Das Jahr 2011 in Debatten

The European Liebe Leserinnen und Leser, gerne präsentieren wir hier unser erstes PDF-Magazin: Das Jahr in Debatten. Kein anderes in der jüngeren Vergangenheit war so themenstark wie 2011: Die Euro- und Staatsschuldenkrise, der Arabische Frühling, Fukushima und die Energiewende, der Wi- kileaks-Skandal, der Amoklauf in Oslo, Ehec, die Tötung Osama bin Ladens, der Durchbruch der Piratenpartei, der Streit um die Frauenquote, der Niedergang der FDP, Aufstieg und Fall von KT zu Guttenberg – um nur einige zu nennen.

Große Lagen, die der Einordnung, der Durchdringung und der meinungsstarken Erklärung bedurften. 2011 war somit das Jahr von The European, dem Meinungs- und Debattenmagazin! Ge- mäß unserem Claim „Meinung statt Meldung“ haben wir uns für Sie in diese großen Themen gestürzt und die relevantesten Auto- ren gebeten, die Dinge für Sie einzuordnen. Die besten Kommen- tare aus zwölf Monaten finden Sie hier, in diesem Magazin.

Lassen Sie das nun ausklingende Jahr mit diesem Heft Revue passieren! Wir freuen uns, wenn Sie uns auch in 2012 als Lese- rinnen und Leser gewogen bleiben.

Im Namen der Redaktion wünsche ich Ihnen ein frohes Weih- nachtsfest und ein gutes, gesundes und gelingendes neues Jahr!

Ihr

Dr. Dr. Alexander Görlach Herausgeber und Chefredakteur DEZEMBER

Sebastian Pfeffer · PARTEITAG DER SPD IN 7

Jörg Armbruster · WAHLEN IN ÄGYPTEN 10

Ansgar Baums · THESEN ZUM RECHTSEXTREMISMUS 13

NOVEMBER

Margaret Heckel · NACH DER S21-VOLKSABSTIMMUNG 16

Robert Menasse · DAS PROJEKT EUROPA 18

OKTOBER

Volker Kauder · DIE ZUKUNFT DER EU 21

Afef Abrougui · NACH DER WAHL IN TUNESIEN 24

Afrah Nasser · SALEH NUTZT AL-AWLAKIS TOD 26

Reinhard Bütikofer · HOCHKONJUNKTUR DER KAPITALISMUSKRITIK 31

Stefan Gärtner · DER UNSTERBLICHE STEVE JOBS 34

Kristina Schröder · FLEXIBLE FRAUENQUOTE 37

SEPTEMBER

Alexander Görlach · BENEDIKT XVI. IN DEUTSCHLAND 40

Matthias Matussek · DAS KATHOLISCHE ABENTEUER 42

Christian Böhme · PALÄSTINA AM SCHEIDEWEG 45

Gerhard Fulda · DER STAAT PALÄSTINA 47

Christoph Giesa · WAHLERFOLG DER PIRATEN 50

Klaus Wowereit · WAHLKAMPF IN BERLIN 52

Yascha Mounk · DIE BEDEUTUNG DES 11. SEPTEMBER 55

Rolf-Dieter Heuer · DIE GRENZEN DER PHYSIK 58

AUGUST

Wolfgang Kraushaar · DER WUTBÜRGER UND DAS DEMOKRATIEDEFIZIT 61

Roberto Unger · DIE KRISE UND DIE LINKEN 63

Richard Schütze · DIE NEUEN KONSERVATIVEN 66

Rainer Brüderle · SCHWARZ-GELB IN DER SOMMERPAUSE 68 Hans-Peter Uhl · VORRATSDATENSPEICHERUNG IN DEUTSCHLAND 71

Gunnar Sohn · PATERNALISMUS UND DEUTSCHE INTERNETPROVINZ 73

Peter Schaar · GESETZE ZUR TERRORISMUS-BEKÄMPFUNG 75

Ed Blakely · MAUERN DIESER WELT 78

Winfried Nachtwei · DEUTSCHLANDS INTERNATIONALE VERANTWORTUNG 81

Jost Kaiser · FEHLBESETZUNG IM AUSWÄRTIGEN AMT 83

JULI

Mark T. Fliegauf · MITLEID MIT BRODER 86

Alexander Kissler · DER MASSENMORD ZU OSLO 87

Michael Schmidt-Salomon · PID-ZULASSUNG 90

Birgit Kelle · PETER SINGERS ZWEIFELHAFTE ETHIK 92

Georg Schulze Zumkley · EUROPA IM 21. JAHRHUNDERT 95

Alan Sked · EUROPA IN DER KRISE 97

Andre Wilkens · DIE TÜRKISCH-EUROPÄISCHE FREUNDSCHAFT 99

JUNI

Tarek Al-Wazir · DEUTSCHLAND STEIGT AUS 102

Wade Allison · REAKTORKATASTROPHE IN JAPAN 104

Monika Grütters · AUSWÄRTIGE KULTUR- UND BILDUNGSPOLITIK 107

Friedbert Pflüger · HERAUSFORDERUNG ROHSTOFFMANGEL 109

Elmar Brok · GRENZKONTROLLEN IM SCHENGEN-RAUM 112

Reinhard Kurth · PROBLEME DER EPIDEMIEBEKÄMPFUNG 114

MAI

George Dyson · DIE ZUKUNFT DER EVOLUTION 117

Ibrahim Evsan · HYGIENEVORSCHRIFTEN DES INTERNETS 119

APRIL

Dan Ariely · DER IRRATIONALE MENSCH 122

Wolfgang Huber · VERANTWORTUNG UND FREIHEIT NACH DER KRISE 124 MÄRZ

Hugo Müller-Vogg · WAHLDEBAKEL IM CDU-STAMMLAND 127

Heribert Prantl · MEDIENPOLITIKER GUTTENBERG 130

David Baum · GUTT GEMACHT! 132

Bernhard Felmberg · KRUZIFIXE IN KLASSENRÄUMEN 135

FEBRUAR

Christine Haderthauer · ZUKUNFT DES ZIVILDIENSTES 138

JANUAR

Albert Stahel · ISLAMISIERUNG IM NAHEN OSTEN 141

Sahar el-Nadi · RÜCKTRITT VON PRÄSIDENT MUBARAK 143

Beate Wedekind · MENSCHEN UND WAS SIE TUN 146

Hubert Burda · THE ICONIC TURN 148

Wolfram Eilenberger · AMERIKANISCHER EXZEPTIONALISMUS 151

Alan Posener · CHRISTENTUM UND KOMMUNISMUS 154

Ulf Poschardt · DIE WÄHLERSCHAFT DER FDP 156 Dezember Auf dem Bundes- parteitag der SPD geht es primär um die K-Frage. Gabriel, Steinmeier und Steinbrück stellen sich den Genossen. Die SPD hat nur eine erste Etappe geschafft, das schwerste Stück Weg liegt noch vor ihr. Der Gute-Laune-Parteitag täuscht da nicht drüber hinweg. Durchatmen, Genossen

Sebastian Pfeffer · PARTEITAG DER SPD IN BERLIN

“Aufbruch” dröhnte durch die gewünscht unproblematisch. Und ob Hallen, dass einem die Ohren 2013 überhaupt irgendetwas zu gewin- schmerzten: Wir sind wieder wer, nen ist, bleibt auch ungeklärt. erfolgreich, dynamisch, unserer Zunächst die Erfolge: Gabriel be- historischen Wurzeln bewusst rei- tonte sie besonders, nannte alle sie- ten wir der Zukunft entgegen. Kei- ben Spitzenkandidaten beim Namen. ne Spur der 2009 vom Wähler Ja, die SPD hat im Wahljahr 2011 auf (23%) zerschundenen Volkspartei. den ersten Blick gut abgeschnitten. Tatsächlich war der Parteitag der Fünfmalmal stärkste Kraft (Hamburg, SPD weit weniger: Nach zwei Jah- Rheinland-Pfalz, Bremen, Mecklen- ren Dasein als Gehetzte hat man ei- burg-Vorpommern, Berlin) und zwei- nen Ort der Zuflucht erreicht und mal immerhin Juniorpartner in der ein paar tiefe Züge neuen Atem ge- Regierung (Sachsen-Anhalt und Ba- schöpft – Parteichef Gabriel hätte den-Württemberg). Aber: Die Ten- ruhig „Hola“ rufen können, wie es denz, dass Landtagswahlen zur Mitte Kinder beim Fangen tun, wenn sie der Legislaturperiode (Bundesebene) den Ort erreichen, wo eben solches eher zu Gunsten der Opposition aus- verboten ist. fallen ist nichts Neues und oft weni- ger der Liebe zur gewählten Partei ge- schuldet, sondern dem Bundes-Malus Bei genauem der anderen, also der CDU.

Hinsehen ist Darüber hinaus lohnt sich ein genauer alles etwas Blick auf die Ergebnisse 2011: Hamburg 48,4 % (Februar) + 14,3 % (2008) weniger toll Sachsen-Anhalt 21,5 % (März) + 0,1 % (2006) Baden-Württemberg 23,1 % (März) - 2,1 % (2006) Denn weder sind die beschwore- Rheinland-Pfalz 35,7 % (März) - 9,9 % (2006) nen „Erfolge“ der jüngsten Vergan- Bremen 38,6 % (Mai) + 1,9 % (2006) genheit so aufschwingend, weder Mecklenburg-Vorpommern 35,6 % (September) + 5,4 % (2006) sind die Wegweiser für die Rich- Berlin 28,3 % (September) - 2,5 % (2006) tungsentscheidungen so sturm- fest gestellt, noch ist die zwang- Was lesen wir daraus? Große Gewinne haft kleingeredete K-Frage so in Hamburg, herbe Verluste in Rhein-

Seite 7 / 161 land-Pfalz, mittlerer Zuwächse in Mecklenburg-Vorpommern, kleine Verluste in Berlin und Baden-Würt- temberg. Ein Aufwärtstrend ist das nur vor dem Hintergrund der Dür- rejahre zuvor. Und: In Hamburg profitierte man von der Implosi- on der CDU (-20,7%), in B.-W. und R.-P. vom Höhenflug der Grünen (+11,75% und +10,8%), später dann von der Selbstdemontage der FDP, die sich in M.-V. (-6,8%) und Berlin (-5,8%) ans Existenzminimum her- angedümpelt hat. Zudem herrscht in der Partei noch immer ein Richtungsstreit, vor allem in der Steuer- und Renten- politik. Fürs erste wehrte die Par- teispitze die Vorstöße der Parteilin- ken zwar ab – die unter Rot-Grün beschlossenen Rentenreformen © gettyimages müssten nicht zurückgenommen werden: So wird die geplante Absen- Gabriel trägt Gold, Steinmeier Silber, te ihn (auch zähneknirschend) zum kung des Rentenniveaus (von der- Steinbrück Bronze. Den Drittplatzier- Kandidaten wählen. Es wäre nicht das zeit mehr als 50% auf 43% in 2030) ten fröstelte es bei so sparsamer Lie- erste Mal: Weder der am Sonntag fre- nicht gestoppt, auch an der Rente beswärme: “Ich habe nicht nur an das netisch bejubelte Schmidt noch der mit 67 ab 2012 hält man fest. Vor- Herz, an die Seele der Partei geredet, nachdrücklich ignorierte Schröder erst der Deckel drauf ist auch beim sondern an manchen Stellen auch waren einst in der Partei sonderlich Thema Reichensteuer: Die Sozial- an den Verstand – das ist der Unter- wohlgelitten. Kandidaten (und Kanz- demokraten einigten sich stattdes- schied”, sagte Steinbrück und meinte ler) wurden sie trotzdem. sen auf eine Erhöhung der Abgel- den bejubelten Gabriel. Egal wer es wird, zum Schluss tungssteuer-Pauschale von 25 auf Ob der Parteitag aber überhaupt als muss man ganz grundsätzlich fra- 32 Prozent – inklusive der Ankündi- Wasserstandsanzeiger herhalten kann gen, was 2013 überhaupt zu holen ist. gung, zu einem späteren Zeitpunkt ist sowieso mehr als fraglich. Im ZDF- Führt Angela Merkel die Republik er- nochmal darüber zu reden. Man Politbarometer (vom 25.11.) liegt Stein- folgreich durch die Euro-Krise dürfte wird sehen, wie lange der Kompro- brück auf der Eins, Steinmeier auf der es für jeden der drei Wettläufer schwer misskleber hält. Zwei, Gabriel auf der Drei. Partei und werden, sie auszustechen und mit der Wahlvolk widersprechen sich diamet- SPD stärkste Kraft zu werden. Bleibt ral. Gut möglich, dass bald etwas von die Krise ungelöst, treten wenigstens Partei und Wahl- der Parteitagsstimmung insgesamt ein paar der ganzen Horrorszenari- durchschlägt – vermutlich aber sind en ein, dann kann die SPD vielleicht volk sind uneins die Delegierten im Saal nicht ganz re- die Wahl gewinnen – viel Freude aber präsentativ. sicher nicht. Gut möglich, dass eine Und dann wäre da noch dieser Agenda 2020 her müsste, wo das lästige Kratzer am Gaumen, die Trauma 2010 kaum überwunden ist. Frage nach der Kanzlerkandidatur. Löst Merkel Durchatmen ja also, aufatmen nein. Zwar präsentierte die „Troika“ sich (überwiegend) einträchtig. „Lasst die Krise ist, Sebastian Pfeffer ist der parla- euch keine falschen Debatten zur mentarische Korrespondent von Unzeit aufschwatzen“, rief Gabriel wird es schwer The European. Zuvor arbeitete er den Delegierten zu – die Aufmerk- als freier Journalist im Regionalen samkeit, die die Debatte auslöst zu gewinnen und Lokalen, spätere Stationen führten wird er trotzdem gerne einstreichen. ihn zum ZDF, der am Sonntag, Welt Klar ist: Der Wettlauf ist natürlich Am Ende könnte der in der Partei am und Morgenpost. Zur Zeit bringt er sein in vollem Gange. Und die Stim- wenigsten geliebte Kandidat Stein- Magisterstudium in Politik und Publizistik mung im Stadion, also der „Station“ brück im nächsten Jahr der mit den zu Ende und schreibt als Fernsehkritiker für am Berliner Gleisdreieck, applau- besten Chancen aufs Kanzleramt sein Welt Online. Foto: Lars Mensel dierte eine klare Rangfolge herbei: – und eine erfolgswillige SPD müss-

Seite 8 / 161 Dezember Moslembrüder und Salafisten gewinnen die erste freie Wahl Ägyptens - auf dem Tahrir-Platz wird erneut protestiert. Ein guter Tag

Jörg Armbruster · WAHLEN IN ÄGYPTEN

Die Wahlen in Ägypten waren wichtig und richtig – auch wenn manche De- monstranten lieber später abgestimmt hätten. Jetzt hängt es davon ab, wie Moslembrüder und Salafisten, die Wahl- sieger, das gefährliche Klima abfangen.

Es war schön, die langen Schlangen dert, nur um die eigenen Vorteile vor den Wahllokalen zu sehen am ers- aus der Mubarak-Zeit hinüberzuret- ten Wahltag. Es war beeindruckend, ten? Können Wahlen unter diesen die Geduld der Ägypter zu erleben, Bedingungen tatsächlich frei sein? die bis zu fünf Stunden warten muss- Die Antwort der meisten Ägypter ten, ehe sie ihr Kreuz endlich da ma- war: „ja, man kann und man muss“; chen konnten, wo sie es wirklich ma- denn nur so sind sie in der Lage, den chen wollten. Und es war klug von den nächsten Schritt auf dem kompli- Ägyptern, zu den Wahlen zu gehen zierten Weg zur Demokratisierung trotz der blutigen Woche zuvor, in der des Landes zu machen. Selbst vie- die Sicherheitskräfte bis zu 40 Tah- le Neinsager vom Tahrir-Platz sind rir-Platz-Demonstranten getötet hat- dann doch wählen gegangen am 28. ten mit Tränengas, Gummigeschos- November, nicht triumphierend und sen oder gezielten Schüssen. Der 28. wenig begeistert. Der Revolutionsen- November – ein guter Tag für Ägyp- thusiasmus ist schon lange verflogen. ten! Und es wäre fatal gewesen, die Auf dem Platz dominieren Zorn und Wahlen zu verschieben, wie es einige Wut. Im übrigen Land ist die Stim- Tahrir-Platz-Besetzer gefordert hatten, mung gedämpft, ernüchtert, Enttäu- auch wenn sie gute Gründe hatten. schung und Unzufriedenheit drohen überhand zu nehmen. Von den Hoffnungen des Früh- Die Hoffnungen jahrs sind bis zum Herbst viel zu we- nige in Erfüllung gegangen. Statt- wurden kaum dessen wächst die Not. Eltern wissen bald nicht mehr, wie sie ihre Kinder erfüllt satt kriegen können, die Preise für Le- bensmittel steigen Woche für Woche. Sie hatten gezweifelt und gefragt: Und die Zeitbombe der Jugendarbeits- Kann man, ja soll man tatsächlich losigkeit tickt im November noch lau- wählen gehen unter einem Quasi- ter als im Januar. Jeder dritte Jugendli- Militärregime, das verantwortlich che zwischen 14 und 24 Jahren hat in ist für Folter, politische Prozesse vor Ägypten keinen Job. Das ist die höchs- Militärgerichten, Einschüchterung te Jugendarbeitslosigkeit, noch vor Tu- der Presse, das in dem neuen Ägyp- nesien, Algerien und Marokko. Und ten einen Sonderstatus für sich for- dabei waren es gerade diese Jugendli-

Seite 10 / 161 © gettyimages chen, die die Revolutionen im Früh- wie etliche fordern, ist zweitrangig. jahr mitgetragen hatten, weil sie ge- Gefährlich für die Zukunft des Lan- hofft hatten, bald werde sich alles des ist, dass Islamisten kein liberales zum Guten wenden für sie. Nichts und freiheitliches Klima zulassen wer- ist passiert. den. Ob als Kulturwarte, die Kunst auf Als Sieger dieser ersten Wahlrun- Korantauglichkeit überprüfen, ob als de des Landes stehen die Moslem- Sittenwächter, die auch die letzte Frau brüder wie auch die Salafisten fest unter das Kopftuch zwingen, ob als – eine Entwicklung, die auch der „Religionspolizisten“, die die Kopten großen Unzufriedenheit geschuldet drangsalieren oder als Parlamentari- sein könnte. Die Partei der Moslem- er, sie werden versuchen, alles Libera- brüder hat die erwarteten 40 Pro- le als dekadent und verwestlicht, viel- zent erreicht. Dass die Religionsex- leicht sogar zionistisch, zu verteufeln. tremisten, die Salafisten, im Schnitt Dennoch bleibt es für mich erst ein- auf 20 Prozent der Stimmen kom- mal dabei: der 28. November war ein men, war so nicht zu erwarten gewe- guter Tag für Ägypten, auch wenn das sen und erschreckt einigermaßen. vorläufige Ergebnis dieser ersten frei- en Wahlen nach 60 Jahren mir nicht gefällt. Aber, so sagen junge Ägypter Klimawandel hier, es gibt ja noch den Tahrir-Platz. in Ägypten? Der deutsche Journalist Jörg Armbruster (Jahrgang 1947) ist Ihre Wahlkampfrezepte sind Nahost-Korrespondent der ARD. schlicht, sie schwadronieren gerne Armbruster hat in Köln unter von simplen Lösungen und verspre- anderem Politikwissenschaften studiert und chen viel, damit erreichen sie offen- wurde 2004 für seine Dokumentation „Folter sichtlich Menschen in Not. Ob die im Namen der Freiheit“ für den Deutschen Islamisten im Parlament tatsächlich Fernsehpreis nominiert. Foto: Lars Mensel Bikini und Bier verbieten werden,

Seite 11 / 161 Dezember Eine rechtsextremistisch motivierte Mordserie wird nach Jahren aufge- deckt – Verfassungs- schutz, BKA und Politik geraten in die Kritik. Im Scheitern geeint

Ansgar Baums · THESEN ZUM RECHTSEXTREMISMUS

Die Neonazi-Morde sind ein Hinweis auf massives Scheitern der Verantwortlichen. Politik, Ermittler, Behörden und Wissenschaftler haben kollektiv versagt. Vier Thesen.

Schwerwiegenden Fehlern durch These 2: Die Diskussion um V- die Sicherheitsbehörden folgt nun Männer zeugt von strategischer Plan- eine absurde, reflexhafte politische losigkeit. V-Männer sind eine effizi- Debatte. Vier Thesen: ente Methode zur Aufklärung und Schwächung rechtsextremistischer These 1: Das NPD-Verbot ist eine Strukturen. Effizient, weil sie we- intellektuelle Bankrotterklärung der sentlich weniger aufwändig sind als Politik. Die Forderung des NPD-Ver- der Einsatz von Under Cover Agents bots ist ein Zeichen für die Einfalls- (UCAs) und weil technische Überwa- losigkeit der Politik im Umgang mit chungsmaßnahmen immer ein Kor- Rechtsextremismus und spricht je- rektiv des direkten Kontaktes brau- der ernst gemeinten politischen Ant- chen (Extremismus-Bekämpfung ist wort Hohn. Denn tatsächliche An- „People’s Business“). Zudem schwä- haltspunkte für eine Involvierung der chen V-Männer den Rechtsextremis- NPD im aktuellen Fall liegen bislang mus, weil sie der Szene eine wichtige nicht vor. So ist die Verbotsforderung Ressource entziehen: Vertrauen. Es ist bestenfalls Symbol-, im schlechtes- bemerkenswert, wie viele Rechtsex- ten Fall Alibipolitik. Analysen zeigen, tremisten sich „kaufen“ lassen – das dass die NPD im aktionsorientierten führt zur Verunsicherung der Szene. Rechtsextremismus nach wie vor kei- Dies gilt es zu nutzen. Das eigentliche ne strategische Rolle spielt. Problem ist also nicht der V-Mann- © gettyimages

Einsatz an sich, sondern die Sicher- Entwicklungen in der IT. Hier gilt des Verfassungsschutzes Berlin. Hie- heitsbehörden: über 30 führen V-Män- es, neue Personalmodelle zu finden ran gilt es anzuknüpfen und Ansät- ner und koordinieren sich nach wie und sich zu öffnen. Die Nachrich- ze wie die Risikoanalyse fruchtbar zu vor schlecht. Hier sollte man keiner tendienste müssen „bunter“ rekru- machen. Dies wäre um ein Vielfaches Illusion nachhängen: Dies wird sich tieren und Spezialisten den Zugang gewinnbringender als die leidige De- nur ändern, wenn die Sicherheitsar- zur Beamtenlaufbahn ermöglichen. batte um den Extremismus-Begriff. chitektur nachhaltig verändert wird Und warum nicht engere Koopera- – genau das hat die Politik als Erstes tionen mit Hochschulen? Warum Der Beitrag stellt die persönliche ausgeschlossen. nicht „Stagiaires“ von Wirtschafts- Meinung des Autors dar. prüfern, Compliance-Spezialisten, These 3: Die Sicherheitsbehörden Unternehmensberatern im Sicher- Der Politikberater Ansgar Baums brauchen eine moderne Rekrutie- heitsbereich? lebt in Berlin. Er studierte rungspolitik. Neben den Strukturen Politikwissenschaft in Berlin muss auch über Personal gesprochen These 4: Die Wissenschaft muss sowie International Strategy & werden. Nachrichtendienstliche Ana- sich erneuern. Die deutsche Extre- Economics in St. Andrews. Von 2002 bis lytik ist eine komplexe Aufgabe. Kom- mismusforschung hat in den ver- 2006 war er für den Verfassungsschutz plexe Aufgaben lassen sich am bes- gangenen Dekaden kaum etwas für Berlin tätig und erarbeitete dort zwei empi- ten in sorgfältig zusammengestellten die Sicherheitsbehörden Verwert- risch Studien zu rechter und linker Gewalt. Teams meistern, die eine hohe Me- bares produziert. Grund dafür ist thodenkompetenz besitzen. Heute die traditionelle Ausrichtung an der wird die Auswertung vom gehobe- Ideen- (insbesondere Antisemitis- nen allgemeinen Verwaltungsdienst mus) bzw. der Verfassungsgeschich- unter Anleitung des meist rechtswis- te. Weder der historische noch der senschaftlich ausgebildeten höheren rechtsdogmatische Blick nützen bei Dienstes geleistet. Unbenommen ex- der Analyse der Gegenwart. Empiri- zellenter Auswerter, die schon heute sche Ansätze wie „Evidence-based in den Sicherheitsbehörden arbeiten Public Policy“ oder geostrategische – langfristig ist diese Personalstruk- Analyse (Geomapping) sind bislang tur zu einseitig. Es fehlt Know-how in Deutschland nur in Einzelfällen in analytischen Disziplinen: quanti- aufgenommen worden, beispiels- tative Ansätze, Psychologie, moderne weise in den beiden Gewaltstudien

Seite 14 / 161 November Die Bahn kommt – BaWü entscheidet sich für S21. Die Grünen sind düpiert, ziehen aber mit. Öfter mal nachfragen

Margaret Heckel · NACH DER S21-VOLKSABSTIMMUNG Baden-Württemberg hat sich für den Bau des umstrittenen Tiefbahnhofs entschieden. Die Volksabstimmung zeigt ein- mal mehr, dass gefühlte Mehrheiten eben nur gefühlt sind. Warum nicht also öfter mal das Volk befragen?

Die Entscheidung der Baden-Würt- fen würden, als die mediale Stim- beteiligen, haben die Baden-Württem- temberger zu Stuttgart 21 ist klar: Mit mung vermuten lässt. berger nicht ergriffen. Erst als die Bag- deutlicher Mehrheit haben sich die Natürlich ist nicht zu erwarten, ger im Anmarsch waren, kochte die Bürger und Bürgerinnen für den Wei- dass die aufgeputschte Lage in Stutt- Volksseele. Und gerade weil da nicht terbau des umstrittenen Bahnhofs aus- gart mit dem Volksentscheid nun mehr viel zu machen war, war die Wut gesprochen. Interessanterweise gibt es endgültig befriedet werden kann. umso größer. diese Mehrheit sogar da, wo die Men- Dafür ging der Konflikt zu lange, Deshalb hat Stuttgart 21 auch für schen am unmittelbarsten vom Bau war die Stimmung zu aufgeheizt. Mut- und Wutbürger eine wichtige betroffen sind – in Stuttgart direkt. Die Schlichtung von Heiner Geißler Botschaft: sich zu engagieren, wenn war gut, aber sie kam zu spät im Pro- die Bagger kommen, ist zu spät. Das jektablauf. Eine der Lernerfahrun- Engagement ist viel früher notwendig Das dröhnende gen aus Stuttgart 21 muss deshalb – und zwar dann, wenn es gilt, dröge sein, die Bürger und Bürgerinnen Pläne zu studieren, Alternativrechun- Schweigen sehr viel früher miteinzubeziehen. gen erstellen zu lassen, in endlosen Sitzungen verschiedene Planvarian- der Mehrheit ten durchzugehen. Das ist weit weni- Engagement ger öffentlichkeitswirksam, als sich an Diese Entscheidung zeigt einmal Bäume im Park zu ketten, aber natür- mehr, wie sehr eine vehemente und muss vor den lich sehr viel zielführender. eloquente Minderheit die schweigende Mehrheit übertönen kann. So ist das Baggern kommen Margaret Heckel ist Autorin Votum auch eine Ermunterung für des Bestsellers “So regiert die mehr Volksentscheide, insbesondere Stuttgart 21 ist auch deshalb so es- Kanzlerin” und Gründerin des im Bereich der anstehenden Energie- kaliert, weil von Anfang an so we- Kommentarportals www.starke- wende. Es ist zu vermuten, dass die nig machbar war. Als die Bürger und meinungen.de. Sie war Ressortleiterin Politik notwendigen Stromtrassen für den Bürgerinnen aufgewacht sind, wa- der Welt und Welt am Sonntag und zuvor bei Ausbau der Erneuerbaren Energien ren alle Verträge längst unterschrie- der Financial Times Deutschland. Heckel hat auf sehr viel mehr Zustimmung tref- ben. Ihre erste Chance, sich zu Volkswirtschaft in Heidelberg und Amherst (USA) studiert. Foto: Michael Lüder

Seite 16 / 161 November Mit einer neuen Koalitionsregierung will Griechenland der Zahlungsunfähigkeit entkommen. Es geht um nicht geringeres als die Zukunft der EU. „Sarkozy und Merkel sind Repräsentanten nationalen Kleingeists“

Robert Menasse · DAS PROJEKT EUROPA

Die EU zerbricht am Nationalismus und also, als sie Kanzlerin wurde, die ers- te wirkliche Repräsentantin des ver- kleingeistiger Politik. Im Gespräch mit einigten Deutschlands. Und sie hat- te noch einen Startvorteil gegenüber The European wirbt Robert Menasse für Kohl: Bei all seinen Meriten fiel es den Linken in Deutschland und Eu- den politischen Richtungswechsel, ein ropa doch schwer, ihn und seine Leis- tungen anzuerkennen. Merkel aber Europa der Europäer und die Abschaf- ist eine Frau. Und das führte zu einer Beißhemmung der Linken: die erste fung des Europäischen Rates. Frau, die Kanzlerin wurde! Das wur- de gefeiert, völlig unbesehen von ih- rem politischen Programm. Mittler- The European: In Deutschland tobt weile aber wurde deutlich: Kohl war ein Krieg darüber, ob die CDU-Kanz- ein Politiker von europäischer Größe, lerin Angela Merkel das Europa-Er- Merkel aber ist eine deutsche Kanzle- be ihres großen Vorgängers Helmut rin. Und darüber stolpert und taumelt Kohl verspielt oder nicht. Wie mutet Angela Merkel heute unausgesetzt: diese Debatte von außen an? nur deutsche Kanzlerin zu sein, ist Menasse: Angela Merkel hatte zu- schlecht für Europa, und eine schlech- nächst einen Vorzug gegenüber te Europapolitikerin zu sein, ist auch Kohl: Sie wurde politisch groß im schlecht für Deutschland! Ich kann, westdeutschen politischen System, wenn mir Europa am Herzen liegt, aber sozialisiert wurde sie in der Frau Merkel nicht „von außen“ sehen ehemaligen DDR, kannte die Reali- – sie ist für jeden Europäer ein innen- tät der neuen Bundesländer. Sie war politisches Problem.

Seite 18 / 161 Wenn Sie sich in Europa umschau- politischen Repräsentanten des Pro- fallen müssen: mehr Integration oder en, sehen Sie dann jemanden, der jekts. Sie wissen nicht mehr weiter. Es Ende! Und die Entscheidung wird, so das heute sein könnte, ein solcher ist nicht einmal so, dass sie vor küh- oder so, sehr radikal sein. „Politiker von europäischer Größe“? nen Schritten zurückschrecken. Sie Wie würden Sie das Europa, das uns Traditionell wird dieser Anspruch sehen vor sich keinen Weg, auf den heute entgegentritt, dann bezeichnen? von den Regierungschefs der soge- sie auch nur irgendeinen Schritt set- Jetzt ist Europa ein impotenter Zwit- nannten großen Länder Deutsch- zen könnten. Sie glauben zu disku- ter: kein Europa mehr der Nationen land und Frankreich erhoben, also tieren. Aber was man hört, sind die und kein solidarischer nach-nationa- der beiden Staaten, deren Aus- monotonen Geräusche tibetanischer ler Kontinent. Alles, was vernünftig, söhnung und wirtschaftliche Ver- Gebetstrommeln. Sie glauben, Kom- logisch und zukunftsweisend wäre, flechtung bei den kriegswichtigen promisse zu machen. Aber um Kom- wird von Deutschland, Frankreich Gütern Kohle und Stahl das Pro- promisse machen zu können, muss oder , meistens von ihnen ge- jekt Europa auf den Weg brachten. man Widersprüche anerkennen. Das meinsam, blockiert. Das Beste, was Das „Wunder EU“, diese konkret tun sie nicht. Sie glauben, man müs- man über Italien sagen kann, ist, dass und wirksam gewordene Utopie se Widerspruch aussitzen. Das ist es, Herr Berlusconi offenbar andere Sor- eines friedlichen, vereinten Konti- was sie „Kompromiss“ nennen. Sie gen oder Interessen hat, und sich des- nents, war nur möglich wegen der fühlen sich bestätigt, wenn sie Mari- halb europapolitisch völlig heraushält. Größe dieser beiden Staaten – Grö- onetten nicken lassen. Zugleich füh- Jeder denkbare und wünschenswer- ße auch im übertragenen Sinn: Sie len sie sich unschuldig, weil sie von te europapolitische Fortschritt wider- hatten die Größe, auf Souveräni- „globalen Entwicklungen“ abhängen, spricht ja zunächst immer gleich ir- tät zu verzichten, zugunsten dieser auf die sie glauben keinen Einfluss zu gendwelchen „nationalen Interessen“. Utopie. Sie haben dies getan, als es haben. Sie sind also Marionetten, die Jedwedes Symptom der gegenwärti- viel schwieriger war, viel schwie- selbst wieder mit Marionetten spielen. gen Krise, jeder Aspekt der jetzt so un- riger auch den eigenen Populatio- Aber das alles muss kurzfristig nichts lösbar scheinenden Probleme geht auf nen zu erklären, und viel riskanter bedeuten. diesen Widerspruch zurück. Der Wi- als heute. Die gegenwärtige Krise Es klingt trotzdem mehr nach Un- derspruch lautet: Die nach-nationale der EU hat aber dieselbe historische tergang, so wie Sie das sagen. Entwicklung hängt von der Zustim- Wurzel: Wenn diese beiden Staa- Es gab schon einmal ein supranati- mung von Nationen ab. Das ist schon ten also der Motor der Entwicklung onales Vielvölkergebilde in Europa: eine interessante Dialektik. Aber sie sind, und sich dies auch nie mehr die Habsburgermonarchie. Und vom implodiert gerade. Nationen hatten Robert Menasse · DAS PROJEKT EUROPA nehmen ließen, dann stottert alles, Moment an, an dem niemand mehr beschlossen, eine nach-nationale Ent- wenn dieser Motor stottert. Sarkozy weiterwusste und – wie Robert Musil wicklung einzuleiten. Das war kühn, und Merkel sind Repräsentanten na- schrieb – dieses Konstrukt „sich nur ein Meisterstück historischer Ver- tionalen Kleingeists. Die Dynamik noch selbst irgendwie mitmachte“, bis nunft. Dann kamen dieselben Nati- einer nachnationalen Entwicklung zum wirklichen Zusammenbruch, onen drauf, dass diese Entwicklung ist ihnen unheimlich. Sie wechseln ist noch einige Zeit vergangen. Man logisch zu ihrer Abschaffung führen politisches Kleingeld durch das Ver- kann davon ausgehen: Auch wenn die wird, ja muss, und es begann die Ver- teidigen angeblicher nationaler In- heutige Krise dramatischer ist, als vie- teidigung, die Zerstörung der Idee. teressen. Sie haben das Erbe, das sie le wahrhaben wollen, es bleiben doch angetreten haben, nicht nur nicht noch viele Jahre, in denen die EU sich Der Schriftsteller ist unter anderem vermehrt, nicht einmal bewahrt, noch irgendwie selbst mitmachen Mitglied des P.E.N. Clubs, Träger sie verschleudern es. Wer bitte soll kann. Und das sind die Jahre, in de- des Marburger Literaturpreises, denn im langen Schatten dieser po- nen die gesamte heute regierende Ge- des Österreichischen litischen Zwerge jetzt europäische neration abtreten und in Pension ge- Staatspreises für Kulturpublizistik und des Größe zeigen? Der Herr Kubilius hen wird. Die entscheidende Frage ist: Niederländischen Buchpreises. Seine aus Litauen oder Herr Faymann aus Wer kommt danach? Es kann ja sein, kulturtheoretischen Bücher und Essays Österreich? dass dann eine Generation da ist, für behandeln Themen wie Antisemitismus, Dann steht das Projekt Europäi- die Europa selbstverständlicher ist als Nationalismus, Demokratiedefizite und sche Union doch nun vor dem Ende, das Denken in nationalen Interessen. Globalisierung. Menasse lebt in Wien. oder nicht? Denn klar ist meiner Eine Generation, die in drei oder vier Meinung nach, dass nur ein Mehr an verschiedenen Ländern studiert hat, Integration, also ein Mehr an Souve- zum Beispiel, daher nicht nur gram- ränitätsaufgabe, der nächste Schritt matikalisch, sondern auch seelisch für die Gemeinschaft sein muss. polyglott ist. Eine Generation, für die Am Ende ist nicht das Europäische die gegenwärtige Krise der Nationen, Projekt, nicht die Idee, und noch und nicht die Verklärung nationaler lange nicht das Fortwirken des bis- Sonderwege die prägende Sozialisa- her Erreichten. Am Ende ist die Un- tionserfahrung ist. Aber es stimmt, entschlossenheit der gegenwärtigen mittelfristig wird diese Entscheidung

Seite 19 / 161 Oktober Der Bundestag stimmt über den europäischen Rettungsschirm EFSF ab. National und international wächst die Kritik an der EU. „Jetzt ist nicht die Zeit für große Überschriften“

Volker Kauder · DIE ZUKUNFT DER EU

Ursula von der The European: Herr Kauder, die EU der Banken angeht – international der ist in der schwersten Krise ihres Beste- Hauptantreiber. Zwei Punkte sind be- Leyen bringt die hens. Wie kommen wir da raus? sonders wichtig: Die Banken müssen Volker Kauder: Zunächst einmal müs- heute schon mehr Eigenkapital vor- Idee der „Verei- sen sich alle in Europa dem Ernst der halten, das sie dann zum Ausgleich Lage stellen. Jeder sollte bereit sein, von etwaigen Verlusten einsetzen nigten Staaten Konsequenzen zu ziehen. Das be- müssen. Neben einer besseren Auf- deutet, dass jede Regierung zunächst sicht ist zudem eine Bankenabgabe von Europa“ selbst alles versuchen muss, ihr Land eingeführt worden. Beides schmerzt in Ordnung zu bringen – zunächst die die Institute durchaus. Das Problem ins Spiel. Das Haushalte und dann die wirtschaftli- ist, dass diese und andere Maßnah- che Leistungsfähigkeit. Dann muss men erst langsam zu greifen begin- schmeckt nicht jedes Land aber auch nach seinen nen. Die Regulierung braucht leider Möglichkeiten zur Solidarität mit den Zeit. Wir müssen aber noch weiter ge- allen in der schwächeren Mitgliedsländern bereit hen. Zum Beispiel müssen wir uns sein, gerade im eigenen Interesse. Wir noch einmal die Rating-Agenturen Union. Im Ge- Deutsche tun beides. Wir bringen un- genau anschauen. Die haben eindeu- seren Haushalt in Ordnung, helfen tig zu viel Einfluss und kommen auch spräch mit The über die Rettungsschirme aber auch aus meiner Sicht zu äußerst zweifel- Ländern wie Griechenland, Portugal haften Urteilen. Ganz klar: So wie es European fordert und Irland. Langfristig werden wir ist, kann es nicht bleiben. das Haus Europa aber nur auf ein fes- Die „Vereinigten Staaten von Euro- Volker Kauder tes Fundament stellen, wenn alle zu pa“ – ist das ein Konzept, das in der tiefgreifenden Reformen bereit sind. Europa-Partei CDU mehrheitsfähig eine Politik Europa muss eine Stabilitätsunion werden könnte? werden. Das gilt nicht nur für die Eu- Es ist jetzt nicht so sehr die Zeit für der konkreten ro-Zone, sondern auch für die EU ins- große Überschriften. Jetzt ist es Zeit, gesamt. die Reformschritte hin zu einer po- Reformen und Sie stellen im Bundestag die Kanz- litischen Union präzise zu beschrei- lerin und dennoch ist es der CDU nicht ben. Die Bürger erwarten, dass es ih- strikte Haus- gelungen, seit der letzten Krise 2008 nen auch in den nächsten Jahren gut die Banken, den Finanzkapitalismus oder sogar noch besser geht. Dazu haltskonsolidie- an die Leine zu nehmen. Warum? brauchen wir, als Wirtschaftsnation Es ist eine Menge geschehen, wir Nummer eins auf dem Kontinent, Eu- rungen. sind aber nicht am Ziel – ganz klar. ropa. Dieses Europa muss aber refor- Deutschland ist – was die Regulierung miert werden, damit wir solche Tur- Dirk Vorderstraße cc-by 3.0 bulenzen künftig vermeiden. Hierzu gliedstaaten zurückübertragen kann. eben auch Griechenland. Und der, der werden wir den Menschen ein kon- Es muss eine neue Balance geben. die Hilfe haben will, muss auch mit- kretes Konzept vorlegen. Und darum Im Moment stehen Spielplätze in machen. Auf der anderen Seite müs- geht es jetzt. den Wahlkreisen der Zukunft der sen wir aber auch sehen, dass ein Aus- Ist denn der Begriff vom „Europa Währungsunion gegenüber. Wird Po- scheiden Griechenlands aus dem Euro der Vaterländer“ noch zeitgemäß? litik hier kleinmütig? enorme Risiken produzieren würde. Charles de Gaulle hat einst diesen Jedes Anliegen hat seine Berech- Das europäische Finanzsystem käme Begriff geprägt. Ihm stand ein Euro- tigung. Die Bürger verstehen aber ins Schwanken. Die Folgen eines Aus- pa der souveränen Nationalstaaten durchaus, wie wichtig Europa für scheidens würden aber Griechenland vor Augen. Die Nationalstaaten wer- Deutschland ist. Aber natürlich muss sicher noch härter treffen als uns. den auch weiter wichtig bleiben. Nur: sich eine Partei wie die CDU auch um Die Nationalstaaten haben schon jetzt die Familien kümmern. Nicht nur Seit 1990 ist Volker Kauder Souveränitätsrechte an die EU abgege- Europa ist unsere Zukunft, sondern Mitglied des Deutschen ben. Das ist übrigens auch vernünftig. auch unsere Kinder. Bundestages, seit 2005 ist er In Europa haben die Nationalstaaten Sollte Griechenland angesichts der Vorsitzender der CDU/CSU- schon heute ihre Allmacht verloren. aktuellsten Entwicklungen nicht doch Bundestagsfraktion. Kauder trat mit 17 Was wir jetzt entwerfen müssen, ist lieber die Währungsunion verlassen? Jahren in die Junge Union ein und machte ein Europa, in dem einerseits die Also eines ist klar: Griechenland in Südbaden politische Karriere. Nach Staaten zum Beispiel in ihrer Haus- muss die Auflagen erfüllen, sonst dem Rücktritt von Laurenz Meyer führ- haltsführung stärker kontrolliert wer- können keine weiteren Kredite aus- te er die CDU bis Dezember 2005 als den können, andererseits aber auch gezahlt werden, sonst wird es auch Generalsekretär. Kauder gilt als enger kein europäischer Einheits-Super- keine neuen Programme geben. Was Vertrauter von Angela Merkel. staat entsteht. Man muss sich dabei wir tun, ist ein Angebot an Athen, das Foto: © gettyimages auch anschauen, ob Europa nicht letztlich der Stabilität des Euro nützt wieder Kompetenzen an die Mit- und damit uns. Nutznießer ist aber

Seite 22 / 161 Oktober Die ersten Wahlen seit dem arabischen Frühling finden in Tunesien statt. Wie erwartet wird die islamische Partei zur stärksten Kraft. In Syrien und im Jemen gehen die Proteste dagegen weiter. Fürchtet euch nicht

