BR-ONLINE | Das Online-Angebot des Bayerischen Rundfunks

Sendung vom 06.10.2003, 20.15 Uhr

Prof. Udo Zimmermann Dirigent und Komponist im Gespräch mit Christoph Lindenmeyer

Lindenmeyer: Meine Damen und Herren, herzlich willkommen zum heutigen Alpha- Forum. Mein Gast lebte bis vor kurzem im Dreieck zwischen , Berlin-Brandenburg und München; er ist ein Kulturmanager, ein Komponist, ein Musikdramatiker, ein Dirigent und war bis vor kurzem ein Generalintendant, nämlich der Deutschen Oper in Berlin. Er ist ein Dramaturg, ein Akademiedirektor, ein Professor für Komposition seit 1982 und last but not least Leiter der musica viva des Bayerischen Rundfunks. Er ist ein Literaturkenner, ein Ordensträger, ein politisch hoch interessierter Künstler und, wie viele Kenner sagen, ein hervorragender Teamarbeiter. Ich begrüße herzlich Professor Udo Zimmermann. Zimmermann: Ich grüße Sie auch. Lindenmeyer: Viele Funktionen von Ihnen habe ich bereits benannt. Eine Funktion haben Sie nicht mehr: Sie sind nicht mehr Generalintendant der Deutschen Oper in Berlin. Warum eigentlich nicht mehr? Zimmermann: Das wäre ein zu weites Feld, wenn ich das alles einkreisend beschreiben sollte. Ich habe 1999 mit Herrn Radunski einen Vertrag unterschrieben über ein Konzept für die Deutsche Oper Berlin. Ich habe dann diese vier Jahre, die letzten beiden Jahre waren dann schon Amtszeit... Lindenmeyer: Herr Radunski war damals der zuständige Senator. Zimmermann: Ja, richtig. Ich habe dann in meiner Zeit fünf Senatoren wechseln sehen, kommen und gehen sehen. Ich habe mich dabei immer wieder neu auf die Verhältnisse eingestellt. Lindenmeyer: Die Deutsche Oper blieb! Zimmermann: Ja, sie blieb. Lindenmeyer: Und sie wurde teurer. Zimmermann: Ja, es war trotzdem immer die Gefahr vorhanden, dass sie eben nicht bleiben könnte. Ich habe also einen Großteil meiner Zeit damit verbracht, für die Existenz des Hauses einzutreten. In dieser ganzen Zeit, in der man in der Öffentlichkeit mit Nachdruck sagte, dass eines der Häuser in Berlin weg müsse, lebte natürlich meine ganze Belegschaft in großer Verunsicherung. Das Konzept sah so aus, dass wir mit "Intoleranza" von Luigi Nono angefangen haben. Danach hat Libeskind den "Heiligen Franziskus" inszeniert. Es war dann so, dass sich das Publikum zuerst einmal ein bisschen zurückgezogen hat. Wie auch immer, das Ganze war ein sehr zeitgenössisches Konzept, eine zeitgenössische Zeugenschaft. Ich denke, das ging dann mit all den finanziellen Problemen, die in Berlin bis heute nicht behoben sind, nicht mehr zusammen. Wir haben dort momentan ja den Versuch einer Stiftungslösung. Ob das wirklich trägt, weiß man bis zur Stunde nicht. Es war jedenfalls so, dass ich dieses Konzept nicht hätte fortsetzen können. Das Ganze wäre stärker auf Kommunikation gegangen, auf Rezeption, auf Konsumdenken usw. Das war aber nie meine Art. Ich habe zwölf Jahre lang in Leipzig die Oper sehr gut geleitet und ich habe mein ganzes Leben – auch hinsichtlich der Kunst – in dieser zeitgenössischen Dimension gedacht. Lindenmeyer: Sie loben sich also selbst für Ihre Intendanz in Leipzig. Muss man das tun, weil man von der Politik und den Verantwortlichen zu wenig Lob bekommt? Zimmermann: Nein, das muss man nicht tun. Man muss nur sachlich konstatieren, wo es relativ gut ging und wo es aufgrund bestimmter Umstände nicht gut ging. Berlin hatte auch noch einen anderen Haken: Wir waren kein Team. Der Dirigent hatte sich einen anderen Partner gewünscht. Mit mir kam dann einer vom Senat, den er eigentlich nicht wollte. Lindenmeyer: Das war also eine Zweckheirat. Zimmermann: Wir waren gar nicht verheiratet. Insofern hat es dann auch keine Scheidung gegeben. Lindenmeyer: Das war aber eben auch keine Liebesbindung. Zimmermann: Nein. Ich denke, man braucht ja auch großes Glück, um ein richtig gutes Team zu haben. Für mich war jedenfalls Theaterarbeit immer Teamarbeit. Diese Teamarbeit fand in Berlin aber nicht statt. "Halb zog sie ihn, halb sank er hin"? - Nein, ich weiß es nicht so genau. Der Senat hat sozusagen versucht, mich aus dem Amt zu drängen. Und deswegen habe ich dann allen Umständen Rechnung tragend gesagt: "Bitte schön, dann nehmen wir eine einvernehmliche Lösung, ich scheide aus, denn so kann ich meine Arbeit nicht machen, das ist nicht mein Verständnis von Theater." Lindenmeyer: Wenn Sie an Berlin denken, sind Sie dann stärker geprägt von Verbitterung, von Wehmut oder von Erleichterung? Zimmermann: Nein, von all dem eigentlich überhaupt nicht. Ich bin weder verbittert, noch bin ich erleichtert, das mit Sicherheit nicht. Und ich bin eigentlich auch nicht wehmütig. Ich spüre eher ein bisschen Enttäuschung, Enttäuschung darüber, dass bestimmte Dinge, die ich anders gesehen habe, so in diesem Umfeld von Wilmersdorf nicht aufgegangen sind. Denn Wilmersdorf stellt ja auch eine ganz bestimmte Klientel eines Publikums dar. Und ich bin ein wenig enttäuscht darüber, dass dann der Senat nicht den Mut hatte, einer Persönlichkeit die Zeit zu lassen, um ein solches Konzept auch wirklich durchzusetzen. Man kann nämlich ein Konzept frühestens in fünf Jahren durchsetzen und nicht in zwei. Ich denke also, dass dort die Politik ein bisschen versagt hat. Das ist aber in Deutschland allenthalben so. Die Ausnahme von der Regel ist vielleicht immer noch München, wo ja "das Land Gottes" eine Rolle spielt. Hier sagt wirklich ein Minister für Kunst und Wissenschaft: "Unsere Oper ist ein Geschenk Gottes." Denn das hat Herr Zehetmair in der Tat mal gesagt. So etwas würde in Berlin nie passieren. Lindenmeyer: Beim Jubiläum der Bayerischen Staatsoper hat er sogar gesagt, notwendig sei Innovation in der Oper, notfalls auch gegen den Publikumsgeschmack. Das hört man von Politikern nicht so häufig. Zimmermann: Sir Peter Jonas hat ja auch sehr viel durchgesetzt, was nicht unbedingt mit dem Publikumsgeschmack konform ging. Das ist schon sehr mutig gewesen. Es ist wirklich mutig, was er tut und getan hat. Insofern ist meiner Meinung nach das Wort des Ministers schon