuhöhlen. Vom ehemaligen EU- gefahren Rechnung tragen. Längst befindet sich die Kommissar für Industrie, dem FDP-Politiker Martin Grenze zwischen ziviler und militärischer Nutzbarkeit Bangemann, maßgeblich mitinitiiert, sollen innerhalb ganzer Gütergruppen in der Auflösung. Deshalb sollte der Europäischen Union nun die letzten Hürden für den die Bundesregierung dem Beispiel des Stockholmer Frie- Rüstungsexport fallen, die letzten Möglichkeiten der Er- densforschungsinstituts SIPRI folgen und den Export von fassung von Rüstungsexporten beseitigt werden. Die EU- sicherheitsrelevanten Dual-Use-Gütern an militärische Richtlinie zur Schaffung eines Binnenmarktes für Vertei- digungsgüter, die im Januar 2009 beschlossen wurde, (B) Empfänger in die Berichtsstatistik aufnehmen. Dies schafft (D) ein notwendiges Mehr an Transparenz und Nachverfolg- sieht vor, dass Waffenkomponenten keine Genehmigung barkeit, ohne dabei weitere bürokratische Lasten für die mehr brauchen und der Endverbleib auch nicht mehr deutsche Wirtschaft zu verursachen. kontrolliert werden muss. Nach Möglichkeit sollen die Rüstungsunternehmen in Zukunft selber die von ihnen ex- Das Ziel des ebenfalls heute zur Diskussion stehenden portierte Menge an Rüstungsgütern melden und sich auch Antrags von Bündnis 90/Die Grünen ist eine signifikante um die Einhaltung des Endverbleibs kümmern. Schöne Beschränkung des internationalen Handels mit Rüstungs- Neue Welt! und Dual-Use-Gütern. Parallel zu der Beschränkung des Handels soll zusätzliche Bürokratie aufgebaut und Kredit- Die Europäisierung der Rüstungsexportkontrolle führt bürgschaften sollen in einschlägigen Wirtschaftsbereichen nur dazu, dass die Unzulänglichkeiten der nationalen beendet werden. Die Forderung, die erprobte, sachnahe Kontrolle auf die europäische Ebene gehoben werden und und wirtschaftsfreundliche Zuständigkeit der Ausfuhr- sich dort potenzieren. Letzten Endes ist dies weder im In- genehmigung im bislang konsultativ eingebundenen Aus- teresse der Allgemeinheit noch in dem der Streitkräfte, die wärtigen Amt zu bündeln, widerspricht einer konsistenten vielleicht in absehbarer Zeit mit der eigenen Technik kon- Außenwirtschaftsförderung. frontiert werden. Lediglich die Rüstungsindustrie profi- tiert davon – denn dann gilt es natürlich Gegenmaßnah- Wir Liberalen lehnen diesen Antrag daher ab. men gegen die eigene Rüstungstechnologie zu entwickeln. Die Bundesregierung setzt leider den falschen Weg von Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): Rot-Grün fort. Seit 1999 wurden Rüstungsexporte im 2007 war erneut ein gutes Jahr für die Rüstungsindus- Wert von mehr als 56 Milliarden Euro genehmigt. Deut- trie. Die Bundesregierung genehmigte Rüstungslieferun- sche Rüstungstechnologie und auch Waffen aus Bundes- gen im Wert von mehr als acht Milliarden Euro in aller wehrbeständen wurde an Staaten geliefert, die Men- Herren Länder, von A wie Afghanistan bis Z wie Zypern. schenrechte systematisch verletzten und an Kriegen und Genehmigt wurden Exporte von Artilleriemunition bis bewaffneten Konflikten beteiligt sind, abgesichert wur- Zielortungsgeräte. Darüber hinaus wurde ein immer grö- den die Rüstungsgeschäfte zum Teil sogar mit staatlichen ßerer Teil als sogenannte Sammelausfuhrgenehmigungen Bürgschaften. für Rüstungsexporte in unbekannte Staaten erteilt – im- merhin im Wert von fünf Milliarden Euro. Qualität, Quan- Die Genehmigungspolitik der Bundesregierung orien- tität und in mehr als 60 Prozent der Genehmigungsfälle tiert sich vor allem an Produktionskapazitäten und Aus- sogar der Empfänger der deutschen Rüstungstechnologie lastungen der deutschen Rüstungsunternehmen, den blieben unbekannt. Transparenz buchstabiert sich an- bündnispolitischen und wirtschaftlichen Interessen. Häu-

Zu Protokoll gegebene Reden 23318 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Paul Schäfer (Köln) (A) fig dient der Export deutscher Rüstungstechnologie und exportpolitik der Bundesregierung nicht öffentlich the- (C) die Kooperation bei der Entwicklung von Rüstungspro- matisiert wird. Die Rüstungsexportberichte und unser jekten sogar dem Aufbau von Rüstungsproduktionskapa- Antrag wurden im Eilverfahren und ohne Aussprache zitäten in Drittstaaten. Diese Praxis kann und muss be- durch die Ausschüsse gepeitscht. Und auch heute müssen endet werden. wir wieder erleben, dass für eine mündliche Aussprache im Parlament keine Zeit ist. Die derzeitige weltweite Aufrüstung trägt zur interna- tionalen Destabilisierung bei und gefährdet den Frieden Die Grünen mahnen seit Jahren an, dass sich dieser in vielen Regionen der Welt. Die Proliferation deutscher Bundestag intensiver mit der Frage der Rüstungsexport- bzw. westlicher Rüstungstechnologie macht die Welt nicht politik beschäftigen muss. Leider scheuen die meisten sicherer, sondern trägt dazu bei, Kriege und Konflikte für Fraktionen und Abgeordneten das Thema. Insbesondere einige Staaten erst führbar zu machen. Zudem ist abzuse- die Regierungsfraktionen stellen sich taub und blind. hen, dass die fortschreitende Europäisierung des Rüs- Man beklagt im besten Fall, dass man vonseiten der Bun- tungsmarktes und die Globalisierung der Rüstungsindus- desregierung zu spät unterrichtet wird, und versteckt sich trie die parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten immer ansonsten hinter der Behauptung, dass die Bundesrepu- weiter einschränken werden. Die Bundesregierung muss blik eine besonders restriktive Rüstungsexportpolitik be- hier endlich ein klares Gegenzeichen setzen und die Wei- treibe und von daher alles in Ordnung sei. In der Union, chen für eine wirklich restriktive Rüstungsexportpolitik bei SPD und bei der FDP wird sogar offen gefordert, dass stellen. Deutschland sich die Rüstungsexportgeschäfte nicht ent- Die Linke hat bereits im Dezember letzten Jahres dazu gehen lassen dürfe, dass man eine starke eigene Rüs- einige erste Vorschläge in den Bundestag eingebracht, tungsindustriekapazität erhalten müsse. Und weil der na- die leider nicht die Zustimmung der anderen Fraktionen tionale Markt das nicht hergibt und unsere Partner in der gefunden haben: Stopp von Exportbürgschaften und NATO und EU ihre Rüstungsmärkte abschotten, wächst Stopp der Abgabe von Bundeswehrmaterial. Überschüs- der Druck, außerhalb von NATO und EU Absatzmärkte zu siges Gerät ist zu vernichten. Die deutsche Mitwirkung an finden. der Auslagerung von rüstungspolitischen Zuständigkei- ten (wie zum Beispiel in der Europäischen Rüstungsagen- Wir haben uns oft beklagt, dass die deutschen Rüs- tur) und der Schaffung eines Rüstungsbinnenmarktes tungsexportberichte so spät kommen und andere Regie- muss beendet werden. Die Liste ließe sich noch eine Weile rungen ihre Parlamente frühzeitiger und umfassender fortführen. Es besteht auf jeden Fall erheblicher Verbes- informieren. Eine vernünftige parlamentarische Behand- serungsbedarf. lung ist damit unmöglich. Selbst die EU wird von der Bun- desregierung früher und umfassender informiert als der (B) Aber eigentlich geht es hier und jetzt leider erst einmal Bundestag. Gegenüber dem Bundestag wird behauptet, (D) darum, überhaupt eine Teilhabe der Öffentlichkeit an der die Ressorts müssten den knapp 30-seitigen Text mit den Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung durchzuset- Tabellen und Schaubildern oft mühsam Wort für Wort ab- zen. Regierung, Streitkräfte und Industrie mauscheln im stimmen. Wenn die Bundesregierung mehr Zeit braucht, Dunkeln. Informationen werden – wenn überhaupt – nur um dem Bundestag weniger Informationen zu geben als mit erheblicher Verspätung veröffentlicht: Heute disku- anderen, dann werden wir in Zukunft verstärkt dafür sor- tieren wir über einen Zeitraum, der bereits 16 Monate zu- gen, dass der Bundestag wieder zeitnäher unterrichtet rückliegt! Wir erfahren nicht einmal, welche Waffen und wird. Rüstungskomponenten tatsächlich ausgeliefert wurden, weil die Bundesregierung nicht bereit ist, die statistische Wenn wir uns die vorliegenden Zahlen für die vergan- Erfassungssystematik zu ändern. Kontrolle wird hier ad genen Jahren anschauen und auch in Betracht ziehen, absurdum geführt. was internationale Erhebungen wie die des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI ergeben, dann wird Deutlichstes Zeichen für den Unwillen und das Des- zum wiederholten Mal deutlich, dass von Restriktivität interesse der Regierung und der Regierungsparteien, ihre keine Rede sein kann. Obwohl Staaten wie Frankreich, Rüstungsexportpolitik auf den Prüfstand zu stellen, ist Großbritannien und Russland immer wieder behaupten, der Umgang mit den jährlichen Rüstungsexportberich- sie würden ihre Rüstungsexporte nun weiter und offensiv ten: Nachdem die Berichte für die Jahre 2004 bis 2006 in ausbauen, landet in der Praxis dann doch die Bundesre- einem Schwung erst Ende 2008 diskutiert wurden, wird gierung mit ihrer vermeintlich restriktiven Exportpolitik der „aktuelle“ Bericht für 2007 nun nur pro forma im regelmäßig unter den führenden Rüstungsexporteuren Bundestag behandelt – die Regierungsparteien haben weltweit. Und selbst wenn Franzosen oder Briten wieder sich mit ihrem Wunsch durchgesetzt, die Redebeiträge einen spektakulären Export verbuchen können, wie zum nur zu Protokoll zu geben. Der nächste Bundestag muss – Beispiel bei der skandalumwitterten Lieferung des Euro- wenn er sich ernst nimmt – mit dieser Praxis brechen. fighters an Saudi-Arabien, verdient die deutsche Rüs- tungsindustrie an diesem Geschäft. Die Rüstungsunter- Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nehmen haben inzwischen ein ausgeklügeltes und Nachdem wir auf Antrag der Grünen im Dezember arbeitsteiliges System entwickelt, wie man über Firmen- erstmals in dieser Legislaturperiode eine parlamentari- sitz, Tochterfirmen, Kooperationsprojekte und Zuliefe- sche Aussprache über die Rüstungsexportpolitik der rungen die Schwächen der jeweiligen nationalen Export- Bundesregierung hatten, mussten wir erleben, dass die politik nutzen kann, um am schnellsten und effektivsten Koalitionsfraktionen alles dafür taten, dass die Rüstungs- zum Ziel zu kommen.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23319

Winfried Nachtwei (A) Alljährlich werden auf direktem Wege Rüstungsgüter wiederum exportieren muss, um ökonomisch überleben (C) im Wert von mehren hundert Millionen Euro in Entwick- zu können. Um den Zuschlag zu bekommen, werden nicht lungsländer und in Krisenregionen, 2007 zum Beispiel an selten dubiose Sonderzuwendungen fällig. Importeure Pakistan und Indien, exportiert. Auch Staaten wie Ägyp- wie Pakistan und Indien fordern Technologietransfer und ten, Indonesien, Jordanien, Südkorea oder die Vereinig- Kompensationsgeschäfte in Milliardenhöhe. Die riskan- ten Arabischen Emirate werden fleißig bedient. Wie hoch ten Geschäfte werden dann auch noch mit milliardenteu- die Exporte tatsächlich sind, was zu welchen Konditionen ren Hermes-Bürgschaften abgesichert. geliefert wurde, wissen wir nicht. Denn die Exportstatis- tik erfasst lediglich die tatsächliche Ausfuhr von Kriegs- Wir meinen: Damit muss Schluss sein. Dies wider- waffen und nicht die tatsächliche Ausfuhr der übrigen spricht eindeutig den Politischen Grundsätzen für den Rüstungsexport. Rüstungsexporte sind kein Geschäft wie Rüstungsgüter oder Güter mit doppeltem Verwendungs- jedes andere. Wir fordern eine stärkere Parlamentsbetei- zweck. Die Genehmigungszahlen, etwa im Kleinwaffen- ligung. Und wir halten es für die Pflicht des Deutschen bereich, sind erschreckend. Im Jahr 2007 hat die Bundes- Bundestages, bei solchen Exporten genauer hinzu- regierung den Export von Kleinwaffen im Wert von schauen und die Stimme zu erheben. Es geht nicht an, 30 Millionen Euro in Staaten außerhalb der EU und dass der Bundestag über den Einsatz bewaffneter Streit- NATO genehmigt. Amnesty International und andere be- kräfte entscheidet, aber bei der Lieferung von Waffen klagen zu Recht, dass diese deutschen Kleinwaffen in wegschaut und sagt, das ist Aufgabe der Exekutive. Wir Staaten wie Ägypten, Indien, Mexiko, Saudi-Arabien oder Grünen haben im Dezember einen Antrag vorgelegt, in den Vereinigten Arabischen Emiraten nichts verloren ha- dem wir für mehr Transparenz und parlamentarische ben. Kontrolle und einen Systemwechsel in der Rüstungs- Ich halte nichts davon, jegliche Rüstungsexporte zu exportpolitik geworben haben. Uns geht es um Export- verfluchen, und auch eine verstärkte Rüstungskoopera- kontrolle und nicht Exportförderung. tion in Europa bedeutet in meinen Augen nicht zwangs- Wir appellieren insbesondere an die Regierungsfrak- läufig eine Militarisierung der EU. Im Gegenteil, wir tionen: Nehmen Sie Ihre Kontrollaufgabe wahr! Unter- Grünen sind sogar der Auffassung, dass wir Überkapazi- stützen Sie uns dabei, dass der Bundestag in die Lage ver- täten im Rüstungsbereich nur dann mit Aussicht auf Er- setzt wird, im Vorfeld von strategisch wichtigen oder folg abbauen können, wenn wir im Bündnisrahmen und kritischen Entscheidungen Einfluss zu nehmen. Es kann im Rahmen der EU enger zusammenarbeiten und auf na- nicht sein, dass dem Bundestag mit dem Hinweis auf Be- tionale Alleingänge verzichten. Das heißt aber grund- triebs- und Geschäftsgeheimnisse Informationen vorent- sätzlich Ja zur europäischen Rüstungskooperation. Das halten werden, die Rüstungsindustrie aber weiß, wann heißt Ja zu einer Europäischen Verteidigungsagentur, so- (B) der Bundessicherheitsrat tagt, was auf der Tagesordnung (D) fern sie endlich in die Lage versetzt werden würde, sich steht und was entschieden wurde. Anschließend rühmt dieses Themas auch ernsthaft annehmen zu dürfen. Und sich das Unternehmen öffentlich für diese Aufträge. Der das heißt Ja zu einer restriktiven und verbindlichen ge- Bundestag erfährt dann im besten Fall anderthalb Jahre meinsamen Rüstungsexportpolitik der EU. Im internatio- später offiziell von diesen Exporten, aber nur, wenn er in nalen Maßstab heißt dies auch Ja zu einem weitreichen- der Lage ist, die kryptischen und lückenhaften Berichte den internationalen Waffenhandelsabkommen, wofür der Bundesregierung zu entschlüsseln. So kann und darf sich nicht zuletzt dankenswerterweise zahlreiche Nobel- es nicht weitergehen. preisträger und NGOs wie Amnesty International, OXFAM und IANSA nachdrücklich einsetzen. Viele Ex- Bedanken möchte ich mich zum Schluss bei der Ge- porte sind in der Regel und im Grundsatz auch nicht zu meinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung – GKKE –, beanstanden. Aber es gibt hier eine Reihe von Geschäf- bei Amnesty International, OXFAM und den anderen ten, bei denen wir Grüne, Menschenrechtsgruppen und Nichtregierungsorganisationen, die mit ihrer kritischen viele andere – frei nach den Worten des Bundespräsiden- Beobachtung, ihren Berichten und ihren Forderungen ten – sagen: Das tut man nicht. dazu beitragen, dass das Thema Rüstungsexportpolitik auf der politischen Tagesordnung bleibt. In Zeiten einer Eigentlich haben wir mit den Rüstungsexportrichtli- Großen Koalition ist dies wichtiger denn je. nien und dem Gemeinsamen Standpunkt zu Waffenaus- fuhren gute Grundlagen, anhand derer wir entscheiden Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: könnten. Diese Bundesregierung interpretiert diese Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Grundsätze aber nicht mehr restriktiv, sondern extensiv. Drucksache 16/11583 an die in der Tagesordnung aufge- Nachdem Rot-Grün damit Schluss gemacht hat, Länder führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- wie Indonesien den NATO-Staaten gleichzustellen, setzt verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist es auch so be- diese Regierungskoalition immer ungehemmter auf Ex- schlossen. porte in Krisenregionen. Die Kanzlerin, der Wirtschafts- minister, der Verteidigungsminister und der Außenminis- Tagesordnungspunkt 29 b. Wir kommen zur Abstim- ter reisen nach Pakistan und Indien und bieten den beiden mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses Kontrahenten mit U-Booten, Jagdflugzeugen und Hub- für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Frak- schraubern das Modernste an, was deutsche Rüstungs- tion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Für eine schmieden zu bieten haben. Die Käufer spielen die Ex- restriktive Rüstungsexportpolitik – Parlamentarische portnationen hemmungslos gegeneinander aus. Sie Kontrollmöglichkeiten verbessern“. Der Ausschuss wollen ihre eigene Rüstungsindustrie aufbauen, die dann empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- 23320 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) sache 16/11975, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/ schriften der Zahlungsdiensterichtlinie (Zah- (C) Die Grünen auf Drucksache 16/11388 abzulehnen. Wer lungsdiensteumsetzungsgesetz) stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt – Drucksachen 16/11613, 16/11640 – dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP ge- Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- gen die Stimmen der Grünen und der Linken angenom- schusses (7. Ausschuss) men. – Drucksachen 16/12430, 16/12487 – Zusatzpunkt 7: Berichterstattung: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Abgeordnete Albert Rupprecht (Weiden) richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- Martin Gerster schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu Frank Schäffler dem Antrag der Abgeordneten Undine Kurth Dr. Barbara Höll (Quedlinburg), Cornelia Behm, Ulrike Höfken, Dr. Gerhard Schick weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll NIS 90/DIE GRÜNEN gegeben: Rupprecht (Weiden), Gerster, Schäffler, Stärkung des europäischen Haischutzes Dr. Troost, Dr. Schick.2) – Drucksachen 16/12290, 16/12458 – Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf den Druck- Berichterstattung: sachen 16/12430 und 16/12487, den Gesetzentwurf der Abgeordnete Dr. Peter Jahr Bundesregierung auf den Drucksachen 16/11613 und Holger Ortel 16/11640 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich Dr. Christel Happach-Kasan bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss- Dr. Kirsten Tackmann fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer Markus Kurth stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von Protokoll zu geben. Das erfolgt von den Kollegen Jahr, CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Lin- Ortel, Dr. Happach-Kasan, Dr. Enkelmann und Dr. Kurth ken und der Grünen angenommen. (Quedlinburg).1) Dritte Beratung Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Er- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem (B) (D) nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz emp- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – fiehlt auf Drucksache 16/12458, den Antrag der Fraktion Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12290 abzu- wurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – angenommen. Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be- schlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Ko- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am alitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositions- Schluss unserer heutigen Tagesordnung. fraktionen angenommen. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Zusatzpunkt 8: destages auf morgen, Freitag, den 27. März 2009, 9 Uhr, ein. Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Die Sitzung ist geschlossen. regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der aufsichtsrechtlichen Vor- (Schluss: 21.39 Uhr)

1) Anlage 10 2) Anlage 11 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23321

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Regelmäßigkeit im Frühjahr ein bekanntes Kinderlied. Mit derselben Regelmäßigkeit müssen wir uns hier lei- Liste der entschuldigten Abgeordneten der mit den fixen Ideen der Linken befassen. Mit dem vorliegenden Antrag fordern die Linken nun eine kosten- entschuldigt bis lose Telefonhotline bei der Bundesagentur für Arbeit. Abgeordnete(r) einschließlich Aus einer ganzen Reihe von Gründen muss der Antrag hier abgelehnt werden. Lassen Sie mich Ihnen ein paar davon nennen. Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/ 26.03.2009 DIE GRÜNEN Erstens. Zunächst muss festgestellt werden, dass es sich hier um eine Phantomdebatte handelt. Was die Lin- Beck (Köln), Volker BÜNDNIS 90/ 26.03.2009 ken als schreiende Ungerechtigkeit brandmarken, ist ei- DIE GRÜNEN gentlich der Rede nicht wert. Laut Auskunft der Telekom Binding (Heidelberg), SPD 26.03.2009 dauert das durchschnittliche Telefonat zwei bis drei Mi- Lothar nuten. Bei Gebühren in Höhe von 3,9 Cent pro Minute macht das 11,7 Cent für ein dreiminütiges Gespräch. Bei Bülow, Marco SPD 26.03.2009 der durchschnittlichen Zahl von acht Anrufen pro Jahr Dreibus, Werner DIE LINKE 26.03.2009 geht es hier um einen Betrag von 93,6 Cent – im Jahr! Gabriel, Sigmar SPD 26.03.2009 Zweitens. Abgesehen davon besteht die Möglichkeit des Rückrufs durch die Arbeitsagentur. Außerdem kann Gleicke, Iris SPD 26.03.2009 immer noch jeder, dem das zu teuer ist, persönlich zur Arbeitsagentur gehen, um seine Fragen im direkten Ge- Granold, Ute CDU/CSU 26.03.2009 spräch mit der Sachbearbeiterin oder dem Sachbearbei- Hermann, Winfried BÜNDNIS 90/ 26.03.2009 ter zu klären. Gerade wenn es um individuelle Beratung DIE GRÜNEN geht, um Arbeitsangebote, konkrete Maßnahmen oder diffizile Probleme, empfiehlt sich ohnehin der direkte Hirsch, Cornelia DIE LINKE 26.03.2009 Kontakt zum persönlichen Berater. Dr. Högl, Eva SPD 26.03.2009 Drittens. Das Argument schließlich, dass es bei der (B) (D) Hoppe, Thilo BÜNDNIS 90/ 26.03.2009 Rentenversicherung bereits eine kostenlose Hotline DIE GRÜNEN gebe, wie es hier von den Linken ins Feld geführt wird, greift nicht. Zwar gibt es, wie von den Linken behauptet, Korte, Jan DIE LINKE 26.03.2009 bei der Rentenversicherung tatsächlich eine kostenlose Hotline. Über diese jedoch lassen sich nur allgemeine Dr. Küster, Uwe SPD 26.03.2009 Fragen klären. Eine spezifische Beratung oder Bespre- Kunert, Katrin DIE LINKE 26.03.2009 chung konkreter Probleme einzelner Antragsteller er- folgt bei der Rentenversicherung über die Telefonhotline Lötzer, Ulla DIE LINKE 26.03.2009 nicht. Schily, Otto SPD 26.03.2009 Viertens. Schon in seinem Grundgedanken ist der An- Sebastian, Wilhelm CDU/CSU 26.03.2009 trag fehlerhaft. Denn selbst wenn man wie die Linken zu Josef dem Ergebnis käme, dass es bei den Kommunikations- kosten einer stärkeren Unterstützung der Betroffenen be- Wieczorek-Zeul, SPD 26.03.2009 dürfte, so könnte nicht die Lösung sein, gleich die kom- Heidemarie plette Telekommunikation kostenlos zur Verfügung zu stellen. Vielmehr müsste den betroffenen Menschen ziel- Zimmermann, Sabine DIE LINKE 26.03.2009 genau geholfen werden. Denn warum sollte auch der Ar- beitgeber, der einen Arbeitsplatz zu besetzen hat, oder der Schüler oder Student, der sich informieren will, oder Anlage 2 auch jeder andere Bundesbürger, der die Agentur anruft, Zu Protokoll gegebene Reden kostenlos telefonieren können? zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Fünftens. Ferner muss berücksichtigt werden, dass es Berichts zu dem Antrag: Kostenpflichtige Ser- sich um Mittel der Beitragszahler handelt, mit denen die vice-Telefonnummer der Arbeitsagentur in eine kostenlose Hotline bezahlt werden soll. Im Interesse gebührenfreie Rufnummer umwandeln (Tages- niedriger Lohnnebenkosten und angesichts des Ziels der ordnungspunkt 10) Beschäftigungssicherung aber ist ein sparsamer Umgang mit den zur Verfügung stehenden Mitteln unerlässlich. Heinz-Peter Haustein (FDP): „Im Märzen der Völlig klar: Es muss gelten, dass niemand durch hohe Bauer die Rösslein einspannt …“ So beginnt mit schöner Telefonkosten davon abgehalten werden darf, bei der 23322 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

(A) Arbeitsagentur seine Fragen oder Probleme vorzutragen. Ich finde kein Argument, das die Kostenpflicht der (C) Das wäre der Aufgabenerfüllung der Arbeitsagentur Servicenummer rechtfertigt. Darum werden wir Grüne kontraproduktiv und würde ihren Zielen der Unterstüt- uns nicht nur in diesem Sinne äußern, sondern auch in zung und Hilfe der Betroffenen zuwiderlaufen. Doch die diesem Sinne handeln. Wir stimmen dem Antrag der anfallenden Gebühren für die existierende Hotline von Linken zu. 3,9 Cent pro Minute sind vertretbar. Mit einem herzlichen Glückauf aus dem Erzgebirge! Anlage 3 Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zu Protokoll gegebene Rede Zu Beginn möchte ich festhalten, dass drei der hier ver- tretenen Fraktion für eine kostenlose Servicenummer bei zur Beratung des Antrags: Besteuerung von der Bundesagentur für Arbeit sind. Dabei handelt es sich Dienstwagen CO2-effizient ausrichten und Pri- um uns Grüne, um die Linke und um die SPD. Das reicht vilegien abbauen (Tagesordnungspunkt 12) für eine klare parlamentarische Mehrheit. Und trotzdem wird der erstaunte Bürger am Ende dieses Tages feststel- Dr. Volker Wissing (FDP): Ich habe bereits mit gro- len, dass sein Anruf bei der Bundesagentur auch in Zu- ßem Interesse zur Kenntnis genommen, dass die Grünen kunft Geld kosten wird. Kolleginnen und Kollegen der kleinere Dienstwagen für Abgeordnete fordern. Es ist SPD, dass Sie hier auf fehlende Zuständigkeit machen, ist aber schade, dass Sie sich in aller Regel darauf beschrän- mehr als wunderlich. Das interessiert Sie doch sonst ken, Regelungen einzufordern, statt einfach mit gutem auch nicht, wenn Sie zum Beispiel der Bundesagentur Beispiel voranzugehen. Warum gibt es eigentlich keinen auch gegen die Position der Selbstverwaltung Kosten Beschluss der grünen Bundestagsfraktion, auf die aufdrücken, die eigentlich vom Steuerzahler zu tragen Dienstwagen der Fahrbereitschaft zu verzichten und wären. stattdessen ausschließlich den öffentlichen Nahverkehr zu nutzen? Das wäre ein Signal. Denn hier geht es nicht um Peanuts, wie es uns Union und FDP weismachen wollen, sondern hier geht Dazu brauchen Sie keine Mehrheit, dazu brauchen Sie es um richtig viel Geld, das ausgerechnet Arbeitslose keine Gesetzesinitiative, dazu brauchen Sie einfach in und Arbeitsuchende bezahlen müssen, wenn sie sich da- Ihrem Sinne Umweltbewusstsein und natürlich Selbst- rum bemühen, etwas an ihrer Situation zu ändern, oder überwindung. Aber so weit ist es dann mit Ihrem Umwelt- wenn sie schlicht ihren Pflichten nachkommen. Denn bewusstsein doch nicht her. Auf die großen Wagen der (B) nur Festnetzkunden zahlen 3,9 Cent pro Minute, wenn Fahrbereitschaft schimpfen, aber diese munter nutzen. (D) sie die Servicenummer der Bundesagentur anrufen. Mo- Seltener wurde grüne Öko-Scheinheiligkeit auf ein- bilkunden können sogar bis zu 72 Cent pro Gesprächs- drucksvollere Weise vorgeführt. minute loswerden; bei Prepaidkarten liegen die Kosten teilweise noch höher. Auch Flatrate-Kunden sind ver- Es ist mir auch nicht bekannt, dass die grüne Partei- und donnert, für die Sondernummer zu bezahlen. Ihr sparsa- Fraktionsspitze auf besonders kleine und spritsparende mer Ansatz wird also nicht belohnt. Dienstwagen zurückgreift. Und in ihrer aktiven Dienstzeit sind weder die Minister Trittin noch Fischer oder Künast Die Anwahl der Nummer kann also sehr hohe Kosten im A-Klasse-Mercedes oder Einser-BMW vorgefahren. Im verursachen, insbesondere wenn die Anrufer nicht über Gegenteil, der durchschnittliche Verbrauch und die Moto- einen Festnetzanschluss verfügen. Denn genutzt wird die risierung der Dienstwagenflotte des Bundes sind unter Nummer nicht nur von den Arbeitsagenturen, sondern Rot-Grün kräftig angestiegen. auch von den Arbeitsgemeinschaften, sodass auch Arbeits- Wer sich in der Regierungszeit mit größeren Dienstwa- losengeld-II-Bezieher von Gebühren betroffen sind. Gerade gen bedient hat, ist heute nicht unbedingt glaubwürdig, sie haben wenig Geld für teure Nummern, sodass die wenn er kleinere Dienstwagen fordert. Es war eine der Servicenummer immer wieder zu Ärger und Unmut Errungenschaften der rot-grünen Bundesregierung, den führt; das zeigen uns Rückmeldungen aus Berlin und durchschnittlichen Verbrauch der Dienstwagenflotte des Dresden. Bundes von 10,99 l pro 100 km auf 11,84 l pro 100 km zu Im Dezember 2008 wurde der 100 000 000 000. Kun- steigern. Die durchschnittliche Motorenleistung ist sogar denanruf über die Servicenummer getätigt. Und, so mel- von 87,75 kW in 1998, auf 123,33 kW in 2004 gestie- dete die Bundesagentur in diesem Zusammenhang, in gen. Das ist die real existierende Dienstwagenpolitik der über 80 Prozent der Gespräche können die Anliegen der Grünen, und daran werden wir Sie messen und nicht an Anrufer abschließend behandelt werden. Das spricht für dem, was Sie hier in wohlfeilen Anträgen schreiben. die Einrichtung einer zentralen Nummer, und das spricht Und wollen Sie wissen, was die damalige Bundes- für das Angebot der telefonischen Erledigung von Ge- regierung von 3-Liter-Autos hielt? Ich zitiere: Eine Ver- schäftsvorgängen. Das spricht nicht für eine indirekte wendungsbreite dieser Fahrzeuge innerhalb der Aufga- Gebühr durch Telefonkosten. Sowohl Arbeitslose als ben der Bundesverwaltung ist nicht gegeben. auch die Bundesagentur für Arbeit haben durch die tele- fonische Bearbeitung Vorteile und Effizienzgewinne, so- Wenn man diese Geschichte kennt und dann Ihren An- dass beide Seiten profitieren. Das sollte genügen. trag liest, weiß man, dass das reinstes Öko-Pharisäertum Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23323

(A) ist. Bei den Grünen ist Umweltpolitik zu einer reinen menschlüsse von Menschenansammlungen. Ohne Kunst (C) Schaufensterdisziplin verkommen. Es liegt noch so in und Kultur gäbe es keine Identität. der Auslage, ist aber nicht mehr wirklich im Angebot. In Europa kommt Kunst und Kultur eine besondere Genauso funktioniert auch dieser Antrag. Die Grünen Rolle zur Stärkung der Verständigung und Identitätsbil- bekämpfen die vermeintlichen Spritfresser. Wow, denkt dung unter den 27 Mitgliedstaaten zu. Nur wenn es uns man, sich die Grünen machen ernst mit Umweltschutz, gelingt, die kulturellen Gemeinsamkeiten und Traditio- und dann schaut man genauer hin und erkennt die grüne nen zu betonen, wird aus einer wirtschaftlichen und poli- Mogelpackung. tischen Interessengruppe auch eine identitätsgeprägte Was verursacht denn die Kohlendioxid-Emission? Die Gemeinschaft wachsen. Die Enquete-Kommission „Kul- große Karosserie, der große Motor oder der Verbrauch tur in Deutschland“ hat eine ganze Reihe von Hand- von Kraftstoff. Wenn Sie über die Steuer den Kraftstoff- lungsempfehlungen beschlossen, um Kunst und Kultur verbrauch senken wollen, dann erreichen Sie dieses auch auf europäischer Ebene zu stärken. Und ich freue nicht über die Kraftfahrzeug-, sondern die Mineralöl- mich, dass alle Fraktionen diese Handlungsempfehlun- steuer. Und genau an dieser Stelle zeigt sich auch, dass, gen im Großen und Ganzen teilen. wenn es zum Schwur kommt, der Umweltschutz bedeutend Wir alle wissen: Die Kulturpolitik unterliegt auf der besser bei der FDP als bei den Grünen aufgehoben ist. europäischen Ebene dem Subsidiaritätsprinzip. Das be- Wir waren es, die eine aufkommensneutrale Umlage der deutet konkret, dass die Mitgliedstaaten über Fragen der Kfz- auf die Mineralölsteuer gefordert haben. Wir haben Kulturpolitik selbst entscheiden. Dieses Prinzip ist rich- dazu sogar ganz konkrete Anträge gestellt, die können tig und nur konsequent. Eine aus Brüssel harmonisierte Sie nachlesen. Kulturpolitik wäre sonst womöglich geeignet, die kultu- Der FDP geht es um die Umwelt, den Grünen um die relle Vielfalt in Europa ein Stück weit zurückzudrängen. Überführung von Neiddebatten in die Umweltpolitik. Vielmehr lebt die europäische Kulturpolitik gerade von Auch wenn ich jetzt den einen oder anderen von Ihnen der Vielfalt der Kulturen. Aber ich sage Ihnen: Deutsch- überfordere: Der Siebener-BMW, der in der Garage land wird sich auch im Feld der Kulturpolitik in Europa steht, verursacht weniger Emissionen als der Einser- künftig noch besser profilieren und aktiver werden müs- BMW auf der Autobahn. Und genau dort setzt die FDP sen. Die heutige Debatte und unsere Anträge können nur an: Wir wollen das Maximum für die Umwelt erreichen, der Anfang einer vertieften Diskussion sein, die eine ak- den Menschen aber nicht vorschreiben, welches Auto sie tivere Kulturpolitik Deutschlands auf europäischer zu fahren haben. Uns geht es um Lösungen für die Um- Ebene ermöglichen soll. welt und nicht um verbrämte Neiddebatten – genau darin (B) Da die Fraktionen nicht alle Handlungsempfehlungen (D) unterscheiden wir uns von Ihnen. der Enquete-Kommission gleichermaßen teilen, möchte ich heute die Unterschiede herausstellen und darlegen, warum die FDP-Bundestagsfraktion einen eigenen An- trag zur Neuausrichtung der europäischen Kulturpolitik Anlage 4 in den Deutschen Bundestag eingebracht hat. Obwohl wir viele Forderungen des Koalitionsantrags teilen, stim- Zu Protokoll gegebene Rede men wir in folgenden Punkten nicht überein: zur Beratung: Der erste Punkt, den ich ansprechen möchte, betrifft – der Beschlussempfehlung und des Berichts die Frage der offenen Koordinierung. So gut das Instru- zu den Anträgen: ment der offenen Koordinierung auch gemeint ist – die offene Koordinierung führt dazu, dass die Diskussion – Einheit in Vielfalt – Kulturpolitik in und über europäische Kulturpolitik aus den demokratisch le- für Europa aktiv gestalten gitimierten Gremien in Round-Table-Runden der Tech- nokraten verlagert wird. Über die Ausrichtung der Kul- – Vielfalt verbindet – Europäische Kultur turpolitik entscheiden dann die EU-Kommission und stärken und weiterentwickeln Ministerialbeamte der Mitgliedstaaten. Wir befürchten, – der Unterrichtung: Vorschlag für einen Be- dass Politik, zivilgesellschaftliche Gruppen und Ver- schluss des Europäischen Parlaments und bände nicht angemessen an der Diskussion innerhalb der des Rates über das Programm „Kultur 2007“ offenen Koordinierung beteiligt werden könnten oder (2007–2013) dass diesen Gruppen schlicht und ergreifend die Res- sourcen für eine solche Beteiligung fehlten. Die Konse- – des Antrags: Europäische Kulturpolitik neu quenzen der Methode der offenen Koordinierung für die ausrichten Kulturschaffenden sind erst in Ansätzen erkennbar. Da- bei müssen wir darauf achten, dass wir die Kulturschaf- (Tagesordnungspunkt 13 a bis c) fenden auch auf europäischer Ebene noch besser mit ein- binden. Sonst ist der Unfrieden der Kulturschaffenden Christoph Waitz (FDP): Kunst und Kultur, das sind vorprogrammiert. Daneben besteht die Gefahr, dass die die Grundpfeiler unserer Gesellschaft. Ohne Kunst und Kulturpolitik der Europäischen Union noch maßgebli- Kultur wären die Länder der Welt nur beliebige Zusam- cher als bisher von der Europäischen Kommission domi- 23324 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

