Gerber Reinz._Layout 1 24.02.16 09:27 Seite 1

Das Phänomen des musikalischen Salons im 19. Jahrhundert wurde bislang oft idealisiert Mirjam Gerber dargestellt. Die Analyse zeitgenössischer Quellen eröffnet einen neuen Blick auf die fas- zinierende private Musikpraxis der Musikmetropole Leipzig und ihrer Akteure. Am Beispiel der musikalisch professionell ausgebildeten Frauen Henriette Voigt und Livia Frege lernt der Leser die bedeutenden Netzwerke und anspruchsvollen Auffüh- Z WISCHEN S ALON rungsmöglichkeiten kennen, die Bürgerhäuser für Komponisten und Interpreten boten. Mendelssohns Opernfragment »Loreley«, Schumanns »Faust-Szenen« und Brahms’ UND MUSIKALISCHER G ESELLIGKEIT Lieder kamen hier ebenso zur Aufführung wie Bachs h-moll-Messe oder Beethovens ESELLIGKEIT

Kammermusik. G Die musikalischen Geselligkeitsformen des 19. Jahrhunderts bilden einen spannenden Kristallisationspunkt des Bürgertums und seiner Musikästhetik. Die Entstehung eines Werkkanons, die Idee einer bildungsorientierten Bürgerlichkeit und die Entwicklung eines öffentlichen Konzertlebens stehen in enger Wechselbeziehung damit.

Eine Materialsammlung zu privaten Musikaufführungen in Leipzig mit Repertoireauf- ALON stellungen sowie eine lexikalische Untersuchung weiterer Veranstalter vervollständigen S die Studie. WISCHEN UND MUSIKALISCHER Z Henriette Voigt, Livia Frege und Leipzigs bürgerliches Musikleben Mirjam Gerber Mirjam

ISBN 978-3-487-15407-7 Olms Mirjam Gerber

Zwischen Salon und musikalischer Geselligkeit

Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 1 19.02.16 15:50 Studien und Materialien zur Musikwissenschaft

Band 90

Mirjam Gerber

Zwischen Salon und musikalischer Geselligkeit

Georg Olms Verlag Hildesheim · Zürich · New York 2016

Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 2 19.02.16 15:50 Mirjam Gerber

Zwischen Salon und musikalischer Geselligkeit Henriette Voigt, Livia Frege und Leipzigs bürgerliches Musikleben

mit Anhang

Georg Olms Verlag Hildesheim · Zürich · New York 2016

Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 3 19.02.16 15:50 Umschlagmotiv: Livia Frege. Litographie von Eduard Magnus. Stadtgeschichtliches Museum Leipzig

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein, der Mariann Steegmann Foundation und des Deutschen Akademikerinnen Bunds e.V.

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die Druckfassung der Dissertation „Zwischen Salon und musikalischer Geselligkeit. Henriette Voigt, Livia Frege und Leipzigs bürgerliches Musikleben“, die 2013 an der Universität Leipzig angenommen wurde.

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungin elektronischen Systemen.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Umschlagentwurf: Barbara Gutjahr, Hamburg Satz: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. Donau E-Book © Georg Olms Verlag AG, Hildesheim 2016 Alle Rechte vorbehalten www.olms.de ISBN 978-3-487-42177-3

Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 4 19.02.16 15:50 Inhalt

Vorbemerkungen 8

Vorwort ...... 9

Einführung 11 1 Bürgerliche Musikkultur als Teil der Musikgeschichte – Monument versus Lebenswelt ...... 12 2 Der Salon als Forschungsdesiderat ...... 17 3 Quellen – „Ego und Egodokument“ ...... 24 4 Ausgangspunkt Leipzig 26 5 Zur Methodik – Überblick versus Einzelstudie ...... 29

Akteure

1 Henriette Voigt 37 1.1 Tradierung eines Frauenlebens 38 1.2 Henriette Voigt geb. Kuntze – Umfeld und Ausbildung 45 Biographischer Überblick ...... 45 Prägung durch die Mutter ...... 47 Musikalische Ausbildung ...... 48 Ihr Ehemann – ein Musikliebhaber ...... 50 1.3 Klavierpädagogin ...... 51 Mentorin für ...... 55 1.4 Wege zur musikalischen Gesellschafterin 59 Rivalität mit Friedrich Wieck ...... 64 Robert Schumanns „Asdurseele“ ...... 66 1.5 Musikalische Praxis im Hause Voigt ...... 68 Kammermusik ...... 69 Kränzchen ...... 72 Musikalische Gesellschaften ...... 74 Private Musikstudien ...... 78 Repertoire ...... 79

2 Livia Frege 89 2.1 Quellen – Briefe – Erinnern ...... 89 2.2 Fidelio unter Liebhabern – ihre „Hauptleistung“ ...... 96

Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 5 19.02.16 15:50 Inhalt

Kaufmannstochter – Opernstar ...... 99 Stimme und Ausbildung 112 2.3 Vom Profi zur Dilettantin 115 Weitere Präsenz als Konzertsängerin ...... 118 2.4 Musikalische Praxis im Hause Frege ...... 121 Freitagseinladungen und Sonntagsmatineen 122 „Die Musik ruht vollständig“ ...... 127 Chorsymphonische Werke und Opernaufführungen ...... 132 Chorverein 138 „Liedersängerin par excellence“ ...... 142 2.5 Mendelssohn contra Wagner – Musikgeschmack und Einfluss ...... 152

3 Weitere Veranstalter von Musikgeselligkeiten in Leipzig (A–Z) ...... 163 3.1 Luise Brockhaus geb. Wagner (1805–1872) ...... 165 3.2 Ernst August (1797–1854) und Agnes Carus geb. Küster (1802–1839) . . . 166 3.3 Wilhelm (1780–1858) und Caroline Gerhard geb. Richter (1796–1879) . . . 167 3.4 Raimund (1810–1888) und Hermann Härtel (1803–1875) ...... 168 3.5 Auguste Harkort geb. Anders (1794–1857) ...... 170 3.6 Susette Hauptmann geb. Hummel (1811–1890) 170 3.7 Elisabeth von Herzogenberg geb. von Stockhausen (1847–1892) 171 3.8 Hedwig von Holstein geb. Salomon (1822–1897) 173 3.9 Jacob Bernhard Limburger (1770–1847) ...... 183 3.10 Elisabeth Seeburg geb. Salomon (1817–1888) ...... 184 3.11 Lidy Steche geb. Angermann (1805–1878) ...... 186 3.12 Carl Voigt (1805–1881) ...... 187 3.13 Carl Friedrich (1781–1836) und Henriette Weiße geb. Schicht (1793–1831) . . 188

Wirken und Handeln

4 Aufführungsformen ...... 191 4.1 Privatkonzerte ...... 191 4.2 Gesellschaften – Kränzchen – Soireen 194 4.3 Privates Musizieren ...... 197 4.4 Anspruch 199

5 kulturelles Handeln ...... 203 Wie wir sie nennen – Salonière/Mäzenin/Musikförderin ...... 203 Rollenmuster – Handlungsfelder ...... 206 5.1 Werkverbreitung 209 Zeitgenössisches Repertoire 210

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Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 6 19.02.16 15:50 Inhalt

Historisches Repertoire ...... 217 „Das Gute zu fördern […] das Schöne zu verbreiten“ ...... 220 5.2 Interpretation 221 5.3 Dialogpartner und Berater ...... 225 5.4 Musikalische Gesellschaften ...... 229 5.5 Lehrerin – Mentorin ...... 239 5.6 Geschlechterzuschreibung – „Für die Nachwelt wurde sie ‚Beethovens Haushälterin‘“ 242

6 Zeitgeschichtliche Einordnung ...... 251 6.1 Entwicklung musikalischer Öffentlichkeit und Anonymität ...... 251 Salonkritik 259 Privatheit als Ideal 261 Neubewertung ...... 268 Frauenrolle im Privaten ...... 270 6.2 Kunstreligion ...... 271 Exklusivität ...... 278 6.3 Bürgertum und Bürgerlichkeit 281 Bildungsgedanke und Selbsttätigkeit 282 Dilettanten und musikalische Geselligkeit 285 Der Werkkanon ...... 287 Bürgertum und Musikpraxis ...... 289 6.4 Zusammenfassende Interpretation ...... 291

Schlussbemerkung ...... 295

Bildteil 297

Anhang ...... 309 1 Henriette Voigt ...... 311 2 Livia Frege ...... 335 3 Weitere Personen 365 Literaturverzeichnis 381 Archiv- und Bibliothekssiglen ...... 381 Zeitschriften und Publikationssiglen ...... 381 Unveröffentlichte Quellen 383 Gedruckte Quellen ...... 383 Monographien, Sammelbände, Aufsätze ...... 387 Quellennachweis der Abbildungen ...... 396 Personenregister ...... 397

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Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 7 19.02.16 15:50 Vorbemerkungen

– Die historischen Textquellen werden aus Gründen der Authentizität ohne Eingriffe in Orthographie, Zeichensetzung oder individuelle Stileigenarten zitiert. Lediglich die Überstreichungen über m bzw. n als Verdopplungszeichen werden aufgelöst und das damals übliche Kürzungszeichen „:“ wird, um Missverständnisse auszuschließen, der heutigen Gewohnheit entsprechend durch einen Punkt ersetzt. – Abbreviaturen sind, sofern sie sich ohne Weiteres von selbst erklären, in der Regel nicht aufgelöst (z. B. „u.“ für „und“). – Eckige Klammern kennzeichnen Auslassungen oder Ergänzungen des Verfassers. – Mit { } werden Auslassungen oder Ergänzungen anderer Herausgeber gekennzeichnet. – Aus Platzgründen werden für die Literaturangaben in den Fußnoten Kurztitelbelege verwendet, die anhand des Literaturverzeichnisses zu erschließen sind. – Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männ­ licher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gel- ten gleichwohl für beiderlei Geschlecht.

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Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 8 19.02.16 15:50 Vorwort

Abseits beschrittener Wege einer auf Meister und Meisterwerke fixierten Musikgeschichts- schreibung liegen Brachfelder, in denen sich ein Reichtum an ungelesenen Quellen, un­ bekannten Personen und vergessenen Handlungen verbirgt. Meine Faszination für das 19. Jahrhundert und für meinen Studienort Leipzig führten mich zu solch vergessenen Orten bürgerlicher Musikpraxis. Ein glücklicher Zufall ließ mich 2007 den erst seit Kurzem im Archiv des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig befindlichen Nachlass der Pianistin Henriette Voigt finden. Sie steht stellvertretend für viele privat agierende und engagierte Interpreten, welche das bürgerliche 19. Jahrhundert musikalisch mitgeprägt haben. Durch intensive Archivarbeit gelangte ich zu meinem Quellenkorpus, das „umfangreich und lücken­haft“1 zugleich die Kontingenz archivarischen Arbeitens abbildet und vielseitige Ein­ blicke in Leipzigs musikgeschichtliche Vergangenheit ermöglicht. Die Schwierigkeit, aufge- fundene historische Aussagen zu kontextualisieren und lesbar zu machen, wird bekanntlich mit abnehmender Quellendichte und zunehmender Zeitdistanz immer größer. Das Zu- rückgeworfensein auf vereinzelte Selbstaussagen der untersuchten Personen bringt immer wieder die Gefahr mit sich, diese in ihrem Wahrheitsgehalt zu überschätzen bzw. sie nicht kontrastieren zu können. Viele Zitate aus unpublizierten Quellen werden diese Arbeit säumen,­ nicht – oder nicht nur –, weil sie mich so lange begleitet haben, dass sie mir zu ­‚treuen Gefährten‘ wurden, sondern weil diese dem Leser die Möglichkeit geben, Einblick in das genutzte Material zu erhalten und die Rückschlüsse der Autorin nachzuvollziehen.

An dieser Stelle möchte ich es auch nicht versäumen, mich bei all den Personen zu bedan- ken, die diese Arbeit ermöglicht, unterstützt und begleitet haben. Mein Doktorvater, Prof. Dr. Helmut Loos, hat mich – oftmals mit pragmatischer Souve- ränität – um viele potenzielle Klippen einer Doktorarbeit gelenkt. Dafür gilt ihm mein herz- licher Dank. Auch Dr. des. Anselm Hartinger war mir als Spezialist für Leipzigs regionale Musikgeschichte stets ein treuer Gesprächspartner und Ratgeber. Dem gesamten Institut für Musikwissenschaft der Universität Leipzig und der Bartholdy Briefaus- gabe in Leipzig möchte ich in gleicher Weise für Rat und Tat danken. Bei meiner Archivarbeit unterstützten mich insbesondere Doris Mundus und Kerstin Sieblist vom Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig. Wichtige Hilfe erhielt ich auch vom

1 Borchard: Les-Arten, 2010, S. 43.

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Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 9 19.02.16 15:50 Vorwort

Staatsarchiv Berlin, der Bayerischen Staatsbibliothek und dem Robert-Schumann-Haus Zwickau. Dr. Gerd Nauhaus ermöglichte mir großzügig Zugriff auf die noch unveröffent- lichen Jugendtagebücher Clara Wiecks und stellte mir von ihm edierte Materialien zur Verfügung. Prof. Dr. sc. Heinz Deutschland bot mir ebenfalls die Möglichkeit, in den noch unveröffentlichten Briefwechsel zwischen Hedwig von Holstein und Hermann Duncker Einblick zu nehmen und mich mit ihm über Hedwig von Holstein auszutauschen. Herr Jochen Hahne schuf mit der Schenkung des Nachlasses von Henriette Voigt an das Archiv des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig die Möglichkeit, sich dieser faszinierenden Per- son zu nähern. Sehr verbunden bin ich auch Andreas Beckmann, der mich bei meinen Recherchen zur Familie Frege unterstützte und mich großzügig an seinen Kenntnissen teil- haben ließ. Sehr dankbar bin ich für die Möglichkeiten, die mir das „Unabhängige Forschungs­ kolloquium zur Frauen- und Geschlechterforschung in der Musikwissenschaft“, gefördert durch die Mariann Steegmann Foundation, bot. Hierbei möchte ich mich insbesondere bei Dr. Cornelia Bartsch, Prof. Dr. Sigrid Nieberle, Prof. Dr. Annegret Huber, Dr. Nina Noeske­ und PD Dr. habil. Peter Wollny bedanken, die sich als wissenschaftliche Berater im Rah- men der Kolloquien mit Texten und Problemen meiner Arbeit auseinandergesetzt haben.­ Für die gemeinsame Zeit, die wundervolle Arbeitsatmosphäre, die Diskussionen, Anregun- gen und Anstöße sowie für die Geduld, sich durch unfertige Texte zu kämpfen, danke ich den Mitgliedern des Kolloquiums: Barbara Klaus-Cosca, Anja Städtler, Ruth Heckmann, Heike Frey, Anne Kohl, Marleen Hoffmann, Pavel Jiracek, Sandra Danielczyk und Gesa Finke. Nicht zuletzt danke ich der Studienstiftung für die finanzielle Unterstützung, die es mir ermöglichte, mich dieser Arbeit mit der nötigen Intensität zu widmen. Großzügigen Druckkostenzuschüssen der Geschwister­ Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswis- senschaften, der Mariann Steegmann Foundation und des Deutschen Akademikerinnen Bund e.V. verdanke ich die vorliegende­ Form der Veröffentlichung. Darüber hinaus möchte ich mich bei den unzähligen Menschen bedanken, die durch Interesse, Nachfragen, Hinweise, Anteilnahme und Anregungen meine Arbeit unterstützt und begleitet haben.

Leipzig, im Oktober 2014

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Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 10 19.02.16 15:50 Einführung

Das Musikleben Leipzigs war im 19. Jahrhundert nicht nur geprägt von dem einflussrei- chen öffentlichen Konzertwesen und seinen prominenten Vertretern wie dem Gewand- haus, sondern gerade auch von der Musik, die in Bürgerhäusern, Gärten, Gaststätten, Vereinen und Privatkonzerten erklang. Der Musikhistoriker Friedrich Schmidt stellte 1912 in seiner Dissertation zu Leipzigs Musikleben im Vormärz Folgendes fest: „[…] wie hier in den Konzerten und Vereinen blühte nicht minder im privaten Kreis, im Haus und in der Geselligkeit, eine frische eifrige Musikübung.“1 Diese vielfältige und reiche bürgerliche Musikpraxis, die im Privaten stattfand, hat das musikalische Leben der Stadt entscheidend mitgeprägt und nachhaltig zur Wahrnehmung Leipzigs als Musikstadt beigetragen. Dabei sind die größeren und kleineren musikalischen Aktivitäten, die in den bürgerlichen Privat- häusern Leipzigs stattfanden, meist in Vergessenheit geraten, genauso wie die Namen der daran beteiligten oder verantwortlichen Personen wie Henriette Voigt und Livia Frege. Nur mit Glück, Ausdauer und archivarischem Spürsinn gelang es, diese vielfältige Musik- kultur wieder ans Tageslicht zu bringen. Eine Fidelio-Aufführung unter Liebhabern, Kränzchen mit Musik sowie Abende mit vierhändigem Klavierspiel bilden Ausschnitte dieser vielfältigen Szenerie. Der musikalische Erfahrungshorizont des Leipziger Publikums war trotz zahlreicher öffentlicher Konzert- und Opernaufführungen entscheidend geprägt von der Praxis dieses ‚intimen‘ Musizierens, bei dem professionelle Musiker, Laien und Komponisten zusammentrafen. Bisher stecken die Versuche, die Aktivitäten und den Einfluss privater Musikkreise und engagierter Einzelpersonen zu rekonstruieren, noch in den Anfängen. Dieser Zustand wird einerseits dadurch bedingt, dass ein Interesse an der kulturhistorischen Verortung von ­Musikpraxis noch relativ jung ist. Anderseits ist die Quellenlage zu diesem Themenfeld ­äußerst unübersichtlich. Obwohl zahlreiche Quellen belegen, dass in Bürgerhäusern ge- meinschaftlich musiziert wurde, erlauben nur wenige eine genauere Rekonstruktion einzel- ner Musikgeselligkeiten. Ungeachtet dieser Tatsache existieren heute hartnäckige Vorstel- lungen über die bürgerliche Musikpraxis und deren ‚Salons‘. Vage Vorstellungen wurden weiter tradiert, obwohl nur ein Bruchteil der Quellen bekannt war und diese nicht kritisch hinterfragt wurden.2 Daher soll diese Arbeit exemplarisch einen differenzierten Blick auf

1 Schmidt: Das Musikleben der bürgerlichen Gesellschaft Leipzigs, 1912, S. 166. 2 Siehe Einführung, Kapitel 2: „Der Salon als Forschungsdesiderat“, S. 17ff.

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Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 11 19.02.16 15:50 Einführung

die vielzitierten, aber nur oberflächlich erforschten Salons und Geselligkeiten eröffnen und damit einen Einstieg zur weiteren Bearbeitung dieses Forschungsdesiderats bieten.

1 Bürgerliche Musikkultur als Teil der Musikgeschichte – Monument versus Lebenswelt3 Musikgeschichte legitimiert sich im öffentlichen Bewusstsein auch heute noch durch die Beschäftigung mit der großen europäischen Musikkultur, deren Meisterwerke im Musik­ leben gefeiert werden.4 Noch immer gilt die Feststellung: „Musikgeschichtsschreibung ist in der Regel Kompositionsgeschichte […].“5 Trotz des ,cultural turn‘6, der in den gesamten Geisteswissenschaften zu einem prozessorientierten, gesellschaftsnahen Wissenschafts­ betrieb geführt hat (oder dies zumindest zum Ziel hatte), fällt es der deutschen Musikwis- senschaft schwer, diesen Blickwinkel in die Geschichtsschreibung zu integrieren.7 Gerade die Präsenz des klassisch-romantischen Werkkanons, der das Konzertleben beherrscht, er- schwert es, die Beschäftigung über die liebgewonnenen und in der Klassikszene so unhin- terfragt geschätzten Werke hinaus zu erweitern. Ein kritisch-historischer Blickwinkel birgt außerdem die Gefahr, diese nicht in die Reihe der als Meisterwerke definierten Werke ein- zureihen, sondern ihren Status durch Erklärung funktionaler und kausaler Zusammenhän- ge eher zu entzaubern als ästhetisch zu absolutieren. Carl Dahlhaus führt das Problem, Musik historisch zu betrachten, auf das Grund­ problem der Musikgeschichtsschreibung zurück: „Musikgeschichte […] erscheint […] als ein unmögliches Unterfangen, weil sie entweder […] keine Geschichte der Kunst oder aber […] keine Geschichte der Kunst ist.“8 Hierbei kommt die Meinung Carl Dahlhaus’ zum Tragen, eine rein historische Darstellung würde den ästhetischen Gesichtpunkten von ­Musik nicht gerecht, da sie universelle und ästhetisch zeitlose Aspekte von Musik vernach- lässige.9 Die Werkanalyse blieb dadurch innerhalb der historischen Musikwissenschaft das

3 Bezug genommen wird hier auf den Kongress „Musikgeschichtsschreibung und Erinnerungskul- turen“, der sich mit dem Spannungsfeld von Lebenswelt und Monument in der Musik auseinan- dersetzte (Bonn, Internationale Arbeitstagung, 08.–10.10.2009, Abteilung für Musikwissenschaft/ Sound Studies der Universität Bonn). 4 Deutlich wurde dies beispielweise in dem breiten medialen Echo, das der Fund der Bacharie „Alles mit Gott und nichts ohn’ ihn“, BWV 1127, im Jahre 2005 auslöste. 5 Borchard: Der Interpret als Autor von Musikgeschichte, 2008, S. 27. 6 Bzw. der ‚cultural turns‘. Vgl. Bachmann-Medick: Cultural Turns, 2006. 7 Eva Rieger bemerkte 1992 im Bezug auf die Lethargie der deutschsprachigen Musikwissenschaft, sich neuen Sichtweisen zu öffnen: „Zu hoch sind hier die Hürden der Meisterverehrung, zu groß der Heroenkult im 19. Jahrhundert, der bis in die Neuzeit reicht, und zu sehr von der deutschen metaphysischen Philosophie beeinflußt das Denken der Musiktheoretiker.“ Hoffmann/Rieger: Von der Spielfrau zur Performance-Künstlerin, 1992, S. 9. 8 Dahlhaus: Grundlagen der Musikgeschichte, 1977, S. 37. 9 Ebd., S. 37. Vgl. auch die Einleitung in: Dahlhaus: Die Musik des 19. Jahrhunderts, 1996.

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Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 12 19.02.16 15:50 1 Bürgerliche Musikkultur als Teil der Musikgeschichte

lange bevorzugte Mittel, um den ästhetischen Wert der Musik zu untersuchen und zu wür- digen. Dies stand aber im Widerspruch zu einer historischen Betrachtung von Musik in ihrem gesellschaftlichen Kontext. Myriam Chimènes beschreibt diesen Zustand in ihrer Monographie über das bis dahin unbeachtete Musikleben unter dem Vichy-Regime:

Ce sujet appartenait en effet de manière symptomatique à ce qui forme une sorte de ‚no man’s land‘ entre la musicologie et l’histoire, un territoire négligé, voire ignoré, par les ­représentants de ces deux disciplines frontalières. Il est un fait que, pendant longtemps, la musique n’a pas été considérée par les historiens comme un objet d’histoire, tandis que les musicologues restaient exclusivement centrés sur l’objet, au mépris souvent de son inscrip- tion dans le temps politique et de l’étude de ses interférences avec le contexte historique.10

Durch die Lücke, die zwischen politischer Geschichtsschreibung und musikanalytischer Werkbetrachtung klaffte, wurden das historische Musikleben sowie die daran in vielfältiger Weise partizipierenden Personen aus der Musikgeschichtsschreibung ausgeklammert.11 Wichtige Charakteristika von Musik, wie „ihr prozeßhafter und kommunikativer Charak- ter“12, wurden durch die musikgeschichtliche Fixierung auf den Notentext vernachlässigt. Die Trennung von Leben und Werk ist zwar wissenschaftsgeschichtlich als Reaktion auf die biographistische Werkbetrachtung des 19. Jahrhunderts zu verstehen, Beatrix Borchard stellt für den daraus erwachsenen Zustand der Musikgeschichtsschreibung jedoch fest: „Heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, stehen wir vor der umgekehrten Situation: einer – zugespitzt formuliert – Musikgeschichte der Werke ohne Menschen.“13 Diese Opposition zwischen einer historischen Politikgeschichtsschreibung und einer auf Werktexten beruhenden Fachdisziplin hat sich in den vergangen Jahrzehnten etwas ent- schärft. Inzwischen hat sich der Blickwinkel der Musikgeschichtsschreibung unter anderem durch den Einfluss der Kulturwissenschaften und der Genderforschung insoweit geöffnet, als die unangefochtene Stellung des kulturellen Produktes (Komposition) ins Wanken gera- ten ist und inzwischen vermehrt kulturelle Prozesse und ein erweiterter Personenkreis in den Blick treten, die es ermöglichen, sich einem historischen Musikleben zu nähern. Der laut Aleida Assmann „wohl wichtigste historiographische Paradigmenwechsel unseres Jahr-

10 „In der Tat gehörte dieses Thema – und das ist symptomatisch – zu einer Art ‚no man‘s land‘ zwi- schen Musik- und Geschichtswissenschaft, einem Gebiet, das von den Vertretern beider benach- barter Disziplinen vernachlässigt bzw. nicht beachtet wurde. Tatsache ist, dass die Musik von den Historikern lange Zeit nicht als Forschungsgegenstand der Geschichte wahrgenommen wurde. Im Gegenzug konzentrierten sich auch die Musikwissenschaftler auf ihr eigenes Forschungsgebiet, wobei sie dessen politisch-historische Einbettung sowie dessen Verflechtungen mit dem histori- schen Kontext vernachlässigten.“ [Übersetzung der Autorin]. Chiménes: La Vie musicale sous Vichy, 2001, S. 18. Vgl. auch Chiménes: Musicologie et histoire. Frontière ou ‚no man’s land‘ entre deux disciplines?, 1998 und Chiménes: Histoire sans musique, 1997. 11 Vgl. Bödeker/Veit: Les sociétes des musique, 2007, S. 2. 12 Borchard: Der Interpret als Autor von Musikgeschichte, 2008, S. 27. 13 Borchard: Stimme und Geige. Amalie und , 2005, S. 21.

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Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 13 19.02.16 15:50 Einführung

hunderts“14 resultiert aus der neuen Perspektive, neben historischen Großereignissen auch eine alltägliche Lebenswelt als geschichtswürdig zu begreifen. Aleida Assmann interpretiert in ihren Überlegungen ‚Monumente‘ und ‚Lebenswelt‘ als das „Doppelgesicht der Kultur“15 als gleichberechtigte Ausdrucksformen kulturellen Handelns, die sich nur durch den Rück- bezug aufeinander deuten lassen. So setzte sich seit den 1980er Jahren auch ein erweitertes Verständnis von Musik und Musikgeschichte durch:

Musik wird nicht länger nur als notiertes musikalisches Kunstwerk einer europäisch- abendländischen Kultur wahrgenommen, sondern als dynamischer Prozess menschlichen Verhaltens in einem spezifischen, historisch variablen kulturellen Umfeld gesehen.16

David Schiff formulierte den Wunsch, die feministische Musikwissenschaft möge dazu bei- tragen, den Blickwinkel von einem männlich dominierten Kunstprodukt („male-controlled cultural product“) auf einen auch weiblich konnotierten kulturellen Prozess („female-cen- terd cultural process“) zu erweitern.17 Dieser Einfluss lässt sich in der Forschung durchaus nachzeichnen, denn die in den 1980er Jahren entstandene deutschsprachige Frauenmusik- forschung führte durch ihr Interesse, Frauen in die Musikgeschichte mitaufzunehmen, in der Folge zu Reflexionen über Musikgeschichtsschreibung, zur Autonomie musikalischer Meisterwerke sowie zu Traditions- und Kanonbildung. Somit legte die Frauenmusik­ forschung eine Relativierung der bisher etablierten musikhistorischen Praxis nahe:

Im Vordergrund stand nunmehr weniger die Geschichte vermeintlich autonomer musi- kalischer ‚Meisterwerke‘ als Schauplatz der ästhetischen Innovation bzw. des Materialfort- schritts, sondern gefragt wurde vielmehr zum einen nach dem Musikleben jenseits der zentralen Institutionen […] und zum anderen […] nach den ideologischen Implikatio- nen jeweils herrschender musikkultureller Praxis.18

Sozialgeschichtsschreibung19, der Ansatz der historisch-anthropologischen Forschung20, die Beschäftigung mit Alltagskultur21, ebenso die Regionalisierung von Musikgeschichtsschrei-

14 Assmann: Lebenswelt und Monument, 1991, S. 13. Zur Entwicklung der Geschichtswissenschaften im 20. Jahrhundert siehe auch Iggers: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert, 1996. 15 Assmann: Lebenswelt und Monument, 1991, S. 11. 16 Gaupp, L. : Kulturwissenschaft, Kulturgeschichte, in: Lexikon Musik und Gender, S. 320. 17 David Schiff, zit. nach Locke/Barr: Woman Patrons and Activists, 1997, S. 1. 18 Noeske, N. : Gender Studies, in: Lexikon Musik und Gender, S. 235. 19 Siehe Dahlhaus: Musikgeschichte als Sozialgeschichte, 1974 und Mahling: Soziologie der Musik und musikalische Sozialgeschichte, 1970. Umsetzung findet der Ansatz bei: Ballstaedt/Widmaier: Salonmusik, 1989; Grotjahn: Die Sinfonie, 1998. 20 Z. B. R. Habermas: Frauen und Männer des Bürgertums, 2002. Im Gegensatz zur historischen Sozialwissenschaft wird bei diesem Ansatz nicht nach Strukturen, sondern besonders nach Men- schen in ihrem Alltag und ihrer Wahrnehmung gefragt. 21 Z. B. Ariès/Duby: Geschichte des privaten Lebens, 1989–93; Winter: Der produktive Zuschauer, 2010.