Afef Abrougui · NACH DER WAHL IN TUNESIEN

Die westlichen Am 23. Oktober gingen die Tunesier säkulare zentristische Partei ge- an die Urnen. Sie wählten eine nati- stimmt hat, empfinde ich die Ängs- Medien haben sich onale verfassungsgebende Versamm- te einiger meiner Landsleute als un- lung, welche eine neue Verfassung begründet und übertrieben. nach den histori- schreiben und eine Regierung der na- Aufgrund der Verhältniswahl hat tionalen Einheit bilden soll. Am Ende die islamistische Partei nicht die ab- schen Wahlen in erhielt die moderate islamistische solute Mehrheit der Stimmen erhal- Partei Ennahdha (Partei der Wieder- ten. Sie bekam 90 der 217 Sitze, was Tunesien sofort auf geburt) mehr Stimmen als jede ande- 41 Prozent entspricht. Letzten Endes re Partei oder unabhängige Liste. sitzen also mehr säkulare als islamis- das gute Abschnei- Als die vorläufigen Endergebnisse tische Vertreter in der Versammlung. bekannt wurden, begannen die säku- Nach mehr als 50 Jahren auto- den der Islamisten laren Kräfte in Tunesien, ihren Sor- ritärer Herrschaft, die sich auf ein gen und Ängsten darüber Ausdruck Einparteiensystem stützte, haben gestürzt. Zu zu verleihen, dass die islamistische wir nun endlich eine wirklich facet- Partei die säkularen Werte des tune- tenreiche und pluralistische verfas- Unrecht. Nicht sischen Staates gefährden würde. Ei- sungsgebende Versammlung, in der nige von ihnen gingen sogar auf die Islamisten, Kommunisten, säkula- nur besteht mehr Straße, um gegen die Wahlergebnis- re Kräfte, Liberale und unabhängige se zu protestieren, die, den Wahlbe- Kandidaten vertreten sind. als die Hälfte des obachtern der Europäischen Union Ennahdha hat Verhandlungen zufolge, „internationalen Standards zur Bildung einer Regierung der na- Parlaments aus entsprach“. tionalen Einheit mit den beiden gro- ßen säkularen Parteien aufgenom- Vertretern des Sä- men – dem Demokratischen Forum Unbegründete für Arbeit und Freiheit (FDTL bzw. kularismus, nein: Ettakatol) und dem Kongress für die und übertriebene Republik (CPR). Es wird erwartet, Zum ersten Mal dass Ennahdha mit ihren säkularen Ängste Rivalen koaliert. Die Führer der En- hat es auch wirk- nahdha behaupten, ihre Partei sei mo- Die Säkularisierungsbewegung in derat und vergleichen sie oft mit der lich freie Wahlen Tunesien geht auf die Zeit nach der türkischen AKP. Warum gibt man ih- Unabhängigkeit unter der Präsident- nen also nicht eine Chance und beur- gegeben. schaft Habib Bourguibas zurück. Die- teilt sie später? ser ist hauptsächlich für seine wichti- ge Rolle beim Erlass der Statusrechte bekannt. Dabei handelt es sich um Tunesien wird eine Reihe von Gesetzen, welche hauptsächlich die Frauen beschützte kein zweiter Iran und ihre Rechte garantierte. Als junge Tunesierin, die für eine Solche Ängste lassen sich durch die © gettyimages unfaire mediale Berichterstattung Kandidaten und viele Meinungen Die tunesische Studentin Afef über das politische Leben in Tunesien in Tunesien. Ich ziehe den Hut vor Abrougui schreibt regelmäßig erklären. Tatsächlich scheint Ennah- jedem etablierten Journalisten, der für Global Voices Online. Sie dha das Lieblingsthema sowohl der der Welt diese Seite Tunesiens zei- ist außerdem Kolumnistin beim westlichen als auch der lokalen Medi- gen kann.“ deutschen Magazin Südlink. Afef Abrougui en zu sein. Diese interessieren sich of- Für diejenigen, die die politi- war Chefredakteurin von Tunisia Live, einer fenbar kaum dafür, dass mehr als die sche Szene schon vor der Wahl auf- tunesischen Nachrichtenseite in englischer Hälfte der tunesischen Wähler nicht merksam beobachtet haben, sind Sprache, und lokale Koordinatorin des für Ennahdha gestimmt hat. die Ergebnisse überhaupt nicht Institute for War and Peace Reporting. Einige Wochen vor der Wahl zeigte überraschend. Ich glaube, dass die ein privater Fernsehsender den preis- Tunesier, egal ob sie zu den säkula- gekrönten Film „Persepolis“. Der Film ren Kräften oder zu den Islamisten basiert auf der wahren Geschichte von gehören, die Wahl nicht aus einer Marjane Satrapi, einem iranischen Gewinner- oder Verliererperspek- Mädchen, das die islamische Revolu- tive betrachten sollten. Vielmehr tion im Iran miterlebte, welche sein sollten sie stolz sein, dass ihr Land Heimatland in eine absolute Tyran- es innerhalb von neun Monaten ge- nei verwandelte. Das ist nur ein Bei- schafft hat, eine pluralistische Ge- spiel dafür, wie dieser Fernsehsender sellschaft aufzubauen und die ers- Ängste schüren wollte, dass Tunesien ten freien und fairen Wahlen des zu einem zweiten Iran würde, wenn Arabischen Frühlings zu organisie- Ennahdha gewänne. ren. Am 20. Oktober veröffentlichte der in Tunis lebende US-Amerikaner Erik Übersetzung aus dem Englischen. Churchill einen interessanten Bei- trag auf seinem Blog, mit dem Titel. „What’s the real story about the Tuni- sian elections? Hint, it’s not all about Ennahdha.“ (Worum geht es bei den tunesischen Wahlen wirklich? Ein Tipp: Es geht nicht nur um Ennah- dah.) Darin schrieb er: „Es gibt viele

Seite 25 / 161 Ein guter Tag zum Liquidieren

Afrah Nasser · SALEH NUTZT AL-AWLAKIS TOD

Der gemeinsame Als der umstrittene jemenitische Prä- sident Ali Abdullah Saleh am 24. Sep- Kampf gegen tember aus Saudi-Arabien in sein Land zurückkehrte, hatte er sich drei al-Qaida dient Monate lang wegen der Folgen eines Angriffes auf seinen Palast behandeln Jemens Macht- lassen. Doch sowohl vor als auch nach seiner Abwesenheit kam es zu bluti- haber Saleh als gen Ausschreitungen zwischen den von seinem Sohn Ahmed angeführ- Rechtfertigung ten Truppen der Republikanischen Garde und den friedlichen Demonst- zum Machterhalt. ranten, die seit Ende Februar ein Ende des Regimes fordern. Salehs Rück- Solange der Wes- kehr stürzt das Land weiter ins Chaos – obgleich sie eine Gelegenheit für sei- ten jeden Partner nen Rücktritt hätte sein können. akzeptiert, stärkt Mit Angst gegen er die Diktatoren. Demokratie

Gleichzeitig gab es in den vergange- nen Tagen Furore um den Tod des je- menitisch-amerikanischen Anwar al- Awlaki. Der sogenannte Anführer von al-Qaida auf der arabischen Halbin- sel wurde am 30. September von ge- meinsamen Truppen des CIA und der jemenitischen Regierung auf deren Territorium getötet. Laut den USA war al-Awlaki ein einflussreicher Rekru- ter und Motivator für die Terrororga- nisation, der darüber hinaus großen Einfluss auf deren langfristige Plä- ne besaß. Interessant war aber vor al- lem das Datum seines Todes: denn am gleichen Tag veröffentlichte die „Wa- shington Post“ ein Interview mit Sa- leh, in dem er seinen Kampf gegen den Terrorismus betonte. © gettyimages

Die Kooperation in der Terrorismus- Bei den aktuellen Ereignissen betont zu verdammen. bekämpfung zwischen den USA und Saleh diese Botschaft erneut: Die Pro- Umso erstaunlicher, dass Jemens Saleh geht zurück auf die frühen Jah- teste gegen ihn müssen scheitern, da Proteste weitergehen und der Voraus- re der Bush-Regierung. Der Machtha- das Land und die Region einen so ve- sicht nach ein Finale wie in Tunesien, ber versprach, gegen den Terrorismus hementen Kämpfer gegen den Terror Ägypten und Libyen erreichen werden. vorzugehen und begann, dafür jähr- bräuchten. Propaganda über al-Qaidas Genau wie im Rest der arabischen lich 150 Millionen Dollar Unterstüt- Präsenz im Jemen diente vorher für Welt gibt es auch für den Jemen kei- zung aus den USA zu empfangen. Da- Hilfszahlungen, nun nutzt er sie als nen Weg zurück. für erlaubte er den Amerikanern den Hindernis für die Proteste gegen ihn. Bau einer Militärbasis im Jemen – ein Übersetzung aus dem Englischen. Signal für bessere Beziehungen nach Washington, wo Saleh während des Saudi-Arabien Die aus dem Jemen stammende Golfkrieges als Partner Saddam Hus- Journalistin Afrah Nasser ist eine seins in Ungnade gefallen war. bleibt als regimekritische Bloggerin und lebt Doch der Zeitpunkt von al-Awla- in Stockholm, um von dort gefahr- kis Tod zeigt, wie Saleh die Liquidie- Hindernis los über die Proteste in ihrem Heimatland rung als Triumph gegen Gegner und schreiben zu können. Proteste einsetzt. Seit Beginn der De- Doch das ist nicht der einzige Grund, monstrationen arbeitet er kontinu- warum der Umsturz im Jemen viel ierlich am Bild des besten Verbünde- Zeit in Anspruch nimmt. Die tatsäch- ten im Kampf gegen al-Qaida, dessen lichen Hürden sind Saudi-Arabien Aufgabe kein Nachfolger so pflichtbe- und die Beziehungen der USA zum wusst erfüllen könnte. Gleichzeitig Jemen. Saudi-Arabien akzeptiert kei- schürt er Angst vor dem Chaos, was ne Veränderungen in der Region, da auf seinen Abtritt folgen könnte. Auch sie den Status der eigenen Monarchie war das nicht das erste Mal, dass Saleh gefährden könnten. Es ist daher we- den Kampf gegen den Terrorismus als nig verwunderlich, dass Saudi-Ara- Ausrede nutzt, um im Amt zu bleiben: bien im März Truppen nach Bahrain Am 11. September kündigte seine Re- schickte, die dortige Proteste nieder- gierung an, eine jemenitische Provinz schlugen. Im Jemen unterstützen sie zurückzuerobern, die sich angeblich Saleh und sind weit davon entfernt, in den Händen von Terroristen befand. die Massaker an der Zivilbevölkerung

Seite 27 / 161 Oktober Die Occupy-Bewegung nimmt Fahrt auf. Weltweit finden Demonstration statt, in einigen Städten bilden sich Protestcamps in den Innenstädten. „Wir brauchen eine Krise“

Herman Daly · WIRTSCHAFT OHNE WACHSTUM

Herman Daly hat The European: Warum ist der Bietet die aktuelle Krise eine Chan- Wachstumsbegriff überholt? ce, diesen Diskurs zu ändern? den Glauben an Herman Daly: Wir befinden Die Grundannahmen verändern sich uns heute in einer Situation, in nicht wirklich. Wir häufen immer das Wachstum der Wachstum mehr kostet, als mehr Schulden an, um immer mehr es uns einbringt. Zumindest in Wachstum zu finanzieren. Und dann verloren. Mit The den reichen Ländern ist Wachs- brauchen wir noch mehr Wachstum, tum unökonomisch geworden. um diese Schulden zurückzuzahlen. European sprach Wenn die Welt ein weißes Blatt Wenn die Wirtschaft stagniert, fällt Papier wäre, dann wäre Wachs- alles in sich zusammen. Nehmen er über die Politik tum eine gute Sache. Aber so Sie die Finanzwirtschaft als Beispiel: ist es nicht: Die Erde ist voll mit Wenn es schwierig wird, realwirt- der Weltbank, Menschen und mit dem Zeug, schaftliches Wachstum zu erzielen, das wir produzieren und hinter- wächst man eben in eine symbolische bekloppte Öko- lassen. Wir haben eine begrenzte Richtung. Vierzig Prozent der wirt- Menge an Ressourcen, mit denen schaftlichen Profite der USA liegen nomen und den wir wirtschaften können. Diese inzwischen bei der Finanzwirtschaft. physikalischen und biologischen Das ist eine enorme Belastung für den Dialog zwischen Grenzen müssen wir in der Wirt- Rest des Systems. schaftstheorie berücksichtigen. Laut Zahlen von Crédit Agricole lag Wissenschaft und „Wachstum galt immer als die die Gesamtsumme der Verbraucher- Lösung aller Probleme“, schreiben kredite 2008 bei 4,5 Billionen Euro. Religion. Sie. Unser Sozialsystem, die Lohn- Das ist eine ganze Menge Geld. Viel- entwicklung, Rentenvorsorge und leicht sollten wir die Kluft zwischen die Finanzierung von Schulden Real- und Finanzwirtschaft nicht hängen alle von der Verfügbarkeit überschätzen … permanenten Wachstums ab. Das Der Finanzsektor basiert auf der An- klingt sehr nach systemischer Pfa- nahme, dass die Realwirtschaft dabhängigkeit. wächst. Eines meiner Vorbilder auf Wir leben in einer Wachstumsöko- dem Gebiet der Wirtschaftswissen- nomie. Wenn Wachstum ausbleibt, schaften ist Frederick Soddy. Er er- fällt alles in sich zusammen. Aber hielt 1921 den Nobelpreis für Chemie, der Grund für unsere Wachstums- aber kaum jemand weiß, dass er auch versessenheit ist die Annahme, dass Ökonom war. Soddy hat ein simples Wachstum uns reicher macht. Es Argument vorgetragen: Schuldenzu- ist einfacher, reich zu sein als arm. wachs bedeutet lediglich, dass irgend- Aber was machen wir, wenn weiteres wo mehr Nullen vor dem Komma Wachstum uns ärmer macht? auftauchen. Aber ein Wohlstandszu-

Seite 29 / 161 wachs benötigt Arbeit und Energie. nen. Wenn Sie das auf die reale Welt Die Antworten: Sie dürfen kein Deter- Geld kann sich grenzenlos weiter ver- anwenden, könnten Sie eine Tonne minist sein, Sie müssen an die Mög- mehren, aber Wohlstandswachstum Kuchen mit ein paar Gramm Mehl ba- lichkeit des Wandels glauben. Und Sie hat Grenzen. Das folgt aus den Geset- cken, wenn Sie nur genügend Köche dürfen kein Nihilist sein, der alle Er- zen der Thermodynamik und aus der und Öfen haben. Die Mathematik der gebnisse für gleich gut befindet. Doch endlichen Menge an Ressourcen. Es Modelle scheitert an der Realität. Wir aktuell produziert die Naturwissen- ist doch idiotisch, sich so auf die Zah- haben eine endliche Menge an nutz- schaft Deterministen, und die Geis- len zu fixieren und dabei zu vergessen, baren Ressourcen und produzieren teswissenschaft produziert Nihilisten. dass es eine Realität außerhalb der gleichzeitig Müll. Die Theorie ist zu Junge Menschen brauchen wieder ei- Formeln gibt. Heute ist die Schulden- abstrahiert, um das wahrzunehmen. nen offenen Kopf und einen Drang last so hoch, dass wir das Geld wahr- Zumindest sollte unsere empirische nach Wahrheit. Sie müssen gewillt scheinlich nie zurückzahlen werden. Forschung korrekt sein, wir sollten die sein, sich von guten Argumenten um- Wo sollen denn 4,5 Billionen Euro an Gesetze der Physik achten. stimmen zu lassen. realem Wachstum herkommen? Das Cornel West hat einmal gesagt, die kann gar nicht funktionieren. Aufgabe der Wissenschaft sei es, „die Von 1988 bis 1994 war Herman Wir müssen also die Modelle ver- Gedanken der Jugend zu nähren“. Ich Daly Senior Economist in der- bessern, mit denen wir arbeiten? habe den Eindruck, dass mit dem Ge- Umweltabteilung der Weltbank. Sie können ein Sandwich nicht nur nerationenwechsel auch der interdiszi- Seit seinem Ausscheiden bei der aus Arbeitskraft und Geld herstellen. plinäre Diskurs wieder aufleben kann. Weltbank ist er Emeritus Professor an der Sie brauchen Weizen, Sie brauchen Wir sind weit davon entfernt. Ich habe School of Public Policy der University of Erntehelfer, Sie brauchen Wasser, Sie vor meiner Zeit bei der Weltbank in Maryland. Daly ist Träger des „Grawemeyer brauchen Nahrung für die Erntehel- der wirtschaftswissenschaftlichen Award for Ideas for Improving World Order“, fer und Dünger für den Boden. Die Fakultät der Louisiana State Univer- des schwedi- schen „Right Livelihood Award“ meisten Modelle lassen das außer sity unterrichtet, und danach an der und des „Heineken Prize for Environmental Acht. Und wenn die Modelle doch an- politikwissenschaftlichen Fakultät Science“ der königlichen Akademie der dere Faktoren einbeziehen, dann ist der University of Maryland. Ich habe Niederlande. 2002 erhielt er die italienische das immer noch eine Multiplikations- meine Studenten immer gefragt: Was „Medaille des Präsidenten“. funktion, bei der sie durch die Verän- sind die Grundannahmen der Politik? derung einer Variable das Ergebnis Was müsst ihr glauben, um die Poli- beinahe beliebig manipulieren kön- tik für eine sinnvolle Sache zu halten?

Seite 30 / 161 Kritik der reichen Vernunft

Reinhard Bütikofer · HOCHKONJUNKTUR DER KAPITALISMUSKRITIK

Die ehemaligen Meine Güte, das ist ja eine richtig XVI; von Wen Jiabao, dem Minister- aufrüttelnde Fragestellung! „Die präsidenten der chinesischen Ka- Vorkämpfer der linke Kapitalismuskritik“? Hat sich pitalismus-Variante; von rechts-ra- „linke Kapitalismuskritik“ seit 1968 dikalen Tea-Party-Freaks; von allen linken Kapitalis- entwickelt? Ich möchte zurückfra- Sozialstaatsverteidigern; von spin- gen: Haben sich die Klischees über nerten Zeitgeist-New-Age-Fantasten; muskritik sind „linke Kapitalismuskritik“ seit 1968 vom Vorstandsvorsitzenden der Ro- weiterentwickelt oder werden sie bert Bosch GmbH; von harmlos-un- längst in den heute nur aufgewärmt? politischen Erst-Demonstranten; von schwäbischen Hausfrauen; von dia- Hintergrund getre- lektischen Neoliberalen, die den Staa- Kapitalismus- ten vorwerfen, durch falsche Regulie- ten – echte Kritik rung den Kapitalismus auf Abwege kritik kommt gebracht zu haben; vom Welt-Ökono- kommt nunmehr men Helmut Schmidt; von deutschen von allen Seiten und französischen Grünen im etwas von allen Seiten dissonanten Duett; von allen Edel- Wenn etwas gerade nicht so im Zen- federn und von Nicolas Sarkozy, der und fordert statt trum steht, dann ist es die „linke Ka- Personifikation der Sprunghaftigkeit pitalismuskritik“. Deren Vorkämp- des Weltgeistes. Revolution lieber fer und Vorkämpferinnen krebsen in Die Grundaussage dieser Kapita- Deutschland in Umfragen gerade bei lismuskritik von heute ist nicht, wie einfache Vernunft. 7 Prozent herum und müssen sich bei 1968, die Forderung, den Kapitalis- ihrem Programmparteitag eines dro- mus zugunsten eines schemenhaf- genpolitischen Fauxpas bedienen, um ten Sozialismus zu „überwinden“, außerhalb der eigenen Reihen über- sondern die inständige Bitte, dass haupt eine Emotion zu wecken. der Kapitalismus doch – wenn’s geht: Kapitalismuskritik hat derzeit heute noch – sein aus den Fugen ge- tatsächlich Hochkonjunktur, aber ratenes Treiben korrigieren und qua- nicht, weil sie links wäre, sondern si wieder vernünftig werden solle. weil sie von allen Seiten kommt: von Die Gewerkschaften, die in der heu- Seiner Heiligkeit, Papst Benedictus tigen Kapitalismuskritik keine be-

Seite 31 / 161 sonders sichtbare Rolle spielen, könn- mödie wiederholt hat, soll man keine te man vielleicht bitten, diese Suche weiteren Wiederholungen ansetzen. nach Mäßigung im Kapitalismus, die Man muss ja auch nicht vergessen, ja ihr Organisationsprinzip ist, als Re- dass aus dem Versprechen, den Ka- solution zu formulieren. Die würde pitalismus abzuschaffen, sich zwei dann vielleicht heißen: „Rheinischer Wege ergaben, von denen einer in die Kapitalismus – für alle und global“. Barbarei zu führen drohte und einer – Occupy Wall Street & Co. sind ein de facto zur Modernisierung des Ka- Mosaikstein in der aktuell allum- pitalismus führte. Das wird ein er- fassenden Kapitalismuskritik. Man- heblicher Gewinn, wenn Auswege che meinen, weil Michael Moore und aus den Aporien unserer real existie- George Soros Occupy Wall Street un- renden Gesellschaftsordnung nicht terstützen und weil 41 Prozent der US- mehr in das Versprechen eines „ganz Amerikaner sich der Tea Party mehr anderen“ gekleidet werden, sondern verbunden fühlen als der Occupy-Be- als Selbstkritik unserer Un-Ordnung wegung, wäre Occupy links. Ich glau- daherkommen. Zu Radikalität und be das nicht. Da gibt es linke Leute Pragmatismus bereit. und andere. Ihr Zorn ist legitim, aber ihre Ziele sind eher unklar. Verände- Reinhard Bütikofer ist Sprecher rung, irgendwie. der Europagruppe der Grünen in Europaparlament, Stellvertretender Fraktionsvo Besser als rsitzender, Schatzmeister der Grünen- Fraktion, Mitglied des Ausschusses für Scheingewissheiten Industrie, Forschung und Energie (ITRE) und grüner Koordinator im Unterauschuss Mir ist die vage, widersprüchliche, für Sicherheit und Verteidigung. Von uneinheitliche, unausgegorene Kapi- Ende 2002 bis Ende 2008 war Bütikofer talismuskritik, die derzeit en vogue Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die ist, lieber als eine Neuauflage alter Grünen; zuvor war er Landesvorsitzender Scheingewissheiten. Wenn sich Ge- in Baden-Württemberg und Politischer schichte schon als Tragödie und Ko- Bundesgeschäftsführer der Grünen.

Seite 32 / 161 Oktober Die Welt trauert um Steve Jobs. Gott ist tot

Stefan Gärtner · DER UNSTERBLICHE STEVE JOBS Der Messias ist gestorben – und wie alle Religionen wird die um Apple die Menschheit erretten.

Ich weiß, ich bin von gestern. E-Books kunft formulieren, nicht mehr interessieren mich nicht, mein Laptop von VW, sondern von Apple ist ein mehrpfundschweres Arbeits- kommen, was allerdings nicht gerät (gebraucht gekauft), und wenn automatisch heißt, dass alle, es nicht wieder die reine Erfindung die Steve Jobs nach dessen Tod von Trendjournalisten ist, junge Leu- erst recht als Guru feiern, ja als te interessierten sich nicht mehr für „Weltverbesserer“ und „größten das Auto (nämlich die in New York praktischen Philosophen unse- und Berlin, wo man halt auch keins rer Zeit“ (Spiegel Online, wer braucht), dann hänge ich, als gebore- sonst), nicht trotzdem einen an nes Landei und alter Sentimentalist, der Waffel haben. an meiner mehr oder minder achtsam Design bestimmt das Be- restaurierten Mühle aus der Kohl-Ära, wusstsein: Wer in Downtown ein Anachronismus, ein teurer oben- Manhattan eine Stunde in ei- drein, aber ein schöner. nem Straßencafé zubringt und die Hipster zählt, die ihr iPho- ne wie ein Schmuckstück vor „Größter Philosoph sich her tragen (in der anderen Hand den ähnlich unverzichtba- unserer Zeit“ ren, weil bereitwillige Flexibilität und unermüdliche Urbangesin- Derlei ist nun freilich von gestern, und nung ausdrückenden To-go-Eis- auf meinem Flug in den Urlaub las ich Latte von Starbucks), wer an die ein sehr aufschlussreiches Interview Schlangen vor Apple-Filialen mit einem Autodesigner, der, ehrlich denkt, sobald das jeweils neuste betrübt, beklagte, dass den Autodes- Apple-Multifunktions-Telefonier- ignern bzw. den sie beauftragenden gerät offeriert wird, und an die Firmen nichts mehr einfalle außer entrückten, wie vom Strahl der brutal und/oder retro, was einen völli- Erleuchtung getroffenen Gesich- gen Mangel an Optimismus und Visi- ter derjenigen, die es schließlich on ausdrücke. Wo die DS von Citroën erstanden haben, wer in einem oder der erste Golf noch Statements deutschen öffentlichen Verkehrs- gewesen seien und eine auch gesell- mittel das unablässige Smartpho- schaftliche Fortschrittserwartung do- ne-Gefinger beobachtet und, in kumentiert hätten, seien zeitgenössi- einem sogenannten Ruheabteil sche Autos bloß noch ein ad infinitum der Bahn, zu dem Schluss kommt, verlängertes Beharren auf einem ver- die von der Piratenpartei vollum- meintlich cooleren Gestern oder ei- fänglich geforderte „Transparenz“ nem vulgärkapitalistischen Weiter so, bestehe, auch ohne Facebook, mithin in Blech gefasste Regressions- möglicherweise hauptsächlich wünsche; Ausdruck von Ratlosigkeit. darin, über die Angelegenheiten So viel ist richtig, dass designeri- wildfremder Menschen ständig sche Statements, die tatsächlich Zu- lautstark ins Bild gesetzt zu wer- John Steven Fernandez cc-by den, der kann den Widerspruch zwi- euch nicht von Dogmen einengen – Der Autor ist Jahrgang 1973, stu- schen dem Segen der Computer- und dem Resultat des Denkens anderer. dierte Geisteswissenschaftliches Kommunikationstechnik einer- und Lasst den Lärm der Stimmen ande- in Mainz und New York und war den ihr angeschlossenen Regressivis- rer nicht eure innere Stimme ersti- von 1999 bis 2009 Redakteur beim men andererseits kaum übersehen; cken. Das Wichtigste: Folgt eurem endgültigen Satiremagazin “Titanic”. Gärtner von der simplen Tatsache, dass auch Herzen und eurer Intuition, sie wis- schreibt neben dem monatlichen Politessay dieser Wohlstand, über billige Roh- sen bereits, was ihr wirklich werden fürs Hausblatt offizielle Biographien über stoffe und billige Arbeitskraft, von wollt. Alles andere ist zweitrangig.“ Bundesaußenminister (“Guido außer Rand anderen bezahlt wird, wiederum zu Wenn aber die Leute nicht diese und Band”, mit Oliver Nagel), sprachkriti- schweigen. unbändige Lust hätten, einen Gut- sche Lowseller (“Man schreibt deutsh”) und teil ihrer begrenzten Zeit mit Gad- manchmal Witze fürs Fernsehen. gets zu verplempern und das Leben Der Papst der nach den Vorstellungen und den Denkresultaten eines anderen zu Säkularisierten leben, denen von Steve Jobs näm- lich, der, wie seine Werbeabteilung Das wird die ergonomische Compu- auch, viel genauer wusste, was die tertastatur, vor der ich hier sitze, frei- Leute wirklich werden wollen, als lich auch, und wer von Warenfetisch diese es selbst nur ahnen, dann spricht, der kann vom Automobil, und gäb’s die ganzen Nekrologe nicht, sei es noch so alt, nicht schweigen; die zwischen einem großen Kons- die Schöpfer des erwähnten ikoni- trukteur und dem Retter der Welt schen Citroën, der für Roland Barthes nicht unterscheiden wollen. Und ein „magisches Ding“ war, kennen von einer Dialektik der Aufklä- aber nur Eingeweihte, Steve Jobs hin- rung halt auch noch nie was ge- gegen ist so was wie der Papst der Sä- hört haben. kularisierten, die in ihren Nachrufen, in Ermangelung irgendeiner ande- ren, immer und immer wieder dessen „Philosophie“ feiern: „Eure Zeit ist be- grenzt. Vergeudet sie nicht damit, das Leben eines anderen zu leben. Lasst

Seite 35 / 161 Oktober Die Frauenquote sorgt für Verstimmungen innerhalb der Koalition. Ursula von der Leyen fordert verbindliche Quoten, Kristina Schröder setzt auf die Selbstverpflichtung der Unternehmen. Von Schafen und Chancen

Kristina Schröder · FLEXIBLE FRAUENQUOTE

Wir brauchen Um tadelloses Mitglied einer Schaf- 70-Stunden-Wochen, Besprechun- herde sein zu können, müsse man gen abends um neun, Erreichbarkeit eine Quote, weil vor allem ein Schaf sein, hat Albert quasi rund um die Uhr: Das ist der Einstein einmal lakonisch festge- Alltag vieler Top-Führungskräfte, die Frauen nicht stellt. Mit anderen Worten: Wer kein sich dem Diktat der uneingeschränk- Schaf ist, kommt in einer Schafherde ten Verfügbarkeit nur deshalb so kom- schlechter, son- auch mit Durchsetzungskraft, Klug- promisslos beugen können, weil zu heit und Kompetenz nicht weit. Dass Hause jemand den Kühlschrank füllt dern benachteiligt das Erfolgsprinzip Ähnlichkeit ana- und für steten Nachschub an gebü- log auch für Männercliquen gilt, ist gelten Hemden sorgt. Das Prinzip sind. Flexibel zweifellos einer der Gründe für den „Karriere wird nach Feierabend ge- Mangel an Frauen in deutschen Füh- macht“ bezahlen diejenigen mit ein- muss sie sein, rungsetagen. Es ist diese Monokultur geschränkten Chancen, die nach Fei- im Management, der ich mit der Fle- erabend nicht Karriere, sondern die weil sich Firmen xiquote den Kampf ansagen will. Kinder bettfertig machen. Von fairen Chancen für Frauen unterscheiden. kann keine Rede sein, solange fami- Karrierewege liäre Fürsorgeaufgaben als Handi- cap gelten und Teilzeitarbeit aufs Ab- sind auf Männer stellgleis führt. Übrigens auch nicht von fairen Chancen für Männer, die zugeschnitten bereit sind, mehr familiäre Verant- wortung zu Hause zu übernehmen. Frauen sind heute genauso gut, oft- Frauen (und auch Männer), die Kar- mals sogar besser ausgebildet als Män- rierechancen nutzen und Zeit für Fa- ner. Doch während Männer zwischen milie haben wollen, brauchen andere 30 und 40 häufig zwei, drei Karriere- Arbeitsbedingungen und eine andere stufen auf einmal nehmen, machen Unternehmenskultur. Frauen in dieser Lebensphase oft Hier setzt die Flexiquote an, mit der zwei, drei Jobs auf einmal: Teilzeit- ich die Aufstiegschancen von Frauen stelle, Kindererziehung und Haushalt. in Top-Führungspositionen verbes- Vielfach ist es die Kultur in unserer sern will. Ich möchte alle börsenno- Arbeitswelt, die solche Rollenmuster tierten und alle voll mitbestimmungs- erzwingt. Denn bisher sind Arbeits- pflichtigen Unternehmen gesetzlich organisation und Karrierewege gera- verpflichten, sich selbst konkrete und de in den Führungsetagen auf Män- individuelle Zielvorgaben für den An- ner zugeschnitten – oder allgemein teil von Frauen im Vorstand und im formuliert: auf Menschen, die Ver- Aufsichtsrat zu setzen und diese regel- antwortung delegieren können. mäßig zu veröffentlichen.

Seite 37 / 161 Die Flexiquote befeuert also nach Mehr Wett- außen den Wettbewerb zwischen den Unternehmen. Gleichzeitig stößt bewerb und sie nach innen Diskussionen an, was sich mit Blick auf faire Chancen für Diskussion Frauen ändern muss. Sie zwingt Un- ternehmen zur Auseinandersetzung Für den Fall, dass Unterneh- mit den Ursachen für den Frauen- men ihre selbst gesteckte Quote mangel in Führungspositionen und nicht erreichen, sieht mein Ge- zur Entwicklung individueller Strate- setzentwurf Sanktionen vor. Es gien gegen eine von Männern gepräg- wird nicht lange dauern, bis die te Monokultur. Das heißt neudeutsch Zielvorgaben der Unternehmen „Diversity Management“. Bildlich ge- in Rankings verglichen werden. sprochen: Die Tage des Erfolgsmo- Ein Maschinenbau-Unterneh- dells „Schafherde“ sind gezählt! men wird vorsichtige Zielsetzun- gen aufgrund der geringen Zahl Nach dem Rücktritt des CDU- weiblicher Hochschulabsolven- Politikers Franz Josef Jung wurde tinnen vielleicht nachvollziehbar Kristina Schröder von Kanzlerin begründen können. Ein Automo- Merkel zur Bundesministerin bilhersteller, dem es an hervorra- für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gend qualifizierten Mitarbeiterin- ernannt. Seit 1994 ist Schröder CDU- nen nicht mangelt, wird die Latte Mitglied, seit 2002 sitzt die Wiesbadenerin etwas höher hängen müssen. im Deutschen Bundestag.

Seite 38 / 161 September Papst Benedikt XVI. landet für einen viertägigen Besuch in Deutschland. Er spricht unter anderem vor dem Deutschen Bundestag. Der evangelische Papst

Alexander Görlach · BENEDIKT XVI. IN DEUTSCHLAND

Benedikt XVI. hat Kommentatoren haben es erwar- Zentrum der kirchlichen Lebensvoll- tet, die evangelische Kirchen- züge rücken. Das will auch Benedikt. sich klar gegen führung hat es erwartet. Doch es Die Kirche soll in der Welt auf ihre schien nicht zu kommen: das Zei- Privilegien verzichten – das ist nicht eine weltliche chen an die Kirche der Reforma- das erste Mal, dass die römische Ku- tion, ein Gastgeschenk der Öku- rie das deutsche Kirchensteuersys- Macht seiner mene. Dabei war es doch deutlich tem kritisiert, das nahelegt, dass die sichtbar: Der Papst selber ist das Mitgliedschaft zur Kirche Jesu Chris- Kirche ausgespro- Geschenk gewesen. Als Theologe, ti ausschließlich an eine monatliche der aus dem Land des Wittenberger Geldleistung gekoppelt ist – sie soll chen. Allein durch Reformators kommt, ist auch Joseph sich entweltlichen. Die Kirche wird Ratzinger nicht immun gegen den sich in der Konsequenz, so der Papst, den Glauben wird Einfluss des Theologieprofessoren- auf ihre Aufgaben konzentrieren, weil Kollegen aus dem 16. Jahrhundert. sie dann nicht von Macht korrumpiert der Christ gerecht Daher greift er bei den Gottes- werden kann. diensten und bei der Rede im Freibur- In diesem Aspekt ist Benedikt XVI. und steht die Kir- ger Konzerthaus wie selbstverständ- wie der heilige Franz von Assisi. Die- lich auf Gedanken des Kirchenspalters ser Bettelmönch hat übrigens mit sei- che gut vor Gott zurück. Aus Glauben allein, so sagt ner Reform die mittelalterliche Kirche Luther, wird der Mensch vor Gott ge- gerettet, und damit ein Papsttum, das da. Für den Papst recht. Die Werke, die der Glauben- seinerzeit mit Prasserei, Huren und de tut, treten in den Hintergrund. So Giftmischen beschäftigt war. Franz kann das Säku- sieht es auch Benedikt: Der Kirche war in seiner Reform der Kirche bes- nutzen ihre Gremien nichts, ihre ka- ser als Luther. Denn Franz hat die Ein- lum gerne welt- ritative Arbeit, ihre Reflexionen zu heit mit Rom gehalten, Luther nicht. Welt und Mensch, wenn sie nicht Je- lich bleiben, die sus Christus in den Mittelpunkt ihres Tuns nimmt. Entschieden gegen Kirche aber will „Wir sind Kirche“ er entweltlichen. Der Papst kritisiert Die Einheit ist das Wichtigste in der die deutsche Kirche, um so mehr, weil sie verloren gegangen ist. Der Aufruf der Grup- Kirchensteuer pierung „Wir sind Kirche“ zum Un- gehorsam gegenüber und damit dem „Was Christum treibet“, was an- Bruch mit Rom ist ungeheuerlich und treibt, wollte Luther wissen und in das muss von jedem Katholiken auf das

Seite 40 / 161 entschiedendste zurück gewiesen werden. Die Kirche ist weltumspan- nend; ihre Gemeinschaft entsteht durch die Bischöfe, die mit allen Ge- tauften in den von ihnen geleiteten Gemeinden das Volk Gottes bilden. Der Papst ist der Erste von ihnen. In der Gemeinschaft mit den Bischö- fen leitet er die gesamte Kirche. Benedikt XVI. möchte die Kirche nicht nur entweltlichen, er möch- te auch die Politik aus seiner Kir- che raushalten. Hier unterscheidet er sich stark von seinem Vorgän- ger, dem politische Papst Johannes Paul II. Politik und Religion, Staat und Kirche, sind für diesen Papst getrennt. Nicht umsonst hebt er pro- minent in seiner Rede im Deutschen © gettyimages Bundestag hervor, dass die Trennung von Staat und Kirche zu den heraus- Wort. Das hörende Herz, dass der Pon- Austausch zwischen den Vertretern ragenden Errungenschaften der eu- tifex den Gesetzgebern im Parlament beider Kirchen, bei dem der Papst die ropäischen Geschichte gehören. gewünscht hat, ist das, was auch für Lutheraner auf eine Ebene mit seiner die Ökumene gilt. In diesem Aspekt Kirche stellt, wenn es darum geht, den kommen sich Ökumene und Politik evangelikalen christlichen Gemein- Die Kirche dann doch einmal nahe. Ansonsten den mit ihren einfachen und verkürz- hat der Papst zu recht darauf hinge- ten Botschaften entgegen zu treten. musste schon wiesen, dass die Einheit im Glauben Hier stehen der Professor aus Bonn nicht so hergestellt wird wie die Ein- und der Professor aus Wittenberg Sei- immer gerettet heit zwischen Koalitionspartnern. te an Seite. Glaube, so sagen sie, ist Ein Verweis auf die aktuelle Regie- auch eine Sache der Vernunft. „Allein werden rungskoalition kann zu dem Gebet durch Glauben“ – sola fide – hat nicht verleiten, dass dies auch immer so die Vernunft als Gegenpol, sondern Mein Freund, der Publizist Alan Po- bleiben möge. das geschäftige und weltliche Treiben sener, schreibt, dass dieser Papst die einer Kirche, die denkt, dass viel, viel Demokratie abschaffen will. Alan hilft. Das „viel hilft viel“ bringt die ka- wurde einmal mehr belehrt, dass Mit Luther für tholische Kirche nicht weiter, so Bene- die Grundlagen seiner Argumenta- dikt. Auch hier ist dieser Papst im bes- tion nichts als falsch sind. Ich habe die Vernunft ten Sinne evangelisch. ihm das hier in unserer Streitkolum- ne auf The European immer wieder Der Bischof von Rom hat seine Kir- Der Journalist ist Herausgeber versucht klar zu machen. Aber auch che gegen Zumutungen des Bundes- und Chefredakteur von The mein Freund Matthias Matussek, der präsidenten, des Bundestagspräsi- European. Zuvor war Görlach ein ausgewiesener Benedikt-Verehrer denten und der Ministerpräsidentin der Online-Redaktionsleiter des ist, bekommt Denkstoff: Unsere Kir- von Thüringen verteidigt. Weder die Magazins Cicero und Chefredakteur der che, lieber Matthias, ist nicht semper Verfassungsorgane, noch amtieren- BMW-Initiative Club of Pioneers. Seine jour- triumphans mit viel Weihrauch und de Politiker können in die Interna nalistischen Stationen führten ihn nach New Pomp, sie ist semper reformanda, und der Kirche eingreifen. Darauf hat er York, und Rom. Görlach war sieben als solche auch den Reformatoren und im Erfurter Augustinerkloster hin- Jahre lang für das ZDF tätig. Als freier Autor Reformbewegungen in ihr verpflich- gewiesen – denn die Trennung von hat Görlach für die FAZ, die Süddeutsche tet. Unsere Kirche, lieber Matthias, Kirche und Staat verläuft nach bei- Zeitung und Die Welt geschrieben. Unter muss häufiger gerettet werden, als den Seiten. Hier hat der Papst auch anderem war er Pressesprecher der Stiftung dass sie gut da steht, mit besten Grü- für die evangelischen Christen mit- des Profifußballers Christoph Metzelder. Der ßen von Franz von Assisi. gesprochen, denn auch sie sollten 1976 geborene Journalist ist promovierter Ob die Kirche sich von den Libe- sich gegen die Vereinnahmungen Theologe und promovierter Germanist. ralen oder den Konservativen refor- durch die Politik wehren. Foto: Lars Mensel mieren lassen muss, thematisiert der Der Papst war an einer für die lu- Papst nicht. Die Zeit wird es bringen, therische Reformation historischen sagt er, das Hören auf Gott und sein Stelle. Es gab einen theologischen

Seite 41 / 161 Glaube ist kein Glamourzirkus

Matthias Matussek · DAS KATHOLISCHE ABENTEUER

Lieber Alexander, zahl doch die Steuer. Das ist Katholi- ches Evangelium sich eine Predigt ich bin Dir ja noch eine Antwort zismus per Abbuchungsauftrag. Ja, bezieht. Alexander, Du bist ja glück- schuldig auf Deinen Kommentar vom obwohl wir dank der Kirchensteuer licherweise mit mir der Meinung, 15. Juni. Aber diese Debatte ist sehr die wahrscheinlich am üppigsten aus- dass wir seit dem 2. Vatikanischen wichtig, besonders im Hinblick auf gestattete Landeskirche der Welt sind, Konzil vielleicht ein paar Hochaltä- den bevorstehenden Papstbesuch und grassieren Müdigkeit und Missmut. re zu viel abgeräumt und verbrannt den Zustand unserer Kirche. Was den Ansonsten, natürlich, Reformeifer! haben. Du gibst Mosebach (und mir) Jugendkatechismus „Youcat“ angeht, Wir sind up to date, was die Gender- recht in der Klage über die „Häresie hat Dir ja Professor Lütz, einer der Au- Diskussion angeht, aber die wenigs- der Formlosigkeit“. Du hältst wie ich toren, bereits geantwortet. Ich selber ten wissen noch, was das Paschage- den Papst für unseren besten Theo- finde ihn nicht nur nicht bieder, son- heimnis ist und worin die Bedeutung logen. dern sehr lebendig und geradezu un- der Sakramente besteht und was der Doch plötzlich wirfst Du der ka- ersetzlich in Zeiten, in denen der re- Sinn der Buße ist. Dafür weiß jeder tholischen Kirche die alte Leier vor, ligiöse Analphabetismus grassiert. Katholik, dass die Kirche rückständig Rückständigkeit und Weltabge- Zeiten, in denen Religionsunterricht ist und sexualfeindlich und undemo- wandtheit und so weiter, als müsse häufig nicht mehr angeboten wird kratisch, weil ihm das ständig unter dieser Vorwurf immer scheppernd und Eltern ihren Kindern kaum noch die Nase gerieben wird. Ich sehe darin mitgeschleppt werden, wohin man den Glauben vorleben. eine Verrohung des Glaubens im Na- auch geht in einer Debatte über die Wir sind zunehmend Missionsland, men von Reformen. Das alles erinnert Kirche. Sie sei „verlegen, die Dinge wie mir eine Pastoraltheologin kürz- mich sehr stark an die letzten Zuckun- anzusprechen, wie sie sind“. Und lich relativ ungerührt sagte, und da ist gen des Regietheaters, das ja auch welche wären das? Sie, „die Religi- der Katechismus schlichte Entwick- einmal in einer prächtig subventio- on der Fleischwerdung“ sei nicht im- lungshilfe. Obwohl rein nominell im- nierten, weltweit beneideten Theater- stande, „über das Fleisch zu reden“. mer noch ein gutes Viertel der Men- landschaft angetreten war, Klassiker Hm. Geht’s nicht deutlicher? Reden schen in Deutschland katholisch sind zu entrümpeln und „überkommene wir hier mal wieder über Sex und (ein weiteres Viertel ist evangelisch), Strukturen“ zu zerschlagen. den Wunsch nach Tabulosigkeit? können grundlegende Sachen wie die Heute spielen die Matadore vor lee- Komisch, dass die Reformer so Kenntnis der zehn Gebote nicht mehr ren Stuhlreihen und haben den zehn- oft wesentlich wolkiger sind als vorausgesetzt werden. ten nackten Hamlet auf die Bühne ge- die Amtskirche, die sie kritisieren, stellt, der brüllt wie am Spieß, weil er denn die ist doch an Deutlichkeit „den Leuten von heute was zu sagen nicht zu überbieten – gerade das Neunzig Prozent hat“, und uns allen klarmacht, dass empört doch die Leute! Helsingör der Name einer Spielhalle der Katholiken auf der Reeperbahn ist. Das Problem: Vor lauter Lärm und Reform haben sie Im Zentral- sind kirchenfern den Text vergessen, und auch im Par- kett kennt ihn keiner mehr. komitee des Nur noch geschätzte zehn Prozent der Nun, ich gehöre zu der Frakti- eingetragenen Katholiken gehen über- on, die, wie es Klaus von Dohnanyi Katholizismus haupt in die Kirche. Der Rest bleibt mal rief, ihre Klassiker wiedererken- sonntags im Bett liegen und sagt sich: nen möchte. Ich will wissen, wann Aber Du bist ja nicht alleine. Da ist Wozu soll ich in die Kirche gehen, ich die Wandlung beginnt und auf wel- zum Beispiel der ZDF-Programm- Paul Bica cc-by direktor Peter Frey in „Christ und mit der Beteuerung, dass er „nur ei- Welt“. Er setzt sich zunächst gegen ner Kirche, die sich ändert, treu sein meinen Terminus „Abenteuer“ zur kann“. Und dieser wenig demüti- Wehr. Er spricht lieber, so sagt er, von ge Gestus vor allem geht mir auf die „Originalprägung“, wenn er seinen Nerven. Diese Haltung unserer pro- Kindheitsglauben erwähnt. Das klingt minenten Vorzeigekatholiken, ob sie eindeutig diskurskompatibler und viel nun Lammert oder Frey oder Geißler weniger wild. Ansonsten wünscht er heißen, die der Mutter Kirche und ih- sich mehr „Verheutigung“ in der Kir- rer doch imponierenden 2000-jähri- che und, jetzt kommt’s, Antwort auf gen Geschichte immer wieder zuru- „die gesellschaftlich-politische Frage, fen: Du musst dich gewaltig ändern, was die Gegenwart Gottes für die Ge- meine Liebe, wenn du dir meine kost- staltung der Welt bedeutet“. Hä? Was bare Mitgliedschaft erhalten möchtest. das genau bedeutet, verrät er nicht, ich Ich vermute mal, Mutter Kirche nehme an, das „Zentralkomitee der hat, bei 1,2 Milliarden Mitgliedern, Katholiken“, dem er angehört, wird noch anderes zu tun. sich auf der nächsten Jahrestagung da- mit befassen. Nach seinem Diplom an der Ich glaube aber zu ahnen, was Gott Deutschen Journalistenschule hinter dieser rhetorischen Nebelwand begann Matthias Matussek 1977 für die Gestaltung der Welt an „gesell- seine journalistische Karriere als schaftlich-politischen“ Vorschlägen Kulturredakteur beim Berliner Abend. Später in petto hat: Aufhebung des Zölibats, arbeitete er für den “stern” und ging 1987 Priesterinnenweihe, Anerkennung zum “Spiegel”. Er war Sonderkorrespondent der Schwulen-Ehe und Beschneidung in Ostberlin und leitete die Büros in New der Kompetenzen des Papstes. Und York, Rio de Janeiro und London. In New wenn der liebe Gott es noch ganz gut York war er ebenfalls für amerikanische meint, wird er die Kommunion für Medien tätig. Von 2005 bis 2007 leitete alle freigeben. Das wäre dann die Kir- er das Kulturressort beim “Spiegel”. Sein che, von der Geißler sicher ist, dass sie aktuelles Buch “Das katholische Abenteuer” sich Jesus gewünscht hätte. erschien im Frühjahr 2011. Überschrieben ist Freys Essay Foto: Melanie Feuerbacher

Seite 43 / 161 September In New York beginnen die Verhandlungen über eine Aufnahme Palästinas in die UN. Requiem für den Frieden

Christian Böhme · PALÄSTINA AM SCHEIDEWEG

Die Bemühungen Am 20. September beginnt in New York ein Showdown der besonderen der Palästinenser Art. Seit Monaten haben sich die Kon- trahenten auf dieses Ereignis vorberei- um Anerkennung tet. Jeder versuchte mit seinen Mitteln, auf dem diplomatischen Parkett Ver- vor der UN dürften bündete zu finden. Da wurde gleicher- maßen gewarnt, geschmeichelt und das Ende des getrickst. Schließlich geht es bei der UN-Vollversammlung dieses Mal um Friedensprozesses einiges, die Beteiligten meinen sogar: ums Ganze. bedeuten. Die Vor allem aus Sicht Israels könn- ten diese Tage im September zum Po- Aktion kennt nur lit-GAU werden. Denn sollte die UN den Palästinensern den Status eines Verlierer: Israel, eigenen Staates gewähren – und ge- nau das will Präsident Mahmud Ab- weil es global bas beantragen –, würde Jerusalem politisch endgültig ins Hintertreffen isoliert würde. Und geraten. Die Isolation innerhalb der Weltgemeinschaft, sie hätte ein be- Palästina, das als drohliches Ausmaß erreicht. Aber ver- mutlich wird es genau so kommen. So- lebensunfähiger gar die mächtigen USA (und mit ihnen Deutschland) können aller Voraussicht Staat in die Katast- nach die Anerkennung Palästinas als Staat nicht verhindern – zum Schaden rophe schlittert. aller. Selbst die Palästinenser werden sich ihres vermeintlichen Sieges kaum erfreuen und sich an erster Stelle in die Riege der Verlierer einreihen.