(A) niert wird, trotz der Geltung des Subsidiaritätsprinzips. Anlage 5 (C) Wir lehnen daher die Methode der offenen Koordinie- rung aus grundsätzlichen Erwägungen ab. Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Der zweite Punkt betrifft die Forderung nach einem Berichts zu dem Antrag: Schutzsystem gegen europäischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Zum ei- Sprengfallen unverzüglich beschaffen (Tages- nen dürfte ein solcher Rundfunk nicht die deutschen ordnungspunkt 14) Vorstellungen zur Staatsferne einer solchen Einrichtung erfüllen. Zum anderen verfügen die Mitgliedstaaten der Europäischen Union bereits über hervorragend ausge- Hans Raidel (CDU/CSU): Unsere Soldatinnen und statteten Rundfunk. Wer die Bedeutung der Europäi- Soldaten leisten in Afghanistan einen hervorragenden schen Union und die Vermittlung von europäischen In- Job. Sie riskieren für unsere Sicherheit Leib und Leben. halten herausstellen möchte, der sollte in den einzelnen Meines Erachtens muss uns dieser Einsatz der Bundes- Mitgliedstaaten ansetzen und nicht auf der Ebene der wehr mit Dankbarkeit erfüllen. Europäischen Union. Es ist unklar, wer für ein solches Die Bundeswehr hat einen wichtigen Auftrag: Es gilt, Angebot finanziell aufkommen sollte. Wir lehnen die den Afghanistan Compact, den wir 2006 beschlossen ha- Ausweitung um einen weiteren – europäischen – öffent- ben, auch in die Wirklichkeit umzusetzen. Er umfasst Se- lich-rechtlichen Rundfunk ab. curity, Economic Development und Good Governance. Die Bundeswehr schafft die Voraussetzungen für den Der dritte Punkt betrifft die Finanzierung der auszu- Aufbau, um den es eben auch geht. Wir müssen das Ver- weitenden Kulturausgaben. Die Koalitionsparteien schrei- trauen der Menschen in Afghanistan gewinnen. Ich ben in ihrem Antrag, dass für den wichtigen europäi- denke, es ist wichtig, immer wieder darzustellen, vor schen Kulturaustausch ein angemessener Budgetanteil welchen Herausforderungen die Bundeswehr in Afgha- des EU-Haushalts zur Verfügung gestellt werden muss. nistan steht. Unsere Soldatinnen und Soldaten sind dort Diese finanzielle Forderung bleibt leider völlig nebulös. in einer Art und Weise engagiert, dass der Ansatz der Bedeutet dies, dass das Gesamtbudget des EU-Haushal- vernetzten Sicherheit umgesetzt und das Ansehen der tes angehoben werden muss? Dieser Forderung können Bundesrepublik Deutschland gemehrt wird. Wie gefähr- wir nicht zustimmen. Eine Stärkung des Kulturhaushalts lich die Aufgaben der Bundeswehr in Afghanistan sind, der Europäischen Union muss aus anderen Töpfen ge- wird darin deutlich, dass in diesem Einsatz bereits 28 Sol- genfinanziert werden. daten ihr Leben verloren haben. Zu den heimtückischs- ten Terroranschlägen gehören Sprengfallen. Lassen Sie mich den Inhalt unseres Antrags kurz vor- (B) stellen: Er stellt die Grundlage dar, um die europäische Wegen der mit dem Einsatz verbundenen Gefahren ist (D) Kulturpolitik nachhaltig zu stärken und neu auszurich- es notwendig, dass wir alle Voraussetzungen schaffen, ten. Er unterstützt den Prozess des Zusammenfindens damit unsere Soldaten ihren Auftrag dort gut erfüllen der Kulturen in Europa und stärkt das Ziel eines Europas können. Wir haben mittlerweile über 700 geschützte der kulturellen Vielfalt. Er stärkt das zivilgesellschaftli- Fahrzeuge in Afghanistan, mehr als alle anderen Natio- che Engagement, ohne das Kunst und Kultur nicht über- nen dort. Wir haben die Aufklärung verstärkt. Wir haben leben könnten. Zivilgesellschaftliche Akteure sollen ak- zusätzliche Verstärkungstruppen dorthin geschickt, weil tiv an der Aufstellung einer Europäischen Kulturagenda wir aufgrund der Verschärfung der Sicherheitslage, die mitwirken können. Unser Antrag fordert die Schaffung unbestritten eingetreten ist, mehr Flexibilität brauchen. eines besonderen Kultursiegels für europäische Kultur- Wenn die FDP mit ihrem Antrag wirklich eine Ver- stätten. Damit könnten besonders bedeutsame Orte der besserung der Sicherheitssituation unserer Soldatinnen Kultur und Geschichte Europas hervorgehoben werden. und Soldaten herbeiführen wollte, würde ich diese De- Der Antrag sieht die Stärkung des europäischen Films batte sehr begrüßen. Dem ist aber leider nicht so. Das vor, indem die Präsentation des jährlich vergebenen eu- äußerst sensible Thema der Schutzsysteme gegen ropäischen Filmpreises deutlich aufgewertet wird. Er Sprengfallen, die sogenannten Störsender, aber in der fordert die Entwicklung einer gemeinsamen europäi- Öffentlichkeit zu debattieren, zeigt, vorsichtig formu- schen außenkulturpolitischen Strategie ein, innerhalb de- liert, einen Mangel an Sensibilität. rer sich deutsche und europäische Kultureinrichtungen und Organisationen besser vernetzen können. Dafür sollte Wenn wir jetzt an dieser Stelle etwas tiefer in die De- der bereits bestehende Zusammenschluss der nationalen batte einsteigen wollten, müssen wir Details über die Kulturinstitute innerhalb der European National Insti- Wirkungsweise der Störsender nennen, Details, die aber tutes of Culture weiter gefördert und ausgebaut werden. die Sicherheit unserer Soldaten gefährden würden. Wir Nicht zuletzt sieht unser Antrag die Schaffung einer Eu- müssten darlegen, welche Kenntnisse wir von den Terro- risten haben, welche Strategie sie anwenden, welche ropäischen Kulturstiftung vor. Diese könnte in Anleh- Materialien sie nutzen, welche Schwachstellen sie haben nung an die Kulturstiftung des Bundes staatenübergrei- etc., und dann müssten wir darlegen, wie wir mit wel- fende Kulturprojekte initiieren und das Forum für einen chem technischen Hilfsmittel darauf reagieren wollen. europäischen Kulturdialog darstellen. Damit erfüllt un- ser Antrag konsequent die Vorgaben des Art. 151 EG- Jedem müsste klar sein, dass wir dies nicht machen Vertrag. Daher bitte ich Sie um Unterstützung für diesen können, weil Terroristen direkt darauf reagieren würden. Antrag. Die Terroristen würden sich auf die Abwehrmethode Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23325

(A) einstellen, ihr Angriffssystem verbessern. Damit würde fahren. Bisher wurden über 80 Störsender über ESB in (C) die Gefahrensituation unserer Soldatinnen und Soldaten die Bundeswehr eingeführt. Deren Finanzierung erfolgte drastisch verschlechtert. Deshalb sage ich Ihnen, meine aus Kapitel 14 03 Titelgruppe 08, Maßnahmen der Bun- Damen und Herren von der FDP: Diese von Ihnen ge- deswehr im Zusammenhang mit internationalen Ein- führte Debatte gehört in den Verteidigungsausschuss, in sätze, dort Titel 554 81, Militärische Beschaffungen. eine nichtöffentliche Sitzung. Diese Schutzsysteme werden im Einsatzgebiet in Afgha- nistan in verschiedenen Fahrzeugtypen genutzt. Die Bundeswehr tut im Moment alles, um die sich im Einsatz befindlichen Fahrzeuge mit möglichst effizien- Die Beschaffung und Integration von weiteren mehr ten Störsendern auszustatten. Mit Ausnahme sogenannter als 500 Systemen ist beauftragt. Davon werden rund 440 reaktiver Störsender sind alle Störsender gegen Remote Counter-IED Systeme über das übliche Beschaffungs- Controlled Improvised Explosive Devices, RCIED, ent- verfahren in die Streitkräfte eingeführt. Der Zulauf die- wickelt, die durch die Bundeswehr eingeführt sind bzw. ser Schutzsysteme ist für dieses Jahr vorgesehen. Die In- absehbar eingeführt werden. tegration in die jeweiligen Trägerfahrzeuge wird – je nach operationeller Verfügbarkeit der jeweiligen Fahr- Die Bundeswehr nutzt bereits seit Anfang 2007 erste zeuge – bis ins nächste Jahr andauern. Die Beschaffung Störsender in Afghanistan. Zurzeit befinden sich über wird aus Kapitel 14 16 Titel 554 05, Beschaffung Fern- 80 Störsender im Einsatz. Mehr als 500 Störsender wer- meldematerial, und die Integration in die Fahrzeuge aus den bis Ende 2010 folgen. Das ist eine Leistung, die sich Kapitel 14 16 Titel 554 07, Beschaffung Kampffahr- sehen lassen kann. zeuge, finanziert. Die Störsender müssen, um wirksam sein zu können, Neben den in die Bundeswehr eingeführten geschütz- elektromagnetische Strahlung abgeben. Für den Einsatz ten Fahrzeugen mit ihrer definierten Widerstandsfähig- ist zu beachten, dass unbeteiligte Personen, anders als keit gegen eine Bedrohung – ihrem Schutz – versprechen die Besatzungen der Fahrzeuge, nicht durch konstruktive Systeme, die IED frühzeitig detektieren können, einen Maßnahmen vor unzulässiger Belastung durch elektro- weiteren Zuwachs an Schutz. Entsprechende Forschungs- magnetische Strahlung geschützt sind. Hier greifen be- projekte sind in Vorbereitung. Dies erscheint mir als ein triebliche Maßnahmen, die die Besatzungen von Fahr- weiterer sehr vielversprechender Ansatz, um mehr Si- zeugen mit Störsendern lageabhängig nutzen können. cherheit für die Bundeswehr in Afghanistan zu erreichen. Darüber hinaus können Störsender auch die eigene Funkkommunikation stören. Kommt es hierbei zu Frik- Ich hoffe und gehe fest davon aus, dass alle in diesem tionen, so muss der militärische Führer vor Ort entschei- Hause mit mir darin übereinstimmen, dass wir uns ge- den, was in der jeweiligen Lage Vorrang hat – das Stören meinsam dafür einsetzen, alles zu unternehmen, um die (B) von RCIED oder die ungestörte eigene Funkkommuni- Sicherheit unserer Soldaten weiter zu verbessern. (D) kation. Hier muss weitergeforscht und weiterentwickelt werden. Maik Reichel (SPD): Der Antrag der FDP stammt Die Schutzreichweite eines Störsenders ist entschei- vom 7. November 2007. Bereits zu diesem Zeitpunkt dend davon bestimmt, wie weit der Auslösesender vom war er überholt; allenfalls hat er das engagierte Handeln RCIED positioniert ist. Dies ist im Allgemeinen nicht der Bundesregierung, die Sicherheit unserer Soldatinnen bekannt. Hinzu kommt, dass die Schutzwirkung durch und Soldaten stets zu erhöhen, unterstützt. Abschattungen – Gelände, Häuser, Fahrzeuge zwischen Ich will gleich zu Beginn feststellen: Die Koalitions- Störsender und RCIED – eingeschränkt werden kann. fraktionen und die Bundesregierung legen großen Wert Ein absoluter Wert als Mindestschutzreichweite für ei- darauf, dass die Angehörigen der Bundeswehr und der nen Störsender lässt sich daher nicht angeben. Polizeien den höchstmöglichen Schutz während der Sollten die Auflagen für den Betrieb der Störsender, Auslandseinsätze erhalten. Daran wird sich nichts än- die in den Bestimmungen für den Einsatz niedergelegt dern. Dies lässt sich auch am Verteidigungshaushalt der sind, nicht beachtet werden, können Störsender Unbetei- letzten Jahre ablesen. ligte einer Belastung durch elektromagnetische Strah- Festzustellen ist zunächst, dass asymmetrische An- lung aussetzen. Ebenso können sie die eigenen Funk- griffe, die mit den bislang eingesetzten militärischen Ge- kommunikation stören. Darüber hinaus ist es möglich, genmaßnahmen nur bedingt beherrschbar sind, einen dass Störsender andere Systeme stören, die ein ver- wesentlichen Teil der Bedrohung ausmachen. Billigste gleichbares Frequenzspektrum nutzen. Auch hier muss Flugkörper, die im Nahbereich gleichwohl immense weiterentwickelt werden. Schäden anrichten können, Sprengfallen an Straßen, Au- Aufgrund der Beschaffenheit und Eigenschaften von tobomben und durch Saboteure und Selbstmordattentäter Improvised Explosive Devices, IED, mit den unter- eingeschleuste Sprengsätze gehören dazu. schiedlichsten Zünd-/Auslösemechanismen und Wirkla- Die Verwundbarkeit der Einsatzliegenschaften sowie dungen gibt es weltweit keine einheitliche technische der in den Krisenregionen operierenden Konvois wurde Lösung, die für sich allein abstandsfähig und sicher je- bereits durch eine Vielzahl von Vorfällen deutlich. Zu des IED bekämpfen kann. Recht betonen die Kollegen der FDP-Fraktion das Die Bundeswehr deckt ihren Bedarf an Störsendern Schutzbedürfnis deutscher Soldaten bei Auslandseinsät- sowohl über Maßnahmen des Einsatzbedingten Sofort- zen. Ich gehe davon aus, dass nicht nur meine Fraktion bedarfs, ESB, als auch über das Regelbeschaffungsver- dieses Anliegen unterstützt, und möchte zur besseren 23326 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

(A) Darstellung kurz auf die eigentliche Herausforderung, diese auch einsetzt. Die Kleinstörsender werden weiter- (C) welche die Anschaffung respektive die Entwicklung ei- hin nach und nach beschafft, was auch im Etat seinen nes solchen Schutzsystems mit sich bringt, eingehen. So Niederschlag findet. muss man zunächst rein technische Unterscheidungen beim Schutz vor Sprengfallen treffen. Auf der einen Wir können schlussfolgern: Die Bundesregierung und Seite bedarf es eines elektronischen Schutzes vor funk- die sie tragenden Fraktionen tun alles, um unsere Solda- ferngezündeten Sprengfallen, auf der anderen Seite aber tinnen und Soldaten so gut wie möglich zu schützen. Der auch vor mechanisch zündenden Explosionskörpern. Da Antrag war, wie gesagt, bereits zum Zeitpunkt seiner sich der eigentliche Angriff rein technisch nicht verhin- Stellung überholt. dern lässt, wurde und wird unser Augenmerk auf die Verbesserung des passiven Schutzes unserer Soldatinnen Elke Hoff (FDP): Anschläge mit improvisierten und Soldaten gelenkt. Die hier zum Truppentransport Sprengfallen, sogenannten IED, bleiben die größte Bedro- notwendigen Fahrzeuge wurden in den vergangen Jahren hung für unsere Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan. beschafft. Mehr als 800 geschützte Fahrzeuge befinden Ihre Zahl hat sich im Jahre 2008 im Vergleich zu 2007 sich in Afghanistan. sogar noch einmal erhöht. So gab es 2008 in Afghanistan Als technisch problematischer stellte sich allerdings insgesamt 1 343 IED-Anschläge. 2007 waren es noch 905. die Umsetzung eines elektronischen Funkstörsenders Erschwerend kommt der Trend hinzu, dass IED immer dar. Zwar steht der Bundeswehr der Störpanzer Hummel häufiger große Wirkladungen haben, gegen die selbst auf der Basis des Transportpanzers Fuchs zur Verfügung. geschützte Fahrzeuge nur einen relativ geringen Schutz Wie bei allen Transportpanzern, die der elektronischen bieten können. Deswegen bin ich froh, dass inzwischen Kampfführung dienen, ist in diesem Fahrzeug ein eine spürbare Verbesserung bei der Ausstattung mit 15-kW-Stromaggregat integriert. Auffälliges Merkmal Schutzsystemen gegen Sprengfallen erreicht werden des Störsenders 33 ist eine Vielzahl von Antennen auf konnte. dem Fahrzeugdach. Das System ist in der Lage, im HF-, Erfahrungen in Afghanistan zeigen, dass Operationen VHF- und UHF-Bereich mit Leistungen von 1 bzw. 2 kW auch im Norden des Landes nicht mehr ohne Störsender als automatisch antwortender Störsender auf mehreren durchgeführt werden können. Eine ausreichende Anzahl Kanälen gleichzeitig zu arbeiten. Verdeutlicht man sich von Störsendern auf geschützten Fahrzeugen ist also ein jedoch allein den räumlichen Umfang dieses adaptiven absolutes Ausstattungsmuss für die deutsche ISAF- Systems – es kann ohne größeren Aufwand auf jedem Truppe. Dabei ist auch auf einen ausgewogenen Flotten- Transportpanzer Fuchs betrieben werden –, so stellt man mix an leichten und schwereren Fahrzeugen als Träger unmittelbar fest, dass dieses in der bestehenden Form dieser Jammer zu achten, um die Mobilität auch in unter- (B) nicht auf andere, kleinere Fahrzeuge übertragbar war. schiedlichem Gelände gewährleisten zu können. Weiter- (D) Weiterhin sorgte der Zielkonflikt zwischen Größe des hin muss die Ausbildung zur Entdeckung von IED im Systems, Leistungsfähigkeit und Schutzbedürfnis der ei- Einsatzland in der einsatzvorbereitenden als auch in der genen Soldaten in den vergangenen Jahren für Verzöge- einsatzbegleitenden Ausbildung eine wichtige Rolle rungen. spielen, um die Sensibilität der Soldaten für diese Gefahr Wenn ich hier von Schutzbedürfnis spreche, dann hoch zu halten. Eine rechtzeitig entdeckte Sprengfalle gehe ich damit nicht nur auf den Schutz vor Anschlägen kann entschärft werden und keinen Schaden mehr an- ein als vielmehr auch auf die Auswirkungen, die die elek- richten. Wichtig bleibt aber eine rasche Ausstattung der tronischen Systeme auf unsere Soldaten haben. Wir wol- Bundeswehrsoldaten in Afghanistan mit genügend ge- len Strahlungsschäden ausschließen. Deshalb empfinde eigneten Störsendern, da die Gefahr durch IED allgegen- ich es durchaus als verantwortungsbewusst, Systeme erst wärtig ist und mit den jetzt beginnenden milderen dann einzusetzen, wenn der durch sie verursachte Scha- Witterungsbedingungen wieder ansteigen wird. den möglichst minimiert bzw. ganz verhindert wird. Purer Aktionismus, wie im Antrag der FDP gefordert, kostet wo- Der erreichte Einstieg in die Beschaffung der Schutz- möglich mehr Menschenleben, als er schützt. Vor der flä- systeme gegen Sprengfallen ist auch ein Erfolg des Drän- chendeckenden Einführung von Störsendern wurde ver- gens und Werbens des Deutschen Bundestages gegenüber ständlicherweise eine Erprobung durchgeführt. Dies war der Bundesregierung, schnell und pragmatisch Abhilfe zu notwendig, falls technische Schwierigkeiten auftreten schaffen. Dennoch dürfen sich weder Bundesregierung würden. noch Parlament nun zurücklehnen und den erreichten Ausrüstungszustand bewundern. Für Selbstzufriedenheit Dass die Bundesregierung sich jedoch nicht auf die- besteht kein Anlass. Vielmehr muss man das Erreichte sem Fakt ausruht, sondern den angemahnten Schutzbe- als einen wichtigen ersten Schritt begreifen. Bisher ist darf erkannt hat, zeigt sich unter anderem auch darin, noch nicht einmal ein Viertel der auszurüstenden Fahr- dass nun entsprechende Systeme verfügbar sind und zeuge mit Schutzsystemen ausgerüstet, und ob es sich auch durch das BMVg beschafft werden. Dieses Störsys- bei der derzeit bekannten Größenordnung der zu beschaf- tem wurde so konzipiert, dass es an neun verschiedene fenden Systeme um den tatsächlichen Bedarf handelt, darf Fahrzeugtypen spezifisch adaptiert werden kann. Hier- bezweifelt werden. Der Deutsche Bundestag muss weiter bei belaufen sich die Kosten für die bis zum Jahr 2011 zu Druck ausüben, dass die Bundesregierung endlich den tat- beschaffenden 602 Systeme auf insgesamt 106 Millio- sächlichen Bedarf für die Beschaffung von Schutzsystemen nen Euro, wobei die Bundeswehr nach eigenen Angaben gegen Sprengfallen definiert und umgehend beschafft. bereits über 128 ausgelieferte Einheiten verfügt und Die Bundeswehr braucht ausreichend geschützte Fahr- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23327

(A) zeuge im Einsatz, die auch gegen die Hauptbedrohung in Ausrüstung und Ausbildung leidet. Das Fehlen ge- (C) Afghanistan gerüstet sind. Hier handelt es sich um eine schützter Fahrzeuge insbesondere in den kleineren Fähigkeitslücke, die schnellstmöglich geschlossen werden Schutzklassen in Afghanistan schränkt immer noch die muss. Deswegen bin ich nicht glücklich darüber, das Patrouillentätigkeit erheblich ein. Es fehlen so wichtige zwei Drittel der zu beschaffenden Schutzsysteme regulär Ausrüstungsgegenstände wie Nachtsichtgeräte, Laser- über den CPM und nicht im Wege des einsatzbedingten Licht-Module und persönliche Ausstattung. Auch andere Sofortbedarfs beschafft werden sollen. Mängel in der persönlichen Ausstattung der Truppe wer- den von den Soldatinnen und Soldaten immer häufiger Über das widersprüchliche Verhalten der Koalitions- durch private Beschaffungen kompensiert und dem fraktionen zu diesem Thema im Deutschen Bundestag Mantra des Ministers, die Bundeswehr sei für ihren Ein- und seinen Fachausschüssen bin ich sehr erstaunt. SPD satz bestens ausgerüstet und ausgebildet, wird zuneh- und Union halten den vorliegenden Antrag der FDP- mend mit Resignation begegnet. Fraktion für wenig sachlich, weil sich ihnen der Eindruck aufdränge, er sei prophylaktisch gestellt worden, um beim nächsten Anschlag auf diesen Antrag hinweisen zu kön- Inge Höger (DIE LINKE): Bundeswehrangehörige nen. Meine Damen und Herren, das ist zynisch, und wir durch technische Verbesserungen gegen explodierende verwahren uns gegen diesen Vorwurf. Darüber hinaus Sprengfallen zu schützen, das klingt – oberflächlich be- haben sie diesem Antrag als wortgleichen Haushaltsan- trachtet – plausibel. Durch Störsender an gepanzerten trag am 24. Oktober 2007 im Verteidigungsausschuss Fahrzeugen soll die Zündung von improvisierten zugestimmt und dann die seitens der FDP-Fraktion bean- Sprengfallen, besonders in Afghanistan, unterbunden tragte notwendige Erhöhung der Haushaltsmittel abge- werden, um so Soldatinnen und Soldaten weniger häufig lehnt. So macht man keine verantwortungsvolle Politik. zu Anschlagsopfern werden zu lassen. Die Bereitstellung finanzieller Mittel ist die konkrete Umsetzung des politischen Willens. Doch woher kommt der Widerstand – auch gegen die Bundeswehr –, wo diese doch angeblich nur helfen soll Und genügend Geld wird beim Umgang mit der Bedro- und will? Warum werden die ISAF-Angehörigen von hung durch Sprengfallen auch weiterhin notwendig sein. immer mehr Menschen in Afghanistan nur noch als bru- Seit Monaten ist zu beobachten, dass die Aufständischen tale Besatzer wahrgenommen? Diesen Fragen weicht so- auf die Schutzmaßnahmen der Bundeswehr reagieren und wohl die Bundesregierung als auch die FDP mit diesem die IEDs nicht mehr vorrangig per Mobiltelefon, sondern rein technokratischen Antrag aus. durch Drahtvorrichtungen oder andere alternative Auslös- mechanismen zur Explosion bringen. Dieses Hase-und- Aber auch jenseits dieser grundsätzlichen Erwägun- gen weist der FDP-Antrag immanente Schwächen auf. (B) Igel-Spiel wird die Bundeswehr dauerhaft beschäftigen. (D) Die Bundesregierung muss dafür Sorge tragen, dass auf Was die FDP hier fordert, wird die Bundesregierung oh- aktuelle Entwicklungen ausreichend reagiert werden nehin umsetzen, wenn auch möglicherweise ein klein kann. So ist schon heute gewiss, dass automatisierte Mini- wenig langsamer, als es im vorliegenden Antrag gefor- sonden und Robotersysteme geprüft und erprobt werden dert wird. Doch völlig egal, wie schnell diese Störsender müssen, um die IED-Protektion auf größere Strecken beschafft werden, sie nützen den Soldatinnen und Solda- ausdehnen zu können. In diesem Zusammenhang kann ten bestenfalls kurzfristig, wenn überhaupt. Attentäter ich auch nur schwer nachvollziehen, warum die Haushalts- stellen sich schnell auf das Schutzniveau ihrer jeweiligen mittel für die Systemfähigkeitsforderung Counter-IED Gegner ein, und entsprechend ist die Aufrüstungsspirale im Haushaltsjahr 2009 gegenüber dem Vorjahr deutlich im Straßenkampf längst im Gange. Im Irak zeigt sich das gekürzt worden sind. Dilemma schon seit Jahren. Kaum waren dort in größe- rem Umfang Störsender im Einsatz, kamen auch neue Hier setzt sich die verfehlte Haushalts- und Beschaf- Generationen von Sprengfallen zum Einsatz. Es ist nur fungspolitik des Verteidigungsministeriums fort, die wir eine Frage der Zeit, bis neue Technologien für Attentate seit Beginn der Legislaturperiode immer wieder deutlich auch in Afghanistan zur Verfügung stehen. Bereits heute kritisieren. Ich kann leider keine klare Priorisierung in sind viele Sprengfallen so aufgebaut, dass sie durch der Ausgabenpolitik des Verteidigungsministeriums er- Störsender nicht zu stoppen sind. Als im Sommer letzten kennen. Auch in den letzten Monaten wurde mit dem Jahres deutsche Polizisten einem Anschlag zum Opfer Geld der Steuerzahler mehr Industriepolitik betrieben, fielen, war der Zündmechanismus ein ganz primitiver: als die Bundeswehr für die Erfüllung ihres Auftrages Die Sprengladung wurde mit einem Kabel gezündet. Es ausgestattet wurde. Dafür ist die zu langsame Beschaf- gibt zahlreiche alternative Zündmethoden von Infrarot- fung der Schutzsysteme gegen Sprengfallen ein Beispiel sendern bis zur Fernsteuerung für Spielzeugautos. All unter vielen. Ärgerlich ist für mich, dass viele der am das lässt sich mit gängigen Störsendern nicht stoppen. dringendsten notwendigen Dinge in der Relation des Die Einzigen, die wirklich von der Ausrüstung der Fahr- Verteidigungshaushalts wenig Geld kosten. Ich bin mir zeuge mit Störsendern profitieren, sind die Hersteller immer weniger sicher, ob das Umsteuern im Verteidi- dieser Apparate. gungsministerium auf eine einsatzorientierte Beschaf- fungspolitik eine Frage des politischen Willens oder des Diese Störsender, auch Jammer genannt, sind nach Mangels an Kenntnis der Entscheider ist. Herstellerangaben so konstruiert, dass durch die Geräte keine gesundheitliche Gefährdung der Fahrzeugbesatzung Der Kontakt zur Truppe zeigt immer wieder überdeut- zu befürchten ist. Doch jüngste EU-Studien ergaben, lich, wie sehr die Auftragserfüllung durch die Defizite in dass selbst längeres Telefonieren mit Handys gesund- 23328 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

(A) heitliche Schäden hervorrufen kann. Im Verhältnis dazu Depots einlagern werden, bis die Haltbarkeit überschrit- (C) sind dauerhafte Bestrahlungen durch Störsender, die ten ist und wir sie wieder vernichten, um Platz für die noch dazu parallel auf verschiedenen Frequenzen senden nächste Generation an unnötiger Munition zu machen. In und denen die Soldaten auf engstem Raum ausgesetzt welchen UN-mandatierten Stabilisierungsmissionen oder sind, eine wesentlich ernsthaftere Gefährdung. Die Sol- humanitären Einsätzen wollen Sie eigentlich die Panzer- datinnen und Soldaten bezahlen so für einen ungewissen haubitze 2000 auf 30 Kilometer großflächig schießen Schutz vor Sprengfallen mit einer konstanten gesund- lassen? heitlichen Gefährdung und unbekannten Spätfolgen. Über die Investitionsruine Eurofighter zu sprechen, Die Verwendung der Störsender kann zudem zur wei- werden Sie uns vor der Bundestagswahl ja noch ausrei- teren Verschärfung der Situation in den Einsatzgebieten chend Gelegenheit bieten. Die Kette der Beispiele ließe führen, wenn überall dort, wo Bundeswehrfahrzeuge sich noch lange fortführen. auftauchen, die Mobilfunkkommunikation lahmgelegt wird. Gerade in den Einsatzgebieten der Bundeswehr im Die Bundeswehr setzt den Schwerpunkt darauf, das Kosovo und in Afghanistan sind Mobiltelefone wesentlich volle Spektrum an Waffen im Depot bzw. auf dem Park- weiter verbreitet als Festnetztelefone. Aus Gesprächen platz stehen zu haben, unabhängig davon, ob man es der- mit Bundeswehrsoldaten weiß ich zudem, dass auch sie zeit benötigt. Man könnte es ja in der Zukunft benötigen! bei Patrouillen in Afghanistan zur Kommunikation auf das dortige Mobilfunknetz zurückgreifen, was bei aktiven Aus diesem falschen Konzept resultiert schlussend- Störsendern natürlich nicht mehr funktioniert. lich der dritte Fehler: Es fehlen die Mittel für die heute wirklich erforderliche Ausrüstung. Was in dem heute Der effektive Schutz der Soldatinnen und Soldaten ist stattfindenden Auslandseinsatz möglichst schnell und weder eine finanzielle noch eine technische Frage, sondern dringend benötigt würde, wird nur halbherzig beschafft, eine politische. Die Linke beteiligt sich nicht daran, in winzige Beschaffungshäppchen aufgeteilt oder auf der wenn Soldatinnen und Soldaten eine technische Illusion Zeitachse geschoben. Was bei den UN-mandatierten von Sicherheit vorgegaukelt wird. Der einzig wirkliche Einsätzen der Bundeswehr benötigt würde, sind mehr Schutz für die Bundeswehrangehörigen in Afghanistan geschützte Fahrzeuge im Einsatzgebiet, besserer Feldla- besteht darin, sie sofort und vollständig abzuziehen. gerschutz, bessere persönliche Ausrüstung, mehr Luft- transportkapazitäten. Und wir benötigen es schnell. Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Bundesregierung setzt die Schwerpunkte für militä- Da ist der Antrag der Kolleginnen und Kollegen der rische Beschaffungen falsch. Die Bundeswehr ver- FDP, den wir hier beraten, richtig: Vordringlich beschafft (B) (D) schwendet Geld, indem sie beharrlich immer wieder die werden diese Projekte von der Regierung nicht. Auch gleichen Fehler wiederholt. Verteidigungsminister Franz wenn im Bereich des Schutzes gegen Sprengfallen mitt- Josef Jung hat sich dieser Problematik in der gesamten lerweile mehr Systeme im Einsatz sind: Schnell und prio- Legislaturperiode nie angenommen und damit die Liste risiert war die Beschaffung leider nie. Stattdessen hören der schlechten Amtsführung eindrucksvoll um einen wir vom Verteidigungsministerium und von den Koali- wichtigen Punkt verlängert. tionsfraktionen immer wieder das gleiche Mantra: Die Bundeswehr sei bestens ausgerüstet, man tue doch alles, Erster Fehler: Die Bundeswehr betreibt aus ihrem alles Wichtige sei in Planung oder Beschaffung. Warum Etat zu viel Industriepolitik und Subventionierung der widerspricht dies diametral allen Aussagen, die man hört Rüstungsindustrie. Jüngstes Beispiel der letzten Monate und sieht, wenn man mal die Ebene der Bundeswehr- ist dabei der dritte Einsatzgruppenversorger für die Bun- pressesprecher und der BMVg-Sprechzettel verlässt? desmarine. Das Verteidigungsministerium hat hinge- Sind die Klagen der Soldatinnen und Soldaten im Aus- nommen, dass die Industrie den Wettbewerb selbst aus- landseinsatz erfunden? Mitnichten! schaltet, indem sie sich einfach zusammenschließt und für den dritten EGV das Zweieinhalbfache der Vorgän- Die Klagen sind berechtigt, denn aus den genannten ger berechnet. Betrachtet man dies im Zusammenhang Gründen werden die wichtigen Beschaffungen immer mit der Tatsache, dass es eine schlüssige Strategie zur zwischen Rüstungsindustrieförderung und Depotauffül- Rüstungsindustrie seitens der Bundesregierung über- lung gequetscht, nicht schnell und nicht mit Priorität, son- haupt nicht gibt, stellt man fest, dass das Geld der Steu- dern nur danach, wie viel Luft nach den falschen unnüt- erzahler völlig wirkungslos versickert – während es zen Beschaffungen dem Etat gerade noch bleibt. Die gleichzeitig an allen Ecken und Enden fehlt. Schutzsysteme gegen Sprengfallen mögen ein Detail ge- Zweiter Fehler: Die Bundeswehr hängt in ihren Be- wesen sein – aber sie sind symptomatisch für die Kon- drohungsszenarien gedanklich immer noch an den gro- zeptlosigkeit dieses Verteidigungsministers und die Geld- ßen Konflikten. Wenn es schon nicht mehr der Kalte verschwendung, die diese Regierung auszeichnet. Beim Krieg ist, dann doch bitte zumindest noch die symmetri- vergleichsweise kostengünstigen zivilen Wiederaufbau schen Schlachten. Auch hier ein aktuelles Beispiel aus und beim Schutz der Soldatinnen und Soldaten wird ge- der letzten Woche: die Bundesregierung beschafft als knausert, aber bei milliardenschweren Großprojekten ersten Schritt 30 000 Schuss Sprengmunition für die kann es immer nicht genug geben. Werden Sie endlich Ih- Panzerhaubitze 2000. Das Preisschild verzeichnet über rer Verantwortung gerecht, und beenden Sie diesen Un- 60 Millionen Euro, und dies für Munition, die wir in den fug! Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23329

(A) Anlage 6 Diplomaten, Entwicklungshelfern und vielen anderen (C) gefährdet. Darüber hinaus steht außer Frage, dass Deutsch- zu Protokoll gegebene Reden land ein Interesse daran haben muss, den Nuklearwaffen- zur Beratung des Antrags: Pakistan stabilisieren staat Pakistan zu stabilisieren. und seine demokratische Entwicklung voran- Die Frage stellt sich also: Was kann und muss getan treiben (Tagesordnungspunkt 15) werden, um, wie es in unserem Antrag heißt, „Pakistan zu stabilisieren und seine demokratische Entwicklung Holger Haibach (CDU/CSU): Was haben Frauen- voranzutreiben“? Und: Welchen Beitrag kann besonders rechte und der Ausbau von Mobilfunknetzen miteinan- Deutschland dazu leisten? der gemeinsam? Beides stößt bei den radikalislamischen Taliban in Pakistan auf Widerstand. Zwar haben sie, als Zuerst möchte ich dazu feststellen, dass Deutschland die Regierung in Islamabad ihnen im Swat-Tal und ande- früher als andere Länder die Notwendigkeit des Handelns ren Gegenden die Einführung der Scharia als Rechtsord- erkannt und entsprechende Vorschläge gemacht sowie nung zugestand, erklärt, Mädchenschulen nicht schlie- Ressourcen vielerlei Art zur Verfügung gestellt hat. ßen zu wollen. Zur gleichen Zeit wurden aber elf dieser Deutschland engagiert sich an vorderster Stelle in der Mädchenschulen niedergebrannt – eine ausgesprochen Ende 2008 gegründeten Gruppe „Freunde des demokrati- effektive Methode, Unterricht von Mädchen zu unterbin- schen Pakistans“, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die in- den und Angst und Schrecken zu verbreiten. ternationale Unterstützung für Pakistan in den Bereichen Sicherheit, Entwicklung, Energie und Aufbau besser zu Und der Mobilfunk? Als die pakistanische Regierung in koordinieren. dieser Woche bekanntgab, im Grenzgebiet zu Afghanistan ein Mobilfunknetz ausbauen zu wollen, reagierten die All die Hilfsangebote aus dem Ausland werden aller- Taliban mit einem Flugblatt folgenden Inhalts: „Wir dings nicht fruchten, wenn die innere Stabilität Pakistans werden Regierungsbehörden und diejenigen, die SIM- nicht wiederhergestellt werden kann. Wir dürfen bei aller Karten verkaufen, wie Kriminelle behandeln.“ Das Netz Unterstützung die politisch Handelnden im Land nicht sei dazu bestimmt, die Taliban auszuspionieren. aus ihrer Verantwortung entlassen. Es wird ihre Aufgabe sein, durch entsprechende gesetzliche Maßnahmen, aber Diese beiden Begebenheiten verdeutlichen, welchen auch durch eigenes Verhalten dafür zu sorgen, dass die innenpolitischen Herausforderungen die pakistanische Voraussetzungen für eine gute Entwicklung des Landes Regierung durch die Taliban ausgesetzt ist. Dass Pakis- geschaffen werden. Denn alleine die Tatsache, dass ein tan endlich die weltweite Aufmerksamkeit erfährt, die es Militärmachthaber durch eine demokratisch legitimierte sicherlich verdient, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass Staatsführung abgesetzt wurde, löst bei Weitem nicht (B) sich der Deutsche Bundestag in der dritten aufeinander- alle Probleme. Im Gegenteil: Scheitert diese Führung, (D) folgenden Sitzungswoche mit diesem Land beschäftigt. droht die Radikalisierung der Gesellschaft und der er- neute Ruf nach einem „starken“ Mann. Wir, die Fraktionen von CDU/CSU und SPD, legen Ihnen heute einen Antrag vor, von dem wir sicher sind, Es geht also um nichts weniger als den Aufbau eines dass er der komplexen Situation Pakistans gerecht wird. unabhängigen und qualifizierten Rechtssystems, den Kampf gegen Drogen und Korruption, die Auseinander- Unbestritten auch in diesem Hohen Hause ist sicher- setzung mit den Taliban und damit auch den Aufbau lich, dass die Lage in Pakistan großen Anlass zur Sorge rechtsstaatlicher Strukturen in bisher völlig unkontrol- gibt: Die Auseinandersetzung zwischen Präsident Zadari lierten Gebieten, die Einbindung der Zivilgesellschaft in und Oppositionsführer Sharif, die in dem Streit um die den weiteren Prozess, die Bewältigung einer Wirt- Wiedereinsetzung des Obersten Richters Chaudry gipfelte. schaftskrise und die Schaffung einigermaßen zufrieden- Die angespannte Sicherheitslage, die offensichtliche bisher stellender Beziehungen zu allen Nachbarn. Zusätzlich fehlgeschlagene Bekämpfung radikalislamischen Terrors, hierzu müssen das Militär und besonders der militärische der ebenso offensichtliche Machtverfall der Zentralregie- Geheimdienst ISI einer effektiven politischen Kontrolle rung, die desaströse Wirtschaftslage, die ohne das Ein- unterzogen werden. greifen der internationalen Gemeinschaft zum Konkurs des Landes hätte führen können, die Lage in den Tribal Bei all dem, insbesondere beim Aufbau rechtsstaatlicher Areas im Grenzgebiet zu Afghanistan, der ungelöste Strukturen, kann Deutschland einen wichtigen Beitrag leis- Kaschmir-Konflikt mit all seinen Implikationen, der Han- ten: zum einen durch entsprechende finanzielle Ressourcen, del mit Drogen und Waffen – die Liste ist lang und ließe zum anderen durch die langjährige Erfahrung deutscher sich nach Belieben fortsetzen. Experten auf diesen Gebieten. Ebenso unstreitig dürfte sein, dass die Einwohner Pa- Deutschland kann auch unterstützend tätig sein, wenn kistans, wie alle anderen Menschen auch, das Recht auf es um die Verbesserung der Beziehungen Pakistans zu eine friedliche Entwicklung und auf Zukunftschancen seinen Nachbarn geht. Sowohl zu Afghanistan – auf- haben. Schließlich sollte uns allen ebenfalls klar sein, grund der schon länger währenden Grenzstreitigkeiten – dass es auch in unserem eigenen Interesse ist, Pakistan als auch zu Indien – aufgrund des Kaschmir-Konflikts als starken Partner in dieser Region an unserer Seite zu und anderer tradierter Auseinandersetzungen – gibt es wissen und nicht als ein Staat, der durch seine Instabilität keine wirklich stabilen, geschweige denn gutnachbarli- nicht nur die gesamte Region, sondern auch die Sicher- chen Beziehungen. Hier kann Deutschland allerdings heit von Tausenden deutscher Soldatinnen und Soldaten, nur im Zusammenwirken mit seinen europäischen Part- 23330 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