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Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 14 19.02.16 15:50 1 Bürgerliche Musikkultur als Teil der Musikgeschichte

bung22 waren Tendenzen, die gemeinsam mit der Genderforschung dazu führten, einen musikhistoriographischen Perspektivenwechsel einzuleiten. Die neue Sichtweise führte Re- becca Grotjahn im Jahr 2004 zu der Schlussfolgerung, der Kanon der Meisterwerke habe als Hauptgegenstand der Musikwissenschaft ausgedient.23 Diese Neuorientierung der Forschungsperspektive hatte enorme Folgen für den Unter- suchungsgegenstand von Musikgeschichte. Durch diese Sichtweise „rücken neben Kompo- nisten die interpretierenden Musiker und Musikerinnen von der Peripherie mit ins Zent- rum historischer Betrachtung.“24 Nicht-schaffende Künstler und soziale Netzwerke werden als Themen der Musikwissenschaft entdeckt.25 Der Ansatz eines relativierten Autoren­begriffs versucht, einen größeren Personenkreis in die Betrachtung kultureller Produktion zu integ- rieren, beispielsweise Personen, „die durch ihre fördernde Tätigkeit Anteil an der Autor- schaft dieser Werke haben.“26 Antje Ruhbaum beschreibt die Konsequenz dieser Sichtweise folgendermaßen: „Dieser Ansatz nimmt einer Elisabeth von Herzogenberg das Tragische, nicht Autorin gewesen zu sein, ebenso, wie er einem Johannes Brahms das Heroische der alleinigen Autorschaft abspricht.“27 Obwohl sich in den letzten zwanzig Jahren in der deutschsprachigen Musikwissenschaft ein deutlicher Wandel der Geschichtsschreibung oder zumindest des Geschichtsverständ- nisses vollzogen hat und sich ein Perspektivenwechsel von der ausschließlichen Betrachtung von ‚Monumenten‘ zu der Einbeziehung von ‚Lebenswelten‘ entwickelte, muss Rebecca Grotjahn andererseits konstatieren:

Gering ausgeprägt ist das Interesse jedoch noch immer, wenn es sich nicht um große ­Taten und Ereignisse im Bereich der Hauptkultur handelt […], sondern um das musika- lische Handeln von Nichtkünstlern, um das alltägliche Musikmachen und -hören.28

Die Ignorierung eines bedeutsamen, aber nicht-öffentlichen Musiklebens ist nicht nur ein Phänomen der Musikgeschichtsschreibung in Bezug auf das 19. Jahrhundert, tritt aber hier durch den Widerspruch zwischen Bedeutung und Beachtung besonders scharf hervor. So gilt das 19. Jahrhundert zwar weitläufig als das bürgerliche Jahrhundert, doch zu einer vermehrten Untersuchung der hieraus resultierenden Verortung der Musik in Bürgerhäusern oder Verei- nen hat dies kaum geführt – allenfalls in Hinblick auf ihren Einfluss auf Musikgattungen

22 Dazu siehe Schmidt: Landvermesserinnen, 2004. 23 Grotjahn: Der musikalische Alltag, 2004, S. 1. Ob diese Feststellung jedoch den Tatsachen ent- spricht, muss anhand der eingereichten Promotionsthemen im Bereich Musikwissenschaft (Dis- sertationsmeldestelle der Gesellschaft für Musikforschung) deutlich angezweifelt werden. Hier überwiegen weiterhin werkanalytische Arbeiten zu ‚großen Meistern‘. 24 Borchard: Der Interpret als Autor von Musikgeschichte, 2008, S. 27. 25 Borchard: Der Interpret als Autor von Musikgeschichte, 2008; Grotjahn: Der musikalische Alltag, 2004; Wollny: Sara Levy, 1993 und 1999; Ruhbaum: Elisabeth von Herzogenberg, 2009. 26 Ruhbaum: Elisabeth von Herzogenberg, 2009, S. 206. 27 Ebd. 28 Grotjahn: Der musikalische Alltag, 2004, S. 1.

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Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 15 19.02.16 15:50 Einführung

(z. B. Kunstlied und Kammermusik). Dabei stellte selbst Carl Dahlhaus in Bezug auf das Verhältnis zwischen öffentlichem und privatem Musikleben dieser Epoche fest:

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts kann man durchaus im Zweifel sein, ob das öffentliche oder private Konzert […] als Instanz, bei der die ästhetisch-musikgeschichtlichen Ent- scheidungen fielen, ausschlaggebend gewesen ist.29

So haben das private Musikleben und die bürgerliche Musikkultur im 19. Jahrhundert weit weniger Aufmerksamkeit erfahren, als im Hinblick auf ihre Bedeutung anzunehmen wäre. Trotz der weiten Verbreitung von privaten Konzerten und Hausmusik wurde das öffent­ liche Konzert bisher umfassender erforscht als die alltäglicheren Formen des Musizierens. Vereinzelte Publikationen weisen dabei auf eine nicht zu unterschätzende Bedeutung der privaten Musikpflege hin, wie z. B. der Titel The Making of Musical Taste in Berlin30 im Zu- sammenhang mit der ‚Salonière‘ Sara Levy zeigt. Auch Friedhelm Krummacher ­stellte be- reits fest: „Wiewohl konzertante Aufführungen genauer dokumentiert sind, waren private Veranstaltungen nicht minder wirksam.“31 Dabei ist – jenseits von inhaltlichem Desinteresse – die problematische Quellenlage ein wesentlicher Grund, weshalb sich bisher wenige Untersuchungen um eine Annäherung an die private Musikpraxis des 19. Jahrhunderts bemüht haben.32 Schon als Friedrich Schmidt 1912 seine Arbeit über das bürgerliche Musikleben Leipzigs verfasste, war ihm bewusst, wie viele Zusammenhänge des historischen Musiklebens bereits in Vergessenheit geraten waren und nur in Form von Kompositionen die Zeit überdauert hatten:

Wenn man bedenkt, wie tausendfach die feinen seelischen Beziehungen sind zwischen dem kühnen Vorwärtsschreiten der Musikschöpfer und dem ihnen nachfolgenden Publi- kum, anderseits zwischen der sich bildenden musikalischen Atmosphäre des Publikums und den von ihr beeinflussten Künstlern, […] wie die Beziehungen im engen Kreise einer Stadt persönlicher und dem gemäß noch reicher werden, […]. Eine Unsumme von ­solchen, meist feinen Einwirkungen für die geschichtliche Erkenntnis [sind] verloren ­gegangen […], nur ihr Resultat [ist] sichtbar geblieben […].33

Diese seit über hundert Jahren in Vergessenheit geratenen und als nicht erinnerungswürdig erachteten Strukturen wieder zu beleuchten, ist seitdem nicht einfacher geworden. Den- noch gilt:

29 Dahlhaus: Die Musik des 19. Jahrhunderts, 1996, S. 40. Er bezieht sich hierbei auf die Privat­ konzerte in Wien. 30 Wollny: Sara Levy, 1993. Siehe auch Wollny: Sara Levy, 1999. 31 Krummacher: Zwischen Bürgerhaus und Konzertsaal, 2004, S. 222. 32 Eine erwähnenswerte Ausnahme stellt dabei die Arbeit Walter Salmens dar. Salmen: Haus- und Kammermusik, 1969. Vgl. auch Gradenwitz: Literatur und Musik in geselligem Kreise, 1991; Fladt/Geck/Schutte: Musik im 19. Jahrhundert. Aspekte bürgerlicher Musikkultur, 1981; Ritzel/ Schutte: Gesellige Musik. Bürgerliches Musikleben im 19. Jahrhundert, 1991. 33 Schmidt: Das Musikleben der bürgerlichen Gesellschaft Leipzigs, 1912, S. 11.

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Daß jedoch der Teil der Musikgeschichte, der reicher dokumentiert ist, allein darum auch der wesentlichere sei, ist eine Maxime, die kein Historiker vertreten würde. Die Ge- schichte des Privatkonzerts zu schreiben, wäre ein Akt historischer Gerechtigkeit […].34

2 Der Salon als Forschungsdesiderat

Der Begriff Salon scheint auf den ersten Blick prädestiniert zu sein, um das bürgerliche Musikleben in Leipzig zu beschreiben. Der Terminus wird inzwischen häufig benutzt, um gesellschaftliche Kontexte von Kunst und Literatur oder die Kulturleistungen von Frauen darzustellen.35 Er wird dabei von unterschiedlichen Fachdisziplinen mit großer Selbstver- ständlichkeit verwendet, die jeden, der sich vertieft mit diesem Phänomen beschäftigt, er- staunen muss. Denn es scheint kaum geklärt, ob es im deutschsprachigen Raum Salons gegeben hat und was darunter zu verstehen ist. In Deutschland ist festzustellen, dass der Begriff anachronistisch auf gesellschaftliche Veranstaltungen angewendet wurde, die damals nie als solche bezeichnet wurden. So ist es ein bekanntes Faktum, dass Rahel Levin Varnhagen selbst von ihren Gesellschaften nie als Salons sprach, obwohl sie den Begriff durchaus kannte und für französische Geselligkeiten anwandte.36 Ein Artikel im Damenconversationslexikon von 1834 beschreibt den Salon als rein französische Form eines „Zirkels“37. Einerseits wird in diesem Lexikon festgestellt, dass Frankreich im Bezug auf Geselligkeitsformen eine Vorreiter- bzw. Vorbildstellung einnahm, andererseits werden auch schon die Gefahren dieser Gesellschaftsform beschrieben:

[…] aber leider bietet sie [die gesellige Unterhaltung] auch genug Schattenseiten, als: verderbliches Geklätsch, […] Koketterien von jeder Farbe und Pflanzschulen für Eitel- keit, die jeder Häuslichkeit entgegen nur auf das Effectmachen im Salon speculiert.38

Wie unüblich die französische Bezeichnung Salon in Deutschland war, zeigt sich in einem Brief von Felix Mendelssohn Bartholdy aus Paris an seine Schwester Fanny Hensel. Er er- klärt in seinem Brief, dass Soiree und Salon zwei unterschiedliche Aufführungssitua­tionen benennen. Eine Soiree sei ein Konzert mit Eintrittspreis, der Salon dagegen eine „Gesell- schaft“39. Auch die Leipzigerin Henriette Voigt (1808–1839) spricht in ihren Tagebüchern­

34 Dahlhaus: Die Musik des 19. Jahrhunderts, 1996, S. 40. 35 Z. B. Lukoschik: Der Salon, 2008. Spalding: Aufklärung am Teetisch, 2003; Lund: Die ganze Welt auf ihrem Sopha, 2004; Blänkner/Bruyn: Salons, 2009; Scholz: Der romantische Salon in Deutsch- land, 1999. 36 Vgl. Seibert: Der literarischer Salon, 1993, S. 13; Wilhelmy: Berliner Salon, 1989, S. 20. 37 Artikel: Salon, in: Damenconversationslexikon, 1835, Bd. 9, S. 41f. 38 Ebd. 39 „[…] die Soireen (die Du mit Salons übrigens verwechselst, denn Soireen sind Concerte für Geld, und Salons Gesellschaften) […].“ Brief von Felix Mendelssohn Bartholdy an Fanny Hensel vom 9. Mai 1825, zit. nach Hensel: Familie Mendelssohn, Bd. 1, 1879, S. 171.

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aus den 1830er Jahren lediglich von Kränzchen oder Gesellschaft. Doch bereits um 1900 werden die Veranstaltungen von Henriette Voigt als Salon bezeichnet.40 Die Erkenntnis, dass es sich beim Salon um eine retrospektiv etablierte Bezeichnung handelt, ist indes nicht neu. Schon Bertrand Roth beschrieb 1913, dass der Begriff als eine Notlösung zu verstehen sei, da das Deutsche keinen vergleichbaren Begriff besäße, um musikalische ­Gesellschaften treffend zu bezeichnen:

So gibt es denn meines Erachtens in unserer reichen deutschen Sprache kein Wort, wel- ches sich deckt mit dem Begriffe des Salons, als eines behaglichen, schön ausgestatteten Raumes, in welchem die Freunde des Hauses sich regelmäßig versammeln, um künstle­ ­ rische, wissenschaftliche und höhere gesellschaftliche Interessen zu pflegen. In diesem ­Sinne haben wir den Begriff von Paris übernommen, wo in den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Salons bedeutender Männer und Frauen eine ganz hervorragende Rolle spielten.41

Es gibt verschiedene Ansätze, die zu erklären versuchen, weshalb die Bezeichnung Salon zu Beginn des 19. Jahrhundert in Deutschland vermieden wurde. Zum einen wird hier die ablehnende Haltung gegenüber Frankreich durch die in den napoleonischen Kriegen ent- standene Animosität genannt, zum anderen die Distanzierung zum Salon als tendenziell aristokratischem Gebilde angeführt.42 Auch das frühe Einsetzen einer Pejorisierung dieser Bezeichnung wird herangezogen, um diese Vermeidung zu erklären und als eine reine Begriffproblematik zu entlarven.43 Dennoch bleibt das Phänomen Salon vage aufgrund der letztlich offenen Frage, ob sich alle musikalisch-geselligen Formen, die unter Bezeichnungen wie Zirkel, Kränzchen, Gesellschaften oder Tees zu finden sind, sinnvoll in dieser Kategorie zusammenfassen lassen. Die Tatsache, dass der Salon lediglich als retrospektives­ Beschrei- bungsmuster benutzt wurde, verdeutlicht ein wesentliches Problem des Untersuchungs­ gegenstandes und der bisherigen Forschung. Diese Problematik ist eine mögliche Erklärung dafür, dass der Salon als Forschungsgegen- stand im 20. Jahrhundert lange kaum Beachtung fand.44 Erst in den 80er und 90er Jahren fand die Beschäftigung mit den als Salons bezeichneten Geselligkeitsformen eine wahre ­Renaissance und avancierte zu einem „regelrechten akademischen Interessenmagneten“45.

40 Schmidt: Das Musikleben der bürgerlichen Gesellschaft Leipzigs, 1912, S. 187. Zum Phänomen der retrospektiven Bezeichnung von historischen Geselligkeiten siehe auch Ruhbaum: Elisabeth von Herzogenberg, 2009, S. 110. 41 Bertrand Roth, zit. nach Lubowski: Etymologisches zur „Musiksalon“-Frage, 1913, S. 101. Bertrand Roth betrieb in Dresden den Musiksalon, über den die Zeitschrift Der Musiksalon mehrmals berichte. 42 Vgl. Wilhelmy: Berliner Salon, 1989, S. 21. 43 Ebd., S. 22. 44 Hartwig Schultz stellte 1997 fest: „Der ‚Salon‘ war lange Zeit Thema von Essays und Feuilleton- Artikeln. Für eine wissenschaftliche Untersuchung schien das Thema zu ‚leicht‘, die Quellenlage zu vage.“ Schultz: Salons der Romantik, 1997, S. V. 45 Lilge: Salon, in: Lexikon Literatur, 2007, S. 675.

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Eine wesentliche Basis für dieses Aufleben des Salonbegriffes bildete die Habilitations- schrift von Petra Wilhelmy mit dem Titel Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert (1780– 1914).46 Wilhelmy stellt dabei sieben Merkmale des Salons heraus, die den Salon als frauen- zentrierten, toleranten und traditionsbewussten Raum kennzeichnen. Sie bezieht sich dabei weitgehend auf Beschreibungen und Vorstellungen, die schon um 1900 üblich waren.47 Diese seien im Folgenden zitiert: 1. „Ein Salon kristallisiert sich um eine Frau. Er ist die ‚Hofhaltung‘ einer Dame.“ 2. „Ein Salon stellt eine gesellschaftliche Institution, meist mit festgesetzten Empfangs­ tagen (‚jours fixes‘), dar.“ 3. „Die Salongäste gehören im Idealfall verschiedenen Gesellschaftsschichten, Lebens- und Berufskreisen an.“ 4. „Ein Salon ist ein Schauplatz zwangloser Geselligkeit.“ 5. „Die Konversation, meist über Kunst, Literatur, Philosophie, Musik oder Politik, domi- niert den Salon.“ 6. „Je nach ihrer Bedeutung üben die Salons einen größeren oder geringeren gesellschaftli- chen Einfluß aus […].“ 7. „Der Salon stellt einen Freiraum dar. Die Geselligkeit des Salons ist frei von Statuten, Satzungen und unantastbaren ideologischen Dogmen, sie ist tolerant.“48 Sie stellt fest, dass es „keine festumrissene, eindeutige und allgemein verbindliche Definiti- on ‚des Salons‘ geben kann, weil das Salonphänomen sehr vielgestaltig ist und fließende Übergänge zu anderen Geselligkeitsformen aufweist […].“49 Dennoch stellt sie die oben genannten formalen Kriterien auf, die den ‚echten‘ Salon kennzeichnen.50 Diese Salon­ beschreibungen von Petra Wilhelmy, die auch Peter Seibert für seine Studie weitgehend übernahm,51 wurden wegen ihrer idealisierten Darstellung vielfach kritisiert.52 Dass diese ­Arbeit dennoch auf eine große Resonanz und beständige Rezeption stieß, die bis heute andauert, wird durch die Einbettung in den wissenschaftlichen Kontext begreifbar; zum einen durch das entstehende Interesse an kulturwissenschaftlichen Entstehungskontexten, interdisziplinären und soziologischen Fragestellungen, zum anderen durch das Engagement

46 Wilhelmy: Berliner Salon, 1989. Für Frankreich bietet folgende Untersuchung einen wichtigen Überblick: Chimènes: Mécènes et musiciens. Du salon au concert à Paris sous la IIIe République, 2004. 47 Vgl. Tornius: Salons, 1913. 48 Wilhelmy: Berliner Salon, 1989, S. 25. 49 Ebd. 50 Mit Hilfe dieser Kriterien beansprucht Petra Wilhelmy, ‚echte‘ Salons zu erkennen: „Andererseits beherbergte nicht jedes zum ‚Salon‘ ernannte Wohnzimmer eine schöngeistigen oder politischen Zirkel, der sich als ‚echter Salon‘ um eine liebenswürdige und geistig aufgeschlossene Frau zusam- menfand.“ Wilhelmy: Berliner Salon, 1989, S. 2. 51 Seibert: Der literarische Salon, 1993. 52 Vgl. Ruhbaum: Elisabeth von Herzogenberg, 2009, S. 124ff. und Hahn: Der Mythos vom Salon, 1997.

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der damaligen Frauenforschung, weibliche Aktionsfelder zu rekonstruieren.53 Gerade die lange Zurückhaltung verschiedener Fachdisziplinen – wie der Musikwissenschaft oder der Germanistik – gegenüber einer Ausweitung ihres Blickfeldes54, hat für ihre Gegenreaktion, Kontexte vermehrt zu berücksichtigen oder sogar in das Zentrum ihrer Betrachtungen zu stellen, den Salon zu einem interessanten Untersuchungsfeld gemacht. Hier schienen end- lich ein Begriff und ein Phänomen greifbar, anhand derer man die gesellschaftlichen Ein- flüsse auf verschiedene Ebenen des Kulturlebens nachverfolgen und zugleich den beteilig- ten Personen – insbesondere Frauen – zu ihrem späten Recht verhelfen konnte. Angeregt von einem kulturwissenschaftlichen Geschichtsverständnis wurden auch in der Musikwissenschaft in den letzten Jahren vermehrt Versuche unternommen, vielfältige Per- spektiven für den Untersuchungsgegenstand Musik zu entwickeln. In diesem Rahmen, ge- kennzeichnet von der Abkehr von Musikgeschichte als einer reinen Kompositionsgeschichte­ und dem zunehmenden Interesse an einer prozesshaft gestalteten Musikkultur, kann das Aufgreifen des Salonkonzeptes verstanden werden.55 Zum einen bietet der Salon die Mög- lichkeit, sich einer historischen Musikkultur ohne Reduktion auf Kulturprodukte (Kompo- sitionen) zu nähern. So beschreibt Peter Seibert den literarischen Salon als Mittler zwischen Rezeptions- und Produktionssphäre bzw. als „Kontaktstelle von Repräsentanten der ver- schiedenen literarischen Handlungsrollen“56. Zum anderen schafft der Begriff eine struktu- rierende Einheit, die es überhaupt erst erlaubt, ein historisches Literatur- oder ­Musikleben aus nicht-individueller Sicht begreifbar zu machen. Schon Petra Wilhelmy beschreibt die Attraktivität des Salonkonzeptes durch die vermittelnde Instanz, die der Salon zwischen individueller und institutioneller Sicht bildet:

[…] [So gesehen] bilden die Darstellung und Analyse der Salons eine vermittelnde Kate- gorie zwischen der in der Regel engeren Perspektiven der Einzelbiographie einerseits und der Kultur- und Sozialgeschichte andererseits, insbesondere der Geschichte des organi- sierten und institutionalisierten kulturellen Lebens, also etwa der Vereine, Akademien und Universitäten.57

53 Auch Antje Ruhbaum stellte bereits fest: „Dass Wilhelmy und Seibert hier ein aktuelles Erkennt- nisinteresse heutiger Forschung präzise trafen, zeigen zahlreiche Arbeiten über potentielle Literari- sche oder Musikalische ‚Salons‘.“ Ruhbaum: Elisabeth von Herzogenberg, 2009, S. 138. 54 Hartwig Schultz beschreibt den Standpunkt der Germanistik folgendermaßen: „Germanisten galt einzig das ‚Werk‘ und allenfalls der Brief des Dichters, also der schriftlich überlieferte dichterische Text als Grundlage seriöser Forschungen und Interpretationen […]“ (Schultz: Salons der Roman- tik, 1997, S. V). Ähnliches ließe sich für die Musikwissenschaft im Bezug auf die Dominanz von Werktexten konstatieren. 55 Z. B. in Arbeiten wie: Ballstaedt/Widmaier: Salonmusik, 1989. Diese Arbeit bietet einen Überblick über wesentliche Rahmenbedingungen der Salonmusik im 19. Jahrhundert mit dem Ziel einer sozial- geschichtlich adäquaten Analyse bzw. Einordnung von Musikwerken. Die Problematisierung der zeit- lichen wie regionalen Veränderung der Salons bildet daher nicht Gegenstand ihrer Untersuchung. 56 Seibert: Der literarische Salon, 1993, S. 6. 57 Wilhelmy: Berliner Salon, 1989, S. 2. Wilhelmy begreift Salons als „soziale und soziokulturelle Organismen“.

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Große Resonanz fand der Salon als Untersuchungsgegenstand auch in frauenzentrierten Veröffentlichungen; bekommt die Frau in diesem Kontext doch generalisierend eine Machtposition zugesprochen, wie sie sonst in der Geschichte nur selten nachzuweisen ist.58 Aus dieser Perspektive entstanden eine Reihe mitunter stark idealisierender Arbeiten wie Europäische Salons. Höhepunkte einer versunkenen weiblichen Kultur von Verena von der Heyden-Rynsch und Musikalische Salons. Blütezeit einer Frauenkultur von Veronika Beci.59 Dabei muss man die starke Beschränkung und Fokussierung auf das Wirken der Frauen durchaus kritisch sehen. Petra Wilhelmy versteht die Frau als Zentrum eines Salons als wesentliches und konstituierendes Kennzeichen desselben:

Das erste dieser Kriterien – die Frau als Kristallisationspunkt des Salons – ist besonders wichtig, weil dadurch die sehr häufig dem Salon ähnelnde Geselligkeit berühmter Gelehr- ter, Schriftsteller, Verleger, Künstler oder Staatsmänner aus der Betrachtung ausgeschieden wird. Eine Einbeziehung dieser Gruppe würde nicht nur der historischen Entwicklung des Salons aus seinen teilweise chevaleresken Wurzeln widersprechen. Sie würde auch das zu untersuchende Gebiet sehr stark ausweiten und völlig unübersichtlich machen.60

Sie schränkt den Salon auf eine von Frauen dominierte Sphäre ein, um eine Traditionslinie zeichnen zu können. Vielleicht das wesentlichere Argument für ihre Einengung ist jedoch die Möglichkeit, das Untersuchungsfeld damit einzugrenzen. Dagegen beschränken zeitge- nössische Quellen wie das Damenconversationslexikon von 1834 ihre Beschreibung von Salongeselligkeit nicht allein auf die Sphäre der Frau, sondern benennen Frauen unter mög- lichen anderen (männlichen) Veranstaltern.61 Oft widersprechen sich die Versuche darin, den Salon als ein weiblich dominiertes Machtfeld zu verstehen, da immer wieder auch Zirkel mit einbezogen werden, die von Männern (mit-)initiiert wurden. So bezeichnet auch Andreas Ballstaedt den Salon als eine Geselligkeit, „die von wenigen Ausnahmen abgese- hen, eine Frau […] als Mittelpunkt hat.“62 Dennoch folgt in seinem Artikel auch eine Aufzählung von Geselligkeiten, die von Männern (mit-)gegründet wurden.63 Beatrix Schi- ferer ­umgeht dieses Problem, indem sie zwischen weiblich dominierten Salons und Haus- musik unterscheidet, die auch von einem Mann geleitet werden kann, z. B. die Schubertia- den.64 Dabei soll an dieser Stelle nicht negiert werden, dass Frauen bei musikalischen

58 Bemerkenswert ist in diesem Kontext, dass der Begriff Salon als kultureller Handlungsraum von Frauen inzwischen zunehmend positiv konnotiert wird, während Salonmusik weiterhin als Pau- schalbezeichnung unterhaltender, minderwertiger Musik Verwendung findet. 59 Beci: Musikalische Salons, 2000; Heyden-Rynsch: Europäische Salons, 1995. 60 Wilhelmy: Berliner Salon, 1989, S. 25. 61 „Die Gelehrten, die Künstler, beliebte Sterne vom Theater, selbstständige Frauen etc. öffnen ent- weder fortwährend, oder an bestimmten Tagen ihr Besuchszimmer – Salon.“ Artikel: Salon, in: Damenconversationslexikon, 1835, Bd. 9, S. 41. 62 Ballstaedt: Salonmusik, in: MGG2, Sachteil, Bd. 8, Sp. 856. 63 Ebd. Vgl. auch Ruhbaum: Elisabeth von Herzogenberg, 2009, S. 127. 64 Schiferer: Salon- und Hausmusik, 2000, S. 26.

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Geselligkeiten­ eine für den bürgerlichen Kontext ungewöhnliche Rolle einnehmen konn- ten, die durchaus betrachtungswürdig ist. Doch wurden diese Handlungsmöglichkeiten vorschnell als Tatsachen dargestellt und überstrapaziert. So stellte Rebekka Habermas fest: „Insbesondere die Frauenforschung hat dem Salon eine besondere Rolle als weiblicher Ein- flußsphäre eingeräumt und ihn dabei […] weit überschätzt.“65

Das Changieren des Salons zwischen öffentlicher und privater Sphäre, die unübliche Rol- lenzuweisung der Geschlechter sowie das Vermitteln zwischen Produktions- und Rezepti- onssphären machen den Salon zu einer interessanten „Kontaktstelle“66 und weisen ihn als ein für die „interdisziplinäre Erschließung prädestinierte[s] Konzept“67 aus. Aus dieser Sicht wird deutlich, wie attraktiv der Salonbegriff, trotz widersprüchlicher Quellenlage, für ver- schiedene Forschungsrichtungen sein musste. So waren und sind viele Untersuchungen zum Salon von spezifischen Erwartungen und Vorstellungen geprägt. Bereits Antje Ruh- baum stellte fest:

Möglicherweise finden sich keine historischen Beispiele, auf die alle Kriterien der Salon- definition von Seibert und Wilhelmy zutreffen. Dennoch umreißen diese, was viele For- scherinnen und Forscher in der Geschichte wiederzufinden hofften und auch teilweise wiederfanden.68

Deutlich wird hierbei, dass es sich bei vielen Forschungen in diesem Kontext um erwar- tungsgesteuerte Arbeiten handelt. So bleibt festzustellen, dass sich gerade die Unschärfe, die der retrospektive Begriff Salon mit sich bringt, für eine Vielzahl von neuen Forschungsan- sätzen, aber auch Projektionen anbot. So konstatiert Antje Ruhbaum die Projektion eines heutigen Wunschdenkens – der „Gleichberechtigung hierarchisch geordneter Gesellschafts- schichten, von Juden und Christen, von Mann und Frau“69 – auf die Geschichte des Salons. Auch Claudia Lilge stellt fest, dass es sich bei Salonbeschreibungen und -darstellungen oft um „historische Fiktion“ 70 und „Genrebilder“71 handelt. Trotz dieser starken Verklärung und der Kritik, die an ihm formuliert wurde, hat sich der Salonbegriff im wissenschaftlichen und alltäglichen Sprachgebrauch etabliert.72 So kann man den Begriff heute kaum mehr umgehen, wenn man versucht, sich künstlerischen, wissenschaftlichen oder literarischen Zusammenkünften des 19. Jahrhunderts zu nähern. Umso dringlicher scheint aber eine ausführliche Darstellung und Differenzierung ange-

65 R. Habermas: Frauen und Männer des Bürgertums, 2002, S. 143. 66 Seibert: Der literarische Salon, 1993, S. 6. 67 Lilge: Salon, in: Lexikon Literatur, 2007, S. 675. 68 Ruhbaum: Elisabeth von Herzogenberg, 2009, S. 126. 69 Ebd., S. 128. 70 Lilge: Salon, in: Lexikon Literatur, 2007, S. 675f. Reinhard Blänkner spricht sogar von „ mytholo- gisierenden Verklärungen und utopischen Reprojektionen“. Blänkner/Bruyn: Salons, 2009, S. 11. 71 Ebd. 72 Siehe Giesbrecht, Sabine: Orte. 5. Salon, in: Lexikon Musik und Gender, S. 417.