Seite 45 / 161 verweisend würde der jüdische Staat Schmerzhafter zudem jede Art von Friedensgesprä- chen künftig verweigern. Wozu sollten Realitäts-Bumerang die auch noch nützen? Der einseitige Vorstoß von Abbas und Co. bei der UN So ein Blödsinn, könnten sich jetzt hat den ohnehin winzigen Kredit auf die Freunde dieses kleinen Volkes er- Glaubwürdigkeit verspielt. Die Hardli- regen. Die Palästinenser als Verlierer? ner in Jerusalem, die Verhandlungen Wie dumm ist das denn? Immerhin generell als gefährliche Zeitverschwen- haben sie doch ihr lange verfolgtes dung ansehen, wird’s freuen. Ziel der Legitimation ihrer Staatlich- keit endlich erreicht. Stimmt. Aller- dings nützt ihnen dieser PR-Coup im Ein Staat auf Alltag herzlich wenig. Er könnte sich vielmehr als schmerzhafter Realitäts- dem Papier Bumerang erweisen. Zum einen, weil die Palästinenser Ein inhaltsleerer Palästinenserstaat, eben noch immer wichtige Grund- der nur auf dem Papier existiert. Ein lagen gängiger Souveränität wie ein einsames, von vielen als selbstsüch- völkerrechtlich verbindliches Territo- tig geschmähtes Israel. Fehlt nur noch rium oder staatliche Autorität nach der dritte Verlierer der Schlacht in innen vermissen lassen. Wohin zum New York: die Weltmacht USA. Selten Beispiel mit Hunderttausenden Ju- ist deren Einflusslosigkeit derart deut- den, die in Ostjerusalem und den be- lich geworden wie bei dem gescheiter- setzten Gebieten leben? Was ist mit ten Versuch, Abbas von seinem eigen- den Islamisten aus Hamastan? Die mächtigen Vorstoß abzubringen. Mit ach so geliebten Brüder kümmern Israels Premier Benjamin Netanjahu sich einen feuchten Kehricht um Ab- wegen der Siedlungspolitik seit Lan- bas’ ohnehin wenig überzeugenden gem über Kreuz, steht Präsident Ba- Bekenntnisse zum Existenzrecht Isra- rack Obama in Sachen Nahost nun els. Aber wer Staat sein will, hat nun vollends mit leeren Händen da. mal nicht nur Rechte wie den Zugang So wird in den Tagen nach dem 20. zu UN-Gremien, sondern auch die September bei der UN Geschichte ge- Pflicht, sich an die üblichen Spielre- schrieben. Und dieses Kapitel endet geln zu halten. Dazu gehört zum Bei- wohl, wie es begann: ziemlich traurig. spiel, dass man es unterlässt, einem Mitglied der Vereinten Nationen mit Der Journalist arbeitete acht Jahre Vernichtung zu drohen. lang beim Tagesspiegel. Dann Zum anderen: Wie soll ein Flicken- bekam Böhme das Angebot, teppich Palästina wirtschaftlich über Chefredakteur der Jüdischen die Runden kommen? Klar, im West- Allgemeinen Wochenzeitung zu werden jordanland geht es aufwärts, jedoch und nahm es an. Böhme half dem Blatt, das vor allem, weil Jerusalem den kleinen 2003 aus Geldknappheit nur vierzehntäglich Boom (direkt und indirekt) befördert. erschien, aus der Krise und arbeitete dort Doch diese „Fürsorgepflicht“ der Be- bis Oktober 2011. Beim Tagesspiegel war er satzer, das ist nur konsequent, endet Chef vom Dienst und zwischenzeitlich auch mit der formellen Staatlichkeit. Darauf Leiter des Ressorts Politik. Foto: alle Rechte vorbehalten

Seite 46 / 161 Brot für Palästina

Gerhard Fulda · DER STAAT PALÄSTINA

Die Anerkennung In einem Brief an Bundeskanzlerin Wir kommen nicht um die Er- Merkel und Außenminister Wester- kenntnis herum, dass die gegenwär- eines palästinen- welle haben es 32 ehemalige Botschaf- tige Regierung Israels einen Staat Pa- ter als ein „Gebot der Menschlich- lästina verhindern will. Das Ergebnis sischen Staates keit“ bezeichnet, für die Aufnahme der Abstimmung in New York könn- Palästinas in die Vereinten Nationen te den Menschen in Israel deutlich ist ein Gebot der einzutreten. Kein anderer Satz ihres machen, dass sie die falsche Regie- Briefes an die Bundeskanzlerin und rung gewählt haben. Menschlichkeit. an den Außenminister ist so oft zi- Netanjahu setzt alle Hebel in Be- tiert worden. wegung, die Abstimmung in den Ver- Doch der Nahost- Die Formulierung ist ein Vorwurf. einten Nationen als Schritt ins Chaos Der Satz, anders gewendet, besagt, zu diskreditieren. In Wirklichkeit hat Konflikt belegt die Bundesregierung trage mit ih- er als unmittelbare Sorge den Inter- rer Politik dazu bei, unmenschliche nationalen Strafgerichtshof im Blick. die Einseitigkeit Zustände in den besetzten Gebieten Ein „Staat“ Palästina könnte in Den aufrechtzuerhalten. Wir alle wissen: Haag Strafverfahren gegen israeli- westlicher Politik. In den besetzten Gebieten geschieht sche Politiker und Militärs anstren- Unrecht, systematisch und andau- gen. Warum hat Israel Angst davor, Palästina ruft um ernd – willkürliche Verhaftung, Häu- wenn es so sicher ist, sich immer nur serzerstörung, Enteignung, Bom- im Rahmen des Völkerrechts bewegt Hilfe – und wir bardierung, Krieg als politisches zu haben? Instrument, permanente Demüti- antworten darauf gung eines ganzen Volkes, jetzt in der zweiten Generation. Auch ein aner- mit weiteren kanntes Palästina Netanjahu Forderungen. wird verhandeln will einen Palästina sei nicht reif für die Unab- palästinensischen hängigkeit; noch fehle die erforder- liche staatliche Infrastruktur – so Staat verhindern lautet ein wiederum unhaltbares Ar- gument. Genau das Gegenteil wurde Wie kann man behaupten, Netanja- der palästinensischen Autonomiebe- hu sei ohne Vorbedingungen bereit hörde gerade von der Weltbank und zu Verhandlungen, wenn dieser dar- vom Internationalen Währungsfonds auf beharrt, weiterhin Siedlungsbau- bescheinigt. ten im Westjordanland genehmigen Die Palästinenser haben selbst her- zu wollen? Wenn Jerusalem nicht vorgehoben, dass sie natürlich mit Is- Gegenstand der Verhandlungen wer- rael verhandeln müssen und wollen, den darf? Wenn von den Palästinen- auch nach einer Aufnahme in die Ver- sern verlangt wird, als Vorleistung einten Nationen. Sie würden es dann den „jüdischen Staat Israel“ anzuer- – ein bisschen – leichter haben: Die kennen (obwohl in letzter Zeit beun- Grenzen von vor 1967 wären die (im- ruhigende, israelische Araber diskri- mer noch verhandelbare) Ausgangs- minierende Gesetze verabschiedet lage. Und für das Ziel „eigener Staat“ worden sind)? brauchten sie in den Verhandlun- flickr/ moty66 cc-by gen keine besonderen Zugeständnis- Der ehemalige Botschafter hat 12 se zu machen. Die großen Themen: Jahre lang in arabischen bzw. is- Terrorismus, Sicherheit, Jerusalem, lamischen Ländern gelebt, zuletzt Flüchtlinge, Wasser, dies alles kann bis 2004 als deutscher Botschafter gar nicht anders als in Verhandlungen in Indonesien. Seit 2005 betreibt er die gelöst werden. Das wissen die Palästi- IZNIK GALERIE BERLIN für alte islamische nenser, und sie sagen es auch. Auch Kunst. Fulda ist zudem Mitglied im Vorstand die engagierten Vertreter israelischer der Deutsch-Arabischen Gesellschaft DAG. Interessen sollten deshalb aufhören, Seine lebhafte Vortragstätigkeit konzentriert ihre Nachbarn als verhandlungsun- sich sowohl auf kunst- und kulturhistorische willig zu verunglimpfen. als auch auf aktuelle politische Themen im Um es in einem Bild zu sagen: Am Zusammenhang mit dem Nahen Osten. Tisch sitzen zwei Männer und wollen verhandeln, wer das auf dem Tisch liegende Brot essen darf. Nach jedem Satz greift der Satte hin und beißt kräftig ab. Schließlich verzweifelt der Hungrige – zu schwach, um sich dem Verschwinden des Brotes entgegenzu- stellen. Er will diese Ungerechtigkeit in die Welt hinausschreien – er will gehört werden. In diesem Moment treten unsere Bundeskanzlerin und die amerikanische Außenministerin heran mit der Mahnung, der um Hilfe Rufende solle erst einmal anfangen zu verhandeln!

Seite 48 / 161 September In Berlin wird gewählt. Die FDP ist überraschend schwach, die Piratenpartei wird zum Gewinner des Tages. Kapitalistische Freibeuter

Christoph Giesa · WAHLERFOLG DER PIRATEN

Um ein Thema richtig diskutieren zu machen mit der Analyse, vor allem können, müssen die Fragen auch rich- auch in Bezug auf die Positionierung tig gestellt werden. In der aufgereg- der Partei (links) und die Herkunft ih- ten Debatte um die Piraten erscheint rer Stimmen (auch links). mir das bisher nicht geschehen. Wer Ich habe in den vergangenen Tagen verstehen will, was uns die 9 Prozent ein wenig in Berlin herumtelefoniert – oder besser: 130.000 Stimmen – für und möchte diese Aussage anhand die Piraten mitten in der bundesdeut- von zwei bekennenden Piratenwäh- schen Hauptstadt sagen wollen, sollte lern vom Sonntag – nennen wir sie weniger auf die Mitglieder und Neu- Ronald und Hamid – etwas fundieren. abgeordneten der Piraten selbst schau- Beide sind zwischen 25 und 35, männ- Wähler der en und sich fragen, wer diese eigent- lich, mit wirtschaftswissenschaftli- lich sind, wie es derzeit quer durch chem Studienabschluss, erworben in Piratenpartei sind die Parteien- und Presselandschaft ge- verschiedenen europäischen Ländern. schieht. Vielmehr gilt es einen Blick Ronald hat nach einiger Zeit in einer keine realitäts- auf diejenigen, die diese gewählt ha- internationalen Unternehmensbera- ben und auf den Kontext, in dem sie tung inzwischen seine eigene e-Com- fernen Spinner dies getan haben, zu werfen. merce-Firma gegründet und verkauft mit wachsendem Erfolg ein hochwerti- – genauso wie die ges und fair angebautes Produkt, wäh- Woher die rend Hamid als Key Account Manager frühen Grünen in einem schnell wachsenden Berliner Begeisterung? Start-up angeheuert hat. Beide sind nicht nur Öko- konsumfreudig – wenn auch mit Blick Deutschland ergötzt sich derzeit an für ökologische und soziale Belange – Fundis waren. Alle der „Freak-Show“ Piratenpartei, an technologieaffin, international geprägt, den „Nerds“, die für diese ins Abge- leistungsbereit, gewinnorientiert und anderen Parteien ordnetenhaus einziehen und an dem flexibel – sprich: liberal – und haben als so weltfremd empfundenen Wahl- 2009 bei der Bundestagswahl tatsäch- müssen sich dar- programm, das Malte Lehming im lich die FDP gewählt. Bei der Analy- „Tagesspiegel“ sogar zu der Erkennt- se der Wählerwanderungen von 2006 auf einstellen. nis kommen lässt, dass das Ergebnis auf 2011 wiederum, die den Eindruck der Piraten ein Zeugnis der Unreife ergibt, die Piraten hätten maßgeblich der Berliner Wahlberechtigten sei. In im linken Lager Stimmen abgezogen, der Analyse liegt er mit Blick auf das wurden beide nicht erfasst, weil sie Wahlprogramm sicher nicht falsch – wie viele andere potenzielle und wirk- die Forderungen wirken doch in Tei- liche Piratenwähler erst in den vergan- len arg unrealistisch, vor allem vor genen Jahren, in denen Berlin zur Sze- dem Hintergrund der Berliner Haus- ne-Stadt für Gründer und Freelancer haltsnotlage. Wer in diesen Zeiten wurde, in die Hauptstadt gezogen sind. in erster Linie „mehr“ fordert und Darüber hinaus sollte man auf diese damit fast immer „Geld“ meint, ist Analyse sowieso nicht allzu viel geben, nicht ernst zu nehmen. Man sollte macht man sich bewusst, dass bei der es sich allerdings nicht zu einfach letzten Berlin-Wahl die „bürgerlichen“

Seite 50 / 161 Wähler anhand des schwachen CDU- Spitzenkandidaten Pflüger in weiten Teilen zu Hause geblieben waren und die FDP sich maßgeblich durch kon- servative Leihstimmen aufplustern konnte (die sie jetzt auch wieder verlo- ren hat). Der Erfolg ist wenig überraschend

Im Vergleich zur Bundestagswahl sind die Zugewinne der Piraten – auch angesichts einer sowohl auf Bun- desebene wie auch auf Landesebene schwächelnden FDP – in absoluten Zahlen nicht allzu spektakulär, han- © gettyimages delt es sich doch gerade einmal um eine Verdopplung innerhalb von zwei ger nur mit einem enormen Aufwand schaffen, sondern auch alleine durch Jahren – und das bei einer Partei, die durchschauen kann. Und sie sind in ihre Anwesenheit die anderen Partei- dieses Jahr gerade einmal ihren fünf- einer Konsumwelt sozialisiert, die ih- en dazu gebracht, sich mit den unge- ten Geburtstag feiert. Respekt: ja, nen sagt: „Du musst nicht mehr zu liebten Themen auseinanderzusetzen. Überraschung: geht so. uns kommen und nehmen, was gera- Geschichte scheint sich also doch zu Auch inhaltlich sollte man sich de da ist, sondern wir kommen zu Dir wiederholen. Darauf ein Bio-Körner- nicht vertun: Ronald und Hamid etwa und geben Dir, was Du willst!“ Genau brötchen und einen Soja-Latte mit wissen beide, dass die Forderungen das erwarten sie auch von den poli- ökologisch angebautem Zucker aus der Piraten kaum umsetzbar und we- tischen Protagonisten. Links ist das Burkina-Faso. nig sinnig sind; in Teilen lehnen sie nicht, chaotisch auch nicht, sondern diese sogar explizit ab. Der Grund, wa- selbstbewusst bürgerlich. Er arbeitet für einen großen rum sie die Partei trotzdem gewählt Handelskonzern in Hamburg, haben, ist ein ganz anderer und damit war Landesvorsitzender der gewissermaßen der Markenkern, der Andere Parteien Jungen Liberalen Rheinland- bei den Grünen vor 30 Jahren die Öko- Pfalz und scheiterte 2004 knapp am logie und die Ablehnung von Kern- müssen sich Einzug ins Europaparlament. Als kraft war und ihre Wähler genauso Initiator der Bürgerbewegung zur über manche inhaltliche Fehlgriffe anpassen Unterstützung von Joachim Gauck als großzügig hinwegsehen ließ, wie dies Bundespräsidentschaftskandidat und bei den Piraten die Forderungen nach Ob die Piraten und insbesondere ihre Mitbegründer der linksliberalen FDP- neuen, demokratischeren Prozessen derzeitigen Abgeordneten ein vorü- Vereinigung „Dahrendorfkreis“ machte in der Politik und eine Hinwendung bergehendes Phänomen bleiben wer- Christoph Giesa sich bundesweit einen zur digitalen Welt, in der sie selbst den oder nicht, ist in diesem Kontext Namen. Das Zeitgeschehen kommentiert sich selbstverständlich bewegen, ist. komplett irrelevant. Die Themen wer- er auch in seinem Blog unter blog.chris- Ronald, Hamid und all ihre Freun- den bleiben, weil die Menschen zu- tophgiesa.de. Sein zweites Buch “Bürger. de sind nicht unpolitisch. Sie sind nur nehmend auch außerhalb so Macht. Politik.” ist gerade im Campus Verlag nicht politisch im Sinne des klassi- sein werden. Und diese Entwicklung erschienen. schen, parteipolitischen Verständnis- wird auch in den anderen Parteien zu ses von Politik. Sie wählen auch nicht Veränderungen führen, wollen diese die Partei, die ihnen am meisten ver- nicht vom Markt verschwinden, wie spricht, sondern die, die ihnen am dies auch dem einen oder anderen ehesten glaubhaft für transparente nicht anpassungsfähigen Unterneh- Prozesse steht. Für sie steht Prozesso- men in den vergangenen Jahren er- rientierung vor Ergebnisorientierung, gangen ist. Auch hier zeigt sich die auch weil sie der Überzeugung sind, Analogie zu den Grünen der Grün- dass viele Themen sowieso so komplex derzeit: Sie haben damals nicht nur sind, dass man sie als einfacher Bür- eine politische Alternative selbst er-

Seite 51 / 161 „Die Katholiken müssen mit anti- quierten Werten aufräumen“

Klaus Wowereit · WAHLKAMPF IN BERLIN

Zwei wichtige Events stehen im Herbst Die Stadt Berlin hat sehr viele Ge- schwindigkeiten und darin verschie- für Klaus Wowereit an: die Wahl zum dene Milieus, die sich ohne Durch- mischung gegenüberstehen. Schafft Regierenden Bürgermeister und der diese Situation nicht auf Dauer ein Pulverfass? Papstbesuch in Berlin. Mit The Euro- Vielleicht ist Berlin gerade deshalb zukunftsfähig, weil es unterschied- pean spricht er über den kommenden liche Räume und Lebenswelten gibt. Eine große Stadt wie Berlin, eine in- Wahlkampf, Thilo Sarrazin und das ternationale Metropole, hat unter- schiedliche Sphären. Jemand, der Verhältnis der katholischen Kirche zur sich den ganzen Tag in der kreativen Branche oder im IT-Bereich tummelt, Homosexualität. hat eine andere Lebenssituation und andere Freizeitinteressen als jemand, der in einem klassischen Industriejob The European: Ich würde gerne über wenn der politische Gegner Fehler an der Werkbank steht. Diese Vielfalt die heiße Phase des Wahlkampfes zur macht. Ich weiß allerdings gar nicht, macht den Spirit von Berlin aus. Die Wahl im September sprechen. Sind ob es ein Fehler war – vielleicht war verschiedenen Welten werden nicht Sie aufgeregt? sie einfach nur ehrlich. Frau Künast immer zusammenzubringen sein. Wowereit: Nein, ich bin überhaupt hat deutlich gemacht, wie sie sich die Das, was Sie beschreiben, gehört zu nicht aufgeregt, ich freue mich viel- Stadt der Zukunft vorstellt: sie ist für Städten dazu, seit es sie gibt. mehr darauf, weil mir Wahlkampf Tempo 30, für Abschaffung der Gym- Sie sind nach Kurt Beck und Peter Spaß macht! nasien und gegen den Flughafen Müller im Saarland der dienstälteste Das ist ja schon kein Kampf unter Schönefeld. Inzwischen hat sie ihre Landesvater in Deutschland. Wie hat Gleichen mehr, da Frau Künast bereits Aussagen wieder korrigiert. Aber was sich die Stadt in dieser Zeit verändert? ein, zwei gravierende Fehler im Um- meint sie wirklich? Das, was sie jetzt Ich glaube, dass diese Stadt in den gang mit den Berlinern gemacht hat. propagiert oder das, was sie zuerst zehn Jahren einen kräftigen Mentali- Ich werde mich natürlich nicht ärgern, gesagt hat? tätswechsel durchgemacht hat. Berlin Oliver Wolters cc-by-sa weiß, dass es sich selbst erfinden und der SPD ist ein anderer, sie hat den ken selbst weltweit mit bestimmten selber helfen muss, statt darauf zu Anspruch, eine vernünftige Politik für antiquierten Vorstellungen aufräu- warten, dass andere die Amme spie- alle Menschen zu machen, eine Poli- men – beispielsweise mit dem Ver- len. Sie muss sich selbst kreieren und tik der sozialen Gerechtigkeit. In die- bot der Empfängnisverhütung und ihre Potenziale nutzen. Sie muss Of- ser umfassenden Programmatik un- dem Schaden, der damit in afrika- fenheit haben, eine innere Liberalität terscheiden wir uns von den Grünen nischen Ländern angerichtet wird, und Internationalität, kurz, eine At- und der FDP. wo man sehr obrigkeitsorientiert mosphäre, in der man sich wohlfühlt. Im September kommt der Papst ist und befolgt, was gepredigt wird. Und wie haben Sie sich in dieser nach Berlin. Sie sind katholisch und Auch die Einstellung der katholi- Zeit verändert? homosexuell. Ist das für Sie ein Wider- schen Kirche zur Homosexualität Ich habe Erfahrung gesammelt und spruch? muss sich aus meiner Sicht verän- habe dadurch auch andere Antwor- Das ist für mich kein Widerspruch, dern. Das sind Debatten, die sicher ten auf Fragen als noch vor zehn Jah- und ich bin mit dieser Kombination auch am Rande des Papstbesuches ren. Ich habe nicht mehr so eine Auf- sicherlich nicht alleine auf der Welt. geführt werden. Trotzdem ist es ein geregtheit wie zu Anfang. Was sich Auch bei Repräsentanten der katho- Staatsbesuch, und wir heißen den sehr stark geändert hat, ist die Me- lischen Kirche soll ja schon mal eine Papst selbstverständlich herzlich dienlandschaft, sie ist noch härter, solche Verknüpfung vorkommen, willkommen in der Stadt Berlin. noch schnelllebiger geworden. Durch wenn auch meistens im Verborgenen. die Revolution im Internet läuft heu- Damit habe ich also überhaupt keine „Und das ist auch gut so.“ Der te eine Nachricht so schnell, dass Probleme. Ein Papstbesuch ist in ers- berühmte Satz Wowereits ist eine seriöse Reaktion darauf überaus ter Linie ein Staatsbesuch, aber natür- inzwischen zum geflügelten schwierig ist. lich bekommt der Papst als religiöser Wort geworden. Seit 2001 ist Hat sich in der Zeit nicht auch Führer einer der Weltkirchen eine be- der SPD-Politiker Berlins Regierender die SPD verändert – von einer veritab- sondere Aufmerksamkeit. Es ist eine Bürgermeister, seit 2002 führt er dort len Volkspartei hin zu einer 20+ Partei? gute Gelegenheit, um in Deutsch- eine rot-rote Koalition. Durch die enorme Eine Volkspartei definiert sich für land öffentlich darüber zu diskutie- Verschuldung Berlins ist Wowereits mich nicht anhand von Prozentzah- ren, ob bestimmte Gesellschaftsbilder Politik vor allem auf eine Kostenreduktion len, sondern an ihrer Programmatik. und Moralvorstellungen einer großen ausgerichtet. Im Juli 2009 betrug die Ist man bereit, eine Politik für die ge- Weltkirche wie der katholischen noch Verschuldung Berlins 60 Milliarden Euro. samte Bevölkerung zu machen? Oder zeitgemäß sind, und ob nicht dringen- Ein ausgeglichener Haushalt liegt wohl will man sich auf wenige Wählergrup- de Korrekturen sinnvoll sind. Nun ist in weiter Ferne. Seit dem 13. November pen konzentrieren und ist damit auch es immer schwierig, einer Kirche von 2009 ist der bekennende Schwule stell- zufrieden, was man mit denen pro- außen zu sagen, wie sie sich ändern vertretender Bundesvorsitzender der SPD. zentual erreichen kann? Der Ansatz soll. Wichtig wäre, dass die Katholi- Foto: © gettyimages

Seite 53 / 161 September Die Anschläge von New York und Washington jähren sich zum zehnten Mal. Die erste Dekade des 21. Jahrhunderts ist geprägt vom „Krieg gegen den Terror“. Mit Pluralismus gegen Paranoia

Yascha Mounk · DIE BEDEUTUNG DES 11. SEPTEMBER Auch 10 Jahre nach den Anschlägen vom 11. September müssen wir lernen, vernünftig mit der Angst umzu- gehen. Liberal ist, die Probleme der multikulturellen Gesellschaft zu lösen, anstatt sie Bob Jagendorf cc-by abzulehnen. Es ist Sonntag, der 11. September 2011, klug; noch mehr seicht, sinnlos, um 9 Uhr morgens. Ich sitze auf einer sensationsgierig. Und mein Artikel Holzbank auf der Brooklyn Prome- kommt ja erst übermorgen, also an nade. Unter mir donnern Autos, die einem Tag, wenn uns der Kalender nach Queens oder Manhattan wollen. das Erinnern nicht mehr aufzwingt, Neben mir brüllen Kinder nach ihren heraus. Ja, wahrscheinlich sollte ich Müttern oder einem letzten Spätsom- wirklich lieber über die Krise der Ko- mereis. Langsam, sehr langsam (denn alition oder die Krise des Euro oder ich weiß, was mich erwartet) blicke die Krise Obamas schreiben. ich von meinem Notizheft auf. Und Nur: es will nicht in mir. Viel- gewiss: Die Leere auf der anderen Sei- leicht liebe ich diese Stadt zu sehr. te des East Rivers, rechts der Freiheits- Vielleicht sind mir die Werte, die da- statue, dort drüben in Lower Manhat- mals angegriffen wurden, zu teuer. tan, drängt sich mir heute besonders Oder vielleicht glaube ich auch nur, schmerzhaft auf. dass über 9/11 nicht zu viel, sondern Vielleicht, denke ich mir, sollte ich zu viel Falsches gesagt wurde. Jeden- das Thema wechseln. Es ist schon so falls: heute, an diesem Ort, scheitert viel über den zehnten Jahrestag von mein Befehl an mich selbst, über an- 9/11 geschrieben worden – manches dere Themen nachzudenken.

Seite 55 / 161 lateinamerikanisch, arabisch, halb- ne Reaktion auf die Bedrohung durch Bin Laden wollte dies, halb-jenes. Einige sprechen Eng- islamistische Terroristen ihren Zielen lisch, andere Spanisch, Arabisch oder weiterzuhelfen, besteht aber auch in die Offenheit Koreanisch. Sie helfen mir, mich an Deutschland. In den vergangenen Jah- das Wichtigste zu erinnern: bin Laden ren sind viele, zu viele, Europäer zu zerstören mag zwar die Türme – und mit ihnen, dem Schluss gekommen, Menschen etliche Menschenleben – zu Fall ge- mit verschiedenen Religionen und Stattdessen denke ich nun darüber bracht haben. Aber, zehn Jahre nach Kulturen könnten nicht friedlich mit- nach, dass die Gebäude, die ich so un- jenen schrecklichen Stunden, ist New einander leben. Die Einwanderung übersehbar nicht mehr sehe, „World York weltoffener, multikultureller und, von Muslimen, so meinen sie, gefähr- Trade Center“ hießen. Sie sollten also ja, lebensfroher denn je zuvor. de das Erbe der westlichen Kultur. den Welthandel symbolisieren, und Doch dies ist ein Fehler. Das Erbe tatsächlich gäbe es in einer von al- der westlichen Kultur – ein Erbe, Qaida regierten Welt wohl keine Frei- Unsere Identität das im vorigen Jahrhundert übri- handelsabkommen, weniger Globa- gens schlimmer in Europa als sonst lisierung, und – trotz all der Exzesse besteht aus wo auf der Welt angegriffen worden des Kapitalismus, die wir in der Krise ist – ist der Pluralismus und die Tole- der vergangenen Jahre zu spüren be- dem Lösen von ranz. Einwanderung und das Mitein- kommen haben – sicher auch weniger ander verschiedener Kulturen schafft Wohlstand. Problemen manchmal Schwierigkeiten; es bringt Aber als größtes Bauwerk der Stadt gar nichts, dies zu leugnen. Aber un- war das World Trade Center nicht nur Gewiss, die Bedrohung für unsere Vi- sere Identität sind nicht Spätzle oder ein Symbol für die Weltwirtschaft, sion einer lebenswerten Welt ist noch Bratwürste – unsere Identität besteht sondern vor allem für New York. Bin nicht gebannt. Islamistische Terroris- darin, diese Schwierigkeiten auf li- Laden wollte nicht, oder nicht nur, ge- ten würden jederzeit wieder Zivilisten berale Art miteinander lösen zu wol- gen den Reichtum New Yorks protes- ermorden – wenn wir ihnen nur die len. Denn falls wir die Hoffnung auf tieren. Im Gegenteil. Ihm war auch Chance gäben, würden sie selbst die eine pluralistische, tolerante, multi- klar, dass New York für viele Men- Kinder der Brooklyn Promenade da- religiöse Gesellschaft aufgeben, kom- schen eine spannende, bezaubern- chinmeucheln. Deshalb müssen wir men wir der Welt, die bin Laden uns de, wunderschöne Alternative zu dem wachsam bleiben, und (so wie in Af- vor zehn Jahren auf brutalstmögliche von ihm anvisierten Gottesstaat dar- ghanistan) auch hin und wieder unse- Weise aufzwingen wollte, einen tragi- bietet: eine moderne Weltstadt, in der re Kurzzeitinteressen unseren Lang- schen Schritt näher. Menschen aller Kulturen, Ethnien zeitinteressen opfern. und Religionen friedlich miteinander Aber eine ebenso ernste Bedro- Er ist Doktorand in Harvard und leben. Diese Offenheit war es, die er hung geht von innen aus. In Deutsch- Herausgeber des von ihm mitbe- zerstören wollte. land ist in den vergangenen Tagen viel gründeten Magazins The Utopian. Deshalb ist es, bei aller Melancho- über Amerikas falsche Reaktion auf Als freischaffender Journalist lie, auch eine Freude, heute in New 9/11 geschrieben worden. Und tatsäch- schreibt Mounk für europäische und ame- York zu sein. Während ich diese Zei- lich: unter George W. Bush wurden rikanische Publikationen wie die New York len schreibe, erobert eine Horde Kin- die USA weniger liberal und rechts- Times, den International Herald Tribune, den der, nach kurzem Abstecher zur Eis- staatlich. Selbst unter Barack Obama Boston Globe, The Daily, The National, n+1, diele, die Brooklyn Promenade wieder bestehen viele restriktive Praktiken Dissent und Unità. Mehr Informationen gibt für sich. Sie sind ein Mikrokosmos der und Gesetze weiter. es auf seiner persönlichen Website oder auf ganzen Welt: weiß, schwarz, asiatisch, Die Gefahr, durch eine überzoge- Twitter.

Seite 56 / 161 September Forscher am CERN veröffentlichen Daten, die angeblich zeigen, dass Neutinos mit Überlichtgeschwin- digkeit unterwegs seien. Sollten sich die Daten bestätigen, wäre Einsteins Relativitätstheorie in Frage gestellt. „Wir sind an der Schnittstelle zwischen Wissen und Glauben“

Rolf-Dieter Heuer · DIE GRENZEN DER PHYSIK

Rolf-Dieter Heuer leitet das Nukle- The European: Kann etwas so Kom- plexes wie das Universum denn über- arforschungszentrum CERN, am haupt heruntergebrochen werden und komplett vom menschlichen Verstand weltgrößten Teilchenbeschleuniger erfasst und durchdrungen werden? Oder gibt es kognitive Grenzen des- LHC forscht er zum Higgs-Teilchen sen, was wir wissen können? Heuer: Das ist eine schwierige Frage. und zur dunklen Materie. Mit Jedes Mal, wenn wir etwas neu entde- cken, öffnen wir gleichzeitig die Tür The European sprach er über die zu neuen Fragen, die komplexer sind und noch tiefer in eine Thematik ein- Herausforderungen für die Experi- dringen. Es gibt da keine Grenze, die Suche geht immer weiter. Vielleicht mentalphysik, die Grenzen mensch- brauchen wir künftig mehr Zeit, um die nächsten „Fragetüren“ aufzu- lichen Wissens und die Trennung schließen. Aber irgendwann werden wir sie öffnen und dahinter wieder zwischen Glaube und Wissen. neue Türen mit tiefer gehenden Fra- gen finden. Das Higgs-Boson ist als „Gottes- teilchen“ beschrieben worden. Viele Wissenschafter lehnen den Begriff ab. Warum? Er ist zu plakativ und irreführend. Warum sollte es ein „Gottesteilchen“ geben? Das Higgs-Boson ist ein zent- raler Baustein des Standardmodells, ohne den die Theorie nicht funkti- oniert. Aber nichts daran ist überir- disch. Ich glaube, der Name dient vor allem als Publicity-Instrument, um

Seite 58 / 161 die Aufmerksamkeit von Journalisten über die man nicht hinaus kann. Müs- zu erregen? sen wir einfach daran glauben, dass Lassen Sie uns noch etwas mehr vor dem Urknall nichts war? über die Idee des Überirdischen spre- Ich habe nicht gesagt, dass davor chen. Lange waren Wissenschaft und nichts war. Ich sage nur, dass wir Religion eng verbunden. Galileo wur- nicht wissen, was davor war – falls es de exkommuniziert, weil er diese Ver- ein Davor gab. Hier befinden wir uns bindung anzweifelte. Wie würden Sie an der Schnittstelle zwischen Wissen die beiden trennen? und Glauben. Viele bekannte Wissen- Wir trennen Wissen und Glauben. schaftler haben sich damit intensiv be- Teilchenphysik beschäftigt sich mit schäftigt und auch heute machen wir der Frage, wie sich Dinge entwickeln. uns Gedanken über diese Probleme. Religion und Philosophie fragen, war- An den Grenzen des Wissens ver- um sich etwas entwickelt. Die Grenze schwimmt also die Grenze zwischen zwischen diesen beiden Ansätzen ist Wissenschaft und Glaube? allerdings sehr interessant. Ich nen- Wir Wissenschaftler neigen dazu, die- ne das die Schnittstelle des Wissens. se Dinge nicht besonders oft zu disku- Wir stellen uns Fragen: Falls es den tieren. Aber je mehr wir uns mit den Urknall gab, warum gab es ihn? Für Anfängen des Universums beschäfti- uns Physiker beginnt die Zeit mit dem gen, desto mehr versuchen die Men- Urknall. Doch was war davor? Und schen, Wissenschaft und Philosophie falls es ein „Davor“ gibt, was war wie- zu verbinden. Das begrüße ich. Wir derum davor? Das sind Fragen, bei de- beißen uns an Fragen zu den Grenzen nen die Wissenschaft an ihre Grenzen des Wissens die Zähne aus – vielleicht stößt und der Glaube wichtig wird. geht es der Philosophie oder der Theo- Was ist denn der Unterschied zwi- logie genauso im Bezug auf wissen- schen Glaube und Wissen? schaftliche Fragen. Ich glaube daher, Wissen ist etwas, das Sie zumindest dass es wichtig ist, einen konstrukti- teilweise beweisen können. Glau- ven Dialog zu etablieren. Wir versu- be oder philosophische Argumente chen das momentan mit einer Reihe können Sie nicht durch Experimente von Workshops und Seminaren. Ich überprüfen. hoffe, dass wir uns zumindest darauf Für Aristoteles war die Physik die verständigen können, welche Proble- bedeutendste Wissenschaft, sie konn- me vor uns liegen. te uns seiner Meinung nach fast alles über den Kosmos lehren. Er glaubte Seit 2009 leitet Rolf-Dieter Heuer aber auch, dass alle Dinge eine inhä- die Europäische Organisation rente Kapazität zur vollen Entfaltung für Nuklearforschung (CERN). hatten – die Idee des Telos. Und so fiel Er studierte in Stuttgart und es der Philosophie zu, das Wesen der Heidelberg, seine Doktorarbeit beschäftigte Dinge zu erklären. sich mit Zerfallsprozessen von Neutronen. An ihren äußeren Grenzen verbindet Nach seiner Promotion arbeitete Heuer am sich die Physik mit der Philosophie. Deutschen Elektronen Synchrotron (DESY), Auf dem Gebiet der Teilchenphysik von 2004 bis 2009 war er Direktor des geht es aber nicht wirklich um Fra- Forschungszentrums. Seine aktuelle Arbeit gen des „Glaubens“, sondern darum, für CERN konzentriert sich vor allem auf die Schlüsse aus experimentellen Daten Suche nach dem Higgs-Boson und experi- oder aus bestehenden Theorien abzu- mentelle Nachweise von dunkler Materie. leiten. Sobald Sie etwas beweisen kön- nen, ist das keine Frage der Philoso- phie mehr. Glauben Sie, dass wir jemals erfah- ren werden, was vor dem Urknall war? Das bezweifele ich. Wie gehen Sie mit diesem Paradox um? Auf der einen Seite glauben Sie, dass es keine Grenze menschlichen Wissens gibt. Auf der anderen Sei- te gibt es eine sehr konkrete Grenze,

Seite 59 / 161 August In London kommt es zu tagelangen Krawallen. In Deutschland stößt Frank Schirrmacher mit einem Essay in der FAS eine Debatte zur Kapitalismuskritik an. Propulismus

Wolfgang Kraushaar · DER WUTBÜRGER UND DAS DEMOKRATIEDEFIZIT Populismus und Protest lassen sich nicht immer trennscharf un- terscheiden. Mit- telfristig könnte diese Verquickung zu einer gefährli- chen Entwicklung führen, denn die mangelnde murplejane dada Was regt die Bürger eigentlich immer ein grundlegender Mangel an politi- Möglichkeit der mehr auf, was empört sie und was scher Einflussnahme, an Bürgerbe- treibt sie dazu, auf die Straße zu ge- teiligung in einem wahrhaften Sinne, Einmischung hen? Oder aber sich per Leserbrief konstatieren, andererseits aber ist es nicht nur zu Wort zu melden, sondern noch nie so einfach wie in den Zeiten bringt die Bürger zugleich auch darin einen unverhält- des Internets gewesen, sich einzumi- nismäßig polemischen, ja rabiaten schen, zumindest dem äußeren An- zu recht auf die Ton anzuschlagen? Ist es Leiden- schein nach. Die Abschottungsten- schaft oder purer Affektüberschuss? denzen der etablierten Parteien und Barrikaden. Ein Frustrationsgefühl, Wichtigtue- die Aufdringlichkeit des Netz- oder rei, Narzissmus oder gar Hass? Dies Tele-Votings etwa reichen sich die ist nicht immer klar zu unterschei- Hand. Wo es keinen wirklichen Ein- den. Denn die Mehrdeutigkeit gehört fluss auf Missstände mehr gibt, da bei derartigen Botschaften meistens sprießen die medialen Angebote zur mit dazu. Pseudo-Einmischung umso mehr. Wer hätte im Ernst eine Gelegen- heit, sich wirksam gegen die nicht ab- Das Diktat der reißenden Missstände bei der Bahn oder gegen den systematischen Ab- Privatisierung bau von Postfilialen zu wenden? Un- ter dem Diktat der Privatisierungen schließt den ist der Bürger von einer Partizipation so gut wie vollständig ausgeschlossen. Bürger aus Ihm anzubieten, sich an eine der gro- ßen Parteien zu wenden, um auf die- Und diese Mehrdeutigkeit hat eine sem Wege seinen Einfluss geltend zu strukturell bedingte und deshalb machen, ist geradezu lächerlich. Denn tiefreichende Spaltung zur Voraus- deren Vertreter sind es ja gerade, die setzung. Denn einerseits lässt sich den halb staatlichen, halb privatisier-

Seite 61 / 161 ten Großunternehmen die Fortset- warum sollten die Demonstranten mit zung ihres einmal eingeschlagenen einem Zukunftsmodell einverstanden Kurses garantieren. Es herrscht ein sein, bei dem sie sich übergangen füh- Mangel an Demokratie. Und das ist len und von dem sie nur Nachteile er- der Boden, auf dem Wut, Empörung warten? Gleichwohl ist es erstaunlich, und Verdruss besonders gut gedeihen. wie hartnäckig sich der Protest in der baden-württembergischen Landesme- tropole gehalten hat. Populismus Das Magazin hat dennoch nicht völlig verkehrt gelegen und eine wohl- und Protest über- standsbürgerliche Mischung aus berechtigter Empörung und anti- schneiden sich modernistischem Ressentiment dia- gnostiziert. Es scheint so, als würden Diese Affekte können sich in Leser- sich darin Populismus und Protest briefspalten oder Chatrooms, bei Fa- überschneiden, ja vielleicht sogar cebook oder Twitter austoben. Da sie bis zur Ununterscheidbarkeit vermi- eine Art gesellschaftlich abgespaltener schen. Diese neue Unklarheit könn- Reaktionsmasse darstellen, können te in der Tat ein ernst zu nehmen- sie aber auch ein gewisses Eigenleben des Zeichen der Zeit sein, einer Zeit, annehmen. Zum einen als Bodensatz in der sich eines Tages der Weg zwi- für populistische Strömungen, zum schen verpasster demokratischer Teil- anderen aber auch als Mobilisierungs- habe und populistischer Mobilisie- reservoir für Protestbewegungen. Vor rung gabeln könnte. einem Jahr hatte der “Spiegel” deshalb nicht ganz zu Unrecht, aber mit ei- Der Politikwissenschaftler nem verächtlichen Unterton geschrie- (Jahrgang 1948) forscht ben, dass sich eine “neue Gestalt” in am Hamburger Institut der deutschen Gesellschaft “wichtig” für Sozialwissenschaften mache. Er bezeichnete diese Figur als im Arbeitsbereich „Die Gesellschaft “Wutbürger”, der buhen, schreien und der Bundesrepublik“. Seine Hassgefühle äußern würde. Bei den Arbeitsschwerpunkte sind die Protesten gegen “Stuttgart 21“ gehe Untersuchung von Protest und Widerstand es ebenso wie bei den von Sarrazin in- in der Geschichte der Bundesrepublik tonierten gegen eine angebliche Isla- und der DDR, Totalitarismus- und misierung Deutschlands in Wahrheit Extremismustheorie sowie Pop-Kultur und um “Zukunftsvergessenheit”. Aber Medientheorie.

