rundschreiben 03/19

medico international

Es brennt

Rekolonialer Freihandel: TTIP für Südamerika Griechenland: Was vom besten Hotel Europas bleibt Afghanistan: Das Schicksal der Abgeschobenen 2

Titelbild: Nach dem Feuer: Ein Baum im Amazonas nach der Brandstiftung durch Holzfäller und Farmer. Foto: Ricardo Moraes/

Fotos der Autor*innen: Gabriela Leite, Holger Priedemuth, medico, Harald Krichel

Impressum

Herausgeber: medico international Lindleystr. 15 D-60314 Frankfurt am Main Tel. (069) 944 38-0, Fax (069) 436002 E-Mail: [email protected] Homepage: www.medico.de

Redaktion: Katja Maurer (verantwortl.), Thomas Gebauer, Moritz Krawinkel, Ramona Lenz, Christian Sälzer Korrektorat: Marek Arlt Gestaltung und Satz: Andrea Schuldt

Hinweis: Das medico-rundschreiben ist auf 100 % Recyclingpapier gedruckt.

ISSN 0949-0876 3

Auf einen Blick – medico-rundschreiben 03/19

4 Editorial

6 Wer zahlt, überlebt Kommentar zur medizinischer Innovation und Ungleichheit

Europa entsolidarisiert 10 Mehr als Solidaritätsromantik Was vom besten Hotel Europas in Athen bleibt 16 Fortschritte ins Nichts und Nirgends Über das Schicksal der nach Afghanistan Abgeschobenen 19 Brücken statt Blockaden Seenotrettung: Von weißen und schwarzen Held*innen 20 Wie Dr. Jekyll & Mr. Hyde Ein offener Brief an Europa von Ilija Trojanow

26 Projekte/Projektionen Transborder-Camp, WHO-Watching, Nothilfe in Somalia

28 Haltloses Geröll Simbabwe: Besuch bei Überlebenden des Wirbelsturms

32 Nicht mehr stumm Die palästinensische Gemeinde im Libanon begehrt auf

34 Lateinamerika: Falsch gegründete Republiken Häretikerin des Patriarchats Rita Segato über Parastaatlichkeit und feministische Aufbrüche 41 Eine Region, die nicht zählt Ursachen der Massenflucht aus Zentralamerika 45 Nach dem Regenwald Das EU-Mercosur-Abkommen: Rekolonialer Freihandel

50 medico aktiv Afrika neu denken, Fachtag Rückkehr, Menschenrechte vor Profit

52 Bestellen & Verbreiten

54 Spenden & Stiften 4

Über Sprache das Denken enthierarchisieren. Wir gendern ab jetzt.

Liebe Leserinnen und Leser,

„Es brennt“ lautet der Titel dieses Heftes. Er ist natürlich im vieldeutigen Wortsinn gemeint. Es brennen die Regenwälder des Amazonas. An der Grenze zwischen der grünen Lunge des Planeten und einer unersättlichen Agrarfront stehen indigene Völker mit ihren Körpern ein, um das Fortschreiten der Rekolonisierung zu verhindern. Selten ist so deutlich geworden, dass die Unterstützung ihrer Anliegen kein nostalgisches Hobby linker Wirrköpfe aus der Mittelschicht ist, sondern eine Überlebensfrage für alle. Ein Beispiel aus der medico-Praxis: Die grüne Insel der Ka’apor im Amazonas. Sie ist umzingelt von Rinderweiden. Immer wieder dringen Holzfäller in das indigene Territorium ein. Ein existentieller Kampf.

Denn wenn es brennt – tatsächlich oder im übertragenen Sinne – wie es an vielen Orten der Welt der Fall ist, dann braucht es Feuerlöscherinnen und Feuerlöscher, Leute, die den Mut haben, sich zu riskieren, ihre woh-lige Lebensweise aufzugeben, um sich mit denen gemein zu machen, die gar nicht anders können als sich zu gefährden. Dafür stehen die Kapitän*innen der Seenotrettung auf dem Mittelmeer wie die vielen ungenannten Flücht- linge, zum Beispiel aus Afghanistan. Unsere afghanischen Kolleg*innen haben gerade Berichte von Abgeschobenen aus Deutschland und Europa zusammengetragen. In ihrer Dokumentation blicken sie zugleich in die unheilvolle Seele des Nationalismus, der sich mit der europäischen Flüchtlingspolitik überall ausbreitet. Nach Afghanistan werden auch Geflüchtete und ihre dort geborenen Kinder aus Pakistan und Iran als „Fremde“ zurückgewiesen, obwohl die kolonial bestimmten Grenzen mit 5

ihren ethnischen und sprachlichen Zugehörigkeiten nicht übereinstimmen. Die nationalen Eliten nutzen die Kolonialgrenzen und die damit verbunde- nen Ausschlüsse für ihren Machterhalt, mag das noch so sehr ein Fake- Nationalismus sein.

Die Unvergänglichkeit des Kolonialismus ist auch ein wichtiger Gesprächs- stoff mit Rita Segato, der argentinisch-brasilianischen Feministin. Das Katja Maurer ist Interview macht deutlich, dass lateinamerikanische Denker*innen die Ent- Chefredakteurin wicklung einer anderen Sprache zum Ausgangspunkt für die Dekolonisierung des medico-rund- des Denkens nehmen. In Deutschland ist der Sprachenstreit weit entfernt schreibens. von einem solchen Ringen. Hier wird über die Sprache die Herrschaft des Deutschen in all seinen Facetten ausgetragen. Das Erlernen des Deutschen, und zwar in seiner männlichen Form, wird zum „Integrations“- Maßstab erkoren und man hört förmlich das wilhelminische Säbelrasseln. Eine Poetik der Vielheit, wie sie der jamaikanische Denker, Édouard Glissant, fordert – undenkbar. Als Kanak Attak Anfang des Jahrtausends auf diese versperrte deutsche Sprache aufmerksam gemacht hat, hat meine Gene- ration des Nachkriegskinderbooms zumeist noch abgewunken. Jetzt aber hat sich die Einwanderungsgesellschaft in unser Leben und auch in deutsche Sprache eingeschrieben.