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bracht. Der Salon hat zwar bisher ergiebige Analysen veranlasst, die der Frage nach gesell- schaftlicher Einflussnahme auf Produktion, Rezeption, Distribution von Kunst, Literatur und Musik nachgehen sowie die Stellung von Autor und Publikum thematisieren,73 diese bleiben aber dennoch vielfach vage durch die Vorstellung, die der Autor über den Salon mit einfließen lässt. Peter Seibert erklärt dies mit der Offenheit, die gerade ein Kennzeichen des Salons sei.

[…] unterschiedliche Einschätzungen von einem ‚Salon‘ – was auch immer konkret dar- unter verstanden worden sein mag – sind eher die Regel als die Ausnahme. […] Es liegt am Gegenstand selbst, der Offenheit seiner Strukturen, einer sozialen Vagheit, auch sei- ner langen epochenübergreifenden Entwicklung, die verschiedene Salontypen hervorge- bracht haben.74

Diese Vorstellung, dem Salon wohne per se etwas Unstetes, Wandelbares, Offenes inne, sollte jedoch nicht dazu führen, konkrete historische Geselligkeitsformen zu ignorieren und sich auf tradierte Annahmen zu stützen.75 Denn ähnlich wie der Begriff scheinen auch viele Vorstellungen über Salongeselligkeiten eher retrospektiven Ansichten als fundierten Quel- lenstudien zu entspringen. Schon Barbara Hahn stellte fest, dass zeitgenössische Quellen bisher eine untergeordnete Rolle spielten und sich die Studien zum größten Teil auf stets dieselbe Memoirenliteratur stützen.76 Die Forderung Hartwig Schultz’ scheint demnach immer noch aktuell: „Was vorschnell durch Definitionen festgeschrieben und verallgemei- nert wurde, muß nun hinterfragt und ergänzt, revidiert und präzisiert werden.“77 Schultz erkennt die Notwendigkeit, „die allgemeine ‚Salon-Forschung‘ durch gründliche Untersu- chungen zu den einzelnen Salons und Salonnièren zu ergänzen und zu differenzieren.“78 Doch gerade die hierfür nötige Quellenerschließung ist aufwändig, da zum Großteil auf Privatdokumente zurückgegriffen werden muss, die in vielen Fällen (noch) nicht vorliegen oder noch nicht ausgewertet sind. Die Euphorie, einen erweiterten Kunstkontext mit Hilfe des Salons beschreiben, abbilden und seine Funktion klären zu können, führte dazu, dass die hierfür nötige Erschließung von Quellen vernachlässigt wurde. Eine Erweiterung des

73 Z. B. weist Peter Seibert in seinem Buch nach, wie differenziert die Entwicklung des Autoren- und Publikumsverhältnisses analysierbar ist. Seibert: Der literarischer Salon, 1993. Auch wurde mit Hilfe des Salonkonzeptes in einigen Fachdisziplinen eine Horizonterweiterung erreicht, für die die daraus entstandenen Studien zu würdigen sind. 74 Seibert: Der literarische Salon, 1993, S. 1f. 75 Die Hilflosigkeit, den Begriff Salon und die damit verbundene Form der Geselligkeit zu definieren sowie die Salons in ihrer Bedeutung zu beschreiben, zeigt sich auch in neueren Artikeln zum Salon­wesen wie Giesbrecht, Sabine: Orte. 5. Salon, in: Lexikon Musik und Gender, S. 417. Vgl. S. 178. 76 Hahn: Akkulturation in Ton und Text um 1800, 1999, S. 6. Selbst für die Pariser Salons wurde festgestellt: „Although often mentioned in general terms, details about music in the private Parisian salons are not readily available in the literatur.“ Tunley: Salons, Singers and Songs, 2002, VII. 77 Schultz: Salons der Romantik, 1997, S. VI. 78 Ebd., S. V.

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historischen Interessengebietes bzw. das „Absenken der Schwelle des Geschichtsfähigen“79 bringt notwendigerweise die Erschließung neuer Quellen zur Rekonstruktion vergangener Lebenswelten mit sich. In vielen Fällen ist die Quellenkenntnis jedoch noch viel zu gering, um über Kulturprozesse, die sich im Privaten vollzogen, Auskunft zu geben. Diese zu unter­ suchen, bleibt damit ein Forschungsdesiderat. Die Popularität des Salonbegriffes zeigt das Interesse am kulturellen Handeln von Ein- zelpersonen (vor allem Frauen) und den Versuch einer übergeordneten Kategorisierung. Einem solchen Interesse müssen wissenschaftliche Untersuchungen Rechnung tragen, in- dem sie versuchen, historische Quellen zu erschließen oder neu zu lesen, um eine fundierte Auseinandersetzung mit diesem Themengebiet zu ermöglichen. Auf diese Weise können bestehende Begrifflichkeiten und Definitionen reflektiert, diskutiert und verändert werden. Demgemäß versteht sich die vorliegende Arbeit als Chance, Basismaterial für diese Diskus- sion zur Verfügung zu stellen und zu erschließen. Es soll der Versuch unternommen wer- den, spezielle Einzelfälle darzustellen, um eine Einsicht in die Vielschichtigkeit des Phäno- mens zu gewinnen.80 Ziel ist es, differenzierte Muster von Gesellschaftsformen und privater Auseinandersetzung mit Kultur herauszuarbeiten. Aufgrund der dargestellten Probleme und Projektionen, die mit dem Begriff Salon ver- bunden sind, soll diese Bezeichnung in der vorliegenden Arbeit gemieden werden. Die vorgefundenen Veranstaltungen werden im Folgenden als musikalische Gesellschaften oder Geselligkeiten bezeichnet.81 Auch der Begriff Salonière wird dementsprechend ersetzt durch Gesellschafter bzw. Gesellschafterin.82

3 Quellen – „Ego und Egodokument“83

Um sich der Frage zu nähern, wie sich in Leipzig private Musikveranstaltungen abgespielt haben und ob sich hierbei Kategorien für diese Aktivitäten finden lassen, wurde ein breit- gefächertes Quellenmaterial zurate gezogen. Memoiren, Erinnerungsliteratur, Biographi- en und Autobiographien, Briefausgaben, Musikalben, Tagebücher und Briefe bilden die vielschichtige Quellengrundlage, die ihren Funktionen entsprechend Erinnerungs­

79 Raulff: Vom Umschreiben der Geschichte, 1986, S. 10. 80 Ziel der Arbeit ist nicht die Neudefinition von Begriffen, sondern einen Beitrag für die Diskussion und das Verständnis bürgerlicher Musikpraxis zu leisten. 81 Mit musikalischen Gesellschaften werden keine Vereine oder sonstige satzungsgebundene Institu- tionen bezeichnet, sondern lediglich eine konkrete in Gesellschaft stattfindende Musikaufführung. 82 Diese Bezeichnung ist eine Hilfskonstrukion und bezieht sich nicht auf die juristische Form eines Gesellschafters einer GmbH oder auf die historische Bezeichnung von Hofdamen als Gesellschaf- terinnen. Mit dieser Hilfsbezeichnung sollen im Folgenden Männer und Frauen benannt werden, die musikalische Gesellschaften veranstalteten, diesen Kontaktraum schufen und dort in heraus­ ragender Stellung agierten. 83 R. Habermas: Frauen und Männer des Bürgertums, 2002, S. 169.

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Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 24 19.02.16 15:50 3 Quellen – „Ego und Egodokument“

momente, Beschreibungen und Bemerkungen liefern, die auf verschiedene Arten der Mu- sikpflege rekurrieren.84 Die meisten der in dieser Arbeit verwendeten Quellen lassen sich dem Typ der Ego- Dokumente zurechnen. Der Historiker Rudolf Dekker definiert diese Selbstzeugnisse als Texte, die bewusst und freiwillig von einem Autor oder einer Autorin über seine bzw. ihre Handlungen, Gedanken und Gefühle verfasst wurden.85 Unter Ego-Dokumenten sind demnach Autobiographien, Tagebücher, Memoiren und Briefe zu verstehen, die zu trennen sind von den unfreiwilligen und nicht-intendierten Überlieferungen, wie sie sich in Ge- richtsakten, Adressbüchern und Steuererhebungen befinden. Im Umgang mit Ego-Doku- menten wird deutlich, dass man mit ihrer Hilfe nicht zu objektiven Erkenntnissen über den Verfasser gelangt. Dennoch lassen diese Dokumente auf dessen subjektives Verhältnis zu seiner Umwelt schließen. Die Aussagen von Ego-Dokumenten erscheinen immer individu- ell gebrochen und reflektiert.86 Diese Problematik hat Rebekka Habermas ebenso treffend wie prägnant in der Formulierung „Ego und Egodokument“87 zusammengefasst. Gerade bei Briefen ändert sich bekanntermaßen die Selbstdarstellung mit dem Wechsel von Adressaten und verdeutlicht die Selbstkonstruktion des Autors. Dennoch sind die Aus- sagen von Selbstzeugnissen mehr als subjektiv, sind sie doch eingebunden in die zeitgenös- sische, sozial konstruierte Wahrnehmung. So ist Geschichtsschreibung nach dem ,linguistic turn‘ mit der Erkenntnis einer sprachlich gefilterten Wirklichkeit immer ein „Oszillieren zwischen Gegenstandsgewissheit und Konstruktivismus“88. Geschichtsschreibung wird zu einer Suche nach historischer Erkenntnis, die aber immer durch Erzählstrukturen geprägt bleibt und sich den sprachlichen Voraussetzungen ihrer Schriftquellen einzig durch die Analyse historischer Diskurse nähern kann. Ein spezielles Problemfeld beim Umgang mit Quellen tritt im Kontext von Bürgerkultur zusätzlich zutage: Bei der Frage nach bürgerlichen und vergesellschaftenden Praktiken laufen Untersuchungen häufig Gefahr, die in den Quellen beschriebenen Werte mit Praktiken zu verwechseln.89 Auf der Suche nach der bürgerlichen Lebenswelt unterliegen viele Untersu- chungen dem Fehler, „von den Normen und Geboten, wie sie in zahlreichen Entwürfen und Selbststilisierungen vom idealen Bürger und seiner Gattin nachzulesen sind, auf die faktische Lebensführung zu schließen“.90 So warnt Rebekka Habermas davor, in der Bürgertums­ forschung aus der auffallend häufigen Thematisierung z. B. von Liebe auf deren Existenz zu

84 Eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Quellenlage erfolgt in den Kapiteln zu den einzelnen Personen und deren jeweils spezifischen Quellensituationen. 85 Dekker: Egodocuments and History, 2002. 86 Vgl. Köhlmann: Informelle Soziabilität, 2005. 87 R. Habermas: Frauen und Männer des Bürgertums, 2002, S. 169. 88 Daniel: Kompendium Kulturgeschichte, 2004, S. 316; vgl. auch Krutziger-Herr, Annette: Ge- schichtsschreibung. 6. Musikgeschichtsschreibung, symmetrische, in: Lexikon Musik und Gender, S. 255. 89 Vgl. R. Habermas: Frauen und Männer des Bürgertums, 2002, S. 11. 90 Ebd., S. 10f. Ähnliche vorschnelle Schlüsse sind bei der Salonforschung gezogen worden.

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schließen.91 Sie weist auf die Inkonsistenz dieses Vorgehens hin, da „erst der Blick auf die Praktiken des Familienlebens zeigt, ob und in welcher Weise in der Tat davon gesprochen werden kann, daß diese Emotionalisierung ‚wirklichkeitsgestaltend‘ war.“92 Gerade in der Aufdeckung von Diskrepanzen zwischen Lebensführung und Idealen lassen sich zeitgenössische Aussagen kontextualisieren und nutzbar machen, was zur Neubewertung angenommener Strukturen und Praktiken führen kann. Diese Problematik (Ideal vs. Wirk- lichkeit93), die besonders im Umfeld der bürgerlichen Orientierung greift, bildet auch in dieser Arbeit eine zentrale Herausforderung im Umgang mit den historischen Quellen. In der Kulturpraxis des Bürgertums nahmen musikalische Geselligkeiten einen wichtigen Stellenwert ein. Die Vorstellung, es handele sich beim Bürgertum um eine geschlossene ge- sellschaftliche Schicht94, hat sich aber in den letzten Jahren immer mehr dahingehend ver- schoben, eine gesellschaftliche Orientierung an einer ‚Bürgerlichkeit‘ in das Zentrum der Bürgertumsforschung zu stellen.95 Man geht inzwischen davon aus, dass Bürgerlichkeit vor allem als kulturelle Praxis zu verstehen ist, die einen vergesellschaftenden Einfluss hatte.96 Auch musikalische Geselligkeiten sind daher als Formen bürgerlicher Vergesellschaftung und Identitätsstiftung zu verstehen.97 Mit Hilfe der ausgewerteten Quellen werden neue Sichtweisen auf die bürgerliche Musikpraxis Leipzigs eröffnet sowie die dabei wirkenden und wirklichkeitsgestaltenden Ideale hinterfragt und analysiert.

4 Ausgangspunkt Leipzig

Als Ausgangspunkt der Untersuchung einer bürgerlich geprägten Musikkultur erscheint die Stadt Leipzig prädestiniert. Leipzig genoss den Ruf, eine Musikstadt zu sein:

Zentrale des über die ganze Welt verzweigten deutschen Buch- und Musikalienhandels, als Sitz berühmter Institute, so namentlich der Gewandhauskonzerte, des Königlichen

91 Ebd., S. 14. 92 Ebd. 93 Bzw. die Tatsache, dass es Ideale gab, die wirkten, ohne wirklich zu werden. 94 Als soziale Schicht lässt sich das Bürgertum lediglich basal als urbane Schicht, die zwischen Adel und bäuerlicher Landbevölkerung ebenso wie über der städtischen Unterschicht verortet ist, ­definieren. 95 Grundsätzliche Überlegungen in diese Richtung finden sich in Kocka: Bürgertum und Bürgerlich- keit, 1987, S. 42ff. Spezifische Kultur und Lebensführung werden hierbei als konstituierende Fakto- ren benannt. Ebd., S. 44. Weiterführende Überlegungen siehe Hettling: Bürgerliche Kultur, 2000. 96 Das Konzept der Vergesellschaftung umfasst dabei zwei Tendenzen bei der Konstituierung des Bürgertums. Einerseits die Abgrenzung gegenüber anderen sozialen Schichten wie Adel und Arbei- terklasse, gleichzeitig jedoch die Integration durch gemeinsame kulturelle Orientierung (gleiche Werte, Normen, Erfahrungen). Vgl. Tenbruck: Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft, 1989, S. 260ff. 97 Vgl. Kapitel 6.3: „Bürgertum und Bürgerlichkeit“ und S. 281ff.

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Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 26 19.02.16 15:50 4 Ausgangspunkt Leipzig

Konservatoriums, des Thomanerchors und vieler musikalische Zwecke verfolgender Ver- einigungen.98

Als solche nahm Leipzig eine wichtige Rolle im europäischen Musikleben ein. So schrieb bereits 1837, dass „wir so mit einigem Stolz auf drei Institute sehen [Ge- wandhaus, Euterpe, Quartettabend], wie sie mit Begeisterung an den edelsten Werken ­unseres Volkes aufgezogen, kaum eine andere deutsche Stadt aufzuweisen hat.“99 Neben den berühmten großen Musikinstitutionen Leipzigs bildeten sich zahlreiche Gesangvereine100 und das private Musikleben prosperierte. Prägend für die Musikstadt sind dabei nicht nur die großen Institutionen und Komponis- ten, die „das historische Gewicht der Leipziger Musikkultur als Ganzes symbolisieren“101, son- dern vor allem auch die alltägliche Musikpflege der Gesangvereine und der Privathaushalte.­ So berichtete die AMZ 1816 „über verschiedene ausgezeichnete, und, selbst ihrer Gattung nach bedeutende, gesellschaftliche musikalische Unterhaltungen, zu denen sich Liebhaber­ vereinigt hatten“102 und schrieb im Jahr 1834: „An sehr geschickten Dilettanten im Gesang und Spiel fehlt es uns nicht, auch nicht an sehr anziehenden häuslichen Musikzirkeln.“103 Das Zusammenspiel von den unterschiedlichen (öffentlichen und privaten) Formen der Musikpraxis war für das Leipziger Musikleben von entscheidender Bedeutung:

[…] der Weltruhm der Musikstadt resultierte und resultiert aus dem Zusammenspiel aller musikalischen Faktoren: der Konzerte, des Theaters, der Oper, der Kirchen, des Konser- vatoriums, der bedeutenden Musikverlage, der Dilettantenvereinigungen und nicht ­zuletzt des Publikums.104

So bietet sich Leipzigs reiches bürgerliches Musikleben einerseits für die Untersuchung privat-geselliger Musikveranstaltungen an, zum anderen können hiermit gleichzeitig regio- nalgeschichtliche Bestrebungen aufgegriffen werden, die bemüht sind, Lücken in der ­Musikgeschichtsschreibung Leipzigs zu schließen. Bereits das DFG-Projekt Musikstadt Leipzig105 hatte zum Ziel, das Musikleben Leipzigs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts systematisch zu erschließen,106 da die von Rudolf

98 Richter: Erinnerungen, 2004, S. 13. 99 Robert Schumann: Fragmente aus Leipzig, in: NZfM, 1837, Nr. 52, S. 210. 100 Die Singakademie (1802), die Liedertafel (1815), der Pauliner-Verein (1822), der Zöllnerverein (1833), die jüngere Liedertafel (1838). 101 Greiner: Gesangverein Arion, 2010, S. 9. 102 Anonym: Nachrichten, in: AMZ, 1816, Nr. 17, Sp. 286. 103 Anonym: Musikalische Topographie Teutschlands, in: AMZ, 1834, Nr. 51, Sp. 856. 104 Blomstedt: Geleitwort, in: Richter: Erinnerungen, 2004, S. 5. 105 Leitung: Wilhelm Seidel. Mitarbeiter: Marcus Erb-Szymanski, Wolfgang Gersthofer, Clemens Harasim, Stefan Horlitz, Susanne Krostewitz, Janina Moelle, Marion Recknagel, Lothar Schmidt und Katharina Winkler. 106 In diesem Kontext entstanden folgende Publikationen. Seidel: Dem Stolz und der Zierde unserer Stadt, 2004 und Horlitz/Recknagel: Musik und Bürgerkultur, 2007.

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Wustmann und Arnold Schering 1926 veröffentlichte musikalische Stadtgeschichte Leipzigs mit dem 18. Jahrhundert endet.107 Gerade die Phase des 19. Jahrhunderts, die mit Felix Mendelssohn Bartholdys Zeit in Leipzig und der Errichtung des Konservatoriums die „Glanzzeit“108 Leipzigs begründete, ist nur durch Einzelstudien erfasst worden.109 Die ­musikgeschichtliche Erforschung weist dabei eine starke Betonung der Geschichte musi­ kalischer Institutionen auf.110 Ansätze, das Geschichtsbild zu erweitern, finden sich in Ver- öffentlichungen wie Bach, Mendelssohn, Schumann. Spaziergänge durch das musikalische Leipzig, in denen in das lokale und soziale Gefüge der Epochen eingeführt wird.111 Auch die Musikrezeption und Repertoirepflege in Leipzig wird inzwischen verstärkt als Forschungs- desiderat erkannt und der bisherige Kenntnisstand durch neue Veröffentlichungen er- gänzt.112 Der Bereich der halböffentlichen Musikpflege zahlreicher Musikvereine wird erst seit Neuestem in die Forschung einbezogen.113 Die private Musizierpraxis wurde bisher ­selten Gegenstand von Untersuchungen,114 obwohl Wilhelm Seidel das Engagement der

107 Wustmann: Musikgeschichte Leipzigs. Bd. 1, 1926; Schering: Musikgeschichte Leipzigs. Bd. 2, 1926; Schering: Musikgeschichte Leipzigs. Bd. 3, 1926. 108 Richter: Erinnerungen, 2004. 109 Zu diesem Thema vgl. auch Greiner: Gesangverein Arion, 2010, hier Kapitel „Leipzigs noch zu schreibende Musikgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert“, S. 105ff. 110 Alfred Dörffel: Gewandhauskonzerte, 1884; Jung: Gewandhausorchester, 2006; Hennenberg: 300 Jahre Leipziger Oper, 1993; Altner: Thomanerchor, 1998; Altner: Thomaskantorat im 19. Jh., 2006; Hempel: Musikstadt Leipzig, 1979; Wasserloos: Das Leipziger Konservatorium, 2004. Der Band 600 Jahre Musik an der Universität Leipzig, herausgegeben von Eszter Fontana, bringt darüber hinaus seit Neuestem Licht in die vielgestaltigen Bezüge der Universität zum städtischen Musikle- ben. Fontana: 600 Jahre Musik an der Universität Leipzig, 2010. Ausführliche Literaturhinweise zur Leipziger Musikgeschichte bei Hennenberg: Musikgeschichte der Stadt Leipzig, 1991 und Kraus/Hempel: Leipzig, in: MGG2, Sachteil, Bd. 5, 1998, Sp. 1050–1075. 111 Dießner/Hartinger: Bach, Mendelssohn und Schumann. Spaziergänge durch das musikalische Leipzig, 2005. Die Publikation richtet sich dabei vor allem an ein touristisch interessiertes Fach- publikum. 112 Schwerpunkt der Rezeptionsforschung bildet dabei die Musik Johann Sebastian Bachs (Hartin- ger/Wolff/Wollny: „Zu groß, zu unerreichbar“. Bach-Rezeption, 2007; Hartinger: Bach-Auffüh- rungen, 2010). Bert Hagel veröffentlichte 2009 eine neue Statistik der zwischen 1779 und 1848 veranstalteten Orchesterkonzerte in Leipzig und der dort aufgeführten Werke (Hagels: Konzerte in Leipzig, 2009). Gilbert Stöck arbeitet seit 2009 im Rahmen eines DFG-Projekts am Institut für Musikwissenschaft der Universität Leipzig an der Erstellung einer Datenbank zum Repertoire des Thomanerchores. 113 Greiner: Gesangverein Arion, 2010; Brödner: Schützpflege des Riedelvereins, 2006. Das gilt auch über Leipzig hinaus: Bödeker/Veit: Les sociétes des musique, 2007. 114 Ausnahmen bilden Seidel: Ethik und Ästhetik bürgerlicher Musik, 2004; Krummacher: Zwi- schen Bürgerhaus und Konzertsaal, 2004; Ruhbaum: Elisabeth von Herzogenberg, 2009 und Ruhbaum: Ein Talent, „als Sängerin, Pianistin, vielleicht sogar als Komponistin in der Öffent- lichkeit zu glänzen…“, 2002. Dabei bildet vor allem die Arbeit von Antje Ruhbaum zu der von 1872 bis 1885 in Leipzig wirkenden Pianistin und Komponistin Elisabeth von Herzogenberg (1847–1892) einen entscheidenen Vergleichs- und Anknüpfungspunkt für die folgende Untersu- chung. Antje Ruhbaum nähert sich mit dem von ihr etablierten Begriff der ‚Musikförderung‘ der

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Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 28 19.02.16 15:50 5 Zur Methodik – Überblick versus Einzelstudie

­Bürger, der Kunstkenner, Kunstfreunde und Kunstkritiker neben dem Wirken von Virtuo- sen, Kantoren, Kapellmeistern, Pädagogen, Organisatoren und Verlegern als wichtige ­Säule der Leipziger Musikkultur benannte.115

5 Zur Methodik – Überblick versus Einzelstudie

Um diese Lücke der Leipziger Musikgeschichte zu füllen und sich dem Phänomen privater Musikgeselligkeit zu nähern, wurden in einer Datensammlung116 sämtliche aufgefundene Hinweise auf Musikaufführungen in Leipziger Privathaushalten aus den Jahren 1828 bis 1887 aufgenommen.117 Hierin befindet sich eine Sammlung privater Musizierszenen, Musik- gesellschaften und Privatkonzerte. Ebenso verzeichnet sind die dort erklungenen Komposi- tionen und die daran beteiligten Musiker und Zuhörer.118 Ca. 700 datierte, private Musik- aufführungen spiegeln die Diversität und Vitalität dieses bisher vernachlässigten Bereiches musikalischer Praxis wider. So lückenhaft diese Aufstellung auch ist, bietet sie die bisher einzige Aufstellung privater Musikpraxis und ermöglicht es, einen Eindruck des musikali- schen Zeitgeschmacks, seiner Entwicklung und der gepflegen Aufführungsformen zu ge-

privaten Musikpflege und -unterstützung, wobei durch Elisabeth von Herzogenbergs Aufenthalt in Leipzig (1872–1885) auch das regionale Musikleben thematisiert wird. Schwerpunktmäßig geht Antje Ruhbaum aber vor allem auf das Verhältnis zwischen Elisabeth von Herzogenberg und Clara Schumann, Johannes Brahms und Heinrich von Herzogenberg ein. 115 Seidel: Ethik und Ästhetik bürgerlicher Musik, 2004, S. 9. Er widmet sich in diesem Artikel dem Leipziger Bürgertum, indem er es als Adressat und Leser der AMZ und ihres Bildungsprogram- mes versteht. 116 Die Datensammlung befindet sich auf der beigefügten Daten-CD. Diese umfasst sämtliche pri- vate Musikaufführungen in Leipzig mit Angaben zu den gespielten Werken, Aufführenden und Anwesenden. Die Veranstaltungen sind dabei nach Veranstalter und Datum sortiert. Aufstellun- gen zum gespielten Repertoire oder zu anwesenden Personen befinden sich auch in den Anhängen dieser Arbeit. Diese Datensammlung, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann, soll den Zugang für nachfolgende Untersuchungen erleichtern, indem hier Quellen, Beschreibungen und Repertoire gesammelt wurden. Die in den Quellen benannten konkreten Aufführungssitua- tionen und genannten Personen wurden als den Tatsachen entsprechend angenommen, wenn kein begründeter Zweifel an den Quellen vorlag. Unbeachtet blieben bei dieser Untersuchung Konzerte in Gasthäusern und Gartenanlagen, die Leipzig in einer Vielzahl zu bieten hatte. Auch dieses Themengebiet wartet auf eine grundsätzliche Aufarbeitung und Würdigung. 117 Außer Acht gelassen wurden bei dieser Aufstellung die Veranstaltungen von professionellen Mu- sikern wie Robert Schumann, Felix Mendelssohn Bartholdy und Iganz Moscheles, die ebenfalls in ihren Häusern Musikaufführungen veranstalteten. Einzelne Aufführungen aus diesem Kontext wurden aufgenommen, wenn die beteiligten Privatpersonen für diese Arbeit von entscheidendem Interesse waren oder in den ausgewerteten Quellen erwähnt wurden. 118 Die sprachliche und normative Trennung zwischen Öffentlichem und Privatem soll hierbei nicht darüber hinwegtäuschen, dass im regionalgeschichtlichen Kontext enge Verküpfungen (beson- ders auf personeller Ebene) bestanden.