Seite 62 / 161 „Wir leben in Schnarch- gesellschaften“

Roberto Unger · DIE KRISE UND DIE LINKEN

Die Linke hat keine The European: Seit vielen Jahren for- Börsen eigentlich? Theoretisch sind dern Sie eine Alternative zu den wirt- sie dazu da, Produktion zu finanzie- Vision, politische schaftspolitischen Ideologien der Lin- ren. In der Realität ist diese Verbin- ken und der Rechten. Bietet die Krise dung höchst brüchig und nur episo- Vitalität kommt Chancen für mehr Experimente? denhaft vorhanden. Wir brauchen Unger: Der Horizont programmati- nicht einfach mehr Regulierung des von Rechts der scher Debatten verengt sich seit lan- Finanzmarktes, wir müssen die ins- ger Zeit. Heute hängt fast alles von titutionellen Anordnungen so verän- Mitte. Das ist das einem zentralen Thema ab: Wie kön- dern, dass die Finanzwirtschaft vom nen wir die amerikanische Traditi- Herren zum Diener der Realwirt- Fazit des (linken) on wirtschaftlicher Flexibilität inner- schaft wird. Das Gesamtvermögen halb bestehender Institutionen mit einer Gesellschaft sollte in die eige- Juristen und europäischem Sozialversicherungs- ne Wirtschaft investiert werden, an- denken kombinieren? Ich glaube je- statt im Casino des Kapitalismus zu Sozialtheoretikers doch, dass wir das Fundament neu verbrennen. Ein zweites Thema ist zimmern müssen. Wir müssen De- die Verbindung zwischen wirtschaft- Roberto Unger. mokratien, Marktwirtschaften und lichem Fortschritt und der Umvertei- Zivilgesellschaften anders organi- lung von Reichtum. Alle Gesellschaf- Ein Gespräch über sieren. Seit dem Beginn der Finanz- ten des 20. Jahrhunderts sind um und Wirtschaftskrise 2007 gibt es einen Markt des Massenkonsums or- politische Kreati- ein enormes Potenzial für Verände- ganisiert. Das heißt allerdings, dass rung – leider ist es großteils vergeu- auch alle Menschen zu Konsumen- vität und Europas det worden. Wir haben aber weiterhin ten werden müssen – dafür brauchen die Chance, die richtigen Schlüsse zu sie entsprechende Einkommen. Die Technokraten. ziehen. Und diese Einsicht kann na- Konsumgesellschaft bedarf also der türlich in der Zukunft zu Verände- progressiven Wohlstandsverteilung rungen führen. und der Demokratisierung von Teil- Worum geht es Ihnen konkret? habe am Markt. Meistens ist genau Ein vernachlässigtes Thema ist die das Gegenteil passiert: Immer mehr Reorganisation der Beziehungen Menschen waren gezwungen, im- zwischen der Finanzwirtschaft und mer mehr Konsum über Kredite und der produzierenden Industrie. In Schulden zu finanzieren. Wir hatten allen größeren Marktwirtschaften also 2007 eine Kreditdemokratie an- der Welt wird Produktion vor allem stelle einer Marktwirtschaft. Sie se- durch eigene Rücklagen finanziert. hen: Das waren zwei Chancen, um die Daraus folgt die unbequeme Frage: Marktwirtschaft zu demokratisieren. Wozu brauchen wir die Banken und Genutzt haben wir sie nicht.

Seite 63 / 161 Ist das eine Bankrotterklärung an Geschichte, sie ist änderbar. In die- sellschaften, in denen niemand etwas die Linke? sen beiden Schlüsselpunkten haben opfern mag, in denen wir visionäres Man würde eigentlich davon ausge- Sie bereits das Credo eines zukunfts- Denken den Extremisten von Links hen, dass eine solche Krise der linken fähigen linken Projekts: die Großar- und Rechts überlassen. Das ist ein De- Agenda hilft. Das Gegenteil ist der tigkeit des Normalen, und der Wil- saster. Europa wird nur von den Tech- Fall: Der Linken geht es schlechter als le zu institutionellen Experimenten. nokraten geliebt und von der rebellie- zuvor. Die Krise macht also ein funda- Aber wenn Sie diese Parameter als renden Jugend gehasst. Die Macht zur mentales Problem offensichtlich: das Maßstab anlegen, gibt es so gut wie Veränderung ist bürokratisiert und Fehlen einer wirklichen progressiven keine linke Politik! Das muss sich zentralisiert worden, die Definition Agenda. Es ist doch so, dass die Linke ändern. Bevor wir den politischen des Sozialstaats wird auf nationale In- in den USA und Europa vor allem da- Kampf angehen können, müssen wir stitutionen abgewälzt. Das Gegenteil mit beschäftigt ist, die Realität in Wat- den Kampf der Ideen ausfechten. sollte der Fall sein. Die primäre Ver- te zu packen. Sie scheuen sich davor, Bleibt der Nationalstaat die orga- antwortung der Europäischen Union wirklich umzudenken. Das Leitmotiv nisatorische Basis dieser Experimen- ist es, die Emanzipation und Befähi- linker Politik heute ist die Humanisie- talpolitik? gung der eigenen Bürger sicherzustel- rung des Unabwendbaren. Unger: Wir reden oft darüber, dass len, damit sich von dort ein experi- Wie sähe denn ein wirklich linkes der Nationalstaat seinen Zenit über- menteller Sturm ausbreiten kann: Wir Projekt aus? schritten habe. Aber gleichzeitig müssen die Dinge anders angehen, Unger: Das Ziel der Gleichheit ist we- sind Staaten weiterhin die Einheiten, wir müssen dies und das ausprobie- niger wichtig als das Ziel, jedem Men- mit denen wir global rechnen. Das ren. schen ein besseres Leben zu ermögli- Problem Europas ist, dass es keine chen. Niemand sollte darauf abzielen, Institutionen gibt, die Wandel in- Roberto Unger ist Professor of Gleichheit um ihrer selbst willen an- ternalisieren. Wandel erfolgt wei- Law an der Harvard Law School. zustreben. Wir bekämpfen Ungleich- terhin nur in Zeiten der Krise. Im Von 2007 bis 2009 war er in sei- heit, weil sie die Entfaltung mensch- 20. Jahrhundert bedeutete das, dass nem Heimatland Brasilien Minister lichen Potenzials und die Befähigung die Menschen sich erst gegenseitig für Strategische Angelegenheiten. Er gilt als des Einzelnen behindert. Das Ziel abschlachten mussten, bevor sich einer der wichtigsten Vertreter der kritischen muss sein, den Standard für das zu wirklich etwas bewegt hat. In Frie- Rechtstheorie und ist der Autor mehrerer heben, was als normal gelten kann. denszeiten legen wir uns schlafen Bücher zur Rechts- und Sozialtheorie. Ein Dazu dürfen wir etablierte institutio- und ertränken unsere Sorgen im Großteil von Ungers Werken ist online auf nelle Strukturen nicht einfach akzep- Konsum. Welch depressiver Materi- der Webseite der Harvard Law School um- tieren. Jede Struktur ist ein Zufall der alismus! Wir leben in Schnarchge- sonst verfügbar.

Seite 64 / 161 August Die Koalition rettet sich mit sinkenden Umfragewerten in die parlamentarische Sommerpause. Ein Masterplan für die CDU

Richard Schütze · DIE NEUEN KONSERVATIVEN

Trotz Urlaubsbräu- Zum Gedenken an den 50. Jahres- tag des Mauerbaus am 13. August ist ne: Die Kanzlerin Kanzlerin Merkel aus dem Sommer- urlaub zurück. In Berlin wartet eine kommt ohne immer unzufriedenere CDU nicht nur auf eine emotional berührende Schwung aus der Erinnerung, sondern auch auf weg- weisende Entscheidungen. Der Inf- Sommerpause. ratest-dimap-„Deutschlandtrend“ der ARD attestiert Merkel Anfang Au- Der Wähler weiß gust mit nur noch 45 Prozent Zustim- mung der Deutschen zu ihrer Poli- © gettyimages nicht mehr, was tik ein Jahrestief und einen rasanten Vertrauensverlust. Auch in der eige- weniger föderal geordneten Systemen denn eigentlich nen Partei stößt der Politik- und Füh- Entscheidungen von oben vorgege- rungsstil der Vorsitzenden auf im- ben und weitgehend diskussionslos von der CDU zu mer mehr Kritik. Wie aber könnte die durchgesetzt werden. Mit Sorge be- Kanzlerin und Parteivorsitzende wie- trachten Strategen, dass die Partei erwarten sei. Der der überzeugend führen? Welche Poli- der zumeist bürgerlichen Nichtwäh- tik wäre Not wendend? ler kontinuierlich wächst und breite Schlingerkurs der Bevölkerungsschichten in der Mitte der Gesellschaft sich politisch „zu- vergangenen Mo- Tiefgehende nehmend heimat- und orientierungs- los“ (Peter Radunski) fühlen. Bereits nate hat eine Partei Analyse des Zu- bei der Bundestagswahl 2009 stan- den 18 Millionen Nichtwählern nur ohne Profil und stands der CDU noch 16 Millionen Wähler der Union gegenüber. Elan hinterlassen. Eine umfassende Diagnose des Sta- Neben konservativ und national tus quo der Union sollte neben den empfindenden Bürgern und den für Wahlergebnissen in den Bundeslän- eine marktwirtschaftliche Grund- dern seit der Bundestagswahl 2009 ordnung mit sozialer Temperierung auch den eher präsidial geprägten eintretenden ökonomisch orientier- Politikstil Merkels einbeziehen. Die ten Freiberuflern und Selbstständi- Parteivorsitzende setzt auf „Vernunft“ gen (die aber auch von den Liberalen und die Bereitschaft und Fähigkeit angesprochen werden) sind es vor al- zu Kompromissen, die sie dem Par- lem sich kirchlich gebunden fühlen- lament, aber auch der eigenen Partei de Christen, die von der Union eine des Öfteren als „alternativlos“ verord- Politik aus einer wertegebundenen net und zuweilen auch unvorbereitet Perspektive erwarten. Auch wenn zumutet. Bei den Entscheidungen zu die Zahl der Katholiken und Protes- Atomausstieg und Eurorettung emp- tanten in Deutschland seit Jahren finden auch Spitzenleute dies als eine kontinuierlich ab- und auf jeweils Art „gelenkte Demokratie“, mit der in unter 25 Millionen gesunken ist, so

Seite 66 / 161 liegt beispielsweise die Quote der „für Entscheidungsfindungen völlig Verteidigungsminister Thomas de sonntäglich katholischen Gottes- ungeeignet“ seien („FAS“ 14.8.2011). Maizière eine glaubwürdige Füh- dienstbesucher bei noch immer Die Parteifunktionäre würden dabei rungskompetenz aus. Umweltminis- erstaunlichen 12,6 Prozent; keine „in Ehrfurcht“ vor der Vorsitzenden ter Norbert Röttgen muss erst als Lan- andere Organisation in Deutsch- „erstarren“. desvorsitzender in NRW beweisen, ob land bringt Sonntag für Sonntag Eine immer breitere Phalanx von auch er ein Großer werden kann. Die im ganzen Land weit mehr als 3 Mandatsträgern fordert daher die Ein- Partei müsste daraus die Lehre ziehen, Millionen Menschen auf die Beine berufung eines Sonder- oder Grund- sich verstärkt auch im vorpolitischen und verfügt damit über ein erhebli- satzparteitags zur Eurokrise und zur Raum nach neuen Hoffnungsträgern ches Mobilisierungspotenzial. künftigen Ausrichtung der Union. umzuschauen und diesen attraktive Zumindest will man den anstehen- Gestaltungs- und Mitwirkungsmög- den Bundesparteitag im November lichkeiten eröffnen. Ehrliche auch gegen den Willen der Führung auf jeden Fall für grundsätzliche Ent- Diskussionen scheidungen nutzen; bislang soll die- Ein Masterplan für ser Parteitag vor allem der Bildungs- und substanzielle politik gewidmet sein. die Bürgergesell- Partizipation schaft von morgen Kompetente Die Ergebnisse einer solchen Ana- Vor allem aber fehlt der CDU ein Kon- lyse werden nach einer breiten Dis- Personalisierung zept für das Antlitz der Bürgergesell- kussion verlangen. Seit den Zei- schaft im zweiten und dritten Jahr- ten von Adenauer und Kiesinger in zentralen zehnt des noch jungen Jahrtausends. „kommt“ es in einer bürgerlichen Wie sollen z.B. die sozial- und finanz- Partei wie der CDU zwar immer Politikfeldern politischen Folgen der zunehmen- noch „auf den Kanzler (respektive den Alterung der Gesellschaft bewäl- eine Kanzlerin) an“, doch hat sich Seit dem Abgang von Friedrich Merz tigt werden? In welche Richtung und die Union schon und gerade auch hat es die Führungscrew um Kanz- mit welchem Ergebnis soll der Prozess unter den vom langjährigen Partei- lerin Merkel nicht geschafft, einen der europäischen Einigung vorange- patriarchen Helmut Kohl berufenen überzeugenden Nachfolger in den trieben werden? Welchem Menschen- Generalsekretären Kurt H. Bieden- Fußstapfen des Begründers der Sozi- bild und welchen Werten will die CDU kopf und Heiner Geißler von einem alen Marktwirtschaft und ehemaligen sich verpflichten und wie will sie ihre „Kanzlerwahlverein“ zu einer immer CDU-Kanzlers Ludwig Erhard zu prä- Sicht vom Menschen in der Familien- diskussionsfreudigeren Partei ent- sentieren. In der Finanzpolitik wird oder auch der Wirtschafts- und Infra- wickelt. die Allzweckwaffe Wolfgang Schäuble strukturpolitik zum Tragen bringen? Diese Kultur scheint in der Ära von den Eurokrisen aufgerieben; der An welchen Grundauftrag fühlt sich Merkel auch durch die von ihr schon letzte Preuße badischer Herkunft ist die Union gebunden? Die Zeit ist reif im Jahr 2000 entwickelten soge- nicht mehr willens oder in der Lage, für eine spannende Grundsatzdebatte nannten „Regionalkonferenzen“ die Ausrichtung seiner Finanzpoli- und richtungweisende Entscheidun- eher ausgetrocknet denn befruch- tik über den Tag hinaus nachvollzieh- gen dieser seit ihrer Gründung maß- tet und weiterentwickelt worden zu bar darzustellen. Auch die Kanzlerin geblich die Republik prägenden Partei. sein. Während es den immer mehr verzichtet auf umfassende Erläute- sich bürgerlich gerierenden Grünen rungen; taktisches Kalkül und politi- Seit mehr als 30 Jahren neh- problemlos gelingt, ihre Zustim- sche Raffinesse im Umgang mit dem men Akteure aus Politik und mung zur Energiewende der Bun- schwierigen französischen Partner Wirtschaft seine Expertise desregierung auf einem Bundespar- und den Südländern in der EU lassen als Medienmanager und teitag zu debattieren, traut sich die sie offenbar einen Politikstil bevorzu- Kommunikationstrainer in Anspruch. Richard CDU allenfalls eine in engem zeitli- gen, der die parlamentarischen Insti- Schütze ist Geschäftsführer der Berliner chen Korsett erlaubte Befragung ih- tutionen und Parteigremien auch in Politik- und Kommunikationsberatung rer Führung durch ausgewählte Ver- zentralen Fragen immer wieder vor Richard Schütze Consult. Der Rechtsanwalt treter von Kreis- und Ortsverbänden vollendete Tatsachen stellt. Altkanzler hat sich in zahlreichen Publikationen und auf regionaler Ebene zu. So moniert Kohl förderte gezielt Talente innerhalb Medien als Autor und Interviewgast mit dem der hessische CDU-Bundestagsab- der Partei und auch von draußen wie Image von Politikern beschäftigt. Als Horst geordnete Klaus-Peter Willsch, dass die damaligen Quereinsteiger Bieden- Köhler am 31. Mai 2010 als Bundespräsident die ab dem 19. September geplan- kopf oder Richard von Weizsäcker. zurücktrat, prognostizierte der PR-Berater ten neuerlichen sechs Regionalkon- Unter Merkel strahlen als CDU- die Kandidatur von Christian Wulff. ferenzen „der Parteiführung nur als Größen mit Zukunft nur Arbeitsmi- Propagandainstrument“ dienten und nisterin Ursula von der Leyen und

Seite 67 / 161 „Ich bin nicht der Oberlehrer, der anderen Zeugnis- noten erteilt“

Rainer Brüderle · SCHWARZ-GELB IN DER SOMMERPAUSE

Rainer Brüderle The European: Wieviele schlaflose Solidität. Wir brauchen eine neue Nächte haben Sie als ehemaliger Wirt- Stabilitätskultur in Europa. Es müs- zieht zur Sommer- schaftsminister angesichts der Schwä- sen neue Leitplanken für die finanz- che des Euro und der Probleme in politische Stabilität und eine stabi- pause Bilanz. Ein Griechenland oder Italien? le Währung eingezogen werden. Wir Brüderle: Mein Schlaf ist gut, denn brauchen einen verschärften Stabili- Gespräch über die Europa zeigt sich handlungsfähig. täts- und Wachstumspakt und mehr War der Euro ein politisch moti- Koordinierung innerhalb der Europä- Zukunft Europas, viertes und wirtschaftlich kurzsichti- ischen Union, ohne dass die Mitglie- ges Projekt? der deswegen ihre Kompetenzen für schwarz-gelbe Nein. Der Euro ist Teil der europäi- ihre Haushalts- und Wirtschaftspo- schen Integration. Es ist an der Zeit, litik an die EU abtreten. Diese neue Eheprobleme und dass wir jetzt noch schneller neben Stabilitätskultur ist die Grundlage da- der wirtschaftlichen auch an der po- für, Verschuldungskrisen einzudäm- die Suche der FDP litischen Integration arbeiten. Wir men und künftig zu vermeiden. Nur brauchen Europa. Wir brauchen ei- so können wir Europa gemeinsam er- nach dem eigenen nen starken Euro. Das ist für mich folgreich gestalten, die Europäische Staatsräson. Deutschland hat dem Integration fortsetzen und verfestigen. Markenkern. Euro viel zu verdanken. In allen Umfragen sinkt das Ver- Sie fordern eine stärkere Integrati- trauen der Deutschen in Euro und EU. on des EU-Wirtschaftsraumes, ohne Wie sieht es bei Ihnen aus? dass nationale Parlamente dabei vie- Mein Vertrauen ist ungebrochen. In le Kompetenzen abtreten. Das klingt meinen Augen hat der Euroraum alle ein wenig wie die Quadratur des Chancen, die aktuellen Herausforde- Kreises. Wie kann es funktionieren? rungen zu meistern. Gefragt sind gut überlegte Maßnah- A propos Vertrauen: Sie sagten men, die Vertrauen schaffen und den kürzlich: “Man muss in der Politik Euro langfristig stabilisieren. Vor al- nicht jeden Tag geliebt werden.” Im lem müssen wir wieder zurück zur Juni und Juli schien es zeitweise so, © gettyimages als ob die Koalition mit jedem Tag ver- Partei, die nicht Umverteilung, son- Rainer Brüderle gehört zur hasster wurde. Wohin ist das Vertrau- dern Eigenverantwortung ins Zent- alten Garde der FDP. Nachdem en verschwunden? rum ihres Handelns stellt. er in Mainz Publizistik, Wir sollten unsere Erfolge selbstbe- Der Kanzlerin wurde eine Teil- Volkswirtschaftslehre, Politik- wusster verkaufen. Manche Debatte schuld an der Misere ihrer Partei ange- und Rechtswissenschaften studiert hatte, überdeckt die gute Zusammenarbeit kreidet. Sie marginalisiere die FDP in- trat er 1973 in die FDP ein und wurde in der Koalition. Aber die Regierung nerhalb der Koalition und provoziere 1987 Wirtschaftsminister der SPD-FDP- steht auch vor so vielen Herausforde- damit den offenen Konflikt. Und in Regierung von Rheinland-Pfalz. Seit 1995 rungen wie nie eine Regierung vor ihr: der Tat gibt es weniges, das in der öf- ist er wirtschaftspolitischer Sprecher Eurokrise, Finanzmarktkrise, wir sind fentlichen Wahrnehmung als Erfolg und stellvertretender Vorsitzender der gesellschaftlich und wirtschaftlich in der Liberalen verbucht wurde. Fühlen Freien Demokraten. Er wurde 1945 einer historischen Umbruchphase. Sie sich marginalisiert? in Berlin geboren. 2009 wurde er der Sie sind aus dem Ministerium an Keinesfalls. Diese Koalition ist für Bundesminister für Wirtschaft in der die Fraktionsspitze gewechselt, inhalt- vier Jahre gewählt. Wir wollen den schwarz-gelben Regierung, seit 2011 ist er liche Gestaltung fällt jetzt primär in gemeinsamen Erfolg. Ich werde alles Fraktionsvorsitzender um Bundestag. Herrn Röslers Aufgabengebiet. Wel- tun, damit diese Koalition eine gute Foto: © gettyimages ches Zeugnis geben Sie ihm zur Som- Bilanz hat und ihren Wählerauftrag merpause? erfüllt. Ich bin nicht der Oberlehrer, der ande- ren Zeugnisnoten erteilt. Wir arbeiten alle gemeinsam am Erfolg Deutsch- lands und derFDP. Bisher haben Sie immer die “neue Kommunikation” betont. Wie sieht es mit der inhaltlichen Neuorientierung aus? Verwässert die junge Garde das Alleinstellungsmerkmal der FDP? Wir werden uns wieder stärker auf unseren Markenkern konzentrieren. Die Wähler müssen wissen, wofür die FDP steht. Wir sind die einzige

Seite 69 / 161 August Deutsche Netzpolitiker streiten um die Balance vom Privatsphäre und Sicherheit im Internet. Wild Wild Web

Hans-Peter Uhl · VORRATSDATENSPEICHERUNG IN DEUTSCHLAND

Vor über einem Nach dem differenzierten Urteil des entfällt zunehmend auch die Speiche- Bundesverfassungsgerichts zur Vor- rung für Abrechnungszwecke. Der Jahr hat das Bun- ratsdatenspeicherung vom 2. März Umfang der Daten, die aus diesem 2010 hätte die ganze Debatte eigent- Grund noch vorhanden sind, geht in desverfassungsge- lich friedlich beendet werden kön- einigen Bereichen gegen null. nen: Das Gericht hat alle Argumente Für Strafverfolgung und Gefahren- richt seine Grund- pro und contra eingehend gewürdigt abwehr ist dies ein großes Problem: und sorgsam abgewogen. Die kon- Verkehrsdaten stellen einen wichti- satzentscheidung krete gesetzliche Regelung wurde gen und häufig den einzigen Erfolg verworfen, die Mindestspeicherung versprechenden Ermittlungsansatz getroffen und von Verkehrsdaten der Telekommu- dar. Nur so ließe sich aufklären, mit nikation jedoch im Grundsatz gebil- wem ein auffällig gewordener Straftä- die Vorratsda- ligt, ja sogar ausdrücklich als erfor- ter bzw. Tatverdächtiger zu einer be- derlich bezeichnet. Zugleich hat das stimmten Zeit kommuniziert hat. Im tenspeicherung Gericht die Messlatte für den Abruf engen Sachzusammenhang steht ein der zeitweise gespeicherten Daten hö- weiteres Problem: Bei Straftaten im im Grundsatz her gehängt: Erforderlich sind hinrei- oder mit Hilfe des Internets ist die chend anspruchsvolle und normen- Aufklärung anhand einer bekannt gebilligt. Passiert klare Regelungen, insbesondere zu gewordenen IP-Adresse regelmäßig der Frage, welche Arten von Strafta- nicht mehr möglich. Denn dazu be- ist seitdem nichts. ten und Gefahren mittels dieses Ein- darf es der Identifizierung der natür- griffs in persönliche Daten aufgeklärt lichen Person, die hinter der dyna- Während die Poli- bzw. vereitelt werden sollen. misch vergebenen IP-Adresse steht. Diese sogenannte Bestandsdaten- tik zögert, wird das auskunft läuft regelmäßig ins Lee- „Quick Freeze“ ist re, weil ohne Verkehrsdaten die ent- Internet immer sprechende Verknüpfung nicht mehr keine Alternative hergestellt werden kann. mehr zum rechts- Entlang des Richterspruches ließe und kontrollfreien sich sehr rasch eine präzise Neurege- Respektiert das lung formulieren. Leider ist dies bis Raum. heute nicht geschehen. Im Gegenteil: Gericht Die Grundsatzdebatte über die Da- tenspeicherung hat von Neuem be- Die Polizeibehörden haben eine Fül- gonnen – so als hätte es das Urteil le von Fällen vorgelegt, in welchen nie gegeben. Die Bundesjustizminis- die Ermittlungen unter den gegen- terin hat sogar einen Alternativvor- wärtigen Bedingungen zum Schei- schlag präsentiert – das anlassbezoge- tern verurteilt waren. Die Gegner ne „Quick-Freeze“ von Verkehrsdaten der Vorratsdatenspeicherung, die –, den das BVerfG ausdrücklich als un- das Urteil des BVerfG nicht gelesen geeignet bezeichnet hatte (BVerfG, 1 zu haben scheinen, ficht dies nicht BvR 256/08 vom 2.3.2010, Absatz-Nr. an. Zwar bestreitet niemand grund- 208). sätzlich, dass unsere Rechtsord- Vorläufig besteht also keine Min- nung auch im Internet Geltung be- destspeicherfrist für Verkehrsdaten anspruchen muss. Eine lautstarke mehr. Da der Trend zu Pauschaltari- Minderheit möchte jedoch nicht ak- fen für Internet und Telefonie anhält, zeptieren, dass Sicherheitsbehörden Markus Ram cc-by-nd

die nötigen Instrumente bekommen, um nicht zuletzt strafbare Aktivitä- ten oder Inhalte im Internet einem bestimmten Urheber zuzuordnen. Das BVerfG, das sich auch in dieser Frage klar geäußert hat, hätte etwas mehr Respekt verdient: „In einem Rechtsstaat darf auch das Internet keinen rechtsfreien Raum bilden. Die Möglichkeit einer individuellen Zuordnung von Inter- netkontakten bei Rechtsverletzungen von einigem Gewicht bildet deshalb ein legitimes Anliegen des Gesetz- gebers. Soweit für entsprechende Auskünfte seitens der Dienstean- bieter unter den derzeitigen techni- schen Bedingungen […] Telekommu- nikationsverkehrsdaten ausgewertet werden müssen, wirft dieses folglich keine prinzipiellen Bedenken auf.“ (2.3.2010, Rn. 260)

Der promovierte Jurist Hans-Peter Uhl ist seit 2005 Vorsitzender der Arbeitsgruppe Innenpolitik und in- nenpolitischer Sprecher der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion. Seit 1998 sitzt er als direkt gewählter Abgeordneter des Wahlkreises München-West im Deutschen Bundestag, seit 1970 ist er Mitglied der CSU.

Seite 72 / 161 Nicht in

Die Hysterie um unserem Facebook, Google Street View und Co. verdeutlicht Hinterhof nur, wie sehr unse- Gunnar Sohn · re Politik in ihrer PATERNALISMUS UND DEUTSCHE INTERNETPROVINZ Unwissenheit auf Bedrohen die Dienste von Goog- Unsere le und Facebook wirklich die Privat- eine Jägerzaunpo- sphäre der Menschen und rechtfer- technikfeindliche tigen staatliche Interventionen, die litik setzt. Anstatt von Politikern wie der CSU-Bun- Mentalität steht desministerin Ilse Aigner in steter ständig einen deut- Regelmäßigkeit gefordert werden? uns im Weg Woher kommen der deutsche Verpi- schen Sonderweg xelungs-Sonderweg, die Sehnsucht Sind wir in der Lage, mit dieser Men- nach technologisch sinnlosen digita- talität ein Land der innovativen Web- einzuschlagen, len Radiergummis und die Angst vor Technologien zu werden? Wohl einer harmlosen Tracking-Software kaum. Wir können uns diese provin- sollten die sich wie Google Analytics? Vielleicht liegt zielle Rückwärtsgewandtheit einfach es daran, dass es für die politischen nicht mehr leisten. Aus Angst vor die Damen und Jägerzaunregulierer in Deutschland dem Unbekannten verschwenden so schön risikolos ist, sich mit Tech- unsere politischen Meinungsführer Herren im Bun- nologiegiganten in den USA anzu- zu viel Energie, um jede Neuheit mit legen, um der Internetwelt zu zei- den Denkmustern von vorgestern ab- destag besser um gen, dass man als Staat netzpolitisch zuwehren. „Eine kleinmütige Debat- handlungsfähig bleibt. In Wahrheit te blockiert die Internetmedien in die Entwicklung verdeckt die politische Klasse ihre Deutschland. Es fehlt das Verständ- technologische Ahnungslosigkeit. So nis für die digitale Ökonomie … Wer einer deutschen zelebrierte Aigner ihren Facebook- die Entwicklung der digitalen Kom- Austritt in der Öffentlichkeit und munikation auf die Frage des Daten- Web-Exzellenz glaubt allen Ernstes daran, dass sie schutzes reduziert, darf sich nicht Mark Zuckerberg das Fürchten lehr- wundern, wenn Deutschland allen- kümmern. te: „Meine Kündigung hat eine breite falls die Rolle einer digitalen Kolo- Debatte angestoßen, die große Krei- nie zufällt, ferngesteuert aus dem se zog, sogar bis in die USA“, prokla- Silicon Valley“, schreibt Wirtschafts- mierte die ehrgeizige bayerische Poli- woche-Chefredakteur Roland Tichy tikerin. in seinem Editorial. Die mentale Befindlichkeit der selbsternannten Internethausmeis- ter erinnert an das kulturpessimis- tische und elitäre Credo des frühe- ren FAZ-Herausgebers Karl Korn aus den 50er-Jahren: Auto, Flug- zeug und Film verwandelten das

Seite 73 / 161 „Raum- und Zeitgefühl, die Erlebnis- der Bundesregierung für die digitale jedes Schülers genauer analysieren. welten, die bildliche und geistige Vor- Zukunft Deutschlands. Wie die grie- Nach der Unterrichtsstunde könne stellungswelt des Menschen“. Die chische Sagengestalt Theseus einst sich der Lehrer informieren, welche technischen Apparaturen bedingten seinen Weg aus dem Labyrinth des Gruppe von Schülern schon so weit die Passivität der Menschen, schränk- Minotaurus gefunden hat, soll das ist, dass er den Unterricht fortsetzen ten ihre Spontaneität ein. Das Tem- gleichnamige Forschungsprogramm kann, oder welche Schüler eine Hil- po der Maschinen zwinge sich dem Nutzern digitaler Informationen den festellung brauchen, eine Wiederho- menschlichen Rhythmus auf, führe Weg aus dem unstrukturierten In- lung des Stoffs, einen anderen As- zu Hektik – ein konditionierter, passi- formationschaos im Internet wei- pekt, der ihnen das vielleicht klarer ver, gehetzter Mensch sei aber „unfä- sen. 30 Forschungspartner aus Wis- macht. Und dabei könne man dann hig zur Kultur“. Klingt ein wenig nach senschaft und Wirtschaft entwickeln gezielter auf die Schwächen und Fä- den Schirrmacher-Neurothesen über neue Technologien, die Informati- higkeiten der Schüler eingehen. Lieb- die Gehirnerweichung durch übermä- onen intelligent zusammenführen, werteste Gichtlinge, das erfordert In- ßigen Internetkonsum. Zusammenhänge sichtbar machen ternetkompetenz, die in der Politik und damit gespeicherte Daten als leider nicht vorzufinden ist. vernetztes Wissen nutzbar machen. Staatliche Im Auftrag des Wirtschaftsministe- Der Wirtschaftspublizist riums arbeitet die Begleitforschung und Medienberater Gunnar Regulierungssucht im Wesentlichen auf drei Gebieten: Sohn ist Chefredakteur des Profiling, Vernetzung und Ergebnis- Onlinemagazins NeueNachricht. Offenbar halten die politischen Mei- transfer. An der staatlichen Regulie- Zuvor arbeitete er als wissenschaftli- nungsführer die Bürger für Volltrot- rungssucht von Frau Aigner und des cher Mitarbeiter der Konrad-Adenauer- tel, die ohne Anweisungen, Verbote Düsseldorfer Kreises wird sich die- Stiftung und des Instituts für Demoskopie und gesetzliche Regeln in ihr Verder- ses Vorzeigeprojekt die Zähne aus- Allensbach. Bei o.tel.o war Sohn Leiter des ben stolpern. Schaut man sich aber beißen. Büros Unternehmenskommunikation. das Abstimmungsverhalten der CSU- Politikerin Aigner im Bundestag et- was genauer an, erkennt man den Jägerzaunpoli- rabulistischen Trick der Empörungs- spirale. Wenn es um die vermeintli- tiker sollten die che Sicherheit des Staates geht, wer- den sehr schnell die Grundsätze des Entwicklung von Datenschutzes über Bord geworfen. „Made in sollte weltweit für Internet-Exzellenz höchsten Datenschutz im Internet ste- hen“, sagt Aigner und schafft es nach fördern Meinung des Bloggers Richard Gut- jahr doch glatt, dabei nicht rot zu wer- Sind die Jägerzaunpolitiker nicht in den. „Die CSU-Politikerin, die sich der Lage, ihren Gehirnschmalz für so sehr um unsere Daten sorgt, hat die Entwicklung von Internet-Exzel- im Bundestag nicht nur für die Vor- lenz einzusetzen? Beispielsweise in ratsdatenspeicherung gestimmt, son- der Schule. Die endlosen Bildungs- dern auch für das BKA-Gesetz, das u. debatten über Strukturreformen, a. vorsieht: Online-Durchsuchungen von der Ganztagsschule bis zum durch Bundestrojaner, großer Lausch- Turboabitur, gehen am Kern des Bil- angriff (das Abhören und Filmen auch dungsproblems vorbei. An der Qua- in Wohnungen), Telefonüberwachung lität des Unterrichts hat sich nichts mit Handy-Ortung, heimliche Woh- geändert. Schule und Uni seien im- nungsdurchsuchungen, Rasterfahn- mer noch langweilig, kritisiert der dung anhand von öffentlichen oder Universalgelehrte Herbert W. Fran- privaten Datenbanken, Bespitzelung ke, der sich als Physiker, Informati- von Rechtsanwälten und Journalisten“, ker, Kybernetiker, Kakteen-Erkun- stellt Gutjahr fest. der, Entdecker der Marshöhlen und Und was sagt eigentlich die Ver- Science-Fiction-Autor einen Namen braucherschutzministerin zum The- machte. seus-Projekt ihres Kabinettskollegen Jeder Schüler sollte einen Com- Brüderle? Mit einem Gesamtvolumen puter an seinem Arbeitsplatz haben. von rund 200 Millionen Euro ist es Mit ausgeklügelten Lernsystemen das größte Internetforschungsprojekt könnten Lehrer den Wissensstand

Seite 74 / 161 Außer Rand und Band

Peter Schaar · GESETZE ZUR TERRORISMUS-BEKÄMPFUNG

Minister Friedrich Seit den Anschlägen vom 11. Septem- chung und die Anti-Terror-Datei sein. ber 2001 sahen sich Staaten in aller In die Bewertung einbezogen werden hat keinen Blan- Welt veranlasst, mit großer Eile den sollten ferner die auf Entscheidungen Sicherheitsbehörden zusätzliche Be- der Europäischen Union basierenden koscheck. Auch fugnisse einzuräumen. Das deutsche Grundrechtseingriffe, wie die Vor- „Terrorismusbekämpfungsgesetz“ ratsdatenspeicherung oder die Über- Maßnahmen zur etwa räumte insbesondere den Nach- mittlung von Flugpassagier- und richtendiensten Auskunftsbefugnis- Bankdaten. Terrorabwehr müs- se zu Flug-, Bank- und Telekommuni- Viele dieser Befugnisse drin- kationsdaten ein und wurde auf fünf gen tief in die Grundrechte ein und sen ihre Notwen- Jahre befristet. ihre Verwendung wird – wie ande- Auf Basis einer 2005 vorgelegten re nachrichtendienstliche Maßnah- digkeit und Effek- Selbstevaluation der Sicherheitsbe- men – im Regelfall nicht gerichtlich hörden wurden die durch weitere Be- überprüft. Dabei können auch völ- tivität unter Beweis fugnisse ergänzten Regelungen 2006 lig unbescholtene Bürgerinnen und unter dem sperrigen Titel „Terroris- Bürger ins Visier geraten. Wer sich stellen. Anders musbekämpfungsergänzungsgesetz“ unwissentlich im Umfeld eines Ver- schließlich bis Ende 2011 verlängert. dächtigen bewegt, etwa indem er im lassen sich massive Der Deutsche Bundestag verlangte selben Zugabteil sitzt, kann bereits aber eine wissenschaftlich fundier- erfasst worden sein, ohne von einem Eingriffe in unsere te Evaluation, bevor über eine erneu- Terrorhintergrund oder Verdacht je te Verlängerung der Befugnisse ent- erfahren zu haben. Solche Grund- Grundrechte nicht schieden wird. rechtseingriffe mit einem sorgsam rechtsstaatlich austarierten System rechtfertigen. so gering und so selten wie möglich Die Maßnahmen zu halten, muss im Interesse aller liegen. müssen gebündelt Einige Sicherheitspolitiker for- dern nun, die Befugnisse generell bewertet werden zu entfristen, also auf Dauer beizu- behalten. Man beruft sich dabei auf Dabei müssen – der Rechtsprechung die der Bundesregierung vorliegen- des Bundesverfassungsgerichts fol- den Evaluationsstudien, die angeb- gend – nicht nur die einzelnen Befug- lich die Notwendigkeit und Grund- nisse für sich genommen, sondern rechtskonformität der Regelungen auch die zur Terrorismusbekämpfung belegen. Verwunderlich ist dabei vor vorgenommenen Grundrechtseingrif- allem, wie wenig zwischen den ein- fe in ihrer Gesamtschau bewertet wer- zelnen Befugnissen differenziert den. Evaluationsgegenstand sollten wird. Erstaunlich ist auch, dass die daher auch das Gemeinsame Terro- Bundesregierung die Studien der rismusabwehrzentrum, der Zugriff Öffentlichkeit noch immer nicht auf Bankdaten, die Online-Durchsu- präsentiert hat. Nur in deren Kennt- Pressanykey nis wäre es nämlich möglich, deren die mit weitreichenden Eingriffen in Methodik und Ergebnisse zu bewer- Bürgerrechte verbunden sind. Bei- ten und die daraus zu ziehenden Kon- spielhaft kann hier die Speicherung sequenzen fundiert zu diskutieren. und Nutzung von Flugpassagierda- ten zur Gefahrenabwehr und Straf- verfolgung genannt werden. Aber Es fehlt ohne aussagekräftige Nachweise über die Notwendigkeit der Anti-Terror- ein Nachweis Befugnisse sind weder die Effizienz in der Bekämpfung von Terrorismus der Effizienz noch der Schutz unserer Grundrech- te gewährleistet. Die Evaluation kann nicht nur erge- ben, dass Eingriffsbefugnisse verrin- Seit 2003 ist Peter Schaar gert oder Datenbestände verkleinert Bundesbeauftragter für werden. Sie kann auch dazu beitra- den Datenschutz und die gen, dass Ressourcen für Terroris- Informationsfreiheit. 2008 musbekämpfung zielgerichteter ein- wurde er vom Deutschen Bundestag für gesetzt werden. weitere fünf Jahre in seinem Amt be- Auch auf europäischer Ebene ge- stätigt. Schaar ist Lehrbeauftragter für hören die in den vergangenen Jah- Informatik der Universität Hamburg. 2008 ren beschlossenen Regelungen, etwa wurde er für sein Buch “Das Ende der zum erweiterten Datenaustausch der Privatsphäre” mit dem Preis „Das politische Sicherheitsbehörden, auf den Prüf- Buch“ der Friedrich Ebert-Stiftung und mit stand. Ich sehe es kritisch, wenn dem eco Internet Award der deutschen ohne Nachweis der Effizienz und Internetwirtschaft ausgezeichnet. Er ist Grundrechtskonformität der beste- Mitglied der Gesellschaft für Informatik, der henden Regelungen bereits neue Hamburger Datenschutzgesellschaft sowie Maßnahmen vorgeschlagen werden, der humanistischen Union.

Seite 76 / 161 August Der Bau der Berliner Mauer jährt sich zum 50. Mal. Die Angst vor den Ideen

Ed Blakely · MAUERN DIESER WELT

Die Berliner Mauer Mauern rund um Siedlungen, egal ob groß oder klein, gehören zu Sied- ist gefallen, der lungen seit die Menschen ihre noma- dische Lebensweise aufgaben. Men- Geist in dem sie schen verteidigen schon immer ihre Gebiete; Essen wurde immer gehor- errichtet wurde, tet und das Obdach immer geschützt. Es ist also ganz natürlich, dass Men- lebt weiter. Mauern schen Gebiete kontrollieren. Angst liegt als Motiv dabei immer zugrunde; sollen schützen: Angst vor denen, die uns unsere Be- sitztümer nehmen oder sie verändern. vor anderen Das treibt die Menschen an. Das DDR-Regime versuchte, Menschen und „schlechte“ Ideen aus dem Land her- auszuhalten und schürte gleichzeitig vor ihren Ideen. die Angst vor Ideen von außen; diese seien staatsfeindlich und schlecht für Nur politischer die Bürger. Denn Bürger, die mit Ide- en von außen „infiziert“ waren, stell- Mut kann diese ten eine Bedrohung für das Regime dar. Für ihre Erbauer war die Mauer Schutzwälle also in jeder Beziehung ein rechtschaf- fener, vertretbarer Akt. Wie sollten sie niederreissen. einen besseren Staat erschaffen, ohne ihre Bürger vor den Ideen, den Werten und dem menschlichen Kontakt, die ihr Anliegen gefährden würden, zu beschützen? Moderne Mauern

Geschlossene Wohnanlagen (Gated Communities) in ihrer extremsten Ausprägung machen dasselbe. Die der Wohnanlage zugrunde liegenden Tu- genden werden im Clubhaus aufrecht- erhalten. Natürlich braucht man keine Tore, um die zentralen Ideen rein zu halten, aber praktisch alle dieser ge- schlossenen sozialen Gemeinschaf- ten haben einen Tempel oder einen

Seite 78 / 161 Schrein, wo sie ihre Ideen kontrollie- druck für die Paranoia beider politi- schlossenen Wohnanlagen, weil die ren können. Viele haben geschlossene scher Systeme war. meisten Morde im Zusammenhang spirituelle Zentren. Das heißt nicht, Die Berliner Mauer zerbröckelte, mit häuslicher Gewalt geschehen. dass das alles schlecht und falsch ist. als die Unterstützung für sie zusam- Die Berliner Mauer gibt es noch, Es soll lediglich untermalen, dass das menbrach. Sie wurde weder vom Os- aber nicht mehr in Berlin. Ideen und Abschließen von Räumen (sozial und ten noch vom Westen noch gebraucht. Ängste einmauern – das gibt es wei- physisch) eine zentrale Veranlagung Neue Kräfte und Risiken gab es auf terhin auf der ganzen Welt. Mauern des Menschen ist. Menschen wollen der Welt im Überfluss. sind die Versinnbildlichung unseres keine Freiheit. grundlegenden menschlichen An- Der berühmte Psychologe Erich triebs, andere davon abzuhalten, un- Fromm behauptete, dass wir Men- Wir mauern weiter seren sozialen, intellektuellen und schen die Kontrolle über jeden und physischen Raum zu okkupieren. Zu alles haben wollen, mit dem wir in ir- Von Staaten vorangetriebene Mauern erlauben, dass sich menschliche Ide- gendeiner Beziehung stehen. Die Re- bleiben auf der ganzen Welt sichtbar – en und Bewegungen frei bewegen gierung der DDR war sich der ver- in Nordkorea, dem Iran und anderen können – dazu bedarf es eines enor- stärkten Ängste der Menschen nach Regimen, die ihre Grenzen und ihre men politischen Mutes aller politi- dem Zweiten Weltkrieg bewusst. Die Völker kontrollieren. Die Mechanis- schen Systeme in der Welt. Wir leben Menschen waren beschämt; ihre Re- men bleiben dabei dieselben – Kont- jetzt in der „Schönen neuen Welt“, gierung war zum zweiten Mal nach rolle von Raum und Ideen. Die USA in der sich Angst leichter verkaufen einem Krieg zusammengebrochen. errichten eine gewaltige Mauer an lässt als Hoffnung. In dieser Hinsicht war die Mauer ein ihrer südlichen Grenze, um Drogen- Symbol der Hoffnung und nicht der schmuggel ungewollte Einwanderung Der Honorarprofessor für Unterdrückung. Die Bewohner der und Terrorismus zu verhindern. Die- Stadtpolitik am United States westlichen Seite der Mauer waren von se Mauer wird versagen. Die Berliner Studies Centre der Universität der Mauer entsetzt. Ich vermute aber, Mauer fiel, weil die Konzepte, die die Sydney gehört zu den führenden dass viele Menschen in Westdeutsch- Ängste trugen, keinen Bestand hat- Köpfen im Bereich Krisenmanagement. land und in anderen Teilen des Wes- ten. Geschlossene Wohnanlagen wer- Bis 2009 kümmerte er sich um den tens die Mauer als Grenze, die sie von den scheitern, weil sie die Probleme, Wiederaufbau der von Hurrikan Katrina zer- der Tyrannei der Ostseite fernhielt, die sie bekämpfen wollen, lediglich störten Stadt New Orleans. Edward Blakely empfanden. Insofern diente die Mau- offenbaren aber nicht verringern; das ist der Autor zahlreicher Bücher, darunter er beiden Seiten. Sie war ein wunder- heißt, es gibt in geschlossenen Wohn- „Fortress America: Gated Communities in bares Propagandawerkzeug für beide anlagen genauso viele Mordfälle the United States“. Seiten, weil sie ein sichtbarer Aus- auf 1.000 Menschen wie in nichtge-

Seite 79 / 161 August Deutschland bleibt beim „Nein“ zum Libyen-Einsatz. Die internationale Kritik wächst. Vertreibung von der Insel der Seligen

Winfried Nachtwei · DEUTSCHLANDS INTERNATIONALE VERANTWORTUNG

Welche Rolle will Deutschland in der Welt spielen? Pazifistischer Gegenpol zu den USA oder militärischer Mitspie- ler? Die Antwort liegt in der Mitte: Ja zur Friedenspflicht des Grundgesetzes – und damit auch zu Einsätzen, die den globalen Frieden zu verteidigen versuchen.