Ebenso ist es für eine jüngere Generation selbstverständlich geworden, die geschlechtliche Vielfalt in der Sprache zu berücksichtigen. Man kann darüber endlos diskutieren. Ich erinnere mich ungern an die Debatten um die Rechtschreibreform, die uns alle zum Neu-lernen zwang, was vielleicht die Aufregung am meisten begründete. Aber bevor man andere als „Sprachpolizei“ beschimpft, sollte man oder frau erst mal sich selbst prüfen. Wir jedenfalls haben in der Redaktion beschlossen, uns nicht mehr nur mit weiblicher und männlicher Form zu behelfen, sondern auch das Gendersternchen zu benutzen, dann, wenn es Autorinnen und Autoren ohnehin und wie selbstverständlich verwenden. Aber auch darüber hinaus. Die Debatten in unserer Redaktion sind aufschlussreich, denn es gibt eine unbewusste Hierarchie auch beim Gendern. Zum Beispiel fällt das Gendern bei Migrant*innen leichter als bei Politikern oder Unternehmern oder Holzfällern (siehe oben). All das eröffnet einen Nachdenkprozess darüber, wie wir sprechen und wen wir meinen. Wir lernen. Und Sie hoffentlich mit uns – mit dem nicht unerwünschten Nebeneffekt, dass in Zeiten des Nationalwahns, der sich auch über Sprache ausdrückt, die Öffnung und Enthierarchisierung der Sprache ein Weg zur Öffnung der Gesellschaft ist.

So long, Ihre 6

Wer zahlt, über- lebt 7

Medizinische Innovation in einer nach oben offenen Preisspirale verschärft die Ungleichheit

Von Thomas Gebauer

Das derzeit teuerste Medikament der Welt heißt Welt herrschende soziale Ungleichheit? Bedarf Zolgensma und kostet rund zwei Millionen Dol- es nicht ganz anderer Innovationen? lar pro Dosis. Zolgensma, das im Mai 2019 in den USA formell zugelassen wurde, verspricht Aufgrund der großen Nöte, die noch immer im Säuglingen, die unter genetisch bedingter spi- globalen Gesundheitswesen zu beklagen sind, naler Muskelatrophie leiden, eine dauerhafte ist das politische Drängen auf Befreiung aus Not Heilung und dem Schweizer Pharmakonzern und Unmündigkeit weiterhin notwendig, das Novartis ein Supergeschäft. Rund zwei Milli- Bemühen um Erneuerung und Fortschritt nicht arden Dollar könnte Novartis in den nächsten drei Jahren mit dem Präparat erwirtschaften, heißt es in Kreisen von Börsenanalysten. Jedem Fortschritt, der einer Schon seit einigen Jahren steigen die Preise für Medikamente. Nun hat erstmals eines die „individualistischen Utopie“ Millionengrenze überschritten. Selbst finanz- huldigt, weil er nur die starke Krankenkassen klagen über die horren- Selbstverwirklichung der den Kosten moderner Gentherapie. Preise von Einzelnen im Blick hat, ist mehreren Millionen Dollar seien zu hoch, um zu misstrauen. von der Gesellschaft getragen zu werden.

Die Konsequenzen einer offenbar nach oben offenen Preisspirale für das Gesundheitswe- abgeschlossen. Aber nicht jede Innovation dient sen sind enorm. Können wir uns unter diesen bekanntlich dem Wohlergehen der Menschheit. Umständen überhaupt noch Innovation leis- Als besonders problematisch erweisen sich ten? Sind es in Zukunft vielleicht nur noch Fortschrittsideen, wenn sie sich eine bessere ein paar Superreiche, die vom medizinischen Welt allein über einen wissenschaftlichen Er- Fortschritt profitieren? Und was ist mit den Mil- kenntniszuwachs erhoffen und Innovationen liarden von Menschen, die im globalen Süden schließlich auf ökonomisch verwertbare techni- leben und weder über einen solidarisch finan- sche Entwicklungen reduzieren. Das aber ist im zierten Versicherungsschutz noch über ein gut Gesundheitswesen seit langem der Fall. Wäh- gefülltes Bankkonto verfügen? Verschärfen rend hierzulande hochspezialisierte und über- solche Innovationen, so sinnvoll sie für Einzel- aus kostspielige Therapieverfahren erforscht ne sein mögen, nicht nur die eh schon in der werden, haben über zwei Milliarden Menschen 8

noch nicht einmal den Zugang zu einfachen, heute wenig. Die Brisanz des WHO-Berichtes aber überlebenswichtigen Medikamenten. aber ist ungebrochen. Nicht in der Erforschung hochspezialisierter gentherapeutischer Verfah- Mit Blick auf das eigentliche Ziel von Fortschritt ren liegt die Zukunft der Menschheit, sondern in – der Verwirklichung von Menschenrechten und überfälligen sozialpolitischen Veränderungen. Demokratie – liegt in technischen Entwicklun- Zu diesem Schluss kommen heute selbst Ak- gen, wie sie Präparate wie Zolgensma symbo- teure, die nicht im Verdacht linker Ideologie ste- lisieren, deshalb zugleich auch ein Rückschritt. hen. Nur zu 15% sei Gesundheit durch kuratives Hochpreisige Pharmazeutika können der indi- ärztliches Handeln bestimmt, so die Unterneh- viduellen Selbstverwirklichung einiger weniger mensberatung McKinsey. Viel entscheidender dienen, aber zugleich viele andere ausschlie- seien die sozialen Lebensumstände und das ßen. Letztere genießen zwar formal das gleiche Verhalten der Menschen. Recht wie die anderen, werden aber aufgrund vielfältiger Umstände benachteiligt. Diesen Solche Studien bestätigen, was aus historischer paradoxen Zusammenhang hat der Sozialwis- Erfahrung längst bekannt ist. Die großen Erfol- senschaftler Peter Wagner, Professor an der ge, die im zurückliegenden Jahrhundert im eu- Universität Barcelona, zum Anlass genommen, ropäischen Gesundheitswesen erzielt werden um über die Wiedererlangung eines emphati- konnten, sind nicht mit Pillen und Hospitälern schen Begriffs von Fortschritt nachzudenken. Nicht fehlendes Wissen ist heute dafür verant- wortlich, dass das menschenrechtliche Ver- sprechen auf ein würdiges Leben noch immer Die Entwicklung von nicht erfüllt ist, sondern weltgesellschaftliche Medikamenten kann nicht einem Verhältnisse, die von aufgezwungener Armut, zeitlich befristeten Monopol verweigerter Anerkennung und der Fortexistenz überlassen werden. post-kolonialer Vormacht geprägt sind.