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winnen. Es wird sichtbar, welchen Beitrag das private Musizieren und die Personen, die dieses mit Fachkenntnis, Engagement und Energie betrieben, für das Musikleben leisteten. Eine darauf aufbauende Überblicksdarstellung über das nicht-kommerzielle Musikleben und die bürgerliche Musikkultur insgesamt wäre eine Bereicherung sozialhistorischer For- schung. Doch bedarf es hierzu weiterer Studien und Quelleneditionen, bevor ein solches Unterfangen möglich wird.119 Um der Gefahr zu entgehen, durch die Größe des Phänomens bei einer Überblicksdarstellung lediglich gängige Vorstellungen zu befördern, wie dies bei Untersuchungen zur Salonkultur festgestellt wurde, beschränkt sich diese Arbeit auf einen kleinen Personenkreis. Aus der wissenschaftlichen Vorgeschichte heraus soll versucht wer- den, von den durch die Salonforschung aufgestellten Erwartungen abzurücken und die vorliegenden Quellen systematisch auszuwerten. Schlussfolgerungen aufgrund bereits vor- gegebener Erkenntniserwartungen sollen vermieden werden und demzufolge wird eine in- duktive Herangehensweise bevorzugt. Eine historisch-kritische Auswertung und statistische Daten sollen dazu beitragen, die wesentlichen Aspekte und Tätigkeitsfelder zu berücksich- tigen und es dadurch dem Leser ermöglichen, eigene Sichtweisen und Erkenntnisse aus den vorgefundenen Daten zu gewinnen. Nach einer umfangreichen Sichtung und Prüfung der Materialien und der Quellenlage zum bürgerlichen Musizieren wurden zwei Personen ausgewählt, die als wichtige Vertreter einer privaten Musikpflege gelten können – Livia Frege (1818–1891) und Henriette Voigt (1808–1839). Sie bildeten „Zentren künstlerischer Geselligkeit“120 und sorgten im Musikle- ben Leipzigs für „Weltläufigkeit“121. Livia Frege (Gesang) und Henriette Voigt (Klavier) wurde ein hohes künstlerisches Niveau zugesprochen. Sie galten in Leipzig als „Magne- ten“122 für Musiker. Nancy Reich stellt die Musikpraxis der beiden Frauen in eine Reihe mit derjenigen von Fanny Hensel und Elisabeth von Herzogenberg.123 Die Musikpflege dieser Persönlichkeiten ist in mehrfacher Hinsicht prädestiniert für die Fragestellungen und Untersuchungen dieser Arbeit. Zum einen weisen die Aussagen von Zeitgenossen auf die qualitative Relevanz ihrer Aktivitäten hin, zum anderen ermöglicht auch die Quantität der Quellen die angestrebte Form der dichten Beschreibung.124 Da im Umfeld dieser Studie zahlreiche unveröffentlichte Quellen und Dokumente zur privaten Musikpflege ausgewertet wurden, wird darüber hinaus auch das musikalische Wirken

119 Tomi Mäkelä hat 2000 bereits erkannt, „daß die philologischen Probleme, deren Lösung eine conditio sine qua non eines glaubwürdigen Überblicks bilden, noch viel zu zahlreich sind.“ ­Mäkelä: Musik als unterhaltsamer Genuß, 2000, S. 69. 120 Wörner: Schumann, 1949, S. 77. 121 Jacob: Mendelssohn, 1959, S. 305. 122 Mundus: Reinecke, 2005, S. 47. 123 „Henriette Voigt, Fanny Hensel, Livia Frege, and Elisabeth von Herzogenberg, for example, com- posed, sang, played instruments, conducted, instructed, and judged on a professional level.“ Reich: Women as Musicians, 1995, S. 126. Livia Frege und Henriette Voigt traten dabei nicht als Dirigentinnen auf und zu kompositorischen Tätigkeiten sind nur vereinzelte Hinweise zu finden. 124 Zu dieser Methode vgl. R. Habermas: Frauen und Männer des Bürgertums, 2002, S. 11.

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­weiterer­ Einzelpersonen aufgeführt, um einerseits die Verbreitung und Vielschichtigkeit des Phänomens deutlich zu machen und andererseits nachfolgenden Studien die Möglichkeit der Anknüpfung zu geben bzw. weitere Auseinandersetzungen mit diesem Thema anzuregen. Dass es sich bei den ausgewählten Beispielen um zwei Frauen handelt, soll dabei nicht unterstellen, dass sich nur Frauen im Privaten musikalisch betätigten und Männer nicht als Veranstalter von musikalischen Gesellschaften und privaten Konzerten auftreten konnten. Am Beispiel dieser beiden Frauen lässt sich jedoch in besonderer Weise zeigen, wie stark zeitgenössische Bedeutung und historische Würdigung auseinanderklaffen. Mit der Miss- achtung des privaten Engagements im Musikleben sind die Handlungsfelder vieler Men- schen unsichtbar geworden; weibliches Engagement ist aber dadurch, dass es sich kaum außerhalb der als privat deklarierten häuslichen Sphäre entfalten konnte, nahezu gänzlich vergessen worden. Im Rahmen dieser Arbeit wird es möglich, das Verschwinden beider Frauen aus dem historischen Gedächtnis zu kontextualisieren und dadurch die Dokumente ihres Wirkens neu zu interpretieren. Wie stark sich öffentliche und private Sphären beein- flussten und wie dies bewertet wurde, lässt sich anhand beider Biographien darlegen. Die hierbei eingenommene individuelle Sicht auf beide Frauen ermöglicht es, jene feine Bezüge nachzuzeichnen und ans Licht zu bringen, die das Musikleben Leipzigs prägten. Mit Hilfe der in kleinen und kleinsten Zusammenhängen arbeitenden historisch-anthropo- logischen Forschung ergibt sich die Möglichkeit, in Detailstudien gängige Vorstellungen und Annahmen um wichtige Dimensionen zu erweitern und zu korrigieren. Zudem bietet dieses Vorgehen die Chance, Personen nicht als Opfer der sie umgebenden Verhältnisse zu verstehen, sondern sie in ihren aktiven Aneignungsprozessen, die sie selbst vollzogen und gestalteten, zu beobachten. Um den Stellenwert ihres Wirkens und ihre Stellung im Musikleben zu ermessen, konn- te sich die vorliegende Arbeit nicht darauf beschränken, lediglich die von ihnen veranstal- teten Musikveranstaltungen zu untersuchen. Ihre Bedeutung als musikalische Gesellschaf- terinnen wird erst durch ihr gesamtes musikalisches Wirken verständlich und zeigt, welche Handlungsfelder sich durch ihre musikalische Praxis eröffneten. Durch die Darstellung ihrer Herkunft, Ausbildung und ihres vielseitigen musikalischen Wirkens lassen sich ihr Status und ihre Relevanz für das städtische Musikleben ermessen. Die zahlreichen histori- schen Zitate und umfangreichen biographischen Darstellungen sind eine unerlässliche Grundlage für die Auswertung und Ergebnisformulierung im Bezug auf die Relevanz ihrer Betätigungen für die bürgerliche Musikkultur Leipzigs.125 Die in dieser Untersuchung eingenommene mikrogeschichtliche Perspektive birgt die Gefahr, nur kleinste Zusammenhänge aufzudecken, ohne sie an größere Prozesse rückzu-

125 Dabei ist auch in dieser Arbeit festzustellen, dass in der Auseinandersetzung mit weiblichen Le- bensläufen selten eine lückenlose Biographie zu verfassen ist. Durch Rückbezug auf historische Kontexte wird versucht, mit diesen Lücken umzugehen und diese analysierbar zu machen. Zu den Problemen weiblicher Biographik siehe Heilbrun: Writing a Woman’s Life, 1988.

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binden.126 Für die im zweiten Teil der Arbeit (Rubrik „Wirken und Handeln“, S. 187ff.) vorgenommene Einordnung in größere historische Zusammenhänge ist es daher notwen- dig, von den Einzelpersonen auf größere Gesellschaftsstrukturen und deren Kulturprakti- ken zu schließen. Dies ermöglicht, die untersuchten Personen als Teil einer allgemeinen gesellschaftlich-kulturellen Entwicklung zu verstehen. Bei den im zweiten Teil der Arbeit folgenden Analysen sollen dabei drei Sichtweisen eingenommen werden. Die institutionelle Sichtweise wird beleuchten, welche Strukturen bzw. Aufführungsformen sich in der bürgerlichen Musikpraxis nachzeichnen und differen- zieren lassen und wie sich diese gestalteten (Kapitel 4; „Aufführungsformen“, S. 191ff). Eine aktivitätsorientierte Sicht ermöglicht es, die in den Quellen überlieferten musikalischen Tätigkeiten und deren zugrundeliegende Struktur – in Form von Rollen – zu systematisie- ren und zu analysieren (Kapitel 5; „Kulturelles Handeln“, S. 203ff.). Welche Stellung und Bedeutung die vorgefundenen Formen der Musikpraxis und kulturellen Teilhabe für das Musik- und Konzertwesen sowie die Konstituierung des Bürgertums in ihrer Zeit hatten, wird ­zuletzt mit Hilfe der funktionalen Sichtweise untersucht (Kapitel 6; „Zeitgeschichtli- che Einordnung“, S. 251ff.). Die Rückbindung mikrohistorischer Prozesse an allgemeine Tendenzen und Prozesse der Musik- und Kulturgeschichte macht diese Arbeit über das Detailwissen zum Leipziger Musik­leben hinaus zu einer grundsätzlichen Untersuchung bürgerlicher und musikalischer Geschichtsprozesse.

126 Zu den Vor- und Nachteilen der historisch-anthropologischen Forschung siehe R. Habermas: Frauen und Männer des Bürgertums, 2002, S. 15 und S. 28ff.

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Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 32 19.02.16 15:50 Akteure

Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 33 19.02.16 15:50 Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 34 19.02.16 15:50 Fotografie von Henriette Voigt

Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 35 19.02.16 15:50 Grundriss einer Wohnung in Henriette Voigts Wohnhaus Petersstr. 23. Ihre Wohnung in der 1. Etage dürfte den gleichen Grundriss aufgewiesen haben.

Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 36 19.02.16 15:50 1 Henriette Voigt (24. November 1808, Leipzig – 15. Oktober 1839, Leipzig)

Die Leipziger Pianistin Henriette Voigt wurde nach ihrem Tod in der NZfM als „eine vor- zügliche Clavierspielerin, vielleicht als die erste Dilettantin [im positiven Sinn] unserer Stadt“1 gerühmt. Laut Berthold Litzmann war „deren Haus ein Mittelpunkt für das Leipzi- ger gesellschaftliche Musikleben.“2 Sie agierte im privaten Umfeld als fachliche Beraterin, Veranstalterin musikalischer Gesellschaften, als Klavierpädagogin und Pianistin. Ihr Haus entwickelte sich in den 1830er Jahren zu einem Anziehungspunkt für einheimische und durchreisende Künstler, in dem fast täglich musiziert wurde. Henriette Voigts Mann schrieb in seinen Lebenserinnerungen: „[…] ich kann wohl sagen, daß kein fremder Künstler von Bedeutung hier concertiert hat, der uns, sei es mit oder ohne Empfelung von Kunstgenos- sen, nicht besucht hätte.“3 Auch Felix Mendelssohn Bartholdy und Robert Schumann verkehrten im Kreis von Henriette Voigt und besonders mit Robert Schumann verband sie eine enge Freundschaft. Er verewigte sie als seine „Asdurseele“4 und mit einem umfangreichen Nekrolog mit dem Titel Erinnerung an eine Freundin5 in der NZfM. Henriette Voigts Briefe und Tagebuchaufzeichnungen erlauben einen Einblick in die Musikpraxis, die sich alltäglich in Leipziger Bürgerhäusern abspielte. Diese Einblicke hatte Barbara Hahn in den zeitgenössischen Quellen der Berliner Salonièren vermisst:

Ein merkwürdiger Befund. Nie lesen wir die Szene, die zu erwarten wäre: Eine Frau am Tasteninstrument, ein Musikstück erarbeitend oder eine Abendgesellschaft unterhaltend. Wir sehen nur Salondamen, die Geselligkeiten organisieren oder von Lektüren und Handarbeiten berichten.6

Diese Lücke, die zwischen den erwarteten und angenommenen musikalischen Tätig­keiten dieser Frauen und den tatsächlich überlieferten Handlungen klaffte, kann mit dem Quellen-

1 Anonym: Vermischtes, in: NZfM, 1839, Bd. 11, Nr. 35, S. 140. 2 Litzmann: C. Schumann. Ein Künstlerleben, Bd. 1, 1918, S. 76. 3 C. Voigt: Lebensbeschreibung, S. 25f., MT/2011/77. 4 Brief von Robert Schumann an Henriette Voigt vom 4. September 1834, zit. nach Gensel: Schu- mann Briefwechsel mit Henriette Voigt, 1892, S. 276. 5 Schumann: Erinnerungen an eine Freundin, 1839. 6 Hahn: Akkulturation in Ton und Text um 1800, 1999, S. 14f.

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Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 37 19.02.16 15:50 1 Henriette Voigt

material von Henriette Voigt überbrückt, wenn auch nicht gänzlich geschlossen werden. Henriette Voigts Aufzeichnungen lassen die Vielfalt kultureller Handlungsfelder und Auf- führungskontexte erkennen sowie die Bedeutung dieser Musikpraxis für das ­Musikleben in Leipzig und darüber hinaus.

1.1 Tradierung eines Frauenlebens

Die Tagebücher und Briefe, die von Henriette Voigt erhalten sind, liefern einen erstaunlich umfangreichen Quellenkomplex zur bürgerlichen Musikpraxis. Eine große Quellensamm- lung liegt als Dauerleihgabe des Erben, Jochen Hahne, im Archiv des Stadt­geschichtlichen Museums Leipzig und umfasst neben zwei musikalischen Stammbüchern7, Bildern und Briefen auch drei Tagebücher8 von Henriette Voigt. Darüber hinaus ist ein weiteres Tage- buch im Schumann-Haus Zwickau erhalten.9 Einige Briefe von Henriette Voigt an Felix Mendelssohn Bartholdy befinden sich in der Bodleian Library Oxford.10 Drei der vier erhal- tenen Tagebücher von Henriette Voigt bestehen aus kurzen Notizen, die in einen vorgedruckten Wochenkalender eingetragen sind. Diese Wochenkalender umfassen die Jahre 1835 bis 1837 und stellen in gedrängter Form den Tages- und Wochenrhythmus ­Henriette Voigts und ihrer Familie dar.11 Mit diesen Wochenkalendern liegt uns ein sehr dichtes Netz von Informationen zu ihren musikalischen Aktivitäten vor: Die Einträge in ihrem Wochenkalender verzeichnen nahezu tägliches Musizieren. Die Aufzeichnungen ent- halten keine ausführlichen Beschreibungen, häufig aber Werkangaben, den ungefähren Aufführungskontext sowie ihre Musizierpartner. Das vierte vorliegende Tagebuch besteht aus längeren Eintragungen aus der Zeit zwi- schen August 1830 und Oktober 1835, wobei die einzelnen Eintragungen teilweise durch längere Zeiträume getrennt sind.12 In diesem Tagebuch findet der Leser neben Reflexionen über gehörte Predigten, eigenen Gedichten und der Beschreibung von Gefühlszuständen auch emotionale Äußerungen zu musikalischen Eindrücken. Liegen die Eintragungsdaten

7 Aufstellung der Dokumente siehe Anhang S. 309ff. Zwei darin enthaltenen Autographen widmete Doris Mundus einen Artikel: Mundus: Die Eintragung des belgischen Geigenvirtuosen Henri ­Vieuxtemps im Stammbuch der Henriette Voigt vom 20. September 1837, Gewandhausmagazin, Herbst 2008, Nr. 60, S. 48f.; Mundus: Die Eintragung des Dresdner Hofkapellmeisters (und ­ehemaligen Gewandhausgeigers) Carl Gottlieb Reißiger im Stammbuch der Leipziger Pianistin Henriette Voigt vom 31. Dezember 1836, Gewandhausmagazin, Frühjahr 2009, Nr. 62, S. 48f. 8 D-LEsm: MT/2011/41, D-LEsm: MT/2011/42, D-LEsm: MT/2011/37. 9 D-Zsch: Sch.M.3868-A3. 10 Siehe Anhang, S. 309ff. 11 Weiter ist durch Robert Schumann und Julius Gensel überliefert, dass Henriette Voigt ihre Wo- chenkalender bis zum 7. April 1839 weiterführte. Es fehlen somit die Jahrgänge 1838 und 1839. Ebenfalls durch Julius Gensel belegt ist, dass Henriette Voigt bereits 1834 einen Wochenkalender führte, der ebenfalls verschollen ist. Siehe Gensel: Rochlitz’ Briefe an Henriette Voigt, 1906, S. 4. 12 Sie beginnt ihre Eintragungen aus Anlass ihres zweijährigen Verlobungstages am 3. August 1830.

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Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 38 19.02.16 15:50 1.1 Tradierung eines Frauenlebens

weit auseinander, so werden auch neue Bekanntschaften erwähnt und die wichtigsten ­Ereignisse der Vergangenheit zusammengefasst. Die Existenz mindestens eines weiteren Tagebuchs wird durch die Zitate Robert Schu- manns in seinem Nachruf auf Henriette Voigt belegt, die weder mit den Eintragungen aus den Wochenkalendern noch dem ausführlicheren und intimeren Tagebuch übereinstim- men.13 Möglicherweise handelt es sich bei dem von Schumann erwähnten Tagebuch um eine Weiterführung des ausführlichen Tagebuchs 1830–1835, da die durch Schumann über- lieferten Tagebuchzitate zwischen 1836 und 1839 datiert sind und somit nach Abschluss des vorliegenden Tagebuchs entstanden. Henriette Voigt selbst erwähnt die Existenz dieses Ta- gebuchs in ihren Wochenkalendern.14 Julius Gensel teilte ihre Tagebücher 1892 folgendermaßen ein:

[…] ein Wort über Henriettes Tagbücher. Sie sind von dreierlei Art. Erstens für jedes Jahr ein kleiner in Leder gebundener Schreibkalender15, […]. Ferner ein Buch zum Einzeich- nen von Betrachtungen und Beobachtungen; aus diesem hat Schumann […] manches mitgeteilt. Endlich ein ‚Buch der Lieder‘ zum Einschreiben eigener Gedichte bestimmt.16

Ihre Wochenkalender führte Henriette Voigt, wenn man Gustav Jansen glaubt, nur für sich. Selbst ihr Mann Carl Voigt soll von diesen nichts gewusst haben:

Doch schrieb sie lediglich für sich. Selbst ihr Gatte erfuhr erst nach ihrem Tode von der Existenz der Tagebücher; er entdeckte sie in den Wirthschaftsbüchern (s. g. Schreibkalen- dern), wo neben gelegentlichen Haushaltnotizen die Tageserlebnisse in gedrängtester Form eingeschrieben waren, untermischt mit Betrachtungen über allerlei Gehörtes, Ge- sehenes oder Gelesenes.17

Zu ihren ausführlichen Tagebüchern aber schreibt sie selbst: „Abends lasen wir [Gilbert, Carl, Henriette Voigt] aus meinem Tagebuch“18 und „Rochlitz nahm mein Tagebuch mit auf seine Reise nach Nürnberg.“19 Auch Clara Schumann hielt 1838 fest: „Ich habe heute aus der [Henriette] Voigt ihrem Tagebuche gelesen, Einiges hat mich sehr interessirt […].“20 Diese Aussagen verdeutlichen, dass zumindest diese Tagebücher für eine Familie und Freunde umfassende Teilöffentlichkeit verfasst wurden und bekannt waren. Die Aufteilung

13 Vgl. Schumann: Erinnerungen an eine Freundin, 1839. 14 Vgl. Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 14. August 1836, D-LEsm: MT/2011/37; Tagebuch­ eintrag Henriette Voigt vom 24. Mai 1836, D-LEsm: MT/2011/37. 15 Hier Wochenkalender genannt. 16 Gensel: Schumann Briefwechsel mit Henriette Voigt, 1892, S. 270. Die hier erwähnte dritte Tage- buchform ist nicht erhalten. Es existieren lediglich lose Blätter mit einzelnen Gedichten. 17 Jansen: Davidsbündler, 1883, S. 127. 18 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 19. Juni 1831, D-LEsm: MT/2011/41. 19 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 14. August 1836, D-LEsm: MT/2011/37. 20 Tagebucheintrag Clara Schumann vom 28. November 1838: Clara Schumann: Jugendtage­ bücher, Bd. IV, Tagebuch 8, S. 128.

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in verschiedene Tagebuchebenen zeigt, wie sich die Schreiberin selbst als Chronistin emp- funden hat, indem sie zumindest ein Tagebuch ganz bewusst für eine (begrenzte) Öffent- lichkeit schrieb. Es scheint fraglich, ob Henriette Voigt ihre Wochenkalender „lediglich für sich“21 verfasste. Die durchdachte Anlage ihres Tagebuchsystems, die gewissenhaften täg­ lichen Eintragungen22 sowie der verbreitete Gebrauch, aus Tagebüchern vorzulesen oder diese nach dem Tod als Erinnerungsstücke zu bewahren und eventuell zu veröffentlichen,23 sprechen eher dafür, dass Henriette Voigt bewusst erinnerungswürdige Momente festhielt. Gegen eine grundsätzliche Geheimhaltung spricht auch die Tatsache, dass sich 1837 Wil- liam Bennett mit einem Eintrag in ihren Wochenkalender verewigte.24 Henriette Voigts Tagebücher wurden, wie sie selbst schrieb, bereits zu ihren Lebzeiten vorgelesen, aber auch nach ihrem Tod als Erinnerungsstücke weitergegeben. Durch ver- schiedene Briefe ist bekannt, dass Carl Voigt nach dem Tod seiner Frau 1839 die Tagebücher bzw. Auszüge hieraus an befreundete Musiker verschickte. So schrieb Carl Voigt an Felix Mendelssohn Bartholdy (3. November 1839):

Statt meines schuldigen Danks für Ihren so freundlichen Besuch, durch den Sie mir unend- lich wohl gethan, sende ich Ihnen einige Stellen aus dem Tagebuche meines theuren, ewig unvergesslichen Jettchens – ich denke Sie werden die, auch nicht speziell Sie berührenden, doch als Zeugen einer wahrhaft edlen, auf’s Höchste gerichteten Seele mit Intereße lesen.25

August Kahlert, der diese Tagebuchauszüge ebenfalls erhalten hatte, schrieb an Robert Schumann (30. Dezember 1839), er wünschte, man würde die Tagebuchausschnitte gemein- sam mit ihren Gedichten „als Manuscript für Freunde“26 drucken. Robert Schumann ver- öffentlichte eine Auswahl dieser Tagebucheinträge in seinem Nachruf an Henriette Voigt.27 Die Erinnerung an Henriette Voigt wurde im Gegensatz zu vielen anderen musikalisch wirkenden Frauen lange aufrechterhalten. Dieser Umstand ist neben Robert Schumann vor allem Carl Voigt zu verdanken, der die Erinnerung an sie bewahrte und verbreitete,28 sowie den Arbeiten ihres Schwiegersohns Julius Gensel, der 25 Jahre nach Henriette Voigts Tod ihre Tochter Ottilie heirate. Julius Gensel stellte mit seinem Aufsatz Henriette Voigt.

21 Jansen: Davidsbündler, 1883, S. 127. 22 Allein in den Jahren 1835 und 1836 hält sie fast 250 Hausmusikszenen fest. 23 Vgl. Klassen: Clara Schumann, 2009, S. 53. 24 Tagebucheintrag vom 27. Januar 1837: „Heute habe ich [William Sterndale Bennett] eine Zigarre hier geraucht – ….! A-Dur von Beethoven, mit Madame Voigt gespielt – W. Bennett.“ D-Zsch: Sch.M.3868-A3. 25 GB-Ob: GB XII,120. Erhalten sind diese Tagebuchauszüge in Form einer Briefbeilage an Felix Mendelssohn Bartholdy. GB-Ob: GB IX,8a; GB-Ob: GB X,55. 26 Brief von August Kahlert an Robert Schumann vom 30. Dezember 1839, zit. nach Boetticher: Briefe und Gedichte, 1979, S. 92. 27 Schumann: Erinnerungen an eine Freundin, 1839. 28 Einerseits durch die Weitergabe ihrer Tagebücher und durch seine eigenen Lebenserinnerungen (C. Voigt: Lebensbeschreibung, D-LEsm: MT/2011/77), andererseits durch die Weiterführung ­ihrer musikalischen Geselligkeiten (siehe Kapitel 3.12: „Carl Voigt (1805–1881)“ S. 187).

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Erinnerungen aus dem Leipziger Musikleben zu Mendelssohns Zeit29 Angaben über Henriette Voigts Kindheit und Bildungsweg zusammen.30 Julius Gensel sorgte auch dafür, dass die Korrespondenz zwischen Henriette Voigt und Friedrich Rochlitz sowie Robert Schumann gedruckt erhalten wurde.31 Durch eine von Julius Gensel veranstaltete Ausstellung in seiner Privatwohnung anlässlich des 100. Geburtstages von Carl Voigt liegt zudem eine Auflistung der Bilder, Briefe und Tagebücher von Carl und Henriette Voigt vor, die noch bis 1905 vorhanden waren.32 Bei den würdigenden Aufsätzen von Julius Gensel handelt es sich um gefilterte und an Zeitideale angepasste Schilderungen. Bereits mit den von Carl Voigt ausgewählten und von Robert Schumann veröffentlichten Tagebuchausschnitten beginnt die Interpretation ihres Wirkens bzw. die Konstruktion einer weiblichen Lebensgeschichte, die den sozialen Rollen- erwartungen an Frauen entsprach. Neben Bemerkungen zum „Treiben und Schaffen der Musik“33, Erinnerungen an Felix Mendelssohn Bartholdys Paulusaufführung 1838 und an Frédéric Chopins Besuch bei Henriette Voigt 1836 finden sich hier folgende Tagebuchaus- schnitte veröffentlicht:

20. Febr. 1837 – Nie betete ich das Vaterunser frommer, als heute, vor dem Bette meines Kindes knieend, mit einer Inbrunst, als wäre es Gott selbst, vor dem ich in Andacht ­niedersänke. 11. Juni – Ich begreife nicht, wie so viele Mütter (und ich erfahre es täglich im Leben) ihre Kinder fortschicken können um freier zu athmen – ich athme nur frei, wenn mein Kind bei mir ist sonst lässt es mir nirgends Ruhe und wie kann man sich des Genußes berau- ben, es so lange und so oft als nur möglich zu schauen?34

Durch die Veröffentlichung dieser Tagebucheinträge in der NZfM legte Robert Schumann den Grundstein für die Rezeption Henriette Voigts als „musterhafte Hausfrau und Mutter“35, indem der sie als solche sowie als „Wirthin“36 und als „treue Pflegerin“37 beschreibt. Julius

29 Gensel: Voigt, 1909. 30 Hierbei muss beachtet werden, dass Gensel sich größtenteils auf mündliche Aussagen von Carl Voigt stützte. Die meisten der von Gensel berichteten Tatsachen lassen sich durch keine weiteren Quellen erhärten oder widerlegen, so dass die Subjektivität der von ihm überlieferten und für überlieferungswürdig erachteten Ereignisse zu beachten ist. 31 Gensel: Schumann Briefwechsel mit Henriette Voigt, 1892; Gensel: Rochlitz’ Briefe an Henriette Voigt, 1906. Durch Gensel ist bekannt, dass allein der Briefwechsel mit Rochlitz 60 Briefe umfass- te und das von ihr hinterlassene ‚Schatzkästlein‘ zahlreiche weitere Musikbriefe enthielt. Gensel: Rochlitz’ Briefe an Henriette Voigt, 1906, S. 3. 32 Siehe Gensel: Carl Voigt Gedenkblatt, 1905. U. a. besaß Carl Voigt Photographien, Zeichnungen und Bilder von Felix Mendelssohn Bartholdy, Robert Schumann, Johannes Brahms und William Sterndale Bennett. 33 Schumann: Erinnerungen an eine Freundin, 1839, S. 158. 34 Ebd., S. 159f. 35 Ebd., S. 158. 36 Ebd. 37 Ebd.

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Gensel und die folgenden Autoren haben diese Sichtweise übernommen.38 Rudolf Weinmeis- ter beschrieb sie 1939 als einzigartige Frau „die trotz ihrer vielen musikalischen und gesell- schaftlichen Verpflichtungen auch eine treffliche Hausfrau und Mutter gewesen ist.“39 Während ihr Handeln als Haufrau und Mutter in der Erinnerung an sie starke Betonung erfährt, wird ihre Rolle als Veranstalterin von musikalischen Gesellschaften dagegen der einer „Wirthin“40 gleichgesetzt und abgewertet.41 Ihr Wirken als Pianistin, aber vor allem auch als Klavierpädagogin wurde fast vollständig ausgeblendet, ebenso wie ihre Schöpfun- gen in Form von Kompositionen und Liedtexten. Auch Robert Schumanns Aussage, Hen- riette Voigt hätte ungern vor Publikum gespielt und viel begleitet, passt dabei auffällig gut in das weibliche Rollenideal der Zeit.42 Henriette Voigt wurde jedoch mit der Darstellung als Hausfrau und liebende Mutter keine Rolle auf den Leib geschrieben, die nicht in ihrer Selbstkonzeption zu finden gewesen wäre. So betont sie in ihren Tagebüchern die Wichtigkeit ihrer Rolle als Mutter, Hausfrau und ­Gattin. Zahlreiche Aussagen in ihrem ausführlichen Tagebuch greifen die zeitgenössischen Ansichten der Rollenverteilung zwischen Mann und Frau auf. So liegt der Vorzug der Frau für Henriette Voigt beispielsweise „im passiven nicht im activen Wesen.“43 Auch Henriette Voigts hauswirtschaftliches Handeln entspricht den an Frauen gestellten gesellschaftlichen Anforde- rungen nach „Pflichterfüllung und Entbehrung“44 und sie beschreibt dies als erfüllend.

Mein bereitetes Mahl schmeckte Allen sehr und auch dies erfreute mich unendlich – das Bewußtsein der erfüllten Pflicht ist auch im kleinen so süß und treibt uns an, immer mit größerem, erweiterten Streben unsern Beruf zu erfüllen.45

Gerade die Aufgabe, ihren Mann zu umsorgen, begreift sie als zentral: „Für meinen Carl habe ich die höchste Pflicht auf mich genommen, ich will Alles thun, ihn, der es so sehr verdient zu beglücken und werde es können.“46 Sie übersteigert diese Einstellung mit der an sich selbst gerichteten Forderung: „Ja es ist Pflicht, sich selbst zu vergessen.“47

38 Vgl. Gensel: Voigt, 1909, S. 399; Jansen: Davidsbündler, 1883, S. 128; Weinmeister: Henriette Voigt, 1939. 39 Weinmeister: Henriette Voigt, 1939, S. 140. 40 Schumann: Erinnerungen an eine Freundin, 1839, S. 158. 41 Eine ähnlich klischeehafte und idealisierte Sichtweise auf das Wirken einer musikalisch aktiven Frau weist Marian Kimber für Sebastian Hensels Buch Die Familie Mendelssohn nach. Kimber: Zur frühen Wirkungsgeschichte Fanny Hensels, 1999 („ebenbürtig an Talent und doch nichts anders begehrend, als bescheiden in den Schranken, die die Natur den Frauen gesetzt, zu verbleiben.“ Hensel: Familie Mendelssohn, Bd. 1, 1879, S. 189). 42 Schumann: Erinnerungen an eine Freundin, 1839, S. 159. 43 Brief von Henriette Voigt an Carl Voigt, o. D., D-LEsm: MT/2011/81. 44 Artikel: Hausfrau, in: Damenconversationslexikon, 1835, Bd. 5, S. 193. 45 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 12. Juni 1831, D-LEsm: MT/2011/41. 46 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 19. August 1831, D-LEsm: MT/2011/41. 47 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 15. November 1831, D-LEsm: MT/2011/41.