rechtens. Ich denke, dass auch eine musica viva oder eine Biennale Orte des Zeitgenössischen in München sind, die wir in Deutschland ein zweites Mal so nicht haben. Hier verbinden sich also institutionelle Bemühungen mit inhaltlichen. Lindenmeyer: Sie sind ja nach wie vor sehr viel unterwegs. Auf Ihre verschiedenen Funktionen kommen wir später noch zu sprechen. Sie leben also bis heute viel in Hotels. Was schreiben Sie denn derzeit beim Meldezettel unter der Rubrik "Berufsbezeichnung"? Zimmermann: Ich würde jetzt hineinschreiben "Komponist". Aber das würde der Realität eigentlich nicht so ganz entsprechen, weil ich zum Komponieren fast gar nicht komme. Ich habe bisher in den letzten 15 Jahren immer "Intendant" geschrieben. Jetzt werde ich wohl "Komponist" schreiben. Lindenmeyer: Yehudi Menuhin hat einmal gesagt: "Musik spricht für sich allein!" Kann es sein, dass inzwischen die Sprache der Musik zu schwach geworden ist angesichts der finanziellen Ebbe in den Haushalten, angesichts der allgemeinen Klagen, es gäbe bei uns viel zu viel Kultur, denn Kultur sei eigentlich Luxus in der Gesellschaft und Deutschland sei überversorgt mit kulturellen Einrichtungen? Was halten Sie solchen Sätzen entgegen? Zimmermann: Ich denke, die Musik ist so wenig abstrakt wie ein Tod oder wie die Liebe. Das sind ja auch zwei Phänomene, die wir nicht fassen können. Die Musik ist etwas Ähnliches. Die Musik hat allen anderen Genres und Künsten doch diesen merkwürdigen, aber glücklichen Mangel an Realismus voraus. Sie beherrscht die Emotion und den Geist. Und Menuhin hat auch immer sehr schön davon gesprochen, dass für ihn ein Innenweltschutz ganz wichtig sei. Wir haben heute sehr viel Umweltschutz: Darum bemühen wir uns in Europa wirklich. Aber den Schutz der Innenwelten, der psycho-physischen Befindlichkeit: Das macht die Kunst! Hier hat die Musik eine ganz besondere Rolle. Man kann ja ganz einfach in eine Situation kommen, in der man Musik hört und plötzlich anfängt zu weinen – ohne dass man wüsste, warum man weint. Das ist also etwas, das einen nach innen trägt; eine seelische Verfasstheit, die man nicht definieren kann. Das halte ich für das Wunder der Musik. Wenn man sich dann auch noch darüber klar wird, warum man nun weint – das kann natürlich sehr bitter sein –, dann bedeutet das sehr viel. Dieser Assoziationsraum einer Glückseligkeit, eines Realismus, der wirklich ein ganz Besonderer ist, falls der Begriff "Realismus" hier überhaupt stimmig ist, ist ein Abenteuer, für das es sich unglaublich zu leben lohnt. Lindenmeyer: Manche Politiker und unter ihnen vor allem sehr viele Kämmerer weinen angesichts der Musik deswegen, weil Musik so teuer ist. Ist denn heute der Markt der klassischen Musik hinsichtlich der Gagen der Sänger, der Dirigenten usw. überreizt? Das sind ja die Kernargumente, die man in jeder Leserbriefspalte lesen kann. Und das reicht ja auch bis hin zu den konkreten Verhandlungen. Sie selbst haben bereits den Berliner Senat genannt. Aber im Bund ist das nicht anders als in den Kommunen. Überall wird geklagt darüber. Warum also ist diese Kultur so irrsinnig teuer? Leben wir über unsere Verhältnisse? Zimmermann: Das ist eine schwierige Frage, denn dabei kommt es doch immer auf die Verhältnisse an. Ich denke, es ist so, dass sich die Gesellschaft wirklich klar darüber werden muss – und das zu jedem geschichtlichen Zeitpunkt auf immer neue Weise –, wozu sie die Kunst eigentlich braucht, ob das wirklich ein Teil unseres Lebens ist, ob das auch ein sozialer Teil unseres Lebens ist. Denn wir setzen die verschiedenen Bereiche ja immer wertend voneinander ab: Da gibt es die sozialen Probleme und dort die Probleme des Straßenbaus usw. Wo liegt hier eigentlich die Priorität? Wie sehr und wie stark braucht eine Gesellschaft die Kunst und die Kultur? Deutschland hat sich eigentlich auf die Fahnen geschrieben, dass Kultur fast schon eine staatliche Angelegenheit sei. Wenn ich mir z. B. Bayern und Sachsen ansehe, dann ist dort in der jeweiligen Verfassung sogar verankert, dass Kultur eine Pflichtaufgabe ist. In anderen Ländern ist das nicht so. Es ist nun aber so, dass bei uns in den sozialen Bereichen die Not immer größer wird. Dies schlägt nun auch bis in die Kunst und Kultur durch, indem man jetzt einfach Tabula rasa macht: Man hinterfragt, wie viel Geld wofür ausgegeben wird, um dann zu beschließen, dass man für die Kunst eben kein Geld mehr aufbringen will. So entstehen viele Unglücksfälle durch Fusionen – nicht durch Kooperationen, denn das ist ja etwas sehr Sinnvolles –, durch Schließungen usw. Die reiche Landschaft des Theaters und der Kultur wird also verschwinden bei uns, wenn es so weitergeht und wir immer mehr nach dem Gesetz verfahren: "Frage mich nicht, woher ich komme, sondern wer ich bin und wodurch – vielleicht durch einen Besitzstand." Wenn wir also nicht mehr die Gewissensfrage der Geschichte und auch der Gegenwart stellen und wir nicht mehr danach fragen, wohin die Zukunft gehen wird, dann wird diese Landschaft verschwinden. Was wird dann mit der Utopie sein? Wenn sich jedenfalls all diese Dinge auf den materiellen Wert hin verengen, wenn sie nur noch darauf reduziert werden und wenn alles nur noch dadurch definiert wird, dann wird es immer komplizierter. Und die Kunst und damit auch die Musik werden dann zu einer eigentlich nur noch illustrativen Beiläufigkeit, vielleicht zur bloßen Dekoration. Das wird dann nicht mehr diese seelische Verfasstheit sein, die ich gemeint habe und die für den Menschen, für die Humanitas, eine unglaublich wichtige Quelle darstellt, in der der Mensch für die Gesellschaft wieder Kraft schöpfen könnte. Ich glaube, genau das erkennt die Politik nicht bzw. will es nicht erkennen. Und trotzdem bleibt uns Künstlern nichts anderes übrig, als den Dialog mit der Politik zu suchen, um das immer wieder zu erklären und zu sagen, wie wichtig das ist. Lindenmeyer: Sie sind aber nicht demotiviert und entmutigt? Zimmermann: Das kann man mit der Zeit durchaus sein, aber ich darf das nicht