Versität Freiburg
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Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg ERICH KÖHLER Zum Verhältnis von vers und canso bei den Trobadors Originalbeitrag erschienen in: Jean Marie d’Heur (Hrsg.): Études de philologie romane et d’histoire littéraire : offertes à Jules Horrent à l’occasion de son soixantième anniversaire. Liège, 1980, S. 205 - 211 205 ER ICH KÖHLER Universitd de Fribourg-en-Brisgau Zum Verhältnis von vers und canso bei den Trobadors « Am schwierigsten ist der Unterschied zwischen Vers, vers, und Canzon e, cansos oder chantos zu bestimmen. Die Dichter reden häufig von beiden, als verschiedenen Dingen, und doch ist diese Verschiedenheit nicht wohl zu erkennen. In Bezug auf den Inhalt findet nur in sofern ein Unter- schied statt, als dem Vers ein weiteres Feld eingeräumt wird » 1 . F. Diez' Beschreibung des Problems ist nach wie vor gültig, und der Umstand, daß seine Lösungsversuche nicht durchweg stichhaltig sind, besagt noch nicht, daß mit dieser Feststellung schon viel gewonnen wäre. Völlig gesichert er- scheint inzwischen nur Eines : die Bezeichnung vers in der Bedeutung " Ge- dicht " ist von dem versus der paraliturgischen Dichtung herzuleiten, deren Entfaltung vor und um 1100 insbesondere im Kloster St. Martial in Limoges die ältesten Trobadors Anregungen verdanken 2 . Diese betreffen Metrik und Musik, kaum aber den Gegenstand. So erklärt es sich, daß vers in den ersten beiden Trobadorgenerationen, d.h. bis ca. 1150-1160, jedes Lied, gleich wel- chen Inhalts, hieß und noch länger, bis in den Anfang des 13. Jahrdunderts hinein, heißen konnte. Das Vorkommen von chansoneta bei Wilhelm IX. und Marcabru kann nicht einmal als Ausnahme von der Regel gelten, da die Attribution der betreffenden Lieder wahrscheinlich (im Falle Wilhelms) oder möglicherweise (im Falle Marcabrus) falsch ist 3 . Die (oder der) Verfasser der Vidas von Marcabru und Peire d'Alvernhe bestätigen den Textbefund, wenn sie erklären, daß zur Zeit dieser beiden Dichter alles, was gesungen wurde, vers hieß und nicht canso 4 . Gleichwohl unterliegt die letztere Vida einem doppelten Irrtum, da Peire d'Alvernhe immerhin eines seiner Lieder, das an Bernart de Ventadorns Lerchenlied orientierte Chantaray pus vey, canso nannte, und Giraut de Borneil gewiß nicht, wie behauptet, die erste Kanzone überhaupt gedichtet hat. Die canso ist, so wenig wie die anderen lyrischen Gattungen, nicht erst mit ihrem Namen da. Der Umstand, daß sie terminolo- gisch, im Gegensatz zu anderen Genera, nur allmählich und erst spät in eindeutiger Weise sich vom vers absetzt, bedarf noch eingehender Betrach- tung. Die klassifikationsfreudigen Poetiken der Spätzeit haben hinsichtlich des älteren vers nur begrenzten Zeugniswert, da sie sich vor allem an der 206 ER ICH KÖHLER ihnen unmittelbar vorausgehenden Dichtung orientieren. Sie sind jedoch nicht gänzlich unergiebig und sollen weiter unten berücksichtigt werden. Welche Aufschlüsse ergeben sich aus den Texten der Trobadors selbst, vor allem denjenigen der Blütezeit, die zugleich die Epoche der vollen Entfaltung des lyrischen Gattungssystems ist ? Um die Mitte des 12. Jahrhunderts verfaßt Guiraut de Cabrera sein Ensenhamen Cabra juglar. Seine knappe Bestandsaufnahme der lyrischen Gattungen stellt, bei klarer Hervorhebung, vers zusammen mit sirventesc, balaresc, estribot, retroencha und contenson 5 . Ungefähr gleichzeitig oder wenig später finden wir bei Bernart Marti die Kombination chanso, sirventes, stribot, arlotes. Übergeordneter Begriff in diesem gegen Peire d'Alvernhe polemisierenden Gedicht bleibt indessen vers, mit seinem Anspruch auf " In- tegrität " 6 . Raimbaut d'Aurenga definiert sein berühmtes No-sai-que-ses negativ dadurch, daß es weder vers noch estribotz ni sirventes sein soll 7. Raimbaut hatte Wilhelms IX. vers de dreit nien vor Augen, der in seinen einleitenden Versen Farai un vers de dreit nien : non er de mi ni dautra gen, non er damor ni de joven, ni de ren au. (v. 1-4) 8 alle bis dahin möglichen inhaltlichen Varianten des vers ausgeschlossen hatte, und unternahm, vielleicht gereizt durch die verwirrende Zahl neu aufgetauch- ter Gattungsbezeichnungen 9, den Versuch, ein Lied jenseits aller existieren- den Gattungen zu dichten, dem zwangsläufig kein Name bzw. nur seine gattungsmäßige Unbestimmbarkeit (mo no sai que ses) als Name zufallen konnte 10. Der gleiche Raimbaut dichtet 1165 eine " leichte Kanzone " mit ähnlich " subtilen " Reimen wie ein unmittelbar vorausgehender eigener vers : " Apres mon vers vueilh sempr'ordre Una chanso leu per bordre En aital rima sotil ". Fünf Jahre später tauft er einen vers mit Sirventescharakter chanso : A mon vers dirai chansso Ab leus motz ez ab leu so Ez en rima vil e plana (Puois aissi son encolpatz Qan fatz avols motz als fatz). (v. 1-5) 11 Die bisher herangezogenen Äußerungen der Trobadors selbst, insbesondere Raimbauts, erlauben, ergänzt man sie durch weitere Zeugnisse direkter und indirekter Art, ein erstes Fazit, das sich auf fünf Punkte beziffern läßt. 1. Um 1170, d.h. in der Phase, da sich die Gattungsdifferenzierung zum definitiven System entfaltet und sich für nahezu alle Gattungen ein bestim- mter Terminus durchsetzt, wird gerade die Auseinandersetzung um das Verhältnis von vers und canso zum virulenten Problem. 