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Es soll daher nicht unterstellt werden, dass ihr männliches Umfeld ihr bewusst und mut- willig ihren Wert als aktives Mitglied des Musiklebens absprach, sondern es zeigt sich so- wohl in Henriette Voigts Selbstkonzept sowie in der (durchaus würdigenden) Rezeption durch ihre Zeitgenossen der Einfluss dominanter Geschlechterstereotype auf den zeitgenös- sischen Diskurs. Diese Stereotype haben maßgeblich ihr Schreiben und ihre Selbstwahr- nehmung geprägt, ebenso wie das Schreiben über sie. Es wird an späterer Stelle noch zu fragen sein, wie sich Henriette Voigts weibliche Selbstdarstellung deuten lässt bzw. welche Funktion sie möglicherweise erfüllte (siehe Kapitel 5.6: Geschlechterzuschreibung – „Für die Nachwelt wurde sie ‚Beethovens Haushälterin‘“, S. 242ff.). Neben Henriette Voigts Freunden und Nachkommen, die die Erinnerung an sie lebendig hielten, diese dabei aber auch entscheidend beeinflussten, ist schon früh eine Wahrnehmung von Henriette Voigt über den engen Bekanntenkreis hinaus belegt, wie z. B. Gustav Jansens Buch Die Davidsbündler aus dem Jahre 1883 zeigt. Er widmete darin Ludwig Schunke und Henriette Voigt ein eigenes Kapitel.48 Auch in der Dissertation von Friedrich Schmidt Das Musikleben der bürgerlichen Gesellschaft Leipzigs im Vormärz von 1912 wird Henriette Voigts musikalischem Wirken ein ausführlicher Abschnitt gewidmet.49 Sogar das Riemann-Musiklexi- kon von 1929 führt sie als: „eine von Ludwig Berger ausgebildete vortreffliche Klavierspielerin, befreundet mit Rochlitz, Mendelssohn, Schumann usw., die in ihrem Hause verkehrten.“50 Im 20. Jahrhundert wurde Henriette Voigt nur vereinzelt im Rahmen der Schumann­ forschung in Zusammenhang mit Robert Schumanns Jahren in Leipzig wahrgenommen.51 Sie fand erst jüngst Einzug in die Bach-Forschung durch Anselm Hartinger, der sie als Beispiel der privaten Bach-Pflege anführt.52 Obwohl Henriette Voigt eine nähere Bekanntschaft zu Felix Mendelssohn Bartholdy pflegte, seine neusten Werke auf dem Klavier vor Gästen vortrug und Carl Voigt nach ihrem Tod Acht Briefe und ein Facsimile von Felix Mendelssohn-Bartholdy53 an sie veröffentlichte, wurde Henri­ ette Voigt in ihrer Beziehung zu Felix Mendelssohn Bartholdy erstmals 1997 von Brigitte Rich- ter in ihrem Band Frauen um Felix Mendelssohn Bartholdy im größeren Umfang erwähnt.54 Als ausführlichste wissenschaftliche Studie zu Henriette Voigt ist Wolfgang Boettichers Artikel Neue Materialien zur Begegnung Robert Schumanns mit Henriette Voigt 55 von 1988 zu

48 Jansen: Davidsbündler, 1883, hier Kapitel „Ludwig Schunke und Henriette Voigt“, S. 123–138. 49 Schmidt: Das Musikleben der bürgerlichen Gesellschaft Leipzigs, 1912, S. 187–192. 50 Artikel: Voigt, in: Riemann-Musiklexikon, Bd. 2, 1929, Sp. 1958. 51 Z. B. Seibold: Die Widmungsträger der Schumannschen Werke, 2007 und Bischoff: Beethoven- Rezeption Robert Schumanns, 1994, S. 169ff. 52 Hartinger: Bach-Aufführungen, 2010. Die Tatsache, dass eine Pianistin nur durch ihren Kontakt zu ‚großen Meistern‘ bzw. Meisterwerken erinnert wurde, verdeutlicht im 20. Jahrhundert die Dominanz einer Musikgeschichtsauffassung als Kompositions- und Komponistengeschichte (vgl. Einführung ­Kapitel 1: „Bürgerliche Musikkultur als Teil der Musikgeschichte“, S. 12ff.). 53 C. Voigt: Acht Briefe von Mendelssohn, 1871. 54 Richter: Frauen um Mendelssohn, 1997. 55 Boetticher: Neue Materialien zur Begegnung Robert Schumanns mit Henriette Voigt, 1988.

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nennen, in dem er akribisch die Briefe zwischen Robert Schumann und Henriette Voigt auflistet, von denen er 1979 fünf herausgegeben hatte.56 Er stellt in seinem Artikel das „Re- pertoire der Tagebücher“57 Henriette Voigts dar, indem er ein Konglomerat von Zitaten, die sich größtenteils auf Robert Schumann beziehen, veröffentlicht.58 Er erkennt die umfassen- de Erforschung Henriette Voigts für die lokale Musikgeschichte jedoch als eine Aufgabe „über die spezielle Schumannforschung hinaus.“59 Schon Rudolf Weinmeister hatte 1938 mit Blick auf die Wochenkalender festgestellt:

Die Aufzeichnungen in Henriettes Wochenkalendern, von denen heute nur noch drei aus den Jahren 1835–1837 vorhanden sind, zeigen immer wieder die Vielseitigkeit dieser ­einzigartigen Frau […]. Neben Mitteilungen von allgemeinem stadtgeschichtlichen Inte- resse […] sind ihre Notizen vor allem eine schätzenswerte Quelle für die Leipziger Musik­ geschichte.60

Bemerkenswert ist daher, dass bisher keine Versuche unternommen wurden, das Quellen- material zu Henriette Voigt aufzugreifen und aufzuarbeiten. Wie viele (musikalische) Frau- engestalten ist sie bisher nicht durch ihr kulturelles Handeln bekannt, sondern durch ihre engere Beziehung zu einem berühmten Zeitgenossen – in ihrem Fall als ‚Asdurseele‘ Robert Schumanns.61 Dabei sind gerade die überlieferten Quellen zu Henriette Voigt geeignet, zahlreiche unbekannte Fakten über Repertoire, Musikpraxis und Geselligkeitsstruktur Leipzigs zu liefern. Durch den stichwortartigen Stil ihrer Wochenbücher bieten sie einen geradezu statistisch anmutenden Eindruck ihres musikalischen Handelns. Um dem Leser einen Einblick in ihren Aufzeichnungsstil zu geben, wird hier ein kurzer Auszug aus ihrem Wochenkalender 1836 abgedruckt:

9.2., Dienstag Mittag aß [Carl] Uhrlich hier und dann gingen wir mit ihm nach Gohlis u. spielten dann Sonaten. Brief von Jettchen der beruhigender war. Abends allein zu Hause. 10.2., Mittwoch Brief nach Petersburg abgeschickt. den Mittag waren wir in Gohlis – nachher war Ottilie sehr unruhig, daß ich Angst bekam. Abends kam [Ferdinand] David, der mit mir quatre mains spielte und Duette sang. Ungeheuer lustig.

56 Boetticher: Briefe und Gedichte, 1979. S. 194–197. 57 Boetticher: Neue Materialien zur Begegnung Robert Schumanns mit Henriette Voigt, 1988, S. 48. 58 Ebd., S. 54. 59 Ebd., S. 56. 60 Weinmeister: Henriette Voigt, 1939, S. 139f. 61 So wurde z. B. auch Fanny Hensel „zunächst […] über ihren Bruder bekannt“ (Kimber: Zur frühen Wirkungsgeschichte Fanny Hensels, 1999, S. 248). Auch Publikationen wie Marianne Kirlews: ­Famous Sisters of Great Men, 1905; James Patrons: Daugther of Genius, 1888, weisen auf diese Tra- dition hin, die Rezeption weiblichen Wirkens an ihr berühmtes männliches Umfeld zu koppeln.

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Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 44 19.02.16 15:50 1.2 Henriette Voigt geb. Kuntze – Umfeld und Ausbildung

11.2., Donnerstag An Jettchen geschrieben – Mittag zu Hause – Abends im Concerte – Ouvertüre zu Medea v. Cherubini – Arie von Beethoven – H-moll Concert von Hummel gespielt von L. Rackemann ohne Beifall. 9te Symphonie von Beethoven, die herrlich ging.62

Dieser Tagebuchauszug verdeutlicht, dass aus Henriette Voigts Aufzeichnungen vor allem eine Vielzahl statistische Fakten zu entnehmen sind, wie z. B. Aufführungen und daran beteiligte Personen sowie aufgeführte Werke. Auf diesen Daten wird im Folgenden der Schwerpunkt der Auswertung liegen, so dass die Darstellung – gerade im Gegensatz zu ausschmückenden und literarisch phantasievollen Berichten über Salons – faktenorientiert und sprachlich nüchtern erscheint.

1.2 Henriette Voigt geb. Kuntze – Umfeld und Ausbildung Biographischer Überblick Henriette Voigt63 wurde am 24. November 1808 in Leipzig geboren und am 18. Dezember in der Nikolaikirche getauft.64 Nach dem Tod des Vaters, Karl Wilhelm Kuntze, der an der Thomasschule Französisch und Italienisch unterrichtet hatte,65 zog die Familie im Mai 1817 in eine kleine Dachgeschosswohnung nahe dem Juridikum.66 Im Anschluss an Henriette Voigts Schulabschluss an der Bürgerschule siedelte sie (1824 oder 1825) nach Berlin um.67 Dort wurde sie zuerst bei einer Frau Tülker, später bei der Familie Bendemann68 als Pflege- tochter untergebracht. Ihre Ausbildung in Französisch und Musik sollte sie dazu befähigen, später als Erzieherin arbeiten zu können.69 1828 kehrt Henriette Voigt 20-jährig nach Leip-

62 D-LEsm: MT/2011/37. 63 Im Weiteren wird entgegen der Chronologie einheitlich der Name Henriette Voigt benutzt, glei- ches gilt für Clara Schumann. 64 Die einzige ausführliche Quelle zu ihrer Kindheit und Ausbildung ist der Artikel von Henriette Voigts Schwiegersohn, Julius Gensel, Gensel: Voigt, 1909. Vgl. Kapitel 1.1: „Tradierung eines Frauen­lebens“, S. 38ff. 65 Carl Maria von Weber soll einer seiner Schüler gewesen sein und „die kleine Henriette öfters auf seinen Knien geschaukelt haben“. Ebd., S. 393. 66 In den Leipziger Taufbüchern finden sich Henriette Voigts Brüder: Carl Kuntze, geb. 29. Januar 1799 und Wilhlem Kuntze, geb. 31. Dezember 1812. 67 Gensel erwähnt ein dort 1825 entstandenes Bild von Henriette Voigt. (Gensel: Voigt, 1909, S. 394.) Da Gensel weiter erwähnt, Henriette Voigt habe nur ein Jahr bei Frau Tülker gewohnt, bevor Herr Bendemann sie als Pflegetochter bei sich aufnahm, muss der Umzug nach Berlin 1824 oder 1825 erfolgt sein (d. h. im Alter von 16 oder 17 Jahren). 68 Familie des Bankiers August Heinrich Bendemann (1769–1857), Onkel des Malers Eduard Bende- mann, der jüdische Familienname war Bendix, die Familie konvertierte zwischen 1820 und 1825 und nahm den Namen Bendemann an. 69 Ihr Pate Carl Heinrich Schaller (im Taufbuch als „Kaufmann alhier“ bezeichnet) soll Henriette Voigts Ausbildung in Berlin veranlasst haben.

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zig zurück, um durch das Erteilen von Klavierunterricht ihre Mutter finanziell zu unter­ stützen. Im August 1828 verlobte sie sich mit dem Bankkorrespondenten Carl Voigt. Dieser eröffnete am 1. September 1830 mit seinem Freund Friedrich Berger „in einem Gewölbe, Koch’s Hof am Markte, links vom Eingang, unsere Seiden- und Garnhandlung“70 (Berger & Voigt). Am 10. November 1830 wurden Carl Voigt und Henriette Voigt in Großzschoch- er getraut. Sie zogen zunächst in eine „sehr bescheidene Wohnung Hainstraße Nr. 27, 2. Etage, und drei Jahre später [in] die erste Etage des Hauses Peterstraße Nr. 23.“71 Mit zunehmendem wirtschaftlichen Erfolg verbesserte sich auch ihre Wohnsituation. Friedrich Rochlitz nannte Voigts erste Wohnung die „etwas dunkle Hainstraße“72. Über die zweite Wohnung in der Petersstraße 74, urteilte er laut Henriette Voigt: „sehr eng und wünscht uns mit der Zeit ein Besseres.“73 Im Oktober 1835 bezogen sie schließlich die Woh- nung in der Petersstraße 23, deren Vorsaal Raum für zahlreiche musikalische Veranstaltungen bot: „Groß war sie [die Wohnung] nicht, aber der geräumige Vorsaal ließ sich, mit Blumen beschmückt, zu einer Musikaufführung, auch wohl zu einem Tänzchen benutzen.“74 Robert Schumann berichtet über die Einrichtung: „Aufgehängt waren über dem Flügel die Bildnisse der besten Meister, eine ausgewählte musikalische Bibliothek stand zur Verfügung.“75 Henriette Voigt ging in diesem häuslichen Umfeld ihren musikalischen Interessen nach und wurde von ihrem kunstinteressierten Ehemann darin unterstützt. Am 6. Dezember 1835 kam schließlich das ersehnte erste Kind, Ottilie, zur Welt.76 Am 5. Mai 1839 folgte die zweite Tochter, Anna.77 Bereits 1839 starb Henriette Voigt am 15. Oktober im Alter von 30 Jahren nach einem län- geren Kuraufenthalt in Salzbrunn an Tuberkulose. Robert Schumann berichtete an seine Frau:

70 C. Voigt: Lebensbeschreibung, S. 23, D-LEsm: MT/2011/77. 71 C. Voigt: Lebensbeschreibung, S. 24, D-LEsm: MT/2011/77. Doch scheint ihn hier die Erinne- rung zu täuschen, denn ein Brief vom Oktober 1833 ist adressiert an „Nr. 74 eine Treppe hoch“. Gensel dagegen berichtet erst: „1835 zog das Ehepaar von ihrer Wohnung in der Hainstraße in die Petersstraße Nr. 23“ (Gensel: Carl Voigt Gedenkblatt, 1905). Henriettes Tagebuch belegt einen Umzug im Oktober 1835 (Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 28. September 1835, D-LEsm: MT/2011/42). Es scheint, dass Voigts von ihrer Wohnung in der Hainstraße 1833 in die Petersstra- ße Nr. 74 umzogen und 1835 in Nr. 23. 72 Gensel: Rochlitz’ Briefe an Henriette Voigt, 1906, S. 7. 73 Brief von Henriette Voigt an Carl Voigt vom 1. September 1834, D-LEsm: MT/2011/98. 74 Gensel: Voigt, 1909, S. 398. 75 Schumann: Erinnerungen an eine Freundin, 1839, S. 158. Den Flügel kaufte sie von Friedrich Wieck, der notierte: „Madame Voigt kaufte den [Flügel, Modell] Tomaschek-Wieck […].“ Tage- bucheintrag Friedrich Wieck vom 30. Aug. 1836, zit. nach Clara Schumann: Jugendtagebücher, Bd. III, Tagebuch 6, S. 59. 76 „Am 6. Dezember 1835 schenkte uns Gott unser erstes Töchterchen Ottilie. Unsere Freude war umso größer, als wir vier Jahre umsonst gehofft, und fand auch in der, unserem sonstigen ein­ fachen Leben nach glänzender Taufe ihren Ausdruck.“ C. Voigt: Lebensbeschreibung, 1866, D-LEsm: MT/2011/77. Taufpaten waren Felix Mendelssohn Bartholdy und Friedrich Rochlitz. 77 Robert Schumann war Taufpate.

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Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 46 19.02.16 15:50 1.2 Henriette Voigt geb. Kuntze – Umfeld und Ausbildung

Gestern Abend ist auch die Voigt gestorben und das hat mich auch beschäftigt. Ueber- morgen wird sie begraben, wo die meisten Musiker wohl mitgehen werden. Der Brief von ihr an Dich [Clara Schumann] war wohl ihr letzter; am Clavier war es die letzte der Kin- derszenen Der Dichter spricht [op. 15 Nr. 13], wie mir ihr Mann sagte. […] Ihr Tod war sanft und schnell.78

Sie wurde auf dem Alten Johannisfriedhof beigesetzt. Johannes Verhulst79 hatte einen Grab- gesang für ihre Trauerfeier komponiert und ihr guter Freund und Pfarrer, Robert Gilbert, hielt die Grabrede.80

Prägung durch die Mutter Die Mutter Johanna Henriette Kuntze (geb. Goldberg, geboren am 21. Januar 1772) scheint den Lebensunterhalt für die Familie nach dem Tod ihres Mannes durch Unterbringung von Schülern bzw. Verköstigung von Studenten bestritten zu haben.81 Aus kurzen Erwähnungen in den späteren Wochenkalendern und aus Briefen von Henriette Voigt ist ersichtlich, dass auch ihre Mutter musikalische Neigungen hatte. Am 19. März 1835 schrieb Henriette Voigt in ihren Wochenkalender, dass die „Mutter mit [Carl] Uhlrich [Gewandhausgeiger] ge- übt“82 habe. Durch ihre Logiergäste hatte sie zudem Kontakt zu Musikerkreisen. So berich- tet Henriette Voigt in einem Brief an ihren Mann vom 2. März 1834, dass zwei Ungarn bei ihrer Mutter logierten, die sich bei Friedrich Wieck ein Instrument geliehen hatten:

Mutter hatte mich nämlich gebeten, sie [die beiden Ungarn] mit hierher bringen zu dür- fen, da ich es ihr aber abschlug, bat sie mich drüben [bei der Mutter] noch ihnen etwas zu spielen, was ich auch gern that – der Aelteste (es sind keine Brüder) spielte allerliebst Tänze und denk dir, sie wollen die ganzen Liederhefte v. Taubert nach Gallizien schicken an ihre Cousinen – ich sang recht viel u alle erfreuten sich daran.83

In den kommenden Jahren besuchte Henriette Voigt die Mutter zusammen mit durchrei- senden Musikern, z. B. mit dem Hornisten Ernst Schunke84 oder Wilhelm Taubert85. Johan- na Kuntze gehörte auch fast immer zu den Zuhörern bei größeren Gesellschaften im Hause Voigt und begleitete ihre Tochter in Konzerte. Dass auch in Johanna Kuntzes Haus musi- ziert wurde, erfahren wir in der Eintragung Henriette Voigts vom 20. September 1835: „zur

78 Brief von Robert Schumann an Clara Schumann vom 16. Oktober 1839, zit. nach Sousa: Schu- mann, 2006, S. 297. 79 Komponist und Dirigent des Konzertvereins Euterpe in Leipzig. 80 Gensel: Voigt, 1909, S. 400. 81 Gensel: Rochlitz’ Briefe an Henriette Voigt, 1906, S. 4. 82 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 19. März 1835, D-LEsm: MT/2011/42. 83 Brief von Henriette Voigt an Carl Voigt vom 2. März 1834, D-LEsm: MT/2011/97. 84 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 9. Juli 1836, D-LEsm: MT/2011/37. 85 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 28. Juli 1836, D-LEsm: MT/2011/37.

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Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 47 19.02.16 15:50 1 Henriette Voigt

Mutter – [Carl] Uhlrich erwartete uns hier, wir spielten vor Tische 2 Duette von Spohr, eins von Lafont u. Moscheles.“86 Zu Johanna Kuntzes 63. Geburtstag 1835 wurde ein Theaterstück von August von Kotze- bue aufgeführt, bei dem auch der Maler Ernst Kircher und ein Cellist (Herr Edemann) mitwirkten.87 Die Aktivitäten von Johanna Kuntze boten für Henriette Voigt ein Beispiel kulturellen Handelns, das von ihr fortgeführt und intensiviert wurde.

Musikalische Ausbildung Ihren ersten Klavierunterricht erhielt Henriette Voigt bei Carl Gottlieb Reißiger (1798–1859)88, der zwischen 1811 und 1818 Schüler an der Thomasschule war. Sie erhielt die ersten Klavier- stunden frühestens im Alter von sechs Jahren (1814), mit Sicherheit jedoch vor ihrem neunten Geburtstag (1817).89 Unklar ist, wie sich ihre Ausbildung in der Zeit zwischen dem Tod ihres Vaters (1817) und dem Umzug nach Berlin (1824/25) gestaltete. Ungewiss ist, ob ihr Pate, Heinrich Schaller, ihr auch in dieser Zeit den Klavierunterricht weiter ermöglichte, ob die Mutter es in Hinblick auf eine zukünftige Einnahmequelle tat oder ob sie in dieser Zeit keine weitere musikalische Ausbildung erhielt. Sollte sie weiterhin Klavierunterricht erhalten ha- ben, so wäre zu fragen, von wem, da Carl Gottlieb Reißiger ab 1821 in Wien studierte. Über Henriette Voigts Berliner Zeit berichtet Julius Gensel, dass sie von ihrem Patenon- kel Heinrich Schaller 100 Gulden erhielt, um bei Ludwig Berger Klavierunterricht nehmen zu können,90 nachdem ihr vorhergehender Klavierlehrer in Berlin ihr gestanden haben soll, er „getraue es sich nicht, sie noch weiter zu unterrichten.“91 Die 100 Gulden des Patenonkels reichten nur für 50 Klavierstunden, trotzdem soll Ludwig Berger ihr zu öffentlichen Auftrit- ten geraten haben.92 Die Aussagen von Zeitgenossen sowie ihr Repertoire lassen darauf schließen, dass sie tatsächlich einen hohen pianistischen Stand erreicht hatte.93 Julius Gensel­

86 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 20. September 1831, D-LEsm: MT/2011/41. 87 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 21. Januar 1835, D-LEsm: MT/2011/63. 88 Dies wird auch belegt durch ein Stammbuchblatt für Henriette Voigt: „Zur freundlichen Erinne- rung an Ihren Sie innigverehrenden stets theilnehmenden Freund und ehemaligen Lehrer Carl Gottlieb Reißiger.“ D-LEsm: MT/2011/15. 89 Da Reißiger 1811 erst 13 Jahre alt war, kann davon ausgegangen werden, dass der Unterricht nicht vor 1814 stattgefunden haben wird. Bedenkt man die Tatsache, dass ihr Vater an der Thomasschu- le unterrichtet hat und somit sicher den Kontakt zu Carl Gottlieb Reißiger herstellte, Karl Wil- helm Kuntze jedoch 1817 starb, dann erscheint die Schlussfolgerung naheliegend, dass der erste Unterricht wohl vor 1817 stattfand. 90 Die Tatsache, dass sie bei Ludwig Berger Unterricht erhielt, ist durch Aussagen Robert Schumanns und Carl Voigts belegt. C. Voigt: Lebensbeschreibung, D-LEsm: MT/2011/77; Schumann: Erinne- rungen an eine Freundin, 1839, S. 158. Auch ihre Wochenkalender belegen, dass der Kontakt zu Berger in Form von Briefen und Besuchen noch lange weiter bestand. 91 Gensel: Voigt, 1909, S. 394. 92 Ebd. 93 Siehe S. 79ff.

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Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 48 19.02.16 15:50 1.2 Henriette Voigt geb. Kuntze – Umfeld und Ausbildung

überliefert, dass im Haus der Pflegefamilie Bendemann Kammermusik gepflegt wurde und Henriette Voigt hierbei „gerne“ vierhändig spielte, „[…] namentlich mit Felix Mendelssohn und Wilhelm Taubert, die, etwas jünger als sie, zur selben Zeit Bergers Schüler waren.“94 Sollten diese Musizierszenen tatsächlich stattgefunden haben, wie es auch Carl Voigt über- lieferte,95 würde dies ihre früh erlangten Fähigkeiten unterstreichen.96 Es ist jedoch bisher nicht gelungen, die Bekanntschaft mit Felix Mendelssohn Bartholdy in ihren Berliner Jah- ren zu bestätigen.97 Weder in den Briefen der Familie Mendelssohn findet sich ein Hinweis noch in der Literatur über Ludwig Berger. Der einzige zusätzliche Hinweis auf die frühe Bekanntschaft mit Felix Mendelssohn Bartholdy besteht in zwei Erwähnungen von Henri- ette Voigt aus den 1830er Jahren.

[…] einen ganz andren tieferen Genuß hatte ich aber durch die zwar flüchtige doch dem Gemüth sich unvergesslich einprägende Erscheinung des Felix Mendelssohn, (Ende ­August) den ich seit langen Jahren wieder sah und hörte.98 Er [Mendelssohn] gewann alle Herzen, ausgenommen meines, das ihm schon seit alter Zeit angehörte.99

Es wäre im Bezug auf ihren Aufenthalt in Berlin interessant zu wissen, wie die erwähnten musikalischen Soireen der Familie Bendemann aussahen100 und welche musikalische Gesell- schaften Henriette Voigt außerdem kennenlernte.101 Angaben dazu wären in Hinblick auf die spätere Gestaltung ihres eigenen musikalischen Wirkens aufschlussreich. Durch einen Briefausschnitt aus dem Jahre 1829 wird deutlich, dass Henriette Voigt in musikalischen ‚Circeln‘ in Berlin verkehrte:

94 Gensel: Voigt, 1909, S. 394. 95 „[…] auch die musikalischen Beziehungen, in denen sie in Berlin zu ihrem Lehrer Ludwig Berger, zu ihren Mitschülern Mendelssohn und Taubert und zu den vorzüglichsten Kammermusikern gestanden, mit denen sie im Bendemann’schen Hause vereint musiziert, waren die Veranlassung, daß unser Haus von einheimischen und fremden Künstlern aufgesucht wurde.“ C. Voigt: Lebens- beschreibung, D-LEsm: MT/2011/77. 96 Ihr Klavierpartner Wilhelm Taubert debütierte 1824 13‑jährig am Klavier. Mendelssohns Zukunft als Musiker wurde 1825 von Luigi Cherubini bestätigt. 97 Brigitte Richter gibt an, dass Henriette Voigt sich mit dem 11-jährigen Mendelssohn in Berlin an- freundete, d. h. sich bereits 1822 in Berlin aufhielt. (Richter: Frauen um Mendelssohn, 1997, S. 29.) Dies konnte jedoch nicht belegt werden. 98 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 22. November 1833, D-LEsm: MT/2011/41. 99 Brief von Henriette Voigt an Alwine Jasper vom 16. Juni 1835, D-LEsm: MT/2011/63. 100 Indirekt erfahren wir zumindest, dass sich die musikalische Aktivität der Familie Bendemann über einen längeren Zeitraum erstreckt zu haben scheint. „Hennig kenne ich, aber gespielt habe ich nicht mit ihm, denn das war vor meiner Zeit wo er bei Bend.[emann] viel war.“ Brief von Henriette Voigt an Carl Voigt vom 19. August 1829, D-LEsm: MT/2011/80. 101 Ob sie z. B. die Sonntagsmusiken der Familie Mendelssohn kannte, die seit 1825 stattfanden, ist nicht bekannt.

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Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 49 19.02.16 15:50 1 Henriette Voigt

[Heinrich] Dorns Wesen hat mir nie besonders gefallen, ich war in Berlin in einigen Cir- keln mit ihm zusammen und spielte gern mit ihm, denn ein solcher quatre mainser ist selten zu finden, er spielt ausgezeichnet, hat viele Opern gesetzt. […] seine Schwestern ­kamen zuletzt bei Bend.[mann] um mich zu besuchen, ich sollte sie auch oft besuchen aber es kam nie dazu. […] wir [Heinrich Dorn und Henriette Voigt] sprachen viel von den Berliner Cirkeln u allen Familien.102

Durch spätere Besuche und in Briefen ist vor allem der Name der Familie de la Croix be- kannt, bei der Henriette Voigt bei späteren Berlinaufenthalten musizierte.103 Genannt wer- den auch die Namen Carlowitz, Witzleben und Petschka. Jedoch ist über die musika­lische Betätigung dieser Familien nichts bekannt, wodurch sich die musikalische Prägung von Henriette Voigt nachvollziehen ließe. Henriette Voigt selbst empfand die Anregungen, die sie in Berlin erhielt, als prägend und sprach von Berlin als ihrer „ersten – geistigen Heimath!“104 Ihr Briefwechsel mit Berliner Freunden und gegenseitige Besuche zeugen davon, dass ihre Berliner Zeit noch lange nach- wirkte.