Die Folgen dieser Missstände haben auch die Weltgesundheitsorganisation beschäftigt. So- erreicht worden, sondern resultierten aus ver- ziale Ungleichheit töte im großen Maßstab, besserter Ernährung und Hygiene, würdigeren befand sie in ihrem 2008 erschienenen Bericht Arbeitsverhältnissen und dem Zugang zu einer über die sozialen Umstände, die Menschen öffentlich garantierten Daseinsvorsorge. Wür- krank werden und sterben lassen. Und weil das den wir diese Einsichten ernst nehmen, wäre so ist, liege die Lösung der globalen Gesund- die Richtung, in der sich heute Innovation zu heitskrise nicht in medizinisch-technischen bewegen hätte, klar vorgegeben. Innovationen, sondern zuallererst in der Schaf- fung menschenwürdiger Lebensbedingungen. Ohne gesellschaftliches Miteinander, ohne solidarischen Ausgleich und demokratische Es überrascht nicht, dass solche Einsichten in Selbstbestimmung bleibt Gesundheit für die einer marktförmigen und von Renditeerwar- überwiegende Zahl der Menschen auf Dauer tungen bestimmten Wissensproduktion einen unerreichbar. Unbedingt ist alles zu vermeiden, schweren Stand haben. Auch das Wissen um was das Prinzip der Solidarität im Gesundheits- die soziale Determiniertheit von Gesundheit wesen gefährdet. Jedem Fortschritt, der einer zählt im gesundheitspolitischen Mainstream „individualistischen Utopie“ (Peter Wagner) hul- 9

digt, weil er nur die Selbstverwirklichung der wohl bereits die medizinische Grundlagenfor- Einzelnen im Blick hat, ist zu misstrauen. Die schung zu einem Großteil öffentlich finanziert Befreiung aus Not und Notwendigkeit erfordert wird, könnte eine selbstbewusste Öffentlichkeit mehr als die Ausweitung von individueller Au- auf die Idee kommen, die Entwicklung von Me- tonomie. Fortschritt verlangt heute ein sozial- dikamenten insgesamt zu einem solidarisch politisches Handeln, das auf die Stärkung von finanzierten globalen Gemeingut zu machen. Räumen demokratischer Selbstverwaltung und Unter solchen Umständen könnte schließlich die Schaffung jener gesellschaftlichen Einrich- auch ein technologischer Fortschritt wieder al- tungen zielt, ohne die die Verwirklichung der len zugutekommen und so auch allen, die unter Menschenrechte unerfüllbar bleibt. spinaler Muskelatrophie leiden, Heilung in Aus- sicht gestellt werden. Die Frage, wie wir uns heute noch Innovation leisten können, ist also zuallererst die Frage, Thomas Gebauer ist Sprecher der welche Innovationen wir für erforderlich halten. medico-Stiftung und Initiator der Folgen wir den allgemeinen Überlegungen von Veranstaltung „der utopische raum“ Peter Wagner, dann erweist sich Fortschritt im (s. Rückseite). Auf dieser wird auch der im Kommentar zitierte Peter Gesundheitswesen nicht in der Entwicklung Wagner sprechen, Autor des Bu- hochspezialisierter Arzneimittel, die für die ches „Fortschritt – Zur Erneuerung Mehrheit der Menschen unerschwinglich blei- einer Idee“. ben, sondern in der Ausweitung von Räumen, in denen Menschen sich über die Erwartungen, die sie an ihr Gesundheitswesen richten, auseinan- dersetzen und einigen können. Der Gradmesser für Fortschritt liegt dann in der Entfaltung einer kollektiven Autonomie, wie sie in Ansätzen im selbstverwalteten deutschen Gesundheitswe- sen angelegt ist. Solche Räume zu stärken und zugleich ins Globale auszuweiten, steht für die Formen von Erneuerung, die heute gebraucht werden. Notwendig sind Innovationen jenseits von interessengeleiteter Wissensproduktion und ökonomischer Verwertbarkeit.

Und das könnte am Ende zum Wohle aller sein. Denn über die Stärkung demokratischer Selbst- bestimmung wird sich auch jene politische Kraft herausbilden, die es womöglich nicht mehr länger hinnehmen wird, dass die Entwick- lung von Arzneimitteln an die Überlassung ei- nes zeitlich befristeten Monopols gekoppelt ist. Wohlwissend, dass die explodierenden Medika- mentenpreise eine Folge der Patente sind, die Pharmakonzernen zu Amortisierung vermeintli- cher Entwicklungskosten gewährt werden, ob- Mehr als Solidaritäts- romantik Foto: malstad, flickr, CC BY-NC-SA 2.0 BY-NC-SA CC Foto: malstad, flickr,

City-Plaza-Dach: Solidaritätsinitiative und Geflüchtete haben den Showdown mit der Staatsmacht vermieden und das be- setzte Hotel vor der Räumung verlassen. Mehr als Solidaritäts- romantik

Das besetzte Hotel City Plaza, ein selbstverwaltetes Wohnprojekt Ge- flüchteter in Athen, war ein Zeichen der Solidarität in einer politisch aussichtslosen Lage. Einer Räumung ist die Initiative zuvorgekommen. 12

Aus den Trümmern einer sozialen Entrech- tung und im Angesicht der Flucht ent- stand ein in all seiner Vergänglichkeit schönster Ort des Kontinents

Von Mario Neumann

Stell Dir vor, es ist Räumung, aber alle sind men Lebens und der politischen Organisierung schon weg... Es sollte eine erste spektakuläre sein. Als ein unabhängiges und selbstorgani- Inszenierung der neuen rechten Regierung in siertes Projekt wollte es Beispiel dafür sein, Griechenland werden. Law&Order-Politik und dass der Migration eine transformatorische ein antimigrantischer Kurs gehörten zu den und demokratisierende Kraft innewohnt. In- großen Wahlversprechen des neuen Minister- dem sie möglich machte, wozu sich die staatli- präsidenten Mitsotakis. Was eignet sich da bes- che Politik außerstande sah, führte die selb- ser für ein erstes Manöver, als im Herzen von storganisierte Initiative vor, dass die elende Athen die Besetzung eines großen Gebäudes zu Situation der Geflüchteten in den griechischen beenden, in dem Migrant*innen untergebracht Camps und auf den öffentlichen Plätzen Aus- sind? Doch als Spezialeinheiten der Polizei, die druck politisch gewollten Staatsversagens sind. Hauseigentümerin und ein Fernsehteam am 10. Juli 2019 zur Machtdemonstration anrückten, Nun ist das City Plaza Geschichte. Die Umsicht war das City Plaza schon leer. und das Verantwortungsbewusstsein von Akti- vist*innen und Bewohner*innen machte ein Drei Jahre war das Hotel von der „Solidaritätsi- selbstbestimmtes Ende des Projektes möglich: nitiative für wirtschaftliche und politische Unmittelbar vor der absehbaren Räumung orga- Flüchtlinge“ besetzt – in einem leerstehenden nisierten sie die Schlüsselübergabe an die ehe- Gebäude in unmittelbarer Nähe zum Vikto- malige Belegschaft des Hotels, der im Zuge der ria-Platz, auf dem in den Jahren 2015 und 2016 Krise Lohn vorenthalten worden war, und die Migrant*innen in Zelten und Papphäusern auf Unterbringung aller Migrant*innen in verschie- ihre Zukunft warteten. „Das beste Hotel Euro- denen Wohnungen in Athen. Das alles fügt der pas“ – so der Titel einer auch von medico inter- Geschichte eines außergewöhnlichen Projekts national unterstützten Spendenkampagne – ein außergewöhnliches letztes Kapitel hinzu. beherbergte zeitgleich bis zu 400 Migrant*in- nen aus aller Welt; über die gesamte Zeit wa- ren es mehr als 2.500 Menschen, denen das Konkrete Hilfe für Migrant*innen Hotel für eine kurze oder längere Zeit ein Zu- und alle hause in Würde gab. Zeitgleich zum City Plaza endete auch die Denn das City Plaza wollte nicht nur ein Ort Amtszeit von Alexis Tsipras und seiner Syri- konkreter Hilfe, sondern auch des gemeinsa- za-Regierung. Würde man ein Buch schreiben, 13