sein. Denn wenn ich an diesen Punkt käme, dann müsste ich mich konsequenterweise aus der kulturellen Landschaft – vielleicht ganz im Sinne der ästhetischen Selbstbefriedigung – verabschieden. Das habe ich ja mal gemacht: Ich bin sozusagen als Komponist aufgewachsen. Ich war im Kreuzchor, in diesem 700 Jahre alten christlichen Knabenchor in Dresden. – Das Pendant sind die Thomaner in Leipzig. – Nach dieser Zeit habe ich mich der Komposition verschrieben und viele Jahre versucht, freischaffend vom Komponieren zu leben. Da war ich mein eigener Herr und nicht in Abhängigkeiten. Ich wusste, die Stücke würden mir abgenommen, sie würden aufgeführt usw. Ich bin dann aber immer mehr in diese schöngeistigen Verwaltungsämter hineingegangen: beginnend mit dem Intendanzbereich. Lindenmeyer: Funktioniert auch das gelegentlich nach dem Peter-Prinzip, dass also kreative, geniale Menschen in Bereiche hinein befördert werden, in denen sie dann letztlich gar nicht mehr die notwendige Kompetenz haben? Zimmermann: Das ist bei mir ein bisschen anders, weil ich mich nicht als Komponist gefühlt habe, sondern als Dramaturg. Ich habe immer gesagt: "Ich bin ein Dramaturg, der auch komponiert." Für mich waren also Theater und Musik immer gleichermaßen von Bedeutung. So habe ich ja auch früh – beginnend mit der "Weißen Rose" – angefangen, Opern zu schreiben. Inzwischen habe ich sieben Opern geschrieben, die bis heute immer noch erstaunlich viel gespielt werden. Ich habe mich also immer als Theatermensch gefühlt. Insofern ist diese Frage nicht ganz richtig: Ich bin nicht hineingestellt in irgendeine Geschichte, sondern das war eine Pflicht, die ich mir selbst gesucht habe. Ich habe mich natürlich in einer ganz anderen Zeit dazu entschieden, mehr in Richtung Theater zu gehen. Ich war nämlich viele Jahre Dramaturg an der Oper in Dresden. Masur hat mich dann in diesem Umbruch in den Jahren 1989 und 1990, in diesen Zeiten der gesellschaftlichen Veränderungen in Deutschland, angerufen und zu mir gesagt: "Komm doch nach Leipzig und lass uns zusammen mit dem Gewandhaus, als Orchester der Oper, diese Oper wieder revitalisieren." Ich habe dann mehr oder weniger durch eine Überblendung versucht, diese Oper zunächst einmal überhaupt wieder ins Gespräch zu bringen. Der Theatermensch in mir stand dann immer zwischen dem Teil von mir, der Kreativität befördert, und diesem anderen Teil. Ich habe also nie einen schöngeistigen Verwaltungsbeamten spielen wollen. Wo dann das immer mehr und deutlicher wurde, habe ich mich wieder zurückgenommen. Denn wenn die Kreativität nicht mehr zählt, kann ich ein solches Amt einfach nicht ausfüllen. Lindenmeyer: Das heißt, die Balance muss stimmen zwischen den Pflichtaufgaben und der Kür. Zimmermann: Ja, so kann man das in etwa sagen. Lindenmeyer: Sie haben vorhin mit Blick auf Ihre Generalintendanz an der Deutschen Oper in Berlin Ihre Enttäuschung nicht verheimlicht. Ihre Karriere begann aber überhaupt mit einer Enttäuschung, denn Sie wollten Sänger werden, hatten aber Misserfolg bei der Aufnahmeprüfung an der Dresdner Musikhochschule. Hat Sie das damals sehr stark verletzt? Zimmermann: Nein, ich war daran ganz und gar selbst schuld. Einen Tag vor der Aufnahmeprüfung, am Abend an Fassnacht, war ich unterwegs und habe mir eine Erkältung geholt. Lindenmeyer: Sie haben also zu viel gefeiert. Zimmermann: Ja, so ähnlich war das. Ich bin dann aber trotzdem in die Prüfung gegangen, so wie ich das eigentlich vom Kreuzchor her gewohnt war, nämlich aus dem Stand heraus in einer eigentlich ganz harten Disziplin Leistung zu bringen. Das war aber schon ein bisschen mehr als eine Indisponiertheit: Ich hätte also vorher sagen müssen, dass das an diesem Tag einfach nicht geht. Das habe ich aber nicht gemacht und dann war das eben weg. hat sich dann aber meiner angenommen. Mauersberger war der damalige Kreuz-Kantor: Er war einer der Kantoren, die am längsten im Amt waren. Er ist vielleicht sogar die Legende dieses Chores. Er hat sich jedenfalls persönlich an den Rektor der Musikhochschule gewandt. Ich hatte nämlich bereits während meiner Zeit im Kreuzchor immer Motetten und Chorwerke komponiert: natürlich mit der Naivität des Laienkomponisten. Mauersberger hat diese Stücke aber mit dem Chor immer aufgeführt. Er ging also an die Hochschule und hat zu den Leuten dort gesagt: "Hier habt Ihr doch einen Kompositionsstudenten! Wie sieht es denn in der Kompositionsabteilung aus?" Die Kompositionsklasse war zu diesem Zeitpunkt gerade unterbelegt und so kam ich dorthin. Mein Gesangsstudium konnte ich dort dann trotzdem noch machen. So kam es, dass ich letztlich in drei Fächern Staatsexamen gemacht habe: in Gesang, in Dirigieren und in Komposition. So ist also aus diesem Unglücksfall eigentlich ein Glück geworden. Lindenmeyer: Eine Umwegkarriere also. Zimmermann: Ja, aber es ist wohl so, dass ich als Sänger vermutlich keine große Karriere gemacht hätte. Denn ich hatte ja auch einen immens hohen Anspruch dabei an mich. Dies hatte natürlich mit der Erziehung im Kreuzchor zu tun, denn man hatte uns dort beigebracht: "Du musst die Latte immer so hoch legen, dass du eigentlich nicht mehr drüberspringen kannst." Lindenmeyer: Singen Sie denn heute noch? Zimmermann: Ich mache höchstens ein bisschen Hausmusik. Lindenmeyer: In der Badewanne? Zimmermann: Nein. Das ist alles ziemlich dahin. Ich hätte das alles wirklich kultivieren müssen, was ich aber nicht getan habe. Ich habe jedoch insofern sehr profitiert davon, als ich beim Komponieren vom Gesang etwas verstanden habe. Wenn ich Opern schreibe, dann kann ich sehr wohl einschätzen, was man singen kann. Es gibt ja auch Komponisten, die in dieser Hinsicht instrumental denken. Selbst Johann Sebastian Bach hat in manchen seiner Bravur-Arien der Oratorien eher instrumental gedacht. Wenn man die Vokalität aber von der Pike auf gelernt hat, dann geht man mit ihr auch anders um. Das ist mir sehr zugute gekommen. Aber Gesang habe ich nie mehr ausgeübt, außer im absoluten Privatissime. Ich habe mich einfach ganz