(A) nern, aber auch gemeinsam mit den Partnern des transat- Steinmeier hat im Februar Botschafter Mützelburg zum (C) lantischen Bündnisses, vor allem den USA, erfolgreich Sonderbeauftragten für Afghanistan und Pakistan ernannt. unterstützend eingreifen. Dies ist ein deutliches Signal an Pakistan und an Präsi- dent Zardari, dass Pakistan von uns im Hinblick auf Inzwischen gilt es meiner Meinung nach als anerkannt, wirtschaftliche Entwicklung und auf Demokratisierung dass eine erfolgreiche Stabilisierung Pakistans, Afghanis- unterstützt wird. tans und mithin der gesamten Region nur im Zusammen- wirken aller regionalen Akteure erreicht werden kann. Im vergangenen Jahr hat Deutschland seine Mittel für Dies schließt neben diesen beiden Staaten sicherlich Pakistan verdoppelt. Schwerpunkte in der deutschen auch Indien und den Iran ein. Sicherlich ist es auch richtig, Entwicklungszusammenarbeit sind: mit all denen zu verhandeln und zu reden, die sich einer Stabilisierung der Region verpflichtet fühlen. Solche Erstens. Vergabe von Mikrokrediten zur Unterstützung Gespräche verbieten sich allerdings mit Gruppen, die, der Menschen, die eigene Geschäfte oder Projekte finan- wie die radikalislamischen Kräfte, Ziele verfolgen, die zieren wollen und damit eine wirtschaftliche Grundlage denen der internationalen Staatengemeinschaft zuwider- für ihr Leben schaffen. Dabei hat sich erwiesen, dass insbe- laufen. sondere Frauen das Geld aus Mikrokrediten in Bereichen investieren, die der gesamten Gemeinschaft zugutekom- Abschließend möchte ich feststellen, dass es uns nur ge- men. Außerdem sind Frauen besonders verlässliche Rück- lingen kann, bei der Stabilisierung und Demokratisierung zahlerinnen. Pakistans erfolgreich zu helfen, wenn alle Beteiligten, seien es innerstaatliche, seien es regionale oder internatio- Zweitens. Förderung von Kleinbetrieben als Rückgrat nale Akteure nicht nur dasselbe Ziel, sondern auch eine der Wirtschaft: Das deutsche Know-how im Bereich er- abgestimmte Strategie zur Erreichung dieses Ziels ver- neuerbare Energien sollte im Rahmen von Kooperationen folgen. in den Aufbau einer funktionierenden Energieversorgung in Pakistan einfließen. Das öffentliche Stromnetz kann Vor allem aber wird es sehr darauf ankommen, dass durchschnittlich für vier Stunden pro Tag Strom liefern. die Menschen in Pakistan das Gefühl haben, dass es ihr Darüber hinaus behelfen sich die reicheren Menschen in Weg ist, den sie gehen. Deshalb ist es so wichtig, dass Pakistan mit Dieselgeneratoren, die Armen müssen ohne Politiker und gesellschaftlich Handelnde in Pakistan ihre elektrischen Strom auskommen. Dies vergrößert die Lücke Verantwortung erkennen und wahrnehmen. Denn nur zwischen Arm und Reich. Darüber hinaus tragen die Gene- aus dem Bewusstsein der eigenen Verantwortung er- ratoren erheblich zur Umweltverschmutzung in Pakistan wächst die Bereitschaft zu eigenständigem Handeln. bei.

(B) Drittens. Entwicklung der Zivilgesellschaft. Deutsch- (D) Christel Riemann-Hanewinckel (SPD): Am ver- land unterstützt die Arbeit von deutschen und pakistani- gangenen Wochenende hat die pakistanische Regierung schen Nichtregierungsorganisationen, beispielsweise den auf massiven Druck der Opposition den vor 16 Monaten Evangelischen Entwicklungsdienst und SPARC, die sich entlassenen Obersten Richter des Landes, Richter Iftikhar für die Entwicklung der Zivilgesellschaft engagieren und Muhammad Chaudhry, wieder eingesetzt. Mit ihm können damit den Aufbau der Demokratie unterstützen. Auch der weitere 60 Richter ihr Amt nun wieder ausüben, nach- Aufbau eines effizienten Bildungssystems, das allen dem sie vor den Wahlen im Jahr 2008 noch unter der Mi- Kindern offensteht, unterstützt den Demokratisierungs- litärregierung von Pervez Musharraf abgesetzt worden prozess wesentlich. waren. Endlich hat Asif Ali Zardari seinen Widerstand aufgegeben. Es ist nicht hinnehmbar, dass ein demokra- Ich habe vor einigen Monaten Pakistan besucht. tisch gewählter Präsident sich weiterhin der Methoden Meine Gesprächspartner dort haben mich darum gebeten, einer Militärdiktatur bedient, um sich in seinem Amt zu zu erreichen, dass Deutschland in Regierungsverhandlun- sichern. gen mit Pakistan darauf dringt, dass das Blasphemiegesetz außer Kraft gesetzt wird. Dieses dient zur Denunziation Der pakistanische Staat befindet sich auf einem langen und Verfolgung von Einzelnen und von Gruppen, die Weg hin zur Demokratie. Dieses Ziel kann nur erreicht sich für die demokratische Entwicklung Pakistans ein- werden, wenn sich die Situation der Bevölkerung insge- setzen. samt ändert. Die Armut der Menschen in Pakistan muss bekämpft werden, damit die Ressourcen der Menschen Die Taangh Wasaib Organisation in Sargodha führt für den Aufbau der Zivilgesellschaft freigesetzt werden Rechtsberatungsprojekte für Frauen im ländlichen Punjab können. durch. Über 50 Dörfer sind daran beteiligt. Das Beson- dere daran ist, dass die Entwicklung der Frauen spürbare Demokratie und Stabilität in Pakistan sind von großer Entwicklungen in der gesamten Region angestoßen haben. Bedeutung für die Entwicklung der gesamten Region. Demokratische Entwicklung braucht alle Menschen im Deshalb erwägt nun auch die US-Regierung im Rahmen Land. Deshalb müssen insbesondere die Rechte von ihrer Afghanistan-Strategie, die Mittel für die militärische Frauen und Mädchen gestärkt werden. Dies muss sich in und zivile Unterstützung Pakistans zu erhöhen, die Summe der Verfassung niederschlagen. für den zivilen Bereich soll sich sogar verdreifachen. Ich begrüße es sehr, dass der Aufbau Pakistans Johannes Pflug (SPD): Ich beginne mit einer guten Schwerpunkt in der deutschen Entwicklungszusammen- Nachricht: Die Wiedereinsetzung des Obersten Richters arbeit ist. Der deutsche Außenminister Frank-Walter Chaudhry durch den pakistanischen Staatspräsidenten Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23331

(A) Zardari hat die innenpolitische Krise vorerst beendet und setzung für den Erfolg der ISAF-Mission der NATO in (C) Ruhe geschaffen für einen Neubeginn des Demokratisie- Afghanistan. rungsprozesses. Das ist eine gute Nachricht, aber wir dürfen uns jetzt nicht zurücklehnen und mit verklärtem Die Bundesregierung hat im Jahr 2007 die deutsche Blick auf eine demokratische Entwicklung warten. Doppelpräsidentschaft in EU und G 8 für eine Initiative zur Stabilisierung der Lage in Pakistan genutzt – insbe- Präsident Zardari hat die verfassungswidrige Abset- sondere in den Stammesgebieten und in der Grenzregion – zung Chaudhrys durch Ex-Militärherrscher Musharraf sowie zur Verbesserung der Kooperation mit Afghanis- nicht aus demokratischer Überzeugung rückgängig ge- tan. Sie ist zudem in der Ende September 2008 gegrün- macht, und er wollte schon gar kein Wahlversprechen deten Gruppe der „Freunde des demokratischen Pakis- einlösen. Die Reformkräfte in Pakistan haben ihm keine tans“ engagiert, welche die internationale Unterstützung Wahl gelassen. Diese Kräfte sind tief verankert in der pa- für Pakistan in den Bereichen Sicherheit, Entwicklung, kistanischen Gesellschaft: Juristen, Menschenrechtler, Energie und Aufbau rechtsstaatlicher Institutionen bes- Gewerkschaftler, die Oppositionspartei PML-N und so- ser abstimmen soll. Gleichzeitig hat die Bundesregie- gar sein eigener Ministerpräsident Gilani und letztlich rung Pakistan zu einem Schwerpunkt der Entwicklungs- auch Armeechef Kyani. Der Fall Chaudhry zeigt: Diese politik gemacht. Meine Kollegin Christel Riemann- Reformkräfte können demokratische Entwicklungen er- Hanewinkel wird zu diesem Thema gleich noch alles zwingen. Realismus bleibt aber das Gebot der Stunde, Wichtige sagen. das Land steht vor großen Problemen. Wir müssen Pakistan bei seinem Aufbau weiter unter- Pakistan steckt in einer schweren Wirtschaftskrise, stützen. Im Bildungsbereich müssen die Grundbildung die unsere Krise in Deutschland wie einen Aufschwung als Alternative zum Unterricht in den Madrassas und wirken lässt. Im vergangenen Herbst verhinderte nur ein auch die Berufsbildung ausgebaut werden. Wir können Kredit des IWF über 7,6 Milliarden US-Dollar einen fi- helfen, die pakistanische Wirtschaft zu entwickeln und nanziellen Zusammenbruch des Landes. In diesem Jahr für die Menschen ein Mindestmaß an sozialer Fürsorge braucht Pakistan ein Wachstum von mindestens 6,5 Pro- und Sicherheit zu schaffen. In das öffentliche Gesund- zent, um die Zahl der Arbeitslosen nicht weiter anwach- heitssystem beispielsweise investierte das Land nur sen zu lassen. Prognostiziert für das laufende Jahr sind 0,5 Prozent seines BIP. allerdings bestenfalls 2,5 Prozent. Wir müssen aber vor allem alles tun, um die Zivilge- Gleichzeitig muss das Land ein akutes Flüchtlings- sellschaft und die Reformkräfte in Pakistan zu unterstüt- problem bewältigen. Hunderttausende Menschen aus zen. Sie haben gerade im Fall Chaudhry gezeigt, dass sie den FATA-Gebieten und aus dem Swat-Tal flüchten nach für eine Demokratisierung kämpfen können. Das kann (B) Peschawar, Islamabad, Lahore und vor allem nach Kara- nur in unserem Interesse sein. Eine friedliche Stabilisie- (D) chi. Dort werden bereits mehr als 1,3 Millionen Paschtu- rung des Landes ist die beste Grundlage für eine weitere nen vermutet, die auf eine Bevölkerungsgruppe mit Mi- demokratische Entwicklung. grationshintergrund aus Indien treffen. Diese wird reprä- sentiert durch die MQM, eine Partei, die in der Vergan- Noch eine Anmerkung zum Schluss: Die Anerken- genheit durch militante Mitglieder auffiel. nung des Rechts der Scharia im Swat-Tal mag zwar ver- fassungsgemäß und auch historisch nachvollziehbar Ein dritter schwerer Konflikt schwellt im Panjab. Seit sein, aber sie ist eine Teilkapitulation gegenüber den Is- dem Disqualifikationsurteil gegen die beiden Sharif- lamisten und Radikalen im Land. Ich behaupte, sie ist Brüder am 25. Februar wird die Provinz an der Grenze ein umgefallener Dominostein. Es dürfen keine weiteren zu Indien von einem Gouverneur regiert, den der Staats- folgen. präsidenten mit aller Kraft durchgesetzt hat – und nur am Rande sei erwähnt: der ein guter Bekannter von Zardari ist. Dies stellt im traditionellen Stammesgebiet der Elke Hoff (FDP): Der vorliegende Antrag der Regie- PML-N eine große Provokation dar. Premierminister rungsfraktionen enttäuscht. Die Regierungsfraktionen Gilani hat bereits eine Revision gefordert. scheinen sich inzwischen auch in der Außen- und Si- cherheitspolitik nur noch auf einen Minimalkonsens ver- Der Panjab-Konflikt kann für Präsident Zardari exis- ständigen zu können. Wenn dieser Antrag die Bilanz der tenziell werden. Zum Zweiten hängt seine Zukunft von Pakistan-Politik der Großen Koalition sein soll, wäre den Entscheidungen des Obersten Richters Chaudhry dies ein Armutszeugnis. Dass die Bundesregierung die ab. Dieser könnte den Prozess gegen Zardari ebenso Doppelpräsidentschaft Deutschlands in EU und G 8 für wieder aufgreifen wie den Prozess gegen Ex-Präsident eine Initiative zur Stabilisierung der Lage in Pakistan ge- Musharraf. Sollte er das tun, könnte das Militär aber nutzt haben soll, ist mir leider entgangen. Dabei hätte ich auch noch eingreifen. mir diese ausdrücklich gewünscht. Auch der Verweis auf die Gründung der Gruppe „Freunde des demokratischen Das sind aber nur die innenpolitischen Krisenherde. Pakistans“ überrascht mich. Nach meinem Kenntnis- Außenpolitisch ist die Atommacht Pakistan für die Si- stand haben sich die Aktivitäten dieser Gruppe auf die cherheit Süd- und Zentralasiens von großer Bedeutung, Gründung und eine einzige rein prozedurale Arbeitssit- insbesondere für die Entwicklung im benachbarten Af- zung im November letzten Jahres beschränkt. ghanistan und in Indien. Die erfolgreiche Bekämpfung der Terroristen auf pakistanischem Boden und die innere Bis heute ist für mich keinerlei Pakistan-Strategie der Stabilität Pakistans sind daher eine wesentliche Voraus- Bundesregierung erkennbar. Eine mehr oder weniger zu- 23332 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

(A) treffende Bestandsaufnahme kann eigene Aktivitäten könnte ein äußerst sinnvoller Beitrag der internationalen (C) nicht ersetzen. Es genügt nicht, immer wieder Pakistan Gemeinschaft sein. Der Charakter dieser Anstrengungen als einen Schlüssel zur Lösung der Probleme in der müsste jedoch weit über einen Projektcharakter hinausge- Region zu benennen, wenn der Analyse dann kaum kon- hen und langfristig angelegt sein. krete Projekte folgen. Pakistan hofft auf deutsche Unter- stützung bei der weiteren Stabilisierung und Demokrati- Uns sollte Mut machen, dass Pakistan trotz des verbrei- sierung des Landes. Deutschland ist hierbei als ehrlicher teten Analphabetismus auch über ein großes Reservoir Makler hochwillkommen. an gut ausgebildeten jungen Menschen verfügt, die Teil einer zukünftigen politischen und wirtschaftlichen Elite Wenn Deutschland einen Beitrag zur Stabilisierung sein können und wollen. Mit diesen Hoffnungsträgern Pakistans leisten will, muss es auch möglich sein, die pa- muss ein intensiver Dialog aufgenommen werden. kistanischen Sicherheitskräfte, insbesondere die Grenz- polizei, sowohl bei deren Ausbildung als auch bei der Von einer Stabilisierung Pakistans kann, insbesondere Ausstattung zu unterstützen. Pakistan muss vor allem in den teilautonomen Stammesgebieten im Nordwesten auch durch internationale Rückendeckung in die Lage des Landes, leider immer noch keine Rede sein. Der zu- versetzt werden, die Proliferation von sensiblem Wissen nehmende Verlust der Kontrolle im Swat-Tal, die An- und Technologien an nichtstaatliche Akteure zu verhin- griffe auf Nachschublager und Nachschubwege der dern. Hier war Pakistan in der Vergangenheit zu anfällig, ISAF am Khaiberpass und die große Zahl ziviler Ver- wie der Erfolg des Khan-Netzwerkes gezeigt hat. Ich luste bei Gefechten zwischen Extremisten und den pa- möchte die Bundesregierung ermuntern, die Anstrengun- kistanischen Sicherheitskräften machen wenig Mut. gen beim Ausbau der bilateralen Beziehungen deutlich zu Auch hier schweigt der Antrag der Regierungsfraktionen. verstärken. Ein Pakistan-Antrag, der kein Wort über die Operationen der amerikanischen Partner in den Stammesgebieten ver- Ich hoffe sehr, dass neue Impulse für ein stabileres liert, ist schlicht ungenügend. Die nationale Souveränität Pakistan auch von der Afghanistan-Konferenz in Den Pakistans ist zu achten. Auf der anderen Seite wäre es Haag ausgehen werden. Es ist aus meiner Sicht alterna- aber auch hilfreich, wenn die pakistanische Regierung ge- tivlos, eine internationale Strategie zur Stabilisierung genüber der eigenen Bevölkerung offener kommunizieren und Entwicklung der pakistanischen und zugleich der würde, dass sie mitunter auf die militärische Kooperation afghanischen Wirtschaft kurzfristig auf den Weg zu brin- mit den USA und anderen Partnern im Kampf gegen Ex- gen. Dies bedeutet neben der Entwicklung von lokalen tremisten und Terroristen im eigenen Land angewiesen ist. und regionalen Märkten auch die Öffnung westlicher Märkte für Produkte aus beiden Ländern. Lob verdient Darüber hinaus ist sich Pakistan aber zunehmend be- der Antrag deshalb auch dafür, dass sich die Regierungs- wusst, dass es einen eigenen Beitrag zur Bekämpfung (B) (D) fraktionen für den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen des internationalen Terrorismus leisten muss. Es besteht zum Iran einsetzen und sich damit auch wohltuend von auch die Bereitschaft Pakistans, dabei militärische Mittel der Iran-Politik der Bundesregierung absetzen. einzusetzen. Damit dies aber in der Praxis auch Erfolg haben kann, muss die pakistanische Bevölkerung diesen Ein weiterer gravierender Konfliktherd Pakistans ist Kampf gegen Extremisten und Terroristen als ein ureigenes die mangelhafte Versorgung mit Energie und Elektrizität. Anliegen begreifen. In der Vergangenheit war dies leider Die Gasversorgung über eine neue Pipeline aus dem Iran nicht der Fall. Die Wahrnehmung innerhalb der pakistani- wird von der internationalen Gemeinschaft bisher nicht schen Bevölkerung, dass das Vorgehen der pakistanischen gerade unterstützt, sodass die pakistanische Regierung Regierung und der Sicherheitskräfte lediglich stellvertretend kaum eine Alternative zu chinesischer Atomenergie hat, und im Auftrag der US-Amerikaner erfolge, ist fatal. um die 170 Millionen Bürger mit Energie zu versorgen. Gerade deshalb streut die Ausnahmeregelung der Nu- Ohne Frage ist Pakistan auch ein Jahr nach den Wahlen clear Suppliers Group zum Handel mit Nukleartechnolo- weiterhin von stabilen demokratischen Verhältnissen, gie für den indischen Nachbarn hier besonders Salz in wie wir sie uns vorstellen, entfernt. Daher brauchen wir die Wunde. Geduld und sollten unsere Erwartungen an die Geschwin- digkeit von Modernisierungsprozessen auf ein realistisches Gerade in dem Bereich der Energieversorgung könnte Maß reduzieren. Nur wenn wir die gesellschaftlichen und Deutschland einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung kulturellen Besonderheiten Pakistans verstehen, wird ein Pakistans leisten. Hilfe bei der konzeptionellen Entwick- Dialog mit Pakistan Erfolg haben können. lung und beim technologischen Ausbau erneuerbarer Energien wäre auf pakistanischer Seite hochwillkommen. Pakistan steht nicht an der Grenze zum Staatszerfall, Der Bau und die Wartung dieser Anlagen vor Ort würden und die Nuklearwaffen drohen derzeit auch nicht in die mittelfristig neue Arbeitsplätze generieren und knappe Hände von Extremisten zu fallen. Auch wenn sich die Ressourcen schonen. Rolle des Militärs in Pakistan mit unseren Vorstellungen von Streitkräften innerhalb einer Demokratie nicht ver- Ein weiterer Bereich, der eine Stabilisierung des Lan- einbaren lässt, so muss man aber konstatieren, dass es des gefährdet, ist das hohe Ausmaß an Analphabetismus auch in den Zeiten größter Instabilität die Kontrolle über sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen. Eine breit die pakistanischen Nuklearwaffen sichergestellt hat. angelegte, gut strukturierte Alphabetisierungskampagne, verbunden mit der Unterstützung beim Aufbau funktio- Die Wahlen im letzten Jahr haben gezeigt, dass die nierender staatlicher Schulen und entsprechender Curri- Masse der pakistanischen Bevölkerung die Islamisten cula unter Berücksichtigung religiöser Befindlichkeiten, nicht will und politisch nicht unterstützt. Sie haben nur Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23333

(A) einen Sitz im Parlament errungen und haben darüber hi- werden soll. Ich stelle fest: Deutschland exportiert Waf- (C) naus in den paschtunischen Stammesgebieten an der fen in ein Spannungsgebiet. Dass Pakistan ein Span- Grenze zu Afghanistan und in der Nordwestprovinz ihre nungsgebiet ist, kann man selbst in Ihrem Antrag nachle- Regierungsbeteiligung verloren. Die Bewegung der sen. Rechtsanwälte hat in den letzten Monaten gezeigt, dass es auch außerhalb der Parteien ein großes zivilgesell- Völlig lieblos wird in Ihrem Antrag die Idee einer re- schaftliches Potenzial in Pakistan gibt. gionalen Sicherheitskonferenz als ein Beitrag zur Been- digung des Krieges in Afghanistan behandelt. Die Linke Hierauf sollte die internationale Gemeinschaft aufbauen. hat seit Monaten immer wieder darauf hingewiesen, dass die Bundesregierung Initiativen für eine solche Konfe- Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Der Antrag der renz auf den Weg bringen muss. Das hat sich inzwischen Regierungskoalition „Pakistan stabilisieren und seine die Shanghai-Organisation zu eigen gemacht. Es ist ein demokratische Entwicklung vorantreiben“ verdient es, wichtiger Schritt, wenn Afghanistan, Pakistan und In- um diese Uhrzeit behandelt zu werden: ein nichtssagen- dien, der Iran, Russland und China sowie zentralasiati- der, langweiliger Antrag. In jeder Tageszeitung kann sche Staaten zusammentreten und über Sicherheit in der man mehr und Besseres zum Thema lesen. An irgendei- Region beraten. Im Zentrum dieser Beratungen stehen ner Stelle des Antrages stellen die Antragsteller fest: Möglichkeiten, den Afghanistan-Krieg zu beenden. Ein „Die Bundesregierung hat Pakistan zu einem Schwer- Ende des Krieges in Afghanistan stabilisiert auch Pakis- punkt ihrer Außen- und Entwicklungspolitik gemacht.“ tan. Wenn Schwerpunkte so aussehen, möchte ich nicht wis- Die neue US-Regierung stellt sich positiv zum Ge- sen, wie die Außen- und Entwicklungspolitik gegenüber danken der regionalen Sicherheit. Zumindest das hätte Ländern gestaltet werden soll, die kein Schwerpunkt die Regierungskoalition zu mehr Überlegungen als den sind. dürftigen Punkt 6 ihres Antrages führen können. Nota- Das Interessanteste an diesem Antrag sind die The- bene: Ein originärer deutscher Beitrag zu einer regiona- men, die nicht angesprochen werden: Der Antrag setzt len Sicherheitskonferenz könnte die Ankündigung des sich in keiner Weise mit den völkerrechtswidrigen An- Abzuges deutscher Soldaten aus Afghanistan sein. Das griffen der US-Armee auf pakistanische Grenzregionen wiederum ist von der jetzigen Bundesregierung nicht zu zu Afghanistan auseinander. Unter den Forderungen an erwarten. Regionale Sicherheitsstrukturen können auch die Bundesregierung fehlt dann selbstverständlich auch einen Einfluss auf die gewaltsame Auseinandersetzung die Aufforderung, gegenüber den Vereinigten Staaten um Kaschmir nehmen. von Amerika eine verbindliche Aussage über die Ein- Solche Vorschläge können Sie alle bei der Linken (B) stellung dieser Handlungen zu fordern. Zu Recht wird nachlesen. Unsere Vorschläge mindern die Gefahren mi- (D) auf das gespannte Verhältnis zwischen Indien und Pakis- litärischer Konflikte und sind insofern auch geeignet, tan hingewiesen. Aber die Antragsteller verweigern sich Terrorismus wirksam zu bekämpfen. einer Auseinandersetzung darüber, dass die deutsche Zu- stimmung zum Atom-Deal Indien–USA eben diese Spannungen verschärft und nicht zur Entspannung in der Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Region beigetragen hat. Es scheint so, dass nach wie vor Die Koalition hat einen Antrag zum Thema „Pakistan Forderungen an die USA für die deutsche Bundesregie- stabilisieren und demokratische Entwicklung vorantrei- rung und die sie tragende Koalition tabu sind. Mehr Mut, ben“ vorgelegt. Damit kommt bereits die gestiegene liebe Kolleginnen und Kollegen! Unter der Präsident- Aufmerksamkeit für Pakistan auch seitens der deutschen schaft Barack Obamas darf man auch die US-Adminis- Politik zum Ausdruck, was nicht zuletzt mit den wieder tration kritisieren. gewachsenen Spannungen zwischen Pakistan und Indien nach den Anschlägen in Mumbai im September 2008, Tatsache ist doch, dass die Luftangriffe auf pakistani- vor allem aber mit den bekannten Verbindungen zur sches Territorium nicht dazu beigetragen haben, den Ter- schwierigen Sicherheitslage in Afghanistan zusammen- rorismus zu bekämpfen, sondern terroristischen Organi- hängt. sationen Zulauf verschaffen und Rechtfertigung bieten. Tatsache ist auch, dass der Atom-Deal zwischen den Ich möchte hier ausdrücklich darauf hinweisen, dass USA und Indien der Glaubwürdigkeit der gesamten die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen vor Nichtweiterverbreitungspolitik schweren Schaden zuge- ziemlich genau einem Jahr, im April 2008, einen ähnli- fügt hat. Notwendig wäre gewesen, immer wieder auf chen Antrag vorgelegt hat, der von den Koalitionsfrak- Pakistan und auf Indien mit der Forderung nach atoma- tionen abgelehnt wurde. Der Titel lautete: „Für eine um- rer Abrüstung einzuwirken. fassende Strategie zur demokratieverträglichen und zivilgesellschaftlichen Stabilisierung Pakistans“. Die Ich weiß nicht, ob die Koalitionsfraktionen mittler- Ähnlichkeit des Titels mit dem heute diskutierten Antrag weile deutsche Rüstungslieferungen unter den Begriff der Koalitionsfraktionen ist schon frappierend. Und im Entwicklungszusammenarbeit subsumieren. Dieses Thema September 2008 haben wir einen Antrag eingebracht mit taucht im Antrag der Koalitionsfraktionen überhaupt dem Titel „Kontraproduktive US-Operationen in Pakis- nicht auf. Das lässt verschiedene Schlussfolgerungen zu: tan sofort einstellen – Umfassende Strategie zur Stabili- Entweder ist Ihnen das Thema so peinlich, dass sie nicht sierung Pakistans entwickeln“. Viele unserer Forderun- darüber reden wollen, oder Sie wollen verheimlichen, gen finden sich jetzt auch im Antrag der Koalition dass an der Rüstungszusammenarbeit nichts geändert wieder: vor allem die Forderung, Pakistans Weg Rich- 23334 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

(A) tung Rechtsstaatlichkeit und mehr Demokratie nach der der neue US-Präsident das Thema der Verhandlungen (C) Ära Musharraf zu unterstützen. Hier sind wir uns einig. mit sogenannten „gemäßigten Taliban“ prominent ange- Dazu muss die pakistanische Regierung die notwendigen sprochen hat. Reformen durchführen. Die internationale Gemeinschaft muss diesen Weg unterstützen, denn wir alle wissen, Das Thema der anhaltenden US-Luftangriffe mit dass eine Eindämmung extremistischer Rückzugsorte Drohnen auf mutmaßliche Taliban-Stützpunkte in den vor allem in den Stammesgebieten und dem Grenzgebiet Stammesgebieten wird im Antrag der Koalition schlicht zu Afghanistan und ein dauerhaft stabiles Pakistan ausgespart. Mit diesen Angriffen über die Grenze nach Grundvoraussetzungen nicht nur für eine Verbesserung Pakistan hinweg setzt die Obama-Regierung die Präven- der Lage in Afghanistan, sondern auch für Stabilität in tivschlag-Strategie der Bush-Regierung fort. Laut Pres- der ganzen Region sind. Dazu ist ein weiterer Ausbau seberichten denkt sie sogar über eine Ausweitung nach. der Entwicklungszusammenarbeit, vor allem Investitio- Diese Angriffe, bei denen wiederholt auch Zivilisten nen in Bildung und die wirtschaftlichen Perspektiven des ums Leben kamen, drohen die Autorität der pakistani- Landes notwendig. schen Regierung zu untergraben und so kontraproduktiv zu wirken. In dieser Frage erwarten wir eine klare Hal- Hoffnung gibt die jüngste Entwicklung und die Wie- tung der Bundesregierung, die einem nicht völkerrechts- dereinsetzung des Obersten Richters Iftikhar Chaudhry konformen Vorgehen bei der Terrorismusbekämpfung nach den landesweiten Demonstrationen der Anwälte- eine klare Absage erteilt. und Richterbewegung. Pakistan ist nicht nur das poten- ziell „gefährlichste Land der Welt“, wie es dieser Tage Dies steht in engem Zusammenhang mit der unge- manchmal heißt – es ist auch ein Land mit ungeheurem klärten Frage der OEF-Einsätze in Afghanistan, die Potenzial, einer breiten Zivilgesellschaft und einer be- keine ausreichende völkerrechtliche Grundlage mehr ha- merkenswert unabhängigen Medienlandschaft. Im Be- ben, sondern die Legitimität des gesamten Einsatzes ge- reich dieser Zivilgesellschaft würden wir uns noch mehr fährden. Dass diese Debatte, welche Bündnis 90/Die positives Engagement der internationalen Gemeinschaft, Grünen schon seit 2006 zu führen versuchen, alles an- der EU und der Bundesrepublik wünschen. An mögli- dere als eine Phantomdebatte ist, hat der jüngste Vorfall chen Partnern mangelt es in Pakistan nicht. Die Men- in Kundus gezeigt: Zum wiederholten Male sind Zivilis- schenrechte und die Lage der Frauen müssen dabei noch ten bei einem geheimen Kommandoeinsatz getötet wor- mehr in den Mittelpunkt rücken und als Schwerpunkt den, diesmal im deutschen Zuständigkeitsbereich. Dass nachhaltig gefördert werden. die deutschen ISAF-Verantwortlichen gar nicht infor- miert waren und mit dem Bürgermeister einer ihrer Ich will aber auch deutlich sagen, was wir in dem An- wichtigsten Partner zur Angriffsfläche wird, ist eine ab- trag der Koalition vermissen: Dazu zählt ein klares Be- (B) surde und unhaltbare Situation, welche die gesamten (D) kenntnis im Antrag, diese Spannungsregion mit einer Aufbaubemühungen gefährdet. Die Bundesregierung hat deutlichen Absage an Rüstungslieferungen nicht zu be- sich bisher geweigert, dazu kritisch Stellung zu nehmen. lasten. Wer in der jetzigen Situation Rüstungsexporten Ein Festhalten am Status quo ist keine Lösung. Wir müs- nach Pakistan oder Indien zustimmt, handelt unverant- sen diese schwierigen Fragen offen mit den Partnern dis- wortlich und nimmt das Risiko in Kauf, die wachsenden kutieren und die richtigen Antworten darauf finden, Spannungen zwischen den beiden Nuklearmächten an- wenn wir nicht in Kauf nehmen wollen, dass die Aus- zuheizen. sichten auf eine Stabilisierung in der Region noch schlechter werden. Die Chancen dafür, zum Beispiel auf Es fehlt auch eine neue strategische Ausrichtung. Es dem bevorstehenden NATO-Gipfel, müssen unbedingt gibt zwar jetzt einen Beauftragten des Auswärtigen Am- genutzt werden. tes, Bernd Mützelburg, für Afghanistan und Pakistan, was wir begrüßen. Aber während die neue US-Regie- rung ihre bisherige Politik umfassend evaluiert und in Kürze bei der Afghanistan-Konferenz in Den Haag die Anlage 7 Ergebnisse vorstellen wird, bleibt unklar, welche umfas- Zu Protokoll gegebene Reden senden strategischen Konzepte für Pakistan und die Re- gion die Bundesregierung eigentlich anstrebt. Dass zeigt zur Beratung des sich zum Beispiel bei der Frage nach effektiver Terroris- – Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Ände- musbekämpfung in Afghanistan und Pakistan. Im An- rung des Telekommunikationsgesetzes trag heißt es dazu, dass es hier eines „neuen Ansatzes“ bedürfe. Eine Antwort, was damit gemeint ist, bleibt der – Antrags: Möglichkeiten missbräuchlicher Antrag aber schuldig. Kritisch beschrieben wird das Ortung von Mobiltelefonen mittels privater jüngste Abkommen der pakistanischen Regierung mit Anbieter begegnen Taliban-Kräften in der Region Swat. Eine kritische Be- trachtung dieser Vereinbarung ist angebracht, da mit ihr (Tagesordnungspunkt 17 a und b) die Legitimität einer konservativen Auslegung von Sharia-Recht bereits zur Ermordung Oppositioneller und Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU): Die Telekom- einer drastischen Verschlechterung der Menschenrechts- munikationsbranche lebt und entwickelt sich rasant wei- lage geführt hat. Wer eine neue Strategie der Terroris- ter. Es ist klar, dass bei dem Innovationstempo auch der musbekämpfung einfordert, der muss aber auch die rechtliche Rahmen von Zeit zu Zeit überprüft werden Frage möglicher Verhandlungen ausloten, gerade wenn muss. Dies hat die Große Koalition mit dem vorliegenden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23335