wäre es nicht ganz einfach zu entscheiden, wo und des ersten Sparprogramms 2010 die Soli- man anzufangen hätte. Sicher ist jedoch: Grie- daritätsstrukturen an Bedeutung gewannen, chenland war vor und nach der Besetzung des existierten viele der Projekte bereits: Nicht we- Hotels Schauplatz europäischer Geschichte. nige sind als Hilfsstrukturen für Geflüchtete Nur zur Erinnerung: der Aufstand der Jugend und Menschen ohne Papiere entstanden, allen 2008, die Sparprogramme seit 2010, die Beset- voran die solidarischen Kliniken. Im City Plaza zung des Syntagma-Platzes und die Demokra- und an anderen Orten kamen sie so auch ge- tiebewegung 2011. Dann, in nur einem Jahr: der wissermaßen zu ihrem Ursprung zurück und Wahlsieg Syrizas im Januar 2015, das OXI-Refe- bildeten erneut eine tragfähige soziale Infra- rendum, die Erpressung durch die Gläubiger, struktur, in Zahlen ausgedrückt: 812.250 warme der „Sommer der Migration“ und die Szenen in Mahlzeiten, 74.500 Stunden Security-Schich- Idomeni. Eine Million geflüchteter Menschen ten, 5.100 Stunden Sprachunterricht und fast trafen auf eine abgekämpfte und von Syrizas 70.000 Rollen Klopapier – so lautet die nüch- Scheitern demobilisierte Bevölkerung. Mit der terne quantitative Bilanz der Solidaritätsinitia- Schließung der Balkanroute und dem EU-Tür- tive im City Plaza. kei-Deal im März 2016 endete der „Sommer der Migration“ und viele Geflüchtete waren in Grie- chenland eingesperrt und obdachlos. Vor die- Ein kleines Hotel gegen den Rest sem Hintergrund fand im April 2016 die Beset- der Welt? zung statt. Was bleibt nach zehn Jahren der Krisen und Sie stand in diesem Moment aber nicht nur im Kämpfe? Das Resultat europäischer Politik in Zeichen der europäischen Migrationspolitik. Griechenland ist nicht nur sozial verheerend, Sie mobilisierte erneut eine Alltagskultur der sondern auch demokratiepolitisch ein Skan- Hilfe, die sich bereits in der Krise zu einem dal: Griechenland ist ein „kontinentaler Zwi- Massenphänomen verallgemeinert hat. Die schenraum“ mit variablen Grenzen geworden. andere, alltägliche Seite der politischen Bewe- Inseln wie Lesbos und Samos wurden für Ge- gung waren die unzähligen Solidaritätsinitiati- flüchtete zu einer Art Sonderrechtszone, ein ven, die im Moment des vorsätzlich herbeige- Stück Europa außerhalb Europas, und auch führten Kollapses der Sozialsysteme und der das Festland wurde zur Pufferzone der europä- Gesundheitspolitik einsprangen: mit Lebens- ischen Migrationsabwehr. Die griechische De- mittelmärkten, mit selbstorganisierten Ärzte- mokratie findet unter internationaler Vormund- zentren und Krankenhäusern, mit gegenseiti- schaft statt, die seit Jahren vor allem unnach- ger Hilfe in fast jeder denkbaren Hinsicht. giebige Entrechtung durchsetzt Migrant*innen Dieses lebendige Ethos und die Alltagsstruktu- und griechische Staatsbürger sind dem glei- ren bildeten die Basis für die nächste Welle der chermaßen und doch auf ganz unterschiedli- Solidarität, die all jene zu spüren bekamen, die che Weise ausgesetzt. In Griechenland schei- im Jahr 2015 mit oft nicht mehr als einem Satz nen das noch immer und trotz allem Elend sehr Kleidung, ein wenig Bargeld und einem Handy viele zu verstehen. Die Erfahrungen der Solida- Europa erreichten. rität bleiben, so scheint es, wirksam und wer- den auch in den zukünftigen Auseinanderset- Doch nicht nur in dieser Reihenfolge ist die zungen ihre Spuren hinterlassen. Chronik der Solidaritätsbewegung spannend. Als nämlich in den Jahren der Krise ab 2008 Und trotzdem: Ein selbstorganisiertes und be- 14

setztes Hotel als Gegenmodell zur Abschot- gen. Aus den Trümmern einer sozialen Ent- tungs- und Entrechtungspolitik der EU: Ist das rechtung und im Angesicht der Ankunft von nicht etwas zu viel Solidaritätsromantik? Ja vielen, mehrheitlich vor Krieg und Terror geflo- und nein. Natürlich – und das Kollektiv betont henen Menschen, entstand einer der eindrück- dies in seiner Abschiedserklärung – war das lichsten und in all seiner Vergänglichkeit auch City Plaza ein Projekt aus einer Zeit der Ermü- schönsten Orte des Kontinents. Ein Ort, wo dung der Bewegungen. Und gleichzeitig (ge- große Gruppen von Kindern aus einem halben wissermaßen auch als Notwendigkeit einer Dutzend Länder durch die Gänge sprangen und Post-Syriza-Politik) war die Unabhängigkeit sich dabei selbstverständlich in vier Sprachen von staatlichen Institutionen und auch von ei- gleichzeitig unterhielten – also das taten, was nem Großteil der staatlich finanzierten NGOs so viele Erwachsene in Europa nicht schaffen: ein politischer Grundsatz. Diese Art der prakti- versuchen zu verstehen. Ein Ort, an dem Hoff- zierten Solidarität stößt notwendig an Grenzen, nung wirklich ein politischer Zustand war, weil wenn sie sich nicht in Politik umsetzt und ins- das Projekt zeigte, dass etwas anderes mög- titutionalisiert – und es bleibt das große Trau- lich ist, immer. ma der griechischen Aufbrüche, dass dies trotz massiver politischer Bewegung, aber Mario Neumann, der neue Pressere- auch einem hohen Niveau der Solidaritäts- ferent von medico, war in den ver- strukturen nicht passiert ist. gangenen Jahren politisch sehr ak- tiv in der Unterstützung der griechi- schen Solidaritätsstrukturen, darun- Gleichzeitig ist die Politik der Beispielhaftigkeit ter auch des City Plaza. etwas sehr Besonderes an der Idee des City Plaza-Experiments. In einem Moment, wo die große Lösung nicht mehr greifbar und der Lauf der Dinge unaufhaltbar schien, entschied sich das Kollektiv, eine große Auseinandersetzung in einen kleinen, beispielhaften Rahmen zu bringen – und alle Energien auf die Umsetzung dieses Beispiels zu verwenden. Diese Idee hat überzeugt und in ganz Europa Menschen be- wegt. Hunderte Freiwillige aus der ganzen Welt haben in den drei Jahren im Hotel gelebt und gearbeitet, teilweise monate- und einige sogar jahrelang. In kleinen Dörfern in Deutschland oder der Schweiz wurden nicht nur Unterstüt- zungsgelder gesammelt, sondern auch mit medico unterstützte die Geflüchteten im City dem Beispiel des Hotels die eigene soziale Plaza Hotel in der Anfangsphase des Projek- Phantasie erweitert und die Möglichkeit einer tes. Derzeit fördern wir in Griechenland die emanzipatorischen Migrationspolitik bezeugt. Arbeit von Pro Asyl-Refugee Support Aegean Denn das erfolgreiche Beispiel im Kleinen auf Lesbos und Chios. Die Rechtsanwältin- stand auch für seine Möglichkeit im Großen. nen, Sozialarbeiterinnen und Dolmetscher Wer einmal das Glück hatte, das City Plaza von stehen Geflüchteten nach ihrer Ankunft bei. innen zu sehen, dem stand wahrscheinlich auch alle zehn Minuten das Wasser in den Au- Spendenstichwort: Flucht und Migration 15 Foto: City Plaza