auf das Komponieren und in den ersten zehn Jahren ganz stark aufs Dirigieren verlegt. Ich habe mit den Berliner Philharmonikern gearbeitet, mit den Wiener Symphonikern, mit der Staatskapelle in Dresden, mit dem Gewandhaus usw. Ich habe also mit sehr vielen guten Orchestern Konzerte gemacht. Lindenmeyer: Mit welcher Disposition geht denn ein Dirigent an den Abend der konzertanten Aufführung heran? Das ist ja eine wichtige Frage, die sich viele Konzertbesucher stellen. Vor dem so spannenden Ereignis eines Konzertes, wie motivieren Sie sich da an diesem Abend? Es gibt z. B. Pianisten, die gehen vorher kräftig zum Essen. Es gibt andere, die die Fähigkeit zu meditieren haben. Haben Sie Lampenfieber? Wie gehen Sie mit den letzten beiden Stunden vor dem Konzert um? Zimmermann: Das ist fast schon von Fall zu Fall anders. Es kommt einfach auf das Orchester an. Und es kommt auch darauf an, wie sicher man ist als Primus inter pares mit den Musikern zusammen im Team – denn das ist ja immer eine Teamarbeit. Es kommt eben auch immer darauf an, dass man weiß, worauf man sich verlassen kann und wo die Klippen sind, die kommen werden. Diese Klippen gehe ich davor immer noch einmal durch im Kopf, um herauszufinden, wie ich über diese ganz bestimmten Stellen hinwegkommen kann, weil das im Probenstadium jedes Mal sehr schwierig gewesen ist. Dann gibt es aber wiederum auch Orchester, bei denen man im Probenstadium schon sehr frühzeitig eine ganz hervorragende Leistung erreicht. Da muss man dann aufpassen, dass man sich nicht zu sicher in den Abend hineinbegibt. Denn dann passieren meistens diese Unglücke. Man sagt ja auch immer: Wenn die Premiere einer Oper glänzend gelaufen ist, dann ist der zweite Abend meistens eine Katastrophe, weil alle denken, "So, wie wir das beim ersten Mal geschafft haben, wird das auch weitergehen". Da gibt es dann eben ganz schnell Pannen. Aber Lampenfieber habe ich immer. Zur Meditation fehlt mir allerdings die Fähigkeit. Ich denke, die Meditation beginnt bei mir in der Arbeit. Die ersten fünf, sechs Sekunden sind dann sehr kompliziert, genauso wie der Gang zum Dirigentenpult. Es ist schon nicht so leicht, die Konzentration ganz schnell zu finden. Lindenmeyer: Haben Sie die Sorge, zu stolpern? Zimmermann: Die ist immer da. Lindenmeyer: Tatsächlich? Zimmermann: Während des ganzen Stücks ist immer eine gewisse Sorge da. Denn ein Bruchteil einer Sekunde reicht, in der man eine Eins nicht deutlich genug gibt oder in der man sich irgendwo verschlägt, was ja auch vorkommen soll: Das muss das Orchester dann abfangen. Das Orchester, das sehr auf einen Dirigenten eingestellt ist, fängt das eben nicht ab, sondern spielt dann eben das, was er nicht richtig geschlagen hat. Das ist sehr gefährlich, denn dann kommt es eben darauf an, wie viel Routine der Dirigent hat, um das kaschieren zu können, um das so ausbalancieren zu können, dass nicht mehr passiert. Es gibt natürlich Routiniers, denen gar nichts passiert. Manchmal sagt man dann auch, dass es schade ist, dass ihnen überhaupt nie etwas passiert. Denn ich denke schon, dass es die absolute Perfektion ohnehin nicht gibt. Es gibt diese Pannen einfach: Sie gehören zur Kunst. Man muss mit dieser Angst, dieser Ungeduld und dieser Liebenswürdigkeit, aber auch mit dieser unglaublichen Insistenz musizieren: Dann entstehen auch manchmal am Abend selbst erst Ereignisse, die man vorher überhaupt nicht proben konnte. Das ist das Abenteuer an dieser ganzen Dirigiererei. Lindenmeyer: Nikolaus Harnoncourt hat einmal in einer Sendung des österreichischen Rundfunks sehr schön dargestellt, weshalb die vielen Witze über Konzertmusiker gar nicht so unberechtigt seien, warum es also doch immer eine gewisse Intriganz innerhalb der Klangkörper gibt. Nun will man natürlich Künstlern nicht etwas vorhalten, wovon man selbst nicht frei ist. Harnoncourt hat das jedenfalls so erklärt: Man muss sich vergegenwärtigen, dass jeder der einzelnen Musiker im Orchester eine eigene Vorstellung hat. Aber er muss sich eben doch dem gesamten Corpus unterordnen und er muss sich gleichzeitig einem Dirigenten unterordnen. Deshalb findet ja auch so sehr viel statt an Spannung zwischen dem Orchester, auch an Zuwendung und an Liebe oder auch an Ablehnung gegenüber einem Dirigenten. Man spürt das als Konzertbesucher sehr, sehr gut: Es macht immer einen Unterschied aus, wer gerade ein bestimmtes Orchester dirigiert. Man kann das sogar optisch wahrnehmen. Wie schaffen Sie es, sich einen Ruf zu erwerben, dass Sie mit Musikern und Künstlern eine ausgesprochen intensive Teamarbeit leisten können? Zimmermann: Das schafft man nicht immer, denn das ist ja nur ein Versuch. Lindenmeyer: Wann schaffen Sie es nicht? Zimmermann: Wenn man nicht gut vorbereitet ist und erst in den Proben versucht, über bestimmte Dinge die Partitur in ihrer Feingliedrigkeit für sich zu lernen, wenn man keine ganz klare Auffassung über das Stück hat. Andererseits muss man sich das aber auch erst mit den Musikern zusammen erarbeiten. Denn da kommen einem ja auch Dinge entgegen, die man bis dahin noch gar nicht kannte. Ich denke also, dass das in der Probenarbeit ein statu nascendi ist, bei dem man merkt, dass man eine Person inter pares ist, dass das eine Musiziergemeinschaft ist, bei der jeder auf jeden hört. Es ist ja gar nicht so sehr die Frage, dass der Dirigent den Takt immer ganz genau schlägt. Das ist nicht das Problem. Denn das ist vielmehr ein Atemvorgang und ein in starkem Maße psychologischer Vorgang, bei man merkt, dass man von einem großen Kollektiv, von einem Team getragen wird. Da kann man dann mit ganz wenigen Bewegungen und vielleicht sogar nur mit den Augen etwas bewirken, weil man ganz genau merkt, dass es mit einem mitatmet. Das ist dann unglaublich und ein singulärer Glücksfall. Das ist ja auch nicht ständig so und manchmal muss man sich das sehr hart erarbeiten. Wenn man bei den Proben über bestimmte Schwierigkeiten hinweg will und dabei jedoch das Psychologisieren nicht beherrscht, sodass man die Musiker nicht