Ihr Ehemann – ein Musikliebhaber Henriette Voigts Mann, Carl Friedrich Eduard Voigt (16. November 1805, Naumburg – 15. Juni 1881, Leipzig), kam 1824 nach dem Tod seiner Eltern 1823 nach Leipzig, wo er eine Korrespondentenstelle im Bankhause Winkler & Co. erhielt. Er hatte selbst keinen Musik- unterricht genossen, berichtet jedoch in seiner Lebensbeschreibung,105 wie er in den Garten- konzerten des großen Kuchengartens in Leipzig „zum ersten Male ein gutes, vollbesetztes Orchester“106 hörte und wie er seinen ersten Gewandhausbesuch mit einer Aufführung von Beethovens 5. Symphonie erlebte:

Sie machte den Eindruck des Gewaltigsten und Vollkommensten, was in dieser Art geleis- tet werden könnte, und ich kam ganz entzückt und berauscht nach Hause.107

Vor allem die 9. Symphonie Beethovens wurde sein Lieblingsstück und seine Verehrung dafür ging so weit, dass er mehreren Berichten zufolge dem Gewandhaus 1881 ein Erbe von 6600 Mark hinterließ mit der Bedingung, jedes Jahr Beethovens 9. Symphonie aufzufüh- ren.108 Insgesamt scheint er durch die Ehe mit Henriette Voigt zu musikalischer Tätigkeit

102 Brief von Henriette Voigt an Carl Voigt vom 19. August 1829, D-LEsm: MT/2011/80. 103 Henriette Voigt verbrachte im Mai und Juni 1832 fünf Wochen in Berlin. 104 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 24. Mai 1832, D-LEsm: MT/2011/41. 105 C. Voigt: Lebensbeschreibung, D-LEsm: MT/2011/77. 106 Ebd., S. 18. 107 Ebd., S. 19. 108 Vgl. Dörffel: Gewandhauskonzerte, 1884, S. 247f.; Jansen: Davidsbündler, 1883, S. 234.

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Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 50 19.02.16 15:50 1.3 Klavierpädagogin

angeregt worden zu sein. In ihrem Wochenkalender 1835 gibt es einige Vermerke, die das gemeinsame Musizieren der Eheleute belegen.

Am 3. Januar „Um 7 Uhr lehrte ich Carl einige Lieder.“ Am 1. März „Uhlrich um 10 Uhr, dem ich viel spielte u. sang, auch mit Carl Duette.“ Am 17. März: „Abends [habe] ich Carl eine Arie von Gluck gelehrt.“109

Diese Aufgeschlossenheit und das musikalische Interesse von Carl Voigt führten dazu, dass Henriette Voigt ihren musikalischen Neigungen relativ frei nachgehen konnte.110 Im Juni 1828 hatten sich Henriette und Carl Voigt in Reichels Garten beim Spazierengehen kennen- gelernt und Carl Voigt hatte sich „von ihrem seltenen musikalischen Talent unwiderstehlich angezogen“111 gefühlt. Seine eigene Musikaffinität bewirkte, dass er auch nach dem Tod von Henriette Voigt die Freundschaften mit zahlreichen Musikern weiterpflegte und musikalische Abende aus- richtete.112 Bekanntlich hat er Robert Schumann 1842 mehrmals finanziell ausgeholfen113 und ist mit Felix Mendelssohn Bartholdy und Clara Schumann lebenslang in Kontakt geblieben.114 Diese freundschaftlichen Kontakte blieben so lange bestehen, dass selbst Carl Voigts Kinder noch freundschaftlich mit Clara Schumann verbunden waren.115 1843 wurde er Pate von Elise Schumann.116 Auch die Paten seiner eigenen Kinder aus zweiter Ehe117 zeugen von dem engen Kontakt zu den Musikern seiner Zeit. Für Helene Voigt (geb. 1842) stand Wilhelm Taubert Pate, für Julius Voigt (geb. 1845) Susette Hauptmann, die Frau von Moritz Hauptmann.

1.3 Klavierpädagogin

Durch Carl Voigts Lebensbericht erfahren wir, dass Henriette Voigt vor ihrer Heirat Klavier- unterricht gegeben hat und es auch nach der Hochzeit durchsetzte, diesen weiterzuführen:

109 Tagebucheinträge Henriette Voigt 1835, D-LEsm: MT/2011/42. 110 Auch Robert Schumann schrieb, dass Henriette Voigt bei ihrem musikalischen Engagement „ein ihren Lieblingsgedanken nirgends verwehrender Gatte freundlich zur Seite stand.“ Schumann: Erinnerungen an eine Freundin, 1839, S. 158. 111 C. Voigt: Lebensbeschreibung, S. 21f, D-LEsm: MT/2011/77. 112 Vgl. S. 187. 113 Vgl. Köhler: Ein Lebensbogen, 2006, S. 149 und S. 167. 114 Vgl. Anhang, S. 309ff. 115 Vgl. Weinmeister: Henriette Voigt, 1939, S. 140; Ruhbaum: Elisabeth von Herzogenberg, 2009, S. 137. 116 Tagebucheintrag von Clara Schumann vom Mai 1843, zit. nach Schumann: Tagebücher, Bd. 2, 1987, S. 263. 117 Er heiratete 1840 Bertha Constantin, eine Klavierschülerin von Henriette Voigt.

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Da nicht vorauszusehen war, welchen Ertrag unser neu errichtetes Geschäft abwerfen würde, so hatte mein Jettchen darauf bestanden, den Clavierunterricht, durch den sie sich schon seither selbstständig erhalten, fortzusetzen, um wenigstens ihre eigenen Bedürf­ nisse davon zu bestreiten und ich kann nicht sagen, wie rührend mir’s war, als sie mir beim ersten Jahresabschluß 100rf 118 als Überschuß ihrer Einnahmen übergab. Nachdem aber die geschäftlichen Aussichten immer günstiger wurden, drang ich darauf, daß sie diesen Unterricht aufgab, doch ließ sie sich’s nicht nehmen, einigen unbemittelten jungen Mädchen, und darunter auch Bertha Constantin unentgeltlich Stunden zu geben.119

Noch im Jahre 1835 erteilte sie aber mindestens 106 Klavierstunden.120 Erst mit der Geburt des ersten Kindes am 6. Dezember 1835 setzte sie das Unterrichten bis zum 12. Januar 1836 aus und reduzierte es deutlich auf 35 datierbare Stunden im Jahr 1836. Im Jahr 1837 erhöht sich die Zahl der überlieferten Unterrichtsstunden jedoch wieder auf 56. Dass ihr Mann die Tat- sache verschweigt bzw. nur dadurch legitimiert, dass es sich um unbemittelte Mädchen ge- handelt habe, zeigt, wie unüblich es war, wenn eine verheiratete Frau weiter ihrem Erwerb nachging. Ihr Verhalten scheint (zumindest in ihrem Leipziger Bekanntenkreis) prominent gewesen zu sein. So schlug Clara Schumann ihrem zukünftigen Ehemann Robert Schumann vor, sie könne in Leipzig Klavierunterricht erteilen, um das gemeinsame Einkommen zu ­sichern. Sie argumentierte dafür mit den Worten: „Madame Voigt giebt ja auch Stunden!“121 Von Henriette Voigts – soweit bekannt ausschließlich weiblichen – Schülerinnen sind nur sehr wenige namentlich bekannt und es sind keine Dokumente oder Berichte überlie- fert, die auf ihr Wirken als Klavierlehrerin Bezug nehmen. Sie selbst berichtete in einem Brief aus dem Jahr 1829 (vor ihrer Verlobung) von den Alltäglichkeiten des Unterrichtens.

Bei Gotters hatte ich wieder eine fürchterliche Stunde – ich sprach ernstlich mit der Mut- ter [ich] meint gleich daß sie außer der Stunde mehr üben müße, sonst käme sie nicht weiter, denn nur auf die Stunde läßt sie es ankommen u hat gewöhnlich alles vergessen was ich ihr in der vorigen mit Mühe eingetrichtert. […] Ich ging zu Dänens, wo die ­Rosalie zwei Stunden hintereinander nahm, es […] beweist wie gern sie die Stunden hat, […] auch der alte Däne ist immer sehr freundlich – er hatte gemeint ich solle auch ­Singestunde geben – was ich aber abschlug.122

118 Zum Vergleich: Ein Handwerker verdiente zwischen 250 und 300 Taler im Jahr. (Kühn: Clara Schumann, 1998, S. 716.) Wilhelm Taubert verlangt 1834 für seinen Klavierunterricht in Leipzig ½ Taler pro Stunde (Brief von Robert Schumann an Henriette Voigt, D-LEsm MT/2011/69). 119 C. Voigt: Lebensbeschreibung, S. 24f., D-LEsm: MT/2011/77. 120 Diese Angaben erschließen sich aus ihren Vermerken „Stunde gegeben“ in ihrem Wochenkalen- der (D-LEsm: MT/2011/42). Es ist wahrscheinlich, dass ihr tatsächliches Unterrichtspensum deutlich über dieser Anzahl lag, da sie einerseits eventuell nicht alle gegebenen Stunden vermerk- te, andererseits mehrfach von Stunden im Plural gesprochen wird, die hier aber aus Unkenntnis der genauen Stundenanzahl nur einfach gezählt wurden. 121 Brief von Clara Schumann an Robert Schumann vom 25. Februar 1839, zit. nach Weissweiler: Briefwechsel Schumanns, Bd. 1, 1984, S. 410. 122 Brief Henriette Voigt an Carl Voigt vom 19. August 1829, D-LEsm: MT/2011/80.

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Da man fälschlicher Weise annehmen könnte, Henriette Voigts pädagogisches Wirken wäre durch die Unbekanntheit ihrer Schülerinnen und dem unterstellten wohltätigen Zweck vernachlässigbar, ist eine Episode aus dem Jahr 1835 umso bemerkenswerter. Henriette Voigt vermerkte in ihrem Wochenkalender: 23. Februar „Dem. Schmiedel aus Dresden mit Vater die durch Reissiger an mich empfo- len war.123 25. Februar „Schmiedel nebst Tochter mich besucht, sie mir vorgespielt mehreres v. Kalk- brenner – im Ganzen mir gefallen. Nach Tische nach Gohlis – von da mit Schmiedels in die Concertprobe.124 Bei „Dem. Schmiedel“ handelte es sich um Cäcilie Schmiedel, eine junge Pianistin aus Dresden,125 die dort schon mehrfach öffentlich aufgetreten war.126 Am 26. Februar 1835 spiel- te Cäcilie Schmiedel in einem Abonnementkonzert des Leipziger Gewandhauses.127 An dem Besuch Cäcilie Schmiedels mit ihrem Vater zeigt sich, dass Henriette Voigt für junge auswärtige Pianistinnen ein Anziehungspunkt war und Carl Gottlieb Reißiger sie offen- sichtlich in Dresden weiterempfahl. Dabei lässt die Quellenlage nicht entscheiden, ob sie die- se Stellung vor allem durch ihr eigenes Klavierspiel oder ihre Qualitäten als Gesellschafterin besaß. Es erscheint gleichermaßen plausibel, dass Schmiedels sie aufgrund ihrer pianistischen Qualifikation besuchten und zu der Konzertprobe einluden oder dass sie sich bei ihr vorstell- ten, um in ihrem Gesellschaftskreis Aufnahme zu finden und hier für das Konzert zu werben. Sollte Letzteres das Anliegen von Schmiedels gewesen sein, so scheinen sie ihr Ziel nicht er- reicht zu haben, denn Henriette Voigt urteilte über ihr Spiel: „brilliant doch flach.“128 Wie sehr Henriette Voigt ein Anlaufpunkt für junge Musikerinnen war, zeigt auch ihr Kontakt zu Therese Spohr, Emilie Werner und Clara Schumann.

123 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 23. Februar 1835, D-LEsm: MT/2011/42. 124 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 25. Februar 1835, D-LEsm: MT/2011/42. 125 Nach 1846 heiratete sie den Komponisten und Pianisten Max Karl Eberwein (1814–1875), mit dem sie eine Tochter bekam (*1848). Die Familie lebte in Dresden, wo Cäcilie Schmiedel als Klavierlehrerin wirkte. Sie veranstaltete musikalische Matineen, bei denen auch ihre Schülerin- nen und Schüler spielten. Der berühmteste unter ihnen war Hans von Bülow, den sie in der Zeit von ca. 1840 bis 1845/46 unterrichtete. Bergmann/Wichmann: Cäcilie Schmiedel, 2010. 126 Die AMZ berichtet aus Dresden: „Hr. Krägen hat überdem das Glück, mehrere ganz ausgezeich- nete Schülerinnen gebildet zu haben, von denen die jugendliche Cäcilie Schmiedel sich schon zweimal mit Beifall öffentlich hören liess und manche Andere dies könnte, sobald sie wollte.“ Anonym: Musikalische Topographie Dresdens, in: AMZ, 1835, Nr. 8, Sp. 121. 127 Dörffel: Gewandhauskonzerte, 1884, Statistik, S. 91. 128 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 26. Februar 1835, D-LEsm: MT/2011/42. Das gleiche Re- pertoire erklang auch bei einem Konzert in Dresden im April 1835. Dort berichtet die AMZ: „Dem. Schmiedel aus Dresden gab Souvenirs d’Irlande, grosse Phantasie für das Pianof. mit ­Orchesterbegl. von Moscheles, und die militärische Phantasie von Pixis mit guter Fertigkeit und mit Beifall.“ (Anonym: Leipzig, in: AMZ, 1835, Nr. 16, Sp. 268.). Nur ein kurzer Briefwechsel zwischen Cäcilie Schmiedel und Henriette Voigt ist in deren Wochenkalender in der Woche nach dem Auftritt vermerkt, danach endet der überlieferte Kontakt.

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Die Tochter von , Therese129, wurde wie ihre Schwestern Ida und Emilie als Musikerin (Gesang) ausgebildet und lernte Henriette Voigt wahrscheinlich beim Nieder- rheinischen Musikfest 1835 kennen.130 Als die Familie Spohr im Juni 1836 Leipzig besuchte, kam es zu gemeinsamen Musizierszenen.131 Henriette Voigt stand danach mit Therese Spohr im Briefwechsel und sie vermerkte bei Besuchen bei oder von Spohrs Spaziergänge und Gespräche mit Therese Spohr.132 Auch die Pianistin und Schülerin Friedrich Wiecks, Emilie Werner geb. Reichold, die in den Jahren 1826 bis 1830 mehrfach im Gewandhaus auftrat, wurde von Clara Schumann bei Henriette Voigt eingeführt.133 Clara Schumann selbst ist im Kreis um Henriette Voigt mit Gesprächen, Spaziergängen und gemeinsamem Musizieren nachzuweisen. Die Beziehung zwi- schen den beiden Pianistinnen war aber von ambivalenten Gefühlen bestimmt (vgl. S. 66ff.). Neben diesen Frauen gibt es eine Anzahl weiterer, meist jüngerer Frauen, denen sie ­Unterricht erteilte, mit denen sie Konzerte und Theateraufführungen besuchte, gemeinsam las oder die sie in ihrem sogenannten Kränzchen versammelte.134 Interessanterweise sind die meisten Frauen, die sich in diesem Umfeld nachweisen lassen und soweit bekannt, zwi- schen 1818 und 1820 geboren,135 das heißt, sie waren gut 10 Jahre jünger als Henriette Voigt. Auf das Jahr 1835 bezogen bedeutet dies, dass Henriette Voigt mit 27 Jahren einen Kreis von 15- bis 17-Jährigen um sich versammelte. Henriette Voigt besaß den Ruf einer ‚vorbildhaften‘ Frau, weshalb viele Familien ihre Töchter bedenkenlos in ihrer Gesellschaft verkehren ließen. Daraus entstanden den jungen Frauen vielfältige musikalische wie gesellschaftliche Möglichkeiten. Friedrich von Müller136 schrieb über Henriette Voigts gesellschaftliches Ansehen an Friedrich Rochlitz:

Habe ich Ihnen denn schon meinen Dank ausgesprochen für die von Ihnen veranlaßte, mir in jeder Hinsicht so werthe Bekanntschaft mit Ihrer Freundin, Mad. Voigt? Daß ihr musikalisches Talent und Meisterspiel mich in freudige Bewunderung versetzt hat […].

129 Geb. 1818. Sie verstarb schon 1838. 130 Erste Erwähnung Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 2. Juni 1835, D-LEsm: MT/2011/42. 131 „Therese [Spohr] sang des Vaters neue Lieder u. wir spielten Melusine.“ Tagebucheintrag Henri- ette Voigt vom 24. Juni 1836, D-LEsm: MT/2011/37. 132 Z. B. Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 13. Mai 1837, D-Zsch: Sch.M.3868-A3 oder Tage- bucheintrag Henriette Voigt vom 24. Juni 1836, D-LEsm: MT/2011/37. 133 „D. 24. [Okt. 1835] begleitete ich [Clara Schumann] Madam Werner zu Madam Voigt, welche Letztere ihr etwas von Berger vorspielte.“ Tagebucheintrag Clara Schumann vom 24. Oktober 1835, zit. nach Clara Schumann: Jugendtagebücher, Bd. II, Tagebuch 4; Ebd., S. 168. 134 Beispiele für diese Tätigkeiten: „Abends mit Emilie [List] im Maskenball von Auber“ (Tagebuch- eintrag Henriette Voigt vom 24. Februar 1835, D-LEsm: MT/2011/42), „Allwine Jasper u. Bertha Constantin, denen ich 3 Acte von König Lear vorlas“ (Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 8. Juli 1835, D-LEsm: MT/2011/42), „Die Mädchen zum Kränzchen“ (Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 24. April 1835, D-LEsm: MT/2011/42). 135 Siehe Anhang, S. 309ff. 136 Friedrich von Müller (1779–1849) war Staatskanzler des Großherzogtums Sachsen-Weimar-­ Eisenach und ein enger Freund Johann Wolfgang von Goethes.

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Zudem erschien sie mir so anmuthig, natürlich und gemüthlich in ihrem ganzen Beneh- men, so anspruchslos gehaltvoll in ihrem Urtheilen und so vielseitig wahrhaft ausgebildet, das die wenigen Stunden, die ich in ihrer Gesellschaft zugebracht, schon hingereicht ­haben, mir die innigste Achtung abzugewinnen.137

Durch die Kränzchen, die Henriette Voigt speziell für ihre ‚Mädchen‘ und ‚jungen Leute‘ ausrichtete,138 scheint sie sich ihrer Rolle als gesellschaftliches Vorbild durchaus bewusst gewesen zu sein und nahm auf diese Weise Einfluss auf eine jüngere Frauengeneration.

Mentorin für Clara Schumann Die Hochachtung und Anerkennung gegenüber Henriette Voigts pädagogischem Wirken zeigt auch Robert Schumann mit dem Versuch, sie als ‚Mentorin‘ für die elf Jahre jüngere Clara Schumann (15-jährig) zu gewinnen. Henriette Voigt berichtete ihren Mann:

[Robert] Schumann erzählte mir, daß [Friedrich] Wieck solchen ungeheuren Respeckt vor mir habe, ob ich nicht bemerke, daß er stets befangen wäre in meiner Nähe – das amüsier- te mich sehr – ferner meinte er, sollte ich mich doch der Clara annehmen – ich würde sie in kurzer Zeit ganz beherrschen u großen Einfluß auf sie haben, denn so ungebildet wie sie sei, habe sie doch große Scheu und Ehrfurcht vor allem, was Geist sei u heiße.139

Aus dieser Bitte spricht Robert Schumanns Zutrauen in Henriette Voigts positiven Einfluss auf junge Frauen und die Anerkennung ihres hohen Bildungsstandes, den sie weitergeben konnte. Wenige Tage später lernten sich Clara Schumann und Henriette Voigt tatsächlich kennen. Friedrich Wieck vermerkte im Namen von Clara Schumann in ihrem Tagebuch:

Nachmittags war ich bei Madam Voigt, und lernte da in ihr eine höchst gebildete, lie- benswürdige Frau kennen. Ich spielte mit ihr 2 Ouverturen von Mendelssohn à 4/m wo sie sich als ausgezeichnete Dilettantin zu erkennen gab.140

Henriette Voigts Wochenkalender aus dem Jahre 1836 zeigt, dass sie sich mit Clara Schumann beschäftigte. Er belegt Gespräche, Briefwechsel, gemeinsame Spaziergänge, Opernbesuche und gegenseitige Besuche.141 Neben dem genannten vierhändigen Klavierspiel zu Beginn ihrer Bekanntschaft ist nur ein weiterer Hinweis auf ein gemeinsames Musizieren erhalten. Er

137 Gensel: Rochlitz’ Briefe an Henriette Voigt, 1906, S. 20. 138 So z. B. am 8. März 1836: „Abends waren junge Leute bei uns – Schrei, 3 Gilberts, Schaarschmidt, Ehrenberg, Düringer, List’s [Emilie und Elise], Meyers, Constantins [Bertha Constantin und Eltern?] u. Allwine Jasper. Musiciert dann gegessen u geistreiche Spiele bis 12 Uhr.“ Tagebuch­ eintrag Henriette Voigt vom 8. März 1836, D-LEsm: MT/2011/37. 139 Brief von Henriette Voigt an Carl Voigt vom 1. September 1834, D-LEsm: MT/2011/98. 140 Tagebucheintrag Friedrich Wieck 13. Sept. 1834, zit. nach Clara Schumann: Jugendtagebücher, Bd. II, Tagebuch 4, S. 91. 141 Im Jahr 1836 besuchte Clara Schumann Henriette Voigt laut Wochenkalender 11 Mal. Insgesamt trafen sich beide Frauen im Jahre 1836 ca. 40 Mal in Gesellschaften, Konzerten oder privat.

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­befindet sich in Henriette Voigts Tagebuch. Im August 1836 notierte sie: „Nachmittag Clara Wieck nebst Vater da – gespielt u. gesprochen.“142 Gemeinsam traten beide Pianistinnen bei einer Haussoiree am 19. April 1836 von Friedrich Wieck auf, bei der Henriette Voigt mit Felix Mendelssohn Bartholdy dessen Klavierquartett h-Moll op. 3 spielte und Clara Schumann Werke von Frédéric Chopin, Johann Peter Pixis und Robert Schumann darbot.143 Es ist nicht bekannt, ob Clara Schumann durch bzw. bei Henriette Voigt neue oder noch nicht bekannte Klavierwerke kennenlernte und durch deren Repertoireauswahl (die sämt- liche Beethovensonaten umfasste) beeinflusst wurde. Bemerkenswert ist jedoch die langfris- tige Entwicklung von Clara Schumanns Repertoire. Mit der Loslösung von ihrem Vater ab 1839 wurden populäre Virtuosenstücke in Clara Schumanns Konzertrepertoire durch ­Werke als seriös geltender Komponisten abgelöst. Ab 1840 befanden sich Ludwig van Beethoven, Frédéric Chopin und Felix Mendelssohn Bartholdy unter den meistgespielten Komponis- ten und die Klaviersonaten Ludwig van Beethovens wurde zunehmend fester Bestandteil ihrer Konzertprogramme.144 Ihr Konzertrepertoire näherte sich damit der von Henriette Voigt privat gepflegten Werkauswahl an (vgl. Kapitel „Repertoire“, S. 79ff.). Es scheint möglich, dass Henriette Voigt neben anderen Einflüssen einen Anknüpfungspunkt bzw. Anregung für Clara Schumanns spätere Repertoiregestaltung bot. Bereits vom Dezember 1834 datiert ein Brief, der verdeutlicht, wie sehr Henriette Voigt für Clara Schumann zu einem wichtigen Bezugspunkt geworden war. Clara Schumann schrieb an Emilie List:

Gehst Du auch recht fleißig zu Madam Voigt? ach, wenn ich doch auch einmal wieder hingehen könnte! Um ein Briefchen bitte ich Dich dringend, auch Madam Voigt bitte ich sehr darum. Sie möchte mir doch etwas näheres von Schunke schreiben.145

Besondere Beweise für Clara Schumanns Freundschaft mit Henriette Voigt sind das ­Geschenk einer selbstgebastelten Tasche an Henriette Voigt,146 ein Stammbuchblatt147 und die Widmung der 1834 bis 1836 entstandenen Soirées Musicales op. 6.148

142 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 30. August 1836, D-LEsm: MT/2011/37. 143 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 19. April 1836, D-LEsm: MT/2011/37. Auch Clara Schumann berichtet davon: „D. 19. hatten wir Abends ein wenig Musik. Ich spielte mit David und Grabau das neueste Trio von Pixis und das Trio von Chopin. Madam Voigt spielte das H moll Quartett von Mendelssohn, worin M.[endelssohn] selbst die Bratsche spielte.“ Tagebucheintrag Clara Schumann vom 19. April 1836, zit. nach Clara Schumann: Jugendtagebücher, Bd. III, Tagebuch 5, S. 44f. 144 De Vries: Die Pianistin Clara Wieck-Schumann, 1996, S. 196f. 145 Brief von Clara Schumann an Emilie List vom 14. Dezember 1834, zit. nach Wendler: Briefwech- sel List, 1996, S. 46f. 146 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 28. Mai 1836, D-LEsm: MT/2011/37. 147 Im Wochenkalender erwähnt, jedoch nicht erhalten. Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 24. Oktober 1836, D-LEsm: MT/2011/37. 148 Vgl. Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 11. November 1836, D-LEsm: MT/2011/37. Friedrich Wieck wertet Clara Schumanns Widmung der Soirées musicales als Art Kundengeschenk an Henriette Voigt ab, indem er in ihrem Tagebuch vermerkt: „Madame Voigt kaufte den [Flügel,

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Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 56 19.02.16 15:50 1.3 Klavierpädagogin

Henriette Voigt verfolgte Clara Schumanns Werdegang als Pianistin, indem sie Konzert- proben beiwohnte149 und sich und ihren Bekannten Werke von ihr vorspielen ließ:

D. 27. [Juli 1836] besuchte uns M.[adame] Voigt mit Hrn. Taubert aus Berlin. Er kam um die Schumann’sche Sonate [op. 11] von mir zu hören und ich spielte sie. Er that als ver- stände er sie doch ich sah – er verstand sie nicht. Desgleichen M.[adame] Voigt.150

Aus diesem Eintrag spricht die schon beginnende Animosität Clara Schumanns gegenüber Henriette Voigt, die sich allmählich verstärken sollte. Das anfangs freundschaftlich-bewun- dernde Verhältnis von Clara Schumann und Henriette Voigt änderte sich bereits 1835. Es existieren zwei Briefe aus diesem Jahr, die zeigen, dass Clara Schumann versuchte, die ­gemeinsame Freundin Emilie List gegen Henriette Voigt aufzubringen:

Gestern war ich bei Madam Voigt. Da siehst Du Deine Freundin. Nun da Du fort bist, bekümmert sie sich nicht mehr um Dich. Sie hätte Dir doch gewiss schreiben können aber sie meint ‚sie hätte so viel zu Thun‘. O, das ist mager, denn an eine Freundin so wie Du kann eine Freundin, die keine Kinder hat und sonst auch nicht viel zu arbeiten hat, wohl schreiben. Es ist mir lieb, daß es so gekommen ist, damit Du doch die Freundin siehst welche Du vergötterst ohne den Dank und Beweis ihrer Freundschaft wieder zu sehen. Sie war sehr neidisch und machte schreckliche Geschichten, als ich ihr erzählte, daß Mendelssohn bei uns gewesen sei und mit mir gespielt. Nun ich will mich besinnen und nicht Deine angebetete heilige Göttin entheiligen und Dir eine Wahre (Freundin) ihrer Liebe entreißen.151

Es gibt mehrere Umstände, die diesen Sinneswandel erklären könnten. Möglicherweise ist es der Neid auf die Freundschaft zwischen Emilie List und Henriette Voigt, die ein gemein- sames Interesse an der französischen Sprache und Literatur verband; vielleicht ist es aber auch schon die aufblühende Rivalität um Robert Schumanns Zuneigung bzw. Henriette Voigts Unterstützung von Robert Schumanns Werben um Ernestine von Fricken, die zu dieser Aussage führte. Anfang November 1834 hatte Robert Schumann an Henriette Voigt geschrieben: „Dies Blatt war eigentlich für Ernestinen bestimmt. Darf ich es meiner theuren­

Modell] Tomaschek-Wieck und aus Dank dedicirt ihr Clara Op. 6 [Soirées musicales].“ (Tage- bucheintrag Friedrich Wieck vom 30. Aug. 1836, zit. nach Clara Schumann: Jugendtagebücher, Bd. III, Tagebuch 6, S. 59). Zu dem Verhältnis zwischen Henriette Voigt und Friedrich Wieck siehe ­Kapitel „Rivalität mit Friedrich Wieck“, S. 64ff. 149 Z. B. am 20. Oktober 1836: „Früh mit Stamaty auf Klassigs Kaffeehaus, wo Clara Schumann ihr Concert probierte.“ Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 20. Oktober 1836, D-LEsm: MT/2011/37. 150 Tagebucheintrag von Clara Schumann, 27. Juli 1836, zit. nach Clara Schumann: Jugendtage- bücher, Bd. III, Tagebuch 6, S. 57. 151 Brief von Clara Schumann an Emilie List vom 14. September 1835; Ebd., S. 59f. Für den zweiten Brief (Brief von Clara Schumann an Emilie List vom 6. August 1835, zit. nach Wendler: Brief- wechsel List, 1996, S. 52ff.) siehe S. 244.