(A) Gesetz erfolgreich getan: Wir schaffen den rechtlichen Die preiswerten Servicedienste, bei denen der Preis nicht (C) Rahmen für Innovation und einen zeitgemäßen Verbrau- – wie bei den 0900er-Nummern – vorher angesagt werden cherschutz. Gerade dieses Gesetz zeigt, dass wir Ver- muss, müssen von den wesentlich teureren Premium- braucherschutz und Innovation so kombiniert haben, diensten abgegrenzt werden. Bisher hat die Bundesnetz- dass sie sich gegenseitig befruchten und nicht behindern. agentur gemäß § 67 Abs. 2 TKG Preishöchstgrenzen für Ein weiterer wichtiger Baustein des Gesetzes ist die Anrufe aus dem Festnetz bei Servicediensten festgelegt. Fortführung des Vermittlungsdienstes für Menschen mit Eine Preishöchstgrenze für Anrufe von Handys gibt es Hörbehinderungen. zurzeit nicht, das heißt, Sie wissen nie genau – wenn Sie vorher nicht die geradezu sprichwörtlich transparenten Ich will auf die aus meiner Sicht wichtigsten Punkte Preisübersichten der Mobilfunkunternehmen studiert ha- eingehen: ben –, wie teuer das Gespräch eigentlich ist. Und das Zunächst möchte ich auf einen Missstand zu sprechen kann ins Geld gehen: Bis zu 87 Cent pro Minute werden kommen, der ehrliche Unternehmen schädigt und dem derzeit für solche Anrufe in Rechnung gestellt. Dies ist Verbraucher Leistungen aufzwingt, die er nicht möchte: unter dem Gesichtspunkt der Transparenz durchaus ver- Zurzeit muss die Betreibervorauswahl vom Netzbetreiber besserungsbedürftig. schon dann umgestellt werden, wenn ein Unternehmen Wir haben uns dafür entschieden, für Anrufe bei Ser- dem Netzbetreiber mitteilt, dass ein bestimmter Kunde vicediensten aus dem Festnetz eine Preishöchstgrenze sich für eine Betreibervorauswahl zu seinen Gunsten von 14 Cent pro Minute oder 20 Cent pro Anruf fest- entschieden hätte. So weit, so gut. Einige unseriöse Unter- zulegen. Dies orientiert sich an den von der Bundesnetz- nehmen haben daraus dann ein Selbstbedienungsmodell agentur schon bisher festgelegten Preisen. Um den zu Lasten aller anderen Beteiligten entwickelt: Raum der 0180er-Rufnummern abschließend zu struktu- Alles beginnt ganz harmlos. Eine freundliche Stimme rieren, haben wir uns auch für Preishöchstgrenzen für fragt, ob man nicht ohne lästige Sparvorwahl günstig tele- Anrufe aus den Mobilfunknetzen entschieden. Mit Regu- fonieren möchte. Dann ist gleichgültig, was geschieht: lierung hat das nichts zu tun. Solche Behauptungen wer- Selbst wenn Sie „Nein“ ins Telefon brüllen oder die Ver- den auch nicht durch ständige Wiederholungen wahrer. bindung unterbrechen, teilen die unseriösen Unterneh- Wir haben uns für Preisobergrenzen für den Mobil- men dem Netzbetreiber mit, dass Sie in Zukunft die Ge- funk auf 42 Cent pro Minute oder 60 Cent pro Anruf ent- spräche über dieses Unternehmen abwickeln wollten. schlossen. Damit tragen wir nicht nur den grundsätzlich Der Netzbetreiber stellt um, die Kunden erhalten keine anderen Kostenstrukturen im Mobilfunk Rechnung, son- Nachricht. Sie merken erst, wenn die ersten Rechnungen dern auch dem Vertrauen der Anbieter in ihre Geschäfts- vom Netzbetreiber und vom unseriösen Unternehmen modelle. Es wird allzu leicht vergessen, dass es hier (B) kommen, dass irgendetwas nicht stimmt und sie Opfer (D) nicht nur um die vier Mobilfunkanbieter geht, sondern krimineller Machenschaften geworden sind. Dann müssen auch um eine Vielzahl kleiner und mittelständischer die Kunden, oft ältere Menschen, von Pontius zu Pilatus Unternehmen, die die nachgefragten Dienstleistungen laufen, um den Ursprungszustand wiederherzustellen. erbringen. Bei der ursprünglichen Vorgabe des Regie- Geschädigt werden durch diese sogenannten unterge- rungsentwurfs wären hier existenzbedrohende Margen- schobenen Verträge nicht nur die Verbraucher, sondern schrumpfungen nicht auszuschließen gewesen. Es er- auch ihre ursprünglichen Vertragspartner, die durch die schien uns auch nicht angebracht, die Innovations- und Skrupellosigkeit der „schwarzen Schafe“ Kunden verlieren. Investitionskraft der Mobilfunker durch eine überzogene Diesem Missbrauch schieben wir heute einen Riegel Preishöchstgrenze zu schwächen. Deutschland braucht vor. Die Erklärung der Teilnehmer zur Einrichtung oder starke und leistungsfähige Mobilfunkanbieter, die auch Änderung der Betreibervorauswahl oder die Vollmacht die Erschließung des ländlichen Raumes mit schnellen zur Abgabe dieser Erklärung bedarf zukünftig der Text- Internetzugängen schultern können. form. Der Netzbetreiber stellt nur um, wenn eine schrift- Das Gesetz ermöglicht innovative Geschäftsmodelle. liche Erklärung des Konsumenten vorliegt – das kann Viele Menschen in der Bundesrepublik haben inzwi- eine Mail, eine SMS oder auch eine Postkarte sein. Sonst schen keinen Festnetzanschluss mehr, sondern telefonie- tut sich gar nichts. Auch wenn der eine oder andere ren ausschließlich mobil. Dies führt dann aber auch sehr Marktteilnehmer es lieber gehabt hätte, wenn nur eine oft dazu, dass diese Mobilfunkanschlüsse nicht mehr in notariell beglaubigte Erklärung wirksam wäre, glaube den Verzeichnissen der Telefonauskunft enthalten sind. ich, dass wir hier die Balance zwischen dem Schutz der Wir ebnen jetzt den Weg dafür, dass man andere Mobil- Verbraucher und der redlichen Marktteilnehmer einerseits funkteilnehmer, deren Nummern man nicht weiß und und der Akquisitionsmöglichkeiten für Wettbewerber auch nicht erfragen kann, trotzdem erreichen kann. Sie andererseits gewahrt haben. Hier zeigt sich wieder, dass rufen bei einem Dienst an und erbitten eine Mobilfunk- der Schutz der Lauterkeit des Wettbewerbs in vielen Fällen nummer. Weil der Dienst die nicht herausgeben darf, auch der beste Schutz der Konsumenten ist. Klarheit und schickt er dem angefragten Mobilfunkteilnehmer eine Wahrheit im Geschäftsleben nützt allen. SMS, in der er diesem Gesprächswunsch, Name und Bitte lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch Rückrufnummer übermittelt. Es muss gemäß § 95 Abs. 2 auf den nächsten großen Themenkomplex kommen: Die Satz 3 deutlich sichtbar und gut lesbar darauf hingewiesen Strukturierung des Raumes der 0180er-Rufnummern für werden, dass der Teilnehmer der Versendung weiterer Servicedienste, die zum Beispiel Versandhändler, Versi- Nachrichten jederzeit schriftlich oder elektronisch wider- cherungen, die Post und viele andere Dienstleister nutzen. sprechen kann. Diese Pflicht ist bußgeldbewehrt. Nach 23336 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

(A) erfolgtem Widerspruch ist die Übermittlung weiterer wirklich angerufen hat. Missachtungen werden mit einer (C) Kontaktwünsche unzulässig. Es ist also eine Opt-out-Mög- Geldbuße von bis zu 10 000 Euro geahndet. lichkeit gegeben. Dies ist wichtig, da niemand belästigt werden soll. Der Mobilfunkteilnehmer hat nun drei Mög- Diese Maßnahmen sind notwendig geworden, um der lichkeiten, auf die SMS mit der Rückrufbitte zu reagieren: Fülle der vermeintlich oder tatsächlich untergeschobe- ignorieren, weiteren Nachrichten solcher Art widerspre- nen Verträge entgegenzuwirken, die insbesondere ältere chen oder aber zurückrufen. Dies ist ein Dienst, der in Menschen getroffen hat. Nicht zuletzt stärken wir damit unsere mobile Zeit passt. Ein Dienst, der den Menschen alle seriösen Anbieter. nützt, innovativ ist und Arbeitsplätze sichert und schafft. In dieser Debatte geht es um die Änderung des Tele- Mit besonderer Freude habe ich gesehen, dass die kommunikationsgesetzes. Auch hier verfolgt die Große FDP beim anderen TK-Thema, den Diensten, die auf der Koalition das Ziel, die Verbraucherrechte zu verbessern Ortung eines Mobiltelefons basieren, die Linie der Großen und mehr Sicherheit und Transparenz zu schaffen. Im Koalition teilt. Die Standortdaten eines Handys können Bereich der Telekommunikation haben wir es mit einem heute leicht auch von Privatfirmen ermittelt werden und besonders dynamischen Markt zu tun. Neue technische für viele sinnvolle Dienste verwendet werden. Doch Möglichkeiten bringen immer wieder neue Geschäfts- auch hier gilt: Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. modelle hervor. Das ist prinzipiell gut so. Allerdings Unproblematisch sind Local Based Services, die dem In- muss der Gesetzgeber genau beobachten, wo es Ent- haber des Handys – insbesondere in der Fremde – das wicklungen im Markt gibt, die unerwünscht sind, und Leben erleichtern. Die guten Feen aus der Welt der gegebenenfalls nachjustieren, um die Rechte der Tele- Dienstleister nennen ihm in Windeseile die indischen fonkunden zu wahren oder zu stärken. Dabei müssen wir Restaurants, Werkstätten, Weinläden und vieles mehr in insbesondere folgende Fragestellungen im Auge behal- der Nähe seines Standorts. Hinter den Kulissen spielt ten: Wo gibt es Fehlentwicklungen? Wie können die sich Folgendes ab: Der Mobilfunkbetreiber übermittelt Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher wirksam die Standortdaten auf Wunsch des Nutzers dem Informa- gewahrt werden? Und wie können wir die Rahmenbe- tionsdienst. Der wiederum übermittelt die gewünschten dingungen für die TK-Unternehmen so setzen, dass wir Informationen dem Nutzer. Alle sind zufrieden. die wirtschaftliche Dynamik in diesem Bereich nicht un- nötig bremsen und auch weiterhin Anreize für Investitio- Anders sieht es in den Fällen aus, in denen die Stand- nen setzen? Insgesamt geht es also darum, die notwen- ortdaten Dritten oder anderen Mobilfunkteilnehmern dige Balance zwischen einem freien Markt und übermittelt werden. Hier besteht eine evidente Miss- brauchsgefahr. Ich will Ihnen dies an zwei Beispielen notwendigen Regulierungen zu wahren. (B) verdeutlichen: Person A überlässt ein Handy, das bei ei- Ein gutes Beispiel hierfür sind die 0180er-Rufnum- (D) nem Ortungsdienst angemeldet ist, Person B. Dadurch mern, die bisher „Geteilte-Kosten-Dienste“ heißen und kann Person A Person B über die praktische und kosten- nun im Gesetz als „Service-Dienste“ bezeichnet werden. günstige Ortungsflatrate kontrollieren und den Standort Über diese Rufnummerngasse bieten die unterschied- von Person B erfahren. Oder: Ein Jugendlicher meldet lichsten Organisationen und Unternehmen Dienstleistun- sich per SMS bei einem Dienst an, der es allen Mitglie- gen an, von Banken und Versicherungen bis hin zu Be- dern seiner Clique erlaubt, sich über den Aufenthaltsort hörden. Die Kunden beziehungsweise die Bürgerinnen der anderen zu informieren. Auch wenn er die lustige und Bürger können über diese Nummern Informationen SMS-Anmeldung längst vergessen hat, wird er geortet. oder andere Servicedienste abrufen. Es ist wichtig, diese Wir wollen die Dienste, aber nicht deren Missbrauch. Rufnummerngasse so auszugestalten und zu strukturie- ren, dass die Anrufenden wissen, welche Kosten bei der Martin Dörmann (SPD): Heute ist ein guter Tag für Nutzung auf sie zukommen. Zugleich wollen wir unseriö- den Verbraucherschutz in Deutschland: Vor wenigen se Anbieter, die nur ein möglichst gutes Geschäft ma- Stunden haben wir im Bundestag das Gesetz zur Be- chen wollen und den Rufnummernbereich zur „Tarnung“ kämpfung unerlaubter Telefonwerbung und zur Verbes- nutzen, fernhalten. Aus diesem Grund gab es bislang serung des Verbraucherschutzes bei besonderen Ver- schon eine Preishöchstgrenze für Anrufer aus dem Fest- triebsformen verabschiedet. netz in Höhe von 14 Cent pro Minute bzw. von 20 Cent pro Anruf. Neu eingeführt haben wir nun auch eine Künftig können Verträge, die am Telefon abgeschlos- Preishöchstgrenze für Anrufe aus dem Mobilfunknetz, sen worden sind, generell widerrufen werden. In der Ver- und zwar in Höhe von 42 Cent pro Minute bzw. von gangenheit haben sich unseriöse Unternehmen immer 60 Cent pro Anruf. Zugleich muss der Höchstpreis für wieder über das bereits geltende Recht hinweggesetzt, einen Anruf aus den Mobilfunknetzen künftig angege- wonach telefonische Werbung verboten ist, wenn der ben werden. Mit dieser Regelung tragen wir verschiede- Angerufene zuvor nicht eingewilligt hat. Die Verbrau- nen Aspekten in angemessener Weise Rechnung: Der cherinnen und Verbraucher dürfen nicht durch unerbe- von einem Handy Anrufende weiß nun, was ihn der An- tene Werbung belästigt oder geschädigt werden. Schwar- zen Schafen sagen wir nachdrücklich den Kampf an. ruf höchstens kostet. Die unterschiedlichen Kosten für Verstöße werden künftig mit einem Bußgeld von bis zu die Unternehmen bei Festnetz und Mobilfunk werden 50 000 Euro bestraft. berücksichtigt. Zugleich bleibt den Unternehmen Spiel- raum für Preiswettbewerb. Und es wird erreicht, dass ein Auch die Rufnummerunterdrückung bei Werbeanru- klarer Unterschied zur 0900er-Rufnummerngasse be- fen ist nun verboten. Nur so lässt sich feststellen, wer steht, in der höhere Preise möglich sind. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23337

(A) Im ursprünglichen Gesetzentwurf der Bundesregie- würde die betroffene Ehefrau als Nutzerin per Kurznach- (C) rung waren niedrigere Höchstpreise für Anrufer aus dem richt von der Ortung erfahren. Mobilfunknetz vorgesehen, während die Mobilfunkun- Die Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher ternehmen natürlich am liebsten auf neue Preisobergren- werden künftig auch durch den Schutz vor untergescho- zen verzichtet hätten. Die nun gefundenen Beträge sind benen Verträgen gestärkt. In der Vergangenheit war die aus Sicht der Koalitionsfraktionen ein ausgewogener Form des „Slamming“, also des Unterschiebens von Ver- Kompromiss. Er wird der Zielsetzung der Bundesregie- trägen, zu einer ärgerlichen Abzocke geworden, der das rung, keine Preisregulierung, sondern lediglich eine bes- Gesetz den Garaus machen will. War es bisher so, dass sere Strukturierung der Rufnummerngassen vorzuneh- die Umstellung des Telefonanschlusses auf eine Betrei- men, voll gerecht. Alle gesteckten Ziele werden erreicht, bervorauswahl (Preselection) praktisch auf Zuruf mög- ohne dass eine Überregulierung stattfindet, die die lich war, wird künftig das Textformerfordernis zu mehr Marktdynamik unnötig bremst. Wir wollen, dass die Rechtssicherheit bei allen Beteiligten führen. Viele Kun- Mobilfunkunternehmen auch in Zukunft im gesetzten den hatten gar nicht bemerkt, dass sie die Erklärung zu Rahmen mit unterschiedlichen Preisen in den Wettbe- einem Vertragswechsel gegeben haben sollen, weil sie werb gehen können. Zugleich wollen wir Investitionsan- am Telefon lediglich der Zusendung von Informations- reize nicht unnötig bremsen. Zudem ist die Vorleistungs- material zugestimmt hatten. So kam es in vielen Fällen kette in diesem Bereich zu berücksichtigen. Wir haben nicht nur zu berechtigtem Ärger bei den Betroffenen, es nämlich nicht nur mit den Telekommunikationsunter- sondern auch zu juristischen Streitigkeiten. Flankiert nehmen zu tun. Vielmehr werden die eigentlichen Tele- wird diese Maßnahme von dem bereits erwähnten Ge- fondienste von produzierenden Unternehmen erbracht, setz gegen unerlaubte Telefonwerbung, das ein allgemei- die auch ausreichend am Umsatz partizipieren müssen. nes Widerrufsrecht für am Telefon abgeschlossene Ver- Ein zu geringer Preis könnte den notwendigen Spielraum träge vorsieht. für solche Dienste infrage stellen und somit bestimmte Serviceleistungen gefährden. Zudem würde ein zusätzli- Des Weiteren geht es im Gesetzentwurf um die wirk- cher Lohndruck auf die Beschäftigten entstehen, den wir same Durchsetzung der europäischen Verordnung über vermeiden wollen. Der nunmehr festgelegte Höchstpreis das Roaming in öffentlichen Mobilfunknetzen. Diese wird diesen Gesichtspunkten gerecht. Dies ist auch ein sieht beispielsweise vor, dass den Kunden im europäi- Ergebnis der erweiterten Berichterstatterrunde, an der schen Ausland für abgehende und ankommende Anrufe zahlreiche Experten und auch die Oppositionsfraktionen keine überhöhten Preise in Rechnung gestellt werden. teilgenommen haben. Der Eurotarif soll ein hohes Verbraucherschutzniveau garantieren und zugleich für eine ausreichende Gewinn- spanne der beteiligten Unternehmen sorgen. Die tatsäch- (B) Ich will einen zweiten Punkt nennen, bei dem wir (D) ebenfalls zwischen den Interessen der Unternehmen ei- liche Umsetzung der Verordnung muss auf der nationa- nerseits und den Bedürfnissen der Verbraucherinnen und len Ebene sichergestellt werden. Hierzu sieht der Verbraucher andererseits einen vernünftigen Ausgleich Gesetzentwurf Bußgelder bei Verstößen der Unterneh- gefunden haben. In jüngerer Zeit werden zunehmend men vor. Außerdem werden die Befugnisse der Bundes- Dienste angeboten, bei denen die Teilnehmer ihr Handy netzagentur gestärkt. Die Regulierungsbehörde kann von orten lassen können und der Standpunkt verabredungs- sich aus tätig werden, um die Einhaltung der Verordnung gemäß an Dritte weitergegeben wird. Beispielsweise ge- zu gewährleisten, und kann bei Verstößen die sofortige schieht dies bei der Notfallortung älterer Menschen oder Beendigung anordnen. verlorengegangener Kinder. Ein anderes nutzerfreundli- Die Zahl der Mobilfunkverträge ist in den vergange- ches Beispiel wird unter dem Begriff „Social Commu- nen Jahren rapide angestiegen. Inzwischen gibt es in nity“ zusammengefasst: Hierbei lassen sich unterwegs Deutschland mehr Handys als Einwohner. Im Gegensatz Freunde und Bekannte mit deren vorheriger Zustim- zu den Inhabern von Festnetzanschlüssen sind die Han- mung lokalisieren, die der Handynutzer spontan treffen dybesitzer nur in geringem Umfang in den Teilnehmer- oder besuchen will. Bislang genügte zur Beauftragung verzeichnissen enthalten. Um hier Abhilfe zu schaffen, eines solchen Dienstes eine entsprechende SMS des soll der Inhaber eines Mobilfunkanschlusses künftig per Teilnehmers. Nun bewegen wir uns in diesem Bereich Textmitteilung über den Kontaktwunsch eines anderen allerdings in einem sensiblen Umfeld, bei dem es um Teilnehmers informiert werden. Dabei werden Name Datensicherheit geht. Möglichen Missbrauch durch und Telefonnummer des Interessenten angegeben. Der Dritte wollen wir unbedingt vermeiden. Aus diesem gesuchte Teilnehmer kann somit selbst entscheiden, ob Grund wird die Ortung eines Handys durch eine andere er den Kontakt erwidern will, ohne dass es zur Übermitt- Privatperson nun strengeren Vorgaben unterworfen. Zu- lung seiner Mobilfunknummer kommt. künftig bedarf es einer schriftlichen und ausdrücklichen Einwilligung des Teilnehmers, also des Inhabers der Te- Schließlich haben wir auch den Dienst für gehörlose lefonnummer. Zudem muss der Diensteanbieter den Nut- und hörgeschädigte Menschen umfassend geregelt. Diese können die bereitgestellten Vermittlungsdienste zer nach fünfmaliger Verwendung des Ortungsdienstes der Anbieter zu einem erschwinglichen Preis und unter informieren, sodass Kontrolle ermöglicht und Miss- Berücksichtigung ihrer besonderen Situation in An- brauch ausgeschlossen wird. Damit wird der Gefahr vor- spruch nehmen. gebeugt, dass beispielsweise ein Ehemann seiner Frau hinterherspionieren kann oder umgekehrt. Denn selbst Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ist es gelungen, wenn der Ehemann Inhaber des Handys sein sollte, die Verbraucherrechte so zu stärken, dass zugleich auch 23338 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

(A) für die Unternehmen ein zusätzlicher Nutzen entsteht, ven und immer wichtigeren Teil der Volkswirtschaft, der (C) sei es durch mehr Transparenz, attraktive Dienste oder bisher der Wirtschaftskrise besser trotzt als fast alle an- größere Rechtssicherheit. Deshalb bitte ich um Ihre Zu- deren Branchen. Gerade in der aktuellen Situation halte stimmung. ich das für töricht. Vor diesem Hintergrund möchte ich auch auf die Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): Der vorlie- Breitbandstrategie der Bundesregierung hinweisen, die gende Entwurf zur Änderung des Telekommunikations- nach eigenem Bekunden die Förderung einer wachs- gesetzes ist ein Flickwerk von Einzelmaßnahmen ohne tums- und investitionsorientierten Regulierung zum Ziel klare sachliche oder ordnungspolitische Linie. Die Bun- hat. Die vorgesehene gesetzliche Festschreibung von desregierung hat es bis heute nicht bewerkstelligt, fun- Preisobergrenzen, welche von tatsächlichen Preisbil- dierte Begründungen für einen großen Teil der Änderun- dungsprozessen vollständig entkoppelt ist, steht dem gen vorzulegen. Andere Stellschrauben werden sogar entgegen. Wir sollten keine widersprüchlichen Signale bewusst in die falsche Richtung gedreht. setzen, zumal für den Fall, dass sich die Bundesregie- Damit ich Ihnen nicht den Abend vermiese, beginne rung bei den ausgeheckten Preisen irrt – so etwas soll ja ich mit den positiven Aspekten des Gesetzentwurfes. So- vorkommen –, eine neuerliche Anpassung nur über den gar davon gibt es einige wenige. Zunächst ist zu begrü- gesetzlichen Weg möglich wäre. Unflexibler und fort- ßen, dass Sie das Thema Standortdaten aufgenommen schrittsfeindlicher geht es kaum, zumal diese Lösung die haben, wie es auch von der FDP vorgeschlagen wurde. Unabhängigkeit der Bundesnetzagentur aushebelt. Der Antrag der FDP dazu wird hier heute ebenfalls bera- Die nun hoffentlich baldmöglichst endende Legisla- ten, und ich bitte um Ihre Unterstützung. Ebenfalls be- turperiode ist gekennzeichnet von einer massiven Aus- grüßenswert ist die Ermöglichung eines innovativen weitung von Überwachung und Speicherungspflichten. Dienstes durch eine Ergänzung von § 95 Abs. 2, mit dem Dabei wurde ein gesundes Maß zwischen gebotenen Si- von beiden Seiten gewünschte Kontaktaufnahmen zwi- cherheitsinteressen einerseits und dem Schutz der Mei- schen Bürgern im Einklang mit Datenschutzerfordernis- nungs-, Medien- und Kommunikationsfreiheit anderer- sen ermöglicht werden. seits häufig nicht gefunden. Diese Tatsache wurde der Überhaupt kein Verständnis habe ich allerdings nach Bundesregierung von unterschiedlichsten gerichtlichen wie vor für die von der Bundesregierung vorgeschlage- Instanzen bereits mehrfach unter die Nase gerieben. Die nen Preisobergrenzen in der 0180er-Nummerngasse. Bei anstehende Änderung des TKG hätte die Möglichkeit er- einem erweiterten Berichterstattergespräch zu diesem öffnet, wenigstens eine kleine Verbesserung bei der Gesetzentwurf hatten wir uns alle gewünscht, die Argu- Rechtssicherheit im Telekommunikationsbereich durch (B) mente der Bundesregierung zu den Preisobergrenzen die Verlängerung des Bußgeldmoratoriums in § 150 (D) nachgeliefert zu bekommen. Wir mussten feststellen: Es Abs. 12 b zu erreichen. Auch das haben Sie versäumt, existierten keine, jedenfalls keine tragfähigen. Die Fest- ohne Begründung wohlgemerkt. Den ausformulierten setzung der Obergrenze ist völlig willkürlich, ordnungs- Änderungsantrag, welchen die FDP-Fraktion im Aus- politisch verfehlt und entbehrt jeglicher Notwendigkeit. schuss für Wirtschaft und Technologie gestellt hatte, ha- Bis heute konnten weder die Vertreter der Bundesregie- ben Sie ja leider einfach abgelehnt. rung noch die Vertreter der Großen Koalition nachvoll- Die FDP-Fraktion hat heute einen Entschließungsan- ziehbar darlegen, worin überhaupt der Anlass für einen trag zum TKG-Änderungsgesetz vorgelegt, der die größ- solch schwerwiegenden Eingriff in den Markt liegen ten Löcher des Regierungsentwurfs stopfen soll. Ich soll. Massenhafter Missbrauch zumindest konnte nicht bitte Sie nicht nur, sondern ich empfehle Ihnen nach- nachgewiesen werden; er liegt tatsächlich auch nicht vor. drücklich, diesem Ihre Zustimmung zu geben. Der er- Mich persönlich hat in diesem Zusammenhang auch folgreiche Wettbewerb zugunsten von Innovation und das Festhalten am Textformerfordernis nach wie vor Investitionen im Telekommunikationssektor, von dem nicht überzeugt. Bereits das geltende Recht verfügt über nicht zuletzt die Verbraucher durch attraktive Dienste hinreichende Mechanismen. Das Textformerfordernis er- und günstige Preise profitieren, muss fortgeführt wer- höht die Bürokratie und behindert den Wettbewerb; denn den. Der Regierungsentwurf zielt im Großen und Gan- viele auch vom Kunden eigentlich gewünschte Vertrags- zen genau in die andere, die falsche Richtung. Reißen wechsel werden aufgrund des Aufwandes, den das Text- Sie das Ruder noch herum! formerfordernis mit sich bringt, nicht abgeschlossen werden. Außerdem wird diese Vorgabe ohnehin nur die Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): Der Entwurf zur seriösen Anbieter treffen; die wenigen Abzocker lassen Änderung des Telekommunikationsgesetzes liegt jetzt sich doch davon nicht beeindrucken. Untergeschobene schon seit mehr als einem Jahr vor. Schade dass der Ver- Verträge – ob sie schriftlich hätten fixiert werden müssen braucherschutz von dieser Regierung immer wieder auf oder nicht – sind ja schon bisher nicht zulässig, kommen die lange Bank geschoben wird, bevor es zu Beschlüssen aber trotzdem vor. kommt. Wir hätten sicherlich gerne alle etwas länger ge- wartet, wenn in der Zwischenzeit noch grandiose Ver- Die FDP-Bundestagsfraktion kann dem vorliegenden besserungen am Gesetz erfolgt wären; aber das ist ja Gesetzentwurf daher nicht zustimmen. Es ist bedauer- nicht passiert. lich, dass auch die Vertreter der Großen Koalition den Telekommunikationsmarkt nach wie vor eher als Tum- Verstehen Sie mich nicht falsch. Die vorliegenden melbecken fieser Abzocker verstehen statt als innovati- Änderungen gehen zum Teil in die richtige Richtung. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23339

(A) Wenn beispielsweise Vermittlungsdienste für Gehörlose berauswahl gebracht. Dem Missbrauch bei der Betreiber- (C) verpflichtend eingeführt werden und wenn der Abzocke- auswahl soll mit dem Gesetz ein Riegel vorgeschoben rei mit Telefonservicediensten endlich zumindest ansatz- werden. Wir begrüßen, dass diese Problematik endlich weise entgegengetreten wird, dann ist das zu begrüßen. angegangen wird; doch leider geht der Gesetzentwurf Gerade Telefongespräche über die 0180-Vorwahl, die der Bundesregierung an dieser Stelle nicht weit genug. auch von öffentlichen Stellen benutzt wird, dürfen nicht Im Gesetzentwurf wird die Textform zur Bestätigung der zu teuer sein, wenn die Telefonrechnung keine bösen Betreiberauswahl vorgesehen. Dies reicht nicht aus, um Überraschungen bringen soll. Schade ist allerdings, dass Betrug wirksam zu bekämpfen, weil die bloße Textform die Bundesregierung so zaghaft handelt, wenn es um den nicht zwangsläufig eine eigenhändige Unterschrift vor- Schutz von Verbraucherinnen und Verbrauchern geht. sieht. Wir fordern, die Schriftform als verbindlich in das Noch schlimmer ist es, dass die Koalitionsfraktionen nur Gesetz aufzunehmen. Kunden müssten so für einen Ver- einen Tag vor der Beratung im Wirtschaftsausschuss den tragsabschluss den Stift in die Hand nehmen und wären Entwurf der Regierung noch einmal entscheidend ver- vor dubiosen Verträgen deutlich besser geschützt. schlechtert haben. Dafür sollten Sie sich schämen, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Union. Ähnlich unzureichend wie bei den untergeschobenen Verträgen sieht der Gesetzentwurf bei dem brisanten Der Verbraucherzentrale-Bundesverband betont be- Thema der Lokalisierungsdienste im Mobilfunk aus. reits seit langem, dass Preishöchstgrenzen für 0180er- Erstens ist dieses Thema erst durch die Stellungnahmen Nummern einheitlich bei 10 Cent liegen müssten, um die des Bundesrates auf die Agenda des Gesetzesentwurfs Verbraucher vor Abzocke zu schützen. Die Bundesregie- genommen worden, und zweitens wird das Problem des rung hatte die Höchstgrenze für Telefonate aus dem Datenschutzes nicht gelöst. Die FDP weist in ihrem Festnetz bei 14 Cent festgelegt und für Anrufe vom Antrag zu Recht auf das Recht einer jeden Person auf in- Handy – ohne triftige Begründung – sogar bei 28 Cent. formationelle Selbstbestimmung hin. Mit der jetzigen Jetzt kommt die Große Koalition und erhöht die Grenze Formulierung in § 98 Abs. 1 Satz 1 – „… seine Einwilli- im Mobilfunk in letzter Minute noch einmal auf 42 Cent. gung ausdrücklich, gesondert und schriftlich erteilen“ – Es ist klar, woher dieser Sinneswandel kommt; schließ- kann dem Problem des Missbrauchs nicht wirklich be- lich hatten die Telefonkonzerne im Vorfeld der Beratun- gegnet werden. Wenn Handyvertragspartnerin und Han- gen lauthals gejammert, sie würden bei Preisobergrenzen dynutzer auseinanderfallen, kann der Ortungsdienst nach überhaupt keine Gewinne mehr machen. SPD und Union wie vor untergeschoben werden. Wir finden den Vor- fallen ein weiteres Mal vor den Konzernlobbyisten auf schlag des BITKOM, eine Einwilligung per SMS zu ge- die Knie – ein trauriges Bild. ben, die mit einer Auftragsbestätigung per SMS und ei- ner Information, wie der Dienst sofort beendet werden (B) Auch beim Schutz vor untergeschobenen Verträgen kann, ergänzt durch SMS-Benachrichtigungen, verfol- (D) hätten Sie mutiger sein können, liebe Kolleginnen und genswert. So weiß jeder, sobald der Lokalisierungsdienst Kollegen von Union und SPD. Zu Recht beklagen ja ohne sein Wissen eingerichtet wurde, a) dass man über- auch Sie, dass unseriöse Unternehmen den Telefonver- wacht wird und b) wie man den Dienst wieder abstellen trag von Verbrauchern zum Teil ohne deren Wissen ab- kann. ändern lassen. Warum verlangen Sie aber in Ihrem Ge- setz bei der Betreibervorauswahl nur Textform und nicht Auch die Preisfestlegung für Anrufe bei Service- Schriftform, also eine eigenhändige Unterschrift des Te- diensten der 0180er-Nummern gibt uns Rätsel auf. Prin- lefonkunden? Wenn ein Kunde wirklich seinen Vertrag zipiell befürworten wir einen verbraucherfreundlichen ändern oder zu einem anderen Anbieter wechseln will, Schutz vor überhöhten Gebühren. Es bleibt aber offen, so sollte er das selbst mit seiner Unterschrift bestätigen – ob diese Preisfestsetzung in § 66 des TKG geregelt wer- nur so ließe sich Missbrauch wirklich ausschließen. den muss oder ob sie nicht Aufgabe der Bundesnetz- agentur ist. Die Preisgrenze von ursprünglich 28 Cent Dennoch: Kleine Verbesserungen sind besser als gar pro Minute und jetzt 42 Cent pro Minute für Anrufe aus keine. Deshalb wird Die Linke Ihr Gesetz nicht ableh- dem Mobilfunknetz sind beide nicht aus Kostenberech- nen, sondern sich enthalten. nungen oder einer Marktanalyse abgeleitet.