Die „Verteidigung deutscher Sicher- Damit setzt Minister de Maizière ei- heit am Hindukusch“ (Peter Struck) nen deutlich anderen Akzent als seine verlief bisher mehr als ernüchternd. Vorgänger, unter denen zunehmend Vom UN-mandatierten Libyen-Ein- eine deutsche sicherheitspolitische satz der NATO hält sich die Bundesre- Selbstbezogenheit um sich griff. gierung fern. Die Neuausrichtung der „Internationale Verantwortung mit Bundeswehr soll ihre Einsatztauglich- militärischen Mitteln“ – was soll das? keit verbessern. Zugleich ist die Ein- Nur ein neuer Vorwand, um verlorene satzmüdigkeit der Bevölkerung wie Zustimmung zu Auslandseinsätzen der Politik unübersehbar. zurückzugewinnen? In dieser Großwetterlage betont Verteidigungsminister de Maizière neben der Wahrung nationaler Inter- Stell dir vor es ist essen auffällig die Übernahme inter- nationaler Verantwortung als Aufgabe Krieg, und keiner der Bundeswehr – und deutscher Poli- tik insgesamt. Wohlstand verpflichte. interveniert Bundeswehr/Rott cc-by-nd

Vor dem Hintergrund der deutschen Es geht nur gemeinsam, an erster UN-Friedensmissionen, liegt unter Kriegsgeschichte besteht in der deut- Stelle im Rahmen der Vereinten Na- den Personalstellern aber erst an 44. schen Bevölkerung weiterhin eine tionen. Sie tragen mit ihren Mitglie- Stelle. Minister de Maizière betont breite Ablehnung von Krieg. An mi- dern die Hauptverantwortung für jetzt Offenheit gegenüber Unterstüt- litärische Konfliktlösungen glau- die Wahrung des Weltfriedens und zungsbitten der UN auch in Fällen, ben wenige. Das gilt nicht zuletzt für der internationalen Sicherheit. Sie wo keine unmittelbaren Interessen Bundeswehrangehörige. Eine solche verfolgen das Doppelziel, die Geißel Deutschlands erkennbar sind. Das Grundhaltung ist kein naiver Idealis- des Krieges zu überwinden und zu- ist zu begrüßen! Denn UN-Friedens- mus, sondern überaus begründeter gleich hier und heute Frieden zu si- sicherung ist elementar für Gewalt- Realismus. Allerdings werden daraus chern bzw. gegenüber Friedensstö- eindämmung und Kriegsverhütung verschiedene Konsequenzen gezogen. rern zu erzwingen. Allein die UN weltweit. Hierzu kann Deutschland Die eine: Raushalten aus Kon- haben das Recht, zu diesem Zweck deutlich mehr beitragen. Nicht mit flikten! Hauptsache, Deutschland internationale Militäreinsätze zu großen Truppenkontingenten, son- ist nicht in Kriege verwickelt! Die- mandatieren, wenn die vorrangigen dern mit zivilen und militärischen se Grundströmung geht oft mit der zivilen Mittel nicht ausreichen. Fähigkeiten, die international Man- Frage einher, was Deutschland über- Die UN bei der internationa- gelware sind. Ein solches Verständnis haupt mit Afghanistan, mit dem Kon- len Friedenssicherung und Rechts- von internationaler Verantwortung ist go … zu tun habe. Angesichts der Kon- durchsetzung zu unterstützen, ist das Gegenteil von Militärinterventio- fliktsümpfe, in die man sich weltweit die grundsätzliche Pflicht jedes Mit- nen im Dienste partikularer Machtin- verstricken kann, ist das Grundmotiv gliedstaates – und Übernahme in- teressen. Es entspricht dem Friedens- Raushalten naheliegend. ternationaler (Mit-)Verantwortung auftrag des Grundgesetzes, ohne Die andere Konsequenz stellt fest, nicht nur, aber auch mit militäri- dabei in die Falle eines humanitären dass prinzipielles Raushalten heute schen Mitteln. Interventionismus zu geraten. unmöglich, aber auch kurzsichtig und gefährlich ist. „Stell dir vor, es ist Krieg, Von 1994 bis 2009 saß Winfried und niemand tut was dagegen.“ In der Deutschland Nachtwei für die Grünen im Welt globalisierter Risiken gibt es keine Verteidigungsausschuss des Inseln der Seligen mehr, wo Sicherheit kann helfen Deutschen Bundestages. Er be- für die eigenen Bürger nur national ge- schäftigt sich mit Sicherheitspolitik und dem währleistet werden könnte. Internatio- Deutschland tut das bisher nur halb- Afghanistan-Krieg. Nachtweis Berichte sind nale kollektive Sicherheit und Gewalt- herzig. Die Bundesrepublik trägt im Netz auf www.nachtwei.de zu finden. prävention sind das Gebot der Zeit. wohl circa 8 Prozent der Kosten von

Seite 82 / 161 Westerwelle: Wie lange noch?

Jost Kaiser · FEHLBESETZUNG IM AUSWÄRTIGEN AMT

Der Meisterdi- Können Sie irgendeine Idee, irgend- Ergebnis: null. einen Satz, irgendeine Tat aufzählen Und nach dem Komplettversagen plomat ist das der Außenminister Steinmeier oder beim Thema Libyen im März, stellt Kinkel? Bei Fischer fällt einem nur er sich nun seit ein paar Tagen in die neue Gesicht des ein Zitat ein: „I’m not convinced.“ erste Reihe, um denjenigen, die das Bei Genscher weiß man nur, dass er Leben ihrer Soldaten riskiert haben, deutschen Nati- wohl irgendwie legendär sein soll. wohlfeile Tipps zu geben aus dem Aber beim besten Willen kann man Hochsitz des deutschen Neo-Pazifis- onalpazifismus: sich nicht an die konkreten Taten er- ten. innern, die zu der Legende geführt Erst war es totale Inkompetenz Inkompetenz haben. Er war lange im Amt. Die Le- bei gleichzeitiger Selbstüberschät- gende speist sich aus purem Durch- zung und ungebremstem Sendungs- reicht ihm einfach haltevermögen. Sonst: nichts. bewusstsein. Seit Neuestem kommt Und genau das ist es: so muss es auch noch Dreistigkeit dazu. Und nicht. Es muss sein. Der deutsche Außenminister ist Helmut Kohl, der das Treiben im Bun- ein bequemer Posten, bei dem man deskanzleramt und an Guidos Kat- noch Dreistigkeit nicht viel falsch machen kann, wenn zentisch, dem Außenministerium, man ein paar vernünftige, über sech- offensichtlich auch nicht mehr ertra- dazukommen. zig Jahre erprobte Regeln befolgt. gen kann. An eine Grundpeinlichkeit Westbindung, transatlantische Be- hatte man sich ja über Jahre schon ge- ziehungen, Freundschaft mit Frank- wöhnt. Der Tag, an dem Guido Wes- reich, immer schön kollektiv agieren, terwelle Hobbyaußenminister wurde, nie allein. Schrille Töne vermeiden. offensichtlich als ein Vehikel der per- Bescheidenheit. sönlichen Selbstvollendung, war ein schwarzer Tag für Deutschland. Wie wirkt das Schaffen Westerwel- Zwei Jahre in les in Frankreich oder Großbritanni- en? Wie wirkt das auf Lene Espersen? der Katastrophe Die Außenministerin des kleinen Dä- nemarks, die wackeren Dänen schick- Dass man sich also an sehr viel erin- ten F-16-Jets nach Libyen, sagte da- nern kann, was Guido Westerwelle mals auf CNN, sie sei „stolz“, an der in seiner bisherigen, zwei Jahre wäh- Befreiung Libyens mitwirken zu kön- renden Amtszeit vollbracht hat, ist nen. Stolz ist natürlich auch wieder deshalb kein Kompliment. Es ist eine mal Guido Westerwelle. Jeder habe Katastrophe. Eine erwartbare Katast- seinen Beitrag zum Sturz des liby- rophe. Er hat inzwischen eherne Re- schen Diktators geleistet. Deutsch- geln deutscher Außenpolitik verletzt. lands Beitrag seien eben die Sanktio- Er agierte gegen Frankreich und die nen gewesen, sagt der Mann, dessen USA, er posaunte Ankündigungen Mitarbeit bei der Befreiung Libyens heraus, was er im Sicherheitsrat in der sich exakt beziffern lässt: auf null. Syrien-Frage alles durchsetzen wollte, Es wird im Augenblick viel über © gettyimages den Untergang des bürgerlichen Plenum am heftigsten für den Liby- Selbstverständnisses und dessen par- en-Einsatz plädierten. lamentarischer Vertretung geredet. Man mag die Totalblamage des Hob- Neben der CDU ist das die FDP. Dass byaußenministers für das Ergebnis Westerwelle im März ein ehernes Ge- der Überforderung des Amateurs hal- setz deutscher Politik, nicht gegen ten. In Wahrheit steckt in Westerwel- Frankreich, einer der wichtigsten au- le das Gen des deutschen Nationalpa- ßenpolitischen Pfeiler der Bundesre- zifismus: erst andere die Drecksarbeit publik, in die Tonne getreten hat, war machen lassen und dann strikt da- ein bisher nicht genügend gewürdig- rauf achten, dass diejenigen, die er ter Teil der Selbstdemontage des bür- quasi der Kriegstreiberei bezichtigt gerlichen Lagers. hat, nun ja in Libyen beim Wieder- aufbau deutsche Moralstandards ein- halten. Totalblamage Einst wollte die FDP ein Ministe- rium abschaffen. Es war das falsche. des Hobbyaußen- Das richtige wäre das gewesen, wo jetzt Guido in Riesenstaatsmanns- ministers pose Außenminister simuliert. Wie lange müssen wir Guido Westerwelle Wer damals die Debatten im Bundes- noch ertragen? tag verfolgt hat, bekam ein altbekann- tes deutsches Phänomen zu Gesicht. Jost Kaiser war Blogger bei Vanity Wenn die „Bürgerlichen“ versagen, Fair und kommentierte dort das springen Teile der Sozialdemokra- politische Geschehen im In- und tie, wie immer unter Schmerzen und Ausland. Kaiser ist zudem Autor innerer Zerrüttung, in die Bresche. für die Süddeutsche Zeitung, die Frankfurter Und so waren es Heidemarie Wieczo- Allgemeine Sonntagszeitung, die Zeit und rek-Zeul und Rolf Mützenich, die im den Tagesspiegel. Foto: alle Rechte vorbehalten

Seite 84 / 161 Juli Bei Anschlägen in Norwegen sterben insgesamt 69 Menschen, viele davon Jugendliche. In Deutschland kommt es zur Debatte über Rechtspopulismus. Unser Autor hat Mitleid mit Hen- ryk Broder. Denn Ach Henryk

Broder ist kein Mark T. Fliegauf · MITLEID MIT BRODER wirklicher Rassist nicht schützen. Und so führt Breivik der. Weil der debile Norweger vom – lediglich ein an, er sei grundsätzlich gar kein Geg- Glauben an die Sache getrieben wur- ner der Religion an sich, „sondern ein de, sein kühl berechnendes Berliner schamlos-dreister Kritiker der europäischen Appease- Pendant dagegen den „Kampf der ment-Politik gegenüber dem Islam“. Kulturen“ – ebenso wie jetzt Brei- Opportunist. Darum hat er sich nicht Islamisten, viks Manifest – nur als Mittel zur sondern Sozialdemokraten zum Ziel Selbstdarstellung nutzt. So dienen genommen. Islamophobie und europäische Un- Ich habe Mitleid mit Henryk Bro- Doch stopp! Das Zitat stammt gar tergangszenarien als Vehikel einer der. Denn es muss wehtun, sein eige- nicht von Breivik, sondern von nie- journalistischen Tätigkeit, die über nes Gedankengut im Manifest eines mand anderem als Broder. Denn die- Jahrzehnte im Wesentlichen auf drei rechtsradikalen Terroristen zu finden, ser empfindet die islamischen Kolon- Säulen ruhte: beleidigen, verleum- der nicht weniger als 77 Menschen ab- nen in Berlin, Paris und London als den und denunzieren. Immer unter geschlachtet hat. Nicht nur deshalb so unzumutbar, dass er am liebsten dem Deckmantel der vermeintlich stimme ich Broder zu, dass wir – bei die Flucht ergreifen würde. Allein das „schonungslosen“ Satire … aller Unfassbarkeit der Tat – differen- Alter hält ihn angeblich davor zurück Das mag schamlos sein. Aber dür- zieren müssen. Auch wenn diese Auf- nach Ozeanien auszuwandern, und so fen wir Broder tatsächlich vorwerfen, forderung nicht einer ungewollten muss er weiter die von ihm perzipier- dass er auf diese Weise eine überstei- Ironie entbehrt. Stammt sie doch aus te islamische Vergewaltigung seines gerte Geltungssucht befriedigt, die dem Munde eines Mannes, der den Kontinents mit ansehen. Dabei hat augenscheinlich negativ mit dem ei- Großteil seiner Laufbahn darauf auf- Broder „ja auch kein Problem mit der genen intellektuellen Potenzial korre- gebaut hat, undifferenziert auf An- Migration an sich. Die Debatte ist kon- liert? Denn immerhin hat er sich so dersdenkende einzuhämmern: zentriert auf die Moslems. Und das von den „St. Pauli Nachrichten“ zu Welcher nicht nur stets das breite hat Gründe, die in der Kultur liegen, „Tagesspiegel“ und „Welt“ emporge- Spektrum linker Meinungen über ei- die sie mit in die Bundesrepublik ge- poltert – eine preisverdächtige Leis- nen Kamm schert, sondern auch die bracht haben. Dass wir diese Probleme tung, wie nicht nur Helmut Markwort Trennung von Islam und Islamismus mit Chinesen nicht haben, nicht mit findet. Daher kann der mittlerweile für überflüssig hält sowie sich – selbst- Vietnamesen, mit Thailändern und Ja- im „Bürgertum“ beheimatete Broder verständlich reflektiert – an der Ein- panern, das sagt doch schon alles “. sehr wohl zwischen seinesgleichen sicht ergötzt, dass „1,3 Milliarden Mus- Nein, Henryk Broder hat mit Si- und rassistischen Radikalen wie Brei- lime in aller Welt … chronisch zum cherheit nicht den Amoklauf Breiviks vik unterscheiden, um wenige Zeilen Beleidigtsein und unvorhersehbaren veranlasst. Gesinnungsbrüder sind später selbige Differenziertheit – zwi- Reaktionen neigen.“ Und der beinahe sie trotzdem, weil beide ihre Umwelt schen „Mainstream“- und radikalem jede Form von Israel-Kritik mit dem in ein Schmitt’sches Freund-Feind- Islam – wieder fallenzulassen. Nur Stigma des Antisemitismus behaftet Schema unterteilen, welches Broders darauf ansprechen sollten wir ihn bes- und so mundtot zu machen sucht. Las- Verteidiger ausgerechnet seinen Kriti- ser nicht, weil sonst die Broder’sche sen Sie es uns dennoch tun … kern unterstellt. Und in dieser zweige- Keule aus „Stasi und Waffen-SS“ auf teilten (Schein-)Welt von Gut und Böse uns einzuschlagen droht … befinden wir Europäer uns im Überle- Anders Breivik ist ein Rassist. Hen- Breivik & Broder benskampf. Weshalb Broder zum Fe- ryk Broder ein Opportunist. Beide derhalter greift – während sich Breivik sind ganz arme Würstchen … Mitleid! Anders Breivik hat aus einem Antrieb stattdessen Glock und Ruger bediente. gehandelt: Er wollte die scheinba- Journalist. Politologe. re Islamisierung Europas aufhalten. Kommentator. Fliegauf lehrt Denn dem journalistisch-politischen Rassist Führung und Politik an der LMU Komplex, durchzogen von Linkslibe- München und promoviert an der ralität und Multikulturalismus, fehle & Opportunist University of Cambridge. Der volontierte dazu offensichtlich die Kraft. Die Po- Journalist mit sozialem Gewissen hat in litik könne und wolle das Abendland Und dennoch trennen Anders Breivik München, Tokio und Harvard studiert und vor den hereinbrechenden Muslimen und Henryk Broder Welten voneinan- versucht sich derzeit als Ruderer auf der Isis. Foto: alle Rechte vorbehalten. Cara-Irina Wagner Seite 86 / 161 Lasst das Fragen sein

Alexander Kissler · DER MASSENMORD ZU OSLO

Der Schock hält Knapp einhundert Menschenleben preisgebe. Wir lesen von kalter Ag- hat Anders Breivik auf dem Gewis- gression und Mentalisierungsstrate- weltweit an, der sen – so er denn eines hat. Der 32-jäh- gie, vom hyperaktiven Dopamin-Be- rige Mann exekutierte in außeror- lohnungssystem. Wir hören von einer Zorn wächst: dentlicher Kaltblütigkeit rund 80 zerrütteten Familie, von der Mitglied- Teilnehmer eines Ferienlagers für Ju- schaft bei den Freimaurern, vom Spiel Warum nur hat gendliche, nachdem er zuvor im Re- mit christlichen Versatzstücken. Im- gierungsviertel von Oslo eine Bom- mer neue Zitate aus seinem 1500-Sei- Anders Breivik so be gezündet hatte. Seit die traurigen ten-Manifest tauchen auf, das in wei- Nachrichten aus dem sonst für seinen ten Teilen übel zusammengeleimt viele Menschen sozialen Ausgleich gerühmten Norwe- sein soll. Anders Breivik gefiel sich gen am vergangenen Freitag über die offenbar in der Rolle eines Luzifers, ermordet? Jedes Welt hereinbrachen, beherrscht wie eines Lichtbringers im bewaffneten üblich nach Amokläufen, Attentaten, Kampf gegen Marxisten, Muslime, Warum aber ist Massenmorden die eine Frage die Me- Multikulturalisten. dien: Warum? Allein, kein einziger Satz wird die hier ein Warum Antwort enthalten auf das große Wa- rum. Kein Experte wird je sagen kön- zu viel. Wir wollen nen, aufgrund welcher familiären oder neuronalen oder weltanschauli- begreifen, was sich chen Besonderheit der blonde Einzel- gänger die bestialische Tat letztlich nicht greifen lässt ins Werk setzte. Nicht nur Kausal- ketten nämlich machen unser Leben Allzu menschlich ist dieses Erkennt- aus, sondern auch Sprünge. Nicht nur nisinteresse. Wir wollen verstehen, Gründe, auch Abgründe führen zu Ta- was ganz unverständlich scheint. Wir ten. Und jenseits aller kleinteiligen Er- wollen begreifen, was sich nicht grei- klärungsmuster gibt es immer auch fen lässt, wollen erklärt bekommen, das große Ganze, das ewig Gute und was sich in uns partout nicht klä- das unrettbar Böse. ren will. Wir suchen nach Kausalket- ten, weil wir gelernt haben, dass jede Wirkung eine Ursache, jede Tat ihren Das Böse war und Grund hat, der, einmal nur gefunden, alle folgenden Haltungen gleichsam ist und wird sein wie von selbst auffächert. Wir gehen zu unserem Besten davon aus, dass Wir haben uns sehr daran gewöhnt, immer ein Feuer ist, wo wir einen dass alles Tun in tausend Einzeltei- Rauch sehen. Da aber irren wir uns. le sich zergliedern lässt, deren jedes Um unserem Erkenntnisinteresse einzelne so oder ganz anders betrach- abzuhelfen, werden wir traktiert mit tet werden kann. Der Schritt nach vor- „Psychogrammen“. Die Seelenschrift ne, heißt es dann, kann dich auch zu- des Anders Breivik soll entschlüs- rück führen, was dem einen schadet, selt werden, damit sie ihr Geheimnis frommt dem anderen ganz ungemein,

Seite 87 / 161 Vegard Sætrenes cc-by-nd alles sei relativ bedeutsam, relativ gut, Der Kolumnist schreibt neben relativ schlecht. Meistens treffen wir seinem Engagement bei The damit exakt ins Schwarze unserer Le- European regelmäßig für benswelt. Manchmal zimmern wir das Magazin “Focus” und uns damit aber ein Brett vor dem Kopf für “Cicero”. Viele Jahre war er Autor und müssen erkennen: Das Böse exis- der “Frankfurter Allgemeinen” und der tiert. Es sucht sich heute dieses, mor- “Süddeutschen Zeitung”. Er hat Neuere gen jenes Kleid, und lässt uns immer deutsche Literaturwissenschaft, ratlos zurück. Es triumphiert ganz Mittlere und Neuere Geschichte sowie höhnisch, wenn wir uns vergebens Medienwissenschaft in Marburg den Kopf zermartern. studiert. Mit einer Arbeit über den Souverän also wäre der Mensch, deutsch-jüdischen Schriftsteller Rudolf der sich erschüttern, bewegen, auf- Borchardt wurde er dort 2002 promo- rütteln lässt und wachsam bleibt, der viert. Mehr über Alexander Kissler und aber nicht die Sinnfrage am untaugli- seine Veröffentlichungen auf www. chen Objekt wieder und wieder stellt. alexander-kissler.de. Jedes Warum ist hier ein Warum zu viel. Das Böse war und ist und wird sein. Mehr gibt es zu Anders Breivik nicht zu sagen.

Seite 88 / 161 Juli Der Deutsche Bundestag stimmt für die be- grenzte Zulassung der Präimplantations- diagnostik. Die PID-Zulassung durch den Bundestag ist eine wich- tige und richtige Entscheidung. Es geht um einen guten und gleichberechtigten Start ins Leben; daran ist nichts verwerflich. Wir müssen Kranke und Behinderte wo im- mer wir können unterstützen, am Einsatz gegen Behinde- rungen ist hingegen nichts Verwerfliches festzustellen. Abgedroschene Contergan-Logik

Michael Schmidt-Salomon · PID-ZULASSUNG

Ethische Werte sind uns nicht objek- nige Menschen emotionale Beziehun- tiv vorgegeben, sondern müssen unter gen zu empfindungslosen Zellkör- den Menschen auf der Basis ihrer je- pern auf – was insofern sinnvoll ist, weiligen Interessen ausgehandelt wer- da etwa die Hälfte aller natürlich ent- den. Auch wenn es Gläubige gibt, die standenen Embryonen in den ersten Probleme mit dieser Aussage haben, Schwangerschaftswochen abstirbt. so ist sie doch Grundlage des „Gesell- Woher stammt also das Interesse am schaftsvertrags“, auf dem der moder- Erhalt der Embryonen? ne Rechtsstaat beruht. Fragen wir uns also, welche indivi- duellen Interessen durch PID berührt Glaubenssatz werden: Zunächst könnte man mei- nen, dass in erster Linie die Interes- der „Simultan- sen der Embryonen betroffen seien. Allerdings haben frühe Embryonen, beseelung“ die problemlos eingefroren und wie- der aufgetaut werden, keinerlei Emp- In erster Linie ist hier der Glaubens- findungen. Sie kennen weder Lust satz der „Simultanbeseelung“ im Mo- noch Schmerz. Deshalb verfügen sie ment der Verschmelzung von Sa- auch nicht über Interessen, die in ethi- men- und Eizelle zu nennen, der für schen Güterabwägungen berücksich- Katholiken erst im Jahre 1869 verbind- tigt werden könnten. lich wurde. Zuvor ging die katholische Ein Interesse an der Erhaltung Kirche von der Idee der „Sukzessivbe- menschlicher Embryonen haben da- seelung“ aus, die Schwangerschafts- her allenfalls Personen, die sich der abbruch vor dem dritten Monat legiti- Existenz dieser Embryonen bewusst mierte. Klar ist: Wer glaubt, dass mit sind. Allerdings bauen nur sehr we- der Befruchtung der Eizelle „heiliges DVIDSHUB

Leben“ entstehe, der muss die Zuläs- dafür belobigen, dass sie die mensch- sigkeit der PID, der Spirale und des Kranke und liche Vielfalt im Zuge des Contergan- Schwangerschaftsabbruchs bestrei- Skandals so effektiv beförderte. Dies ten. Deshalb ist es zweifellos das gute Behinderte jedoch wäre – im Unterschied zur PID Recht der Gläubigen, für sich selbst – tatsächlich „behindertenfeindlich“! PID und Schwangerschaftsabbruch unterstützen abzulehnen. Allerdings haben sie Der promovierte Philosoph ist nicht das Recht, anders denkenden Das häufig vorgebrachte Argument, Mitbegründer und seit 2004 Menschen die Möglichkeit vorzuent- die Auswahl gesunder Embryonen Vorstandssprecher der Giordano- halten, diese Verfahren zu nutzen. laufe auf eine Herabsetzung von Be- Bruno-Stiftung. Schmidt-Salomon Schließlich sollten mündige Bür- hinderten hinaus, widerspricht nicht ist Mitglied der “Forschungsgruppe gerinnen und Bürger in einem libe- nur den empirischen Erfahrungen Weltanschauungen in Deutschland”, sowie ralen Gemeinwesen tun und lassen in den Ländern, die PID praktizie- Mitglied des Darwin-Jahr-Komitees. Zu dürfen, was sie wollen – solange es ih- ren, es ist auch theoretisch wider- seinen Veröffentlichungen zählen u.a. nen nicht mit guten Gründen verbo- sinnig: Nach dieser „Logik“ müssten die philosophischen Werke „Jenseits ten werden kann. Solche „guten, ver- wir auch Impfungen gegen Kinder- von Gut und Böse“, „Leibniz war kein allgemeinerungsfähige Gründe“ gibt lähmung abschaffen, weil diese eine Butterkeks“ und „Manifest die evolutionären es für ein Verbot der PID jedoch nicht, Diskriminierung von Menschen mit Humanismus“. Die Schwerpunkte seiner wie im Gutachten der Giordano-Bru- Kinderlähmung zur Folge haben Arbeit sind Anthropologie, Praktische no-Stiftung dargelegt wurde. Wenn könnte. Wer halbwegs klar denkt, Ethik, Gesellschaftstheorie, Religions- und sich Eltern gegen einen genetischen sollte begreifen, dass wir Kranke und Ideologiekritik. Schmidt-Salomon ist zudem Defekt entscheiden, dann liegt ihr Behinderte mit allen zur Verfügung als Sänger, Kabarettist und Komponist tätig. Motiv darin, Belastungen ihres künf- stehenden Mitteln unterstützen soll- tigen Kindes zu vermeiden, ihm opti- ten – nicht aber Krankheit und Be- male Startbedingungen für das Leben hinderung. Wären Behinderungen zu schenken und selbst auch zusätzli- bloß Ausdruck unterstützenswer- chen Mühen zu entgehen. Hieran ist ter „Vielfalt“, wie manche meinen, nichts verwerflich. müsste man die Grünenthal GmbH

Seite 91 / 161 Rette Birgit Kelle · PETER SINGERS ZWEIFELHAFTE ETHIK Peter Singer glaubt, im Na- sich, Ein großer Humanist, Menschen- men der Ethik und Tierfreund, oder ein zynischer Menschenverachter? – Die Meinun- die Grenzen des gen über den Philosophen und aus- tralischen Professor Peter Singer Menschseins könnten geteilter nicht sein. Kürz- wer lich verlieh die atheistische Giordano- neu definieren Bruno-Stiftung dem Tierfreund Sin- ger in Frankfurt einen Ethik-Preis für zu können. Er dessen Einsatz, Menschenaffen mit Menschenrechten auszustatten. Es irrt gewaltig. Wer schleicht sich der Gedanke ein, dass kann hier nicht einfach nur Tiere auf ei- Grundrechte für nen Status erhöht werden sollen, der bislang nur dem Menschen zustand, Affen fordert und sondern vielmehr der Mensch auf den Status eines Tieres degradiert wird. gleichzeitig die Tötung von Neuge- Die Degradierung borenen verteidigt, des Menschen ist vor allem eins: Nichts gegen Tierschutz, doch die De- batte ist eigentlich eine andere. Sie verwirrt. rüttelt an den Grundpfeilern unseres Selbstverständnisses als Menschen, dass wir eine Spezies sind, die in sich eine eigene Würde trägt und sich da- mit von den anderen Lebewesen ab- hebt. So steht es in unserem Grund- gesetz. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist da. Sie wird nicht zugeteilt. Von Anfang an, schon im- mer, für jeden – manche sagen, von Gott, jedenfalls unumstößlich gebun- den an unsere Existenz. Da ist Peter Singer anderer Mei- nung. „Speziesismus“ nennt er die in seinen Augen falsche und willkürli- che Einteilung in Lebewesen mit und ohne Menschenrechte nur auf Grund ihrer biologischen Art. Ein Anrecht auf Leben ergibt sich für ihn aus an- deren, utilitaristischen Eigenschaften: der Fähigkeit, Schmerz und Glück zu empfinden und sich seiner selbst be- wusst zu sein. Diese Fähigkeiten hät- ten auch manche Tiere, manche Men-

Seite 92 / 161 schen haben sie seiner Meinung nach behindertes Kind als zumutbar emp- jedoch nicht. Aha. finden – oder eben nicht. Im Sinne ei- Lassen wir mal beiseite, dass ich ner postnatalen Abtreibung. nicht genau weiß, wie Peter Singer Damit verstößt man nicht nur ge- die Selbstwahrnehmung oder gar das gen die UN-Konvention für die Rech- Glücksempfinden bei Tieren mes- te von Menschen mit Behinderungen, sen will. Jeder Hund, dem man einen auch für die Selektion zwischen le- Knochen vorwirft, wedelt vor Glück benswertem und nicht lebenswertem mit dem Schwanz. Aber macht ihn Menschsein in der PID-Debatte ist das zu einem Lebewesen mit Anrecht damit klar: Ein Vier-Zeller hat kein auf Menschenwürde? Bewusstsein, wir dürfen ihn also tö- Die Frage, was wir sind und wann ten. Wie herrlich einfach. Es ist kein wir beginnen zu sein, wird derzeit in Mensch, er wird es erst, wenn wir der PID-Debatte heiß diskutiert. Da ihn dafür halten. Mit solchen An- wird definiert und gefeilscht um den sichten konnte man auch während Beginn des Lebens und somit auch des Nationalsozialismus ganz groß das Anrecht auf Leben und Würde, rauskommen. als ließe sich das mit einem Regler auf Damit würde ein Tor geöffnet, der Zeitleiste des Lebens beliebig ver- das wir nie wieder zubekommen. schieben. Wenn das Anrecht auf menschen- würdiges Leben von den historisch, gesellschaftlich, politisch oder wis- Wann ist senschaftlich unterschiedlichen Zugeständnissen des Einzelnen ab- der Mensch hängt, ist niemand mehr seines Le- bens sicher. Dann hätte das Recht ein Mensch? des Stärkeren gesiegt und wir wä- ren in der Tat nicht mehr als Tiere. Auch dafür hat Peter Singer viele Ant- worten, die ihm Lob bei sogenann- Die freie Journalistin ist seit ten Humanisten einbringen und ent- Oktober 2010 Member of schiedenen Widerstand von Christen, the Board der New Women Lebensschützern und gerade auch Be- For Europe (NWFE), hindertenverbänden. Denn eine Kop- ein Dachverband für Frauen- und pelung des Lebensrechtes an die ei- Familienverbände in Europa mit gene Wahrnehmung lässt Lücken Beraterstatus am Europäischen aufbrechen für Menschen, bei denen Parlament. Sie ist verheiratet und dieselbe durch Behinderung, Krank- Mutter von vier Kindern. Geboren 1975 heit, Koma oder junges Lebensalter in Siebenbürgen, Rumänien, 1984 eingeschränkt ist. So will Singer etwa übergesiedelt nach Deutschland. Von das Lebensrecht von Neugeborenen in 2005 bis 2008 Herausgeberin der die Hand von Eltern und Ärzten legen, christlichen Monatszeitung VERS1. Sie die bis zum Alter von 28 Tagen ent- ist Vorsitzende des deutschen Vereins scheiden dürfen, ob sie ein eventuell Frau 2000plus e.V.

Seite 93 / 161 Juli In den Sommermonaten vertieft sich die Krise der EU. Die Debatten um einen griechischen Schuldenschnitt und die Zukunft des Euro entzweien die Union. Wir hatten einen Traum

Georg Schulze Zumkley · EUROPA IM 21. JAHRHUNDERT

Europa wurde Vor 125 Jahren wurde Robert Schu- christlichen Botschaft waren solche man geboren. In seinen Worten und fundamentalen Grundsätze und Ide- von starken Euro- Taten liegen die Wurzeln Europas. en noch nie formuliert oder auch geis- Heute braucht Europa einen Robert tige Grundlage eines Herrschaftssys- päern aufgebaut. Schuman, in dessen Worten und Ta- tems geworden.“ ten die Zukunft liegt. Das Funda- Das Haus Europa hat ein idealisti- 125 Jahre nach ment, auf dem wir stehen, sind der sches Fundament, bauen aber lässt es Frieden in Europa und die Einigung sich nur mit materiellem Erfolg. Stabi- der Geburt Robert des Kontinents. Sie sind das histori- lisierung des Euro und die wirtschaft- sche Vermächtnis Robert Schumans liche Entwicklung sind vordringlichs- Schumans fehlen und der Staatsmänner seiner Genera- te Aufgaben. Doch Schuman mahnt: tion. Aus ihm wachsen die Werte, auf „Europa kann schwerlich eine Ein- diese Köpfe. die die Union sich gründet und für die flusszone sein, die irgendeiner politi- sie in der Welt eintritt, nachzulesen schen, militärischen oder wirtschaft- Dabei ist das im Vertrag über die Europäische Uni- lichen Vormacht zur Ausbeutung on: die Achtung der Menschenwür- vorbehalten ist, sondern es muss, um Modell Europa de, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, real zu existieren, vom Prinzip glei- Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung cher Rechte und Pflichten für alle weiterhin wegwei- der Menschen- und Minderheiten- miteinander verbundenen Länder be- rechte. stimmt werden.“ Es ist das Prinzip der send: als Vorbild Gleichheit und Solidarität aller Mit- gliedstaaten, das die Union erfolg- für Gleichheit Idealistisches reich macht. Wer hat heute die Größe, den Weg aus Krisenmanagement und und Solidarität Fundament, Interessenausgleichspolitik im Ideal eines Europas der Gleichen zu finden? untereinander. materieller Erfolg Für das Wirken der Union nach au- ßen gilt auch heute, was Robert Schu- Wer würde aber heute noch das Be- man am 9. Mai 1950 verkündete, als kenntnis wagen, das Robert Schuman er die historische Erklärung über die 1959 in einem Vortrag vor jungen Ab- Gründung einer Montanunion abgab: geordneten ablegte. Wer würde wie „Der Friede der Welt kann nicht ge- er die Wurzeln Europas nicht nur als wahrt werden ohne schöpferische An- kulturelles, religiöses und humanis- strengungen, die der Größe der Bedro- tisches, sondern als christliches Erbe hung entsprechen. Der Beitrag, den Europas bezeichnen? „Die Demokra- ein organisiertes und lebendiges Eu- tie verdankt ihre Entstehung und Ent- ropa für die Zivilisation leisten kann, wicklung dem Christentum; sie wur- ist unerlässlich für die Aufrechterhal- de geboren, als der Mensch berufen tung friedlicher Beziehungen.“ Auf- wurde, die Würde der Person in indivi- gabe Europas und seiner transatlan- dueller Freiheit, den Respekt vor dem tischen Partner ist es, als „Vereinigte Recht des anderen und die Nächsten- Staaten des Westens“, den gemeinsa- liebe gegenüber seinen Mitmenschen men Grundwerten weltweit Geltung zu verwirklichen. In der Zeit vor der zu verschaffen.

Seite 95 / 161 TCY

am 9. Mai 1950 die Erklärung ver- Europa als Vorbild lesen hatte, die das Schicksal Euro- pas in neue Bahnen lenken sollte, gab für die Welt ihm zuletzt die Frage eines Journalis- ten die Gelegenheit zu einer Lektion Die Ereignisse in der nordafrikani- über politischen Mut: „Ist es also ein schen Nachbarschaft stellen uns vor Sprung ins Ungewisse?“ – Schuman die Aufgabe, Menschen zu helfen, die bejahte unerschrocken: „C’est cela, un friedlich dafür demonstrieren, dass saut dans l’inconnu.“ Wer vereint heu- ihre Würde, ihre Freiheit und ihre te Wurzeln, Ideal und Vision mit sol- Rechte endlich respektiert werden. Vi- chem politischen Mut? sionär hat Robert Schuman diese Auf- Europa sucht den Robert Schuman gabe Europas schon am 9. Mai 1950 des 21. Jahrhunderts. formuliert: „Diese Produktion wird der gesamten Welt ohne Unterschied Er arbeitete als Wirtschafts- und Ausnahme zur Verfügung ge- anwalt, bis er 2003 in den stellt werden, um zur Hebung des Le- Auswärtigen Dienst eintrat. Von bensstandards und zur Förderung der 2004 bis 2006 arbeitete Schulze Werke des Friedens beizutragen. Eu- Zumkley in der Rechtsabteilung des ropa wird dann mit vermehrten Mit- Auswärtigen Amtes, danach als stellvertre- teln die Verwirklichung einer seiner tender Leiter der Public-Diplomacy-Abteilung wesentlichsten Aufgaben verfolgen der deutschen Botschaft in Washington können: die Entwicklung des afrikani- und in der Abteilung Strategische schen Erdteils.“ Kommunikation des Auswärtigen Amtes. 125 Jahre nach Robert Schumans Derzeit nimmt er eine Tätigkeit als Berater Geburt braucht Europa Persönlich- für Außen- und Sicherheitspolitik im keiten wie ihn. Nachdem Schumann Deutschen Bundestag wahr.

Seite 96 / 161 Ein Schlussstrich unter die Union

Alan Sked · EUROPA IN DER KRISE

Vielleicht müssen wir umdenken, vielleicht hat die EU ihren Zweck erfüllt. Zu hoch Eisenbahner cc-by Europa braucht eine demokratische scheint der Preis, Revolution, wenn das Volk die not- Das europäische wendigen strukturellen Reformen zur der gefordert Rettung des Euro unterstützen soll, Ideal sieht sich argumentierte ich im Juli. wird. Vielleicht war es vorhersehbar, aber einer Realitäts- die von den Eliten diskutierten Hilfs- maßnahmen umgehen allesamt den prüfung gegenüber demokratischen Prozess. Die reiche- ren Staaten wollen noch immer, dass Das wird nicht funktionieren: Solan- die ärmeren die Hauptlast der Wirt- ge es kein System gibt, welches Trans- schaftskrise tragen, während der län- ferzahlungen aus Deutschland und gerfristige Plan zu sein scheint, in anderen Staaten nach Griechenland, aller Heimlichkeit den Prototypen ei- Italien oder Spanien mittels einer ech- ner Fiskalunion zu schaffen: die na- ten Fiskalunion erlaubt, werden die tionalen Regierungen werden ihre Staatsschulden der PIIGS bestehen Parlamente bitten, Maßnahmen zur bleiben. Errichtung eines gemeinsamen Rege- Allerdings können nur demokra- lungssystems für die Finanzen zu er- tische Abstimmungen in allen EU- lassen, umgesetzt von einer einzigen Mitgliedsländern solch einen Annä- Regulierungsbehörde. herungsversuch in Richtung einer

Seite 97 / 161 föderalen Regierung legitimieren. Das europäische Ideal sieht sich jetzt Vielleicht brauchen also einer Realitätsprüfung gegen- über: Verstehen sich die Europäer tat- wir die EU gar sächlich als Bürger eines Landes? Glauben sie tatsächlich, sie hätten ge- nicht mehr meinsame ethische, soziale und po- litische Normen? Wollen sie ihre Er- Nationale föderale Staaten mögen sparnisse und Gehälter miteinander funktionieren, aber internationale tun teilen? Vertrauen sie sich gegensei- es nicht. Man betrachte nur die Res- tig und darauf, dass jeder die Regeln sentiments in Kanada, welche durch befolgt und nicht betrügt? Wäre eine das französischsprachige Quebec ent- Fiskalunion eine Lösung für Europas standen sind. Oder die Spannungen, Probleme oder ein wirtschaftlicher die die Scottish National Party im Ver- Selbstmordpakt? einigten Königreich verursachte. Man stelle sich nur einmal vor, was passie- ren würde, wenn in den USA Texas Keine Fließband- oder Kalifornien Spanisch als Amts- sprache einführen würden. Es dürfte europäer, keine daher keine sehr gute Idee sein in Eu- ropa eine neue Form von Habsburg- Plastik-Union Monarchie zu schaffen. Vielleicht hat die EU ihren Zweck Einige von uns betrachten Europa erfüllt. Vielleicht ist ihre Arbeit der eher als ein System von Staaten denn Versöhnung der Staaten nach der Zer- als einzelnen Staat. Wir streben ge- störung des Dritten Reichs, der Sowje- meinsame Werte an, aber erkennen tunion und Jugoslawiens getan. Viel- auch, dass Europa eine vielfältige Ge- leicht brauchen wir die EU gar nicht meinschaft von historischen Akteu- mehr. Sicher ist, dass der nun gefor- ren mit unterschiedlichen politischen derte Preis außerordentlich hoch und sozialen Kulturen ist – eine Viel- scheint. falt die toleriert und respektiert wer- den sollte. Übersetzung aus dem Englischen Wenn Brüsseler Bürokraten ver- suchen “Fließbandeuropäer” für eine An der London School of “Plastik-Union” zu schaffen, lehnen Economics unterrichtet er wir das als uneuropäisch und unmög- moderne europäische und lich ab. Wir mochten die EFTA, die es amerikanische Geschichte. Alan den Nationalstaaten erlaubte, mitein- Sked ist Mitgründer der “UK Independence ander zu handeln ohne die ersticken- Party” und war von 1993 bis 1997 deren de Decke der zentralen Regulierung. Vorsitzender. Aus Protest gegen rechtspo- Wir glauben noch immer, dass die Eu- pulistische Strömungen ist er inzwischen ropäer friedlich und in Wohlstand zu- aus der Partei ausgetreten. Sked ist Autor sammen leben können, außerhalb der mehrerer Bücher und Berater der BBC in Zwangsjacke eines Bundesrechts. historischen Fragen, unter anderem zur aktuellen Dokumentation “Abraham Lincoln: Saint or Sinner.” Er wurde in Schottland geboren und lebt in London.

