„Und Natürlich Darf Geschossen Werden!“ Politische Lyrik Und Linksterrorismus in Deutschland

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„Und Natürlich Darf Geschossen Werden!“ Politische Lyrik Und Linksterrorismus in Deutschland View metadata, citation and similar papers www.revistacontingentia.comat core.ac.uk | Christoph Schammbrought to you by CORE provided by Archives of the Faculty of Veterinary Medicine UFRGS „Und natürlich darf geschossen werden!“ Politische Lyrik und Linksterrorismus in Deutschland Christoph Schamm In the late 1960s, West Germany was swept over by a wave of student protest. The movement of 1968 hit the country especially hard because the young generation aimed to overcome the Nazi past of their parents once and for all. As their peaceful demonstrations did not have any success, some of the leftist activists decided to take violent measures. Among other terrorist groups, the Red Army Fraction was born. This article tries to bring to light, if and how far the political poetry of the German postwar period predicted and legitimized this process. Keywords: political poetry; terrorism; generation of 68; Baader/Meinhof . Rudi Dutschke auf Burg Waldeck Die meisten Liedermacher wurden gnadenlos ausgepfiffen, 1968 auf der Waldeck. Zu Tausenden waren die Mitglieder der studentischen Protestbewegung auf die Burg im Hunsrück gekommen, um das legendäre Festival der deutschsprachigen Chansons und Folksongs in eine politische Veranstaltung umzuwandeln. Aber Walter Moss-mann durfte singen und erhielt sogar frenetischen Beifall.1 Das war kein Wunder, sang er doch das Lied Drei Kugeln auf Rudi Dutschke, das ihm Wolf Biermann zuvor am Telefon vorgesungen hatte. Text und Melodie stammten nämlich aus der Feder des ostdeutschen Lyrikers und Liedermachers, dem die Ausreise in den Wes-ten von den DDR-Behörden verweigert worden war. Als Außenstehender solida-risierte sich Biermann demonstrativ mit den Vertretern der Studentenrevolte. Mit seinem Lied nämlich unterstützte er deren Auffassung, dass die eigentliche Schuld an dem Attentat auf ihren Wortführer Rudi Dutschke nicht etwa der 24jährige Hilfs-arbeiter Josef Bachmann trage, der Dutschke am 11. April 1968 mit drei Pistolen-schüssen aus nächster Nähe niedergestreckt hatte. Stattdessen belastete er die amtie-renden Regierungschefs der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlins sowie den Zeitungsverlag Axel Springer. Alle drei hätten so lange konzertierte Hetze ge-gen die Studentenbewegung betrieben, bis irgendeine verlorene Seele zur Waffe gegriffen habe. Hier die Verse, die Mossmann auf der Waldecker Freilichtbühne vortrug: Drei Kugeln auf Rudi Dutschke Ein blutiges Attentat Wir haben genau gesehen Wer da geschossen hat Christoph Schamm, Universidade Federal do Rio Grande do Sul, Instituto de Letras, Avenida Bento Gonçalves, 9500, 91540-000 Porto Alegre, RS, Brasil. E-mail: [email protected] Revista Contingentia, Vol. 3, No. 2, novembro 2008, 16–29 16 © Revista Contingentia ISSN 1980-7589 www.revistacontingentia.com | Christoph Schamm Refrain: Ach Deutschland, deine Mörder! Es ist das alte Lied Schon wieder Blut und Tränen Was gehst Du denn mit denen Du weißt doch was dir blüht! Die Kugel Nummer eins kam Aus Springers Zeitungswald Ihr habt dem Mann die Groschen Auch noch dafür bezahlt Refrain Des zweiten Schusses Schütze Im Schöneberger Haus Sein Mund war ja die Mündung Da kam die Kugel raus Refrain Der Edel-Nazi-Kanzler Schoß Kugel Nummer drei Er legte gleich der Witwe Den Beileidsbrief mit bei Refrain Drei Kugeln auf Rudi Dutschke Ihm galten sie nicht allein Wenn wir uns jetzt nicht wehren Wirst du der Nächste sein Refrain Es haben die paar Herren So viel schon umgebracht Statt daß sie euch zerbrechen Zerbrecht jetzt ihre Macht! Refrain2 Dutschke kam bei dem Mordanschlag nicht ums Leben. Obwohl Bachmann dreimal abdrückte, konnte er von den Ärzten gerettet werden. Erst Jahre später, 1979, würde er an den Spätfolgen der Verletzungen sterben. Biermann machte sich in den Stro- phen 2 bis 4 die Dreizahl der Schüsse zunutze, indem er jeder Patrone aus der Waffe des Attentäters einen wahren Schuldigen zuordnete. Mit „des zweiten Schusses Schütze / Im Schöneberger Haus“ ist der Regierende Bürgermeister von Berlin ge- meint – ein Politiker, der ausgerechnet Klaus Schütz hieß –; die Bezeichnung „Edel- Nazi-Kanzler“ spielt auf die NS-Vergangenheit des Bundeskanzlers Kurt Georg Kie- singer an.3 Der eigentliche Schütze Bachmann, von damaligen Journalisten sofort zur deutschen Variante des angeblichen Kennedy-Mörders Oswald stilisiert, erfüllt in diesem Denkschema nur die Funktion einer Marionette der Mächtigen. Revista Contingentia, Vol. 3, No. 2, novembro 2008, 16–29 17 © Revista Contingentia ISSN 1980-7589 www.revistacontingentia.com | Christoph Schamm All dies reproduziert nur den Tenor dessen, was in den linken Studentenkreisen ohnehin vorherrschende Meinung war. Nicht unbedingt dasselbe gilt