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im erweiterten Berichterstattergespräch zum TKG Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung forderte die Verbraucherzentrale Bundesverband sogar, des Telekommunikationsgesetzes setzt eine EU-Verord- den Preis noch weiter zu senken. Weder Verbandsvertre- nung zum Thema Roaming um und enthält gleichzeitig ter noch die Vertreter des BMWi konnten eine plausible weitere verbraucherpolitische Aspekte des Telekommu- Preiskalkulation vorlegen. Folglich erscheinen die Preis- nikationsmarktes. Wir begrüßen, dass mit dem Gesetz grenzen für den Mobilfunk aus der Luft gegriffen. Für Verbraucherrechte und der Verbraucherschutz gestärkt das Festnetz wird die Preisgrenze von 14 Cent pro Mi- werden sollen. Da Verbraucherschutz aber nachweislich nute aus dem Preis, der sich am Markt entwickelt hat nicht die Stärke der Großen Koalition ist, ist es wenig und von der Bundesnetzagentur festgesetzt wurde, abge- verwunderlich, dass einige Änderungen auf halber Stre- leitet. Uns bleibt aber verschlossen, wieso für Gespräche cke stehen bleiben und nicht des Pudels Kern treffen. aus Mobilfunknetzen ein dreifacher Preisaufschlag zu- lässig sein soll. Im Sinne der Verbraucherinnen und Ver- Konkret geht es um das Problem der sogenannten braucher hätten wir uns eine verpflichtende Preisansage untergeschobenen Verträge. Kunden werden ohne ihr zu Beginn eines Anrufs mit genauen Preisangaben ge- persönliches Einverständnis zur Umstellung der Betrei- wünscht. Dadurch wäre es ein Leichtes, Transparenz in 23340 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

(A) das Dickicht der unterschiedlichen Tarife für Service- Afrika, Asien und Südamerika nicht urplötzlich eine er- (C) dienste der 0180er-Nummern zu bringen. hebliche Zahl an dringend benötigten Fachkräften verlie- ren. An meinen Ausführungen wird deutlich, dass die Bundesregierung zwar den richtigen Ansatz verfolgt, Zur Schleuserproblematik. Ich glaube, es ist das Ziel aber mal wieder die nötige Konsequenz vermissen lässt. der meisten Fraktionen im Bundestag, Schleusern und Statt Probleme umfassend im Sinne der Verbraucher zu Schleppern das Handwerk zu legen. Wir können dem lösen, wird ein Gesetzentwurf mit vielen Lücken vorge- tödlichen Geschäft der Schleuserbanden die Existenz- legt. grundlage nur entziehen, indem wir dann, wenn im Falle ihrer Heimkehr keine Gefahr für die Menschen besteht, Rückführungen auch konsequent durchführen. Ihr Be- Anlage 8 mühen, illegalen Flüchtlingen aus humanitären Erwä- gungen heraus zu einem dauerhaften Bleiberecht zu ver- Zu Protokoll gegebene Reden helfen, in allen Ehren. Aber Legalisierungskampagnen, wie Sie sie in Ihrem Europawahlprogramm fordern, zur Beratung der Beschlussempfehlung und des könnten von Schleppern und Schleusern eher als Ermun- Berichts zu dem Antrag: Für eine zukunftstaug- terung verstanden werden. Wenn Sie auch noch Gesund- liche und menschenrechtlich fundierte Europäi- heitsversorgung und Schulbesuch fordern, dann fehlen sche Migrationspolitik (Tagesordnungspunkt 18) mir schon die Worte. Schließlich muss sich in den Her- kunftsländern herumsprechen, dass es nicht attraktiv ist, Hans-Werner Kammer (CDU/CSU): Was die Frak- auf illegalem Wege nach Europa zu kommen. tion Bündnis 90/Die Grünen uns hier als Antrag auf- tischt, kommt mir vor wie ein Eintopf. Willkürlich haben Leider unterstellen Sie in Ihrem Antrag dem Europäi- Sie verschiedene Zutaten aus dem Gemischtwarenladen schen Migrations- und Asylpakt, er sei überwiegend re- Ihrer Flüchtlingspolitik zu einem bunten Eintopf zusam- striktiv formuliert. Das ist der Pakt nicht; Europa lässt mengerührt. Ob dieser Eintopf so gut schmeckt wie der die Herkunftsländer mit ihren Sorgen nicht allein. Wir samstägliche Eintopf bei mir zu Hause, wage ich zu be- sehen die Partnerschaft mit den Herkunftsstaaten als eine zweifeln. dringende Notwendigkeit, um illegale Migration mit all ihren Gefahren, auch und gerade für die Migrantinnen Der Europäische Pakt zu Einwanderung und Asyl hat und Migranten, zu bekämpfen. Ich zitiere an dieser eine koordinierte Einwanderungs- und Asylpolitik der Stelle den Bundesinnenminister: Mitgliedstaaten zum Ziel. Keineswegs geht es darum, Europa zu einer undurchlässigen Festung zu machen, … und das erreichen wir natürlich besser, wenn wir (B) (D) wie vielfach von linker Seite behauptet wird. Wir wollen es als Europäer gemeinsam machen. Wenn wir ge- in und für die EU legale Wege zur Einwanderung benö- meinsam handeln, haben wir eher eine Möglichkeit, tigter Arbeitskräfte öffnen. Illegale Einwanderer sollen afrikanische Staaten davon zu überzeugen, dass es in ihre Heimat zurückgeschickt werden, können aber aus in ihrem Interesse ist, Illegale auch zurückzuneh- wirtschaftlichen Gründen auch Aufenthaltsgenehmigun- men. gen bekommen. Es ist richtig, dass diese Entscheidungen Zur Bekämpfung von Schleuserbanden gehört, dass in den Mitgliedstaaten gefällt werden. Denn nur dort die Arbeit von FRONTEX gestärkt wird. Ich bitte Sie, kann am besten beurteilt werden, ob die wirtschaftliche Ihre ideologischen Scheuklappen und Ihr stetes Miss- Situation und die Lage am Arbeitsmarkt Zuwanderung trauen gegen Polizei und Militär abzulegen. Die Bundes- erforderlich machen. Wir möchten wirtschaftliche Mi- polizei beteiligt sich mit Hubschraubern daran, gration ermöglichen, dies aber doch an den Erfordernis- Menschen, die durch gewissenlose Schleuser in Lebens- sen der Menschen, gleich ob Deutsche oder ausländische gefahr gebracht wurden, aus selbiger zu retten. FRON- Mitmenschen, die bereits bei uns leben und arbeiten, TEX nimmt an den Außengrenzen die Aufgaben war, die orientieren. wir früher an den Binnengrenzen der EU, welche, Gott sei Dank, nicht mehr da sind, ausgeführt haben. Die Was Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bünd- Floskel von der „Festung Europa“ soll wohl suggerieren, nis 90/Die Grünen, wollen, ist eine unkontrollierte Zu- dass wir uns hier einmauern und niemanden reinlassen wanderung auf unseren Arbeitsmarkt und damit auch in wollen. Das Gegenteil ist der Fall: Wir fördern eine maß- unser Sozialsystem. Das kann man nur als verantwor- geschneiderte und passgenaue Migration, die den Men- tungslos bezeichnen. Wenn Fachkräfte benötigt werden schen, sowohl denen, die nach Europa kommen wollen, und unter den bereits hier lebenden Menschen nicht zu als auch unseren Bürgerinnen und Bürgern, gerecht finden sind, dann, aber auch nur dann sollten wir natür- wird. Dabei handeln wir natürlich auch in Verantwor- lich auf einwanderungspolitische Instrumente zurück- tung für unsere Sicherheit und unsere Arbeitsmärkte. greifen. Es ist unbestritten, dass wir in dem einen oder Wir begreifen die Globalisierung auch im Migrationsbe- anderen Bereich Einwanderung benötigen werden. Es reich als Chance für uns und für die Herkunftsländer. Ich kann jedoch nicht unser Auftrag sein, hier lebende Fach- finde es unerträglich wie hier mit dem Kampfbegriff kräfte durch Zuwanderer zu ersetzen, nur weil Erstere „Festung Europa“ Stimmung gemacht wird. „zu teuer“ sind. Wir sind ferner in der Verantwortung ge- genüber den Ländern, aus denen die Menschen zuwan- Dann fordern Sie für Drittstaatsangehörige, die sich dern wollen. Gesteuerte Zuwanderung bedeutet nämlich länger hier in Deutschland aufhalten, als Beitrag zu de- auch, dass dafür Sorge getragen wird, dass die Länder in ren besserer Integration aktives und passives Wahlrecht. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23341

(A) Für die kommunale Ebene haben wir im Koalitionsver- gestaltet und angewandt – dazu beitragen, dass Europa (C) trag einen Prüfauftrag dazu vereinbart, und dazu gibt es vor allem im Wettbewerb mit anderen Einwanderungs- ja, das will ich gerne einräumen, unterschiedliche ländern – ein solches ist Deutschland – an Attraktivität Rechtsauffassungen. Ich sage aber ganz klar, dass ein gewinnt. Das ist dringend notwendig; denn wir brauchen solches Wahlrecht am Endpunkt der erfolgreichen Inte- Einwanderung Hochqualifizierter als Bereicherung für gration eines ausländischen Mitbürgers, nämlich mit unsere Gesellschaft. dem Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit, stehen Aber wir brauchen eben nicht nur die hochqualifizierten sollte. Volle Staatsbürgerrechte stehen am Ende einer ge- Einwanderer, um zum Beispiel den Folgen des demografi- glückten Integration nicht am Anfang. Alles andere wäre schen Alterungsprozesses und dem Problem des Fachkräf- widersinnig. Hinzu kommt, dass sich zwar die Mehrheit temangels nachhaltig begegnen zu können. Langfristig der hier lebenden Drittstaatsangehörigen nach Recht und wollen wir die Vorrangprüfung als Grundsatz der deutschen Gesetz verhalten, es aber auch eine kleine Minderheit Migrationspolitik nach und nach aufheben und schließ- gibt, die insbesondere das passive Wahlrecht dazu nut- lich ein Punktesystem mit Kontingenten für die Anzahl zen, sich für politische Ideologien und ausländische der Arbeitsmigranten einführen. Das ist, wie Sie alle Gruppierungen einsetzen, die mit unserem Verständnis wissen, keineswegs ein neuer Gedanke; die Einführung von einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung eines Punktesystems war unter der rot-grünen Bundes- nichts zu tun haben. Sie täuschen sich, wenn Sie denken, regierung Gegenstand der Verhandlungen zum neuen ein von vornherein eingeräumtes Wahlrecht sei ein Mit- Zuwanderungsrecht. Damals scheiterte dieses Vorhaben tel zur Integration. Das stimmt nur insofern, als das am Widerstand der CDU/CSU im Bundesrat. Wahlrecht und alle Staatsbürgerschaftsrechte ein Anreiz für Integrationsbemühungen der Migranten darstellen. Möglichkeiten zur legalen Migration können zudem Sie und ja wohl auch der SPD-Kollege Veit wollen das dazu beitragen, illegale Einwanderung nach Europa ein- Pferd von hinten aufzäumen, indem Sie das Wahlrecht zudämmen. an jeden verschenken wollen. Wir sind einer Meinung mit den Antragstellern, die ei- Was die gebetsmühlenartig vorgetragene Behauptung nen menschenrechtlich einwandfreien Umgang mit soge- angeht, ein Großteil der Kommunen begrüßen dies eben- nannten Bootsflüchtlingen fordern. Menschenrechte sind falls, so muss ich Ihnen leider sagen: Diese Behauptung universell gültig, ohne Frage. Das ist selbstverständlich. wird durch permanente Wiederholung nicht richtiger. Im Die Thematik der Bootsflüchtlinge und die Gefahr der Gegenteil, der Deutsche Städtetag lehnt dies ab. Gleich- Umgehung des Refoulement-Verbotes sind uns daher sehr wohl wissen wir natürlich, dass Migrantinnen und Mi- präsent, insbesondere die Problematik der sogenannten granten aus Drittstaaten bei den Angelegenheiten, die sie gemischten Migrationsströme, also Migrantengruppen, (B) betreffen, ein Mitspracherecht brauchen. Dazu gibt es in deren Mitglieder zum einen aus Migranten bestehen, die (D) vielen Kommunen kommunale Ausländerbeiräte, wo zum Zweck der illegalen Arbeit nach Europa wollen, auf Drittstaatsangehörige am kommunalen Geschehen betei- der anderen Seite aber auch aus Migranten, die nach in- ligt werden. Und man kann sicher bei den Kommunen in ternationalen Konventionen schutzbedürftig sind. Letz- Deutschland dafür werben, von dieser Möglichkeit stär- teren muss nach unserer Überzeugung Zugang zu einem ker Gebrauch zu machen; denn ein Gremium, in dem so- Staatsgebiet gewährt werden, auf dem solche Verfahren wohl die Integrationswilligen als auch die integrierenden überhaupt möglich sind. Dies ist in keinem afrikanischen Kommunen zusammenkommen, kann bei der Integra- Staat der Fall. Die Thematik der gemischten Flüchtlings- tion nur helfen. ströme haben wir anlässlich einer Dienstreise von Mit- gliedern der AG Inneres nach Warschau gerade letzte Der von Ihnen hier zusammengerührte Eintopf ist we- Woche mit dem Strategic Development Officer bei der für die Migranten noch für unsere Bürgerinnen und FRONTEX erörtert. Es ist klar geworden, dass es für den Bürger bekömmlich. Deshalb lehnen CDU und CSU den Umgang mit Bootsflüchtlingen keine einheitliche Hand- Antrag ab. Die CDU/CSU steht voll und ganz hinter der habe gibt, aber eine solche dringend notwendig ist. Einwanderungs- und Asylpolitik von Herrn Bundes- innenminister Dr. Schäuble, auch wenn diese von eini- Wir unterstützen daher die Empfehlung des Deutschen gen Kolleginnen und Kollegen der SPD nicht voll unter- Institutes für Menschenrechte, den Schengener Grenzkodex stützt wird. menschenrechtskonform auszugestalten und verbindliche Regelungen für den Umgang mit Bootsflüchtlingen sowie eine Entlastung der EU-Randstaaten auf EU-Ebene zu Rüdiger Veit (SPD): Vor fünf Monaten haben wir beschließen. Solange ein solidarisches System in der EU hier schon einmal über diesen Antrag debattiert, und fehlt, das die durch Asylanträge und Grenzschutz über- schon damals habe ich gesagt, dass der Antrag aus Sicht proportional belasteten Randstaaten wie Griechenland, der SPD-Fraktion ganz überwiegend richtigen Inhalts ist. Malta, Spanien oder Italien entlastet, und der Schengener Grenzkodex grundlegende Menschenrechtsstandards nicht Inzwischen hat auch das Europäische Parlament der klar und verbindlich festschreibt, solange wird sich an der Blue-Card-Richtlinie Ende November zugestimmt. In gegenwärtigen unbefriedigenden Situation nichts ändern. diesem Punkt hat die – positive – Realität den Antrag überholt. Die SPD-Bundestagsfraktion und die sozialde- Die SPD-Fraktion wird sich in der EU für eine solche mokratischen Abgeordneten im Europäischen Parlament Änderung einsetzen. Nur so kann Deutschland seiner haben die Blue-Card-Initiative immer ausdrücklich be- Verantwortung für den Grundrechtsschutz an der ge- grüßt. Ohne Zweifel wird die Regelung – vernünftig aus- meinsamen EU-Außengrenze gerecht werden. 23342 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

(A) Die weiteren im Antrag enthaltenen Ideen zur Sicher- sperren zurzeit noch über keinerlei Standards verfügen. (C) stellung des menschenrechtskonformen Umgangs mit Mit Bauchschmerzen haben unsere europäischen Kolle- Bootsflüchtlingen wie zum Beispiel eine intensive Schu- ginnen und Kollegen daher die Regelung befürwortet. lung für Mitarbeiter von europäischen- und Grenzschutz- Diesen umkämpften Kompromiss jetzt noch einmal auf- behörden bezüglich internationalen Menschenrechts- und zuschnüren ist illusorisch. Flüchtlingsschutzes und die Sicherstellung einer parlamen- Die Aufgabe, die jetzt vor uns als Parlamentarier eines tarischen Kontrolle der Grenzschutzagentur FRONTEX mitgliedstaatlichen Parlamentes vor allem liegt, ist eine sind gut. Gerne werden wir diese Vorschläge aufgreifen andere als die im Antrag vorgeschlagene. Ich möchte in und ebenfalls auf EU-Ebene unterstützen. diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf verweisen, Wie sie alle wissen, hat der Rat der Europäischen dass es eine politische Verabredung im Rat gab, wonach Union mit Beschluss vom 27. November letzten Jahres sich die Mitgliedstaaten verpflichtet haben, bestehende die Aufnahme von insgesamt 10 000 irakischen Flücht- innerstaatliche Standards nicht abzusenken, sofern sie lingen aus Syrien und Jordanien beschlossen. Bund und höher als die von der Richtlinie vorgegebenen sind. Länder haben sich geeinigt, 2 500 Flüchtlingen die Auf- Deshalb müssen wir nunmehr unsere innerstaatlichen nahme – Resettlement – in Deutschland zu gewähren. Standards prüfen und sie anheben, wo die Richtlinie dies Die ersten Flüchtlinge sind bereits in Deutschland ange- erfordert, ohne sie abzusenken, wo sie es erlaubt. Mittel- kommen. Auch wenn diese Aktion einmalig sein sollte fristig werden wir jedoch auf eine Anhebung der einzel- und nicht unter dem Stichpunkt eines allgemeinen Re- nen Standards auch auf europäischer Ebene hinarbeiten. settlement-Programms für die EU diskutiert worden ist, Auch müssen für Abschiebegefängnisse europäische so freue ich mich darüber und werte die Aufnahme der Mindeststandards gelten, damit die Menschen und ins- irakischen Flüchtlinge quasi als Fortschritt hin zu einem besondere besonders schutzbedürftige Personengruppen EU-weiten Resettlement-Programm. Dem können Sie wie Frauen, unbegleitete Minderjährige und Behinderte unschwer entnehmen, dass wir auch für die Etablierung nicht unwürdig untergebracht werden. eines solchen europaweiten Systems sind. Wiederholt Gleichwohl hätten wir uns im Zusammenhang mit der hat zudem Bundesinnenminister Schäuble das Thema Rückführungsrichtlinie aber vor allem gewünscht, dass bei JI-Treffen auf die Tagesordnung gesetzt, und wir eine Inhaftierung Minderjähriger grundsätzlich aus- werden ihn in diesem Punkt weiter unterstützen. geschlossen ist oder zumindest Altersuntergrenzen fest- Im Asylbereich streiten wir auf EU-Ebene – wie die gelegt werden. Außerdem ist die in der Richtlinie einge- Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen – räumte Möglichkeit einer Haftdauer von bis zu achtzehn für eine gleichmäßigere und solidarischere Lastenvertei- Monaten zu lang, erst recht natürlich für ein Kind. lung bei der Aufnahme von Flüchtlingen und den anfallen- (B) Unbegleitete Kinder und Jugendliche sind von den (D) den Kosten nicht nur im Zusammenhang mit den Boots- Restriktionen in der Abschiebungshaft ganz besonders flüchtlingen. Wir stehen hier unter zwei Gesichtspunkten in betroffen; darüber besteht zwischen uns sicher Einigkeit. der Verantwortung: Erstens müssen wir häufiger als bisher Die Erfahrung der Haft in einem Land, von dem sich die von der Möglichkeit des Selbsteintrittsrecht Gebrauch Kinder und Jugendlichen Sicherheit und Schutz vor der machen, wenn in dem nach der Dublin-II-Verordnung Verfolgung im Herkunftsland erhofft haben, hat immense zuständigen Staat die Durchführung eines rechtsstaatlichen Auswirkungen auf die aktuelle psychische Situation der Asylverfahrens nicht gewährleistet ist. Sie wissen, dass Betroffenen und auf ihre weitere Entwicklung. In inter- das zum Beispiel in Griechenland leider nicht der Fall nationalen Übereinkommen wie der UN-Kinderrechts- ist. Das führt mich zum zweiten Gesichtspunkt: So richtig konvention werden deshalb hohe Hürden gegen die es ist, dass die Zustände in Griechenland dramatisch Inhaftierung Minderjähriger errichtet. Der Hohe Flücht- sind, so falsch wäre es, hier allein mit dem erhobenen lingskommissar der Vereinten Nationen – UNHCR – in- Zeigefinger zu reagieren. Wichtiger ist es, ein europäi- terpretiert die UN-Kinderrechtskonvention so, dass sches Lastenteilungssystem zu etablieren, damit wir inner- Abschiebungshaft bei Kindern unter 16 Jahren grund- halb einer solidarischen Gemeinschaft von EU-Mitglied- sätzlich nicht und bei Jugendlichen unter 18 Jahren nur staaten die Staaten an den Südgrenzen der EU mit ihren als letztes Mittel verhängt werden darf. Herausforderungen nicht alleine lassen. Wir werden uns deshalb nicht nur bei der anstehenden Überarbeitung der In einigen Bundesländern existieren Erlasse, die die Dublin-II-Verordnung dafür einsetzen, dass Personen Verhängung von Abschiebungshaft bei Kindern unter nur dann in das Erstasylland zurückgeschoben werden 16 Jahren generell untersagen, so in Baden-Württem- können, wenn dort die Durchführung eines vollständigen berg, Bayern, Bremen, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Asylverfahrens garantiert ist. Wir werden uns auch für Schleswig-Holstein, Thüringen. Unser Ziel sollte es die geforderte Lastenteilung einsetzen. sein, dies unbedingt für alle Bundesländer zu erreichen. Zum Thema Rückführungsrichtlinie habe ich schon in Ich möchte jetzt noch ein Stichwort nennen, das nicht in meinem ersten Redebeitrag zu diesem Antrag festgestellt, dem vorliegenden Antrag vorkommt, aber zum Gesamt- dass sie inhaltlich sowohl für unsere Kolleginnen und kontext sehr wohl gehört. Auch habe ich es schon in Kollegen in Brüssel als auch für uns ein schwerer Kom- meinem Redebeitrag zu diesem Antrag in erster Bera- promiss war und ist. Immerhin legt sie aber allgemein- tung und bei vielen anderen Gelegenheiten genannt: verbindliche Mindeststandards fest. Das ist insbesondere Beschulung von Kindern ohne einen legalen Aufenthalts- für die Staaten von Bedeutung, die in zentralen Fragen wie status. Wiederholt möchte ich darauf hinweisen, dass wir der Haftdauer oder der Befristung von Wiedereinreise- in dieser Angelegenheit meiner Ansicht nach eine Eini- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23343

(A) gung dahin gehend gefunden haben, das sich illegal bei müssen die wirklichen Ursachen dieser Flüchtlings- (C) uns aufhältigen Kindern der Schulbesuch ohne Angst ströme bekämpfen. vor Entdeckung – sonst ist es eben in der Praxis nicht die Durch den Antrag wird auch der Eindruck erweckt, Gewährung des Schulbesuchs – gewährleistet werden dass nicht nur bei den Linken, sondern auch bei bestimm- muss. Für diejenigen unter Ihnen, die immer noch nicht ten Vertretern der Grünen nach wie vor eine naive Freude ganz überzeugt sind, habe ich etwas Neues, nämlich an unkontrollierter und unsteuerbarer Zuwanderung be- Plausibilitätsüberlegungen und Alternativberechnungen steht. Wir brauchen eine Steuerung der Zuwanderung, zur Zahl der Kinder ohne Aufenthaltsstatus, vorgestellt keine Ausweitung der Anreize und Vereinfachungen der und erarbeitet von Frau Dr. Dita Vogel, Hamburgisches Möglichkeiten der unkontrollierten Zuwanderung. Nur WeltWirtschaftsInstitut, anlässlich der V. Jahrestagung dann können wir diffuse Ängste bei den Bürgern unseres Illegalität Anfang März dieses Jahres. Gemäß den Über- Landes abbauen. legungen von Frau Dr. Vogel erscheint eine Zahl von mindestens 8 000 und maximal 30 000 Kindern ohne Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sind sich Aufenthaltsstatus – 0 bis unter 16 Jahre – für die heutige einig, dass der stärkere Zuzug von Fachkräften nach Situation in der Bundesrepublik Deutschland plausibel. Deutschland ein Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslo- Bezieht man diese Zahlen auf die Gesamtzahl von mehr sigkeit bei uns ist; denn der Einsatz jeder weiteren Fach- als 9 Millionen Schülerinnen und Schülern in allgemein- kraft zieht weitere Arbeitsplätze nach sich. Gerade in bildenden Schulen in Deutschland, kommt man auf An- wirtschaftlich schwierigen Zeiten ist eine Zukunftssiche- teile von 0,09 bis 0,7 Prozent. 0,09 oder 0,7 Prozent Kin- rung durch Forschung und Entwicklung neuer Produkte der ohne einen Aufenthaltstitel an deutschen Schulen, durch Fachkräfte erforderlich. das kann unser System frag- und problemlos gut verkraf- Die FDP fordert deshalb ein Punktesystem, das die ten. Davor sollten nun wirklich auch die Zweifler unter Zuwanderung nach klaren Kriterien steuert und auch un- Ihnen keine Angst haben. Ich fordere Sie noch einmal sere Interessen und Erwartungen an die Zuwanderer klar auf, hier auf eine Reform der Mitteilungspflichten hinzu- definiert. Es kommt vor allem auf die professionelle wirken und vor allem auch mit den Ländervertretern in Qualifikation und die gesellschaftliche Integrationsfä- Kontakt zu treten. higkeit der Migranten an. Wenn ich vor fünf Monaten an gleicher Stelle zum Wir Liberalen freuen uns natürlich, wenn die Grünen selben Antrag gesagt habe, dass es bezüglich der Voraus- ähnliche Forderungen erheben. Wir halten auch eine EU- setzung des deutschen Spracherwerbs im Ausland für weite Diskussion über die Zuwanderung von Hochqualifi- nachziehende Ehegatten für Ausländer, aber auch bezüg- zierten und Fachkräften für begrüßenswert. Die konkreten (B) lich des Erwerbs der deutschen Sprache im Ausland als Maßnahmen dafür müssen allerdings in den Mitglied- (D) Voraussetzung für den Ehegattennachzug von Dritt- staaten und nicht in Brüssel erarbeitet werden, da die spe- staatsangehörigen zu Unionsbürgern mit der Fraktion zifischen Bedingungen der Arbeitsmärkte und vor allem der CDU/CSU einen unüberbrückbaren Dissens gibt, so auch der sozialen Sicherungssysteme zu stark divergie- kann ich das heute nur wiederholen und anfügen, das die ren. Hier ist die Bundesregierung für die Steuerung des uns in der Koalition in diesen Punkten trennende Kluft Zuzugs nach Deutschland dringend gefordert. Sie hat bis- in den vergangenen letzten fünf Monaten nicht kleiner her versäumt, ein schlüssiges Gesamtkonzept vorzulegen. geworden ist. Wir sind auf die gesteuerte Zuwanderung von Hoch- In einigen Bereichen des vorliegenden Antrages sind qualifizierten und Fachkräften angewiesen. Deutschland wir als Große Koalition schon auf einem guten Weg, in droht, den Wettbewerb um die klügsten Köpfe zu verlie- anderen – das ist der Hauptgrund dafür, dass wir ihn ren. Es wird Zeit, endlich alten ideologischen Ballast heute wieder ablehnen müssen – sind wir als SPD-Frak- über Bord zu werfen und sich modernen Konzepten zu- tion aufgrund der derzeitigen Koalitionsbindung zu einer zuwenden. Die FDP kann und will die Bundesregierung Zustimmung nicht in der Lage, auch wenn wir viele aus dieser Verantwortung nicht entlassen. Punkte für richtig halten. Deutschland ist Nettozahler in der EU. Die Grünen verlangen mit ihrer Forderung im Ergebnis, dass der Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): In manchem ha- deutsche Steuerzahler nicht nur für die Integrationskos- ben die Grünen mit Ihrem Antrag recht: Wir brauchen ten der Zuwanderer nach Deutschland, sondern auch für ein europäisch abgestimmtes Flüchtlings- und Asylkon- die der Zuwanderer in andere europäische Staaten auf- zept. Wir brauchen eine europäische Lastenteilung im kommt. Bereich der Flüchtlingsströme. Wir können Malta oder Die Grünen fordern in ihrem Antrag auch den Ausbau die Kanaren nicht mit Tausenden von Migranten allein- der europäischen Antidiskriminierungsregeln. Schon die lassen. existierenden sind eine unsägliche Gängelung der Bür- gerinnen und Bürger. Sie versprechen Gleichberechti- Es darf aber auch keine Anreizsysteme geben, die gung, die rechtlich bereits besteht, und schaffen Büro- eine weitere unkontrollierte Zuwanderung ermöglichen. kratie und Bevormundung. Wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass kriminelle Schleuser mit falschen Versprechungen und aus Geldgier Wer den Ruf Europas als bürokratisches Monster bei Menschen nach Europa locken und billigend sogar den den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes weiter rui- Tod der Verschleppten auf See in Kauf nehmen. Wir nieren will, soll nur munter weiter solche Forderungen 23344 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

(A) stellen. Der positive Duktus im Grünen-Antrag zur zir- Abschiebungsrichtlinie und Direktive der Schande – und (C) kulären Migration wundert mich. Zirkuläre Migration, der „Pakt für Einwanderung und Asyl“. wie sie von Innenminister Schäuble propagiert wird, ist eine Fortsetzung der Gastarbeiterpolitik, die Integration Gerade Letzterer verdeutlicht den neokolonialistischen verhindert hat. Stil seitens der EU gerade gegenüber afrikanischen Staa- ten. Im Zentrum des Paktes steht die Kombination einer Es ist natürlich nicht falsch, EU-weit bestimmte As- verstärkten Aufrüstung an den Außengrenzen, die Ein- pekte der Einwanderungspolitik abzustimmen. So war bindung von Transitstaaten in die Flüchtlingsabwehr, die die Verabschiedung der Rückführungsrichtlinie eine Neuauflage des „Gastarbeitermodells“ im Gewande der Vorgabe, die in die richtige Richtung ging; denn sie hat „zirkulären Migration“ und der Abschluss sogenannter Mindeststandards in der EU geschaffen. So ist die Dauer Mobilitätspartnerschaften. Die Erfüllung der von der EU der Abschiebehaft nunmehr endlich auch in allen EU- vorgegebenen Bedingungen, zum Beispiel der Abschluss Staaten begrenzt. Dies ist eindeutig zu begrüßen, und es von Rückübernahmeabkommen und die Verhinderung hat mich schon gewundert, warum die Grünen im Euro- der Flucht nach Europa durch schärfere Grenzkontrol- paparlament sich hier verweigerten. len, wird mit der vagen Aussicht auf einen besseren Zu- Das aber thematisiert der vorliegende Antrag aus gang seiner Bürgerinnen und Bürger zur EU gekauft. nachvollziehbaren Gründen leider nicht. Stattdessen re- Auf diese Weise kann in Abhängigkeit vom jeweiligen det er einer „signifikanten Liberalisierung der Aufent- Bedarf auf dem europäischen bzw. deutschen Arbeits- haltsregeln“ das Wort und fordert EU-Mittel zur Einglie- markt auf Arbeitskräfte aus Drittstaaten zurückgegriffen derung von Migrantinnen und Migranten. Integration werden. Gleichzeitig weiß man sich aber auf der siche- kann aber nicht von Brüssel aus gesteuert werden, son- ren Seite, diese dann auch wieder „loszuwerden“, wenn dern erfolgt vor Ort, individuell. sie nicht mehr gebraucht werden. Darüber hinaus wird die Aufgabe der Flüchtlingsabwehr aus der EU verla- Steuern heißt, Zuwanderung gegebenenfalls auch zu gert, und mittels der in Gegenleistung dann auch noch verhindern, wenn unsere Interessenlage das gebietet. Un- „selbstlos“ zur Verfügung gestellten Mittel zur Entwick- sere Interessen aber zu bestimmen, das nimmt uns nie- lungszusammenarbeit werden die Märkte für deutsche mand ab, auch Europa nicht. Umgekehrt bedeutet Zuwan- bzw. EU-Produkte geöffnet. So sieht der, wie es Herr derung zu steuern aber eben auch, Zuwanderung Grindel von der CDU/CSU-Fraktion in der ersten Le- zuzulassen. Mit klaren Kriterien können wir die Willkom- sung so nett formulierte, „entwicklungshilfepolitische menskultur schaffen, die wir brauchen, um Hochqualifi- Ansatz“ aus, der mit dem Instrument „zirkuläre Migra- zierte und Fachkräfte aus dem Ausland für Deutschland tion“ verfolgt wird. Es geht um geo- und militärstrategi- zu gewinnen. sche, energie- bzw. rohstoffpolitische oder ökonomische (B) (D) Eigeninteressen, um Flüchtlingsabwehr und Auslese von Eine moderne Zuwanderungssteuerung braucht kei- Fachkräften und Hochqualifizierten für den „globalen nen europäischen Wasserkopf, sondern eine klare Ent- Standortwettbewerb“. scheidung der deutschen Regierung. Diese Entscheidung ist mehr als überfällig. Genau diesen Zusammenhang lässt der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen weitgehend unberücksichtigt, Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Männer und Frauen wenn sie „zirkuläre Migration“ und sogenannte Punkte- suchen sich nicht aus, wo sie geboren werden. Doch sie migration im Grundsatz mitträgt. Bei den Vorschlägen sollten das Recht haben, zu wählen, wo sie leben wollen. zur Arbeitsmigration bleibt unklar, wie die Forderung, es Und das gilt gerade für Menschen, deren Existenz durch solle legale und dauerhafte Einwanderungsmöglichkei- Hunger, Durst, Krankheiten und Krieg bedroht ist. ten auch für nicht hochqualifizierte Migrantinnen und Migranten geben, konkret umgesetzt werden soll. Der Statt aber die Ursachen für Flucht und erzwungene Vorschlag eines „Punktesystems“ ist im Gegenteil ganz Migration zu bekämpfen, werden leider die Menschen klar einseitig an den Interessen der Nationalstaaten aus- bekämpft. Statt ihre Verantwortung für die auf dem Tri- gerichtet. Er führt zur Selektion nach Nützlichkeitskrite- kont bestehenden Situationen zu übernehmen, wälzt rien. So wie die Linke es ablehnt, Kopfnoten zu vertei- auch die EU im großen Maßstab die ökonomischen, so- len, lehnen wir es ab, Menschen nach Punkten zu zialen und ökologischen Kosten ihres Entwicklungsmo- bewerten. dells auf diese Länder ab. Vom Schengen-Abkommen bis zum Dublin-Abkommen, von der EU-Agentur für die Zwar sollen Fluchtursachen bekämpft werden, doch Koordinierung der Kontrollen an den Außengrenzen, es gibt keine Kritik an der Militär-, Außen- und Freihan- FRONTEX, bis zu den beiden umfassenden Datenban- delspolitik der EU. Unklar bleibt auch, wie die Bekämp- ken Schengener Informationssystem, SIS, und VISA-In- fung eigentlich konkret geschehen soll. formations-System, VIS, vom geschlossenen Aufnahme- lager, den Abschiebungen und den Abwehrmethoden an Auch die Aufgabe und Arbeit von FRONTEX, die den Grenzen bis zur Unterdrückung in den Metropolen: eine möglichst lückenlose Abschottung vor unerwünsch- Europa beweist, dass es Flucht und Migration als ein ter Migration organisieren soll, wird weder klar benannt Problem begreift, dem mit Grenzüberwachung und Re- noch grundsätzlich infrage gestellt. Die Forderung nach pression begegnet werden muss. Die bisherigen Höhe- mehr parlamentarischer Kontrolle von FRONTEX und punkte menschenverachtender EU-Migrationspolitik sind neuen Dokumentationspflichten greift viel zu kurz. Die die sogenannte Rückführungsrichtlinie – eine inhumane Linke fordert die Abschaffung von FRONTEX und nicht Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23345

(A) die parlamentarische Kontrolle, wie es Bündnis 90/Die Programms aufnehmen werden, ist ein wichtiger und (C) Grünen tun. längst überfälliger Schritt in die richtige Richtung. Doch der Weg dahin war steinig: Lange wurde im Rat der eu- Hinsichtlich der Dublin-II-Verordnung werden ledig- ropäischen Innen- und Justizminister über die Aufnahme lich Forderungen gestellt, wie sie jetzt auch von der EU- der Iraker nur geredet. Innenminister Schäuble hielt an Kommission vorgeschlagen wurden. Dies geht zwar in der Vorstellung fest, dass Deutschland nur christliche eine richtige Richtung, aber die Linke fordert, dass sich Iraker aufnehmen solle. Die Christen im Irak sind als re- Asylsuchende ihr Zufluchtsland in der EU selbst aussu- ligiöse Minderheit einer besonderen Bedrohung ausge- chen können müssen. setzt. Für uns Grüne ist aber klar, dass neben den Chris- Die Forderung nach einer Korrektur der Rückfüh- ten auch andere schutzbedürftige Menschen nach rungsrichtlinie – insbesondere im Hinblick auf die Inge- Deutschland kommen können müssen. wahrsamnahme von Minderjährigen ist aus unserer Sicht viel zu zurückhaltend formuliert und spart wesentliche Bei den irakischen Flüchtlingen hat die EU lange ge- Kritikpunkte an der menschenrechtswidrigen Abschie- braucht, um endlich ihre gemeinsame Verantwortung ge- bungsrichtlinie aus. Das betrifft unter anderem die Mög- genüber Flüchtlingen und Migrantinnen und Migranten lichkeit einer Inhaftierung zur Sicherung einer Abschie- wahrzunehmen. Die europäischen Innen- und Justizmi- bung bis zu 18 Monaten. nister drücken sich aber weiter vor wichtigen Entschei- dungen im Sinne von Humanität und Menschenrechten, Schließlich bleiben in dem Antrag auch mehrere As- zum Beispiel wenn es darum geht, endlich verbindliche pekte ausgespart, etwa Legalisierungsmöglichkeiten für Leitlinien für die Einsätze der europäischen Grenz- Illegalisierte. schutzagentur FRONTEX zu verabschieden. Die Linke steht für eine grundlegend neu ausgerich- tete europäische Migrations-, Flüchtlings- und Integra- Die humanitäre Lage an den Außengrenzen der EU ist tionspolitik, eine, die sich nicht nach den Verwertungsin- unerträglich. Im vergangenen Jahr sind 1 502 Menschen teressen des Kapitals richtet. Wir wollen eine Migra- bei dem verzweifelten Versuch ertrunken, die Küsten der tions- und Integrationspolitik, deren Maßstab der Mensch Europäischen Union zu erreichen. Es kann nicht länger ist, eine Migrations- und Integrationspolitik, die sich für der Fall sein, dass im Umgang mit sogenannten Boots- die Verknüpfung von Menschen- und Arbeitnehmerrech- flüchtlingen rechtliche Grauzonen bestehen und die Mit- ten starkmacht. gliedstaaten versuchen, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Wir Grünen wollen, dass das Refoulement-Ver- Die Linke will, dass „Entwicklungszusammenarbeit“ bot aus Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonven- nicht in ausbeuterischer Absicht instrumentalisiert wird tion und der Genfer Konvention auch auf hoher See Gel- (B) bzw. vom „Wohlverhalten“ der Länder bei Öffnung ihrer tung hat und aufgegriffene Schiffbrüchige auf das (D) Ökonomien, bei Rückübernahmen und Grenzüberwa- Territorium des flaggeführenden oder des nächstgelege- chung abhängt. nen Mitgliedstaats gebracht werden. Dort muss dann Wir fordern, dass der Schutz von Flüchtlingen in den entschieden werden, wer schutzbedürftig ist und wer Mittelpunkt gestellt wird. Das bedeutet für uns Linke die rückgeführt werden soll. Achtung des Refoulement-Verbots, die Aufnahme be- Auch eine einheitliche Auslegung des internationalen sonders schutzbedürftiger Flüchtlinge (Resettlement), den Seerechts durch die EU-Mitgliedstaaten muss gewähr- Verzicht auf Regelungen „sicherer Drittstaaten“, dass leistet sein, so bei der Definition von Seenot. Die Ver- Flüchtlingen die Wahl ihres Zufluchtslandes überlassen handlungen über die Leitlinien sind im vergangenen wird sowie Illegalisierten Legalisierungsmöglichkeiten Sommer an der Blockadehaltung einiger Mitgliedstaaten eingeräumt und deren Kämpfe gegen ausbeuterische Ar- gescheitert. Das darf diesmal nicht passieren. beitsbedingungen unterstützt werden. Das sind für uns Schritte hin zu einer menschen- Weitere entscheidende Punkte sind Transparenz und freundlich fundierten europäischen Migrationspolitik. parlamentarische Kontrolle. Die gemeinsamen verbind- Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen beinhaltet we- lichen Leitlinien werden nun im vollkommen intranspa- der solche Schritte noch eine grundsätzliche Kritik an renten Komitologie-Verfahren verhandelt. Leider konn- dem bestehenden Migrationsregime. Stattdessen wird ten wir Parlamentarier schon während der ersten auf eine etwas moderatere Verwertungspolitik abgeho- Verhandlungsrunde die Positionen der Mitgliedstaaten ben. Deshalb lehnen wir den Antrag ab. nicht nachzuvollziehen. Doch bei der Dringlichkeit des Themas muss die Bundesregierung den Bundestag end- lich informieren. Genauso gilt immer noch unsere For- Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): derung nach einer parlamentarischen Kontrolle von Heute ist für 120 Menschen ein ganz besonderer Tag. FRONTEX durch die nationalen Parlamente und das Eu- Heute vor einer Woche sind die ersten der 2 500 iraki- ropäische Parlament. Das Budget von FRONTEX setzt schen Flüchtlinge auf dem Flughafen Hannover gelan- seinen Höhenflug fort, während die verbindlichen Leitli- det, um in Deutschland ein neues Leben zu beginnen; ein nien noch immer nicht verabschiedet sind. Dies macht Neuanfang mit der Hoffnung, endlich wieder in Sicher- erneut deutlich, dass diese Agentur nicht frei von parla- heit zu leben, frei von Gewalt und Verfolgung. mentarischer Aufsicht agieren kann. Dafür müssen auch Dass die EU-Staaten rund 10 000 schutzbedürftige die europäischen Innenministerinnen und Innenminister Flüchtlinge aus dem Irak im Rahmen des Resettlement- als Verantwortliche sorgen. 23346 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