für sich gewinnen kann, dann gibt es diese Fronten, die man nicht aufbrechen kann. Diese Fronten ragen dann auch in den Abend der Aufführung hinein: Da merkt man sehr wohl, dass der Kontakt zwischen den Musikern und dem Dirigenten irgendwie nicht stimmt. Das überträgt sich dann auch ganz schnell auf das Publikum: Das merkt man im Rücken einfach. Denn das ist ja insgesamt ein Spannungsproblem: Manchmal könnte man regelrecht eine Stecknadel fallen hören. Da merkt man sofort, dass der ganze Saal mitatmet. Wenn aber diese Hustereien beginnen, egal ob im Sommer oder im Winter... Lindenmeyer: Das hören Sie? Zimmermann: Das hört man. Das ist dann sehr wohl ein Problem, weil man sich ja fragen muss, warum das so ist. Wenn nämlich die Spannung beim Musizieren ganz groß ist, dann geschieht das nicht: Das wagt niemand! Wenn es aber diese "Löcher" gibt, wenn man merkt, dass man die Spannung nicht permanent aufrecht erhalten kann, dann muss man sie sich immer wieder neu erarbeiten. So kann diese Arbeit dann auch sehr mühevoll werden. An sich ist es allerdings eine wunderschöne Geschichte, wenn man in einer Gemeinschaft musiziert, wenn man von ihr getragen wird und wenn man sie selbst mitträgt. Lindenmeyer: Sie haben soeben die Orchester mit einem Kollektiv verglichen. Aufgewachsen sind Sie ja in der real existierenden DDR: Dort haben Sie sehr unterschiedliche Erfahrungen mit dem Kulturbetrieb gemacht. Und es gab auch eine Traumatisierung, über die Sie in Gesprächen bereits mehrfach berichtet haben. Sie geschah in Ihrer Zeit im Dresdener Kreuzchor, denn Sie hatten ihn irgendwann einmal als eine Art "Kadettenschule" bezeichnet. Zimmermann: Nein, das glaube ich nicht. Ich habe nur gesagt, dass dort eine Zwanghaftigkeit hinsichtlich der Disziplin existiert. Aber das Wort "Kadettenschule" habe ich sicherlich nicht in den Mund genommen. Lindenmeyer: Das war dann vermutlich der Journalist. Zimmermann: Es kann sein, dass der Journalist das dann so interpretiert hat. Aber es stimmt schon, es gab dort einen Leistungszwang und einen Druck, der immens war. Wir mussten bis zum Abitur nämlich auch unsere schulischen Aufgaben meistern. Wir haben Reisen von fünf bis sechs Wochen in alle Kontinente unternommen: Das in der Schule Versäumte musste man dann eben nachholen. Und das lag natürlich auch an Mauersberger selbst: Er hat sich selbst unter so starken Leistungsdruck gestellt, dass er das auf diese Knaben – das waren ja z. T. wirklich noch Kinder – übertragen hat. Ich denke schon, dass man das auch anders hätte machen können. Es war so, dass man dort z. B. auch mal zweieinhalb Stunden lang nicht von der Bühne runter konnte: Wenn man auf die Toilette hätte gehen müssen und das getan hätte, dann wäre man nie wieder mitgenommen worden auf eine Reise. Es herrschte also eine eiserne Disziplin - sich selbst und dem eigenen Körper gegenüber, aber auch darin, wie man mit der Musikalität umging. Das war schon eine sehr harte Schule. Ich denke, dass man in psychischer Hinsicht in der Kindheit unter einer solchen Disziplin möglicherweise doch Einbrüche erleben kann, die man so schnell nicht wieder wegsteckt. Lindenmeyer: Kann denn auf diese Weise eine Kindheit auch misslingen? Zimmermann: Ich kann das für den Kreuzchor nicht sagen: Das war einfach eine besondere Kindheit, eine hervorgehobene und besondere Kindheit. Und das wusste man auch. Man musste das ja nicht machen. Das wurde einem auch nicht als Versagen angerechnet: Man musste nur sagen, dass man das nicht schafft und nicht will und nicht kann. Es war also kein bloßes verzweifeltes Sich- Durchkämpfen, denn es gab ja auch immer wieder diese großen Glücksmomente, wenn man große Qualität mitgeleistet und erbracht hat. Dort hat für mich also bereits im Kindesalter mit der Chorgemeinschaft diese Künstlergemeinschaft begonnen. – Ich finde das Wort "Gemeinschaft" eigentlich viel schöner als "Kollektiv" oder "Team", obwohl das ja eigentlich nur moderne Begriffe dafür sind. – Dieses Gefühl für Gemeinschaft wird man nie wieder los. Das war eigentlich der größte Reichtum dieser zehn Jahre im Kreuzchor. Lindenmeyer: Ihre frühen Kompositionen gehen von stark politischen Themen aus. Sie haben sich dabei mit Wolfgang Borcherts Stück "Draußen vor der Tür" beschäftigt und sie haben ein Stück komponiert mit dem Titel "Weiße Rose". Wie kam es denn zur Auseinandersetzung mit diesen politischen Stoffen? Im Grunde genommen kann man ja sagen, Sie haben die "Weiße Rose" komponiert in einer Zeit, in der man nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben können sollte. Was hat Sie dahin gebracht? Zimmermann: Ich bin 1943 in Dresden geboren: Damit bin ich eigentlich ein Kind der Nachkriegsgeneration. Wenn Sie sich das Leben der Geschwister Scholl betrachten, dann kann man das z. B. als Märtyrertum aus christlicher Überzeugung bezeichnen: Sie wollten jedenfalls mit Lüge nicht leben. Sie haben ihr Leben daher hingegeben für den Gedanken der Freiheit, für den Gedanken der Wahrheit. Die Wahrheit ist ja vermutlich das Komplizierteste in unserem Leben: sie für sich selbst zu bewahren und sie auch anderen gegenüber durchzuhalten. Ich wollte mir also diese Vergangenheit, die ich selbst nicht erlebt habe, ich wollte mir diesen ganzen Zweiten Weltkrieg psychisch und physisch erfahrbar machen. 1943 war das Jahr, in dem die Geschwister Scholl und die anderen Mitglieder der Weißen Rose hingerichtet wurden: verurteilt in einem Schnellverfahren durch den Freisler- Gerichtshof. 1943 bin ich zur Welt gekommen. Diese Geschichte hat mich nie losgelassen, denn... Lindenmeyer: Haben Sie selbst darüber mit Ihren Eltern sprechen können? Zimmermann: Nein, mein Vater war Wehrmachtsoffizier gewesen und ist mit bestimmten Realitäten, die neu entstanden waren, nicht mitgegangen. Er hatte einfach seine eigene, klare Vorstellung: Er hat Korrekturen zugelassen, aber für sich selbst hatte er eine Disziplin, die ich nicht nachvollziehen konnte und kann. Meine Mutter ist Österreicherin, genauer gesagt Wienerin: Sie ist auch bis zu ihrem Tod immer Wienerin geblieben. Lindenmeyer: Was heißt das? War Sie sehr von der k. u. k.