Seite 98 / 161 Heirat nicht ausgeschlossen

Andre Wilkens · DIE TÜRKISCH-EUROPÄISCHE FREUNDSCHAFT

Die Türken haben Erdogan mit ei- des Internationalen Währungsfonds. ner komfortablen Mehrheit wieder- Ein großer Teil der Türkei war bettel- gewählt. Der Wahlausgang war für arm, und Arbeitsmigration nach Eu- die meisten Beobachter nicht überra- ropa war für viele Türken die einzige schend. Also, nichts Neues in der Tür- reale Möglichkeit, ihre Lebensbedin- kei? gungen mittelfristig zu verbessern. Ein starkes Europa, In der Balkonrede nach Erdogans Einen möglichen EU-Beitritt unter- erstem Wahlsieg 2002 war die Ori- stützten 70 Prozent der türkischen eine schwache Tür- entierung an Europa und das klare Bevölkerung und verbanden damit Ziel der EU-Mitgliedschaft das zent- vor allem wirtschaftlichen Wohl- kei - das war ein- rale Thema. In seiner Siegesrede im stand und politische Stabilität. Jahr 2006 spielte Europa noch eine Zehn Jahre später scheint die Si- mal. Viel hat sich gewisse, wenn auch schon stark abge- tuation nun spiegelverkehrt. Die EU schwächte Rolle. In seiner Balkonrede ist inmitten einer Finanz-und Iden- in den letzten zehn am 12. Juni 2011 kam die Europäische titätskrise. Der EU-Verfassungsent- Union schließlich überhaupt nicht wurf wurde in französischen und Jahren verändert, mehr vor. Manche in Europa wird das niederländischen Referenden abge- freuen. Ich bin jedoch der Meinung, schossen. Übrig blieb der technokra- die Euroskepsis dass uns das sehr zu denken geben tische Lissabon-Vertrag, der aber die sollte – nicht nur wegen des bilatera- wichtige Frage der wirtschaftlichen ist zurückgekehrt. len Verhältnisses zwischen der EU und finanzpolitischen Regierungs- und der Türkei, sondern auch wegen führung ausließ. Dafür wurden zwei Trotzdem gibt es der heutigen Stellung und Attraktivi- neue EU-Chefposten geschaffen und tät Europas an sich. mit Leuten besetzt, die auch heute nur einen Weg: noch kaum jemand kennt. Außen- politisch hat die EU viele Chancen gemeinsam unter Umgekehrte vertan, wie sich beim Klimagipfel in Kopenhagen und kürzlich beim dem Banner der Vorzeichen Arabischen Frühling zeigte. Die Fi- nanzkrise 2008 traf die EU härter EU in die Zukunft. Um diese neue Europa-Abstinenz in als anfangs gedacht und legte die der Türkei zu verstehen, lohnt es sich, systemischen Schwächen des Euro die Situation vor zehn Jahren mit der offen. Seit 2009 ist die EU in einem heutigen zu vergleichen. Vor zehn permanenten Krisenmanagement Jahren war die EU selbstbewusst, opti- gefangen. mistisch und auf dem Höhepunkt ih- Weiter südlich hatte die Türkei rer Entwicklung. Die Osterweiterung demgegenüber eine außerordent- war in vollem Gange, der Euro wurde lich gute Dekade. Die Wirtschafts- eingeführt, die erste europäische Ver- leistung vervierfachte sich und die fassung wurde entworfen. Zeitgleich Türkei erfreut sich stabiler politi- kämpfte die Türkei mit einer schwe- scher Rahmenbedingungen. Sie ren Finanzkrise und hing am Tropf hat sich zu einem respektierten au- Kema Keur

ßenpolitischen Akteur mit „Soft Pow- kreativen Entfaltung. Die Türkei wird er“ entwickelt. Bis tief in das anatoli- sich weiter dynamisch entwickeln, sche Hinterland sprüht die Türkei vor wobei eine Überhitzung mit mögli- Selbstbewusstsein und Optimismus. chen wirtschaftlichen Rückschlägen Im Zehnjahresrückblick ist die Euro- nicht ausgeschlossen ist. Ob die Tür- pa-Abstinenz in Erdogans Balkonre- kei ihre wichtige politische Stabilität de also leicht nachzuvollziehen. und ihre Reformdynamik behalten kann, wird auch davon abhängen, ob Erdogan seine autoritären Tendenzen Wir brauchen zügeln kann. Eine weiter stabile und prosperie- einander rende Türkei und eine sich erholende EU sollten die Basis für eine erneute Aber es muss nicht bei diesem Trend Annäherung sein – Heirat nicht aus- bleiben. Europa wird sich letztend- geschlossen. lich aus der Euro-Krise befreien, sei- ne Strukturen und Personalien neu Andre Wilkens ist Leiter Strategie ordnen und seine Führungsrolle bei der Stiftung Mercator und leitet innovativen, wissenschaftsintensiven das Mercator Projekt Zentrum Industrien ausbauen. Europas „Soft Berlin. Für Europa engagiert er Power“ bleibt stark als Raum der De- sich unter anderem als Gründungsmitglied mokratie, der Menschenrechte, der des European Council on Foreign Relations starken sozialen Netzwerke und der und Initiator der Engagierten Europäer, ei- ner Stiftungskoalition zur Stärkung Europas.

Seite 100 / 161 Juni Deutschland zieht die Konsequenzen aus der Fukushima- Krise vom 11. März. Der Atomausstieg ist beschlossene Sache. Und tschüss!

Tarek Al-Wazir · DEUTSCHLAND STEIGT AUS

Endlich! Deutsch- Endlich – 31 Jahre nach Gründung der Grünen ist absehbar, dass das Atom- land steigt aus zeitalter in Deutschland zu Ende geht. Schrecklich, dass für diesen Ausstieg der Kernenergie aus dem schwarz-gelben Ausstieg aus dem rot-grünen Ausstieg erst ein aus. Auch wenn GAU in Fukushima nötig war. Die Grünen wären nicht die Grü- der schwarz- nen, wenn sie nicht auch das Klein- gedruckte in 700 Seiten Gesetzent- gelbe Plan seine würfen lesen und prüfen würden – Schwarz-Gelb hat zum Beispiel wei- Schwächen hat, tere Verschlechterungen im Erneuer- bare-Energien-Gesetz geplant. Schade sollten die Grünen auch, dass Schwarz-Gelb das Umwelt- bundesamt ignoriert und nicht den ihn ohne Zögern dort als machbar berechneten Termin 2017 als Enddatum gewählt hat. unterstützen - und weiterhin die Ein grünes Ja Energiewende zum Ausstieg forcieren. Bis 2022 Ich bin trotzdem der Meinung, dass die Grünen am 25. Juni auf einem bleibt viel zu tun. Sonderparteitag die Chance eines All- parteienkonsenses zum endgültigen Ausstieg aus der Atomkraft ergreifen sollten und ich bin überzeugt, dass sie es am Ende auch mit großer Mehr- heit tun werden. Wie die großen Demonstrationen im Herbst 2010 zeigten, gab es im- mer eine Mehrheit gegen die Lauf- zeitverlängerung und für einen Aus-

Seite 102 / 161 stieg. Es besteht jetzt die Chance, nicht nur die Laufzeitverlängerung Kernthema zurückzunehmen, sondern die einzel- nen Atomkraftwerke mit einem fes- Energiewende ten Datum des Produktionsendes zu versehen und dies mit allen relevan- Die Hoffnung manch anderer Partei- ten politischen Kräften zu beschlie- en, dass den Grünen damit ihr ureige- ßen. Das ist das Höchstmaß an Un- nes Thema abhandenkommt, ist aus umkehrbarkeit des Atomausstiegs, meiner Sicht irreal. Der Atomausstieg was in der Demokratie zu erreichen alleine ist noch keine Energiewende. ist. In diesem Punkt noch einmal eine Lange vor den anderen Parteien ha- Kehrtwende hinlegen – das ist ab jetzt ben die Grünen Sonnenkollektoren vorbei. Ein Konsens mit einem festen und Windräder zum Thema gemacht. Ausstiegsfahrplan bringt genau das, Aus diesen Anfängen entwickelte sich was es bisher in der Energiepolitik in seitdem von gut situierten mittelstän- Deutschland nicht gab: größtmögli- dischen Betrieben bis hin zu Welt- che Planungssicherheit für die Ener- marktführern wie der nordhessischen giewende. Firma SMA eine ganze Industrie mit Und es gibt eine weitere Frage, Hunderttausenden Beschäftigten. die die Grünen bei einem Nein zum Die Meinungsführerschaft und die Atomgesetz beantworten müssten Kompetenz in Sachen Energiewende und dies nur schwer könnten: Wie- werden noch lange bei den Grünen so kämpft ihr jahrzehntelang für das bleiben. Aber selbst inhaltliche Kon- Ende der Atomkraft und stimmt dann kurrenz ist in dieser Frage aus unse- dagegen, wenn es passiert? Auf die- rem Interesse an der Sache heraus zu se Frage lässt sich nur schwer mit begrüßen. Im Gegensatz zur FDP ha- „weil nach 2019 von ursprünglich 20 ben wir uns ja in den letzten 17 Jahren noch sechs Atomkraftwerke für drei nicht systematisch auf ein Thema ver- Jahre in Betrieb sind“ und schon gar engt, sondern uns aus der Kernkom- nicht mit „weil das neue kerntech- petenz Umwelt heraus systematisch nische Regelwerk weiterhin nicht in verbreitert. Bildung, Integration, Fa- Kraft gesetzt wird“ antworten. Der milie, Wirtschaft sind die Felder, in Atomausstieg in Deutschland ginge denen uns inzwischen große Teile der noch schneller, aber er ist der welt- Bevölkerung etwas zutrauen. weit schnellste, und das liegt nicht an Es gilt der Satz von Winfried Angela Merkel, sondern an der star- Kretschmann: „Viele Politiker und ken Anti-AKW-Bewegung und star- Journalisten überschätzen die Infor- ken grünen Partei in Deutschland. miertheit der Bürgerinnen und Bür- Der Ausstieg wird nur dann zu Ange- ger – und unterschätzen deren Ur- la Merkels Projekt, wenn die Grünen teilsfähigkeit.“ Ich freue mich auf die ihn jetzt ablehnen. Energiewende in Deutschland – mit starken Grünen.

Ob es nun Andrea Ypsilantis Verhalten oder Dagmar Metzgers Nein war – die Landes-SPD zerstörte Tarek Al-Wazirs Träume von einer rot-grünen Regierung in Hessen. Der 1971 in Offenbach geborene Grünen- Politiker hatte die Aussicht, Umweltminister im Ypsilanti-Kabinett zu werden.Im hes- sischen Landtag macht er heute grüne Oppositionspolitik. Foto: © gettyimages

Seite 103 / 161 Zurück zur Vernunft

Wade Allison · REAKTORKATASTROPHE IN JAPAN

Zehntausende sind Obwohl in Japan mehrere Reakto- ren zerstört worden sind, gibt es bis- durch den Tsuna- her keinen einzigen Strahlentoten. Das wird wahrscheinlich auch so mi in Japan ge- bleiben. Bei dem Unfall in Harris- burg 1979 gab es keine Strahlenop- storben, die Über- fer. Im Fall von Tschernobyl kommt der letzte Bericht der UN vom 28. Fe- lebenden frieren bruar zu dem Ergebnis, dass 28 der Arbeiter durch direkte Bestrahlung und hungern. Und ums Leben gekommen sind, dazu gab es 15 Todesopfer durch Schilddrü- die ganze Welt senkrebs. Das hätte man vermeiden können, wenn rechtzeitig Jodtablet- redet nur über die ten ausgegeben worden wären (so wie jetzt in Japan). In jedem Fall sind die Strahlenpanik. Konsequenzen relativ klein, vor allem im Vergleich mit den Opferzahlen bei Diese Ängste sind Chemieunfällen. In Bhopal starben 3.800 Menschen, nachdem giftige fehlplatziert. Wir Dämpfe freigesetzt worden waren. brauchen Fakten Die Gefahr statt Vorurteile. ist geringer als angenommen

Die Zahlen legen nahe, dass die Ge- fahr durch Kernstrahlung weitaus ge- ringer ist als gemeinhin angenom- men. Zur Zeit des Kalten Krieges wurde uns beigebracht, dass Kern- strahlung eine besondere Gefahr dar- stellte und nur von ausgewiesenen Experten hinter verschlossenen Tü- ren erforscht werden durfte. Zu den Nebeneffekten dieser Aussage gehör- te unter anderem die Einführung im- mer strengerer Strahlungsrichtlinien,

Seite 104 / 161 Elena Filatova um die Menschen zu beruhigen. Die Körpers betrifft. Die Gefahr liegt also unlösbares Problem ist es nicht. Kann Strahlenbelastung sollte „so gering nicht in der Strahlung selbst. Viele Pa- ich damit leben, wenn 100 Meter un- wie realistisch möglich“ gehalten wer- tienten nehmen mehrfach an Strah- ter meinem Haus ein Endlager einge- den. Auch heutige Normen basieren lentherapien teil und werden dabei richtet würde? Klar, warum nicht. noch auf diesem Ideal. Sie liegen bei jeweils dem 20.000-Fachen der jähr- Und schließlich geht es auch um einem Millisievert pro Jahr. lichen Strahlendosis ausgesetzt. Ein die Reaktorsicherheit. Moderne Re- Der Mensch kann Kernstrahlung – Zeichen, dass die Normen komplett aktoren sind besser konstruiert als anders als zum Beispiel Wärmestrah- unverhältnismäßig sind. die Anlage in Fukushima. Die nächs- lung oder Licht – nicht direkt wahr- te Generation wird noch sicherer sein. nehmen. Das verstärkt den Eindruck Wir müssen die Technologie konstant einer unsichtbaren Bedrohung. Doch Vorurteile weiterentwickeln – und als Erstes auf- der menschliche Organismus kann hören, uns vor der angeblichen Strah- sich gut gegen Strahlung wehren, vie- hinterfragen lengefahr zu fürchten. le Zellen erholen sich innerhalb we- niger Tage, falls sie durch Strahlung Wir müssen umdenken und unsere Mit der Eröffnung des geschädigt würden. Wir wissen aus Vorurteile gegenüber der Kernenergie Kernforschungszentrums CERN radiobiologischen Experimenten, dass hinterfragen. Aufklärung ist ein ers- entdeckte Wade Allison sein die Schutzmechanismen des Körpers ter Schritt. Die Grundfrage ist nicht, Interesse für Physik. Er studierte in bereits wenige Stunden nach Bestrah- wie wir die Strahlendosis weitestge- Cambridge und Oxford, seit 1976 unter- lung im Gange sind. In Tschernobyl hend minimieren können, sondern richtet er Teilchen- und Experimentalphysik sind die meisten Arbeiter gestorben, wie viel Strahlung der menschliche an der Physikalischen Fakultät der Uni nachdem sie einer Strahlendosis von Körper verträgt. Dabei geht es auch Oxford. 2006 veröffentlichte er das Buch über 4.000 Millisievert ausgesetzt um die Verhältnismäßigkeit im Kon- “Fundamental Physics for Probing and waren. Doch schon während einer text anderer Gesundheitsrisiken. Ein Imaging” zu den physikalischen Grundlagen Strahlentherapie wird Tumorgewe- guter Ansatz wäre vielleicht, „relative der medizinischen Radiologie. Seit 2008 be mit bis zu 20.000 Millisievert be- Sicherheit“ als Standard festzusetzen. ist Allison offiziell emeritiert, unterrichtet strahlt. Der Organismus wird geheilt Radioaktiver Abfall ist weiterhin jedoch weiterhin. Sein aktuelles Buch und nicht geschädigt, weil die Thera- eine Herausforderung. Doch die Men- “Radiation and Reason” beschäftigt sich mit pie sich über einen längeren Zeitraum ge ist relativ klein und kann theore- der kulturellen Rezeption von Strahlung und zieht und nur einen kleinen Teil des tisch wieder aufbereitet werden. Ein Kernenergie.

Seite 105 / 161 Juni Die Inhaftierung des chinesischen Künstlers und Dissidenten Ai Weiwei sorgt für Diskussionen. Die Berliner Akademie der Künste bietet ihm eine Stelle an. Kulturgut statt Kulturkampf

Monika Grütters · AUSWÄRTIGE KULTUR- UND BILDUNGSPOLITIK

Es wäre naiv zu Die Bedeutung der Kulturpolitik hat enorm zugenommen. Dazu gehört glauben, dass es auch, sich immer wieder Rechen- schaft abzulegen darüber, warum eine Absage der und wie wir Kulturpolitik in Deutsch- land und auch unsere Kulturpolitik Ausstellung zur im Ausland verstehen, wie wir sie ge- stalten. Die Auswärtige Kultur- und Aufklärung auch Bildungspolitik (AKBP) ist heute ein integraler Bestandteil der Außenpoli- nur einen chinesi- tik der Bundesrepublik Deutschland, deren grundsätzliche Aufgabe es ist, schen Funktionär Verbindungen zu anderen Kulturen und Ländern herzustellen, diese zu umgestimmt pflegen und dabei gleichzeitig einen Beitrag zur Wahrung und Förderung hätte. Ai Weiwei der deutschen Interessen im Ausland zu leisten. ist inhaftiert, und Die Aufgaben werden durch eine Vielzahl unabhängiger Mittlerorga- er wäre inhaftiert nisationen wahrgenommen. Gerade in hermetischen Gesellschaften er- geblieben. Wir reichen wir so die betroffene Zivilge- sellschaft über unser Engagement am brauchen offene besten: In Nordkorea mit einem Le- sesaal, in Afghanistan mit Mädchen- Kulturpolitik schulen, in Teheran (Iran) haben wir die Verträge mit DAAD und DAI wie- genau in diesen der unterschrieben, in Vietnam den „Parzifal“ mit einheimischen Schau- Situationen – sie spielern aufgeführt, in China waren wir vor zwölf Jahren die erste Nation, ist oftmals die ein- die ein Kulturinstitut eröffnen konn- te, heute sind die wir die Einzigen, die zige Verbindung zwei haben. von geschlossenen Im Dienst der Gesellschaften zur Menschenrechte Außenwelt. In China ist die Ausstellung zur „Auf- klärung“ durch die drei großen deut- schen Museumszentren im neuen

Seite 107 / 161 Chinesischen Nationalmuseum auf dem Platz des Himmlischen Frie- Es gilt, Haltung dens am 1. April eröffnet worden, kurz drauf wurde vor den Augen der Welt zu bewahren der wohl berühmteste Künstler Chi- nas, Ai Weiwei, verhaftet. Seitdem se- Wir sind nicht so naiv zu glauben, hen wir uns Vorwürfen ausgesetzt, dass wir auch nur einem einzigen wir seien naiv, degradierten uns mit Funktionär den Kopf verdrehen Großprojekten wie diesem zur Deko- könnten; aber die Menschen, die un- ration totalitärer Regime, und das al- ter den Restriktionen leiden, für die les im Zweifelsfall der wirtschaftli- sind unsere Kultur-, Bildungs- und chen Interessen wegen. Ich kann dazu Kooperationsangebote oft der einzige nur sagen: Wir machen Museumspo- Hoffnungsschimmer. Daher gilt jetzt litik nicht statt Menschenrechte, son- mehr denn je, auch und nicht zuletzt dern im Dienst der Menschenrech- in China: Haltung bewahren. Denn te. Ziel unserer Anstrengungen sind gerade in hermetischen Gesellschaf- in der Regel nicht die Administrati- ten haben wir mit dem Prinzip Wan- on, die Politik oder deren Funktionä- del durch Annäherung über die Kul- re, sondern die Zivilgesellschaft – die tur weit mehr erreicht als über die Menschen. Politik, die Wirtschaft, die Diploma- Einen trotzigen Abbruch der deut- tie. schen Ausstellung zur „Kunst der Auf- Wir groß die Kraft der Kultur ist, klärung“ in Peking lehne ich ab, denn haben die Chinesen genau dadurch einen Wettlauf der Rigorismen haben demonstriert, dass sie gerade einen wir alle nicht nötig. Eine Schließung Künstler seiner Freiheit beraubt ha- würde keinen chinesischen Funktio- ben. In unserem Kulturverständ- när beeindrucken und schon gar nicht nis verbreiten wir Werte wie Freiheit, zur Freilassung Ai Weiweis führen, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz – und sondern vor allem das deutsche Ge- weltweit haben diese Kulturen noch wissen beruhigen. Die Schließung der jedes politische System überlebt. Ausstellung wäre ein Einknicken ge- genüber dem System. Denn wer Ate- Die Vorsitzende des Ausschusses liers verwüstet, der verwüstet auch die für Kultur und Medien (seit Seelen der Menschen. 2009) ist seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages und seit 2008 erste stellvertretende Landesvorsitzende der CDU Berlin. Von 1995 bis 2005 war Grütters Mitglied im Abgeordnetenhaus von Berlin und Wissenschafts- und kulturpolitische Sprecherin der CDU-Fraktion. Seit 1999 ist sie Honorarprofessorin an der Freien Universität Berlin. Sie ist außerdem Sprecherin des Vorstandes der Stiftung “Brandenburger Tor” der Landesbank Berlin Holding AG.

Seite 108 / 161 Friedbert Pflüger · HERAUSFORDERUNG ROHSTOFFMANGEL

Wenn China Die ausreichende Versorgung neuen Supermacht noch Drohungen mit Rohstoffen ist durch den stei- und letztlich auch keine WTO-Klagen. beschließt, die genden Bedarf der dynamischen Das Fazit? Wir müssen uns schon Schwellenländer und die zuneh- selbst helfen. Und das ist möglich: Seltenerdmetalle mende Abhängigkeit hochtechno- Zunächst muss die Recycling-Quote logischer Industrieprodukte von in Europa wesentlich verbessert wer- selber zu brau- strategischen Rohstoffen zu einer den. Metalle sind ohne Qualitätsver- zentralen Herausforderung für lust wiederverwertbar, 2007 wurden chen, dann guckt Wirtschaft und Politik in Europa 35 Prozent des weltweiten Kupferver- geworden. Wenn Deutschland und brauchs so gewonnen. Das Recycling die westliche Welt Europa nicht zu den Verlierern ge- von metallischen Abfällen und Schrot- hören wollen, müssen Politik und ten ist eine enorm wichtige Rohstoff- in die Röhre. Da Wirtschaft schnell handeln. quelle, sie ist unsere heimische Mine, Rund 95 Prozent der heutigen neudeutsch „urban mine“. hilft kein Jammern Produktion von sogenannten Selte- nen Erden stammen aus dem Reich und Klagen, wir der Mitte. Der Verbrauch von Sel- tenen Erden steigt und um diesen müssen uns selber globalen Mehrbedarf wissend, ha- ben die Chinesen in den vergange- aus dieser Abhän- nen Jahren regelmäßig ihre Export- Im quoten gesenkt und die Steuern auf gigkeit befreien. Ausfuhren erhöht. China will im weltweiten Hochtechnologiesektor endlich mitreden. Durch Joint Ven- tures mit ausländischen Firmen sollen Produktionsstätten nach Tief- China verlagert und technisches Know-how importiert werden. Die jahrelange Arbeitsteilung, dass die Industriestaaten Hightech-Produk- te herstellen und der Rest der Welt die Rohstoffe liefert, dürfte damit bau gebrochen werden. Im Zweifel nutzen weder zu Drohungen noch Klagen

Was ist angesichts dieser Lage zu Berge tun? Die EU, Japan und die USA er- wägen, China bei der WTO anzu- klagen. Aber werden die westlichen Industrieländer es tatsächlich auf einen Handelskrieg mit dem Reich der Mitte ankommen lassen? Wenn wir China zu dem Ergebnis kommt, dass es aufgrund der begrenzten Eigenreserven die Seltenen Erden selbst benötigt, dann nutzen weder Appelle an die Verantwortung der ziehn Seite 109 / 161 © gettyimages

Gibt es die Möglichkeit, bei uns in Politik und an Investoren aus der euro- fes zu fordern – langfristig wird sich Deutschland wieder Bergbau zu be- päischen Industrie, um sich im harten eine Politik auf der Grundlage ethi- treiben? Ansätze dazu gibt es z.B. Weltrohstoff-Geschäft zu behaupten. scher Mindeststandards nicht nur als im Harz (Technische Universität moralisch überlegen, sondern auch Clausthal) oder im Erzgebirge (TU als wirtschaftlich erfolgreicher erwei- Bergakademie Freiberg). Aber nir- Ethische und sen. Ressourcensicherung wird nur gendwo gibt es bisher einen Durch- nachhaltig sein, wenn sie in den Ent- bruch. Europa muss stärker in die wirtschaftliche wicklungsländern nicht in erster Linie Forschung von Ersatzstoffen inves- Rohstofflager, sondern Partner sieht. tieren. Gerade die deutsche che- Überlegenheit mische Industrie ist theoretisch in Der Staatssekretär d.D. ist der Lage, zahlreiche Seltene Erden Der Wettbewerb um Rohstoffe wird Direktor und Mitgründer des in einigen Jahren zu substituieren. hart, die Menschen in den Rohstoff- European Centre for Energy and Vor allem aber: Wir brauchen wie- ländern dürfen nicht wie früher aus- Resource Security (EUCERS) der ein global tätiges Unternehmen, gebeutet werden, sondern sollten am King’s College London. Er leitet den das sich – wie einst die Metallgesell- vom Abbau und Handel mit Rohstof- Rohstoff-Arbeitskreis der Atlantik-Brücke. schaft oder die Preussag – wieder an fen profitieren. Kurzfristig mag es Pflüger war 2005 und 2006 Staatssekretär der Exploration und Produktion von ein Wettbewerbsnachteil gegenüber im Verteidigungsministerium und von 2002 Rohstoffen direkt beteiligt. In Hei- den Chinesen sein, die Debatte über bis 2005 CDU-Fraktionschef im Berliner delberg wurde 2006 die Deutsche Blutdiamanten und Konfliktrohstof- Abgeordnetenhaus. Er ist seit 2006 Rohstoff AG gegründet, noch fehlt es fe zu führen, Zertifizierungen über Mitglied im Vorstand der Europäischen jedoch am notwendigen Rückhalt in die Abbaugeschichte eines Rohstof- Volkspartei (EVP).

Seite 110 / 161 Juni Die dänische Regierung überlegt, Grenzkontrollen innerhalb des Schengen-Raumes wieder einzuführen. Visa-Mikado

Elmar Brok · GRENZKONTROLLEN IM SCHENGEN-RAUM Die Freizügigkeit der EU ist eine ihrer größten Errungen- schaften - sie infrage zu stellen, ist gleichsam ein Angriff auf das Fundament der Union. Die Verteidiger der europäischen Idee müssen nun handeln; notfalls knallhart.

Wenn wir uns heute die Europäi- Bürger verstoßen. Zweitens wird ge- men. Wie sollte man jetzt also im Fall sche Union ansehen, dann ist eine gen bestehendes Recht, nämlich das Dänemark konkret vorgehen? Falls ihrer größten Errungenschaften die Schengen-Abkommen, verstoßen. Dänemark weiter an seinem Vorha- Freizügigkeit der Bürger, denn diese Drittens sind durch Schengen die Be- ben permanenter Grenzkontrollen symbolisiert Vertrauen, Frieden und kämpfung der Kriminalität und ins- festhalten wird, sollte die Europäische Freiheit in einem Europa, welches gesamt die Sicherheitslage in der EU Kommission schnellstens eine Kla- vormals durch Kriege und Konflik- besser geworden. Das heißt, es wäre ge vor dem Europäischen Gerichts- te zerrissen war. Diese Reisefreiheit kontraproduktiv, Grenzkontrollen zu hof erheben! Die dänische Regierung einzuschränken und wieder perma- dem Zweck der Eindämmung der darf sich nicht von fremdenfeindli- nente Grenzkontrollen einzuführen, grenzüberschreitenden Kriminali- chen Rechtsaußen-Populisten aus in- wie Dänemark es plant, setzt das Be- tät einzuführen. Kriminelle werden nenpolitischen Gründen zu einem stehen der EU insgesamt aufs Spiel, nicht durch Zufallskontrollen gefasst, solchen Rechtsbruch drängen lassen. denn damit kann ein gefährlicher sondern durch grenzüberschreiten- Es kann nicht sein, dass Grundfra- Dominostein in Bewegung gesetzt de Kooperation, wie im Rahmen von gen der EU durch die Schwäche der werden. Was das für Auswirkun- Europol und dem Schengen-Koope- dänischen Regierung infrage gestellt gen haben könnte, wenn Dänemark rations- und Informationssystem be- werden! Um die Zukunft der EU, un- weitere Staaten folgen würden, mag kämpft. Viertens geht Dänemark in seren Frieden und unsere Sicherheit man sich gar nicht vorstellen: Die populistischer Weise vor – mit der zu sichern, müssen wir jetzt handeln Rückkehr zur Abgrenzung und wahren Sicherheitslage hat das nichts – konsequent und notfalls knallhart. zum Misstrauen zwischen den Mit- zu tun! Denn was sollen Kontrollen an Denn nichts weniger steht hier auf gliedsstaaten, die in die Reflexe der der deutsch-dänischen Grenze zur Lö- dem Spiel. schrecklichen nationalstaatlichen sung des Flüchtlingsproblems beitra- Vergangenheit zurückfallen, wäre gen? Schon seit 1980 ist er Mitglied eine der fatalsten Entwicklungen am des Europäischen Parlaments. Anfang des 21. Jahrhunderts! Denn Von 1999 bis 2007 leitete Elmar davon hängt nicht nur Wohlstand Konsequent Brok dessen Ausschuss für und Frieden, sondern auch unsere Auswärtige Angelegenheiten. Nach einem Durchsetzungsfähigkeit auf inter- und notfalls nicht zu Ende gebrachten Politik- und nationaler Bühne ab. Jurastudium arbeitete Brok zunächst als knallhart handeln Rundfunk- und Zeitungsjournalist. 1973 trat er der Jungen Union bei. Seit 1994 gehört An der Wir haben einen Vertrag mit Däne- er dem Landesvorstand der nordrhein-west- mark, von dem man nicht einfach fälischen CDU an, seit 2004 dem CDU- Realität vorbei unilateral abweichen kann. Das Euro- Bundesvorstand. In Brüssel und Straßburg päische Parlament, welches Änderun- sitzt er für die EVP und arbeitete für sie Das Verhalten Dänemarks ist aus gen des Schengen-Systems zustim- federführend im Konvent für die Verfassung mehreren Gründen inakzepta- men muss, wird dies nicht einfach der Europäischen Union. bel. Erstens wird ohne gravieren- tolerieren. Das EP ist jetzt auch in die- den Grund gegen die europäischen sen Fragen der Gesetzgeber, an dem Grundrechte und Interessen der die Mitgliedsländer nicht vorbeikom-

Seite 112 / 161 Juni EHEC-Alarm in Deutschland. Über 4000 Menschen erkranken am durch Bakterien hervorgerufenen HUS-Syndrom, 50 sterben. Krankheit Die Seuchen- bekämpfung gemeldet, in Deutschland krankt an der Bürokratie. Ganze Patient tot 14 Tage können Reinhard Kurth · vergehen, bis die PROBLEME DER EPIDEMIEBEKÄMPFUNG Ausbrüche gefähr- Am 15. März 2003, einem Samstag, erreichte früh um 8 Uhr ein Anruf licher Krankheiten aus dem Gesundheitsamt Frankfurt das Robert-Koch-Institut: eine offen- auf offiziellem sichtlich mit SARS infizierte Familie würde in zwei Stunden in Frankfurt Weg gemeldet landen. SARS, eine akute und oft töd- liche Lungeninfektion unbekannter sind. Mit solchen Genese, von Mensch zu Mensch über- tragbar, wütete seit Wochen in Südost- Abläufen lassen asien und war der Schrecken der dort lebenden Menschen. sich Infektionen Was tun? Patienten isolieren, me- dizinisches Personal schützen, Thera- nicht verhindern. pien versuchen. Die schnelle Identifi- zierung eines völlig neuartigen Virus war eine Glanzleistung einiger deut- scher Virologen. Die Patienten über- lebten, der Ausbruch konnte geogra- fisch begrenzt werden. Frankfurt, Hessen und der Bund kooperierten ziemlich erfolgreich. Superkeim EHEC

EHEC ist auch ein Ausbruch, aber geografisch weitläufiger und damit schwieriger zu bekämpfen. Die in meist gesunden Wiederkäuern ubi- quitär verbreiteten Darmbakterien werden fäkal ausgeschieden und kön- nen über Verunreinigungen in die Le- bensmittelherstellung gelangen. Die meldepflichtige Erkrankung tritt je- des Jahr auf. Der jetzige Ausbruch mit seinen vielen als HUS bezeichne- ten schweren Verläufen ist das größ-

Seite 114 / 161 Schoelzy / Photocase.com te jemals in Deutschland registrierte wehr erst dann eingreifen darf, wenn ren. Gelassenheit ohne Nachlässigkeit EHEC-Seuchengeschehen. der Hausbesitzer seine Zustimmung könnte beruhigen und wirtschaftli- EHEC 2011 illustriert gleicher- gegeben hat. Grotesk. che Schäden mindern. Die notwendi- maßen die Stärken und Schwächen gen neuen Strukturen sind auch ohne der Seuchenabwehr in Deutschland neue Mammutbehörden denkbar. – und die gesellschaftliche Reaktion Der Krankmacher SARS wurde erfolgreich abge- darauf. Das Infektionsschutzgesetz wehrt. Nach HIV/AIDS, Rinderwahn- regelt unter anderem, dass melde- des Föderalismus sinn, Vogel- und Schweinegrippe wer- pflichtige Erkrankungen von den dia- den auch zukünftig immer wieder gnostizierenden Ärzten über die über EHEC ist rein epidemiologisch gese- neue Ausbrüche oder gar Epidemien 400 örtlichen Gesundheitsämter an hen relativ unbedeutend. Nach dem uns beunruhigen. Wir besitzen die die Landesgesundheitsministerien 11. September 2001 und den Milz- Werkzeuge, damit erfolgreich umzu- und von dort schließlich an das RKI brandbriefen in den USA sind bio- gehen. Wir müssen nur einmal die gemeldet werden müssen. Der Vor- terroristische Szenarien von ganz Werkstatt aufräumen. gang darf 14 Tage dauern. Im Einzel- anderem Ausmaß und Schweregrad fall akzeptabel, bei Ausbrüchen aber vorstellbar. Alarm- und Abwehrpläne Der gebürtige Dresdner stu- völlig unbefriedigend und kontra- liegen im RKI vor. Sollte bei einem, dierte zunächst Medizin, produktiv. Krankenhäuser informie- zugegeben derzeit extrem unwahr- Molekularbiologie und Biochemie ren deshalb nicht selten gleichzeitig scheinlichen Anschlag auch erst der bevor er in die Virusforschung auch das RKI. Eigentlich eine Geset- Instanzenweg eingehalten werden? ging. Nach verschiedenen Berufsstationen zesumgehung, die niemanden auf- Die Konzentration seuchenhygi- in Tübingen, Frankfurt/Main und London regt, weil sie hilfreich ist. Der Bund enischer Verantwortung beim Bund wurde er 1996 erst kommissarischer Leiter hat bekanntlich bis auf Ausnahmen würde auch eine effektivere Informa- und 2001 schließlich Präsident des Robert- keine Exekutivgewalt nach innen, was tion der Öffentlichkeit über die Medi- Koch-Instituts in Berlin. Für seine Arbeit er- dazu führt, dass im RKI eine sehr gut en ermöglichen. Angst, gar Hysterie, hielt er zahlreiche Auszeichnungen, u.a. das ausgebildete, hoch motivierte und ein- könnte erfolgreicher durch sachliche Große Verdienstkreuz und den Deutschen satzbereite Task Force vorgehalten Aufklärung begegnet werden. Mei- AIDS-Preis. Seit 2008 ist Reinhard Kurth wird, die aber erst tätig werden darf, nungsführerschaft durch den Bund Vorsitzender des Stiftungsrates der wenn sie aus den Bundesländern da- würde selbsternannte Experten zü- Schering-Stiftung Berlin. rum gebeten wird. Als ob die Feuer- geln und die Kakophonie reduzie- Foto: RKI/Ossenbrink

Seite 115 / 161 Mai Google und China streiten sich über Zensur im Netz. Gleichzeitig wird die Firma vom Konkur- renten überholt: Mit einem Schätzwert von 153 Milliarden Dollar gilt Apple als wertvollste Marke der Welt. „Informationen sind billig, Deutungen sind teuer“

George Dyson · DIE ZUKUNFT DER EVOLUTION Er wuchs auf am Institute for Advanced Study in Princeton, baute Kajaks in Kanada und forscht seit den 80er-Jahren zur Zukunft des Internets. The European sprach mit dem Wissenschaftshis- toriker George Dyson über die Katalogisierung des Internets, künstliche Intelligenz und die Definiti- on des Lebens.

The European: Verändert sich unsere formen haben? Wir haben in der Ge- Dinge am Horizont, bevor sie pas- ethische Landkarte durch technologi- schichte mehrfach gesehen, wohin sierten. In den 1950ern haben sie be- sche Innovationen? fehlende Empathie führen kann. Ich reits über moderne Computertechno- Dyson: Wir forschen an den Gren- hoffe einfach, dass wir die Fehler der logie nachgedacht und konzeptionell zen der Ethik – nicht nur bei Compu- Vergangenheit nicht wiederholen. an Ideen gearbeitet, die erst Jahr- tern, sondern oftmals im Bereich der Welche Antworten kann die Wis- zehnte später realisiert wurden. Die biologisch-technologischen Innovati- senschaft auf diese ontologischen Fra- Arbeit war sehr theoretisch, weil die onen. Wem gehört unsere DNS? Was gen liefern? praktische Umsetzung zur dama- passiert, wenn jemand den DNS-Code Ich bin der Sohn eines Physikers, ver- ligen Zeit einfach unmöglich war. entziffert? Dürfen wir genetische In- trauen Sie mir also nicht zu sehr. Ich Und die Arbeit war auch sehr offen formationen verkaufen und Handel bin aufgewachsen mit der Idee, dass für moralphilosophische Argumente, damit treiben? Das sind sehr wichti- die Physik der Philosophie einiges vo- weil manche der Ideen enormes Po- ge ethische Fragen. Auf einer höheren raushatte. Die Forscher, die in meiner tenzial hatten, im Guten wie im Bö- Ebene sind wir alle Teil des gleichen Kindheit am Institute for Advanced sen. Gerade aufgrund dieser Unvor- Universums. Heißt das, dass wir eine Study in Princeton arbeiteten, waren hersagbarkeit war es wichtig, sich mit Verbundenheit mit anderen Lebens- ihrer Zeit weit voraus. Sie sahen die der Moral zu befassen.

Seite 117 / 161 Sie argumentieren, dass Google ein Problem, das ansonsten unvor- Jahre sind ein evolutionärer Augen- unsere Idee eines Computers nachhal- stellbar kompliziert wäre. blick. In den letzten dreißig Jahren al- tig verändert hat: Weg vom arithmeti- Googles Problem war nicht das lein haben wir den Grundstein gelegt schen Modell, das auf der Verfügbar- Sammeln der Informationen, sondern für Veränderungen, die heute noch keit aller notwendigen Informationen die sinnvolle Kontextualisierung? gar nicht abzusehen sind. aufbaut. Und hin zu einem Wahr- Genau. Wir leben in einer Welt, in der Unsere Aufgabe ist es jetzt, diesen scheinlichkeitsmodell, das Netzwerke Informationen potenziell endlos sind. rasanten Fortschritt zu lenken? und Informationsmuster analysiert. Informationen sind billig, Deutungen Wenn Sie zu einer unbekannten In- Es gibt viele Formen der computerge- sind teuer. „Was heißt das?“ ist heute sel aufbrechen, haben Sie keine kon- stützten Berechnung. Die klassische die zentrale Frage. Das können nur kreten Erwartungen, Sie sind of- deterministische Rechenweise ist nur Menschen beantworten, keine Com- fen für das Unbekannte. Ich glaube eine mögliche Form. Statistische Re- puter. Wir interpretieren Informatio- nicht, dass wir besonders gut darin chenweisen haben den Vorteil, dass nen vor dem Hintergrund unserer ei- sind, Entscheidungen zu treffen. Die sie deutlich robuster sind, weil nicht genen Intelligenz und unserer Leben. meisten Dinge passieren einfach. alle Informationen zur richtigen Zeit Befinden wir uns an einem evolu- Und dazwischen gibt es immer wie- am richtigen Ort sein müssen. Aber tionären Scheideweg? Oder ist es das der einzelne kluge Köpfe, bei denen die Entwicklung ist so schnell, dass alte Problem, dass die Dinge viel kri- der Funke überspringt und den Fort- wir hier wahrscheinlich schon wie- tischer und revolutionärer erscheinen, schritt ankurbelt. Die Geschichte ist der hinterherhinken. Wir verharren als sie es letztendlich sind? Vor einer ein chaotischer Prozess, daher ist es immer noch in den Denkmustern des Diktatur der Maschinen wird immer- enorm wichtig, dass wir immer fle- 20. Jahrhunderts. Und wenn wir uns hin bereits seit dem 19. Jahrhundert xibel bleiben. Sowohl Evolution als umsehen, ist plötzlich alles anders. gewarnt … auch Innovation funktionieren ähn- Ist das einer der Gründe, warum Die Geschwindigkeit und die Tragwei- lich wie das Immunsystem des Men- Sie schreiben: „Es ist immer einfacher, te der technologischen Veränderun- schen: Es gibt eine scheinbar un- Antworten zu finden. Schwierig ist es, gen sind heute so groß, dass sich wirk- endlich lange Liste an potenziellen die richtigen Fragen zu stellen.“? lich radikal etwas verändern könnte. Gefahren und möglichen Antworten Der komplizierte Teil ist heute, eine Barricelli hat bereits 1953 geschrieben, auf diese Gefahren. Der menschli- Karte zu zeichnen, um die jeweili- dass Computer unsere Vorstellung che Körper versucht nicht, Virenin- gen Antworten mit den richtigen von Evolution über Jahrzehnte hinweg fektionen vorherzusehen. Er ist so Fragen zu verbinden. Google hat das nachhaltig beeinflussen würden. Ich aufgestellt, dass er mit jeder uner- gemacht: Sie haben die relativ unbe- glaube nicht, dass er die Bedeutung warteten Gefahr umgehen kann. grenzte Rechenkraft ihrer Computer des Fortschritts überschätzt hat. Als benutzt, um das Internet zu crawlen Samuel Butler 1863 sein Werk „Dar- Er wuchs auf am Institute for und zu indizieren. Und dann haben win Among The Machines“ geschrie- Advanced Study in Princeton, sie darauf gesetzt, dass die Menschen ben hat, gab es eine einzige Telegra- wo sein Vater im Bereich ihre kostbare Zeit darauf verwenden, fenverbindung, die elf Meilen lang der Quantenphysik und der Fragen zu stellen. Googles Aufgabe war. Es hat hundert Jahre gedauert, Nukleartechnologie forschte. Als war es dann, die Verbindung herzu- bis wir uns am Übergang ins Com- Jugendlicher zog es George Dyson nach stellen. Das ist ein kluger Ansatz für puterzeitalter befanden. Aber hundert Kanada in die Wildnis; seitdem baut er traditionelle Kajaks. Seit den 80er Jahren forscht Dyson zur Geschichte der Computer und zur Zukunft des Internets. Sein aktuelles Buch “Turing’s Cathedral” ist iim Herbst 2011 erschienen. Foto: Wikimedia Commons

Seite 118 / 161 Ein neuer Typus Mensch

Ibrahim Evsan · HYGIENEVORSCHRIFTEN DES INTERNETS

“Haben oder Sein” Wir Onliner befinden uns – jeder der Online-Welt zu Hause ist. Sie ent- für sich, aber auch alle zusammen stammen aber dem realen Menschen sind verdichtete – in einem bestimmten geschichtli- in seiner realen Umweltsituation und chen Kontext, dem Zeitalter des In- müssten sich daher auch in seinem Antworten auf ternets. Wir müssen unser Verhalten, digitalen Leben niederschlagen. Dort das aus dem Identifizierungsprozess aber ist kein Platz für Schwächen und die Fragen eines mit den wirtschaftlichen und gesell- Unzulänglichkeiten, dort herrscht der schaftlichen Anforderungen heraus Erfolg des strahlenden Siegers. fremdbestimmten bestimmt wird, nicht nur an den ge- schichtlichen Kontext, sondern auch Lebensgefühls, möglichst an den herrschenden Zeit- Die “Hygiene- geist anpassen, um den neuen Le- die ich sowohl bei bensraum, die digitale Welt, auch vorschriften” des vollständig verstehen zu können. Da- Meister Eckhardt mit fördern wir leidenschaftlich und Internets lassen voller Energie in erster Linie das wirt- als auch bei Erich schaftliche und gesellschaftliche nur das Positive System, das uns auch im Internet Fromm fand. Vom umgibt: Wir werden Teil einer Ma- und Schöne zu schinerie, die auf Vervollständigung, Internet “haben”, Transparenz, Effizienzstreben und So bleibt dem Onliner nur, sich stän- Erfolg ausgerichtet ist. dig in positivem Denken zu üben und also dem reinen Diese Ziele färben auch unseren es auch online zur Schau zu stellen. Arbeitsalltag. Aber allzu häufig ver- Sehr schnell kann es dazu kommen, Konsum, sind gessen wir Onliner bei allem Enga- dass der Onliner jeden Anflug von gement in unserer Firma, auf Konfe- Schwäche und jedes Erleben von Ver- wir zum Internet renzen und in Social Networks, dass sagen bei sich selbst und bei anderen wir auch Menschen sind, die das vol- aus seinem Bewusstsein verdrängt. “sein” gelangt. le Spektrum menschlicher Gefüh- Indem er es aber aus seinem Be- le und Einstellungen in uns tragen. wusstsein verdrängt, hat es auch kei- Das Streben nach Effizienz und Er- ne Existenzberechtigung in der digi- folg erfordert eine durch und durch talen Welt; die “Hygienevorschriften” positive Lebenseinstellung und gro- des Internets, die nur das Positive und ßen persönlichen Einsatz. Was aber Schöne zulassen, werden wieder ein- geschieht mit diesen Zielen in Zei- mal bestätigt, auf Kosten der psychi- ten, in denen es uns nicht gelingt, schen Hygiene des Einzelnen. eine “schlechte persönliche Phase” Diese Entwicklung betrifft nicht vor der Öffentlichkeit zu verbergen? nur den einzelnen Onliner, sondern Schwächen zugeben, Fehler einge- auch den Umgang mit allen anderen, stehen, Schwierigkeiten haben, trau- die sich der digitalen Welt verschrie- rig sein, sich ohnmächtig fühlen, all ben haben. Wer sich selbst als wirkli- diese menschlichen Gefühls- und cher Onliner versteht, der fordert auch Verhaltensvariationen schicken sich von anderen, sich immer gut zu füh- nicht für einen Menschen, der in len und dies auch an jeder Stelle zu