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Henriette gestehn, daß ich den Unterschied, ob ich für Sie oder sie schreibe nicht sehr hoch anschlage? […]“152 Es ist wahrscheinlich, dass Clara Schumann die ältere Henriette Voigt um ihre tiefe Freundschaft zu Robert Schumann beneidete. Folgender Briefausschnitt zeigt, dass sie Henriette Voigt als Verbündete Robert Schumanns empfand:

Herr Schumann will nach Zwickau um […] seine Hochzeit zu feiern, von wo aus er dann hierher kömmt und zwar mit seiner neuvermählten Frau. Er hat schon ein Logis gemie- thet und zwar in der Poststraße, nicht weit von Voigts. Doch der Voigt schreibe es ja nicht, denn obgleich Herr Schumann kein Geheimniß mehr daraus macht, so würde sie es ihm doch wieder sagen, daß ich es Dir gleich geschrieben.153

Robert Schumann wusste von Clara Schumanns negativen Gefühlen, die er mit zwei Brie- fen im Jahr 1839 noch ­anstachelte:

Uebrigens hab ich Henrietten vorzüglich lieb; sie schrieb mir ein Paar Worte, die waren besser, als Eure ganzen Briefe [von Clara Schumann und Emilie List], nämlich: ‚Das Schicksal ist tückisch, das Leben ist kurz; rasch zum Ziel‘ – das ist Alles in Allem gesagt. Bravo, Henriette! Sie gefallen mir.154 Du verhälst Dich zur Voigt übrigens beinahe wie ich zu Banck. Vielleicht hab ich mich gar rächen wollen […]155

Hiermit spielt er auf Clara Schumanns Liebesbeziehung zu Carl Banck im Jahr 1836 an156 und es wird deutlich, wie er seine Beziehung zu Henriette Voigt gezielt gegenüber Clara Schu- mann instrumentalisiert. Auch die Ermahnung Robert Schumanns an sie – „Bleib so treu wie Leonore ihrem Florestan“157 – kann mit dem Wissen um die Davidsbündlernamen von Schu- mann (Florestan/Eusebius) und Henriette Voigt (Eleonore/Leonore) zweideutig gelesen wer- den. Clara Schumann reagierte inzwischen mit energischer Abneigung auf Henriette Voigt. Am 30. Januar 1839 schrieb sie an Robert Schumann: „Ernestine klagt, daß ihr die Vogt [sic] auf Keinen ihrer Briefe antworte – sie ist eine Schlange, ich kann mir nicht helfen!“158

152 Gensel: Schumann Briefwechsel mit Henriette Voigt, 1892, S. 327. 153 Brief von Clara Schumann an Emilie List vom 6. August 1835, zit. nach Wendler: Briefwechsel List, 1996, S. 52. 154 Brief von Robert Schumann an Clara Schumann vom 18. Mai 1839, zit. nach Litzmann: C. Schu- mann. Ein Künstlerleben, Bd. 1, 1918, S. 331. 155 Brief von Robert Schumann an Clara Schumann vom 15. Januar 1839, zit. nach Sousa: Schumann, 2006, S. 241. 156 Siehe Klassen: Clara Schumann, 2009, S. 92. 1836 besuchte Clara Schumann Henriette Voigt mehrfach gemeinsam mit Carl Banck. 157 Brief von Robert Schumann an Clara Schumann vom 28. November 1837, zit. nach Sousa: Schu- mann, 2006, S. 158. 158 Brief von Clara Schumann an Robert Schumann vom 30. Januar 1839, zit. nach Weissweiler: Briefwechsel Schumanns, Bd. 2, 1987, S. 374.

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Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 58 19.02.16 15:50 1.4 Wege zur musikalischen Gesellschafterin

Eva Weissweiler interpretiert den Nachruf Robert Schumanns auf Henriette Voigt (vom 15. Oktober 1839) im Kontext dieser Dreierkonstellation als Ermahnung an Clara Schu- mann. Robert Schumann verdeutlicht hier, wie er sich eine mustergültige Frau vorstellt (Heirat am 12. September 1840).159 So preist er neben Henriette Voigts musikalischem Wir- ken vor allem ihr Talent als Gastgeberin und Hausfrau.160 Somit wäre das äußerst ‚weiblich‘ gezeichnete Bild Henriette Voigts in diesem Nachruf in dem Kontext zu verstehen, dass Robert Schumann und Clara Schumann zu diesem Zeitpunkt ihre Rollenverhältnisse aus- handelten.161 Erst mit dem Einsetzen von Henriette Voigts Krankheit wurde Clara Schumanns Hal- tung zu ihr versöhnlicher. Am 4. September 1839 schrieb Clara Schumann an Robert Schu- mann: „Siehst Du die Vogt [sic], so sag ihr doch daß ich ihr Morgen schreibe – es treibt mich ihr einige Zeilen der Theilnahme zu senden.“162 Nach Henriette Voigts Tod notierte Clara Schumann:

D. 17 [Okt. 1838] meldete mir Robert den Tod der Vogt [sic], der mich schmerzlich be- rürte, ich dachte so lebhaft an die Vergänglichkeit alles Glückes. Die Frau war nun so glücklich und mußte in ihren schönsten Jahren sterben.163

1.4 Wege zur musikalischen Gesellschafterin

In den ersten Jahren nach ihrer Rückkehr von Berlin nach Leipzig spricht aus Henriette Voigts ausführlichem Tagebuch ein Gefühl der Isolation. Im Juli 1832 fragte sie sich nach einem Besuch in Berlin:

Warum sind die Menschen dort [Berlin] so anders, oder vielmehr hier [Leipzig]? Warum kennt man hier das edlere Leben so wenig? […] – ich blicke wehmüthig zurück, will aber

159 Vgl. Weissweiler: Clara Schumann, 2001, S. 143. 160 Vgl. Kapitel 1.1: „Tradierung eines Frauenlebens“, S. 38ff. 161 Am 18. Juni 1839 hatte Robert Schumann an Clara Schumann geschrieben: „[…] und würdest Du auch als Künstlerin vergeßen, wirst Du denn nicht als Weib geliebt? […] Das erste Jahr unserer Ehe sollst Du die Künstlerin vergeßen, sollst nichts als Dir u. Deinem Haus und Deinem Mann leben, und warte Du nur wie ich Dir die Künstlerin vergeßen machen will – nein das Weib steht doch noch höher als die Künstlerin und erreiche ich nur das, daß Du gar nichts mehr mit der Oeffentlichkeit zu thun hättest, so wäre mein innigster Wunsch erreicht.“ Brief von Robert Schu- mann an Clara Schumann vom 18. Juni 1839, Weissweiler: Briefwechsel Schumanns, Bd. 2, 1987, S. 571. 162 Brief von Robert Schumann an Clara Schumann vom 4. September 1839, zit. nach Weissweiler: Briefwechsel Schumanns, Bd. 2, 1987, S. 707. 163 Tagebucheintrag Clara Schumann vom 17. Oktober 1838. Clara Schumann: Jugendtagebücher, Bd. IV, Tagebuch 8, S. 98. Henriette Voigts letzter Brief war laut Robert Schumann an Clara Schumann gerichtet. Weissweiler: Briefwechsel Schumanns, Bd. 2, 1987, S. 747.

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auch jetzt mich zusammenraffen und Kraft gewinnen den gewohnten Lebensweg freudig wieder zu betreten, treu zu vollbringen, was ich mir vorgeschrieben und die spärlicheren Freuden mit desto größerem Dank hinzunehmen.164

Als es ihr in den Jahren 1832 und 1833 zunehmend gelang, musikalische Kontakte in Leipzig zu knüpfen, wurden die Eintragungen im Gedankenbuch jedoch allmählich von optimisti- scheren Notizen abgelöst:

Manche musicalische Freuden erblühten mir u. ich nahm sie mit derselben verschiedenen Empfänglichkeit hin, als sie es an sich waren und mir geboten wurde. [Johann Wenzel] Kallivoda, der mit mir spielte, erfreute mich durch seine lockenden Zauberklänge, [Ig- naz] Moscheles riss mich zur Bewunderung durch sein kräftiges, riesengleiches Talent hin, selbst der muntere Schlesinger aus Landau war mir in seiner eigenthümlichen Art interessant, doch es gab für mich einen noch edleren Genuß, der mir selbst über Krugs lieben Besuch u. Spiel mit mir ging, den selbst die Freude, in meiner Anna [Constantin] einmal eine gleichfühlende, weibliche Seele gefunden zu haben, überwog, da er mir neu war, da er mir so noch nicht geboten wurde. Ich fand einen ausgezeichneten Künstler und in diesem einen eben so herrlichen Menschen […]. Schon 3 Wochen sind im Strom der Zeit verlaufen, seit unser lieben Grohs [Cellist, Johann Benjamin Groß] hier eintraf! o daß es erst 3 Stunden wären und ich dürfte die andere Zeit noch einmal verleben, ge- nießen – welch ein Mensch!165

Durch ihr musikalisches Interesse und ihr Können gelang ihr die Aufnahme in die ­musikalischen Kreise Leipzigs. Wichtige Stationen für den Aufbau ihres musikalischen Umfeldes waren die Bekanntschaften mit dem Professor Carl Friedrich Weiße,166 dem Cellisten Johann Benjamin Groß (Oktober 1832), Friedrich Rochlitz (Anfang 1833), ­Ludwig Schunke (Dezember 1833) und Robert Schumann (1834). Nach und nach traf sie also auf gleichgesinnte Musiker und Musikliebhaber und es gelang ihr, einen musika­ lischen Bekanntenkreis aufzubauen. Robert Schumann erlebte das Jahr 1834 als Höhe- punkt der musikalischen Geselligkeit bei Henriette Voigt.167 Diese Wahrnehmung ist je- doch unter dem Gesichtspunkt einzuordnen, dass sein Freund Ludwig Schunke, der ein

164 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 8. Juli 1832, D-LEsm: MT/2011/41. 165 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 5. November 1832, D-LEsm: MT/2011/41. 166 Erstmals erwähnt am 23. November 1833, wahrscheinlich jedoch schon früher miteinander be- kannt. Carl Weiße veranstaltete Quartettabende (vgl. Kapitel 3.13: „Carl Friedrich (1781–1836) und Henriette Weiße geb. Schicht (1793–1831)“, S. 188ff.) und durch ihn und Wilhelm Taubert wurde Henriette Voigt mit Ludwig Schunke bekannt gemacht. 167 „Diesem regen Leben wurde leider und zu früh gerade der entrückt, der es zum größten Theil hervorgerufen. Er [Ludwig Schunke] starb jung, als Künstler von seiner Zeit […]. Es klopft wohl noch mancher andere Künstler an das bekannte gastfreundliche Haus [Voigt] an, bildeten sich neue Verhältnisse; zu solch innigem und bedeutendem Ganzen wollte sich aber keines mehr ge- stalten; die zerrissene Saite klang noch lange nach.“ Schumann: Erinnerungen an eine Freundin, 1839, S. 158.

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wichtiges Zentrum des Freundeskreises und vor allem Bezugsperson für Robert Schu- mann war, Ende 1834 starb.168 Alle zugänglichen und bekannten Quellen weisen indessen nicht auf einen Rückgang der musikalischen Aktivitäten im Hause Voigt nach Ludwig Schunkes Tod hin. Neben regelmäßigen Konzertbesuchen wurden verschiedene Formen des Musizierens weiter gepflegt, wie musikalische Gesellschaften, Kammermusikabende und freundschaftliches gemeinsames Musizieren. Innerhalb weniger Jahre entwickelte sich das Haus der Voigts zu einem Ort geselligen Musizierens. Karl Loewe berichtete am 29. Juli 1835 an seine Frau:

Den Abend war ich bei einem Kaufmann Voigt. Denke Dir ein junges, für Musik begeis- tertes Ehepaar von feinster Sitte und humaner wohlwollender Gesinnung. Madame Voigt spielt ausgezeichnet Klavier. Sie trug mit dem Violinisten Ullrich, einem jungen Manne aus dem hiesigen Orchester die grosse, Kreutzer dedicierte Sonate mit Violine von Beet- hoven vor, und zwar mit Meisterschaft.169

Mit der Zeit stellten sich auch immer bekanntere und berühmtere Persönlichkeiten im Hause Voigt ein. Carl Voigt erinnerte sich:

Ich kann wohl sagen, daß kein fremder Künstler von Bedeutung hier concertiert hat, der uns, sei es mit oder ohne Empfehlung von Kunstgenossen, nicht besucht hätte. Von Gei- gern ersten Ranges nenne ich: Spohr, Lipinski, Kalliwoda, Molique, David und den Wunderknaben Vieuxtemps und von Cellisten: Merck, Kummer, Romberg, Groß, die sämmtliche wiederholt Sonaten und Trios mit meiner Frau spielten.170

Auch Felix Mendelssohn Bartholdy war in den Jahren 1835 und 1836 oft bei Henriette Voigt zu Gast und als Pianist an verschiedenen Kammermusikaufführungen beteiligt. Zu Felix Mendelssohn Bartholdy bestand schon vor dessen Amtsübernahme in Leipzig ein Briefkon- takt171 und auf seine Einladung hin besuchte das Ehepaar Voigt 1835 das Niederrheinische Musikfest, wo sie auch Moritz Hauptmann und Louis Spohr kennenlernten.172 Bei dieser Reise soll das Ehepaar Voigt auch auf Felix Mendelssohn Bartholdy eingewirkt haben, die ihm angebotene Leitung des Gewandhausorchesters anzunehmen. Carl Voigt schreibt an- lässlich des Niederrheinischen Musikfests in seinen Memoiren:

[…] Es waren damals Unterhandlungen mit Mendelssohn im Gange, um ihn für die Direction der hiesigen Gewandhaus-Concerte zu gewinnen, und wir boten Alles auf,

168 Henriette Voigt hatte Ludwig Schunke während seiner Krankheit gepflegt, die Beerdigung orga- nisiert und seinen Nachlass geordnet. 169 Loewe: Loewe’s Selbstbiographie, 1870, S. 193. 170 C. Voigt: Lebensbeschreibung, S. 25f., D-LEsm: MT/2011/77. Diese Besuche sind durch Henri­ ette Voigts Tagebucheintragungen dokumentiert. 171 Teile des Briefwechsels finden sich veröffentlicht in C. Voigt: Acht Briefe von Mendelssohn, 1871. 172 C. Voigt: Lebensbeschreibung, S. 28, D-LEsm: MT/2011/77.

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seine Bedenken – er wollte Pohlenz um keinen Preis verdrängen – zu beseitigen und ihn zur Annahme der Berufung zu gewinnen, was uns auch gelang.173

Die Rolle von Carl und Henriette Voigt im Umfeld der Vertragsverhandlungen mit Felix Mendelssohn Bartholdy ist bisher unbekannt. Obwohl es eher unwahrscheinlich scheint, dass sie hierbei einen entscheidenden Beitrag lieferten, sprachen ihre Leipziger Bekannten Henriette Voigt einen Einfluss auf Felix Mendelssohn Bartholdys Entscheidung zu. So schrieb Clara Schumann an Emilie List, dass „sie [Henriette Voigt] den Mendelssohn be­ wogen hat, auf 6 Monate hierher zu kommen.“174 Dass Felix Mendelssohn Bartholdy nach seinem Amtsantritt in Leipzig an den musika­ lischen Gesellschaften von Henriette Voigt teilnahm und mit ihr in Kontakt stand, wertete ihre Stellung in Leipzig stark auf. Er wurde als lichtes Genie gefeierte und Personen, die in seinem Umfeld verkehrten, sonnten sich in seinem Glanz: „Die Weihe des Genies war mit ihm überall und kam über die, welche in seine Sphäre traten.“175 So sah sich auch Henriette Voigt „im Strahlenglanze seines Geistes.“176 Aufgrund der hohen Stellung, die man Felix Mendelssohn Bartholdy zusprach, ist es daher nicht verwunderlich, dass Henriette Voigt seine Aufmerksamkeit suchte, seine Besuche bei anderen Leipziger Familien aufmerksam verfolgte und stolz die Freundschauft zu ihm betonte.177 Felix Mendelssohn Bartholdy war

173 Carl Voigt: Lebensbeschreibung, S. 27, D-LEsm: MT/2011/77. Henriette Voigt berichtete in ei- nem Brief aus Düsseldorf: „Als wir ihn [Felix Mendelssohn Bartholdy] wiedersahen, hatte er schon den Absagebrief für Leipzig in der Tasche – er bat uns, ihm zu rathen u zu helfen – diesen große Rath pflegten wir in Düsseldorf während der Pausen unseres Musicierens (so geizten wir mit der Zeit!) und so entschied er sich Freitag [12. Juni] früh 11 Uhr, daß er auf 6 Monate den Leipziger Antrag annehmen wolle.“ (Brief von Henriette Voigt an Allwine Jasper vom 16. Juni 1835, D-LEsm MT/2011/63). Tatsächlich schrieb Felix Mendelssohn Bartholdy am 13. Juni 1835 an Heinrich ­Dörrien, dass er die Stelle für die nächsten 6 Monate annehmen werde. Allerdings hatte er bereits am 1. Mai um Entlassung aus seinen Düsseldorfer Verträgen gebeten und war schon mit seiner ersten Anwort an Conrad Schleinitz am 16. April 1835 in die Aushandlung konkreter Vertragsver- handlungen eingetreten (siehe Schiwitz/Schmideler: Mendelssohn sämtliche Briefe, 2011). 174 Brief von Clara Schumann an Emilie List vom 6. August 1835, zit. nach Wendler: Briefwechsel List, 1996, S. 52. 175 Dörffel: Gewandhauskonzerte, 1884, S. 121. 176 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 16. November 1836, D-LEsm: MT/2011/37. Entsprechend dem hohen Ansehen Felix Mendelssohn Bartholdys hielt Henriette Voigt gewissenhaft Treffen, Briefwechsel und Besuche von ihm in ihren Tagebüchern fest und hob seinen Namen durch ­lateinische Lettern hervor. 177 Clara Schumann schrieb: „Sie [Henriette Voigt] war sehr neidisch und machte schreckliche Ge- schichten, als ich ihr erzählte, daß Mendelssohn bei uns gewesen sei und mit mir gespielt.“ (Brief Clara Schumann an Emilie List vom 16. September 1835, zit. nach Wendler: Briefwechsel List, 1996, S. 60.) Während Henriette Voigt bei ihrem Aufenthalt in Düsseldorf an Allwine Jasper in Leipzig schrieb „[Felix Mendelssohn Bartholdy] nahm uns höchst liebreich auf und wir musicier- ten recht viel zusammen, was Sie Alles in Leipzig der hochmusiklaischen Welt nebst noch vielen anderen Sachen weiter unter verkünden können.“ (Brief von Henriette Voigt an Allwine Jasper vom 16. Juni 1835, D-LEsm MT/2011/63).

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in der Tat mehrfach an Kammermusikaufführungen bei Henriette Voigt beteiligt. Zusam- men mit dem neuen Konzertmeister Ferdinand David wollte er gerade der Kammermusik zu einem höheren Stellenwert verhelfen. Laut Berthold Litzmann bildete das Haus Voigt „den geselligen Mittelpunkt für diese Bestrebungen.“178 Mit Henriette Voigt führte er vier- händig sein Streichoktett op. 20, seine Ouvertüre „Das Märchen von der schönen Melusine“ op. 32 und eine Klaviersonate von Ludwig Berger zu vier Händen auf. Als Violaspieler wirkte er 1836 bei der Aufführung seines Klavierquartettes h-Moll op. 3179 mit (Henriette Voigt übernahm den Klavierpart) und mit den Gewandhausmusikern Johann Andreas Gra- bau (Violoncello), Hermann Hunger (Violine) und Karl Wilhelm Uhlrich (Violine) führte er bei Henriette Voigt sein Streichquartett Es-Dur op. 12180 sowie mehrere Streichquartette von Luwig van Beethoven und Wolfgang Amadeus Mozart auf.181 Sein Streichoktett op. 20 wurde ihm zu Ehren zum Reformationstag 1835 im Hause Voigt aufgeführt.182 Als Gast ihrer musikalischen Veranstaltungen beschrieb Henriette Voigt Felix Mendels- sohn Bartholdy als „sehr unterhaltend“183, „zufrieden“184 und „lustig“185. Er „scherzte und neckte vortwährend“186 und phantasierte an Henriette Voigts neuem Flügel.187 Unterhalten- de Kammermusikpartien wie diese hielt Henriette Voigt in ihrem Wochenkalender fest:

Abends waren Mendelssohn, [Ernst August] Carus, Schrey, [Franz] Hauser und Schumann bei uns. Ich musste Mendelssohn mehreres alleine spielen – dann arrangierten wir die Olympia-Ouvertüre vierhändig. Hauser u. ich sangen Lieder – dann gegessen – Anecdoten erzählt – sehr lustig gewesen bis nach 11 Uhr, wo Mendelssohn noch Liszt copierte.188

Die persönliche Bekanntschaft und Verbundenheit zu Felix Mendelssohn Bartholdy, die auch Ausdruck in seiner Patenschaft von Voigts erster Tochter Ottilie fand, trug zu Henriette Voigts Etablierung als herausragende Gesellschafterin und musikalischem Anziehungs- punkt in Leipzig bei. Im März 1835 schenkte er ihr ein Gondolierlied für ihr Stammbuchal- bum, das später als op. 30 Nr. 6 in seinem zweiten Heft Sechs Lieder ohne Worte erschien.189

178 Litzmann: C. Schumann. Ein Künstlerleben, Bd. 1, 1918, S. 104f. 179 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 15. Februar 1836, D-LEsm: MT/2011/37. Dieses Werk führ- ten Henriette Voigt (Klavier) und Felix Mendelssohn Bartholdy (Viola) auch am 19. April 1836 bei einer Soiree Friedrich Wiecks auf. 180 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 19. November 1835, D-LEsm: MT/2011/42. 181 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 19. November 1835, D-LEsm: MT/2011/42 und vom 31. März 1836, D-LEsm: MT/2011/37. 182 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 31. Oktober 1835, D-LEsm: MT/2011/42. 183 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 19. November 1835, D-LEsm: MT/2011/42. 184 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 2. April 1836, D-LEsm: MT/2011/37. 185 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 15. Februar 1836, D-LEsm: MT/2011/37. 186 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 9. April 1836, D-LEsm: MT/2011/37. 187 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 29. September 1836, D-LEsm: MT/2011/37. 188 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 10. September 1835, D-LEsm: MT/2011/42. 189 D-LEsm: MT/2011/121.

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Rivalität mit Friedrich Wieck Berhold Litzmann stellte fest, dass „eine gewisse Rivalität zwischen dem Wieckschen und Voigtschen Hause bestand.“190 Von beiden Seiten sind Aussagen überliefert, die diese Ein- schätzung bestätigen. Diese Konkurrenzsituation ist sowohl in Bezug auf Henriette Voigts Etablierung als musikalische Gesellschafterin in Leipzig als auch in Hinblick auf ihre Bezie- hung zu Clara Schumann aufschlussreich. Bereits 1834 schrieb Henriette Voigt abwertend über Friedrich Wiecks Umgang mit sei- ner hochbegabten Tochter und seine Ignoranz gegenüber den künstlerischen Leistungen anderer:

Die Beiden Ungarn [Logiergäste ihrer Mutter] erzälten lustige Anecdötchen v. Wieck – der Eine hatte sich ein Instrument von ihm geliehen u war kaum eingetreten bei ihm als er auch die Tochter hören mußte, ohne daß er es verlangt hätte u. als sie ihm nun von Chopin vorgespielt, habe der Alte mit wichtiger Miene gesagt, daß könne nur seine Tochter u. noch ein Jemand hier in Leipzig spielen – da meinte gestern der Kleine (der mich Stuhlschlitten fuhr) er habe mich wahrscheinlich damit gemeint – diesen Glauben benahm ich ihm aber, denn er hat Schumann versonden – wenn ihm Alle sagten, ich spiele Chopin, wird er es doch läugnen, ich wünschte wirklich, daß er es von recht vielen Leuten höre!191

Das zeitgleiche Werben um die Gunst von Musikern sowie die Konkurrenz, die Friedrich Wieck und Clara Schumann gegenüber Henriette Voigts Stellung im Leipziger Musikleben verspürten, spiegeln sich in Tagebucheinträgen Clara Schumanns:

Er [Ferdinand David] ist jetzt mit der Madam Voigt in das wohlbekannte Musikmachen gerathen, und folglich für mich verloren. Die Klugheit und die Liebenswürdigkeit dieser Frau vermag alle Musiker an sich zu ziehen. (Sie hat 4 Wochen vor Weihnachten ein kleines Mädchen bekommen, und war daher verhindert, Hrn. David eher zu fesseln, – mir sehr lieb.)192 [Ignaz] Tedesko aus Prag [Pianist] ist seit 5 Tagen hier und verweilt bei Madame Voigt – die übrigen [Leipziger Künstler] will er blos gelegentlich besuchen – o guter Oesterreicher!193

Deutlich wird die ebenbürtige Stellung Henriette Voigts und Friedrich Wiecks im Musik­ leben Leipzigs bei der Durchreise Frédéric Chopins am 12. September 1836. Berthold Litz-

190 Litzmann: C. Schumann. Ein Künstlerleben, Bd. 1, 1918, S. 104f. 191 Brief von Henriette Voigt an Carl Voigt vom 2. März 1834, D-LEsm: MT/2011/97. 192 Tagebucheintrag Clara Schumann vom 7. Januar 1836, zit. nach Clara Schumann: Jugendtagebü- cher, Bd. III, Tagebuch 5, S. 3. 193 Tagebucheintrag Clara Schumann vom 12. Dez. 1836, zit. nach Clara Schumann: Jugendtage- bücher, Bd. III, Tagebuch 6, S. 76. Zu dem Werben und dem Neid um die Freundschaft zu Felix Mendelssohn Bartholdy vgl. auch Fußnote 177.

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mann überlieferte zwar, „außer Clara hatte Chopin diesmal niemand in Leipzig gesehen.“194 Tatsächlich besuchte aber Frédéric Chopin an diesem Tag neben Wiecks zusammen mit Robert Schumann noch Hermann und Raimund Härtel sowie Henriette Voigt.195 Hen­riette Voigt berichtet:

Schumann kam u erzählte uns daß Chopin da sei aber den Abend 6 Uhr wieder abreise. […]. Um 5 Uhr kam Schumann mit Chopin, Bobroviecz u. Malakowsky. Chopin ist höchst interessant u. liebenwürdig, bleich u. aetherisch. Er spielte seine neuste Etüde u. phantasierte – herrlich – krank aber. ½ 6 Uhr gingen sie – ich war beglückt durch Chopin.­ Schumann kam wieder u. wir gingen bis 8 Uhr noch ins Rosenthal, sprachen schön über Musik.196

Arnfried Edler fasst die Situation zwischen Henriette Voigt und der Familie Wieck folgen- dermaßen zusammen: „Die hier [bei Henriette Voigt] stattfindenden Musikabende rivali- sierten mit denen im Haus Wieck als zweites Zentrum des ‚Davidsbundes‘.“197 Endgültig zerbrach das Verhältnis zwischen Henriette Voigt und Friedrich Wieck im Jahr 1837. Friedrich Wieck fühlte sich durch Henriette Voigt verleumdet und unterstellte ihr üble Nachrede und „Klatscherei“198:

Mendelssohn spielt den Beleidigten. M.[adame] Voigt hat uns auf schändliche Weise bei ihm verläumdet aus Neid.199 Unsere Feinde u. Neider in Leipzig erhalten eine derbe Lektion. Die Voigt soll ja furcht- bare Klatschereinen über Clara in Leipzig verbreiten? Fertige du [Clementine Wieck] sie mit großer Kälte, Vorsicht und Verschwiegenheit ab – u. sage blos, ‚Sie wissen ja schon alles aus den Zeitungen‘.200

194 Litzmann: C. Schumann. Ein Künstlerleben, Bd. 1, 1918, S. 105. 195 Vgl. Schumann: Tagebücher, Bd. 2, 1987, S. 25. 196 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 12. September 1836, D-LEsm MT/2011/37. 197 Edler: Schumann, 2008, S. 83. 198 Brief von Friedrich Wieck an Clementine Wieck vom 20. März 1837, zit. nach Walch-Schumann: Wieck Briefe, 1968, S. 69. 199 Tagebucheintrag Friedrich Wieck vor dem 7. Januar 1837, zit. nach Clara Schumann: Jugendta- gebücher, Bd.III, Tagebuch 6, S. 78. 200 Brief von Friedrich Wieck an Clementine Wieck vom 9. März 1837, zit. nach Walch-Schumann: Wieck Briefe, 1968, S. 67.