Gemeinsames Osterfest mit der Nachbarschaft. Foto: City Plaza Foto: Alexandros Katsis Foto: Alexandros

Drei Jahre City Plaza – nicht nur für die Aktivist*innen und Bewoh- ner*innen ging eine Epoche zu Ende.

Die Fassade des Hotels blieb schlicht und doch im- mer Schaufenster einer anderen Gesellschaft. 16 Fortschritte ins Nichts und Nirgends medico-Partner dokumentieren das bittere Schick- sal Abgeschobener in Afghanistan

Von Thomas Seibert

Der Vertrag, in dem sich die Europäische Union offener Krieg, verlieren Regierung und Sicher- und die afghanische Regierung auf eine „Lö- heitskräfte zunehmend die Kontrolle über das sung“ des Problems der Migration aus Afghanis- Land, kommen die Taliban Zug um Zug voran. tan einigten, trägt den wohlklingenden Namen Das gilt vor allem für Kabul: in der Hauptstadt Joint Way Forward: „gemeinsamer Weg voran“. folgt nahezu im Monatsrhythmus ein blutiger Zustande gekommen ist er 2016 aufgrund mas- Anschlag dem nächsten. siven Drucks aus Brüssel und Berlin: Hätte die Regierung in Kabul nicht unterschrieben, wären aus Europa und Deutschland deutlich weniger Es geht voran Finanzhilfen und die Order zum beschleunigten Truppenrückzug gekommen. Doch auch unab- Den von Brüssel, Berlin und dem Regime in Ka- hängig vom Druck aus Europa will Präsident bul gemeinsam beschrittenen „Weg voran“ hat Aschraf Ghani verhindern, dass Menschen aus die Ausbreitung der Gewalt nicht aufhalten kön- Afghanistan fliehen, weil sie damit die Schwä- nen. Seit Abschluss des Vertrags sind aus Euro- che des Staates offenbaren. In seinen Augen pa 19.390 afghanische Geflüchtete „heimge- sind diese Menschen „unpatriotisch“ und bege- kehrt“ – gezwungenermaßen oder „freiwillig“. hen „Landesverrat“. Die erschreckend hohe Zahl wird durch die Zahl anderer „Heimkehrer*innen“ weit übertroffen: Der euro-afghanische „Weg voran“ basiert auf Iran und Pakistan haben zuletzt jeweils eine drei Säulen: Kabul verpflichtet sich, zwangs- halbe Million geflüchteter Afghaninnen und Af- weise zurückgeschaffte Geflüchtete und „frei- ghanen zurückgezwungen – darunter viele, die willige“ Rückkehrer*innen aufzunehmen; Kabul in Iran oder Pakistan geboren wurden. Dasselbe und Brüssel kooperieren in der Eindämmung ist Menschen auch in Deutschland widerfahren. weiterer Fluchten und Ausreisen; Brüssel leistet „Voran“ geht es auch im gewaltsamen Versper- Hilfen zur „Integration“ der Deportierten. Grund- ren der Fluchtwege nach Europa: Die Zahl afg- lage des Deals ist die Unterstellung, dass es im hanischer Geflüchteter hat seit Abschluss des kriegsverheerten Afghanistan „interne Schutz- Vertrages massiv abgenommen. alternativen“ gäbe. Eine schamlose Lüge wider besseres öffentliches Wissen. Es ist nirgends Grund genug für medico und die medico-Part- sicher in Afghanistan, seit 2014 herrscht wieder nerin Afghanistan Human Rights and Demo- 17 Foto: Rodrigo Díaz Foto: Rodrigo

Zurück im Krieg: Weil sie in ihrem Heimatort niemand aufnehmen kann oder weil sie gerade dort um Leib und Leben fürchten müssen, bleiben die meisten Rückkehrer in Kabul. cracy Organisation (AHRDO), den Preis dieses hender Hitze und von Nächten, in denen die Fortschritts zu ermitteln. Dazu interviewten un- Kälte ihnen den Schlaf raubte, von nicht enden- sere Partner*innen in Kabul, Balkh, Herat und dem Hunger und Durst: „Wir waren auf dem Weg Nangarhar 50 „Heimkehrer“, allesamt Männer, von Bulgarien nach Ungarn, 25 Leute zusam- und sprachen mit Regierungsvertreter*innen mengepfercht in einem Bus ohne Ventilation. und Mitarbeiter*innen von NGOs. Ihr jetzt vorlie- Bald ging uns die Luft aus. Zwei von uns star- gender Report vermerkt als erstes, dass 46 Pro- ben. In Ungarn ließen uns die Fahrer an irgend- zent der aus Europa Deportierten mit Gewalt einer Straße raus und warfen uns die Leichname zurückgeschafft wurden, also über 8.000 Men- der beiden Somalier einfach hinterher.“ schen. Alle Befragten berichteten von den Schrecken der Flucht. Es sind Geschichten, die von der finanziellen Auspressung durch Schleu- Ausgeliefert und allein ser und deren Brutalität handeln, vom Kidnap- ping durch Banditen, von der Brutalität der Die Dokumentation listet auch die Fluchtgründe Grenzschützer, von tödlichen Schüssen und auf, voran die Angst vor der außer Kontrolle ge- Folterungen und von entwürdigenden Beleidi- ratenen Gewalt der Taliban, des IS, der kriminel- gungen; von tagelangen Fußmärschen bei glü- len Banden, auch der Armee, der Polizei und der 18