(A) Ich habe von der Ankunft der irakischen Flüchtlinge bestimmungen von Saisonarbeitern vorschlagen. Eine (C) gesprochen, was eine erfreuliche Nachricht ist. Gleich- solche europäische Regelung ist wichtig. Sie bietet Sai- zeitig erreichen uns tagtäglich weniger erfreuliche Nach- sonarbeitern eine legale Möglichkeit der Einreise und richten. Nicht nur sterben leider immer noch Menschen des befristeten Aufenthaltes, sodass sich hoffentlich we- während ihrer Flucht in schiffbrüchigen Booten nach niger Menschen gezwungen fühlen, mithilfe von krimi- Europa. Wer profitiert, sind kriminelle Schlepper. Auch nellen Schlepperbanden in die EU zu gelangen. Zudem erreichten uns Nachrichten über Aufstände in Flücht- werden Saisonarbeiter in vielen europäischen Staaten lingslagern in Italien und Malta. Diese Lager sind voll- dringend benötigt. Ich bin gespannt, ob Herr Schäuble kommen überbelegt und die Lebensbedingungen dort und seine Kollegen für solch einen Vorschlag reif sind. menschenunwürdig. Darauf hat neulich erst die Hilfsor- ganisation „Ärzte ohne Grenzen“ aufmerksam gemacht. Wir Grüne fordern, dass Verfahren, Praktiken und Stan- Anlage 9 dards für die Anerkennung von Flüchtlingen und Asyl sowie bei der Unterbringung von Asylbewerbern und Zu Protokoll gegebene Reden Flüchtlingen in allen EU-Staaten gelten müssen. Die Er- zur Beratung des Entwurfs eines Dritten Geset- richtung eines europäischen Unterstützungsbüros für zes zur Änderung des Zivildienstgesetzes und Asylfragen, welches die Europäische Kommission vor- anderer Gesetze (Drittes Zivildienstgesetzände- schlägt, kann die Chance bieten, dass sich die Standards rungsgesetz) (Tagesordnungspunkt 19) zum Schutz von Flüchtlingen endlich auf hohem Niveau angleichen. Malta hat sich um den Sitz dieses Büro be- worben. Doch der Sitz des europäischen Asylbüros ver- Markus Grübel (CDU/CSU): Jahr für Jahr leisten pflichtet, mit gutem Beispiel voranzugehen, bestehende 90 000 junge Männer in Deutschland Zivildienst. Sie ar- Vorgaben umzusetzen und die Hausaufgaben in Sachen beiten in Pflegeheimen, Behinderteneinrichtungen, Ju- Asyl und Flüchtlingsschutz zu erledigen. gendhäusern, Kliniken und betreuen pflegebedürftige Menschen. In diesen sozialen Diensten steckt ein großes Innenminister Schäuble kann die Hilferufe der Innen- Potenzial für die Gesellschaft. Junge Männer arbeiten in minister von Malta, Italien, Griechenland und Zypern Bereichen, mit denen sie teilweise im späteren Leben nach mehr Unterstützung im Bereich der irregulären Mi- nicht mehr eng in Berührung kommen. Sie erlangen so- gration nicht länger ignorieren. Wir Grüne fordern end- ziale Kompetenzen, die für andere Berufe von großer lich eine solidarische innereuropäische Verteilung von Bedeutung sind. Es ist gut und richtig, dass junge Men- asylsuchenden Personen und eine verbesserte und faire schen, auch wenn sie technische Berufe erlernen oder Aufteilung der finanziellen Kosten zwischen den Mit- später studieren, mit sozialen Arbeiten intensiv in Be- (B) gliedstaaten. Mit enormer Skepsis betrachten wir Grüne rührung kommen. (D) die zunehmenden Abkommen mit Drittstaaten, seien es Rückübernahmeabkommen oder sei es die sogenannte Wir haben uns nun über ein Jahr mit der Weiterent- Zusammenarbeit mit Drittstaaten bei FRONTEX-Einsät- wicklung des Zivildienstes befasst. Als Berichterstatter zen. Sie dürfen für die EU kein Instrument sein, die Ver- meiner Fraktion – ich denke bei den anderen Bericht- antwortung abzuwälzen, und müssen strengen humanitä- erstattern war es genauso – habe ich eine Vielzahl von ren und menschenrechtlichen Standards genügen. Gesprächen mit den Verbänden geführt. Manchmal war die gleiche Organisation sogar zwei- oder dreimal in Der Innenminister spricht viel über illegale Migration. meinem Büro. Wir haben uns intensiv mit den Proble- Legale Migration wird aus der Debatte meistens ausge- men auseinandergesetzt und auch die Interessen der Pra- klammert. Wir werden die Situation an den Außengren- xis berücksichtigt und diskutiert, sodass ich heute sagen zen aber nur lösen können, wenn wir mehr Möglichkei- kann: Es gab einen lebhaften Diskurs und Meinungsaus- ten der legalen Migration zulassen. Die EU muss neue tausch zwischen der Politik und den Interessen- und legale Wege der Einwanderung, insbesondere der dauer- Fachorganisationen im Bereich des Zivildienstes. Ich haften Einwanderung, ermöglichen, sowohl für hochqua- denke, das Ergebnis kann sich durchaus sehen lassen. lifizierte Einwanderer als auch für nicht hochqualifi- Leider konnte bei der „freiwilligen Verlängerung“ keine zierte. Die europäische Blue-Card, wie sie ursprünglich Einigung mit dem Koalitionspartner erreicht werden. von der Europäischen Kommission vorgestellt wurde, wäre ein erster guter Schritt gewesen, um Europa für die Die Zivildienstleistenden stellen für die Gesellschaft Zuwanderung von Hochqualifizierten attraktiv zu ma- ein großes Potenzial dar. Wir möchten die jungen Men- chen. Das, was von der Blue-Card nach zähen Verhand- schen, die diesen Dienst leisten, in ihrer Persönlichkeits- lungen im Rat und unter dem Druck von Innenminister entwicklung und beim Qualifikationserwerb unterstützen Schäuble noch übrig blieb, ist für die EU und den von der bzw. die fachlichen und persönlichen Kompetenzen der CDU/CSU nominierten Kommissionspräsidenten Barroso Zivildienstleistenden weiter ausbauen und stärken. kein großer Wurf mehr. Einerseits loben Sie Barroso, an- Ebenso möchten wir mit dem Gesetz erreichen, dass die dererseits haben Sie mit der Blue-Card eines seiner er- Zivildienstleistenden, das in den Einsatzstellen erwor- klärten Vorzeigeprojekte kastriert. bene Wissen auch theoretisch vertiefen können. Dies soll insbesondere durch ein zusätzliches einwöchiges Semi- Der Innenminister hat noch eine Chance, Offenheit nar zur Förderung der persönlichen und sozialen Kompe- und Europaaffinität zu beweisen. Die Kommission will tenzen erreicht werden. Außerdem sieht der Gesetzent- noch vor den Wahlen zum Europäischen Parlament den wurf einen einheitlichen verbindlichen Informationstag Richtlinienentwurf über die Einreise- und Aufenthalts- zu Dienstbeginn und, soweit erforderlich, ein viertätiges Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23347

(A) Seminar zu speziellen Fachthemen vor. Er bietet darüber entsprechend der für Wehrdienstleistende geltenden Re- (C) hinaus optional die Möglichkeit eines zusätzlichen gelungen den Zivildienst freiwillig zu verlängern und dienstlichen Erfahrungsaustauschs zur Reflexion. während dieser Phase einen abgesicherten sozialen Status zu haben. Die Praxis behilft sich hier teilweise mit Prak- Der Gesetzentwurf sieht unter anderem vor, dass je- tikumsverträgen, teilweise mit geringfügiger Beschäfti- der Zivildienstleistende ein obligatorisches qualifiziertes gung oder anderen Lösungen. Zudem haben die Verbände Dienstzeugnis erhält, welches den Inhalt des Dienstes, und die Betroffenen selbst die freiwillige Verlängerung Tätigkeit und Leistung des Dienstleistenden sowie die überwiegend begrüßt. Dies belegen auch durchgeführte während des Zivildienstes erworbenen Kompetenzen für Umfragen. den weiteren beruflichen Lebensweg umfasst. Schon heute kann ein qualifiziertes Dienstzeugnis auf Antrag Ich persönlich halte diese Regelung weiter für not- des Dienstleistenden von den Dienststellen ausgestellt wendig und sinnvoll; aber wo es ein 1., 2. und 3. Zivil- werden. Es hat sich als Grundlage für die Anerkennung dienstgesetzänderungsgesetz gab bzw. gibt, wird es in des Zivildienstes als berufliche Qualifikationsvorausset- der nächsten oder übernächsten Wahlperiode auch ein zung bewährt. 4. Zivildienstgesetzänderungsgesetz geben, da bin ich mir ganz sicher. Vielleicht ergibt sich dann eine politi- Neu eingeführt wird eine Berichtspflicht des bzw. der sche Konstellation, die eine solche Regelung durchset- Bundesbeauftragten für den Zivildienst gegenüber dem zen kann. Deutschen Bundestag, analog zum Bericht des Wehrbe- auftragten. Der Tätigkeitsbericht soll regelmäßig über Trotz allem möchte ich darauf verweisen, dass es uns die Lage und die Entwicklungen im Zivildienst infor- gelungen ist, den Zivildienst als Lerndienst weiter aus- mieren. Damit wird auch eine regelmäßige Evaluierung zugestalten. Ich denke, da sind wir uns alle weitgehend des Gesetzes gewährleistet. Zudem wird gesetzlich ab- einig, außer den Fraktionen, die den Zivildienst als gesichert, dass sich die Dienstleistenden zukünftig mit Pflichtdienst kategorisch ablehnen und ihn, wie den Anregungen und Beschwerden direkt an den Zivildienst- Wehrdienst, am liebsten sofort abschaffen würden. Lei- beauftragten wenden können, ohne dienstliche Nachteile der haben sie keinen konstruktiven Beitrag geleistet. befürchten zu müssen. Bislang wurde nicht bekannt, zu Stattdessen haben Bündnis 90/Die Grünen Forderungen welchen Ergebnissen dies geführt hat, da es im Gegen- der Zentralstelle KDV wortgleich in einen Antrag ge- satz zum Bericht des Wehrbeauftragten keine Veröffent- schrieben und sich somit zum Erfüllungsgehilfen eines lichungspflicht gibt. nur schwer erträglichen politischen Manövers der KDV machen lassen. Die FDP hat „kurz vor knapp“ noch ei- Darüber hinaus enthält der Gesetzentwurf Folgeände- nen Entschließungsantrag eingebracht, der irreführend rungen, Änderungen aufgrund höchstrichterlicher Recht- und falsch ist. Zentrales Anliegen des Gesetzentwurf ist (B) sprechung bzw. redaktionelle Anpassungen, insbesondere (D) die Ausgestaltung des Zivildienstes als Lerndienst und zur geschlechtergerechten Fassung, im Zivildienst-, Kriegs- nichts anderes. Sie suggerieren etwas vollkommen ande- dienstverweigerungs-, Zivildienstvertrauensmann-, Wehr- res und wollen über diese Schiene Argumente für die pflicht- und Arbeitsplatzschutzgesetz. Abschaffung des Wehrdienstes liefern. Ihnen scheint Zudem haben wir eine Lösung gefunden, die in Fällen entgangen zu sein, dass dies hier überhaupt nicht zur De- eines Freiwilligen Jahres nach § 14 c des Zivildienstge- batte steht. Im Übrigen bin ich gespannt, ob Ihr Frak- setzes eine Umsatzsteuerpflicht weitgehend vermeidet. tionsvorsitzender Westerwelle nach der nächsten Bun- Die Regelung in § 11 Abs. 2 des Jugendfreiwilligendien- destagswahl in einer möglichen Koalition mit der Union stegesetzes ist auch mit § 14 c des Zivildienstgesetzes wirklich Außenminister wird und ob er auch dann die vereinbar, sodass entsprechende Verträge auch für den Wehrpflicht zur Disposition stellt. Die Antwort können Freiwilligendienst anerkannter Kriegsdienstverweigerer sie sich ja selbst geben! geschlossen werden können. Die Anhörung am 17. Dezember 2008 hat gezeigt, Das Bundesamt für den Zivildienst hat durch einen dass der Gesetzentwurf nicht perfekt ist und Änderungen Erlass – also eine außergesetzliche Regelung – alle Trä- notwendig sind. Wir haben diese Kritik und die Anre- ger des FSJ und des FÖJ darüber informiert, dass für den gungen seitens der Praxis in die politische Debatte auf- Freiwilligendienst anerkannter Kriegsdienstverweigerer genommen und gezeigt, dass wir lernfähig sind. Verträge nach § 11 Abs. 1 und 2 JFDG möglich sind und bezuschusst werden. Der Bundesarbeitskreis FSJ hat für Ein wesentlicher Kritikpunkt vonseiten der Praxis be- die Träger diese Lösung ausdrücklich begrüßt. Deshalb zog sich auf die unverbindliche Regelung bei der Se- haben wir auch nicht die vom Bundesrat geforderte ge- minarteilnahme im Bereich sozialer Kompetenzen. Es setzliche Regelung aufgegriffen, denn diese ist nicht not- wurde befürchtet, dass dadurch die Ausgestaltung des wendig, um das Ziel, nämlich die Vermeidung der Um- Zivildienstes als Lerndienst nicht ausreichend gewähr- satzsteuer, zu erreichen. leistet werde. Einhellig wurde mehr Verbindlichkeit ge- fordert. Die Gestaltung des Zivildienstes als Lerndienst Leider konnte keine gesetzliche Grundlage für die frei- fördert sowohl die sozialen als auch die persönlichen willige Verlängerung des Zivildienstes geschaffen wer- Kompetenzen des Zivildienstleistenden. In diesen neuen den. Dies bedauere ich sehr – zumal es auch beim Koali- Seminaren sollen die im Dienstalltag erworbenen Kom- tionspartner durchaus Kollegen gab, die dieser Regelung petenzen identifiziert, reflektiert und gesichert werden. offen gegenüber standen. Wir als Unionsfraktion hätten Aber: Seminare zur Förderung sozialer Kompetenzen den Zivildienstleistenden gerne die Möglichkeit eröffnet, kosten Geld. 23348 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

(A) Im ursprünglichen Arbeitsentwurf zum 3. ZDGÄndG nachgekommen und haben eine Fachdiskussion, die (C) vom 28. Februar 2008 waren diese Seminare als ver- schon in der letzten Legislaturperiode mit der bereits ge- pflichtend vorgesehen. Mit der Folge, dass dies ab 2011 nannten Arbeitsgruppe „Impulse für die Zivilgesell- circa 13,5 Millionen Euro Mehrkosten verursacht hätte. schaft“ begonnen hatte und mit mehreren Fachkonferen- Weder im Zivildiensthaushalt noch im BMFSFJ-Ge- zen fortgeführt wurde, zu einem guten Ende geführt. samthaushalt kann eine solche Summe eingespart wer- den. Auch der Finanzminister hat zusätzliche Finanzmit- Sönke Rix (SPD): „Auch ein langer Weg beginnt mit tel verweigert. Dies hatte zur Folge, dass im jetzigen dem ersten Schritt“. Diese Weisheit von Laotse ist inzwi- Gesetzentwurf, Drucksache 16/10995, eine schwammige schen über 2 600 Jahre alt. Er muss damals schon etwas Formulierung gewählt wurde. Die Formulierung „sind vom Dritten Zivildienstgesetzänderungsgesetz geahnt die Dienstpflichtigen berechtigt …“ – § 25 b Abs. 2 Satz 1, haben. 3. ZDGÄndG – enthält keine verbindliche Vorgabe. Der erste Schritt fand im Koalitionsvertrag von No- Aus zivildienstpolitischer Sicht ist diese Regelung je- vember 2005 statt. Zwischen SPD und CDU wurde be- doch unbefriedigend. Zentrales Ziel der Zivildienstno- schlossen, dass der Zivildienst zu einem Lerndienst aus- velle ist ja gerade die Ausgestaltung des Zivildienstes als gebaut werden soll. Die Koalition war sich einig, dass Lerndienst. Wenn die wichtigen Seminare zur Weiterent- der Zivildienst schon immer ein Lerndienst war. Aller- wicklung sozialer Kompetenzen unverbindlich geregelt dings konnte der Zivildienstleistende bisher nur schwer werden, wird dieses Ziel konterkariert; darüber waren nachweisen, ob und was er während des Zivildienstes wir schnell mit dem Koalitionspartner einig. Ich bin gelernt hatte. froh, dass wir über einen Änderungsantrag mehr Ver- bindlichkeit ins Gesetz schreiben konnten und dass ab In den vergangenen drei Jahren gab es auf dem Weg 2011 die Seminare zur Vertiefung der im Dienst erwor- zu diesem Gesetzentwurf viele Schritte. Es gab Schritte benen persönlichen und sozialen Kompetenzen verbind- nach vorn und auch ein paar Schritte wieder zurück. lich vorgesehen sind. Auch mit der Konsequenz, dass Ideen wurden geboren und aufgeschrieben, Initiativen, dies den Bund circa 13,5 Millionen Euro zusätzlich kos- wie die freiwillige Verlängerung des Zivildienstes, ge- ten wird. startet und – zum Glück – wieder fallengelassen. Erst im November 2008 gab es dazu den Gesetzentwurf der Uns war klar, dass eine Einigung mit den Haushältern Bundesregierung, über den wir heute in abschließender schwierig wird; denn gerade die Haushaltskonsolidie- Beratung reden. rung ist ein wichtiges politisches Ziel. Aber man kann natürlich auch nicht überall sparen. Die Konjunkturpa- Obwohl es eine lange Reise war, die die Berichterstat- ter zu diesem Gesetz miteinander im Jahr 2005 angetre- (B) kete I und II zeigen, dass der Staat in besonderen Aus- (D) nahmesituationen auch den Geldhahn aufdrehen und zu- ten haben, sind wir nie aus dem Tritt gekommen. Bei sätzliche Gelder bereitstellen muss. Ich bin daher den manchen versagte höchstens kurzzeitig das Navigations- Haushältern sehr dankbar, dass sie den jährlichen Mehr- gerät. Aber heute stehen wir hier und präsentieren einen ausgaben ab 2011 keine Steine in den Weg gelegt haben Gesetzentwurf mit einem ergänzenden Änderungsantrag. und damit auch einen großen Beitrag zur Aus- und Fort- Zentrale Elemente im vorliegenden Gesetzentwurf bildung der Zivildienstleistenden tätigen. Nur durch die sind die Neuregelungen für eine verpflichtende Lehr- Unterstützung der Haushaltspolitiker konnte unser zivil- gangsteilnahme der Zivildienstleistenden, das Recht auf dienstpolitisches Anliegen umgesetzt werden. ein qualifiziertes Dienstzeugnis und die neu geschaffene Der Zivildienst ist eindeutig ein Erfolgsmodell und für Berichtspflicht des Bundesbeauftragten für den Zivil- jeden jungen Mann auch eine persönliche Bereicherung. dienst. Was in dieser Legislaturperiode nie zur Debatte Zudem trägt der Zivildienst wesentlich zur Berufsfin- stand, war die Zukunft des Zivildienstes. dung und Berufsorientierung bei. Mit der weiteren Aus- Der Zivildienst ist ein Pflichtdienst, und trotzdem soll gestaltung zum Lerndienst – dem Erwerb von Schlüssel- dieser Dienst sowohl dem jungen Mann als auch der Ge- qualifikationen im Dienst selbst sowie der weiteren sellschaft nutzen. Es geht nicht um das sture Ableisten qualitativen Verbesserung von Lehrgängen – wird der Zi- des Dienstes. Vielmehr nehmen die Zivildienstleistenden vildienst noch attraktiver für die jungen Menschen. auch etwas mit. Sie haben neue Eindrücke, sie lernen neue Menschen kennen. Sie kommen in ein völlig neues Die Zivildienstnovelle ist auch ein Baustein zur För- soziales Umfeld. Sie üben Tätigkeiten aus, die völlig neu derung von bürgerschaftlichem Engagement. Im Gegen- für sie sind. Das geht nur durch Lernen. satz zu den Freiwilligendiensten, wie dem Freiwilligen Sozialen Jahr oder dem Freiwilligen Ökologischen Jahr, Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sah dafür ist der Zivildienst ein Wehrersatzdienst und damit ein Folgendes vor: einen verpflichtenden eintägigen Lehr- Pflichtdienst. Dennoch gibt es zwischen den beiden gang über die Rechte und Pflichten des Zivildienstleis- Dienstarten eine Menge von Berührungspunkten und tenden, einen viertägigen Lehrgang zur politischen Bil- Gemeinsamkeiten, die im Bericht der Kommission „Im- dung und einen einwöchigen fachlichen Lehrgang, pulse der Zivilgesellschaft“ ausführlich dargestellt wer- dessen Verpflichtung allerdings von der Art der Tätigkeit den. Die zentrale Forderung des Berichts wird nun mit des Zivildienstleistenden abhängig ist. Die Teilnahme an der Novelle umgesetzt: die Ausgestaltung des Zivil- einem dreitägigen Reflexionsseminar sowie an einem dienstes als Lerndienst. Wir sind damit auch dem Auf- einwöchigen Kurs zur Stärkung sozialer Kompetenzen trag aus dem Koalitionsvertrag vom November 2005 sollten freiwillig sein. Das hätte dazu geführt, dass es Zi- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23349

(A) vildienstleistende gegeben hätte, die während ihrer Wenn ein Zivildienstleistender jedoch Zeit zu über- (C) Dienstzeit an keiner einzigen Lernveranstaltung teilge- brücken hat, weil sein Studium erst in einigen Monaten nommen hätten. beginnt, ist eine Verlängerung heute schon möglich. Die Zivildienstleistenden werden dann von ihrer Einsatz- Aber: Kein Zivildienstleistender sollte seinen Dienst stelle für drei oder mehr Monate angestellt. ohne mindestens einen Lernteil beenden. Auch das Bun- desamt für den Zivildienst hat in seinen ersten Eckpunk- „Man kommt ja nicht ans Ziel, weil man vom Ziel ge- ten diesem Gedanken Rechnung getragen. Wir haben träumt hat. Sondern man kommt zum Ziel, weil man den uns darum zusammen mit dem Koalitionspartner auf den Weg dahin gegangen ist.“, sagte schon Helmut Schmidt. vorliegenden Änderungsantrag geeinigt. In einem ge- Das haben wir getan. staffelten Verfahren soll ein einwöchiges Seminar zur Vertiefung der im Dienst erworbenen persönlichen und Ina Lenke (FDP): 2008 gab es circa 460 000 Muste- sozialen Kompetenzen ab 2011 verpflichtend für alle Zi- rungsverfahren und 200 000 Ausmusterungen. Als ich vildienstleistenden stattfinden. In diesem Seminar lernt 1998 als neue Abgeordnete in den Deutschen Bundestag jeder Zivildienstleistende Verhaltensweisen, die er in einzog, wurden noch rund 160 000 Grundwehrdienstleis- seinem neuen Umfeld gegenüber den Kollegen, den an- tende einberufen, im Jahre 2008 waren es noch rund nur deren Zivildienstleistenden aber auch den mittelbar oder 68 000, hierin inbegriffen sind sehr viele, die während der unmittelbar zu pflegenden oder zu betreuenden Men- ersten Monate wieder nach Hause geschickt wurden und schen anwenden kann. Wir wollen, dass alle Zivildienst- sogar die freiwillig länger dienenden Wehrdienstleisten- leistenden an diesen Kursen teilnehmen, denn auch wer den, die wesentlich höhere Bezüge als den normalen in seinem Zivildienst nur hausmeisterähnliche Aufgaben Wehrsold erhalten. Im Zivildienst haben wir die gleiche erfüllt, wird zum Beispiel mit Bewohnern eines Heimes, Situation: 1998 gab es rund 129 00 Einberufungen, 2008 Kindern in Tageseinrichtungen oder auch Kranken in ei- waren es noch 85 000 Einberufungen. Wenn – bei etwa nem Krankenhaus in Kontakt kommen. Schon ab 2010 gleich großen Jahrgängen – jährlich über 140 000 junge sollen die Zivildienstleistenden das Recht haben, an die- Männer weniger der Wehrpflicht nachkommen, kann sen Kursen teilzunehmen. Ich wünsche mir, dass sie schon bei oberflächlicher Betrachtung irgendwas nicht schon dann regen Gebrauch davon machen. mehr stimmen. Wenn Zivildienstleistende, die nach dem Grundgesetz nur einen Ersatzdienst für die Wehrpflicht Für uns in der SPD-Bundestagsfraktion ist klar: Wir leisten, mittlerweile wesentlich mehr sind als die Grund- begrüßen den rechtlichen Anspruch auf noch mehr Qua- wehrdienstleistenden, ist das gesamte System aus den lifizierung, Reflexion und Fortbildung. Mit dieser Ände- Fugen geraten. rung haben wir ein gutes Gesetz geschaffen, dass dem (B) Ziel „Zivildienst als Lerndienst“ gerecht wird, was uns Ursprünglich wurde der Entwurf des vorliegenden (D) auch die Fachleute während der Anhörung im Dezember 3. ZDGÄndG seitens der Bundesregierung initiiert, um bestätigt haben. den sogenannten „Freiwillig verlängerten Zivildienst“ zu installieren, was zu noch mehr Ungerechtigkeiten geführt Ausdrücklich begrüßen wir, dass jetzt den Zivil- und die Zivildienstleistenden gegenüber den Grund- dienstleistenden ein qualifiziertes Dienstzeugnis ausge- wehrdienstleistenden deutlich schlechter gestellt hätte – stellt wird. Sie können es für ihre berufliche Zukunft ein Vorhaben, das daher von der Mehrheit des Deutschen nutzen und die erworbenen Fähigkeiten bei zukünftigen Bundestages abgelehnt wird, also selbst in der Großen Arbeitgebern nachweisen. Koalition letztendlich wegen des Widerstandes in der Ich bin der festen Überzeugung, dass die Weiterent- SPD keine Mehrheit fand. wicklung des Zivildienstes zu einem formalen Lern- Der vorliegende Gesetzentwurf ist also lediglich eine dienst – informell war er das natürlich schon immer – Rumpffassung des eigentlich geplanten Gesetzes. Dies nicht nur den jungen Männern zugutekommt. Auch die wurde besonders in der Anhörung deutlich, in der vor allem Gesellschaft profitiert von den Qualifikationen, die die darüber diskutiert wurde, was aus dem Gesetz gestrichen Zivildienstleistenden während ihres Dienstes erwerben. wurde und in der die Sachverständigen immer wieder Auch vor diesem Hintergrund ist die Weiterentwicklung mit der Frage nach der zeitlichen Verlängerungsoption wichtig und richtig. konfrontiert wurden. Ein Wort zum Schluss noch zu der sogenannten frei- Statt weiterhin, trotz des Scheiterns dieser Verlänge- willigen Verlängerung, über die lange diskutiert wurde. rungsoption, diese Überlegungen zu verfolgen, sollte das Ich begrüße ausdrücklich, dass diese angedachte Rege- Ministerium mehr über die fast unbekannte Möglichkeit, lung nicht im Gesetzentwurf erwähnt wird. Wir als SPD den Zivildienst in zeitlich getrennten Abschnitten – 6 plus haben nach Diskussionen deutlich gemacht, dass wir 3 Monate – abzuleisten, informieren. Der richtige Ansatz, dieses Instrument nicht wollen und auch nicht brauchen. die zeitliche Lücke zwischen dem Ende des neunmonatigen Zum einen würde diese Regelung zu einer Konkurrenz Zivildienstes und dem Beginn einer Ausbildung über- zwischen Freiwilligem Sozialen Jahr und Zivildienst brücken zu können, ist bereits heute möglich. Im Zivil- führen. Zum anderen wollten wir den Zivildienst durch dienstgesetz regelt der § 24 Abs. 2 ZDG die Möglichkeit eine freiwillige Verlängerung nicht verstetigen. Und was des abschnittsweisen Zivildienstes, wovon der erste viele vergessen: Die Kosten der freiwilligen Verlänge- Abschnitt also 6 Monate dauert. Hiermit können bereits rung wären auf den Träger oder die Einsatzstelle zuge- heute Wartezeiten, zum Beispiel bei Aufnahme eines kommen. Studiums, weitgehend vermieden werden, wenn alle 23350 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

(A) Beteiligten über den Ablauf und die Organisation eine 88 700 angehoben werden. Mehr Einberufungen hätten bei (C) Einigung erzielen. Die Aufteilung muss allerdings heute einer gleichbleibenden Seminarquote zwangsläufig ein bereits im Einberufungsbescheid festgelegt werden, eine Aufstocken der Haushaltsmittel zur Folge. Es geschieht spätere einvernehmliche Lösung ist nicht möglich. Die aber das genaue Gegenteil, die Zahl der Einberufungen FDP hat hierzu einen Entschließungsantrag vorgelegt, steigt und gleichzeitig werden die Haushaltsmittel für um aufzuzeigen, dass bereits heute eine Schließung die- Lehrgänge verringert. Deutlicher kann die Bundesregie- ser Zeitlücke möglich ist. rung es nicht zeigen: Dieses Gesetz dient ausschließlich der Augenwischerei! Der vorliegende Gesetzentwurf schafft es weder den Zivildienst zu einem Lerndienst auszubauen noch die mögliche zeitliche Kluft zwischen Beendigung des Zivil- Elke Reinke (DIE LINKE): Wieder einmal zeigt dienstes und der Aufnahme eines Studiums oder einer sich: Die Bundesregierung tut sich schwer, den Zivil- anderen Ausbildung zu schließen. dienst von Grunde auf zu verbessern. Der Änderungsan- trag der Koalitionsfraktionen bringt auch nur leichte, zö- Der Änderungsantrag der Koalition hat den Entwurf gerliche Korrekturen. Am Ende werden wir aber verbessert, aber die Änderungen sind unzureichend, um trotzdem wieder den gerne verwendeten Satz hören: von einem Lerndienst sprechen zu können. „Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung.“ Aber wo Dass durch den Änderungsantrag der Koalition der ist das Ziel? Art. 4 Nr. 3 des ZDÄndG gestrichen wurde, ist zwar zu Das Ziel der Fraktion Die Linke ist hingegen eindeu- begrüßen, dass diese Regelung aber überhaupt den Weg tig: Wir sind für die Abschaffung der Wehrpflicht und al- durchs Kabinett und die Zustimmung der zuständigen ler Zwangsdienste. Die Wehrpflicht ist ein erheblicher Ministerin fand, ist skandalös. Eingriff in die Grundrechte und Lebensplanungen junger Die gestrichene Änderung hätte die heutige Rechtsstel- Männer. Sie ist ein Auslaufmodell und wird für die Lan- lung des Zivildienstleistenden quasi auf den Kopf gestellt desverteidigung nicht gebraucht. Wir sind daher für die und hätte weitere Nachteile für Pflichtdienstleistende ein- Umwandlung des Zivildienstes, der als Ersatzdienst Be- geführt. standteil der Wehrpflicht ist. Bisher können Zivildienstleistende, wenn sich während Durch freiwerdende Mittel müssen die Jugendfreiwil- des Zivildienstes eine vorübergehende Dienstuntauglich- ligendienste gestärkt werden: Es ist eine echte Offensive keit einstellt, die über das Ende der Wehrpflicht hinaus für sozial abgesicherte, regulär bezahlte und mitbestim- andauerte, nur auf ihren Antrag hin entlassen werden. mungsrelevante Dienste nötig. Die Zahl der Freiwilli- Stellen diese keinen Antrag, geht der Dienst planmäßig gendienstplätze muss mindestens verdoppelt werden, da- (B) und unter Beibehaltung der Geld- und Sachbezüge zu mit alle jungen Menschen, die einen Freiwilligendienst (D) Ende, ohne dass aktiv am Dienst teilgenommen werden leisten wollen, das auch tun können. Die freiwilligen darf. Diese Regelung gibt Planungssicherheit für die Wehr- Dienste müssen zudem als Lern- und Bildungsdienste pflichtigen wie für Arbeit- und Ausbildungsplatzgeber. hohen qualitativen Anforderungen genügen. Solange wir Insbesondere wird aber die Wehrpflicht zusammenhängend noch die Wehrpflicht haben, wünsche ich mir das natür- abgeleistet und spätere Einberufungen sind nicht mehr lich auch für den Zivildienst. Dies bleibt aber leider ein möglich. Die beabsichtigte Änderung hätte ermöglicht, frommer Wunsch, denn es gibt unter anderem folgende bei neu eintretenden oder durch die Wehrpflicht verur- drei Problemfelder: sachten gesundheitlichen Einschränkungen, die zu einer vorübergehenden Dienstuntauglichkeit führen, die über das Ein Problem bleibt die Wehrungerechtigkeit. Für die planmäßige Dienstende hinaus andauern, die Entlassung Bundesregierung ist der Zivildienst anscheinend immer auch gegen den Willen des Wehrpflichtigen auszusprechen. noch das ungeliebte Kind der Wehrpflicht. Der Ersatz- Die spätere Wiederherstellung der Dienstfähigkeit hätte dienst ist inzwischen längst Regeldienst. Und die Wehr- zur erneuten Einberufung für die noch offene Grund- ungerechtigkeit würde sich ohne die Kriegsdienstver- wehrdienstzeit geführt. weigerer noch viel deutlicher zeigen. Die Möglichkeit, als Kriegsdienstverweigerer zum Zivildienst einberufen Die betroffenen Wehrpflichtigen hätten nicht nur zu werden, ist nämlich wesentlich höher als die, zur Nachteile durch ihre gesundheitlichen Einschränkungen, Bundeswehr einberufen zu werden. sondern sie wären zusätzlich belastet worden, weil ihnen zugemutet worden wäre, ihre gesamte Ausbildungs-, Der Linken ist wichtig, dass die jungen Männer nicht Berufs- und Lebensplanung auf eine zweite Einberufung in einem Zustand der Ungewissheit gehalten werden. Sie abzustellen. dürfen nicht in ihrer Lebensgestaltung verunsichert wer- den, weil sie nicht wissen, ob und wann der Staat mit der Dieses Beispiel zeigt exemplarisch die Qualität des ge- Wehrpflicht zuschlägt. Welch geringe Bedeutung die samten Gesetzesvorhabens. Dass es der Bundesregierung Bundesregierung dem Zivildienst beimisst, zeigt sich nicht um die Einführung eines Lerndienstes geht, sondern auch an Folgendem: mit ein paar Begriffen gespielt wird, die sich gut anhören und deren politische Vermarktung einfach erscheint, liegt Anders als für die Grundwehrdienstleistenden haben leider auf der Hand. So sieht der Bundeshaushalt 2009 „Zivis“ keinen Vertreter im Bundestag, der sich für ihre eine Absenkung der Lehrgangskosten von 33,68 Millionen Anliegen einsetzt und dessen Jahresberichte dort sogar Euro (2008) auf 30,68 Millionen Euro (2009) vor. Gleich- diskutiert werden müssen. Stattdessen wird der Beauf- zeitig soll die Zahl der Einberufungen von 85 000 auf tragte für den Zivildienst von der Bundesregierung ein- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23351