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Robert Schumanns „Asdurseele“201 Die Freundschaft zu Schumann ist die – der Quellenlage entsprechend – am besten über- lieferte. Er selbst reflektierte über Henriette Voigt und ihr Wirken 1839 in seinem Nach- ruf202 und 1908 wurden Auszüge aus ihrem Briefwechsel abgedruckt.203 Robert Schumann wurde Pate von Henriette Voigts Tochter, Anna, und widmete Hen- riette Voigt seine Klaviersonate g-Moll op. 22. Er selbst beschrieb sie in einem Brief an Clara Schumann als eine Person, die ihm „immer Alles an den Augen abgesehen [hat], so weit sie konnte“204 und verdeutlichte seine Freundschaft zu ihr in einem Stammbuchblatt. Er zeich- nete darauf ein Crescendozeichen zum Zeichen des „Wachstum[s] der Freundschaft“205. Henriette Voigt und Robert Schumann waren einander durch Ludwig Schunke vor­ gestellt worden. Am 27. Januar 1834 hatte Ludwig Schunke im Gewandhaus ein Konzert ­gegeben und bei dieser Gelegenheit machte er die beiden miteinander bekannt.206 Aus ­Henriette Voigts Wochenkalender wissen wir, dass es Hochphasen ihrer Freundschaft mit Robert Schumann gab, in denen sie sich fast täglich sahen, z. B. im Januar 1835 oder Winter 1836.207 In seinen schwärmerisch-poetischen Briefen aus den Jahren 1834 ließ er sie an seiner Gefühlswelt ebenso wie an seinen Schaffensprozessen Anteil nehmen.208 In diesen Briefen fragte er auch explizit nach ihrer musikalischen Meinung. Er schätzte Henriette Voigts kriti- sches musikalisches Urteil und schrieb in seinem Nachruf über sie: „Nie aber hörten wir jemals eine schlechte Komposition von ihr spielen; nie auch munterte sie Schlechtes auf.“ 209

201 „Eigentlich sind’s Liebeslilien, die der Sehnsuchtwalzer zusammenhält. Die Zuneigung verdient und schätzt nur eine Asdurseele, mithin eine, die Ihnen gliche, mithein Sie allein, meine theure Freundin.“ Brief von Robert Schumann an Henriette Voigt vom 4. September 1834, zit. nach Gensel: Schumann Briefwechsel mit Henriette Voigt, 1892, S. 276. Robert Schumann und Lud- wig Schunke hatten beide vor ihrer Bekanntschaft Variationen über Franz Schuberts Sehnsuchts­ walzer geschrieben. Dem Werk und der Tonart As-Dur kam daher in diesem Freundeskreis eine besondere Bedeutung zu. 202 Schumann: Erinnerungen an eine Freundin, 1839. 203 Gensel: Schumann Briefwechsel mit Henriette Voigt, 1892. Zu der Freundschaft zwischen Robert Schumann und Henriette Voigt siehe auch Boetticher: Neue Materialien zur Begegnung Robert Schumanns mit Henriette Voigt, 1988; Seibold: Die Widmungsträger der Schumannschen Wer- ke, 2007, S. 309ff.; Litzmann: C. Schumann. Ein Künstlerleben, Bd. 1, 1918, S. 76. 204 Brief von Robert Schumann an Clara Schumann vom 22. Juni 1839, zit. nach Sousa: Schumann, 2006, S. 281. 205 Gensel: Voigt, 1909, S. 897, Stammbuchblatt vom 22. Oktober 1836, D-LEsm, MT/2011/124. 206 Gensel: Schumann Briefwechsel mit Henriette Voigt, 1892, S. 271 und C. Voigt: Lebensbeschrei- bung, S. 26, D-LEsm: MT/2011/77. 207 Weihnachten 1836 verbrachte Robert Schumann bei Voigts und auch im Februar 1837 vermerkte er in seinem Tagebuch: „Oft bei Voigts.“ (Tagebucheintrag von Robert Schumann vom Februar 1837, zit. nach Schumann: Tagebücher, Bd. 2, 1987, S. 31). 208 Siehe abgedruckte Briefe zit. nach Gensel: zit. nach Schumann Briefwechsel mit Henriette Voigt, 1892. 209 Schumann: Erinnerungen an eine Freundin, 1839, S. 159.

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Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 66 19.02.16 15:50 1.4 Wege zur musikalischen Gesellschafterin

Besonders intensiv entwickelte sich die Freundschaft zwischen Robert Schumann und Henriette Voigt 1834 in der Zeit seines Werbens um Ernestine von Fricken. Henriette Voigts Haus bot Robert Schumann und Ernstine von Fricken die Möglichkeit, sich dort zu treffen.210 Darauf Bezug nehmend schrieb Ernestine von Fricken noch im Jahre 1837 an Robert Schumann: „Doch habe ich Henrietten immer noch so lieb wie sonst, und ich werde auch nie vergessen, wie viele seelige Stunden mir durch sie wurden […].“211 Auch in seine heimliche Verlobung mit Ernestine von Fricken212 sowie in die Bedeutung der Ton- folge A-Es-C-H in seinem Carnaval op. 9 weihte er Henriette Voigt ein.213 So scheint es nicht übertrieben, Henriette Voigt als „Vertraute seines Liebesbundes“214 zu bezeichnen. Es gab aber auch Phasen, in denen sich die Freundschaft lockerte und sie kaum vonein- ander hörten. So kam es auch zu Briefen wie diesem vom März 1838:

Soll ich [Henriette Voigt] gar nichts mehr von Ihnen hören, theurer Freund? […] O ver- stummen Sie doch nicht so ganz – gehen sie in die Vergangenheit zurück – bei den so vielen, frohen Stunden, machen Sie mir jetzt auch eine durch Ihre Antwort.215

Aber auch Robert Schumann schien um die Freundschaft besorgt, als er im Dezember 1835 (ganz Leipzig schwärmte zu dieser Zeit für den neuen Direktor der Gewandhauskonzerte Felix Mendelssohn Bartholdy) fragte: „Lesen Sie mich noch mit denselben Augen wie frü- her? Ich mag keine Antwort darauf.“216 Obwohl Henriette Voigts Tagebucheinträge erstaunlicherweise nur äußerst selten die Aufführung von Werken Robert Schumanns verzeichnen,217 ist durch Briefe belegt, dass sie für seine Klavierwerke eintrat218 und die Werkentstehung seiner frühen Kompositionen ver- folgte.219 Auch Robert berichtete Clara Schumann: „Sie [Henriette Voigt] schwärmt in den Tänzen u. Phantasiestücken – u. spielt die ganzen Tage darin, wie sie mir schreibt.“220

210 Gensel: Schumann Briefwechsel mit Henriette Voigt, 1892, S. 276. 211 Boetticher: Briefe und Gedichte, 1979, S. 60. 212 Gensel: Schumann Briefwechsel mit Henriette Voigt, 1892, S. 276. 213 Asch war der Geburtsort von Ernestine von Fricken. Vgl. Brief von Robert Schumann an Henri- ette Voigt vom 13. September 1834, zit. nach Gensel: Schumann Briefwechsel mit Henriette Voigt, 1892, S. 325. 214 Litzmann: C. Schumann. Ein Künstlerleben, Bd. 1, 1918, S. 76. 215 Brief von Henriette Voigt an Robert Schumann vom 20. März 1838, zit. nach Gensel: Schumann Briefwechsel mit Henriette Voigt, 1892, S. 368. 216 Brief von Robert Schumann an Henriette Voigt vom 25. August 1836, ebd., S. 330. 217 Hierbei ist auch auffällig, dass sie Robert Schumanns Namen, im Gegensatz zu Felix Mendels- sohn Bartholdy und Ludwig van Beethoven nicht in lateinischen Lettern notierte. Der Umgang mit Robert Schumann und seinen Werken scheint ihr alltäglicher und weniger hervorhebenswert gewesen zu sein. 218 Vgl. Kapitel 5.1: „Werkverbreitung“, S. 209ff. 219 Z. B. von Carnaval, op. 9, Phantasiestücke, op. 12 und Klaviersonate g-Moll, op. 22. 220 Brief von Robert Schumann an Clara Schumann vom 13. April 1838, zit. nach Weissweiler: Brief- wechsel Schumanns, Bd. 1, 1984, S. 148.

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„Brühwarm“221 brachte Robert Schumann laut Carl Voigt Kompositionen zu ihr, um sie sich vorspielen zu lassen. Im Jahr 1838 schreibt Henriette Voigt, sie habe sich ganz in seine Tondichtung „versenkt“222. Robert Schumann konstatierte: Bestünde freilich das Publikum aus lauter Eleonorens [Henriette Voigt], so wüßte ich wessen Werke reißend gedruckt und gespielt würde. So aber giebt es nur wenige.223 Robert Schumann war häufig bei Henriette Voigt und ihren musikalischen Geselligkeiten zu Gast. Äußerst selten trat er jedoch selbst aktiv auf: Abends Gesellschaft hier, [Friedrich] Rochlitz, [Karol] Lipinsky mit Frau u Tochter, ­[Józef] Nowakowsky, [Camille] Stamaty, Schumann, [Ludwig] Lippert. Ich spielte mit Lipinsky Sonaten von Bach u die große Kreuzersche [op. 47] von Beethoven. Mit ­Stamaty das Divertissement von Schubert gespielt. Gegessen bis Mitternacht. Sehr lustig. Schu- mann spielte noch im Dunkeln.224 Die wenigen weiteren Male, bei denen er bei oder mit Henriette Voigt musizierte, fanden ohne Zuhörer statt.225 Robert Schumann scheint die musikalischen Geselligkeiten bei Hen- riette Voigt eher dafür genutzt zu haben, selbst neue Werke kennenzulernen, als sich selbst aktiv daran zu beteiligen.226 Henriette Voigt unterstützte Robert Schumann durch ihre ­gesellschaftlichen Kontakte und führte selbst Klavierwerke von ihm auf.227

1.5 Musikalische Praxis im Hause Voigt

Mit Henriette Voigts Wochenkalendern, in die sie täglich von 1835 bis 1837 in knapper Form ihre Tätigkeiten notierte, liegt uns ein sehr dichtes Netz von Informationen über ihre musikalischen Aktivitäten vor. Über 400 Musizierszenen sind in den Tagebüchern von Henriette Voigt verzeichnet.228

221 C. Voigt: Lebensbeschreibung, S. 7, D-LEsm: MT/2011/77. 222 Brief von Henriette Voigt an Robert Schumann vom 20. März 1838, zit. nach Gensel: Schumann Briefwechsel mit Henriette Voigt, 1892, S. 368. 223 Brief von Robert Schumann an Henriette Voigt vom 11. August 1839, zit. nach Gensel: Schumann Briefwechsel mit Henriette Voigt, 1892, S. 373. 224 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 1. Oktobert 1836, D-LEsm: MT/2011/37. 225 „Abends Schumann uns besucht, der auf dem Flügel phantasierte.“ (Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 1. September 1836) „Abends kam Schumann spielte herrlich, war höchst poetisch u. liebenswürdig. Viel gesprochen über Musik.“ (Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 22. Oktober 1836). Weiteres privates Musizieren Robert Schumanns bei Henriette Voigt am 19. Oktober 1836, 26. Dezember 1836 und am 3. August 1838. 226 Häufig trat Robert Schumann in der Rolle des Zuhörers auf, wie am 22. August 1837. „Mittag Quartette von F. Schubert u. Reissiger vom Blatte gespielt vor Schumann mit Uhlrich, Wittmann u. Hunger.“ Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 22. August 1837, Tagebuch von Henriette Voigt 1837, D-Zsch: Sch.M.3868-A3. 227 Vgl. Kapitel 5.1: „Werkverbreitung“, S. 209ff. und 5.4: „Musikalische Gesellschaften“, S. 229ff. 228 Eine Auflistung der Musizierszenen findet sich auf der beigefügten Daten-CD.

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Gerber - Zwischen Salon und Musik Geselligkeit #8.indd 68 19.02.16 15:50 1.5 Musikalische Praxis im Hause Voigt

Die stichwortartigen Aufzeichnungen enthalten keine ausführlichen Beschreibungen, manchmal auch nur den Vermerk ‚gespielt‘ oder ‚musiziert‘. Häufig enthalten ihre Auf- zeichnungen aber Werkangaben, den Aufführungskontext sowie ihre Musizierpartner.229 Die subjektive Bedeutung, die Henriette Voigt einzelnen Veranstaltungen, Personen oder Kompositionen zusprach, beeinflusste dabei in bedeutendem Maße die Detailliertheit ihrer Aufzeichnungen. So notierte sie beispielsweise sowohl die Namen Felix Mendelssohn Bartholdy als auch Ludwig van Beethoven meist in lateinischen Lettern (im Gegensatz zu anderen Namen und Komponisten, z. B. Robert Schumann) und hob sie damit hervor. Daher muss trotz der statistisch anmutenden Dichte an Daten die Selektivität und Subjek- tivität von Henriette Voigts Aufzeichnungen mitbedacht werden. Dass Henriette Voigt laut Julius Gensel öffentliches Auftreten ablehnte230 und auch tat- sächlich kein Auftritt außerhalb der häuslichen Sphäre nachzuweisen ist, bedeutet nicht, dass sie ausschließlich für sich alleine musizierte. Es existieren durchaus unterschiedliche Kontexte, in deren Rahmen ihre Musikpraxis stattfand. In ihren Wochenbüchern verzeich- net sie ihr eigenes Üben, das gemeinsame Einstudieren von Werken und das Spielen vor unterschiedlich großer Zuhörerschaft.

Kammermusik Häufig spielte Henriette Voigt im Kreise der Familie oder mit Freunden Klavier oder be- trieb im Ensemble Kammermusik. Dabei war nicht immer Publikum eingeplant, konnte sich aber spontan einfinden.

Mit Uhlrich gespielt Sonate von Hauptmann u. Brillantes, wobei uns [Ferdinand] Steg- mayer u. [Léon de Saint-] Lubin231 überraschten u. wir die Sonate in es-Dur […] spielten, die unsere Zuhörer entzückte.232

Es gab aber auch bewusste Verabredungen, beispielsweise mit dem Musikschriftsteller und „väterlichen Freund“233 Friedrich Rochlitz, der sie oft besuchte, um sich vorspielen zu ­lassen.234 Vor allem zeigte sich Friedrich Rochlitz an Henriette Voigts Aufführungen von

229 Diese Angaben sind in keiner Weise als vollständig anzusehen, doch lassen sich ca. 130 aufgeführ- te Werke identifizieren. Ihr Repertoire umfasst 51 solistische Klavierwerke, 72 kammermusikali- sche Werke mit Klavierpart und 11 für Klavier arrangierte Orchesterwerke. Vgl. Anhang, S. 309ff. 230 Siehe S. 45ff. 231 Léon de Saint-Lubin (1805–1850): Italienischer Violinist, Schüler von Louis Spohr. 232 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 15. Januar 1836, D-LEsm: MT/2011/37. 233 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 22. November 1833, D-LEsm: MT/2011/41. 234 Von einem solchen Vorspiel berichtet Henriette Voigt in ihrem Tagebuch: „Der Hofrath Rochlitz war einige Abendstunden hier […] und die Erscheinung dieses ebenso geist als gemüthvollen Mannes machte einen gewaltigen Eindruck auf mich […]. Er erzählte uns erst viel von Musik, von seinem Umgang mit Beethoven, was ihn selbst so ergiff, daß die Thränen hervor traten, die meine Wangen längst netzten dann spielte ich mit [Johann Benjamin] Grohs ihm einige Sona-

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­Klavier- und Violinsonaten von Ludwig van Beethoven interessiert. Er selbst setzte sich in seiner Position als Gewandhausdirektor für die Aufführung von Ludwig van Beethovens Orchesterwerken in den Abonnementkonzerten des Gewandhauses ein und fand in Henri- ette Voigt eine gleichgesinnte Beethovenverehrerin.235 Das Repertoire bei Henriette Voigts Hausmusikszenen passte sich der jeweils zur Verfü- gung stehenden Besetzung an. So beispielsweise im Februar 1836:

Abends die Herrn [Ferdinand] David, [Felix] Mendessohn, [Andreas] Grabau u. Doct. [Friedrich] Schlemmer da, ich spielte Mendelssohn’s großes H-mollquartett [op. 3] wozu er Bratsche geigte u recht zufrieden war – dann wurde noch ein Trio für Streichinstru- mente gemacht.236

Dabei spielten die Werke der am Musizieren beteiligten Komponisten eine herausragende Rolle, vor allem die Felix Mendelssohn Bartholdys (60 Aufführungen).237 Mit 110 Auffüh- rungen bildete aber die Kammermusik Ludwig van Beethovens (Klavier- und Violinsona- ten, Klaviertrios und -quartette sowie vierhändige Symphoniebearbeitungen) den domi- nantesten Part des gespielten Repertoires.238 Unter Henriette Voigts Musizierpartnern sind einige feste Kammermusikpartner zu ver- zeichnen. Hierbei nahm das Spielen mit dem jungen Gewandhausviolinisten Karl Uhl- rich239 einen besonderen Rang ein: dieser war 1835 fast täglich im Hause Voigt.240 129 Mal musizieren Henriette Voigt und Karl Uhlrich 1835–37 miteinander. Bei ihrem gemeinsamen Musizieren machten vor allem Ludwig van Beethovens Violinsonaten den Großteil des ge- pflegten Repertoires aus,241 aber auch Friedrich Kalkbrenner und Charles Philippe Lafont, Wilhelm Taubert und Johann Peter Pixis wurden gespielt. ‚Studiert‘ wurden zudem Johann

ten v. Beethoven u. Onslow, die er so aufnahm, wie ich es mir gedacht hatte – ach ich wußte es wohl, daß wir da verstanden würden! welche hohe Wonne ist es eine edle Seele zu finden ach und wie schlug das Herz mir vor seeligem Entzücken als er mir die Hand so warm drückte und – be- friedigt war!“ (Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 11. Januar 1833, D-LEsm: MT/2011/41) Hen- riette Voigts Tagebücher weisen Friedrich Rochlitz als häufigen Besucher und Zuhörer bei Kam- mermusikaufführungen im Hause Voigt aus. 235 Vgl. S. 79ff. 236 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 15. Februar 1836, D-LEsm: MT/2011/37. 237 Insgesamt lassen sich 368 Aufführungen von 130 einzelnen Musikwerken als Repertoire Henriette Voigts rekonstruieren. 238 Vgl. Anhang, S. 309ff. 239 Karl Wilhelm Uhlrich wurde 1815 in Leipzig geboren, sein Vater arbeitete als Holzblasinstrumen- tenmacher. Von 1830 bis Dezember 1841 wirkte Karl Uhlrich im Gewandhausorchester mit, an- fangs als Substitut. Im Jahr 1835 hatte er einige Soloauftritte im Gewandhaus und Henriette Voigt berichtet von weiteren solistischen Tätigkeiten in der Euterpe. 1847 wurde er als „Concertmeister und zweiter Dirigent, sowie als Solo und Vorgeiger“ in Sondershausen angestellt (Jung: Gewand- hausorchester, 2006, S. 88). 240 Am 8. Januar 1835 schrieb Henriette Voigt: „Um 2 Uhr Uhlrich gekommen mit dem ich bis 4 Uhr wie gewöhnlich spielte.“ Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 8. Januar 1835, D-LEsm:MT/2011/42. 241 Nachzuweisen sind 8 der 11 Violinsonaten von Beethoven, vgl. Anhang, S. 309ff.

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Sebastian Bachs Violinsonaten. Karl Uhlrich besuchte Henriette Voigt außerdem auch für Gespräche, zum Essen und nach Theater- und Konzertbesuchen.242 Nach der Geburt ihrer Tochter (im Dezember 1835) verringerte sich der Kontakt zu Karl Uhlrich deutlich. 1836 sind nur noch 6 gemeinsame Musizierszenen überliefert. Dafür gewinnen andere Duo- Partner an Bedeutung, z. B. Ferdinand David (Violine), Louis Rackemann243 (Klavier) und William Sterndale Bennett (Klavier). Auch mit Felix Mendelssohn Bartholdy und Robert Schumann spielte Henriette Voigt vierhändig Klavier.244 Bei ihrem Aufenthalt in Düssel- dorf 1835 traf sie auch Fanny Hensel, was sie nur knapp mit den Worten vermerkte: „Mit seiner Schwester Fanny Hänsl [sic] musste ich einen Satz aus seinem Ottetto [op. 20] spie- len, er [Felix Mendelssohn] freute sich sehr.“245 Neben der vierhändigen Fassung der Beethoven-Symphonien (6 Aufführungen) waren die Klavierarrangements für vier Hände von Felix Mendelssohn Bartholdys Ouvertüre Die Hebriden op. 26 (3 Aufführungen), seines Streichoktettes op. 20 (5 Aufführungen) und der Ouvertüre „Das Märchen von der schönen Melusine“ op. 32 (6 Aufführungen)246 beliebte Vortragsstücke. Auch spontan konnten Orchesterwerke vierhändig arrangiert und aufge- führt werden, so notierte Henriette Voigt in ihr Tagebuch: „Ich mußte Mendelssohn meh- reres alleine spielen – dann arrangierten wir die Olympia-Ouvertüre vierhändig.“247 Auch bei Aufführungen von Klaviertrios und -quartetten wirkte Henriette Voigt häufig als Pianistin mit. Im Sommer und Herbst 1837 traf sie sich donnerstags mit Karl Uhlrich (Violine) und Carl Wittmann (Violoncello), um mit ihnen Klaviertrios zu spielen. Ge- meinsam führten sie Werke von Wilhelm Taubert, Ludwig van Beethoven, und Wolfgang Amadeus Mozart auf. Das Musizieren in unterschiedlichen Konstellationen bildet neben ihrem eigenen Üben den größten Teil ihrer musikalischen Praxis. In den Jahren 1835 und 1836 finden sich über 250 solcher Hausmusikszenen ohne oder mit kleinem Publikum (1–5 Personen) in ihren Aufzeichnungen.248 Und obwohl der Zuhörerkreis der einzelnen Szenen oft klein war, sind über 100 Personen namentlich bekannt, die an solchen Szenen als Zuhörer oder Mitspieler beteiligt waren, darunter: Felix Mendelssohn Bartholdy, Ferdinand David, Hermann Härtel, Heinrich August Matthäi, Robert Schumann, Moritz und Susette Hauptmann sowie Clara Schumann und Friedrich Wieck.249 Auch Durchreisende Musi-

242 Der intensive Kontakt führte dazu, dass Clara Schumann Henriette Voigt (27 Jahre) eine Affäre mit dem damals 20-Jährigen nachsagte. Vgl. S. 244. 243 Angesehener Pianist ihrer Zeit. 244 Vgl. Anhang, S. 309ff. 245 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 12. Juni 1835, D-LEsm: MT/2011/42. 246 Die Ouvertüre „Das Märchen von der schönen Melusine“ op. 32 war im November 1835 im ­Gewandhaus uraufgeführt worden und wurde von Henriette Voigt und Felix Mendelssohn Bartholdy mehrmals bei Henriette Voigt wie auch bei Johann Georg Keil gespielt. 247 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 10. September 1835, D-LEsm: MT/2011/42. 248 Dabei bleibt die Grenze zwischen Musikern und Zuhörern durchlässig. 249 Es soll hierbei nicht suggeriert werden, dass alle Gäste sich zwangsweise untereinander kannten oder dauerhafte Gäste waren. Genaue Auflistung siehe Anhang, S. 279ff.

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ker wie Karol Lipinsky (Violine),­ Louis Spohr (Violine), Henri Vieuxtemps (Violine) und Cypriano Romberg (Violoncello), Johann Benjamin Groß (Violoncello) gastierten bei solchen Veranstaltungen.250

Kränzchen Außer den kammermusikalischen Musikszenen mit keinem oder wenig Publikum gab es auch größere Veranstaltungen bei Henriette Voigt. Bei den sogenannten Kränzchen und den Gesell- schaften versammelten sich bis zu 20 Personen bei ihr. Die von ihr als Kränzchen betitelten Veranstaltungen fanden in einem regelmäßigen Turnus statt, die Gesellschaften wurden jedoch zu speziellen Anlässen ausgerichtet, wie z. B. Geburts- oder Feiertagen. Zum Beispiel organi- sierte Henriette Voigt eine Gesellschaft zum Geburtstag ihres Mannes am 26. November 1837:

Abend große Gesellschaft bei uns 20 Personen; Mendelssohns, [Ferdinand] Davids, Novel- los, Lenz, [Johann Georg] Keils, [Moritz] Klängels, Allwine [Jasper], Kind, [Conrad] Schleinitz, [Karl] Schrei u.sw. [Wilhem] Taubert u. ich spielten Sonaten v. Moscheles, Sack aus Wien spielte Cello, die [Clara] Novello sang eine Arie aus Titus u. Schweizerlider. Schrei sang, Taubert spielte auch ich mehreres m T.[aubert] u. Bennett. Schöner Abend – bis nach 11 Uhr waren alle da u. lustig. Berger u. Schumann auch.251

Friedrich Schmidt berichtet, bereits zu Beginn der 1830er Jahre solle ein Singkränzchen im Hause Voigt bestanden haben.252 Über dieses Kränzchen liegen keine weiteren Quellen oder Berichte vor. Gleich zu Beginn der vorliegenden Wochenkalender (Januar 1835) trifft man jedoch auf Erwähnungen eines Kränzchen („französisches Kränzchen bis 6 Uhr“253). Bis ­April fanden diese Kränzchen mittwochs zwischen 15 und 18 Uhr statt, ab dem 24. April 1835 scheinen sie auf Freitag verlegt worden zu sein. Zwischen Juni 1835 und November 1836 fanden aufgrund Henriette Voigts Schwangerschaft und der Geburt der ersten Tochter (6. Dezember 1835) keine Kränzchen statt. Die einzelne Vermerke geben Hinweis darauf, dass sich die Kränzchen 1835 mit Literatur und Konversation beschäftigten.254 Über die Gäste wird nichts Genaueres bekannt. Henriet- te Voigt spricht von ihren ‚Mädchen‘; wahrscheinlich sind es Schülerinnen von ihr oder die Töchter von Bekannten, die sich hier bei ihr versammelten.

250 Vgl. C. Voigt: Lebensbeschreibung, 1866, D-LEsm: MT/2011/77, S. 19. 251 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 26. November 1837, D-Zsch: Sch.M.3868-A3. 252 „Ein anderes Singkränzchen bildete sich Anfang der dreißiger Jahre im Hause Henriette Voigt, es nahmen daran teil u. a. die beiden Brüder Schrey und der nachmalige Dirigent des Leipziger Männergesangsvereins Petschke.“ Schmidt: Das Musikleben der bürgerlichen Gesellschaft Leip- zigs, 1912, S. 172. 253 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 7. Januar 1835, D-LEsm: MT/2011/42. 254 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 3. April 1835, D-LEsm: MT/2011/42 und Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 24. April 1835, D-LEsm: MT/2011/42.

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Das Kränzchen, das ab November 1836 freitagabends stattfand, scheint ein anderes Profil besessen zu haben. Hier erhält die musikalische Betätigung einen zentralen Stellenwert, wie zwei Eintragungen zeigen:

Abends [Friedrich] Rochlitz zum Kränzchen hier. Ich fast immer gespielt, Bennett u. Beethoven u. Mendelssohn.255 Abends war [Friedrich] Rochlitz zum Kränzchen hier mit Allen, auch Tedesco. Ich musste spielen v. Berger, Mendelssohn u. Bennett. Jener war nicht zu bewegen. Lustig geplaudert.256

Die Kränzchen fanden nun freitags wechselweise bei Friedrich Rochlitz oder bei Henriette Voigt statt. Friedrich Rochlitz schrieb bereits 1833, dass er „die Unterhaltung, wie bey Ihnen an Klavierspiel, so bey mir an irgend ein anderes Bestimmte und Geistige anzuknüpfen“257 wolle. Er schlug die Bildende Kunst oder Literatur als Schwerpunkt der Veranstaltungen in seinem Hause vor:

Hierzu habe ich nun vorgeschlagen […] daß wir einige der allergrößten Maler aus einer Reihe ihrer Hauptwerke nach den besten Kupferstichen davon […] in Erinnerung brin- gen und uns […] über das Gesehene besprechen. […] So könnten wir [aber auch] anderes wählen und abwechselnd könnte ich Ihnen irgend etwas Vorzügliches, doch sehr wenig bekanntes vorlesen […].258

Die Entscheidung wurde zugunsten der Literatur gefällt. Bei Friedrich Rochlitz fanden Leseabende statt, bei denen u. a. Werke Jean Pauls, Torquato Tasso von Johann Wolfgang von Goethe (in verteilten Rollen) oder Nathan der Weise von Gotthold Ephraim Lessing gelesen wurden, aber auch Schriften wie Johann Gottfried Herders Ob Malerei oder Ton- kunst eine größere Wirkung gewähre? Bei Henriette Voigt dagegen wurde musiziert, aber sie „sprachen auch viel“259. Dies deutet darauf hin, dass auch hier ästhetische Fragen themati- siert wurden. Interessant ist, dass diese bildungsorientierten Kränzchen in zwei inhaltliche Bereiche aufgeteilt waren, die Leseabende bei Friedrich Rochlitz und die Musikabende bei Henriette Voigt. Dem Musizieren wurde damit der gleiche Bildungswert zuerkannt wie dem Lesen und Diskutieren von klassischer Lektüre. Aus einem Billett von Friedrich Rochlitz an Henriette Voigt aus dem Jahr 1838 erfahren wir, dass dieses Freitags-Kränzchen immer noch bestand:

255 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 2. Dezember 1836, D-LEsm: MT/2011/37. 256 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 16. Dezember 1836, D-LEsm: MT/2011/37. 257 Brief von Rochlitz an Henriette Voigt vom 2. Dezember 1833, zit. nach Gensel: Rochlitz’ Briefe an Henriette Voigt, 1906, S. 8. 258 Ebd. 259 Tagebucheintrag Henriette Voigt vom 20. Oktober 1837, D-Zsch: Sch.M.3868-A3. Aufgrund der sporadischen Überlieferungen zu den Kränzchen lassen sich keine Aussagen über das hier verfolgte musikalische Bildungsprogramm treffen.

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