ausländischen „Schutztruppen“. In vielen Fäl- schen Opposition, sechs zu bewaffneten Grup- len gründet diese Angst auf persönlicher Bedro- pen oder kriminellen Netzwerken. Ganze drei hung im Zusammenhang etwa von Landkon- haben die Hoffnung auf die von der afghani- flikten, von Dorf- oder Familienfehden, von schen Regierung und den Regierungen der EU ethnischer und religiöser Verfolgung. Gründe versprochenen „Integrationshilfen“ noch nicht zur Flucht liefert aber auch die absolute Aus- völlig aufgegeben. Gemeinsam aber, so heißt es sichtslosigkeit der politischen und der ökono- im AHRDO-Bericht, bilden die zwangsweise oder mischen Lage: Seit Beginn des Rückzugs der „freiwillig“ Zurückgekehrten samt ihren Lei- ausländischen Streitkräfte tendiert die Zahl der densgenoss*innen aus dem verlorenen Exil im Jobs gegen Null. Fluchtgrund ist in jedem ein- Irak oder in Pakistan „einen Pol von destabilisie- zelnen Fall das Fehlen jeglicher Zukunftspers- render Kraft“ in Bezug auf die sowieso extrem pektive: So wie die Dinge liegen, kann es abseh- instabile politische Lage. bar nur schlimmer werden. Deshalb überrascht auch nicht, dass nahezu alle Befragten trotz der Am 28. September 2019 soll in Afghanistan ein zurückliegenden Torturen nur auf die nächste neuer Präsident gewählt werden. Für die medi- Gelegenheit warten, sich noch einmal auf den co-Partner von AHRDO liefert keiner der 18 Be- Weg nach Europa zu machen. werber auch nur den geringsten Anlass zur Hoffnung. Völlig unklar bleibt obendrein, ob die 29 der 50 befragten Rückkehrer sind nicht an Wahlen überhaupt stattfinden werden. Unter den Ort ihrer Herkunft zurückgekehrt. Weil sie Umgehung der afghanischen Regierung ver- dort niemand aufnehmen kann oder weil sie ge- handeln die USA seit längerem direkt mit den rade dort um Leib und Leben fürchten müssen. Taliban. Gut möglich, dass sie ihnen das Land Die meisten blieben in Kabul oder irren ständig einfach überlassen. Zurück auf Anfang. zwischen verschiedenen Verstecken hin und her. Ausnahmslos alle sind völlig überschuldet Thomas Seibert organisierte 2017 und unfähig, ihre Schulden jemals zurückzu- gemeinsam mit AHRDO eine Unter- zahlen. 42 der 50 Befragten haben kein Einkom- grund-Universität in Kabul und Ba- men, auch keine Aussicht auf ein solches Ein- myan. Er ist Südasienkoordinator und Menschenrechtsreferent von kommen. Abgesehen von im Handumdrehen medico international. aufgebrauchten Taschengeldern kam bisher niemand in den Genuss der „Integrationshilfen“ des „Joint Way Forward“-Abkommens.

Hoffnungslose Wahlen

Die überwiegende Mehrheit der Befragten macht den afghanischen Staat für ihre Lage medico hat die Erstellung der AHRDO-Studie verantwortlich. Aus Angst aber wird sich fast die über die Situation Abgeschobener aus Hälfte der Rückkehrer trotzdem nicht an politi- Deutschland und Europa gefördert. Eine aktu- schen Protesten beteiligen. Weitere 17 würden alisierte Fassung wird demnächst auf www. zwar protestieren, glauben aber nicht, damit ir- medico.de veröffentlicht. gendetwas erreichen zu können. Vier der Be- fragten suchen deshalb Kontakt zur demokrati- Spendenstichwort: Afghanistan 19

Brücken statt Blockaden Von weißen und schwarzen Held*innen

Corinna Harfouch, Ingo Schulze und Gesine Schwan gehören zu den Erst- unterzeichner*innen des Appells „Brücken statt Blockaden“, den europa- weit fast 90.000 Menschen unterschrieben haben. Sie bekunden damit ihre Solidarität mit der Sea-Watch-3-Kapitänin sowie mit der Crew des Rettungsschiffes Iuventa und protestieren gegen die Krimi- nalisierung der Seennotrettung. Initiiert worden war der Appell von dem französischen Philosophen Etienne Balibar. Die Übersetzung und Mobili- sierung in Deutschland übernahm medico gemeinsam mit kritnet, Sea Ramona Lenz ist seit 2015 Referentin für Flucht und Watch und Seebrücke. Migration bei medico. In unserer Presseerklärung zum Appell erinnern wir auch an die Vielen, die sich tagtäglich gegenseitig auf der Flucht beistehen, aber in den in Europa dominierenden Bildern und Geschichten von weißen Retter*innen und schwarzen Geretteten nur als Opfer oder Täter*innen des illegalen Gren- zübertritts vorkommen. Dieses massive Ungleichgewicht wird an dem Schicksal der drei afrikanischen Teenager besonders deutlich, die Ende März 2019 das Frachtschiff „El Hiblu 1“ dazu brachten, die 108 Geretteten an Bord nicht nach Libyen zurück, sondern nach Malta zu bringen. Für die- sen mutigen Akt droht ihnen lebenslange Haft. Die europäische Öffentlich- keit aber hat sie längst vergessen.

Auch den deutschen Kapitäninnen Carola Rackete von der Sea Watch 3 und Pia Klemp von der Iuventa drohen lange Haftstrafen – während sie zugleich ungefragt als Heldinnen verehrt werden. Erst kürzlich erteilte Klemp der Bürgermeisterin von , die ihr die höchste Auszeichnung der Stadt verleihen wollte, eine deutliche Absage: „Frau Hidalgo, Sie wollen mir eine Medaille für Aktionen geben, die Sie gleichzeitig bekämpfen. Ich bin sicher, Sie werden nicht überrascht sein, dass ich ablehne.“ Die Kapi- täninnen und ihre Crews retteten unter großem persönlichen Einsatz Men- schenleben und – was vielleicht noch schwerer wiegt – sie riskierten, in Situationen zu kommen, in denen sie nicht retten können. Dafür muss man sie nicht als Heldinnen verehren, aber Hochachtung gebührt ihnen allemal. Auch dafür, dass sie jede Gelegenheit nutzen, um an das zu er- innern, wogegen sie angetreten sind: die tödliche europäische Abschot- tungspolitik.