-Zeit geprägt, vom Habsburger Weltverständnis? Zimmermann: Ja, schon auch, aber das hatte vielmehr mit diesem Wienerischen Charme zu tun und damit, die Dinge etwas leichter zu nehmen und im Wissen zu leben, dass alles gut ist: Man kann also auch einer schlechten Geschichte immer noch etwas Gutes abgewinnen. Lindenmeyer: Haben Sie denn Ihre Eltern künstlerisch geprägt? Zimmermann: Nein, das kann man nicht sagen. Gut, meine Mutter hat Geige gespielt, aber das hat keine entscheidende Rolle gespielt. Man hat damals in Dresden in der Grundschule einfach eine Ausschreibung gemacht, dass man begabte Knaben sucht, die eine Gesangsstimme haben. Gelaufen ist das dann jeweils über den Musiklehrer. Erst mit dieser Zeit im Kreuzchor bin ich dann ganz stark in die Kunst hineingewachsen. Sonst hat es dafür in meinem Elternhaus keine Präjudizierung meinetwegen durch ein künstlerisches Klima gegeben. Im Gegenteil, mein Vater war Bank- und Sparkassenrevisor: Er nahm dem Leben gegenüber eine sehr sachliche Haltung an. Mein Bruder wurde allerdings Theologe, denn wir waren auch eine sehr christlich geprägte Familie. Gut, es war bei uns in der Familie ein gewisses musisches Klima vorhanden, aber in musikalischer Hinsicht bin ich von meinem Elternhaus dennoch nicht geprägt worden. Lindenmeyer: Sind Sie heute noch ein politisch engagierter Mensch? Zimmermann: Ich denke, es gibt gar keine Kunst ohne die Politik: Das geht gar nicht. Über all die Jahrhunderte hinweg war die beste Kunst immer eine auch politische Kunst. Sie war selbstverständlich keine parteipolitische Kunst. Lindenmeyer: Damit beziehen Sie ja eine Gegenposition zu Martin Walsers Rückzug in den Krähwinkel. Zimmermann: Wenn Sie Walsers Haltung als Rückzug bezeichnen wollen, gut. Aber ich kenne Walser recht gut und weiß daher nicht so recht, ob man das als Krähwinkel bezeichnen kann. Ich selbst könnte jedenfalls ohne diese gesellschaftliche Realität, ohne die Gesellschaft als eine Gemeinschaft aufzufassen, mit der ich kommunizieren muss, nicht leben. Als Künstler ist man ja überhaupt auf Kommunikation angewiesen. Wenn ich eine Partitur fertig habe, dann bin ich zunächst einmal natürlich auf die Interpreten angewiesen. Aber ich muss dann auch eine Kommunikation herstellen zu den hörenden und sehenden Rezipienten. Dieses Du und Du ist ganz wichtig. Ich muss also auch wissen, wie das mit der Verantwortung gegenüber einem Hörer genau bestellt ist. Max Frisch hat mir ja noch ein Libretto geschrieben zu seinem Werk "Mein Name sei Gantenbein": Dieses Libretto habe ich immer noch vorliegen, ich müsste nur endlich die Musik dazu schreiben. Frisch hat mir jedenfalls einmal Folgendes gesagt: Er ging, obwohl er seine eigenen Stücke ja auswendig kennt, oft dafür ins Theater. Dies aber nur, um zu sehen, wie die Menschen darauf reagieren, denn in solchen Momenten holte ihn dann die Vergangenheit ein. Mit dieser eingeholten Vergangenheit ging er dann wieder nach Hause und schrieb weiter. Es ist also ganz wichtig, dass es neben der eigenen Befriedigung auf ästhetischem Gebiet noch etwas anderes gibt. Denn man ist ja zunächst einmal tatsächlich auch sein erster eigener Hörer, das geht gar nicht anders. Darüber hinaus muss man aber auch daran denken, dass es einen Ausdruckswert und ein Gegenüber geben muss, ein Gegenüber, mit dem man in Kommunikation tritt. Das ist der Sinn der Kunst und das ist auch die Gemeinschaft, die man Gesellschaft nennen kann. Damit meine ich nicht die Politiker, sondern die Hörer und Zuschauer im Theater oder in der Oper oder im Konzertsaal, auf die ich einfach angewiesen bin. Lindenmeyer: Lassen Sie uns ein paar Worte über Europa reden: zunächst ganz privat, dann aber auch über Ihre zukünftigen Pläne in diesem Zusammenhang. Sie sind verheiratet mit einer Frau, die nicht in Deutschland geboren ist. Sie kommt aus Polen. Zimmermann: Ja, sie ist Warschauerin. Lindenmeyer: Haben Sie denn Polnisch gelernt? Zimmermann: Bis heute nicht richtig. Wenn ich aber höre, wie meine beiden Söhne mit meiner Frau reden, dann verstehe ich so an die 20 bis 30 Prozent. Das hat einfach mit Faulheit meinerseits zu tun: Ich habe das Thema Sprachen überhaupt recht nachlässig behandelt. Sie hat jedenfalls ganz bewusst ihre beiden Kinder in polnischer Sprache erzogen. Das war natürlich ganz leicht. Für die Kinder ist das hervorragend, denn so wurden sie zweisprachig erzogen. Lindenmeyer: Kann es sein, dass durch diese Ehe Ihr Engagement für Europa besonders verstärkt wurde? Zimmermann: Diese Freundschaften nach Polen, diese Freundschaft zu Lutoslawski, zu Penderecki, zu Krzysztof Meier, zu polnischen Komponisten also oder auch Filmemachern und Dramatikern – denn es ist ein wirklich offenes Haus, das meine Schwiegermutter in Warschau führte und immer noch führt – haben mir jedenfalls sehr viel gegeben. Das war auch bereits in meiner DDR-Zeit so gewesen. Über die künstlerischen Tätigkeiten öffneten sich zwar für mich schon einige Wege in den Westen, denn der Staat verdiente daran ja auch. Aber eigentlich war es so, dass Warschau für mich der entscheidende Weg nach Westeuropa war. Warschau ist eigentlich auch die Mitte Europas, obwohl wir in diesem Zusammenhang immer von Osteuropa sprechen. Es heißt immer, Polen sei Osteuropa. Aber das ist natürlich ein Irrtum, denn es liegt in Europa geographisch genau in der Mitte. Lindenmeyer: Die Polen sind ja auch sehr beleidigt, wenn man in Zusammenhang mit ihrem Land von "Osteuropa" spricht. Zimmermann: Wir haben jedenfalls hier lange Zeit vom Osten und Westen gesprochen im europäischen Zusammenhang. Das Zusammenwachsen, das nun stattfindet, ist ja kein selbstverständlicher Prozess: Wir stehen damit im Grunde genommen noch ganz am Anfang. Lindenmeyer: Sie haben das alles ja auch in der musica viva des Bayerischen Rundfunks umgesetzt. Gegründet wurde sie ja von Karl Amadeus Hartmann. Es gab dann nach den großen Erfolgsjahren viele Jahre lang eine