2. Daß zwischen beiden, wie unklar auch immer, unterschieden wird, ist nicht nur aus den oben angeführten Stellen aus dem Werk Raimbauts d'Au- ZUM VERHÄLTNIS VON VERS UND CANSO 207 renga zu ersehen. Zwar sucht man noch bei Peire Rogier vergeblich nach dem Wort canso und verwendet Peire d'Alvernhe es nur ein einziges Mal, so nennt umgekehrt bereits Bertran de Born seine Kanzonen cansos, seine übrigen Lieder sirventes, unter völligem Verzicht auf vers. Bernart de Ventadorn nennt neun Kanzonen vers, fast ebenso oft begegnet canso. Zweimal aber deutet er einen Unterschied an (Era . m cosselhatz, v. 24 : vers ni chanso), vor allem wenn er in seiner Tenzone mit Peirol diesen fragt : " Peirol, com avetz tant estat que no feretz vers ni chanso ? ". Der befragte Peirol verwendet ebenso vers wie chanso, betont aber einmal den Unterschied zwischen vers und chansoneta. Auch für Giraut de Borneil wie für Peire Vidal gilt, daß sie vers und canso verwenden, als seien es Synonyme, aber wenigstens einmal doch eine Verschie- denheit andeuten (mas chansos e mos vers, No. 17, v. 23 der Ed. Kolsen ; mos vers e mas chansos, No. 21, v. 31 der Ed. Avalle). Chansos ni vers koppelt auch Raimon de Durfort, und Daude de Pradas reiht, sichtlich differenzierend, chansos e vers e sirventes. Andererseits kann, wie bei Falquet de Romans, ein und dasselbe Lied zugleich beide Bezeichnungen tragen. 3. Raimbauts A mon vers dirai chanso läßt, ebenso wie ein weiter unten zu erörterndes Lied Aimeric de Peguilhans, die Vermutung aufkommen, die Trobadors hätten einen wesentlichen Unterschied in der Melodie gesehen ; Raimbauts Herausgeber Pattison erschien er gar als der einzige 12 . Die Aussa- gen der Trobadors selbst ergeben kein klares Bild, die Resultate der musikhis- torischen Forschung erlauben noch keine definitiven Schlüsse. Da sich vers und canso indessen semantisch zueinander verhalten dürften wie " Gedicht " und " Gesang " 13 und an der Präponderanz des musikalischen Elements in der Kanzone kaum zu zweifeln ist, darf angenomen werden, daß, wenn überhaupt ein Unterschied notiert wird, dieser sich auf den spezifischen musikalischen Aufbau der Kanzone bezieht und nur deshalb nicht explizit wird, weil er selbstverständlich ist und weil canso als Bezeichnung der neuen Gattung, die sich aus dem vers herausgelöst und verselbständigt hat, sich terminologisch noch nicht klar durchgesetzt hat 14. 4. Vielen Trobadors gilt die Kanzone als " leichter ". Auffällig oft verbin- det canso (und chansoneta) sich mit dem Adjektiv leu, wie in Giraut de Borneils " A penas sai comensar Un vers que volh far leuger ", einem vers, den er, weil " leicht ", una leu chanso nennt 15 . Entschiedener noch äußert sich Raimbaut d'Aurenga nicht nur in den beiden oben angeführten Liedern, sondern auch in einem dritten : Aissi mou Un sonet nou, On ferm e latz Chansson leu, Pos vers plus greu Fan sortz dels fatz. (v. 1-6) 16 Raimbauts Aissi mou ist nur zu verstehen im Zusammenhang mit dem Streit um die hermetische Stilart. Das Problem des trobar clus ist daher von der Frage vers - canso, jedenfalls in der Phase ihrer besonderen Aktualität, nicht zu trennen. 208 ER ICH KÖHLER 5. Mit der Auffassung, die Kanzone sei " leichter ", hängt sicherlich auch ihre nunmehr größere Beliebtheit beim Publikum zusammen, auf dessen geistige Anspruchslosigkeit Raimbaut d'Aurenga höhnisch reagiert. Der vers Si tot noncas res es grazitz von Gaucelm Faidit, in den gleichen Jahren entstanden wie Raimbauts Lied 17 , bezeugt den gleichen Sachverhalt, belegt aber auch, daß der vers zuweilen noch ausdrücklich gefragt war : Si tot noncas res es grazitz tant cum sol chans ni solatz gais, non er quieu, jauzens, no meslais dun vers far, don sui enquisitz : car cel qab bonescienssa deu far so ca Pretz agenssa ; non deu celar son saber, ni cubrir lai an cove a mostrar ni a dir, qen totz luocs val adrecha chaptenenssa. (v. 1-9) 18 Deutlich wird dem allgemein beliebteren heiteren Gesang der prätentiöse Ernst eines allenthalben für notwendig erachteten didaktischen vers gegenü- bergestellt. Daß die canso beim Publikum höher im Kurs stand, bekunden auch Peirol und Elias Cairel. Wie Gaucelm Faidit leitet Peirol den höheren Wert des vers aus seiner Funktion ab, saber zu vermitteln : Mentencion ai tot en un vers mesa cum valgues mais de chant quieu anc Fezes ; e pot esser