für die letzten beiden Strophen, die den Anschlag auf Dutschke als Auftakt zu allgemeinem Staats- terror darstellen und, zumindest implizit, zur Gegengewalt aufrufen. Insbesondere das Verspaar „Es haben die paar Herren / So viel schon umgebracht“ wird erst ver- ständlich, wenn man den zeitgeschichtlichen Kon- text kennt. Es lässt sich einerseits auf die natio- nalsozialistischen Verbre- chen beziehen, die die Achtundsechziger gro- ßenteils ihrer Elterngene- ration anlasteten. Ande- rerseits verweist es je- doch auf ein anderes, ganz bestimmtes Ereig- nis: Am 2. Juni 1967, also gute zehn Monate vor dem Dutschke-Atten- tat, fand in Berlin eine große Demonstration ge- gen den Staatsbesuch des Schahs von Persien statt. Diesen Potentaten nahm Zwei Symbolfiguren der deutschen Linken in den spä- die Protestbewegung als ten 60er Jahren: der Liedermacher Wolf Biermann (links) und Studentenführer Rudi Dutschke. Oberhaupt eines Un- rechtsregimes wahr, das von der imperialistischen Außenpolitik der USA gestützt wurde. Als die Sicherheits- kräfte die Demonstrierenden auseinander trieb, wurde der Student Benno Ohnesorg erschossen. Der Täter, ein Polizeibeamter namens Karl-Heinz Kurras, wurde wegen fahrlässiger Tötung angeklagt, aber bereits im November 1967 freigesprochen. Das Gericht begründete sein Urteil mit Notwehr. Den Vorwurf, die wirklichen Umstände des Todes von Benno Ohnesorg verschleiert zu haben, konnte die Berliner Justiz nie vollständig ausräumen; in jedem Fall bewertet das linke Milieu die Tat und ihre rechtlichen Folgen bis heute als Akte staatlicher Willkür. Zu diesem Zeitpunkt, so scheint es, wird innerhalb der studentischen Protest- bewegung erstmals der Ruf laut, gewaltsam zurück zu schlagen. So heißt es, dass die spätere Terroristin Gudrun Ensslin noch in der Nacht von Ohnesorgs Tod im Haupt- quartier des Sozialistischen Studentenbundes (SDS) in Berlin zum militanten Wider- stand aufgerufen habe. Dies sei der einzige Weg, sozialrevolutionäre Interessen gegen einen inhumanen, hinter der scheindemokratischen Fassade faschistischen Po- lizeistaat durchzusetzen. Vorerst allerdings beteiligte sie sich an einer friedlichen Protestaktion, um den Regierenden Bürgermeister von Berlin, Heinrich Albertz (SPD), zum Rücktritt aufzufordern. Albertz trug mit seinen Stellungnahmen zu den Vorkommnissen rings um den Schah-Besuch sicher nicht dazu bei, die aufgeheizte Stimmung zu entspannen.4 In einem ersten Statement rechtfertigte er das harte Durchgreifen der Polizei und wies die Schuld am Tod Ohnesorgs den Demonstranten zu; ein Standpunkt, auf dem er auch später beharren würde: Revista Contingentia, Vol. 3, No. 2, novembro 2008, 16–29 18 © Revista Contingentia ISSN 1980-7589 www.revistacontingentia.com | Christoph Schamm Einige Dutzend Demonstranten, darunter auch Studenten, haben sich das traurige Verdienst erworben, nicht nur einen Gast der Bundesrepublik Deutschland in der deutschen Hauptstadt beschimpft zu haben, sondern auf ihr Konto gehen auch ein Toter und zahlreiche Verletzte [...]. Ich sage ausdrücklich und mit Nach- druck, dass ich das Verhalten der Polizei billige [...].5 Ein Foto, das die Zeitschrift Der Spiegel anlässlich der Festnahme Gudrun Ensslins im Juni 1972 veröffentlichte, zeigt die Germanistik-Doktorandin am äußersten rech- ten Ende einer Reihe von acht Menschen, auf deren T-Shirts jeweils ein Buchstabe des Namens ALBERTZ! geschrieben steht, wobei auf Ensslin natürlich das Rufe- zeichen entfällt.6 Drehten sich die Teilnehmer der Protestaktion auf dem Mittelstrei- fen einer vierspurigen Straße um, konnten die Autofahrer auf ihren Rücken das Wort ABTRETEN lesen.7 Tatsächlich würde der Regierende Bürgermeister sein Amt we- nige Wochen später zur Verfügung stellen; dies jedoch nur, weil sich die politische Krise nach Ohnesorgs Tod so sehr verschärft hatte, dass ihm seine eigene Partei die Mehrheit entzog. Sein Nachfolger war der von Biermann attackierte Klaus Schütz.8 Noch protestiert sie friedlich: Gudrun Ensslin (rechts außen) bei einer Demonstra- tion gegen Berlins Regierenden Bürgermeister Heinrich Albertz am Tag nach Ohne- sorgs Tod. Von der Kunst zur Gewalt bzw. vom Pudding zum Dynamit Nach den Demonstrationen anlässlich des Schah-Besuches und dem Tod von Benno Ohnesorg begannen sich militante Gruppen aus der Studentenbewegung heraus zu lösen. Wolf Biermanns Aufruf, Widerstand gegen Staatsgewalt und Springer-Presse zu leisten und deren Macht zu zerschlagen, kamen sie somit um einige Monate zu- vor. Hier soll nicht noch einmal gezeigt werden, wie sich die sogenannten Stadt- guerillas von der friedlichen Studentenrevolte abgespalten haben;9 das Augenmerk Revista Contingentia, Vol. 3, No. 2, novembro 2008, 16–29 19 © Revista Contingentia ISSN 1980-7589 www.revistacontingentia.com | Christoph Schamm soll vielmehr auf den Zusammenhang von künstlerischer und terroristischer Aktion gerichtet werden.
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