Zurückhaltung gegenüber der Moderne und der Avantgarde. Sie haben es vor allem wieder geschafft, junge Leute in die Konzerte der musica viva zu holen. Sie gingen mit diesen Konzerten nicht nur in die Konzerthäuser, sondern haben regelrecht die Hallenkultur wahrgenommen. Wie haben Sie es geschafft, auf der einen Seite das musikalische Spektrum so erweitern zu können und damit Mut zum Risiko zu zeigen und andererseits das Problem der Finanzen zu meistern? Denn dieses Problem der Finanzen gibt es ja überall, selbstverständlich auch im Bayerischen Rundfunk. Wie haben Sie es geschafft, hierbei ein ganz junges Publikum anzusprechen? Denn Ihre Konzerte sind wirklich gut besucht, überwiegend von jungen Leuten. Zimmermann: Ich würde sagen, dass bei uns im Schnitt sogar eine Nonne neben einem jungen Mann in Nietenhosen sitzt. Lindenmeyer: Es gibt ja auch junge Nonnen. Zimmermann: Ich meine, dass da schon auch noch das traditionelle Hartmann-Publikum kommt. Elisabeth Hartmann ist ja jetzt vor kurzem verstorben: Sie war knapp über 90 Jahre alt und die eigentliche Seele der musica viva und hat das immer mitgetragen. Dieses Hartmann-Publikum ist in diesen sieben Jahren, in denen ich die musica viva nun leite, zum größten Teil treu geblieben. Unsere Konzerte im Herkulessaal sind in den letzten beiden Jahren immer ausverkauft. Wir müssen sogar noch jedes Mal viele Leute wegschicken, weil wir sie nicht mehr unterbringen können. Im Übrigen ist das sicherlich ein Publikum, das sehr merkwürdig quer durch alle Generationen geht. Es sind sehr viele junge Leute da, aber auch ältere Leute aus dem Bildungsbürgertum, das meiner Meinung nach noch aus dieser Hartmann-Zeit kommt. Dort kann man wirklich 60-, 70-Jährige im Publikum sitzen sehen. Insgesamt ist das jedenfalls ein sozial unglaublich bunt gewürfeltes Publikum. Das ist meiner Meinung nach wirklich ein singulärer Glücksfall. Ich habe in Deutschland ein so interessiertes und wach registrierendes Publikum sonst kaum erlebt. Das hat natürlich auch die Programmmacher beflügelt. Wir sind ja eine ganz kleine Truppe: Das musica viva-Büro untersteht nur dem Intendanten und dem Programmdirektor. Wir haben also keine Zuordnung zur Musikabteilung. Ich wollte genau das auch haben, was Hartmann hatte, nämlich eine Autonomie in den Entscheidungen. Was die Finanzen betrifft, war es so, dass ich damals ja noch vom früheren Intendanten Albert Scharf geholt worden bin. Ich erzähle im Spaß immer den Satz, dass er, an seiner Pfeife ziehend, damals zu mir gesagt hat: "Kommen Sie bitte nicht mir Ihrer sächsischen Kleinsparerei hierher. Ich möchte hier im Bayerischen Rundfunk die europäische Konzertreihe haben! So wie das zu Zeiten von Hartmann der Fall war. Da spielen dann eine oder zwei Millionen keine Rolle." Später war das dann natürlich nicht mehr so, das ist klar. Aber er hat mir damals wirklich unerhört Mut gemacht, indem er meinte, ich sollte zuallererst auf die Qualität achten und nicht auf die Finanzen. Vor sieben Jahren haben ja vielleicht auch noch ein wenig andere Zeiten geherrscht. Man sah das also als Herausforderung. Dieser Herausforderung kann man nur mit wirklich hervorragenden Interpreten begegnen. Lindenmeyer: Sie haben ja auch das Erscheinungsbild der musica viva geändert. Zimmermann: Das hat uns viel geholfen. Lindenmeyer: Mir ist dabei aufgefallen, dass sich heute die musica viva optisch sehr ähnlich wie die Deutsche Oper in Berlin präsentiert. Zimmermann: Das liegt daran, dass das der gleiche Graphiker ist. Dieser Mann scheidet nun aber an der Deutschen Oper ebenfalls aus und wird sich ganz auf die musica viva konzentrieren. Denn wir wollen unser Erscheinungsbild noch einmal verändern: Ich möchte nämlich dieses Weltklasseorchester in einem wirklich gebührenden Rahmen präsentieren. Für mich ist dieses Orchester nach den Philharmonikern in Berlin in seiner Qualität wirklich das zweite irre gute Orchester in Deutschland. Es hat einen unglaublich starken Charakter. Ich möchte also dieses großartige Orchester anders und besser vermarkten in Zukunft. Wenn wir spielen, dann steht auf dem Plakat immer ganz groß "musica viva" und recht klein "Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks". Aber eigentlich ist ja gerade dieses Orchester selbst der Glücksfall: Dieses Orchester absolviert nie eine Pflichtübung, sondern erarbeitet jedes Mal mit Exzellenz und größter Professionalität wie kaum ein anderes Orchester die jeweiligen Stücke. Denn dieses Orchester hat sich der musica viva gegenüber wirklich wieder geöffnet. Wir machen mehr Konzerte und wir machen die Konzerte an verschiedenen Orten. Wir spielen in der Muffathalle und gehen nun auch in die Kirchen. Wir sind im Prinzregententheater, wir sind in der Philharmonie usw. Wir spielen also nicht mehr nur ausschließlich im Herkulessaal, sondern haben unsere Spielorte flächendeckend über München verteilt ausgeweitet. So kommt es, dass die musica viva heute wirklich wieder zu einer Institution geworden ist, die, ich denke schon, dass ich das sagen darf, an die großen Zeiten von Hartmann anzuknüpfen versucht – dies freilich in einer ganz anderen Weise. Lindenmeyer: Welche großen Projekte haben Sie denn noch vor in den nächsten Jahren? Welche Träume haben Sie noch? Zimmermann: Ich träume davon, dass München zu einem europäischen Zentrum der zeitgenössischen Kultur wird. Wir versuchen das ja jetzt in Hellerau bei Dresden ebenfalls zu machen: Auch das ist ja so ein geistiger Ort. Gemeinsam mit dem Choreographen Forsythe bemühe ich mich jedenfalls momentan darum, in Hellerau ein europäisches Zentrum der zeitgenössischen Künste einzurichten. Lindenmeyer: Was soll dort passieren? Zimmermann: Dort sollen sich die zeitgenössischen Künste begegnen, also die Medienkunst, die Musik, die darstellende und die bildende Kunst, die Architektur, der Tanz usw. an einem Ort in einem Festival und mittels der Arbeit übers Jahr verteilt, wo diese Dinge am Ort produziert werden. Das wäre dann ein Festival, wie es das in Deutschland kein zweites Mal