(A) gesetzt. Hier wäre ein Umdenken in Richtung Mitbe- kleiner Fortschritt, dass die Zivildienstleistenden in Zu- (C) stimmung dringend geboten. kunft nach ihrer Tätigkeit den Anspruch auf ein qualifi- ziertes Zeugnis haben, in dem ihre Kompetenzen doku- Die Wehrpflicht behindert zweitens die Ausbildungs- mentiert werden. Viel wichtiger wäre es jedoch gewesen, und Berufschancen junger Männer. Durch dieses Gesetz eine angemessene Zahl an Bildungstagen für alle Zivil- entstehen für die Wehrpflichtigen Nachteile auf dem dienstleistenden tatsächlich verbindlich zu ermöglichen. Arbeitsmarkt, da auch § 2 des Arbeitsplatzschutzgeset- Die diesbezüglichen Änderungen der Koalitionsfraktio- zes geändert werden soll. Wehrpflichtige haben in der nen im Gesetzgebungsverfahren sind unzulänglich, denn Vergangenheit zu Recht stets darauf verwiesen, dass Ar- eine bloße Berechtigung zur Teilnahme an Seminaren beitgeber die Verlängerung eines befristeten Arbeitsver- reicht nicht aus. Die Verpflichtung, an einem Seminar zu hältnisses oder die Übernahme der Wehrpflichtigen ab- speziellen Fachthemen teilzunehmen, wird durch die lehnen, wenn die Ableistung des Wehr- oder Formulierung „soweit dies erforderlich ist“ aufgeweicht Zivildienstes bevorsteht. Wenn am Ende des Zwangs- und ad absurdum geführt. Für viele Zivildienstleistende dienstes dann der Arbeitsplatz weg ist, ist das nicht das gilt damit weiterhin das Prinzip „learning by doing“. Problem der Bundesregierung. Dies wird ihren verantwortungsvollen Aufgaben absolut Die Linke kann nicht hinnehmen, dass so mit der be- nicht gerecht! ruflichen Zukunft junger Menschen gespielt wird. Wir Zentrale Probleme des Zivildienstes werden in die- werden hier um Verbesserungen kämpfen. Schließlich sem Dritten Änderungsgesetz von der Koalition nicht bereitet es mir Sorgen, dass mit Zivildienstleistenden angegangen. Angesichts der Schließung von Zivildienst- verstärkt sozialversicherungspflichtige reguläre Arbeits- schulen und einer Kürzung der Mittel für Lehrgänge bei plätze besetzt und damit ersetzt werden. Der Ersatz- gleichzeitig mehr Zivildienstleistenden, kann nicht von dienst ist nicht arbeitsmarktneutral, wie ursprünglich einer Umgestaltung zum Lerndienst gesprochen werden. vorgesehen: Zivildienstleistende übernehmen oft Tätig- Es ist bezeichnend, dass erst kurz vor dem Ende Ihrer keiten, die im Grunde von ausgebildeten Fachkräften Regierungszeit eine Gesetzesänderung beschlossen ausgeübt werden müssen. Und sie werden außerdem von wird, bei der es mehr als zweifelhaft ist, dass sie tatsäch- der Zivildienststelle wegen der geringeren Lohnkosten lich zu spürbaren Verbesserungen im Alltag der Zivil- bevorzugt eingestellt. So tragen „Zivis“ unabsichtlich dienstleistenden führt. zur Verdrängung von regulären Arbeitsplätzen bei. Der angebliche „Lerndienst“ wird von Ihnen auch da- Die Linke will die Arbeit zum Beispiel in der Alten- durch konterkariert, dass Sie im aktuellen Haushaltsjahr betreuung, Kinderbetreuung sowie im Gesundheits- und 2009 die Mittel für Vorhaben zur Ausgestaltung des Zi- Pflegebereich anders organisieren: Wir brauchen hier vildienstes als Lerndienst von 750 000 Euro auf 350 000 (B) (D) vor allem gut ausgebildete und qualifizierte, wenigstens Euro mehr als halbiert haben. Das ist kein Signal für ei- nach gesetzlichem Mindestlohn bezahlte Fachkräfte, nen zivildienstpolitischen Aufbruch, sondern für Ab- nicht Zivildienstleistende als Nothilfsmaßnahme. Wir bruch gewesen. wollen einen öffentlich finanzierten Beschäftigungssek- tor, aber keinen Zivildienst zum Minimaltarif. Nicht zuletzt haben Sie in Ihrem Änderungsgesetz die Forderung von Verbänden nicht aufgegriffen, die frie- Der Gesetzentwurf führt insgesamt nicht zu einer zu- densethische Profilierung des Zivildienstes voranzutrei- kunftsfähigen Entwicklung des Zivildienstes. Natürlich ben und Lerninhalte wie „konstruktive Konfliktlösung“ begrüßt die Linke, dass sich die Mehrheit der jungen als Aufgabenstellung zu benennen. Männer für einen zivilen sozialen Dienst und nicht für den Kriegsdienst entscheidet. Sie dürfen jedoch für ihre Unseren Änderungsantrag, Ungleichbehandlungen gesellschaftlich wertvolle, anerkannte Arbeit nicht auch von Wehrpflichtigen und Zivildienstleistenden bei der noch benachteiligt werden. Teilnahme an Musterungsuntersuchungen zu beseitigen, haben Sie im Ausschuss abgelehnt, ohne auch nur ein Über alledem steht aber unsere Forderung: Die Wehr- einziges Gegenargument zu nennen. Ich appelliere an pflicht muss weg! Zum einen, weil die Linke eine Frie- Sie: Hören Sie endlich auf, den Gleichbehandlungs- denspartei ist, die sich den Menschenrechten und dem grundsatz mit Füßen zu treten! Erfinden Sie nicht immer Völkerrecht eng verbunden fühlt. Zum anderen, wie ge- neue Ausflüchte bei den Untauglichkeitszahlen, und las- sagt, weil die Wehrpflicht die Ausbildungs- und Berufs- sen Sie nicht erst Gerichte entscheiden, dass es mit der chancen beeinträchtigt. ungerechten Einberufungspraxis so nicht weitergehen Unsere Gesellschaft braucht engagierte und gut aus- kann! Erst gestern hat das Kölner Verwaltungsgericht er- gebildete junge Menschen. Anstatt dieses Potenzial in klärt, dass es die geltende Einberufungspraxis und die einem Zwangsdienst zu verheizen, wäre es dringend er- mit ihr verbundene Wehrungerechtigkeit als verfas- forderlich, allen jungen Menschen einen ungehinderten sungswidrig beurteilt, und hat eine entsprechende Rich- Einstieg ins Berufsleben zu ermöglichen und gleichzei- tervorlage an das Bundesverfassungsgericht weitergege- tig Freiwilligendienste wirklich zu fördern. ben. Sie haben in dieser Legislaturperiode die eklatante Wehrungerechtigkeit weiter verschlimmert und benach- teiligen dabei insbesondere die Kriegsdienstverweigerer Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das im und damit die Zivildienstleistenden. Koalitionsvertrag von Union und SPD vereinbarte Ziel, den Zivildienst zum Lerndienst umzugestalten, wird mit Durch die Uneinigkeit der Regierungskoalition wurde dem vorgelegten Gesetzentwurf verfehlt. Zwar ist es ein das Zivildienstgesetz deutlich verzögert. Hauptgrund 23352 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

(A) war die von der Union und Ministerin von der Leyen ge- Zivildienstleistenden Unrecht tun. Junge Männer geben (C) wollte optionale Dienstverlängerung, die das ungerechte im Zivildienst heute neun Monate ihres Lebens für un- System der Wehrpflicht weiter zementiert hätte. Erst auf sere Gesellschaft, leisten ihren Beitrag für mehr massiven Druck haben Sie dieses unsinnige Instrument, Menschlichkeit. Sie erleben die tägliche Praxis sozialer das reguläre Arbeitsplätze hätte gefährden können, wie- Probleme und menschliches Leid häufig zum ersten Mal. der aus Ihrem Gesetzentwurf gestrichen. Traurig, aber Dies ist für ihren späteren Lebens- und Berufsweg prä- wahr: Diese Nichtänderung ist das Beste an Ihrem Ge- gend. Ihre Werte, Einstellungen und Schlüsselqualifika- setz. Warum die FDP dieser „alten Kamelle“ nun einen tionen entwickeln und verändern sich in diesen neun eigenen Entschließungsantrag widmet, ist wenig ver- Monaten. Der Zivildienst ist daher eine besondere so- ständlich. An den weiterhin bestehenden und entschei- zial- und jugendpolitische Chance für unsere Gesell- denden Schwachpunkten des vorgelegten Gesetzes geht schaft. Deshalb ist es unsere Pflicht, diese neun Monate sie damit vorbei. Lerndienst weiterzuentwickeln. Das Dritte Zivildienst- gesetzänderungsgesetz wird den rechtlichen Rahmen da- Die heutige Verabschiedung des Gesetzes dokumen- für schaffen. tiert aber auch, dass die Koalition am Dogma der Wehr- pflicht und dem von ihr abgeleiteten Zivildienst festhält. Zum Dienstbeginn wird es für jeden Zivildienstleis- Dies ist im europäischen Vergleich strukturkonservativ, tenden einen besonderen Informationstag über Rechte rückwärtsgewandt und sicherheitspolitisch unnötig! und Pflichten, über Geld- und Sachbezüge geben. Da- rüber hinaus soll selbstverständlich jeder Zivildienstleis- Unsere grünen Alternativen zu dieser Politik sind tende weiterhin an einem Seminar zur politischen Bil- klar: ein Ausstieg aus der Wehrpflicht und die Konver- dung sowie jeder Zivildienstleistende mit fachlich sion des Zivildienstes, eine Verdoppelung der Freiwilli- anspruchsvoller Tätigkeit weiterhin an einem Seminar gendienstplätze und keine sozialen Pflichtdienste sowie zu fachspezifischen Fragen teilnehmen. In einem neuen parallel die Umwandlung der Bundeswehr in eine Frei- einwöchigen Seminar zur Vertiefung der persönlichen willigenarmee mit einem freiwilligen Kurzdienst für und sozialen Kompetenzen sollen die im Dienst erwor- junge Männer und Frauen. Neben diesen mittelfristigen benen Schlüsselqualifikationen und -kompetenzen für Zielen müssen kurzfristig die Möglichkeiten zum Ersatz die Zukunft der jungen Männer bewusst gemacht und des Pflichtdienstes durch Freiwilligendienste dringend gesichert werden. Ferner wollen wir die Gelegenheit zur ausgeweitet werden. Reflexion der Erlebnisse im Dienst schaffen. Dies ist vor Anstatt alte Strukturen zu zementieren, brauchen wir allem für die Zivildienstleistenden, die mit menschli- schnellstmöglich einen massiven Ausbau der Jugendfrei- chem Leid konfrontiert werden, eine wertvolle und not- willigendienste nach klaren und transparenten Qualitäts- wendige Unterstützung. (B) (D) standards. Hier gibt es ein riesiges Potenzial von engage- Den Dienst und die dort erworbenen Kompetenzen je- mentbereiten Jugendlichen, die nur darauf warten, sich des Zivildienstleistenden wollen wir, insbesondere für einbringen zu können. Als Grüne haben wir entspre- die berufliche Zukunft, in einem qualifizierten Dienst- chende Vorschläge zu Konzeption und Finanzierung ge- zeugnis für alle sichern. macht. In der Praxis bewährt hat sich, dass der Bundesbeauf- Notwendig ist jetzt der Mut zu klaren Entscheidungen tragte für den Zivildienst für jeden Zivildienstleistenden und richtigen Prioritätensetzungen. Ich hoffe, dass sich ohne Verpflichtung zur Einhaltung des Dienstwegs quasi in diesem Parlament bald die Mehrheit für Freiwilligkeit als Ombudsmann zur Verfügung steht und sich um seine statt Zwang entscheidet und es dann keine mutlosen Ge- Sorgen und Probleme kümmern kann. Das wollen wir setze zur Fortführung von Pflichtdiensten mehr gibt. gesetzlich klarstellen. Für sein persönliches und uner- müdliches Engagement möchte ich hier dem Bundesbe- Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der auftragten, Herrn Dr. Jens Kreuter, besonders danken. Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Ju- Außerdem soll der Bundesbeauftragte für den Zivil- gend: Am 10. April 1961 traten die ersten Kriegsdienst- dienst künftig in einem ausführlichen Bericht über die verweigerer ihren Wehrersatzdienst an; in diesem Jahr Entwicklung und Lage im Zivildienst Rechenschaft ab- werden mehr als 85 000 junge Männer ihren Zivildienst legen. leisten. Das ist etwa jeder vierte junge Mann eines Jahr- gangs. Dies wird für uns alle von großem Interesse sein; denn allein die Zahlen im Zivildienst sind beeindru- Gegenstand dieses Gesetzentwurfs und dieser Aus- ckend: Über 2,5 Millionen junge Männer haben seit sprache ist nicht die allgemeine Wehrpflicht. Solange es 1961 Zivildienst geleistet. Im Jahr 2007 haben wir eine diese gibt und solange junge Männer von ihrem Grund- Trendwende erreicht. Seitdem steigen die Zahlen wieder. recht auf Kriegsdienstverweigerung Gebrauch machen, Zusammen mit den Ersatzdiensten, insbesondere den so lange gibt es den Zivildienst. Und so lange ist es un- Friedensdiensten im Ausland, erfüllen Jahr für Jahr mehr sere gemeinsame Aufgabe, diesen Dienst so gut wie als 90 000 anerkannte Kriegsdienstverweigerer ihre Zi- möglich zu gestalten. vildienstpflicht. Leider gibt es Wehrpflichtgegner, die meinen, ihrem In den unterschiedlichsten Institutionen sind Zivil- Ziel zu dienen, wenn sie den Zivildienst kritisieren oder dienstleistende anzutreffen: in Krankenhäusern, in gar verteufeln. Ich wende mich entschieden gegen diese geschützten Werkstätten, integrativen Schulen, Alten- Stellvertreterkämpfe, die vor allem dem Engagement der pflegeeinrichtungen und bei der individuellen Schwerst- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23353

(A) behindertenbetreuung, aber auch bei Bahnhofsmissionen, men eine Schlüsselrolle ein. Da sie häufig schwache und (C) in der Kultur, im sozialen Sport oder im Umweltschutz. kranke Tiere fressen, tragen sie so zur Gesunderhaltung Ein neueres Einsatzgebiet sind Kindertagesstätten, in de- der Beutetierbestände bei. Da sich die Meeresökosys- nen Zivildienstleistende als männliche Bezugspersonen teme über Millionen von Jahren als Ganzes entwickelt für unsere Kinder mehr als willkommen sind. haben, kommt jeder Art eine wichtige Funktion zu. Wenn ein Beutegreifer im Nahrungsnetz verschwindet, Ebenso bedeutend ist, dass viele junge Männer zum kann es zur starken Vermehrung der Beutetiere kommen, ersten Mal soziale Felder unserer Gesellschaft erleben; und das Gleichgewicht gerät ins Wanken. Felder, die immer noch in ihrer Beschäftigungsstruktur weiblich dominiert sind. Erste Ergebnisse unseres der- Ungemach droht dem Hai vonseiten der Menschen. zeit laufenden Forschungsprojekts bestätigen dies ein- Wir stellen heute für den Hai eine viel größere Gefahr drucksvoll: Aus Sicht der Zivildienststellen entwickeln dar, als sie es für uns je waren. Haie sind nicht nur als sich die Kompetenzen der jungen Männer im Zivildienst Einzeltier, sondern in ihrer ganzen Spezies bedroht. Wie weiter. Insbesondere im Bereich der sozialen Kompeten- eine Studie aus dem Jahr 2003 zeigt, wurden die Hai- zen sehen über 90 Prozent der Zivildienststellen positive bestände im nordwestlichen Atlantik in den letzten Entwicklungen bei den Zivildienstleistenden. Mehr als 16 Jahren durchschnittlich um die Hälfte reduziert. Be- die Hälfte der Zivildienststellen wurde von den For- sonders stark betroffen sind einige große Arten: Der Ti- schern als „eher lernfeldaktiv“ bewertet. Bereits jetzt ge- gerhai büßte 65 Prozent, der Weiße Hai 79 Prozent und staltet eine große Anzahl von Einsatzstellen das Lernfeld der Hammerhai gar 89 Prozent seiner Bestände ein! Zivildienst aktiv. Auch in Europa sind die Haie von diesem Niedergang nicht verschont: Von den 116 verschiedenen in den Ge- Die Bundesregierung hat so zum richtigen Zeitpunkt wässern der Europäischen Union lebenden Haiarten sind einen Gesetzentwurf vorgelegt, der den Zivildienst auf zahlreiche vom Aussterben bedroht. So gelten bereits ein dieser tragfähigen Grundlage als Lerndienst weiter ge- Viertel der bei uns lebenden Haiarten als stark gefährdet stalten wird. oder vom Aussterben bedroht – weitere 20 Prozent sind gefährdet. Vom Dornhai ist beispielsweise nur noch 5 Prozent seines ursprünglichen Bestandes vorhanden. Anlage 10 Hauptsächliche Ursache dafür ist die starke Befi- Zu Protokoll gegebene Reden schung des Haies. Seit 1984 ist die weltweite Fang- zur Beratung der Beschlussempfehlung und des menge um ein Drittel auf 800 000 Tonnen pro Jahr ge- Berichts zu dem Antrag: Stärkung des europäi- stiegen. In der EU wurden 100 000 Tonnen gefangen. Als Beispiel sei an dieser Stelle nur an die Schillerlocke (B) schen Haischutzes (Zusatztagesordnungspunkt 7) (D) erinnert – eine Delikatesse in Deutschland. Diese wird aus dem Bauchlappen des Dornhais gewonnen. Damit Dr. Peter Jahr (CDU/CSU): Wir beraten heute die tragen auch die Verbraucher in unserem Land maßgeb- Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, lich zu dessen Dezimierung bei. Mittlerweile hat der Ap- Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag petit der Europäer dazu geführt, dass der Dornhai nur der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „Stärkung des eu- noch außerhalb von europäischen Gewässern gefangen ropäischen Haischutzes“. Um es vorwegzunehmen: Ich werden kann. Daneben verenden unzählige Haie als Bei- stimme der Beschlussempfehlung zu, den Antrag der fang auf der Suche nach Thunfisch und Marlin. Des Wei- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abzulehnen. teren werden Haie gezielt für pharmazeutische Produkte Bevor ich dies im Detail erläutere, möchte ich mich und zur Gewinnung der Haihaut für Lederprodukte aller zunächst dem Thema etwas genauer zuwenden, um das Art gejagt. Schließlich bedrohen auch gewisse Sportfi- es in diesem Antrag geht. Denkt man an einen Hai, dann scher den Hai, für die die Haikiefer begehrte Trophäen hat man in Anlehnung an berühmte Filme oft das Bild sind. Besonders grausam ist die Fangmethode, um an die eines angsteinflößenden und für Menschen gefährlichen Haifischflossen zu gelangen, das sogenannte „Finning“. Tieres vor Augen. Die Realität jedoch sieht anders aus. Die Flossen gelten als beliebte Delikatesse, und der Han- Haie sind in der Regel scheue und vorsichtige Fische. del damit gilt als besonders lukrativ. Den Haien werden Menschen gehören jedoch nicht zu ihrem Beuteschema. beim „Finning“ die Flossen abgeschnitten und die Tiere Pro Jahr gibt es nur ungefähr 100 Hai-Unfälle, von de- lebend ins Wasser zurückgeworfen, wo sie dann elendig nen fünf bis 15 tödlich enden. Diese sind zwar sehr tra- verenden. Die Flossen machen nur 14 Prozent des Kör- gisch, aber in der Relation zu den vielen Millionen Men- pers aus, bringen auf dem internationalen Markt aber schen, die jedes Jahr Aktivitäten im Wasser ausüben, ist wesentlich mehr als das Fleisch. Erschwerend kommt das eine sehr geringe Zahl. Generell gelten nur 44 der hinzu, dass die Haie nur sehr langsam wachsen und des- 500 Haiarten als gelegentliche Angreifer. halb eine längere Zeit für ihre Geschlechtsreife benöti- gen. Einige Haiarten erzeugen erst nach 15 oder bis zu Im Gegensatz zu seinem schlechten Image ist der Hai 30 Jahren Nachkommen und sind deshalb besonders an- vielmehr ein wichtiger Teil des maritim-biologischen fällig für Überfischung. Gleichgewichtes. Denn die Haie gehören zu den ältesten Tieren der Welt – schon vor den Dinosauriern schwam- Angesichts der dramatischen Situation der Hai- men sie durch die Meere. Noch heute besteht eine große bestände hat die Europäische Union bereits seit 2003 Artenvielfalt von über 500 verschiedenen Haiarten. Haie eine Reihe von Regelungen zur Erhaltung und nachhalti- leben in nahezu allen Gewässern auf der Welt. Sie neh- gen Bewirtschaftung von Haibeständen erlassen. Dazu 23354 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

(A) gehören die Festsetzung von Gesamtfangmengen und verzügliche Umsetzung an – nicht ohne Grund setzt sich (C) Quoten, die Finningverordnung, die Verordnung über die Bundesregierung daher seit langem für eine zügige das Management von Tiefseefischerei sowie ein Fang- Erarbeitung des Aktionsplanes und die Verabschiedung verbot für Riesenhai und Weißen Hai. Seit 2005 wurden klarer Ratsbeschlüsse in Brüssel ein. zudem immer strengere Regelungen zum Schutze des Dornhaies und des Heringshaies erlassen. Konnte zu- Dabei kommt folgenden Punkten besondere Bedeu- nächst noch unkontrolliert Jagd auf beide Arten gemacht tung zu: So gilt es zunächst einmal, die Datenlage zu werden, hat sich dies nun geändert. So ist der gezielte verbessern, damit man am Ende auch genau weiß, wo- Fang verboten und lediglich der Beifang erlaubt. Aber rüber man eigentlich redet. Ohne genaue Angaben über auch hier wurden die Quoten kontinuierlich zum Schutz den Bestand einzelner Haiarten ist es nur sehr schwer der Tiere gesenkt. möglich, sinnvolle und zielführende artspezifische Re- gelungen zu deren Schutz und Bewirtschaftung zu fin- Mit dem am 5. Februar 2009 von der EU-Kommis- den. Zudem gilt bei allen Maßnahmen zu beachten, dass sion vorgelegten Haiaktionsplan sollen nun Ratsbe- Haie nur über niedrige Reproduktionsraten verfügen und schlüsse zu zusammenhängenden Maßnahmen zum Schutz von einer Überfischung daher besonders betroffen sind. und Wiederaufbau sowie zur Sicherstellung einer nach- Auch die wichtige Bedeutung der Haie für das Ökosys- haltigen Bewirtschaftung von Haien innerhalb der EU tem muss berücksichtigt werden. In diesem Zusammen- vorbereitet werden. Dabei sollen die bereits genannten hang ist auch die Vermeidung von Beifängen besonders Regelungen zusammen mit weiteren Maßnahmen in ei- wichtig. Hier müssen technische Lösungen gefunden nem schlüssigen und zielführenden gemeinschaftsweiten werden, damit diese Tiere nicht mehr oder weniger zu- Plan zum Schutz der Haie zusammengeführt werden. fällig in den Netzen der Fischer landen. Dies kann man Auch wenn man nun kritisieren kann, dass es lange ge- sich angesichts der angespannten Bestandssituation nicht dauert hat, bis sich die EU mit dem Schutz der Haie in- länger leisten. Wenn es doch zu unerwünschten Beifän- tensiv befasst hat, ist es nicht zuletzt dem Druck gen kommt, muss auch klar geregelt sein, in welchem Deutschlands zu verdanken, dass dies nun geschehen ist. Zustand der Hai sein muss, damit man ihn wieder zurück Ein großer Erfolg, wie ich finde. Vor allem für die in den ins Wasser werfen kann, ohne ihn vorsätzlich an Bord Gewässern der EU lebenden Haiarten! des Schiffes oder im Wasser verenden zu lassen. Dieser EU-Haiaktionsplan enthält nun kurz gesagt Abschließend ist auch – wie von Abgeordneten der Regelungen zur besseren Erforschung der Haibestände, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gefordert – die soge- der Rolle der Haie im Ökosystem, verfolgt das Ziel einer nannte Finningverordnung zu verbessern. Hier gibt es nachhaltigen Haifischerei, einer Regulierung der Bei- ganz klare Defizite, sodass nach wie vor noch viel zu (B) fänge und einer Verschärfung des Verbotes des Abtren- vielen Tieren nach dem Fang die Flossen abgeschnitten (D) nens von Haifischflossen. Die endgültigen Schlussfolge- werden. Die Bundesregierung wird sich für eine unver- rungen des Agrar- und Fischereirates sind für Ende April zügliche Überarbeitung dieser Verordnung einsetzen, um zu erwarten. diesen tierquälerischen Methoden einen Riegel vorzu- schieben. Hier habe ich einen klaren Standpunkt: Ohne Hier setzt auch der Antrag der Fraktion Bündnis 90/ einen vernünftigen Grund darf man kein Tier töten. Eine Die Grünen an, die den Aktionsplan als in Teilen zu vage Verwendung von nur 15 Prozent der Tiere für die kritisiert. Die Bundesregierung soll sich daher für die zü- menschliche Ernährung ist sicherlich kein solcher gige Konkretisierung und Umsetzung der Ziele des EU- Grund. Diesem Anspruch muss die überarbeitete Fin- Haifischaktionsplans einsetzen. Angesichts der Dezi- ningverordnung gerecht werden. mierung der Haifischbestände sei ein besonderer Schutz – insbesondere der bereits gefährdeten Arten – dringend Um es auf den Punkt zu bringen: Die Bundesregie- erforderlich. Die Bundesregierung solle sich daher dafür rung setzt sich bereits sehr engagiert und erfolgreich für stark machen, im Rahmen der Umsetzung des EU-Hai- den Schutz der Haie ein. Und dies nicht nur im Rahmen aktionsplans, die Fang- und Beifanghöchstgrenzen für der Verhandlungen zum Haiaktionsplan auf europäischer alle Haiarten zu reduzieren und für gefährdete Arten auf Ebene. Auch auf internationaler Ebene nutzt die Regie- null herabzusetzen, sich auf internationaler Ebene kon- rung zahlreiche Organisationen und Abkommen, um den sequent für den Schutz gefährdeter Haie einzusetzen und Schutz von Haibeständen sicherzustellen. Als Beispiel Ausnahmeregelungen des EU-weiten Finningverbotes sei nur einmal die Vertragstaatenkonferenzen des Bonner zu beenden und dies auch zu kontrollieren. Übereinkommens zum Schutz wandernder, wild leben- der Tierarten erwähnt. Hier hat man sich erfolgreich für Diesen Antrag habe ich mit Interesse zur Kenntnis ge- die Aufnahme des Dorn- und Heringshais eingesetzt. nommen, muss aber im Ergebnis feststellen, dass er Gleiches soll bei dem Washingtoner Artenschutzüber- nicht notwendig ist, da die Bundesregierung bereits auf einkommens wiederholt werden. allen Feldern, die der Antrag anspricht, aktiv geworden ist – und dies auch mit Erfolg. Lassen Sie mich das et- Zusammenfassend lautet mein Petitum deshalb: Ers- was genauer ausführen, wobei ich eines besonders beto- tens. Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist nen möchte: Wir setzen uns nachdrücklich für eine nach- wegen fehlender gegenwärtiger Notwendigkeit, auf- haltige Fischerei von Haien und einen verstärkten Schutz grund der bereits großen Anstrengungen der Bundesre- von gefährdeten Haiarten ein. Deshalb begrüßen wir den gierung im Rahmen des Haischutzes, abzulehnen. Zwei- EU-Haiaktionsplan ausdrücklich. Damit dieser erfolg- tens. Zudem kündige ich bereits heute an, dass wir das reich sein kann, kommt es auf eine konsequente und un- Thema Anfang Mai erneut im Ausschuss beraten wer- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23355

(A) den, um uns über die endgültigen Ergebnisse des Haiak- lang verhalten voran. Deutschland hat kein Interesse an (C) tionsplanes zu informieren. einer langsamen Umsetzung des Haiaktionsplanes. Die Bundesregierung konnte für ihr Vorhaben, den Dornhai Wir tragen eine große Verantwortung für unsere Mit- auf der 14. CITES-Konferenz in Anhang II listen zu las- geschöpfe, denn sie bereichern nicht nur unser Leben, sen, keine Mehrheit gewinnen. Aber sie hat bereits ange- sie ermöglichen es erst. Deshalb profitieren vom Schutz kündigt, es auf der nächsten Konferenz im Jahr 2010 er- der Haie nicht nur die Tiere, sondern auch wir selbst. neut zu versuchen.

Holger Ortel (SPD): Mit dem am 5. Februar von der Im Agrar- und Fischereirat im Dezember 2008 hat Kommission verabschiedeten Haiaktionsplan kommt sich die Bundesregierung bereits für ein Verbot der ge- endlich mehr Bewegung in das Vorhaben des Schutzes zielten Fischerei auf Dornhai in Gemeinschaftsgewäs- gefährdeter Haibestände in Gewässern inner- und außer- sern eingesetzt. Der Rat konnte sich aber nicht dafür ent- halb der Gemeinschaft. Die Bemühungen gingen zu- scheiden. Die Bundesregierung hat allerdings eine nächst schleppend voran. Sie nehmen nun aber an Fahrt Mehrheit für ein Verbot der Fischerei auf Dornhai ab auf. Es gilt, einige gefährdete Bestände effektiv zu dem Jahr 2010 finden können. Ich kann versichern: Die schützen, was jedoch vor dem Hintergrund unterschied- Bundesregierung wird sich hier auch für die Einhaltung licher Interessen in der Gemeinschaft eine komplexe dieses Verbotes stark machen und darüber hinaus für Er- Aufgabe darstellt. haltungsmaßnahmen des Heringshais einsetzen. Für Haie gilt, was für alle Meeresbewohner gilt: Sind Der Antrag der Grünen geht leider gar nicht auf die sie gefährdet, brauchen sie unseren Schutz. Ich möchte Gewässer außerhalb der Gemeinschaft ein, in denen die an dieser Stelle betonen, dass von den im Antrag aufge- Mitgliedstaaten Haie gezielt oder als Beifänge fangen. führten 130 Arten einige Bestände in bedrohlichem Zu- Auch darauf findet der Haiaktionsplan Anwendung. Bei stand befinden. Deshalb begrüßen wir den Haiaktions- der Bewirtschaftung dieser Bestände kann die Gemein- plan und die Bemühungen der Bundesregierung, diesen schaft auf die Nachhaltigkeit hinwirken. In einer Reihe Plan zügig umzusetzen. Was die konkrete Umsetzung von regionalen Fischereiorganisationen ist die Gemein- des Plans allerdings anbelangt, bleibt der Antrag doch schaft Mitglied. Ich möchte die Bundesregierung auffor- weitestgehend unkonkret. Ich hätte mir schon ein wenig dern, auch in diesen Organisationen, wie zum Beispiel mehr erhofft als die Forderung nach der zügigen Kon- NEAFC oder NAFO, die Bemühungen für eine Verbes- kretisierung und Umsetzung. Ihr Antrag sagt nichts über serung der Datenlage und für angemessene Bewirtschaf- Ihre Vorstellungen über konkrete Maßnahmen aus. Da- tungsmaßnahmen weiterhin zu unterstützen. Hier zeigt mit machen sie es sich zu einfach. Eine gezielte, nach- sich, dass die verschiedenen Bestände nicht alle in (B) haltige Bewirtschaftung der Haibestände ist kompliziert. schlechtem Zustand sind. Ein großes Handelsunterneh- (D) Wie ja bekannt ist, werden die meisten Haie als Beifänge men, Vorreiter im Vertrieb ökozertifizierter Produkte, hat angelandet, in der Tiefseefischerei, der demersalen wie die Schillerlocke, die aus dem Bauchlappen des Dorn- auch der pelagischen Fischerei. Die gemischten Fische- hais hergestellt wird, wieder in sein Sortiment aufgenom- reien, vor allem die demersalen, so zu regeln, dass Bei- men. Es lässt sogar den Dornhai im Nordwestatlantik zer- fänge vermieden werden können, ist eine komplexe Auf- tifizieren. Eine gezielte Betrachtung der verschiedenen gabe. In einigen Teilen der Tiefsee existiert ein Bestände, auf die der Haiaktionsplan abzielt, ist also an- Stellnetzverbot, durch das Tiefseehaie geschont werden. gebracht. Ein Verbot kann aber nicht überall Anwendung finden. Abschließend möchte ich auf den letzten Punkt des Für eine nachhaltige Befischung unter Schonung der Antrages, die Aufklärung und Information der Bevölke- Haifischbestände bedarf es der Erforschung und Ent- rung über mögliche gesundheitsschädigende Auswirkun- wicklung fangtechnischer Methoden, die es ermögli- gen des Verzehrs von Haifleisch, eingehen. Die Bundes- chen, andere Fischarten zu befischen, ohne dass gleich- regierung ist sowohl auf dem Gebiet der Forschung wie zeitig Haie als Beifänge ins Netz gehen. Die Selektivität auch auf dem Gebiet der Aufklärung und Information der Fangtechniken muss mit dem Ziel einer Verringe- der Bevölkerung aktiv. Die Bundesregierung verfügt rung des Beifangs von Haien erhöht werden. über gute Kenntnisse zur Belastung von Haifischfleisch mit toxischen Substanzen wie beispielsweise Methyl- Doch dazu braucht es auch eine fundierte wissen- quecksilber. Die zuständigen Bundesländer prüfen risi- schaftliche Basis. Die Rolle der Haie als Predatoren im koorientiert und anhand von Stichproben, ob die gelten- Ökosystem ist bislang nur ansatzweise bekannt. Diese den lebensmittelrechtlichen Bestimmungen eingehalten muss noch wesentlich mehr erforscht werden. Der ICES werden. Angesichts eines durchschnittlichen Pro-Kopf- oder andere wissenschaftliche Einrichtungen können es Verbrauchs von bis zu 15,7 Gramm tut die Bundesregie- gar nicht leisten, von jetzt auf gleich die Bestände der rung das ihr Mögliche, um die Bevölkerung vor den wichtigsten Haibestände zu schätzen, sodass auch Maß- möglichen Gefahren des Verzehrs von Haiprodukten zu nahmen zur Erhaltung der Bestände nur sukzessive ein- warnen. Im Übrigen ist der Verbrauch in Deutschland geführt werden können. Und mit der Bestandsschätzung seit Jahren rückläufig. wäre ja erst ein Anfang gemacht. Ich denke, das Grundanliegen dieses Antrages wird in Den im Februar vorgelegten Haiaktionsplan begrüßen allen Fraktionen positiv gesehen. Aber worauf die Bun- wir ausdrücklich. Die Bemühungen um die Haie inner- desregierung festgelegt werden soll, ist eine Mischung und außerhalb der Gemeinschaftsgewässer gingen bis- aus Maßnahmen, die sie bereits ergriffen hat, und Maß- 23356 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

(A) nahmen, die keineswegs praktikabel sind. Dabei sollte wässern hat sich die Bestandssituation des Dornhais vor (C) Ihnen doch bekannt sein, dass sich die Bundesregierung der Westküste der USA, Nordostpazifik, in den vergan- nachdrücklich für ein verantwortungsvolles Manage- genen Jahren deutlich verbessert. Der Bestand ist hier ment von Haifischereien und für einen verstärkten mittlerweile wieder so gut, dass die offiziellen Fangquo- Schutz gefährdeter Haiarten einsetzt. Jeder will einen ten für die Jahre 2007 und 2008 erhöht werden konnten. angemessenen Schutz für gefährdete Meerestiere, aber Die Dornhai-Populationen um Südafrika und im Südpa- mit undifferenziertem Aktionismus und ungenauer Da- zifik um Australien und Neuseeland herum werden nach tenlage werden wir diesen Schutz nicht erreichen. Angaben der IUCN-Roten-Liste als „nicht gefährdet“ eingestuft. Für die Zukunft bietet sich bezogen auf den Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Haie sind fas- Dornhai noch eine weitere Alternative: Es gibt derzeit zinierende Tiere. Der Hai gehört mit den Rochen und vielversprechende Bestrebungen, den Dornhai als erste Seekatzen zu den Knorpelfischen. Weltweit umfasst Haiart durch den Marine Stewardship Council, MSC, diese Fischgruppe über 1 000 verschiedene Arten. In den zertifizieren zu lassen. Nach jetziger Planung, wird diese EU-Gewässern lassen sich insgesamt 118 unterschied- MSC-Zertifizierung bereits Ende 2009 ihren Abschluss liche Arten nachweisen. gefunden haben. Wir befürworten eine Zertifizierung durch den MSC, weil dadurch die nachhaltige Bewirt- Bei vielen Menschen verursachen Haie eher Angst schaftung von Dornhaibeständen gesichert wird. Das und Schrecken als Interesse. Durch Kinofilme wie „Der heißt, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher auch weiße Hai“ wird das negative Image der Haie als men- künftig nicht völlig auf den Genuss der beliebten Schil- schenfressende Killer weiter verstärkt – ganz zu Un- lerlocken verzichten müssen. Als Schillerlocken werden recht, denn es gibt nur wenige Beweise für die viel- die geräucherten Bauchlappen des Dornhais bezeichnet. zitierte Gefährlichkeit der Haie. Unsere Angst vor dem Mythos Hai ist auf die generelle menschliche Furcht vor Aus Sicht der FDP ist von besonderer Bedeutung, dem Unbekannten, dazu in dem uns fremden Element dass im EU-Aktionsplan ein umfassendes Verbot des Wasser, zurückzuführen. Finnings EU-weit implementiert wird. Nur durch eine solche Maßnahme kann sichergestellt werden, dass diese Mittlerweile sind viele Haiarten in ihrem Bestand be- tierschutzwidrige Praxis endlich beendet wird. Beim so- droht. Der Anfang des Jahres vorgestellte EU-Aktions- genannten Finning werden den Fischen die Flossen ab- plan für die „Erhaltung und Bewirtschaftung der Hai- geschnitten, und die oft noch lebenden Tiere werden an- bestände“ führt den Rückgang der Haipopulationen schließend ins Meer zurückgeworfen. Die gewonnenen primär auf die spezifischen biologischen Merkmale der Haifischflossen werden als beliebte Delikatesse zumeist Haie sowie auf eine unregulierte und zu intensive Befi- auf dem asiatischen Markt vertrieben; sie finden sich (B) schung zurück. Weltweit ist der legale Haifischfang zwi- aber auch auf den Speisekarten vieler europäischer Res- (D) schen 1984 und 2004 von 600 000 auf 840 000 Tonnen taurants wieder. im Jahr angestiegen. Hinzu kommen schätzungsweise circa 13 Millionen Haie, die pro Jahr als ungewollter Die FDP setzt sich in diesem Bereich für die von Fi- Beifang in der Fischerei verenden. Wegen ihres biolo- schereiwissenschaftlern schon seit langem geforderte gisch bedingten geringen Reproduktionspotenzials kön- Hai-Ganzkörperanlandung im Hafen ein – nur so kann nen sich die Haibestände nur schwer von Überfischung gewährleistet werden, dass kein Finning praktiziert wird. oder anderen negativen Entwicklungen erholen. Ein weiteres Ziel muss nach unserer Auffassung sein, Die derzeit in der EU gültigen Fanggrenzen für den auf internationaler Ebene konsequent für eine Verbesse- Hai und die bestehenden Schutzbestimmungen gelten rung des Schutzes gefährdeter Haiarten einzutreten. Die nur für wenige Arten und sind häufig entgegen den wis- Verminderung von Haifisch-Beifängen im Bereich der senschaftlichen Empfehlungen des Internationalen Rates Industriefischerei ist hierfür eine geeignete Maßnahme. für Meeresforschung, I-CES, erfolgt; sie sind zumeist zu Die FDP hatte bereits in der vergangenen Legislatur- hoch. Im Nordostatlantik sind bereits ein Drittel aller periode in ihrer Initiative: „Industrieller Fischfang in Haiarten vom Aussterben bedroht und auf der Roten Nord- und Ostsee“, Bundestagsdrucksache 15/1447, ge- Liste der bedrohten Arten der Weltnaturschutzunion, fordert, die Industriefischerei in den EU-Gewässern ein- IUCN, zu finden. Deutschland hat sich bereits in der zuschränken. Weder die rot-grüne noch die jetzige Bun- Vergangenheit in der Diskussion um den Haiaktionsplan desregierung haben in diesem Bereich bislang etwas für den Schutz der Haie eingesetzt. Unser Land hat in unternommen. den letzten Jahren mehrere Artenschutzinitiativen, wie Die im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen gestellte Anträge beim Washingtoner Artenschutzübereinkom- Forderung zur stärkeren Kontrolle und Überwachung men, CITES, für Dorn- und Heringshai sowie die Auf- von Fischtrawlern der EU-Fangflotte verkennt, dass be- nahme von Hai- und Rochenarten auf die Liste der ge- reits heute umfangreiche Überwachungsmaßnahmen er- fährdeten Arten bei der Oslo-Paris Konvention, OSPAR, folgen. Eine zusätzliche Verschärfung der Kontrollen in eingebracht. der Fischerei führt zu weiterem bürokratischen Aufwand Die FDP-Bundestagsfraktion setzt sich im Rahmen und ist für die Fischer nicht mehr hinnehmbar. Trotzdem der Umsetzung des EU-Haiaktionsplanes für die Redu- stimmt die FDP-Bundestagsfraktion dem vorliegenden zierung der Fanghöchstgrenzen für Haiarten, besonders Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zu. Wir wollen, dass für die in den EU-Gewässern gefährdeten Arten wie der EU-Haiaktionsplan zügig konkretisiert und umge- Dorn- und Heringshai, ein. Anders als in den EU-Ge- setzt und das jeglichem Tierschutz widersprechende Fin- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23357