Ramona Lenz

www.medico.de/bruecken-statt-blockaden Wie Dr. Jekyll & Mr. Hyde 21

Ein offener Brief an Europa

„Trotz dieser tiefen Zwiespältigkeit war ich doch in keiner Weise ein Von Ilija Trojanow Heuchler. Ich war genauso ich selbst, wenn ich alle Liebe Europäer*innen, liebe Mittäter*innen, Hemmungen abschüttelte liebe Mitopfer, Ende des 18. Jahrhunderts lebte und in Schändlichkeit in Edinburgh ein Mann namens William Brodie, ein eleganter Gentleman, der eine Tischlerei untertauchte, wie wenn betrieb und den Respekt seiner Mitbürger ge- ich an der Linderung von noss. Tagsüber diente er im Stadtrat und er- Not und Elend arbeitete.“ füllte zuverlässig alle Bestellungen, nachts Dr. Jekyll brach er in die Häuser seiner Kunden ein und raubte sie aus. Bis er eines Tages gefasst und gehenkt wurde.

Wir hätten William Brodie längst vergessen, Es gibt nicht Dr. Jekyll einerseits und Mr. Hyde wenn nicht der Autor Robert Louis Stevenson in andererseits, sondern nur eine Kreatur, die „ei- ihm ein extremes Symbol einer beunruhigen- nem ausgesprochenen Doppelleben verfallen“ den menschlichen Fähigkeit erkannt hätte: die ist. Und: „Wenn die beiden Wesen in meinem gespaltene Persönlichkeit. Stevenson schrieb Bewusstsein miteinander rangen, selbst wenn dreimal über Brodie, die ersten beiden Male er- ich für eins von ihnen gehalten wurde, konnte folglose Stücke, das dritte Mal einen Bestseller, das nur geschehen, weil beide in mir wurzel- die rasante Novelle „Der seltsame Fall von Dr. ten.“ Dr. Jekyll ist nicht unschuldig, naiv oder Jekyll und Mr. Hyde“: „Ich wurde als Erbe eines blind. Er erkennt den Feind in seinem Inneren. großen Vermögens geboren, hatte glänzende Er möchte ihn gar besiegen. Aber am Ende Gaben mitbekommen, neigte meiner Natur streckt er die Waffen. Die Geschichte führt uns nach zum Fleiß, genoss die Achtung kluger und direkt in die Gegenwart. Was für einzelne Per- guter Mitmenschen und hatte, wie man hätte sonen zutrifft, kann auch für ganze Gesell- annehmen sollen, die gewisse Aussicht auf schaften gelten. Europa, präziser gesagt die eine ehrenvolle und angesehene Zukunft.“ So Europäische Union, ist Dr. Jekyll/Mr. Hyde. schreibt Dr. Jekyll zu Beginn seiner Beichte im letzten Kapitel des Buches. Er ist ein angese- Im Jahre 2017 äußerte sich EU-Kommissions- hener Arzt, jemand der heilt, jemand der Bil- präsident Jean-Claude Juncker entsetzt über dung und Wissen schätzt, ein wichtiges Mit- die Zustände in den Flüchtlingslagern in Liby- glied der Gesellschaft. Gleichzeitig ist er ein en. „Ich kann nicht ruhig schlafen bei dem Ge- gefühlloser, brutaler Repräsentant der Selbst- danken, was mit jenen Menschen in Libyen gier, ein Mann mit dem Namen Mr. Hyde. passiert, die ein besseres Leben gesucht und 22

in Libyen die Hölle gefunden haben.“ Europa on kommt zu dem Schluss, dass fast jede dürfe „nicht den Mund halten angesichts die- durch Libyen fliehende Frau Opfer sexueller ser unglaublichen Probleme, die aus einem Gewalt wird. Überlebende sprechen von Verge- anderen Jahrhundert stammen“. Er sei „sehr waltigungen mit Stöcken, von Verbrennungen schockiert“ über Berichte, wonach Flüchtlinge der Genitalien, von abgeschnittenen Penissen, in Libyen wie Sklaven verkauft würden. „Bis vor von Männern, die gezwungen wurden, ihre zwei Monaten wusste ich nicht, dass das Prob- Schwester zu vergewaltigen. Von unvorstell- lem dieses Ausmaß hat. Es ist ein dringliches baren Grausamkeiten. Und all das ist in den Phänomen geworden.“ Junckers Entrüstung letzten zwei Jahren geschehen. ist leicht nachzuvollziehen. In Libyen sind bis zu dreißig Flüchtlinge in Zellen eingesperrt, die Was also hat Mr. Juncker gegen die entsetzli- weniger als fünf Quadratmeter messen. Sie chen Zustände unternommen? Nichts! Was könnte er unternehmen? Vieles. Was in Libyen geschieht, erfolgt nicht nur mit Duldung, son- dern mit direkter Finanzierung der EU, denn li- Europäische Politiker reden bysche Grenzschützer sollen Schutzsuchende wie Dr. Jekyll und handeln mit allen Mitteln an der Flucht hindern. Wenn wie Mr. Hyde. also Flüchtlinge unter schrecklichen Bedin- gungen in Libyen leiden und sterben, ge- schieht dies als unmittelbare Folge einer ge- zielten EU-Politik. hungern, weil sie nur noch jeden dritten Tag etwas zu essen erhalten. Laut eines Berichts Es wäre aber falsch, Repräsentanten dieser Po- der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen ha- litik wie Jean-Claude Juncker Heuchelei vorzu- ben sich ihre Lebensbedingungen zusehends werfen. Seine Entrüstung war bestimmt ehrlich verschlimmert. Im Gefängnis Sabaa in der empfunden. Er steht in einer europäischen Tra- Hauptstadt Tripolis sei fast ein Viertel der Häft- dition, die seit der Französischen Revolution linge unterernährt, darunter viele Kinder. solidarische und emphatische Ideale in die Welt getragen hat, die Sklaverei abgeschafft und Laut Schätzungen der Internationalen Organi- entscheidenden Anteil an der Formulierung der sation für Migration (IOM) halten sich derzeit Allgemeinen Menschenrechte hatte. Dr. Jekyll etwa 670.000 Flüchtlinge in Libyen auf. Die bringt es auf den Punkt: „Trotz dieser tiefen deutsche Botschaft in Niger hat schon 2017 in Zwiespältigkeit war ich doch in keiner Weise ein einem Bericht an das Bundeskanzleramt be- Heuchler, denn mit beiden war es mir todernst. schrieben, was mit den zurückgeschickten Ich war genauso ich selbst, wenn ich alle Hem- Flüchtlingen geschieht: „Exekutionen nicht mungen abschüttelte und in Schändlichkeit un- zahlungsfähiger Migranten, Folter, Vergewalti- tertauchte, wie wenn ich, angesichts des Tages, gungen, Erpressungen sowie Aussetzungen in an der Förderung der Wissenschaft oder an der der Wüste sind an der Tagesordnung. Augen- Linderung von Not und Elend arbeitete.“ zeugen sprachen von fünf Erschießungen wö- chentlich in einem der Gefängnisse – mit An- Die EU erklärt, dass sie „die nationalen Behör- kündigung und jeweils freitags, um Raum für den unterstützt, um ihre Fähigkeit zur Be- Neuankömmlinge zu schaffen.“ Eine Studie kämpfung der Schleuser zu stärken“. In Wirk- der Organisation Women‘s Refugee Commissi- lichkeit ist der Unterschied zwischen den 23