gibt. Wir haben ja Festivals von Schleswig-Holstein bis nach Graz in Österreich, die sehr farbig, sehr bunt sind und die betont Wert sowohl auf die zeitgenössische Kunst wie auch auf die Tradition legen. Hier aber sollte es zu einer Begegnung der zeitgenössischen Künste untereinander kommen. Das wäre dann ein singulärer Ort. Ich träume davon, ein Pendant davon hier in München zu installieren: dies auch in Kooperation mit der musica viva und dem Bayerischen Rundfunk und vielleicht auch der Biennale. München hat ja eigentlich alle diese Möglichkeiten. Ich träume also noch davon, dass man hier in München ein solches europäisches Zentrum der zeitgenössischen Künste errichten kann. Die Voraussetzungen dafür sind jedenfalls vorhanden. Vor allem ist hier in München und in Bayern eine Einstellung der Politik vorhanden, die fast schon selten geworden ist. Ich sage immer: München ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt, dass es woanders leider nicht so ist. Noch ist das so. Ich weiß natürlich, dass auch beim Bayerischen Rundfunk die Mittel knapp geworden sind. Wir haben momentan ja sogar Sendereihen einstellen müssen, weil die finanzielle Not eben auch vor diesem Sender nicht Halt gemacht hat. Lindenmeyer: Sie macht vor niemandem Halt. Und das spüren wir natürlich in allen möglichen Bereichen, in den Opernhäusern, in der Stadtteilkultur, in den Bibliotheken, aber eben auch hier und dort beim Bayerischen Rundfunk. Lassen Sie mich ganz zum Schluss noch auf etwas anderes kommen. Sie haben es zwar anders formuliert, aber Sie meinten, dass der aufrechte Gang wichtig sei: Sie haben ein klares Bekenntnis zu einem politischen Verhalten gegeben. Künstler, die sich politisch verhalten, können ja auch Widerstand leisten, wie Sie das in Berlin gemacht haben, und Überzeugungsprozesse einleiten. Solche Künstler werden ja gelegentlich mit Orden ausgezeichnet. Sie haben eine ganze Reihe von solchen Auszeichnungen erhalten. Ich glaube, Ihr höchster Orden dürfte das Bundesverdienstkreuz sein. Zimmermann: Ja, das vermute ich auch, aber davon gibt es ja mehrere Stufen. Lindenmeyer: Gut, klar ist jedenfalls, dass das eine wichtige Auszeichnung war. Wann tragen Sie denn solche Orden? Bei Ihren Vorlesungen als Professor sicher nicht, oder? Zimmermann: Eigentlich nie. Es gibt eigentlich eine Pflicht bei Staatsakten oder bei besonderen politisch-gesellschaftlichen Ereignissen diese Orden zu tragen. Nun, das Bundesverdienstkreuz erster Klasse, das ich bekommen habe, ist nur eine ganz kleine Nadel. Aber es gibt natürlich immer noch mehrere Stufen über dem Bundesverdienstkreuz erster Klasse. Es gibt dann noch das "Große Verdienstkreuz" usw. Lindenmeyer: Sie haben also in diesem Sinne Ihre ganze Zukunft noch vor sich. Zimmermann: Was das Verdienstkreuz betrifft sicherlich. Nein, ich trage diese Orden eigentlich nicht. Ich leite ja in der Preußischen Akademie der Künste die Musikabteilung und sitze dort auch im Senat: Auch dort haben wir eine wunderschöne Spange. Man könnte also sehr viel solche Dinge tragen. Lindenmeyer: Das würde beim Dirigieren dann aber doch stören. Zimmermann: Da würde es unerhört stören. Gut, in gesellschaftlichen Räumen könnte man das vielleicht tun. Wenn das meinetwegen der Pour le mérite wäre, dann würde ich verstehen, dass man ihn trägt. Ich glaube aber, dass das sonst unnötig ist. Lindenmeyer: Man kennt Sie auch ohne Orden. Zimmermann: Ich denke, das ist nicht das Problem. Lindenmeyer: Wie viele Studenten haben Sie eigentlich? Zimmermann: Jetzt überhaupt keine mehr, weil ich ja vor einer Reihe von Jahren aus der Professur ausscheiden musste. Denn der Minister für Wissenschaft und Kunst in Sachsen hatte zu mir gesagt: "Entweder Sie entscheiden sich dazu, hier den Lehrstuhl weiterzuführen oder Sie machen Ihre Intendanz in Leipzig. Beides zusammen geht nicht." Nach vier, fünf Jahren meiner Intendanz in Leipzig bin ich daher aus dieser Professur ausgeschieden, aus einer Professur, die ich über zehn Jahre lang inne hatte. Ich hatte über zehn Jahre einen Lehrstuhl für Musik, Theater und Komposition. Ich habe mich also dazu entschieden, in Leipzig das Intendantenamt weiterzuführen. Lindenmeyer: Den Titel "Professor" dürfen Sie aber weiterhin führen? Zimmermann: Ja, aber gehört zum Künstler eigentlich nicht, denn so etwas macht man eher als Intendant usw. Wenn man jedoch ein Künstler ist, wenn man meinetwegen Komponist ist, dann führt man solche Titel nicht, auch z. B. keinen Doktortitel. Sie werden nie erleben, dass z. B. ein Dirigent einen solchen Titel führt. Lindenmeyer: Ich frage also Professor Zimmermann zum Abschluss: Welchen Dirigenten würden Sie am liebsten auf Ihrem Stuhl hier in dieser Sendung sehen wollen? Wen von den lebenden Dirigenten verehren Sie also am meisten? Zimmermann: Das ist eine sehr komplizierte Frage, weil es da so viel Für und Wider gibt, dass ich Ihnen in dieser Abgewogenheit eine einzelne Dirigentenpersönlichkeit gar nicht nennen könnte. Ich müsste also jetzt mehrere nennen und auch dann würden noch welche fehlen. Lindenmeyer: Sie haben also die Sorge, dass andere dann enttäuscht wären, wenn Sie sie nicht nennen würden. Zimmermann: Nein, das ist nicht nur eine Frage der Klugheit, sondern eine Frage der Sensibilität, dass man unter den großen Dirigenten gar keine wertende Absetzung vornehmen kann. Sie haben alle ihr Für und Wider. Es gibt jedenfalls einige sehr gute und von mir sehr verehrte Dirigentenpersönlichkeiten, die ich jetzt alle aufzählen müsste. Aber ich denke, es ist besser, das nun nicht zu tun. Lindenmeyer: Es reicht ja auch, wenn man sieht, wen Sie zu Gastdirigaten in Ihre Konzerte der musica viva einladen. Meine Damen und Herren, Sie haben heute, wenn Sie ihn nicht schon kannten, Professor Udo Zimmermann kennen gelernt bzw. besser kennen gelernt. Ich danke Ihnen sehr herzlich für dieses Gespräch. Und Ihnen, meine Damen und Herren, möchte ich gerne sagen, bleiben Sie auf BR-Alpha, es lohnt sich, diesen Kanal regelmäßig zu sehen. Herzlichen Dank und auf Wiedersehen.

©