(A) ning beendet wird. Die Einschätzung der Großen Koali- der Grundschleppnetzfischerei, sechstens die wissen- (C) tion, es sei schon alles getan worden, teilen wir nicht. schaftliche Erfassung der existierenden Haibestände, siebtens fordern wir die Erfassung und zentralisierte Sammlung von Daten über den Handel mit Haien, ach- Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Die Linke tens eine verbraucherschutzrelevante Informationspoli- unterstützt ausdrücklich den Antrag der Fraktion Bünd- tik und Transparenz über giftige Inhaltsstoffe, die beim nis 90/Die Grünen zur Stärkung des europäischen Hai- Verzehr von Raubfischarten zwangsläufig aufgenommen schutzes. Knorpelfische, zu denen der Hai gehört, zählen werden, und neuntens die Errichtung großflächiger Mee- zu den ältesten Lebewesen. Ihr Alter wird auf mehr als resschutzgebiete. 400 Millionen Jahre geschätzt. Gegenüber anderen Fischarten zeichnen sie sich durch ein sehr langsames Wachstum und ein spätes Einsetzen der Geschlechtsreife Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE aus. Beim Dornhai zum Beispiel setzt die Geschlechts- GRÜNEN): Entgegen weitverbreiteter Vorstellungen, Haie reife erst mit etwa 25 Jahren ein. Die Fortpflanzungsrate kämen bei uns nicht vor, leben etwa 130 verschiedene ist vergleichsweise niedrig. Hai-, Rochen- und Chimärenarten in den EU-Gewäs- sern. Deren Bestände wurden in den letzten Jahren stark Das alles führt dazu, dass Haie besonders empfindlich dezimiert. Gründe dafür sind hauptsächlich die nicht auf Fischerei reagieren. Bestandsverluste sind kaum aus- nachhaltige Fischerei und die gestiegene Nachfrage nach zugleichen. Daraus folgt, dass Maßnahmen zur Erhal- Haiprodukten, insbesondere nach Haiflossen im asiatischen tung der Bestände langfristig angelegt werden und einer Raum. Haie werden nicht nur als Beifang angelandet, strengen Kontrolle unterliegen müssen, so Haifischex- sondern seit Mitte der 80er-Jahre auch verstärkt gezielt pertin Diane E. Notwendig. Artenspezifische Fangme- gejagt. thoden sowie die weltweite Ächtung der grausamsten Methode der Haitötung, des „Finnings“ – hier werden Haie aber sind gegenüber Überfischung besonders nach dem Fang die Flossen abgetrennt; anschließend empfindlich, da die meisten Haiarten sehr langsam wird der Hai wieder ins Meer geworfen, wo er elend zu- wachsen, sehr alt werden und nur wenige Nachkommen grunde geht – sind erforderlich. haben. Laut Weltnaturschutzunion, IUCN, ist rund ein Drittel der Haiarten in den europäischen Gewässern vom Im Hinblick auf artenspezifische Fangmethoden sind Aussterben bedroht. Zudem gibt es einen deutlichen all- vor allem solche zu fördern, die ungewünschten Beifang gemeinen Rückgang der Haipopulationen. weitgehend verhindern. Täglich werden Hunderte Ton- nen Beifang über Bord gekippt. Beifang kann man fol- Neben der negativen Auswirkung der Dezimierung gendermaßen illustrieren: Man nimmt eine Tüte Smar- der Haibestände auf die Haiarten selbst kann diese auch (B) (D) ties, sucht sich die roten heraus und wirft den Rest weg. sehr ernste Folgen für das gesamte Meeresökosystem sowie Dem Meer zurückgegebener Beifang hat zumeist eine die Fischereiwirtschaft haben. Haie stehen im Meeresöko- schlechte Überlebenschance. system an der Spitze der Nahrungspyramide, sie tragen zur Gesunderhaltung der Beutetierbestände bei und haben Mit dem EU-Haiaktionsplan sollen der Erhalt und die daher eine wichtige Funktion. Ein stärkerer Schutz der Bewirtschaftung der Haifischbestände streng reguliert Haie – insbesondere der bereits gefährdeten – ist daher werden. Darüber hinaus ist vorgesehen, die Bevölkerung dringend erforderlich. über die Gesundheitsgefahren beim Verzehr von Haifleisch aufzuklären. Bei Stichprobenuntersuchungen, Am 5. Februar hat die EU-Kommission einen Aktions- auch in Deutschland, wurden Konzentrationen von Me- plan zur Erhaltung und Bewirtschaftung der Haibestände thylquecksilber festgestellt, die deutlich über dem in europäischen Gewässern – den sogenannten Haiaktions- Grenzwert lagen. In einem vom Sharkprojekt initiierten plan – vorgelegt. Wir begrüßen diesen Schritt der EU- Forschungsprojekt – vergleiche „Unterwasser“ 10/05 – Kommission sehr, da der Aktionsplan gute Vorschläge wurde zudem auf die gesundheitlichen Folgen aufmerk- für Maßnahmen enthält, um unter anderem Haibestände sam gemacht. und -fischereien sowie die Rolle der Haiarten im Öko- system besser zu erforschen, eine nachhaltigere, gezielte Zur Stärkung des Haifischschutzes fordert die Linke: Haifischerei durchzusetzen und Beifänge zu regulieren Erstens dürfen Haifische und Kadaver innerhalb der EU und eine strengere Überwachung des Finningverbots zu zur besseren Finningkontrolle nicht mehr getrennt entla- erzielen. den werden, um Kontrolle zu ermöglichen, zweitens for- dern wir das Ganzkörperanlandungsgebot – Verhältnis Teilweise sind die Vorschläge im EU-Haiaktionsplan je- zwischen Flossen und Kadavern zur Finningkontrolle –, doch sehr vage gehalten, weswegen die Phase der Imple- drittens die Entwicklung und Umsetzung eines ökosys- mentierung der vorgeschlagenen Maßnahmen und die Um- temrelevanten europäischen Aktionsplanes für Haie mit setzung des Aktionsplans nun entscheidend sein werden. Fangbegrenzungen nach wissenschaftlicher Maßgabe, Bereits am 24. und 25. April soll auf der Ratssitzung viertens den Schutz der von der Ausrottung bedrohten über den Aktionsplan entschieden werden. Daher for- Haiarten – Aufnahme in den Anhang II des Washingto- dern wir die Bundesregierung auf, sich bei dieser Rats- ner Artenschutzabkommens CITES, fünftens die Reduk- sitzung im Sinne des Haischutzes für eine konsequente tion der Beifangmengen in der Fischerei – Änderungen und zügige Verabschiedung und Umsetzung des EU-Hai- der Fischereitechniken – die Reduktion der Überkapazi- aktionsplans einzusetzen und bereits im Vorfeld konkrete täten der europäischen Fischfangflotten und das Verbot Maßnahmen zu erarbeiten. 23358 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

(A) Konkret fordern wir die Einführung einer obligatori- die Zuständigkeit der Kartellbehörden im Gesetz. Dies (C) schen Meldepflicht der Haifänge und Beifänge von Haien ist wichtig, falls Zahlungsdienstleistern der Zugang zu für die EU-Mitgliedstaaten, um die Situation der Bestände Zahlungssystemen verwehrt werden sollte. Die Bundes- besser erfassen zu können, die Fang- und Beifanghöchst- regierung soll zudem prüfen, ob die gefundene Regelung grenzen für alle Haiarten zu reduzieren und für gefährdete ihr Ziel effektiv erfüllt. Es erfolgt eine deutliche Beto- Haiarten wie Dornhai oder Heringshai auf Null herabzu- nung des freien Marktzugangs ohne Diskriminierung, setzen, die Schließung der Ausnahmeregelungen und vor allem auch für grenzüberschreitende Tätigkeiten. Schlupflöcher des EU-weiten Finningverbots und stärkere Wir grenzen ein, wem gegenüber Teilnehmer an Zah- Kontrollen an Bord der Fischtrawler zur Überwachung lungssystemen interne Daten offenlegen müssen. Dies des Verbots und die Aufklärung und Information der Be- hätte sonst zur Offenbarung von Geschäftsgeheimnissen völkerung über mögliche gesundheitsschädigende Aus- führen können. Von den Maßnahmen profitieren insbe- wirkungen des Verzehrs von Haifleisch zu verstärken. sondere kleine und neue Unternehmen – und selbstver- Auch in Deutschland wird Haifleisch – unter anderem in ständlich der Kunde. Wir haben beträchtlich entbürokra- Form von Haisteaks oder vor allem unter dem Namen tisiert. So ist nun klargestellt, dass nur die jeweils Schillerlocke – konsumiert. Doch der Verzehr kann nega- strengeren Anforderungen gelten, wenn im ZAG und tive Folgen für die Gesundheit haben, da Haifleisch stark KWG parallele Regelungen vorhanden sind. Münzgeld- mit toxischen Substanzen wie Methylquecksilber belastet handling soll in der Regel nicht unter eine Aufsicht fal- ist, welches von der WHO als möglicher Krebsauslöser len. Zahlungen innerhalb von Konzernen oder Verbund- geführt wird. gruppen sind nicht erfasst. Damit haben wir auch ein einhelliges Petitum von Bundesrat und Zentralem Kredit- Es ist höchste Zeit, den Haischutz auf europäischer ausschuss aufgenommen. Automatisch erteilte Erlaub- Ebene voranzutreiben. Der Aktionsplan der EU-Kom- nisse für Zahlungsdienstleistungen sollen darüber hinaus mission muss daher zügig und konsequent umgesetzt einfach und unbürokratisch zurückgegeben werden kön- werden. Im Sinne eines konsequenten Verbraucherschutzes nen. ist darüber hinaus die Aufklärung über mögliche gesund- heitliche Risiken durch den Verzehr von Haiprodukten Nach dem Jahressteuergesetz 2009 waren eine Reihe dringend erforderlich. Ich bitte Sie daher, unserem Antrag von Folgeänderungen im Kreditwesengesetz notwendig zuzustimmen. geworden, die wir jetzt umgesetzt haben. Für einige Un- ternehmen, zum Beispiel Acquirer im Kreditkartenge- schäft, ist von besonderer Bedeutung auch die Korrektur Anlage 11 eines Schreibfehlers in der Zahlungsdiensterichtlinie, so- weit dies national möglich ist. Formal korrekt kann dies (B) Zu Protokoll gegebene Reden zwar nur auf EU-Ebene erfolgen. Wir haben aber im Be- (D) zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur richt klargestellt, dass die Behörden ihre Verwaltungs- Umsetzung der aufsichtsrechtlichen Vorschrif- praxis anpassen sollen. Kein Unternehmen soll wegen ten der Zahlungsdiensterichtlinie (Zahlungs- eines Schreibfehlers der EU Nachteile erleiden. diensteumsetzungsgesetz) (Zusatztagesordnungs- Auch aus Verbrauchersicht ist das ZAG ein großer punkt 8) Schritt nach vorne. Einige sehen zwar die Gefahr von re- volvierenden Krediten und Überschuldung der Verbrau- Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU): Wir fassen cher. Diese Befürchtung teile ich aber nicht. Das deut- heute den Beschluss über das Zahlungsdiensteumset- sche Kreditkartensystem ist einfach nicht mit dem zungsgesetz (ZAG). Welche Ziele verfolgen wir damit? angelsächsischen System vergleichbar. Außerdem hätte Zum einen die gebotene Umsetzung der europäischen eine von der Richtlinie abweichende Regelung dem „Eu- Zahlungsdiensterichtlinie. Inhaltlich geht es um eine an- ropäischen Pass“ widersprochen. Dieser setzt voraus, gemessene Aufsicht über den Zahlungsverkehr, um mehr dass Zahlungsdienste in allen EU-Ländern nach den Wettbewerb im Binnenmarkt und mehr Nutzen für Kun- gleichen Bedingungen angeboten werden können. Zu- den und Anbieter. In den vergangenen Wochen haben dem wird im ZAG nur der aufsichtsrechtliche Teil der wir in großer Detailarbeit eine Vielzahl von Änderungen Richtlinie umgesetzt. Weitergehende Überlegungen zum gegenüber dem Regierungsentwurf vorgenommen. Verbraucherschutz sollten daher im Verfahren zum zivil- Diese Detailarbeit hat sich auch in ergänzenden Hinwei- rechtlichen Teil angesprochen werden; denn dort geht es sen im Ausschussbericht fortgesetzt. Herauszustellen um das Verhältnis von Kunde zu Zahlungsdienstleister. sind sicher folgende Punkte: Wir stärken die Aufsicht Aber auch im Rahmen des ZAG haben wir viel für den nochmals deutlich. Dies ist wichtig unter dem Eindruck Verbraucherschutz getan. Es gibt nun klare Anforderun- der Finanzmarktkrise. Dafür führen wir Monatsausweise gen an Zahlungsinstitute, zum Beispiel bezüglich der für Zahlungsinstitute ein, damit Behörden schnellen Zu- Eigenmittelanforderungen. Wir haben die Regelungen gang zu Informationen haben. Und wir stellen klar, dass auch für andere Sicherungsmaßnahmen im Sinne der Eigenkapital in Institutsgruppen nicht mehrfach genutzt Verbraucher ausgeschöpft, anders als in anderen Län- werden kann. Wir können darüber hinaus auch davon dern. Ein Beispiel: Es gibt eine strikte insolvenzrecht- ausgehen, dass im sogenannten Abrechnungsverkehr liche Absicherung von Kundengeldern bei Zahlungs- keine Aufsichtslücken bestehen. Wir stärken den Wett- instituten. Dies ist der Ersatz für die fehlende bewerb erheblich. Und hierauf lege ich für die CSU be- Einlagensicherung. Deshalb müssen Kundengelder auf sonderen Wert. So gibt es jetzt einen klaren Hinweis auf Treuhandkonten verwaltet oder von Banken oder Versi- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23359

(A) cherungen garantiert werden. Dies gilt in Deutschland zu, dass diese Bundesratsinitiative zumindest „politisch (C) auch unterhalb der Summe von 600 Euro. Vor allem aber instinktlos“ ist – wenn nicht Schlimmeres. wird der Verbraucher von mehr Wettbewerb, mehr Für uns Sozialdemokraten steht fest: Am Recht der Transparenz im einheitlichen europäischen Markt und Bürgerinnen und Bürger auf Informationen aus der klaren Zuständigkeiten der Aufsicht profitieren. Verwaltung wird nicht gerüttelt – auch wenn es für die Ein besonderer Punkt war die Frage der Änderung des betroffenen Behörden unbequem sein mag. Es wäre aber Informationsfreiheitsgesetzes. Dabei geht es um eine auch naiv zu ignorieren, dass es tatsächlich Versuche Abwägung der Informationsinteressen der Bürger mit gibt, das Informationsfreiheitsgesetz gezielt zu miss- dem öffentlichen Interesse an einer funktionierenden brauchen. Beispielsweise um sich Auskünfte über Aufsicht. Der Bundesrat hat den Wunsch geäußert, eine Geschäftsgeheimnisse Dritter zu beschaffen. Die damit sogenannte Bereichsausnahme für die Finanzaufsicht in verbundenen Gefahren müssen wir ernst nehmen und an das IFG aufzunehmen und so die Aufsicht zu stärken. das Verantwortungsgefühl jener appellieren, die glauben, Diese ist auch auf vertrauliche Informationen angewie- sich solcher Manöver bedienen zu müssen. sen. Das gilt auch für die internationale Zusammenarbeit Machen wir uns klar: Die aktuelle Krise der Finanz- mit anderen Behörden. Andererseits ist das Informa- märkte stellt ein Umfeld dar, in dem schon kleinste In- tionsrecht der Bürger wichtig, gerade in Zeiten der Fi- diskretionen zur Situation von Banken und Unternehmen nanzmarktkrise. Der Punkt war auch in der Anhörung kritische Konsequenzen haben können. Dennoch ist und sehr umstritten. Vor diesem Hintergrund haben Gesprä- bleibt die Informationsfreiheit ein zentrales Bürgerrecht, che innerhalb und zwischen den Fraktionen ergeben, an dem wir aus Prinzip festhalten. dass noch offene Fragen und weiterer Diskussionsbedarf bestehen. Wir ändern deshalb das IFG im Rahmen des Ich will aber nicht darüber sprechen, was wir – aus ZAG nicht. Insgesamt lautet das Fazit: Wir haben unsere gutem Grund – nicht machen, sondern den eigentlichen Ziele erreicht. Der Aufsichtsteil der Zahlungsdienste- Inhalten des Zahlungsdiensteumsetzungsgesetzes zu ihrem richtlinie ist umgesetzt, die Aufsicht über Zahlungsinsti- Recht verhelfen. Die können sich nämlich, wie ich tute gestärkt. Wir haben mehr Wettbewerb durch freien meine, durchaus sehen lassen: Marktzugang für Zahlungsinstitute. Dadurch erzielen Mit dem Gesetz setzen wir die aufsichtsrechtlichen wir mehr Nutzen für Kunden und Anbieter bei gleichzei- Vorgaben der EU-Zahlungsdiensterichtlinie eins zu eins tig hohem Niveau des Verbraucherschutzes. Das Stim- in nationales Recht um – eine wichtige Weichenstellung mungsbild gibt dieser Einschätzung Recht. Die betroffe- für die Etablierung eines gemeinsamen europäischen nen Verbände sind zufrieden, im Ausschuss hat auch die Zahlungsraums. Den Hauptteil des Entwurfs bildet das (B) Opposition vielen Punkten zugestimmt. Und in einer sogenannte Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz, ZAG. Damit (D) produktiven Zusammenarbeit mit der SPD konnten wir wird unter anderem ein Rechtsrahmen für die neu zu eta- unsere Verbesserungsvorschläge zielstrebig umsetzen. blierende Kategorie der Zahlungsinstitute geschaffen, die bislang keinem harmonisierten Aufsichtsregime in der Europäischen Union unterworfen waren. Zudem werden Martin Gerster (SPD): Wir haben die letzte Sitzungs- Zahlungsinstitute zukünftig einer Solvenzaufsicht durch woche vor Ostern. Lassen sich mich deshalb einen gewag- die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht un- ten Vergleich anstellen. Ich möchte das „Zahlungsdienste- terliegen. Damit sollen eine laufende Aufsicht über diese umsetzungsgesetz“, das wir heute beschließen wollen, Zahlungsinstitute sichergestellt und für den Kunden im einmal mit einem Osternest vergleichen: Das Gesetz ist Falle einer Zahlungsunfähigkeit bestehende Ausfallrisi- rund, die Inhalte stimmen, und das Gesamtwerk stößt all- ken minimiert werden. Wir schaffen also mit dem Gesetz gemein auf große Zustimmung. Zunächst galt es aber, Strukturen für alle Zahlungsinstitute, die wie bei Banken ein unschönes Kuckucksei zu entfernen, das dem Gesetz über die Einhaltung der entsprechenden Sicherungsmaß- untergeschmuggelt werden sollte. Ein Ei, das – so meine nahmen und -regeln wachen. Somit wird das Aufsichtsge- Wahrnehmung – mehr Schlagzeilen produziert hat, als fälle behoben, das sonst zwischen Kreditinstituten und im der eigentliche Entwurf, um den es heute gehen soll. Sinne der Richtlinie als Zahlungsinstituten definierten Un- Ich spreche vom durch den Freistaat Bayern angestoße- ternehmen bestehen bliebe. nen Versuch, den Gesetzentwurf als Vehikel zu nutzen, Wie uns die Anhörung vom 11. Februar bestätigt hat, um das Informationsfreiheitsgesetz aufzuweichen. Ge- liegen wir mit dem Gesetz richtig. So stießen die Pläne fordert wurde nicht mehr und nicht weniger als eine zur Richtlinienumsetzung bei den geladenen Sachverstän- Bereichsausnahme für alle im Sektor Finanzaufsicht täti- digen und Verbänden auf breite Zustimmung. Dort wo es gen Behörden und öffentlichen Stellen. Ich hatte diesen Bedenken gab, konnten wir sie weitestgehend ausräumen: hochproblematischen Punkt ja bereits in meiner Rede Das betraf zum einen Fälle, in denen Unklarheiten be- zur ersten Lesung angesprochen und meine Skepsis standen, ob und inwiefern Zahlungsdienstleister unter gegenüber allen Plänen ausgedrückt, Hand an das IFG den Anwendungsbereich und die Aufsichtsregelungen zu legen. Umso mehr freue ich mich, dass sich alle Frak- des ZAG fallen würden. Zum anderen ging es um die tionen des Hauses mittlerweile auf dieser Linie versam- Vermeidung unnötiger Doppelaufsichten und bürokrati- melt haben, ohne sich vor den Karren ihrer Parteifreunde scher Belastungen für die entsprechenden Unternehmen. in der bayerischen Landesregierung spannen zu lassen. Zu guter Letzt will ich noch erwähnen, dass uns daran Dem Kollegen Uhl stimme ich jedenfalls vollkommen gelegen war, die notwendige Einbindung der jeweils 23360 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

(A) zuständigen Kartellbehörden auch im Gesetz zu betonen. Bundesratsinitiative Bayerns hatten übrigens elf Bundes- (C) Schließlich wollen wir mit der Umsetzung der Richtlinie länder, unter anderem Hamburg, zugestimmt. Wir haben Markteintrittsbarrieren abbauen und gleiche Wettbewerbs- als FDP-Fraktion bereits zu Beginn der Beratungen im bedingungen im europäischen Binnenmarkt schaffen. Finanzausschuss deutlich gemacht, dass wir diese Ein- Doch auch hier braucht der Markt einen klaren ord- schränkung ablehnen. nungspolitischen Rahmen. Um die Lehren aus der Finanzkrise zu ziehen, muss Gerade auf europäischer Ebene sehe ich gegenwärtig auch transparent gemacht werden, wie die Bankenauf- noch Nachholbedarf, wenn es darum geht, die Kräfte des sicht im Einzelfall gehandelt hat. Um diesen Punkt auch Marktes im Sinne der Menschen zu zügeln. Das hat sich politisch vernünftig aufarbeiten zu können, dürfen die auch im Zuge der Verhandlungen um die Zahlungsdienste- Akten nicht verschlossen bleiben. Daneben bekennen wir richtlinie gezeigt. uns natürlich zum Ziel einer effektiven Finanzaufsicht. Wenn schützenswerte Daten von Unternehmen betroffen In diesem Zusammenhang darf ich das Engagement der sind, müssen diese im Einzelfall vertraulich bleiben. Bundesregierung loben, die die Zeichen der Zeit erkannt und sich hier klar auf der Seite der Marktregulierung und Das Informationsfreiheitsgesetz enthält eine Reihe des Verbraucherschutzes positioniert hat. So wurde die von von Ausnahmen zum Schutz öffentlicher und privater anderen Ländern gewollte Aufweichung der aufsichts- Belange. Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse sind gene- rechtlichen Anforderungen an das Kreditkartengeschäft in rell geschützt, und eine entsprechende Beauskunftung vielen Punkten erfolgreich verhindert. Beispielsweise nach dem Informationsfreiheitsgesetz erfolgt nicht, wenn konnte erreicht werden, dass bei von Zahlungsinstituten solche Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse dadurch ver- ausgegebenen Karten Kredite innerhalb von 12 Monaten letzt werden könnten. Darauf hat der Bundesbeauftragte zurückgeführt werden müssen. Das mag dem einen oder für den Datenschutz und die Informationsfreiheit in der anderen nicht kurz genug sein. Aber es ist ein Schritt und Anhörung ausdrücklich hingewiesen. Da somit auch die sollte ausreichen, um Probleme vermeiden, wie wir sie Interessen der Finanzinstitute berücksichtigt werden, bei überschuldeten Kreditkartennutzern aus den USA lehnen wir eine Einschränkung der berechtigten Infor- kennen. mationsansprüche der Bürger ab. Auf diese Gefahren hinzuweisen, wie es Professor Das vorliegende Gesetzgebungsverfahren ist nur der Reifner in der Anhörung getan hat, ist sicherlich ver- aufsichtsrechtliche Teil der nationalen Umsetzung der dienstvoll, wir müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass es Single Euro Payments Area, SEPA. Wir sollten auch in sich bei den in Deutschland üblichen Kreditkarten in der den anderen Bereichen der SEPA-Umsetzung möglichst (B) Regel um sogenannte Debit-Karten handelt, die monats- unbürokratische Verfahren wählen. Der einheitliche (D) weise vom normalen Girokonto abgerechnet werden. Ich Euro-Zahlungsverkehrsraum, der der deutschen Kredit- sehe deshalb auch nach der Umsetzung der Richtlinie wirtschaft erhebliche Anstrengungen abverlangt, muss nicht, dass uns amerikanische Verhältnisse ins Haus stehen. für Bürger und Unternehmen so attraktiv wie möglich gestaltet werden, damit die SEPA-Produkte auch ange- Überdies muss ich an dieser Stelle auf eines hinwei- nommen werden. Um die kritische Masse bei der SEPA- sen: Das Gesetz, über das wir hier beraten, stellt nur ei- Nutzung zu erreichen, muss auch die öffentliche Hand nen Teil der Umsetzung der Zahlungsdiensterichtlinie SEPA aktiv nutzen. Über 50 Prozent des Zahlungsver- dar. Die zivilrechtlichen Regelungen, die das Verhältnis kehrs in Deutschland erfolgen durch die öffentliche Hand. zwischen Zahlungsinstituten und Kunden regeln, werden Deshalb ist die Beteiligung der öffentlichen Hand an dem in einem separaten Gesetzgebungsverfahren behandelt. politisch gewollten Projekt SEPA eine Grundvorausset- Federführend ist hier der Rechtsausschuss. Ich empfehle zung für eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung. deshalb grundsätzlich, die entsprechenden Sachfragen im Rahmen dieses Teils der Richtlinienumsetzung zu klären. Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Ich will meine Aus- führungen unter die Überschrift stellen: Gestaltungs- Was die Umsetzung der aufsichtsrechtlichen Vor- spielräume nutzen: Verantwortungsvolle Kreditvergabe schriften der Zahlungsdiensterichtlinie angeht, lautet statt Überschuldung und Wucher. Wenn EU-Richtlinien mein Fazit: Als deutscher Gesetzgeber können wir diese in nationales Recht umgesetzt werden, gibt es immer Vollharmonisierung in voller Harmonie zu einem guten Gestaltungsspielräume. Gerade bei der Zahlungsdienste- Abschluss bringen. richtlinie kommt es darauf an, diese zu nutzen. Nur so können wir Kreditnehmerinnen und Kreditnehmer schüt- Frank Schäffler (FDP): Die FDP-Fraktion stimmt zen. Daher lege ich mein Hauptaugenmerk auf eben dem vorliegenden Gesetzentwurf zu, da es sich im Wesent- diese Spielräume, die im Gesetzentwurf der Bundesre- lichen um eine Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Richtlinie gierung leider noch ungenutzt sind. handelt. Ob es in Einzelpunkten zu Wettbewerbsverzer- Die EU-Richtlinie sieht vor, den europäischen Zahlungs- rungen oder Doppelaufsichten kommt, müssen wir bei der verkehr zu vereinheitlichen. Dazu zählt, auch Institute ohne Gesetzesanwendung weiterhin im Auge behalten. Bankerlaubnis zum Zahlungs- und Kreditgeschäft zuzu- Wesentlicher Diskussionspunkt im Rahmen der Ge- lassen. Konkret: Mobilfunkbetreiber, Kreditkartenanbie- setzesberatung war eine vom Bundesrat vorgeschlagene ter und Einzelhandelsunternehmen können bald Geldge- Einschränkung des Informationsfreiheitsgesetzes. Der schäfte abwickeln, ohne mit einer zugelassenen Bank Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009 23361

(A) zusammenzuarbeiten. Da klingeln sicherlich bei vielen durch reguläre Banken vergeben werden. Reguläre Ban- (C) die Alarmglocken, was das für den Verbraucherschutz ken unterliegen im Gegensatz zu anderen Anbietern der oder die Finanzstabilität bedeutet. Die Alarmglocken regulären Bankaufsicht. läuten völlig zu Recht und hoffentlich auch im Bundes- tag laut genug. Auch brauchen Kreditnehmerinnen und Kreditneh- mer wirksame Mittel, um ihre Rechte zu vertreten. Der Sinn der Richtlinie besteht darin, den Zahlungs- Ebenso wie Verbraucherschutzorganisationen halten wir verkehr zu vereinheitlichen – nicht mehr und nicht weni- es deshalb für dringend geboten, die Informationsfreiheit ger. Genau da können und müssen wir ansetzen. Auf zu wahren. Das heißt: Beweise, die der Finanzaufsicht genau dieses Ziel müssen wir die Freigabe von Kreditge- vorliegen, müssen auch den Beschwerdeführern zugäng- schäften beschränken. Und in der Tat: Die Richtlinie lich sein. überlässt es dem nationalen Gesetzgeber, die Grenzen ab- zustecken – zwischen Zahlungsverkehr einerseits und Die europäische Richtlinie bietet diese Spielräume. weiterreichender Kreditvergabe andererseits. Weil genau Es ist unsere Aufgabe, sie zu nutzen. dieser Spielraum im vorliegenden Gesetzentwurf nicht sinnvoll genutzt wird, hat die Linke im Finanzausschuss Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): noch auf Änderungen gedrungen. Unser entsprechender Wir Grünen befürworten grundsätzlich den europäischen Änderungsantrag ist aber leider – ich würde sogar sagen: Zahlungsverkehr. Es entspricht der Lebenswirklichkeit gegen besseres Wissen – abgelehnt worden. vieler Menschen, zwischen den EU-Staaten zu pendeln und ihren Lebensmittelpunkt nicht mehr eindeutig in ei- Wir haben eine Änderung von § 2 Abs. 3 zur exakte- nem Staat zu haben. Es macht Sinn, wenn innerhalb der ren Definition des Erlaubnisvorbehalts vorgeschlagen. EU einheitliche Regeln in diesem Bereich herrschen. Die von uns vorgeschlagene Formulierung hätte eine Die Staatengemeinschaft hat hier ganz klar die Rege- klare einschränkende Definition zu dem Verhältnis von lungskompetenz. Das vorliegende Gesetz setzt die ent- Zahlungsvorgang und Kreditgewährung dargestellt. Sie sprechenden EU-Richtlinien in deutsches Recht um. In hätte einerseits Gewähr dafür geboten, dass den Notwen- dem Gesetz geht es primär um den Marktzugang der An- digkeiten des Zahlungsverkehrs Rechnung getragen wird, bieter und um aufsichtsrechtliche Fragen. Zivilrechtliche und andererseits die Gefahr der Überschuldung durch Aspekte werden in einem eigenen Gesetz behandelt. Kreditkartenkredite weitgehend gebannt. Dabei haben wir auch der von der Bundesregierung vorgetragenen Trotz der grundsätzlichen Zustimmung zur Idee des Auffassung widersprochen, dass der Schutz vor Wucher europäischen Zahlungsverkehrs wird die Fraktion von und Überschuldung ausschließlich zivilrechtlich, nicht Bündnis 90/Die Grünen gegen das Gesetz stimmen. (B) aber aufsichtsrechtlich bewerkstelligt werden könne. Hauptgrund dafür ist, dass die Belange der Verbrauche- (D) rinnen und Verbraucher im Gesetz zu wenig berücksich- Es geht uns darum, klar zu definieren und einzugren- tig wurden und die Bundesregierung mit ihrer Gesetzes- zen, welche Kreditgeschäfte ohne Bankzulassung getä- vorlage hinter dem Spielraum zurückgeblieben ist, den tigt werden dürfen. Der Gesetzesentwurf der Bundesre- die EU-Richtlinie geboten hätte. gierung hingegen überlässt das der freien Gestaltung der Anbieter. Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn Während der Beratungen im Bundesrat hat die bayeri- Nicht-Banken weiterhin unentgeltlich Kurzkredite ver- sche Landesregierung – unter Beteiligung der selbster- geben – etwa beim Kauf eines Kühlschranks, eines Fern- nannten Bürgerrechtspartei FDP – einen Änderungsvor- sehers oder einer Musikanlage. Was jedoch nicht den schlag eingebracht, der die Bestimmungen des Bach hinuntergehen darf, sondern was wir stärken müs- Informationsfreiheitsgesetzes, IFG, stark beschnitten sen, ist eine verantwortungsvolle Kreditvergabe. Wir hätten. Mit der Umsetzung der EU-Richtlinie hat das lehnen es daher ausdrücklich ab, dass Nicht-Banken per nichts zu tun, aber CSU und FDP wollten sich offen- Barabhebung am Automaten Kredite verkaufen dürfen. sichtlich nicht die Gelegenheit entgehen lassen, die In- Hochgradig tückisch sind auch Geschäfte mit Kreditkar- formationsrechte der Bürgerinnen und Bürger gegenüber ten, deren Zinsen sich danach richten, wann jede ein- der Finanzaufsicht zu beschneiden. Dabei sind im IFG zelne Zahlung erfolgt: Es reicht dann nicht, den ausste- ohnehin schon zahlreiche Ausnahmen vorgesehen, die henden Gesamtbetrag im Blick zu haben. Vielmehr muss die Wahrung von Geschäftsgeheimnissen der Finanzun- man jede einzelne Zahlung im Kopf behalten. Denn vom ternehmen sichern. Die Anhörung und die Debatte im Zeitpunkt jeder Zahlung hängt ab, wie hoch und wie Finanzausschuss haben gezeigt, dass eine Einschrän- lange der Teilbetrag verzinst wird. Die fehlende Trans- kung des IFG unnötig ist und die Informationsrecht der parenz birgt die Gefahr, sich zu überschulden oder Bürgerinnen und Bürger unverhältnismäßig einge- schlicht mehr zu zahlen als nötig. Schuldnerberatungen schränkt hätte. Ich bin froh, dass sich CSU und FDP mit aus den USA und Großbritannien verweisen auf eine ihrem Ansinnen nicht durchsetzen konnten. Vielzahl von Fällen, in denen sich aus Zinseszinsen er- drückende Überschuldungssysteme entwickelt haben. Die Bundesregierung hat den Spielraum der Richtli- nie nicht zugunsten der Verbraucherinnen und Verbrau- Wir fordern: Kreditverträge müssen transparent sein. cher genutzt. Es geht um Haftungsfragen bei EC- oder Und die Kreditvergabe muss über die gesamte Laufzeit Kreditkarten. Bisher war der Selbstbehalt auf 150 Euro fair erfolgen. Dafür tritt die Linke ein. Wir wollen, dass unbesehen weiterer Umstände beschränkt. Das ist nun entgeltliche Ratenkredite von über zwölf Monaten nur aufgehoben. Der Verbraucher muss nachweisen, dass er 23362 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 214. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. März 2009

(A) nicht in der Lage war, die Zahlungskarte sperren zu las- rechnen. Im angelsächsischen Raum haben Kreditkarten (C) sen. Das ist unter Umständen nur schwer zu leisten, um- eine echte Kreditfunktion. Dabei werden häufig beste- ständlich und offenbart wenig Zutrauen in die Redlich- hende mit neuen Krediten beglichen. Das Problem ist, keit der Kundinnen und Kunden. dass der ausstehende Gesamtbetrag keine Auskunft über die Struktur der Verschuldung gibt, da Fristen zu beach- Überschuldung ist in Deutschland wahrscheinlich das ten sind. Es droht durch diese Unübersichtlichkeit Über- gesellschaftliche Problem, das am wenigsten Aufmerk- schuldung leichter einzutreten. samkeit erfährt. Sehr lange versuchen Menschen mit Zahlungsschwierigkeiten diese zu verschleiern. Der Hier wären mehr Informationspflichten und Transpa- Nachbar, die Familie, die Kollegen sollen nichts merken. renz gefordert – gerade vor dem Hintergrund der Kredit- Da wir uns aktuell mitten in einer schweren Rezession kartenverschuldung in den USA und Großbritannien, die befinden und die Arbeitslosenzahlen weiter nach oben Millionen Menschen in die Überschuldung treibt, wäre gehen werden, wird es auch zu mehr Überschuldungen es gut gewesen, eine vorsichtige Regelung zu finden, die kommen. Dieser Zustand tritt dann ein, wenn Menschen die Verbraucherinnen und Verbraucher besser schützt. ihre laufenden finanziellen Verpflichtungen nicht mehr Genauso mit den Bestimmungen zum Abrechungszeit- aus ihrem regelmäßigen Einkommen bedienen können. raum: 12 Monate sind dafür in der Richtlinie vorgese- hen, was zu noch mehr Unübersichtlichkeit beiträgt. Der Das ZAG bietet neuen Anbietern von Finanzdienst- Abrechnungszeitraum hätte auf vier Monate beschränkt leistungen einen leichteren Marktzugang. Ihre Geschäfts- werden müssen. praxis konzentriert sich auf das Kreditkartengeschäft. In Deutschland ist es bisher üblich, dass Kreditkarten Zah- Wir befürchten also, dass hier der Weg für neue Fehl- lungsaufträge sammeln und dann in einem Vorgang ab- entwicklungen am Finanzmarkt beschritten wird.

(B) (D)

Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Telefax (02 21) 97 66 83 44 ISSN 0722-7980