Seite 119 / 161 eigentliche “Mensch-Sein”, sondern auf die Vorgabe, auf die bloße Insze- nierung. Nicht das, was faktisch gege- ben ist, sondern das, was erzeugt, was suggeriert werden kann, das macht erfolgreich. So führt das Online-Sein faktisch zu einer Entwertung des Seins und des authentischen Han- delns eines Menschen. Diesen Man- gel an Selbst-Sein und Selbst-Erleben versucht die menschliche Psyche zu kompensieren. Eine bevorzugte Kom- pensation wird im “Haben” vorge- nommen, nicht im “Sein”. Das “Ha- ben” entwickelt sich schnell zu einem “Mehr-haben-Wollen”, einer nicht en- denden Spirale, die sich aber in die fal- sche Richtung dreht. Das “Sein” tritt in den Schatten, das “Haben” steht im Licht. Ein unhaltbarer Zustand, voll- Codice Internet kommen aus dem sensiblen Gleich- gewicht des Lebens herausgeworfen, äußern. Man hat die Menschen um bil sein, ein starkes Ego haben, gut kreisen die nur durch das “Haben” sich herum interessant und inspirie- sozialisiert und individualisiert sein. bestimmten Menschen wie Satelliten rend zu finden und zu allen Schwa- Von uns wird ebenfalls der bisher nur um sich selbst und ihr Hochglanz-Ab- chen und Versagenden öffentlich auf für die Verfügbarkeit von Maschinen bild, ihren Avatar, im Internet, ohne Distanz zu gehen, sie aus seiner Welt definierte 24/7-Kodex erwartet, der jeden Kontakt zur Realität, die das auszuschließen. Das ist das unge- für Menschen naturbedingt gar nicht “Mensch-Sein” nun einmal verlangt. schriebene Gesetz im Netz, mit sei- gelten kann, weil der Mensch Ruhe- Die ganz persönliche Definition nen Sanktionen, die all die treffen, die und Regenerationsphasen zum kör- des individuellen Seins ist die Voraus- sich nicht an die “Spielregeln” halten. perlichen wie psychischen Überleben setzung für ein selbstbestimmtes Le- Diese ganze Entwicklung führt braucht. Wir sind dabei, die Eigen- ben mit allen Höhen und Tiefen, die schließlich dazu, dass ein ganz neu- schaften der Maschinen auf uns Men- die menschliche Psyche nun einmal er Typus Mensch in der Online-Welt schen zu übertragen, alle genann- für ihre Weiterentwicklung braucht, entsteht, der “internetnormierte ten Eigenschaften werden nach und denn gerade Krisen sind oftmals die Mensch”, der alle oben beschriebenen nach zu Leitwerten des gegenwärtigen Grundvoraussetzung für einen gro- Anforderungen leicht und selbstver- Menschen, weil sie eben unerlässliche ßen Schritt in der persönlichen Ent- ständlich erfüllt. Mehr noch, dieser Voraussetzungen für ein erfolgreiches wicklung. Nicht zu vergessen kann neue Typus wird für andere immer at- Online-Leben sind. uns die menschlichste und wertvolls- traktiver und dadurch auch immer do- te Fähigkeit des Menschen helfen, ge- minanter, weil er als “Ideal” den ande- erdet zu bleiben: die Fähigkeit, Liebe ren zum Nacheifern vorgegeben ist. Liebe ist nicht ma- zu empfinden und Liebe zu schenken. In keiner uns bekannten Epoche Liebe ist nicht maschinell herstellbar, der Menschheit haben Maschinen schinell herstellbar sie wird niemals ins “Haben” abrut- eine so umfassende und alle Lebens- schen können. bereiche bestimmende Bedeutung ge- Der Mensch darf niemals vergessen, habt wie heute. Maschinen vernetzen dass er ein Mensch ist und das Leben Der Web-Entrepreneur grün- die ganze Welt und sind damit nicht in vollen Zügen genießen kann. Psy- dete im Jahr 2006 die Firma nur ein Instrument der Angebots- chologisch gesehen bedeutet diese Sevenload, eines der erfolg- und Nachfragesteuerung, sondern Orientierung an den Maschinen im- reichsten deutschen Start-ups. zum philosophischen Nukleus der mer, dass nicht das eigene Sein zählt, Im Oktober 2009 entschied Evsan sich, ein Wirtschaft und damit für viele Men- also die tatsächlichen Fähigkeiten, neues Unternehmen aufzubauen – United schen zum sinnstiftenden Inhalt ih- Eigenheiten und Bedürfnisse eines Prototype. In seiner Funktion als Experte für res Lebens geworden. Menschen, sondern das, was sich ver- Social Media behandelt er in seinem neuen Die Maschinen sind zum grundle- kaufen lässt, das, was ankommt, was Buch “Der Fixierungscode” Themen wie gend strukturierenden Prinzip in den vielversprechend verpackt oder darge- Blogs, Microblogging, Online-Reputation meisten menschlichen Lebensberei- stellt ist. Es kommt nicht auf das eige- und das Leben im Lifestream. chen geworden. Wir, die Nutzer der ne Sein eines Menschen mit all seinen Foto: www.ibrahimevsan.de Maschinen, müssen flexibel und mo- Gefühlen und Gedanken an, also das

Seite 120 / 161 April Die wirtschaftliche Erholung verläuft schleppender als gedacht. Und die Stimmen der Kritiker werden lauter. Und führe mich nicht in Versuchung …

Dan Ariely · DER IRRATIONALE MENSCH

Der Mensch ist Meine Arbeit beschäftigt sich damit, zu verstehen, was Menschen moti- Es mangelt kein rein ratio- viert, wie sie funktionieren und Ent- scheidungen treffen. Eines unserer uns an Selbst- nales Wesen. In größten Probleme ist die Selbstbeherr- schung. Es gibt eine sehr interessan- beherrschung unserem Inneren te kürzlich durchgeführte Studie, die sich mit der Frage beschäftigt, wie vie- Nehmen wir als Beispiel das SMS- tobt ein ständiger le Todesfälle durch eigene Fehler aus- Schreiben während des Autofahrens. gelöst werden. Noch vor etwa hundert Stellen Sie sich vor, Sie seien zu Fuß Kampf zwischen Jahren lag die Anzahl von Todesfäl- unterwegs und schrieben auf Ihrem len dieser Art gerade mal bei zehn Handy eine SMS. Was könnte passie- Abwägung und Prozent. Wie kam man vor hundert ren? Vielleicht würden Sie während Jahren durch selbst verursachte Feh- des Schreibens gegen einen Pfosten Versuchung. Ziel ler ums Leben? Nun, vielleicht hatte laufen – not a big deal. Wenn das al- man einen großen Stein ins Rollen ge- lerdings mit 100 km/h passiert, kön- muss es sein, bracht, der einen dann selbst überroll- nen Sie sich und andere umbringen. te; oder man geriet in einen schlim- Durch neue Technologien wird also unsere chaotische men Unfall. unser geistiges Aufnahmevermögen Vor ein paar Jahren lag dieser Pro- vor neue und größere Herausforde- Seite ein wenig zu zentsatz bei 45 Prozent. Warum das? rungen gestellt. Und wenn wir uns Weil wir durch neu entwickelte Tech- dann bewusst machen, dass uns mit- domestizieren. nologien auch neue Wege schufen, unter die Selbstbeherrschung fehlt, uns umzubringen. Denken Sie doch stellt sich ziemlich schnell die Frage nur an Diabetes, an Übergewicht, nach der Natur des Menschen. denken Sie ans Rauchen und das Ich persönlich glaube, dass jeder SMS-Schreiben während des Auto- Mensch Momente der Klarheit hat, fahrens: Wir entwickeln technische in denen wir wissen, dass wir weder Neuerungen, ohne uns im Klaren da- übergewichtig sein wollen, noch an rüber zu sein, dass wir vielleicht nicht Diabetes sterben oder uns durch das damit umgehen können. Moderne Schreiben einer SMS in Gefahr brin- Technologien bringen uns oftmals gen wollen. In diesen Momenten wird in Situationen, in denen wir ein ge- uns klar, was wir auf lange Sicht hin waltiges Aufnahmevermögen an den vom Leben und auch von uns selbst Tag legen müssen, um die richtige erwarten. Aber dann kommt uns un- Entscheidung zu treffen. Gelingt uns ser spontanes Ich in die Quere und dies nicht, kann das fatale Folgen für wir erliegen der Versuchung: Wir es- uns haben. sen Kuchen und gehen ins Kino an-

Seite 122 / 161 statt ins Fitnessstudio. Und wenn sere Langzeit-Seite zumeist die rich- unser Handy vibriert, nehmen wir tige ist, da sie längerfristig denkt selbstverständlich ab, ganz gleich, ob und immer zwischen verschiedenen wir gerade im Auto sitzen oder nicht. Optionen rational abwägt. Das alles sind die Momente, in denen Wir sollten also darüber nach- wir uns der Versuchung hingeben, an- denken, wie wir unsere spontanen statt rational abzuwägen. Gelüste und Sehnsüchte besser in Das ist genau der Grund, warum den Griff bekommen können. Mein wir Regulierung und technologische Rezept für die Menschheit ist, her- Hilfen brauchen: Sie beschützen uns auszufinden, wann uns unsere spon- vor uns selbst. Gute Vorsätze hat jeder tanen Wünsche und Sehnsüchte vom von uns – doch was oftmals fehlt, ist Weg abbringen und Wege und Mög- der Weg, um diese auch umzusetzen. lichkeiten zu ersinnen, diese zu über- winden. Wenn wir das schaffen, wird Dr. Jekyll unsere Welt ein Stück weit besser. Der studierte Psychologe und Mr. Hyde Dan Ariely ist Professor für Verhaltensökonomik an der Womit wir schon tief in der Diskussi- Duke University. Zuvor lehrte on um das richtige Menschenbild wä- er von 1998 bis 2008 am renommierten ren. Wir Menschen haben quasi zwei Massachusetts Institute of Technology (MIT) Seiten: Die eine Seite unseres Ichs und an der Sloan Business School des MIT. funktioniert eher rational und handelt Er leitet dort u.a. die Forschungsgruppe verantwortlich, die andere spontane eRationality. Auf seiner Webseite danariely. Seite ist emotional und handelt kurz- com betreibt ein Blog, in dem er Thesen sichtig und nach Gefühl. Diese zweite aus seinem Buch “Predictably Irrational” Seite sorgt dafür, dass wir uns falsch weiterentwickelt. verhalten und uns und anderen Scha- den zufügen. Die Frage um Dr. Jekyll und Mr. Hyde ist nun, welche Seite unseres Ichs die richtige ist. Und ich persönlich bin der Meinung, dass un-

Seite 123 / 161 “Geld darf nicht vergötzt werden”

Wolfgang Huber · VERANTWORTUNG UND FREIHEIT NACH DER KRISE

Die Kirche muss sich auch in Wirtschaftsfragen einmischen, findet der ehemalige

EKD-Ratsvorsit- De Fontenelle cc-by 3.0 zende Wolfgang The European: Welche Rolle kann die Manager müssen bereit sein, Rechen- Kirche im wirtschaftspolitischen Dis- schaft über ihr Tun abzulegen. Das Huber Ein Ge- kurs spielen? hat im Hinblick auf die Finanzmärkte Huber: Zunächst beinhaltet die Tra- ganz praktische Konsequenzen. Wir spräch über Kritik dition des christlichen Glaubens die dürfen nicht zulassen, dass Firmen Unterscheidung zwischen Gott und Risiken eingehen – auf Kosten ande- an Managern und Geld. Entscheidend ist, dass Geld rer, auf Kosten der Kunden und Kre- nicht vergötzt wird, dass Geld nicht ditnehmer – und dann selber nicht die Neudefinition ein Selbstzweck ist, sondern ein Mittel dafür haften. Dann muss unter Um- zum Zweck, dass man Gott allein die ständen der Staat einspringen, oder des Wachstums- Ehre gibt und deswegen die begrenz- die Verluste werden weitergereicht. te Bedeutung wirtschaftlicher Güter Das haben Sie im Zuge der Hypothe- begriffs. anerkennt. Das ist das allererste und kenkrise in den USA gesehen. Ein kla- das ist ein gerade auch in der gegen- rer Zusammenhang zwischen Risiko wärtigen Diskussion zu oft verkann- und Haftung ist also eine praktische ter, sehr zentraler religiöser Gesichts- Konsequenz. Und schließlich ist die punkt. Das zweite ist verantwortete Übersetzung der Nächstenliebe Auf- Freiheit. Wir leben in einer freiheit- gabe der Kirche: die Solidarität mit lichen Gesellschaft, aber es kommt dem Nächsten, das Eintreten für Ar- darauf an, dass Menschen gerade in beitsverhältnisse, die am Maßstab der verantwortlichen Positionen ihre ei- Gerechtigkeit und der Solidarität ori- genen Entscheidungen verantworten. entiert sind.

Seite 124 / 161 Freiheit und Verantwortung sind kei- Ich bedaure, dass in diese Richtung ne religiösen Konzepte. Adam Smith noch nicht mehr geschehen ist. Da würde Ihnen vielleicht antworten: ist die internationale Politik gefragt. “Freiheit, uneingeschränkt zu han- Das ist viel produktiver, als die Idee deln. Verantwortung für das eigene des Wachstums prinzipiell infrage zu Handeln.” Welche Probleme haben Sie stellen. Doch gleichzeitig gibt es auch mit dieser Definition? Bereiche, in denen die Wirtschaft so- Es ist ein zu enger Begriff, diese Ver- gar zurückgehen muss: Wir brauchen antwortung nur als Eigenverantwor- insgesamt weniger CO2-Emissionen. tung zu verstehen. Es gibt einen sehr Das kann nur gelingen, wenn wir das klaren religiösen Kern im Konzept der Wachstum neu ausrichten. Von gro- Verantwortung. Wir legen über unser ßer Bedeutung ist der berühmte Fak- Leben vor Gott Rechenschaft ab. Und tor 4, also die Überzeugung, dass wir weil das so ist, betrachten wir auch mit einem Viertel des Energieeinsat- nicht nur die Verantwortung im Blick zes genauso viel Produktivität und auf uns selbst, sondern auch im Blick genauso viele Güter und Dienstleis- auf den Nächsten als einen unaufgeb- tungen erzeugen können wie heute. baren Teil der Verantwortung. Genauso wichtig ist die Frage, wie wir Ein Ansatz ist, auch die Definition menschliches Glück in einen Wachs- von Wachstum zu überdenken. Wel- tumsbegriff mit einbeziehen kann. che Parameter bestimmen, ob wir Wachstum als Fortschritt oder bloß als Von 2003 bis 2009 war Vermehrung wahrnehmen? Wolfgang Huber Ratsvorsitzender Es ist richtig, dass das Bruttoinlands- der Evangelischen Kirche produkt als Indikator nicht ausrei- Deutschland. Der im chend ist, vor allem, weil es keine Aus- Schwarzwald geborene Sohn einer kunft gibt über die Nachhaltigkeit des Juristenfamilie war zudem Bischof der Wirtschaftens und auch nicht über Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg. die Sinnhaftigkeit des Wirtschaftens. Huber ist Fellow am Stellenbosch Institute Wir müssen uns viel stärker an der for Advanced Study in Südafrika. Her ist Frage orientieren, welche Bedeutung Träger des Theodor-Heuss-Preises für wirtschaftliche Güter und Dienstleis- öffentliche Verantwortung und Ehrenmitglied tungen eigentlich für das Gelingen von Hertha BSC Berlin. Foto: © gettyimages menschlichen Lebens haben können.

Seite 125 / 161 März In Baden-Württemberg wird gewählt. Am Ende steht eine grün- rote Koalition mit dem ersten grünen Ministerpräsidenten der deutschen Geschichte. Schwarz-gelbe Kernschmelze

Hugo Müller-Vogg · WAHLDEBAKEL IM CDU-STAMMLAND

Die Wahl in Dieser Wahlsonntag markiert eine und stößt Wechselwähler ab. politische Zeitenwende. Die Grünen Merkels Glück: Karl-Theodor zu Baden-Württem- haben zum ersten Mal in einem Flä- Guttenberg ist nicht mehr politisch chenland die SPD überrundet und aktiv und Christian Wulff wurde von berg kennt viele werden in Stuttgart den Ministerprä- ihr in weiser Voraussicht ins Schloss sidenten stellen. Das selbe könnte ih- Bellevue „befördert“. Verlierer (CDU/ nen im Herbst in Berlin gelingen. Und das sind die Lehren des 27. März: 4. CSU, FDP, SPD Für die FDP sind die Ergebnisse eine 1. einzige Katastrophe. In ihren beiden- und Linkspartei) Der überragende Sieger sind die Grü- Hochburgen halbiert, in Mainz nicht nen. Sie konnten die Ängste vor der einmal mehr im Landtag: Die Krise und nur einen Kernenergie nutzen und auf ihre der Liberalen hält an, ja verschlim- Mühlen leiten. Sie sind beim Thema mert sich. Das wird die parteiinterne klaren Sieger (Die Kernkraft auch glaubwürdiger als alle Kritik an FDP-Chef Guido Westerwel- anderen: Sie haben die große Katastro- le neu aufflammen lassen. Ob Wes- Grünen). Zeit phe immer vorhergesagt. terwelle den Parteitag im Mai noch Was ihnen noch geholfen hat: Ihre als Parteivorsitzender verlässt? Das ist für eine neue Regierungsbeteiligung von 1998 bis eher unwahrscheinlich. 2005 (Kosovo, Afghanistan, Hartz IV) Vermessung der ist vergessen. Die „Ökos“ gelten in den 5. Augen der Wähler als „unbefleckte“ Auch die SPD hat keinen Grund zum deutschen Partei- Alternative zu CDU/FDP und SPD. Feiern: Ein Minus von 10 Punkten in Rheinland-Pfalz und das schlechteste enlandschaft. 2. Ergebnis aller Zeiten in Baden-Würt- Neben den Grünen gibt es nur Verlie- temberg. Hamburg war eben keine rer. Der größte ist die CDU. Ihre Nie- Trendwende, sondern eine kommuna- derlage in Baden-Württemberg lässt le Ausnahme. sich aber nicht allein mit „Fukushima Natürlich können sich die Sozial- + Mappus“ erklären. Wenn bundesweit demokraten damit trösten, dass sie in nur noch 33 Prozent der Wähler die Mainz an der Macht bleiben und in CDU gut finden, dann sind im Süd- Stuttgart als Juniorpartner der Grü- weststaat 45 Prozent nicht möglich. nen mitregieren können. Aber von ei- nem neuen Aufbruch der SPD unter 3. dem Duo Gabriel/Steinmeier kann Dieses Debakel wird die innerpar- wirklich keine Rede sein. teiliche Kritik an der Kanzlerin und CDU-Vorsitzenden neu anfachen. Da 6. hilft ihr auch der Achtungserfolg Julia Die Linke ist in beiden Ländern ge- Klöckners in Rheinland-Pfalz nicht. scheitert. Ein nachhaltiger Rück- Wenn eine Partei eherne Grundsät- schlag ist das aber nicht. Baden-Würt- ze (Wehrpflicht, Kernkraft, Westbin- temberg, Rheinland-Pfalz und Bayern dung) ohne große Begründung über bleiben eben für die Ex-SED unein- Bord wirft, irritiert das Stammwähler nehmbare Festungen.

Seite 127 / 161 Die Grünen

7. 8. Seit Amtsantritt der schwarz-gelben Die Abwahl der CDU in Baden-Würt- „Wunschkoalition“ im Herbst 2009 temberg ist vergleichbar der SPD- hat die CDU drei Ministerpräsiden- Niederlage in Nordrhein-Westfalen ten verloren (Nordrhein-Westfalen, im Frühjahr 2005. Damals wähl- Hamburg und Baden-Württemberg), te Schröder den „Notausgang“ Neu- die FDP ist in zwei Landtagen (Sach- wahlen. Das wird Angela Merkel si- sen-Anhalt, Rheinland-Pfalz) und in cher nicht tun. Denn erstens ist sie zwei Landesregierungen (Düsseldorf, – anders als ihr Vorgänger – keine Stuttgart) nicht mehr vertreten. Spielernatur. Und zweitens ist sie Doch vor einer überhöhten Inter- nicht amtsmüde. pretation dieser Wahlen hilft ein Blick zurück: Gerhard Schröders SPD ver- Der Publizist Dr. Hugo Müller- lor 1999 im ersten Jahr seiner Kanz- Vogg ist Autor mehrerer lerschaft Hessen und Saarland. Aber Gesprächsbiografien, u. a. über die Bundestagswahl 2002 gewann er Angela Merkel („Mein Weg“), deutlich. Und im Bundesrat hatte er Christian Wulff („Besser die Wahrheit“) nur 100 Tage lang eine Mehrheit. und Horst Köhler („Offen will ich sein und notfalls unbequem“). Kolumnist für BILD („Berlin intern“) und „Superillu“ sowie Kommentator des Nachrichtensenders N24. Von 1988 bis 2001 Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Von 1977 bis 1984 FAZ-Wirtschaftsredakteur, anschließend USA-Korrespondent. Er studierte Volkswirtschaftslehre und Politik in Mannheim und Wien.

Seite 128 / 161 März Karl-Theodor zu Guttenberg tritt als Verteidigungs- minister zurück. Die Grenzen des Glamours

Heribert Prantl · MEDIENPOLITIKER GUTTENBERG Der Rücktritt Guttenbergs ist zu be- grüßen. Zwei Wochen lang stellte sich der Verteidigungsminister nicht der Verantwortung, jetzt hat er endlich die vorwurf war schwer und stichhaltig. Konsequenzen gezogen. Es bleibt zu Es war ein Vorwurf, dessen Berech- tigung und dessen Richtigkeit man hoffen, dass wir die richtigen Lehren schwarz auf weiß nachlesen konnte. Die Reaktion des Ministers auf die aus der Affäre ziehen. Politik lebt berechtigten Vorwürfe hat den Rest besorgt. Nur in Scheibchentaktik nicht von der Inszenierung, sondern hat Guttenberg Fehler zugegeben, immer beschönigend und leugnend von der Detailarbeit. bis zum Ende. Er hat eigene Fehler zu marginalisieren versucht und die öffentliche Diskussion beklagt – als Guttenbergs Rücktrittsentscheidung Stellung gebracht. Die Rücktrittser- ob diese Diskussion überhaupt ohne war überfällig. Für ihn und für das klärung war wenig Mea Culpa, aber sein Zutun hätte laufen können. Land wäre es besser gewesen, wenn viel Bayreuth, eine Neuinszenierung Die öffentliche Meinung ist in er sie schon eineinhalb Wochen frü- der Götterdämmerung. den vergangenen Tagen gekippt. Das her getroffen hätte. Guttenberg hat konnte man in Leserbriefen und E- fast zwei Wochen lang sein Plagi- Mails feststellen. Die öffentliche Zu- at erst geleugnet, dann beschönigt. Scheibchentaktik stimmung bröckelte und bröselte. Der Auch seine Rücktrittserklärung war Aufruhr und Aufstand der Wissen- eine Beschönigungserklärung. Sie hat zieht nicht mehr schaft war von einer derartigen Wucht Guttenbergs Politikverständnis de- und Empörung, dass davon nicht nur monstriert: „Zuvorderst sind immer Das richtige Signal hat der Rücktritt die Medien, die Kanzlerin, die CDU/ die anderen schuld, auch daran, dass trotzdem gesendet. Grundsätzlich ist CSU und der Verteidigungsminister, ich erst zwei Wochen nach der Auf- die Entscheidung aus zwei Gründen sondern offensichtlich auch die breite deckung des Plagiats die Möglichkeit folgerichtig: Guttenberg hat grobe Bevölkerung beeindruckt war. zum Rücktritt hatte.“ Er hat die Solda- Fehler begangen und ist in zweifel- Mit Guttenberg sind auch diejeni- ten instrumentalisiert – er hat sie ge- hafter Weise mit den Vorwürfen ge- gen diskreditiert worden, die Politik gen die Doktoren und Professoren in gen ihn umgegangen. Der Plagiats- vor allem als Show, als die Inszenie- © gettyimages rung von Bildern – und weniger als in- Tag Glamour. Die Entidealisierung Heribert Prantl ist Journalist haltlich fundierte Debatte – begreifen. Guttenbergs kann dazu führen, dass und Publizist, Leiter des In Guttenberg hat sich die Idee der die Einsicht darin wächst, dass Po- Ressorts Innenpolitik und Bilderbuch- und Hochglanz-Politik litik sich nicht zwangsläufig für die Mitglied der Chefredaktion bei konzentriert wie in keinem zweiten Schlagzeilenfabriken der Klatschpres- der Süddeutschen Zeitung in München. deutschen Politiker. Doch: Wer sich in se eignet. Wenn diese Erkenntnis zu- Prantl studierte Jura, Geschichte und Gefahr begibt, kommt drin um. Wenn nimmt, dann hat Guttenberg am Ende Philosophie in Regensburg und praktizier- der medial inszenierte Glanz Flecken doch einen positiven Beitrag zur poli- te als Jurist und Staatsanwalt, bevor er kriegt, ist die Aufmerksamkeit für die tischen Kultur geleistet. sich dem Journalismus zuwandte. Er hält Flecken umso größer. Das symbioti- Seine Karriere ist nicht zwangsläu- Lehraufträge der Journalistenschulen in sche Verhältnis zur boulevardisier- fig zu Ende. Ein Rückzug aus der Öf- Hamburg und München und der juristischen ten Öffentlichkeit war für Guttenberg fentlichkeit könnte in ein paar Jahren Fakultät der Universität Bielefeld. Prantl Glück und Verderbnis zugleich. Es hat durchaus die Basis für ein Comeback ist unter anderem Mitglied der Stiftung Pro ihn groß und wieder klein gemacht. bilden. Wenn Guttenberg sich aber Justitia, der humanistischen Union und des gar nicht richtig zurückzieht, wenn er P.E.N.-Zentrums Deutschlands. Er ist Träger sich weiterhin auf der Berliner Bühne der bayerischen Justizmedaille und des Glamour und tummelt, gibt es auch kein Comeback: Cicero-Rednerpreises. wer dableibt, kann nicht zurückkom- Politik passen men. In Guttenbergs ganzem politi- schen Habitus lag etwas sehr Gefall- nicht immer süchtiges. Diese Sucht trägt einen schnell nach oben, sie wirft einen aber zusammen auch schnell wieder nach unten. Das gehört zu den Lehren, die es jetzt zu Hoffnungen sind enttäuscht worden. ziehen gilt. Hoffnungen darauf, dass Politik auf Guttenbergs Rücktrittserklärung eine ganz andere Art und Weise ge- war ein Statement, das an der eige- macht werden könnte. Doch demokra- nen Legende gestrickt hat. Guttenberg tische Politik ist nicht nur das Buffet wird versuchen, diese Legende als ei- mit Lachs und Kaviar, sondern oft- nen roten Teppich zu benutzen, auf mals trocken Brot. Sie hat nicht jeden dem der Karriereweg weitergeht.

Seite 131 / 161 Ära Ehre Ex

David Baum · GUTT GEMACHT!

Unser Kolumnist findet die Korin- thenkacker, die in Guttenbergs Dok- torarbeit stöbern, natürlich spießig und destruktiv, ist ihnen aber HÖREN SIE – wenn wir mit unse- in der Zeitung lesenden Gast tritt rem Benehmen im Deutschland des und behauptet: „Mein Herr, Sie haben dennoch dankbar. 19. Jahrhunderts gelebt hätten, wä- mich fixiert!“ Und schon müssen Se- ren wir längst alle tot. Und zwar zu kundanten benannt werden, bloß um Durch die Affäre Recht. Etwa Alexander Dobrindt und Heßlings Satisfaktionsgemüt zu küh- Sigmar Gabriel. Die hätten sich ge- len. Grässliche Vorstellung, man wür- gesteht das konser- genseitig spätestens vor zwei Tagen de im Café Einstein sitzen und ein we- mausetot geschossen. Da hat der eine nig über Otto Schily herziehen und vative Lager ein, über den anderen gesagt, sein „Ver- dann hat der hauptstadtweit bekannte hältnis von Gehirnmasse zu Körper- Choleriker dummerweise daneben ge- sich von einem umfang würde sich immer ungüns- sessen und wirft einem die Fitzel sei- tiger entwickeln“. So ein Satz von ner Visitenkarte ins Gesicht. Kenner lästigen Erbe – sagen wir – dem preußischen Land- der Politszene wissen: Schily schießt tagsabgeordneten Virchow gegenüber ziemlich scharf. befreit zu haben: Bismarck und die Blutwiese wäre fürs nächste Morgengrauen schon gebucht dem Ehrgefühl. gewesen. Da hätte sich selbst ein Ho- “Mein Herr, senschisser wie Virchow nicht rausre- den können, wie er es dazumal wegen Sie haben einer anderen Sache getan hat. Aus den bild- und blutreichen Be- mich fixiert!” schreibungen des Heinrich Mann wissen wir, dass die Zeiten der Ehre Dieses extrem ausgefuchste, kompli- und der dazugehörigen Duelliere- zierte und zutiefst reaktionäre Ehren- rei nicht nur wunderschön gewesen system der Kaiserzeit hat verdienter- sind. Wir erinnern uns an jenen an- maßen das Zeitliche gesegnet. Und strengenden Kaffeehausbesuch, wo das ist auch gut so: Bei den vielen Wei- der vielfach vernarbte Untertan Die- ber- und Fremdgehgeschichten etwa derich Heßling zu einem gemütlich der bayrischen Bundestagsabgeordne-

Seite 132 / 161 ten, hätte sich inzwischen vermut- im Leben Kohls, sondern als Zeichen lich der gesamte männliche Anteil seiner besonderen Mannhaftigkeit. der CSU-Landesgruppe in Berlin ge- Die Angelegenheit mit dem ehema- genseitig ausgerottet. Und doch hat ligen Doktor der Rechtswissenschaf- dieser Ehrgedanke einen positiven ten im Amt des Verteidigungsminis- Aspekt: Man musste jeden Moment ters ist deshalb so bemerkenswert, seines Verhaltens damit rechnen, für weil sich besonders das verbliebene alles geradestehen zu müssen. Denn konservative bis fröhlich rechte La- das Prinzip Ehre stach eben auch ger hinter dem Mann versammelt, der dann, wenn das Gesetz keine Ein- getäuscht und inzwischen auch mas- wände aufrief. siv gelogen hat. Gegenüber seiner ei- Wieso dieser kleine, launige Ge- genen Universität zu schwindeln, ist schichtsausflug? Weil dieser Ehrge- auch im entsprechenden Milieu kein danke in heutigen Zeiten nicht bloß Kavaliersdelikt – im Gegenteil. Natür- in den Ehrenmorden unserer lie- lich ist die Kampagne fies und sind ben Mitbürger mit Migrationshin- die Motive der Guttenberg-Jagdgesell- tergrund seine Urstände feierte. Das schaft nicht so ehrenhaft (sic!), wie konservative Lager gefiel sich nach Herr Lauterbach dem gemeinen An- wie vor, ein klein wenig mit der ei- ne-Will-Zuschauer weismachen will. genen Ehrhaftigkeit zu liebäugeln. Aber die Fangemeinde, die nun auch Politiker wie der deutsche EU-Kom- über dieses Verhalten hinwegsehen missar Günther Oettinger, Ex-Innen- möchte, bloß um nicht ihres gar nicht minister Manfred Kanther oder so- so heldenhaften Helden beraubt zu gar der Grünen-Abgeordnete Rezzo werden, schluckt damit eine sehr un- Schlauch schlugen sich in ihren Stu- bekömmliche Kröte. dentenverbindungen im Namen der Früher hat man Menschen, die Ehre wacker ihre Birnen blutig. Meist eines massiven Ehrvergehens über- aber bezog man sich beim Hoch- führt worden sind, mit ihrem Revol- halten der Ehre auf jemanden wie ver allein im Raum gelassen. Glück- Stauffenberg, der nicht bloß aus Mit- licherweise ist das aus der Mode menschlichkeit, sondern auch im Na- gekommen. Aber wer Guttenberg men der Ehre seines Volkes die Bestie Gutes will, der sollte ihn jetzt mit erlegen wollte. Übrigens unter Mithil- sich allein lassen – zum Nachden- fe von Urgroßonkel und Großvater ei- ken. Vielleicht erkennt er noch, dass nes gewissen Bundesverteidigungs- er das zwar aussitzen kann, aber zu ministers. diesem Zeitpunkt keine Chance hat, mit Anstand aus der Sache zu kom- men. Hätte er noch ein Quäntchen Im Namen Ehre zwischen den Rippen, sie ließe ihn ohne Alternative zum Rücktritt der Ehre zurück.

Ein besonders anschauliches Auf- Der österreichische Autor flackern des alten Ehrbegriffs erleb- und Journalist ist Mitglied der ten wir im Jahre 1999, als der frisch Chefredaktion von GQ. Zuvor gebackene Altkanzler Helmut Kohl war David Baum Autor für Park sich massiv weigerte, die Urheber Avenue, Bild am Sonntag, das SZ- von geheimen Spenden an seine Par- Magazin, die Frankfurter Allgemeinen tei bekannt zu geben, weil er diesen Sonntagszeitung, Tempo, Max und schließlich sein Ehrenwort gegeben weitere Publikationen. hatte. Dafür stellte er störrisch aber auch irgendwie tapfer die Reputati- on seiner ganzen Karriere als Staats- mann aufs Spiel. Wer dachte, dass sich das Einsammeln von Schwarzgel- dern, der Verstoß gegen Gesetz und Verfassung, ehrabschneidend auswir- ken könnte, hatte sich getäuscht. Im Lager gilt der Vorgang nicht als Makel März Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte revidiert seine Entscheidung: Kruzifixe in Klassenzimmern bleiben erlaubt. Mein Glaube, unser Land

Bernhard Felmberg · KRUZIFIXE IN KLASSENRÄUMEN

Der Europäische Gerichtshof für Men- schenrechte hat seine Entscheidung revidiert – Kreuze in Klassenräumen sind nicht grundsätzlich verboten. Das Vor einem guten Jahr schien es so, als ob der Laizismus das Verhältnis Urteil ist ein Sieg für die europäische zwischen Staat und Kirchen immer stärker prägen würde. Stimmen Idee. Denn nur wenn wir unsere Vielfalt wurden lauter, die nicht zuletzt die religiöse Symbolik völlig aus dem leben können, kann die pluralistische öffentlichen Raum verdrängen woll- ten. Am 12. Januar 2010 erging in Gesellschaft gedeihen. Straßburg ein höchst kontroverses Urteil: Der Europäische Gerichts- hof für Menschenrechte (EGMR) erklärte Kruzifixe in italienischen Staatsschulen für unvereinbar mit der Europäischen Menschenrechts- konvention (EMRK). Begründung: „Allein, ihren Symbolen täglich zu begegnen, könne“ – so die Richter – „verstörend auf Kinder wirken.“ Laizistische Intoleranz

Damals war klar: Ein solches Urteil schadet dem europäischen Gedan- ken, weil dieser in Anerkennung der unterschiedlichen Kulturen und Religionen das Gemeinsame be- tont, ohne das Eigene zu verbieten. Wer die in die Öffentlichkeit wirken- de „kreuzlose“ Gesellschaft fordert, schadet denen, die um Religionsfrei- heit in wirklicher Unterdrückung Dave Ceasar Dela Cruz kämpfen. Dieses „Kruzifixurteil“ des Straßburg verkannt. Deshalb regte ein religiöses Symbol. Aber das allein EGMR war ein Beispiel für ein Ver- sich zu Recht Widerstand. Italien kün- ist nicht zu beanstanden. Es gehört ständnis von Säkularisierung, das von digte gar an, das Urteil nicht umzuset- zur Identität einer Nation und stört einer freiheitlichen Ordnung der To- zen. Im Gegenteil: Auf einmal schau- deren Pluralität nicht. Diese meint ja leranz für den Glauben in eine laizis- te jeder Hausmeister streng danach, nicht Einheitlichkeit, sondern Vielfalt. tische Ordnung der Intoleranz gegen ob wirklich in jedem Klassenzimmer Italien gewährleistet Vielfalt: Es alle Religion umschlug. Kreuze hingen. Da dies nicht der Fall hängt ein Kreuz, aber muslimische Das Gericht war in die Falle ge- war, wurden zeitweilig sogar im Han- Schülerinnen dürfen auch das Kopf- tappt, anzunehmen, dass die strikte del die Kreuze knapp. Zehn Staaten tuch tragen, jüdische Schüler die Kip- Trennung von religiösem und öffent- sprangen Italien als Drittinterveni- pa. Minderheiten müssen nicht nur lichem Raum der Religionsfreiheit am enten bei, andere äußerten mündlich nicht am katholischen Religionsunter- besten zur Geltung verhilft. Doch die Zustimmung. richt teilnehmen, sondern dürfen so- bedeutet in gleichem Maße Freiheit gar ihren eigenen anbieten. In einem zur Religion wie Freiheit von der Re- solchen Umfeld hat ein Kreuz – an- ligion. Religion aber beschränkt sich Recht muss ders als die erste Instanz es bewertete nicht auf die Pflege frommer Inner- – keinen einschüchternden Charakter. lichkeit, sondern wird gelebt – in ei- Recht bleiben Das Urteil beweist: Europa hat ner Vielzahl von Riten und Bräuchen. Raum für Vielfalt – jetzt wieder! Natürlich muss auch die Freiheit von Daher stand die Große Kammer im der Religion geschützt werden. Dar- Revisionsverfahren vor einem Dilem- Prälat Bernhard Felmberg ist seit aus leitet sich eine gewisse Neutrali- ma. Sollte sie – unter öffentlichem Februar 2009 Bevollmächtigter tätspflicht des Staates ab. Er darf nicht Druck – ein einstimmiges Urteil auf- des Rates der EKD bei missionieren. Doch ein Staat, der sich heben? Wie würde danach die Unab- Bundestag, Bundesrat und auf die Gesellschaft bezieht und ihr hängigkeit des Gerichts beurteilt? Europäischer Union. Er ist Vorsitzender dient, kann auch soziale Realitäten Doch die Große Kammer ließ sich der Gemeinsamen Konferenz Kirche und nicht ausblenden. Mit den religiösen nicht von politischen Erwägungen lei- Entwicklung (GKKE) und der Evangelischen Wurzeln europäischer Identität kon- ten, sondern sprach schlicht Recht. Sie Zentralstelle für Entwicklungshilfe (EZE) so- frontiert zu werden, behindert nicht erkannte die weltanschauliche Par- wie Aufsichtsratsmitglied des Evangelischen die eigene Entscheidung für oder ge- teinahme und die Fehlschlüsse des Entwicklungsdienstes (EED). gen (eine) Religion. ersten Urteils und revidierte sie. Ein All das hat die Kleine Kammer in Kreuz, so die Richter, ist und bleibt

Seite 136 / 161 Februar Mit der Bundeswehr- reform endet auch der Zivildienst. Die letzte Generation der Rekruten und Zivis tritt im Frühjahr 2011 an. Wir brauchen die Mitmach- Gesellschaft

Christine Haderthauer · ZUKUNFT DES ZIVILDIENSTES

Die Sozialsysteme Die Erwartung, dass der neue Bundesfreiwilligendienst den Zi- können den Weg- vildienst voll ersetzen kann, darf man gar nicht erst wecken. Es fall des Zivildiens- wird aber auch nicht alles zusam- menbrechen, hier rate ich zur Ge- tes kompensieren. lassenheit. Zivis durften auch jetzt schon nicht als billige Arbeitskräf- Der Weg führt te eingesetzt werden und ihr Anteil liegt im sozialen Bereich bei durch- zu einer Kultur schnittlich weniger als einem Pro- zent der Beschäftigten. Auch wenn der Freiwilligkeit. hier und dort vorübergehend die hel- fende Hand fehlen wird, gehe ich da- Jeder sollte sich von aus, dass die Träger die Umstel- lung gut vorbereiten können. Jetzt fragen, was er gilt es, an einem Strang zu ziehen und einen neuen Schub für bürger- der Gesellschaft schaftliches Engagement zu entfa- chen. Wir sollten die Aussetzung der zurückgeben kann Wehrpflicht und damit den Wegfall des Zivildienstes als einmalige Chan- – und welcher ce sehen, eine neue Kultur der Frei- willigkeit zu entwickeln, der aktiven Erfahrungsgewinn Bürgergesellschaft dadurch einen Im- puls zu geben. durch freiwillige Arbeit entsteht. Bürgergesell- schaft durch Freiwilligkeit

Mit dem Bundesfreiwilligendienst und den bestehenden, etablierten und begehrten Freiwilligendiensten der Länder wie dem Freiwilligen Sozialen

Seite 138 / 161 Jahr, das Pate für den neuen Bundes- teil. Hier gibt es einen ungehobenen ell weniger junge Leute sein werden in freiwilligendienst stand, setzen wir Schatz an Engagementbereitschaft Zukunft, diejenigen, die sich engagie- hier ein wichtiges Signal! Das harmo- von Menschen, die ihr Erfahrungs- ren, tun es, weil sie es wollen. Für das nische Miteinander dieser Dienste mit wissen einbringen wollen. Die heu- Freiwillige Soziale Jahr gibt es heute vergleichbaren Rahmenbedingungen tige Generation ab 65 ist so tatkräftig schon jedes Jahr mehr Bewerber als ist äußerst wichtig. Bürgerschaftli- und vital wie nie zuvor – das zeigen Einsatzstellen. Wer sich freiwillig en- ches Engagement braucht diese Plu- auch die Zahlen. Der Anteil der Älte- gagiert, gewinnt einen Erfahrungs- ralität der Angebote. Denn freiwilliges ren im Ehrenamt hat in den vergan- schatz, den das beste Studium nicht Engagement ist so bunt und vielfältig genen zehn Jahren in Bayern prozen- leisten kann. Wir sollten diese Kul- wie die Menschen in unserem Land tual am stärksten zugenommen. tur nutzen, indem wir den freiwilli- und ihre Bedürfnisse – es wächst aus gen Dienst für die Gesellschaft eine der Gesellschaft heraus. Das ist eine Visitenkarte fürs Leben werden las- klassische Graswurzelbewegung und Freiwilligendienst sen, die, gerade für junge Menschen, kann nicht von oben verordnet wer- ein Türöffner bei Studienplatz, Aus- den. ist Weiterbildung bildungsplatz oder Stellensuche wird! Der Bundesfreiwilligendienst wird Es ist eine Frage des Miteinanders der die Jugendfreiwilligendienste hervor- Und unsere Jugendlichen haben Gesellschaft, denen, die sich für das ragend ergänzen! Die Marke „Freiwil- durch den Wegfall der Pflichtdiens- Gemeinwohl engagieren, auch etwas liges Soziales Jahr“ wird verstärkt als te die Möglichkeit, ihren Lebens- zurückzugeben! Bildungs- und Orientierungsjahr aus- weg zu verfolgen. Sie stehen im glo- schließlich für junge Menschen ange- balen Wettbewerb vor existenziellen Die Arbeitsrechtlerin Christine boten. Der Bundesfreiwilligendienst Herausforderungen. Eine Ausbil- Haderthauer ist seit 2008 zielt auf Männer und Frauen aller Ge- dung absolvieren, eine Stelle finden Bayerische Staatsministerin für nerationen, die sich für die Gemein- und Familie werden, hierbei ist die Arbeit und Soziales. 1984 trat schaft engagieren wollen. Ich finde junge Generation unter viel stärke- sie in die CSU ein, 2002 folgte das erste es gut, wenn sich in Zukunft auch rem Druck, als das früher der Fall politische Mandat im Stadtrat von Ingolstadt. Ältere in Freiwilligendiensten betäti- war. Zusätzlich werden sie die Last Seit 2003 sitzt sie im bayerischen Landtag. gen können. In Bayern leben bereits unserer immer älter werdenden Ge- Von 2007 bis 2008 war Haderthauer heute 2,4 Millionen über 65-Jährige, sellschaft tragen und meistern müs- CSU-Generalsekretärin. Tendenz steigend: Der Anteil älterer sen. Ein freiwilliges Engagement hat Menschen nimmt dabei schneller eine andere ideelle Aufladung als ein zu als jeder andere Bevölkerungsan- Pflichtdienst, selbst wenn es eventu-

Seite 139 / 161 Januar In Ägypten gewinnen die Demonstration an Fahrt – und damit der arabische Frühling. Die tunesische Auto- kratie fällt als erstes, dann folgt Ägypten. Was folgt, ist mindestens genauso spannend. Verschlimm- besserungen

Albert Stahel · ISLAMISIERUNG IM NAHEN OSTEN

Die Blütezeit des In Libyen haben die Aufständischen Gewalt auszeichnende Arabische mit militärischer Unterstützung der Frühling haben? Einen Umsturz in Arabischen Früh- NATO nach monatelangen Kämpfen Saudi-Arabien werden die Ayatollahs das Regime von Gaddafi gestürzt. Im und Mullahs des Irans für sich aus- lings ist vorbei. Gegensatz zum libyschen Volksauf- nützen. Nicht nur werden sie definitiv stand herrschen in Ägypten und auch den Irak zu einem Satelliten degradie- Die aktuelle Ruhe in Tunesien immer noch die Militärs. ren, sie werden auch ihre geopoliti- Diese haben durch die Beseitigung sche Stellung im Persischen Golf aus- ist trügerisch: Die des jeweiligen Präsidenten ledig- dehnen. Der Aufstieg des Irans zu lich die politische Visitenkarte ausge- einer wirklichen Regionalmacht wäre verbliebenen Re- tauscht. für die Weltmacht USA eine macht- Es besteht nun die Möglichkeit, politische Herausforderung. Vorder- gime stehen auf dass der libysche Aufstand auch für hand können sich die USA für ihre andere arabische Staaten Signalwir- Präsenz im Golf auf ihre Beziehungen tönernen Füßen, kung haben könnte. Bereits jetzt wird zum wahhabitischen Königshaus stüt- in zwei weiteren arabischen Staaten zen. Sollte dieses jedoch fallen, hätten die Gefahr der gegen das jeweilige Regime gekämpft. die USA, deren geopolitische Stellung In Syrien ist es die sunnitische Mehr- in der Welt bereits geschwächt ist, im Re-Islamisierung heit, die das Minderheitenregime der Golf nur noch ihre Stützpunkte in Alawiten und des Führers Assad stür- Bahrain, Katar und Kuwait. Die Fort- bleibt hoch. zen will. Im Jemen kämpfen verschie- setzung des Arabischen Frühlings im dene Gruppen – Schiiten, ehemalige Persischen Golf dürfte auf Kosten der Ein Narr, wer Marxisten aus Südjemen und Al-Qai- Machtstellung der USA gehen, was da-Anhänger – gegen das herrschen- wiederum die Versorgung der Indus- dabei optimistisch de Regime. triestaaten mit Erdöl und Erdgas ein- schränken würde. Zu den Verlierern bleibt. würden neben den USA und Europa Die Ruhe trügt auch Japan und China gehören.

In anderen arabischen Staaten herrscht noch Ruhe, allerdings eine trügeri- Re-Islamisierung sche. Sobald der Geldzufluss und da- mit die Subsidien nicht mehr an die ist eine reale Bevölkerung fließen, ist es denkbar, dass der libysche Aufstand in Sau- Gefahr di-Arabien zum Vorbild wird und die Streitkräfte das wahhabitische Königs- Doch neben diesem Vorbildcharak- haus stürzen. Sollte dieses fallen, wer- ter für Saudi-Arabien gibt es noch den auch der haschemitische König eine andere Entwicklung, die nicht von Jordanien und seine Anhänger- unterschätzt werden darf: der Macht- schaft weggefegt werden. zuwachs der Salafiten, al-Qaida und Welche weiteren Auswirkungen damit extremer Islamisten in Ägyp- könnte der sich zunehmend durch ten und anderen arabischen Staaten.

Seite 141 / 161 tevfikret / Photocase.com

Deren Machtgewinn könnte zu einer Der Politikwissenschafter Re-Islamisierung einiger bis dahin Albert Stahel ist Professor säkular beherrschter arabischer Staa- für strategische Studien an ten führen. Diese würde nicht nur der Universität Zürich. Er ist eine Bedrohung für die vielen christ- Mitglied des International Institute for lichen Minderheiten in diesen Staaten Strategic Studies in London und der bedeuten, sondern die gesamte geo- Clausewitz-Gesellschaft, Hamburg. politische Lage in Nordafrika und im Zu Stahels wissenschaftlichen Mittleren Osten verändern. So wäre Schwerpunkten gehören Afghanistan und insbesondere Israel davon betroffen. Zentralasien, Terrorismus und organisier- Das Land wäre plötzlich von einem te Kriminalität. Stahel leitet das Institut für Ring islamischer Republiken umge- Strategische Studien in Wädenswil. ben. Ein Übergang zu einem Kriegs- zustand in der Region wäre absehbar. Aber auch der Einfluss Europas würde eingeschränkt, was zum Zeitpunkt ei- ner sich abzeichnenden Rezession der europäischen Volkswirtschaften ge- fährliche Folgen haben würde. Sicher ist dieses Szenario das schlimmste aller denkbaren Ent- wicklungen für die arabische Welt, Israel und Europa. Ein Grund mehr, dieses ernst zu nehmen und sich da- vor zu wappnen.

Seite 142 / 161 Der Geist der Freiheit

Sahar el-Nadi · RÜCKTRITT VON PRÄSIDENT MUBARAK

Präsident Mubarak ist zurückgetreten. Die Entwicklung der kommenden Tage ist völlig offen. Nur eines ist klar: Wer einmal die Luft der Freiheit gerochen hat, wird sich nicht wieder unterjochen lassen.

Seit mehreren Wochen pilgere auch schen auf dem Boden geschlafen und ich regelmäßig zum Tahrir-Platz, trotzdem ihre Begeisterung und ihren bewaffnet mit einer Kamera und Durchhaltewillen behalten. Mit jedem dem Bedürfnis, diese Tage und meiner Besuche wurden die Demons- Stunden inmitten der ägyptischen tranten entschlossener. Bevölkerung zu verbringen. Man konnte deutlich erkennen, dass sich ein Geist des Aufbruchs auf den Das Ägypten Straßen Kairos breitmachte und je- den Tag stärker wurde. Das Beein- der Menschen druckendste daran waren für mich die fehlenden Grabenkämpfe in- Architekten haben mit den Organi- nerhalb der Opposition. Menschen satoren auf dem Platz über logisti- unterschiedlicher Herkünfte, poli- sche Fragen diskutiert. Ärzte verteil- tischer Orientierungen und Glau- ten Handzettel mit Gesundheits- und bensrichtungen nahmen an den Sicherheitshinweisen und boten in Protesten teil und haben inmitten Medizinzelten kostenlose Vitamin- vom Tahrir-Platz die Saat eines uto- tabletten an. Freiwillige organisier- pischen politischen Aufbruchs ge- ten eine Müllabfuhr, reinigten täglich hütet. Wochenlang haben die Men- den Platz von Dreck und Abfall und

Seite 143 / 161 Sahar El-Nadi führten sogar eine Mülltrennung ein schen neu. Wert als historisches Vorbild in – inmitten der Revolution. Einer die- Vor allem die Transparente der De- den Augen der Welt verlieren. Von ser Freiwilligen sitzt im Rollstuhl. Bei monstranten haben mich beein- jetzt an werden sich Revolutionen den Special Olympics hatte er mehre- druckt. Welche Kreativität! Bei den am Beispiel Ägypten orientieren – re Medaillen gewonnen, die er stolz meisten Protesten sind die Botschaf- an der Inspiration, dem Charisma, präsentierte. Er wollte „sein Ägypten ten vorformuliert oder zumindest in- den Emotionen und der Dynamik aufräumen“. Diese Rhetorik hört man haltlich ähnlich. Nicht hier. Jeder einer Revolution des Volkes.“ von vielen Demonstranten: Ägypten schien sich die Sorgen von der Seele gehörte einmal der Elite. Jetzt ist es zu schreiben und zu zeichnen – vor al- Ihre Karriere hat sie der inter- das Ägypten der Menschen. lem auch die arme Bevölkerung. kulturellen Verständigung zwi- Trotz der Abwesenheit der Polizei schen Muslimen und Christen gab es keine einzige Beschwerde über gewidmet. Sie ist Initiatorin sexuelle Belästigung auf dem Tahrir- Die Zeit der Stag- der Initiative “Don’t Hate, Educate” und Platz. Für Ägypten ist das ein Mei- Beraterin für das Portal Islam Online. lenstein. Gleichzeitig haben Freiwilli- nation ist vorbei 2010 wurde el-Nadi von der Universität ge eine Schule für Kinder organisiert, von Kalifornien für ihre Arbeit zu einer die aufgrund der Proteste den norma- Das ist eine Dynamik, die wir der Re- der “Women Leaders of the World” len Unterricht verpassen. Die Liste volution verdanken. In diesem Kon- gewählt. lässt sich beliebig fortführen: Ein Ta- text ist es auch erst einmal egal, wie xifahrer erzählte mir, er sei eigentlich die politische Entwicklung der kom- Dichter. Weil er Korruption anpran- menden Wochen verläuft. Ich glaube gerte, war er nach den Regeln des Aus- daran, dass wir Ägypter unser Land nahmezustandes verhaftet und einge- wieder aufbauen werden – unabhän- sperrt worden. Die Taxifahrt wurde gig davon, welcher Politiker jetzt wel- für uns beide zur Wohltat inmitten che Entscheidungen trifft. Mit dem der Unruhen: er war froh über seine Ende der Ära Mubarak endet auch die Zuhörerin, ich war tief gerührt von Ära der Stagnation. seinen rezitierten Gedichten. Das ist Ein Freund aus Frankreich hat mir vielleicht der größte Erfolg der Revo- vor Kurzem folgendes erzählt: „Die lution: Wir entdecken unsere Mitmen- Französische Revolution wird ihren

Seite 144 / 161 Januar Facebook überschreitet die Marke von 600 Millionen Nutzern. Meine kleine große Facebook-Welt

Beate Wedekind · MENSCHEN UND WAS SIE TUN

Facebook verbin- Bevor ich wieder für ein paar Tage nach Äthiopien gehe (u. a. weil Bun- det Menschen, desminister Dirk Niebel und Almaz Böhm von Menschen für Menschen lässt uns teilha- ein neues gemeinsames Projektgebiet in einer weit abgelegenen ländlichen ben, an Alltägli- Region initiieren, in dem mehr als 150.000 Menschen neue Perspektiven chem und Außer- für eine lebenswerte Zukunft bekom- men), habe ich mein Facebook konsul- gewöhnlichem. tiert, um nachzuschauen, was meine Freunde so bewegt. Egal, ob das Ich mache das gern, bevor ich auf Reisen gehe. Man bleibt so gut geerdet, Netzwerk nun 50 wenn man weiß, wo der Schuh drückt oder wo die Freude herrscht in Ugan- Milliarden Euro da, dem Kongo, in New York, in Berlin und im Brandenburgischen. Und man wert ist oder viel- nimmt sich etwas heraus aus dem Mittelpunkt des Universums … leicht weniger: Der private Wert Die Familie ist unermesslich. lebt am Limit

C., ein Spross aus alter deutscher Ban- kiersfamilie, verheiratet mit einer Af- rikanerin und in Uganda lebend, mel- det, dass er ein paar Tage offline sein wird. Wir wissen, was das heißt: Kein Geld für eine Prepaid-Karte, die Fami- lie lebt am Limit. J., eine Freundin seit fast 30 Jah- ren, eine alerte Künstlerin, die in Eu- ropa, Amerika und Afrika lebt, warnt vor einer neuen Einstellung auf Face- book. Sie scheint fast täglich ihre pri-

Seite 146 / 161 vate Sicherheit zu überprüfen; ich bin der Warteschlange auf dem Airport nen, hat eine weiße Seite fotografiert da sorgloser. Frankfurt zum Check-in nach Ibiza und gepostet und fleht ins WWW hin- E., ein Internetunternehmer, der getroffen habe, ist vom Irak in die De- ein um Inspiration. in New York eine Auszeit nimmt, mokratische Republik Kongo versetzt E., eine geniale Pariser Fotografin, macht sich Gedanken, warum es in worden. Er postet Fotos vom Wasser- hat dem Thema weißes Blatt gleich Deutschland nicht die Dienstleis- skilaufen auf dem Fluss Kongo. Ich eine ganze Gruppe gewidmet. tungsmentalität gibt wie in den Ver- denke: Gibt es da keine Krokodile? R., Lebemann mit Kommunen- einigten Staaten. Seine Rückschlüsse vergangenheit, verabschiedet sich ins sind interessant und ich kann sie gut Dschungelcamp. nachvollziehen. Der Sozialstaat macht Wieso klicken M., mein Freund aus Addis Abe- wenig erfinderisch. ba, ein begnadeter Tänzer, ist nächs- A., eine Kunstprofessorin in Italien, nicht mehr te Woche leider nicht in der Stadt. Er postet die grandiosesten Gemälde des tourt in den Vereinigten Staaten. Mittelalters, Bilder von so tiefer Schön- „Gefällt mir“? N., eine befreundete Schauspiele- heit, dass ich nur niederknien möchte. rin mit Hof in Brandenburg, hat ihre Ich teile Begeisterung und Besorgnis Bei C., einem Opernsänger in Bay- Pferde und ihr Haus evakuiert und A., ein PR-Manager aus Berlin, ist ern, stimmt was nicht; zum ersten wartet auf das Hochwasser. Umgeben unterwegs von Israel und postet wun- Mal hat er ein Profilfoto gepostet, in von Freunden und Familie. derbare Fotos, die komplett vergessen dem er nicht mit seinem Dalmatiner Und ich? Ich freu mich einfach, lassen, wie brisant die Situation im abgebildet ist. dass ich so viel über das Leben meiner Gelobten Land auch in diesen Tagen A., aus Oer-Erkenschwick, die Freunde überall auf der Welt erfahre. ist. Brautmoden macht, aber vor allen Din- Täglich, rund um die Uhr. Und dann M., eine Kollegin aus Los Angeles, gen die Welt verbinden will, hat das setze ich mich morgen in den Flieger berichtet von dem Erfolg des job- und Portal "Ich zeige Mitgefühl“ gegrün- nach Äthiopien und nehme die Bil- obdachlosen Amerikaners, der, seit er det. Zielt sehr auf die Tränendrüse. der meiner Freunde mit in meinem auf YouTube einen Job-Appell gestar- M., viel beschäftigtes Mitglied ei- Herzen. Und: Es ist mir so was von tet hat, mit Arbeitsangeboten über- ner Chefredaktion, bedankt sich mit wurscht, ob Facebook und Babyface häuft wird. Ich teile ihre Begeisterung. vielen Ausrufezeichen für die Ge- Zuckerberg nun 50 Milliarden Euro S., ihr Mann, postet eine Weltkarte burtstagsglückwünsche, die wir ihr wert sind oder mehr oder weniger. Er von Google, auf der die neuesten For- per Facebook geschickt haben, weil hat auf jeden Fall die Welt näher zu- men von Massentiersterben verzeich- wir wissen, dass sie nie Zeit zum Te- sammenrücken lassen. Nur deshalb net sind. Ich teile seine Besorgnis. lefonieren hat. liebe ich Facebook. N., eine Freundin aus Hamburg, W., ein Wiener Journalist und stellt einige Fotos ihrer sechs zauber- Nachdenker, postet ein sehr star- Die Publizistin und Produzentin haften Kinder auf ihre Wall. Meine kes Zeit-Interview mit dem Schwei- Beate Wedekind lebt in Berlin, Bewunderung für sie, wie sie ihr Be- zer Querdenker Jean Ziegler über den auf Ibiza und in Addis Abeba / rufs- und ihr Privatleben unter einen Hunger in der Dritten Welt, seine Zeit Äthiopien. Als Gesellschafts- Hut bekommt, steigt ins Unermessli- als Chauffeur von Che Guevara und Reporterin und als Chefredakteurin u. a. von che. Ich würde nur mit diesen Jungen den größten Grund zur Verzweiflung: Elle, Ambiente und Bunte hat sie sich ein und Mädchen zusammen sein wollen. Frauen, und ich wundere mich, dass Bild von der Welt gemacht. Ihre Erfahrungen B., ein junger Agraringenieur nicht mehr "Gefällt mir“ anklicken. hat sie in einigen Büchern dokumentiert, aus Texas, den ich vor zwei Jahren in H., eine meiner Lieblingsautorin- gerade schreibt sie ihre Autobiographie. Foto: alle Rechte vorbehalten. Rodrigo Monreal

Seite 147 / 161 „Wir leben in einer Schwellenzeit“

Hubert Burda · THE ICONIC TURN

Das Bild in den The European: Das Internet lost eine zwischen Schiller, Goethe oder Kleist bestimmte Übersättigung mit Bil- zu setzen. Wenn ich in meinem Buch Medien, die Me- dern aus. Wie können wir uns inner- zehn Thesen zum Iconic Turn auf- halb dieser Übersättigung zurecht- stelle, verbinde ich mein Studium der dien als Fenster finden? Kunstgeschichte mit den neuen Me- Burda: In meinem Buch geht es un- dien, die nun im 21. Jahrhundert ge- zur Welt. Was ter anderem über die Bedeutung des nauso da sind wie um 1500 die Guten- Rahmens: Wer keinen Rahmen für berg-Medien. unseren Blick aus die Informationen findet, wird er- Gab es bereits damals diese Wert- schlagen von der Informationsflut. schätzung des Bildes als Informati- dem Fenster heute Ohne Rahmen gibt es keinen Kon- onsträger, wenngleich unter anderen text. So habe ich in Vorbereitung un- technischen Voraussetzungen? ersetzt hat, warum seres Interviews versucht, mir ein Ich glaube, dass wir in einer Schwel- Bild von Ihnen zu machen, einen lenzeit leben. Es gibt massive Verän- Facebook und Co. Rahmen. Ich informiere mich über derungen durch Facebook, Twitter, The European und überlege, welche Groupon oder Foursquare. Gleichzei- unseren Horizont Fragen Sie stellen könnten. Informa- tig ist die Hinwendung zum Visuel- tionen gehören in einen jeweiligen len keinesfalls eine Erfindung unse- erweitern und wes- Zusammenhang. Bei Bildern ist uns rer Zeit. Bilderwände gab es bereits dieser Sachverhalt weniger bewusst im Mittelalter, das war sozusagen der halb Paulus mit gewesen. Doch diese Kontextualisie- erste Iconic Turn. Den Amerikanern, rung wird angesichts der zunehmen- diesen genialen Algorithmenschrei- der Rhetorik von den Bedeutung von Bildern auch im- bern, ist klar, was in der Vergangen- mer wichtiger. heit schon an ikonischer Tradition vor- Cicero nichts hätte Wie weit können wir denn die Bil- handen war. Sie haben sie instinktiv der unserer Kunst noch verstehen, benutzt, für Google, Apple oder ganz anfangen können, ohne die Kontexte unserer geschicht- zu Beginn der Digitalisierung eben lichen Tradition zu kennen? Stoßen für Microsoft Windows. verrät der Verleger wir dort an eine Grenze, an der uns Wir haben Bilder aus dem 20. Jahr- bestimmte Dinge verloren gehen, hundert ganz deutlich vor Augen, die und Buchautor weil uns der Kontext fehlt? ins kollektive Gedächtnis übergegan- Picasso, Manet oder Renoir – die gen sind: die Ermordung Kennedys, Hubert Burda im meisten Maler beschäftigen sich per- die Mondlandung – wie wichtig ist das manent mit der Tradition derer, die Bild für die Geschichtsbildung, für Interview. vor ihnen gelebt haben. Der deut- das kollektive Erinnern? sche Intellektuelle wird immer ver- Die Reichskanzlei, die Bilder von Ap- suchen, sein Leben in einen Rahmen ril 1945, der Bunker, die Ermordung

Seite 148 / 161 © gettyimages der Juden, die Gleise nach Auschwitz Der Journalismus ist immer auch Teil – das sind Bilder, die ins kollektive Ge- der Rhetorik, darin unterscheidet er dächtnis übergehen. Und die Kraft der sich von der Prosa oder von der Poe- Bilder erlebt ja jeder, wenn er schläft. tik. Der Journalist muss immer etwas Es sind nicht die Worte, die bleiben. wollen, wie auch ein Redner etwas Am anderen Morgen ist man irritiert will. Und wie weit Sie einem Redner von der Wucht des Traumbilds. Dass folgen und ob er Sie für blöd verkauft Bilder das kollektive Gedächtnis einer – darin besteht Ihre Intelligenz. Das Nation ausmachen, ist klar. Diese kol- war immer so, ob Sie Paulus zuge- lektive Ikonologie ist bei den Italienern hört haben oder Cicero. Cicero hätte wiederum eine ganz andere als bei sicherlich auch die christliche Bot- uns, bei den Franzosen ebenso. Kultur schaft gepredigt – und Paulus hätte wird auch durch ihre Bilder definiert. mit der Rhetorik von Cicero vermut- Text und Bild haben auch manipu- lich nichts anfangen können. lative Kraft. Welches von den beiden hat größeres manipulatives Potenzial? Das Verlagshaus Hubert Burda Die größte Kraft ist die, wenn ich bei- Media gehört zu den einfluss- de zusammennehme. Bei Mubarak reichsten in Deutschland, brauchten Sie kein Bild, den kannte international verlegt es etwa 250 jeder. Die Schlagzeile „Mubarak tritt Zeitungen und Magazine. Burda studier- ab“ ist dagegen gewaltig. Die Maga- te Kunstgeschichte und Soziologie in zine sind eine Kategorie für sich: Sei München, 1986 übernahm er die Burda es der Economist, das TIME Magazi- Holding. 1993 gründete er den FOCUS. ne, Focus, Spiegel, Stern oder Bunte Burda ist Stifter mehrerer Preise, vor allem – diese zehn, fünfzehn Magazine be- zur Förderung junger Künstler und Lyriker. stimmen den Gesprächsstoff mit still- stehenden Bildern. Das ist etwas voll- kommen anderes als beim Fernsehen. Wie weit das manipuliert, hängt auch von der Intelligenz des Betrachters ab.

Seite 149 / 161 Januar Obamas Umfragewerte sinken, die Tea Party hat Rückenwind. Die Party ist vorbei

Wolfram Eilenberger · AMERIKANISCHER EXZEPTIONALISMUS

Astronomische Haushaltsdefizite, Mythos, das heißt hier: identitäts- sichernde Erzählung. Der Kern des Verstaatlichung des Finanzsektors und amerikanischen Exzeptionalismus liegt in der Überzeugung, die Ver- Stimuluspakete, natürlich hatte die einigten Staaten nähmen als Nation eine heilsgeschichtliche Sonderrolle Entstehung einer wutgeladenen Gras- ein. Ihr unaufhaltsamer Aufstieg sei unleugbares Indiz einer gottgewoll- wurzelopposition am rechten Rand ten Bevorzugung, aus der sich wiede- rum eine besondere weltgeschichtli- eine Chance: Um ein präzises Bild der che Verantwortung ableite. Dieser Mythos ist in seinem Funda- Dynamik zu gewinnen, müssen die ment bedroht. Die akuten innenpoliti- schen Krisenherde – von Wirtschaft kulturellen Hintergründe des neuen über Erziehung bis zu Infrastruktur, Immobilien, Arbeitslosigkeit und Al- konservativen Widerstands berücksich- tersarmut – sind einfach zu nachhal- tig und offensichtlich. Der Tatsachen- tigt werden. Sie bestehen maßgeblich druck damit zu groß. Amerika ist von konkreten Statusängsten geplagt. in der fortgeschrittenen Aushöhlung des Mythos vom amerikanischen Abschied Exzeptionalismus durch die real exis- vom Mythos des tierende Globalisierung. Exzeptionalismus

In diesen breiteren Kontext gestellt, ist die Tea-Party-Bewegung der poli- tisch explosivste Ausdruck der angst- besetzten Unwilligkeit, Abschied vom Mythos des Exzeptionalismus zu neh- men. Getragen von einem drängenden Verlusts- bzw. Verratsempfinden, arti- kuliert sich die Bewegung deshalb in einer konsequenten Rückeroberungs- rhetorik: "Reclaim America!“, rufen

Seite 151 / 161 ihre Anhänger aus und marschieren Zudem gilt: Auch Geisteskranke er- unter dem Motto "Taking Our Coun- Die Leute halten ihre Impulse letztlich von au- try Back!“ bis nach Washington. Der ßen. Auch sie denken in den Zeichen explizite unterstellte Landesverrat bei Laune halten und Worten, die wir alle verwenden wird dabei elitenfeindlich gedacht und zirkulieren lassen. Der Begriff, (Wall Street, Washington), die eigenen Die Republikanische Partei muss die der die Bewegung der Tea Party im Verlustängste aber mit der Fiktion ei- außerordentlich motivierte Basis die- Innersten ihrer Wut zusammenhält, nes vergangenen goldenen Zeitalters ser von Angst und Verdrängung ge- lautet "American Exceptionalism“. beruhigt. Erklärtes Ziel der Bewe- triebenen Bewegung auf absehba- Was dieser Begriff in Zeiten der Glo- gung ist nicht etwa die Wiederherstel- re Zukunft hofieren und gezielt bei balisierung mit wahrem amerikani- lung eines konkreten Gesellschafts- Laune halten. In dieser Erkenntnis schem Patriotismus zu tun haben zustands historischer Vergangenheit, bestand das entscheidende Ergebnis könnte, bleibt dabei eine schrecklich sondern das trotzige Einfordern eines der Zwischenwahl von 2010. Sie bil- offene Frage. mythischen Sollzustands, dessen do- det auch den medialen Hintergrund, kumentierter Bezugspunkt die ameri- vor dem das Attentat von Tucson, Ari- Der Autor lebt momentan in kanische Verfassung bildet. Natürlich zona, als politischer Akt wahrgenom- Toronto und in Berlin. Er hat darf dabei nur der mutmaßlich ein- men werden musste. Zwar führt kei- Psychologie und Romanistik an deutige Wortlaut des heiligen Doku- ne schlüssige Kausalkette von der der Universität Heidelberg stu- ments Verbindlichkeit beanspruchen. rigoristischen, oftmals offen hasser- diert und 2008 an der Universität Zürich Interpretation ist Verrat. füllten Rhetorik der Tea-Party-Führer promoviert. Während seiner Promotion Der politische Gegner wird rhe- zum Handeln des jungen Täters. Doch als Stipendiat der Studienstiftung des torisch zum Feind, deliberative Ver- liegt der Schock für alle Beteiligten deutschen Volkes begann er seine fahren zu faulen Kompromissen, das darin begründet, dass es im Herzen journalistische Karriere in Berlin. Seit schlichte Einnehmen eines anderen niemanden überrascht hätte, wenn es dieser Zeit hat Wolfram Eilenberger seine Standpunkts zum Symptom geistiger genau so gewesen wäre. Ein Irrer ex- Artikel, Essays und Rezensionen national Verwirrung, Widerstand mit Waffen- ekutierte aus ganz eigenen Gründen und international veröffentlicht. Von 2000 gewalt eine offen erwogene Option. eine Vision, auf deren Realisierung bis 2002 war er als Kolumnist für die Das ist politischer Fundamentalismus führende Tea-Party-Köpfe über Mona- Zeit tätig und seit 2003 arbeitet er als par excellence. te ruchlos angespielt hatten. Korrespondent für Cicero. Foto: Markus C. Hurek

Seite 152 / 161 Januar Das Jahr beginnt nicht gut für Linke und FDP. Gesine Lötzsch provo- ziert durch die Nähe zum Kommunismus, die FDP kämpft gegen die Umfragemisere. Lötzsch in die CDU

Alan Posener · CHRISTENTUM UND KOMMUNISMUS

Gegen den Kommunismus ist nichts einzuwenden. Seine Forderung nach Solidarität fußt direkt auf christlichen Glau- benswurzeln, sein Beharren auf allgemeinem Wohlstand lässt jeden Mittelständler jubeln. Die Zukunft des Kommu- nismus liegt in der Union, Gesine Lötzsch zum Trotz.

Dass sich ausgerechnet christli- zips und des auf ihm basierenden Ei- che Politiker über Gesine Lötzsch gentums. Der heilige Petrus, in des- so aufregen, muss doch sehr wun- sen Nachfolge sich die Päpste bis dern. Denn die erste christli- heute wähnen, setzte insbesondere che Gemeinschaft in Jerusalem die Eigentumslosigkeit mit recht gro- praktizierte den Kommunismus ben Mitteln durch, wie die Geschichte pur: "Und alle, die gläubig gewor- von Hananias und Saphira (Apg. 5,1– den waren, bildeten eine Gemein- 11) beweist. schaft und hatten alles gemein- sam. Sie verkauften Hab und Gut und gaben davon allen, jedem so Christlicher viel er nötig hatte“ (Apg. 2,44ff., siehe auch Apg. 4,32–37). Von die- Eigentumsverzicht ser Stelle her leitet sich jener Wahl- spruch des Kommunismus, den Seit jeher steht das Christentum aber der Christ Karl Marx formulierte: auch mit dem Leistungsprinzip auf "Jeder nach seinen Fähigkeiten, je- Kriegsfuß, und das gehört auch zu dem nach seinen Bedürfnissen.“ den erfreulicheren Seiten dieser Reli- Kurz und gut: Kommunismus ist gion – eine Seite, die natürlich nicht die Aufhebung des Leistungsprin- beschworen wird, wenn die "christli-

Seite 154 / 161 che Leitkultur“ gegen angeblich un- nachmittags zu fischen, abends Vieh- produktive türkische Gemüsehändler zucht zu treiben, nach dem Essen zu und ihre Kopftuchmädchen in An- kritisieren, wie ich gerade Lust habe, schlag gebracht wird. Tatsächlich han- ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kri- delt es sich bei der Sarrazinade eher tiker zu werden“. So ein bisschen Be- um ein Rest-Ressentiment aus der nediktinermönch, könnte man sagen, SPD, die – obwohl ihre Gleichheits- ohne das lästige Beten und Fasten. träume eben von jenem urchristlichen Ideal befeuert werden – im 19. Jahr- hundert als Proletarier-Interessenver- Christlicher tretung die fatale Losung auf ihre Fah- nen schrieb: "Wer nicht arbeitet, soll Zukunfts- auch nicht essen.“ Ähnlich sah es die NSDAP, die in Punkt 11 ihres Partei- kommunismus programms von 1920 die "Abschaf- fung des arbeits- und mühelosen Ein- Kurz und gut, gegen den Kommunis- kommens“ forderte, was wiederum an mus ist nichts einzuwenden, außer den Spruch Guido Westerwelles von dass er – wenn man nicht gerade ein 2010 erinnerte, es müsse Schluss sein verkrachter Bankenvorstand, Mönch mit "anstrengungslosem Einkom- oder Kibbuznik ist – utopisch bleibt. men“. Aus der CDU hingegen, und Wie kommt aber Gesine Lötzsch dar- das ist ein echt christlicher Gedanke, auf, ihn ausgerechnet mit den Queru- stammt der Vorschlag eines "bedin- lanten, Karrieristen und Altstalinisten gungslosen Grundeinkommens“ (Die- der Linkspartei verwirklichen zu kön- ter “Pistensau” Althaus nannte es "so- nen? Ihr Platz ist doch in der Union! lidarisches Bürgergeld“) – also eben jenes arbeits-, mühe- und anstren- Er schrieb Bücher über John gungslose Einkommen, das den un- Lennon, John F. Kennedy, Elvis solidarischen Kleinbürger so in Rage Presley, William Shakespeare, bringt. Die Linke ging einen Schritt Franklin D. Roosevelt und die weiter, stahl die CDU-Parole vom Jungfrau Maria. Was haben all diese Figuren "Wohlstand für alle“ und fordert nun gemein? Nicht viel. Doch sie zeigen das "Reichtum für alle“, was man als die breite Interesse von Alan Posener, gebo- hedonistische Form des Kommunis- ren 1949 in London. Er studierte an der mus bezeichnen kann – auch sie übri- FU Berlin Anglistik und Germanistik und gens bei Marx zu finden, der sich den war in dieser Zeit im Kommunistischen Kommunismus als eine Gesellschaft Studentenverband aktiv. Seit 1999 arbei- vorstellte, in der die Arbeitsteilung tet er für die Welt und Welt am Sonntag. aufgehoben ist und die "mir eben da- 2007 geriet er mit Bild-Chef Kai Diekmann durch möglich macht, heute dies, mor- aneinander, nachdem er ihn auf Welt Online gen jenes zu tun, morgens zu jagen, “scheinheilig” genannt hatte. Foto: alle Rechte vorbehalten

Seite 155 / 161 Und sie wählen sie doch!

Ulf Poschardt · DIE WÄHLERSCHAFT DER FDP

Die liberale Partei wurde von vielen Die FDP wird nicht untergehen. War- um? Weil sich dies ein harter Kern von bereits abgeschrieben. Wer glaubt, Wählern nicht leisten kann. Sie leihen den Liberalen ihre Stimme, egal in dass die FDP dieses Jahr nicht über- welch miserablem Zustand sie sich be- findet, weil sie als einzige Partei öko- leben würde, irrt. Es gibt Wähler, die nomischen Erfolg nicht bestraft. Wenn es im Wahljahr 2011 in dem trotz allem nicht auf eine marktwirt- ein oder anderen Bundesland nicht für fünf Prozent reichen sollte, werden schaftlich orientierte Partei in den über die Umverteilungsallergischen hinaus auch diejenigen aktiviert, die Parlamenten verzichten wollen. weniger notorisch die FDP wählen, aber es potentiell bedrohlich fänden, wenn die einzige Partei verschwinden würde, die noch von Steuersenkungen und nicht Steuererhöhungen spricht. Politik für die Kernzielgruppe

Beiden minoritären Kernwählerschaf- ten geht es um ihren erwirtschafte- ten Wohlstand, egal wie bescheiden er auch sein mag. Diese Wählerschaft in- teressiert sich weniger für jene – in der Republik des politisch Korrekten ger- ne bemühten – Floskeln des Bürger- rechtsliberalismus, der dem vermeint- lich kalten Liberalismus ein wärmeres Gemüt bescheren soll. Nicht (weiter) enteignet zu werden, reicht dem Be- sitz- und Gewerbebürgertum. Das sieht man der aktuellen Partei auch an. Ihre Wirtschaftsnähe prägt sich bis in die Allüre der Partei und

Seite 156 / 161 seiner Vertreter hinein. Damit ist auch ein wenig erklärt, warum die Partei Den gleichen besonders leidenschaftlich verhasst wird. Wirklich mögen tun die Men- Fehler nicht schen den Kapitalismus in Deutsch- land nicht, auch wenn sie gelernt ha- zweimal ben, gut in ihm zu überleben. Das bankkaufmännlich Adrette Diesen Fehler wird die FDP, falls sie schreckt auch jene Wähler, die aus ei- denn nochmal in eine Regierung ge- nem libertären Lebensentwurf heraus, wählt wird, kaum wiederholen. Die ihr Kreuz bei der FDP machen könn- Liberalen müssen den Schatzkanz- ten. Oft sind diese Freisinnigen noch ler stellen und nur im Falle einer ab- nicht vom Finanzamt gequält werden, soluten Mehrheit eine im Außenamt aber sie sind instinktiv oder nach reif- zunehmend symbolische oder klein- licher Überlegung der Meinung, dass teilige Arbeit verrichten, deren große der Staat nicht überall dort rumpfu- Züge die Kanzlerin vornimmt. schen soll, wo eigentlich Privatsphäre Geht die FDP in der ersten Hälf- respektiert werden müsste. te des Jahres vorläufig unter, steht sie Exponenten dieser staatskritischen in der zweiten wieder auf. Mit neuem Haltung abseits der Fiskalfrage gibt es Personal bestünde die Chance, den wenige, aber es gibt sie. Guido Wester- Makel des weithin Unsympathischen welle hat die FDP – wie Richard Her- abzustreifen. Der Liberalismus nach zinger in der Welt am Sonntag so rich- Westerwelle dürfte ein wenig subtiler tig formulierte – zu Oppositionszeiten geraten, auch wenn die Kernbotschaf- in den abstrakten Propagandismus li- ten denkbar einfach bleiben. Es sind beraler Maximalforderungen getrie- Trueisms wie „Privat vor Staat“, „mehr ben, und damit in geschichtslosen Netto vom Brutto“ oder „Steuern run- Raum. Das können Traditionslibera- ter macht Deutschland munter“, die in listen beklagen, das kann aber auch ihrer glänzenden Immerfrische nur als Chance gesehen werden. Unbelas- in ein neues, komplexeres Ideenge- tet von vielem unnützem und auch bäude verwoben werden müssen. Der tristen ideologischen Handgepäck des fruchtbare Sog der Freiheit ist im Au- Liberalismus könnte sich die FDP neu genblick kraftlos und bibbernd. Blickt mit einem frischen Überbau versehen. man ohne Angst auf die Situation, er- Generalsekretär Christian Lindner wächst in der Gefahr das Rettende. versucht dabei auch jenes kulturel- le Vakuum zu füllen, das die Veren- Der Journalist wurde 1967 gung auf den Wirtschaftsliberalismus geboren und ist nach Stationen mit sich gebracht hat. Eine funkelnde bei der Süddeutschen Zeitung Gedankenlandschaft und jede Men- und Vanity Fair nun stellvertre- ge befreundeter Intellektuelle würden tender Chefredakteur der Weltgruppe, die aber nicht den Kampf um erfreuliche die Zeitungen Welt, Welt am Sonntag, Welt Lohnsteuerkarten ersetzen. Deswe- kompakt und den Internetauftritt Welt.de gen war es ein Desaster, dass Wester- umfasst. Ulf Poschardt verfasste mehrere welle den wichtigsten Job neben der Bücher über Kultur und Lebensstil, zu- Kanzlerin der CDU und Wolfgang letzt “Einsamkeit. Die Entdeckung eines Schäuble überließ. Lebensgefühls”. Foto: Axel Springer

Seite 157 / 161 Wahrheit und Meinung Gibt es eine objektive, unumstößliche Wahrheit? Oder brechen sich Wahrheitsansprüche im Diskurs an den Behauptungen der anderen. Meinung oder Wahrheit? Für die Arbeit eines Meinungs- und Debattenmagazins ist das die entscheidende Frage.

Für die Macher eines Debatten-Maga- bene Datenbank an Sprache in ihrem zins stellt sich diese Frage unvermeid- Hirn, wenn sie zu sprechen beginnen, lich: Gibt es eigentlich die Wahrheit? sondern sie lernen die Welt. Ihre Welt, Unserem Selbstverständnis nach ver- ihre subjektive Welt. handeln wir Sachverhalte ja diskur- Diese neuen Erkenntnisse setzen siv, das heißt: subjektive Überzeugun- den alten Wahrheitsbegriff einem gen stehen miteinander im Wettstreit. krassen Stresstest aus. Wahrheit be- Die Argumentation gewinnt der, der deutete immer etwas Objektives in- die besten Argumente glaubhaft vor- nerhalb der Welt oder etwas Größe- trägt. Argumente werden vorgetragen res über uns außerhalb der Welt. Von mittels der Sprache. Sie stehen in un- beidem kann nach der linguistischen mittelbarem Zusammenhang mit der Wende nicht mehr gesprochen wer- Person, die sie äußert. den. Davon unterschieden wurde die Mit der linguistischen Wende in bloße Meinung; also im Prinzip die der zweiten Hälfte des vergangenen Materie, aus der ein Meinungs- und Jahrhunderts wurde – was heute eine Debattenmagazin aufgebaut ist. Selbstverständlichkeit ist – erstmals Sprache als etwas verstanden, was nur in einem bestimmten Kontext sinn- Erst Kopernikus, voll ist. Sprechen ist also mehr als nur Laute äußern, Sprechen ist ein Selbst- dann Darwin vollzug. Sprechen ist Handeln. Das heißt auch, dass Sprechen immer sub- und Freud jektiv ist. – und jetzt das!

Das Ende Die linguistische Wende ist daher die jüngste Kränkung, die der Mensch des Objektiven nach Kopernikus, Darwin und Freud ertragen muss. Sie ruft ihm nichts Im Zusammenhang von Sprechen – anderes zu, als dass er zu mehr nicht Denken – Welt gibt es somit nichts taugt, als eine wohlbegründete Mei- Objektives mehr, das uns als Gegebe- nung zu formulieren, mehr nicht. Er, nes gegenübertreten könnte. Kinder der Mensch, ist also nicht Adressat aktualisieren nicht etwa eine vorgege- einer wahren Offenbarung oder Er- kenner einer größeren Wirklichkeit, Eine zweite Konsequenz ist die der die ihn umgibt. Er konstruiert seine Unterscheidung von Gut und Böse. Wirklichkeit mit Hilfe der Sprache. Er Das ist eine nicht unerhebliche Fra- schafft das intersubjektiv mit den an- ge. Der Heilige Thomas kann in der deren Teilnehmern seiner Sprachge- Scholastik sagen, dass es ethisch ist, meinschaft und darüber hinaus mit das Gute zu tun und das Böse zu mei- allen Menschen, mit denen er qua den, es zurückzuweisen. Das Gute Gattung dieselbe kognitive Grundaus- und das Böse hingegen füllt er inhalt- stattung teilt. In der Welt gibt es also lich nach den Maßgaben der Glau- nur noch Dinge, die in einem inter- benslehre, was gut und was böse sei. subjektiven Diskurs Wahrheitsfähig- Wird das Gute manifest in Gott, das keit erlangen, es gibt aber keine objek- Böse im Teufel? Oder lebt die Anlage tive Wahrheit, deren Erkenntnis den zu dem, was wir gut und böse nennen, Schlüssel zum Verständnis der ge- in unserem Denken, Sprechen und samten Wirklichkeit darstellt. Handeln, fügt sich durch die Erfah- Uns tritt also keine Welt objektiv rungen unseres Lebens zusammen? entgegen, sondern wir sind immer schon Teil der Welt. Die Welt wird durch uns, was sie ist. Wenn wir ster- Konzepte, die ben, stirbt mit uns die Welt, so wie wir sie gesprochen haben. Das hat uns überdauern viele Konsequenzen; lassen Sie mich zwei nennen: In beiden Fällen würde die Mehr- heit der Leser sicher intuitiv sagen, dass dem nicht so ist: Weder steht die Der Weg, Wahrheitsfähigkeit eines überzeu- genden Menschen, der seine Strahl- die Wahrheit kraft durch die Übernahme von Wer- ten bezieht, von denen er sagt, dass und das Leben sie göttlichen Ursprungs seien – Mar- tin Luther King, Mahatma Gandhi, Das eingeübte Zusammenspiel von Albert Schweitzer und Mutter Teresa Wort und Tat wird mit der linguisti- genügen als Beispiele – infrage, noch schen Wende obsolet. Für die Alten würde diese Mehrheit sich der Be- war ein weiser, gerechter Mensch ei- hauptung anschließen, das Gut und ner, der glaubhaft das, was er als wahr Böse keine fest zu bestimmenden erkannt hat, mit seinem Leben ins Größen seien. Werk gesetzt hat. Auf diese Weise hat Wie damit umgehen? Es gibt si- die Antike ihre Heroen definiert und cher Konzepte, von denen wir sagen die junge Kirche ihre Heiligen. Chris- können, dass sie größer sind als wir, tus wird in der spätantiken Theolo- weil sie uns überdauern. Und wir kön- gie der Wahre, weil er mit dem Wir- nen uns intersubjektiv auf einen Ko- ken seines Lebens die Botschaft seiner dex von Handlungen und Haltungen Predigt bestätigt. Er spricht von der einigen, die unser menschliches Zu- Feindesliebe und vergibt dann aber sammenleben steuern, und die defi- auch selbst seinen Peinigern. Diese nieren, was gut und was böse ist. Es Überzeugungen, so müssen wir heu- gibt sicher Menschen, die uns beein- te sagen, finden wir nicht außerhalb drucken, weil sie durch ihre kognitive unserer Selbst auf oder sie finden uns, und empathische Kraft Dinge zu for- etwa in Form einer göttlichen Gna- mulieren in der Lage sind, die viele denwahl, auf. Sie entstehen in uns andere Menschen inspirieren. und werden Wirklichkeit, wenn wir Gibt es also eine ewige Wahrheit? sie sprechen oder sie sind Wirklich- Manchmal reicht es schon aus, zu ei- keit, indem wir in der Lage sind, sie ner wohlbegründeten Meinung zu ge- sprechend zu denken. langen.

Alexander Görlach IMPRESSUM

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