libyschen Behörden und den Schmuggelban- Macht steht. Und wir haben Macht! Als Konsu- den alles andere als klar. „Europäische Regie- mentinnen und Konsumenten. Als Unterneh- rungen und Institutionen sagen immer wieder, men, die in aller Welt produzieren. Als Poli- dass sie sich für das Ende der willkürlichen In- tik-Gestaltende großer Wirtschaftsmächte.“ haftierung von Flüchtlingen einsetzen, aber sie haben keine entscheidenden Maßnahmen Er zitiert in der Folge zustimmend die Forde- ergriffen, um dies zu gewährleisten“, erklärt rung von Kardinal Frings, denen ins Gewissen Matteo de Bellis von Amnesty International. zu reden, die die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse bestimmen. All das Europäische Politiker reden wie Dr. Jekyll und ist ehrenvoll, Minister Jekyll formuliert einen handeln wie Mr. Hyde. Der deutsche Entwick- klaren ethischen Auftrag, den ein jeder von uns lungshilfeminister Gerd Müller etwa entwirft in emphatischen Momenten empfindet. Meine immer wieder die große Weltrettung, doch am Tochter lernte in der Schule, dass ein wohlha- Ende seines Amtstages ist wenig Gutes pas- bender Schweizer so viel verbraucht wie ein siert. Der Minister möchte, dass die westlichen ganzes afrikanisches Dorf. Wären wir auf einem Gesellschaften ihren Lebensstil grundlegend Floss, würde ein solches parasitäres, asoziales ändern: „Wir dürfen unseren Wohlstand nicht Verhalten nicht geduldet werden. länger auf Sklaven- und Kinderarbeit und der Ausbeutung der Umwelt gründen.“ In seinem Doch die politische Praxis sieht anders aus. In allen internationalen Gremien wird eine not- wendige Neugestaltung des globalisierten Wirtschafts- und Finanzsystems verhindert. Wären wir auf einem Seit vier Jahrzehnten wird auf verschiedenen Floss, würde ein solches administrativen Ebenen der Vereinten Natio- parasitäres, asoziales nen versucht, wirtschaftliches Handeln und Verhalten nicht geduldet Menschenrechte miteinander zu koppeln und werden. verpflichtende Regeln zu erlassen. Zuletzt ver- öffentlichte die zwischenstaatliche Arbeits- gruppe für Wirtschaft und Menschenrechte (IGWG) vor einem Jahr einen Entwurf eines Ver- Buch „Unfair“ schreibt er: „Wir müssen in einen trags über Wirtschaft und Menschenrechte. Zustand kommen, in dem alle Menschen auf Dieser „Null-Entwurf“ – so genannt, um anzu- dem Planeten in Würde leben können. Es gilt, deuten, dass er vorläufig und veränderlich ist endlich für alle Menschen die Grundbedürfnis- – war das Ergebnis jahrelangen Feilschens un- se nach Nahrung, Wasser, Wohnen und Arbei- ter den Referenten. Nun soll er „diskutiert wer- ten zu befriedigen, was für die Industrieländer, den“, ein Euphemismus für die Betäubung al- die sich diesen Wohlstand bereits erarbeitet ler strengen und rechtsverbindlichen Regeln haben, bedeutet, neu teilen lernen zu müssen. hinsichtlich des oft brutalen und fast immer Ein weiteres Wachstum auf Kosten anderer exploitativen Vorgehens internationaler Kon- darf und wird es auf Dauer nicht geben.“ In ei- zerne in ärmeren Ländern. ner Festrede zu Ehren des katholischen Hilfs- werks Misereor vor einem Jahr erklärte er: „‘Ich Zugleich scheiterten auch die Bemühungen erbarme mich’ muss heute heißen ‘Ich über- des globalen Südens, in der von der OECD do- nehme Verantwortung’ für das, was in meiner minierten internationalen Steuerpolitik-Kom- 24

mission aufgenommen zu werden, am Veto und ihre Geschäftsmodelle auf einen nachhal- des Nordens, auch Deutschlands. Das wäre der tigen Kurs anpassen. Diese alte Idee hat nur Weg gewesen, um die fiskalischen Möglichkei- einen Nachteil: Sie funktioniert nicht. ten ärmerer Länder über regulative Maßnahmen auf internationaler Ebene, z.B. die Schließung In der Landwirtschaft tobt sich Mr. Hyde be- von Steueroasen, die Bekämpfung von Steuer- sonders aus. Obwohl der jüngste Weltagrar- hinterziehung und des Wettlaufs um Steu- bericht ein radikal anderes Landwirtschafts- erdumping, zu erhöhen. Noch vor zwei Jahr- modell fordert, forcieren die EU und die zehnten war der Schuldenschnitt für die mächtigsten Mitgliedsstaaten weiterhin den ärmsten Länder ein viel beachtetes politisches Thema. Es sprach alles für die Abschreibung der Schulden der Entwicklungsländer außer der eigenen Gier und Selbstsucht. Heute wer- Bekanntlich endet die den die eigenen Vorteile mit Klauen und Kral- Geschichte von Dr. Jekyll len verteidigt. Als der Zyklon Idai neulich Teile und Mr. Hyde schlecht. Mosambiks zerstörte, stießen die herzzerrei- ßenden Bitten um Schuldenerlass auf taube Ohren. Nach Angaben des IWF gehört Mosam- bik zu jenen 35 Staaten, die sich in einer exis- Ausbau der industriellen Landwirtschaft samt tentiellen Schuldenkrise befinden: Sie sind mit dem massiven Einsatz von Düngemitteln, Zahlungen im Verzug und nicht in der Lage, Pestiziden und lizensiertem Industriesaatgut. ausstehende Kredite zu bedienen. Dies dient vor allem den Profitinteressen der beteiligten Agrarkonzerne. Nachhaltige ag- Wenn es um Geld geht, um „unseren“ Wohl- rarökologische Anbauverfahren werden dage- stand, reckt Mr. Hyde sein hässliches Haupt gen kaum berücksichtigt. und sabotiert den Kampf um Menschenwürde und gutes Leben für alle. Statt verpflichtender Man könnte sich ob dieser tiefen Schizophre- Regeln setzt die EU und die deutsche Regie- nie die Haare raufen, aber es gibt auch Hoff- rung (auch Minister Müller) auf freiwillige Initi- nung. Ende des 18. Jahrhunderts war die Skla- ativen bei Umwelt- und Sozialstandards. Neh- verei so selbstverständlich wie heute die men wir das Beispiel Palmöl. Vor einem Jahr Container-Schifffahrt. Als in England kleine fuhr ich zwei geschlagene Stunden durch den Gruppen die Sklaverei infrage stellten, wurde Norden Borneos, zu beiden Seiten der Straße ihr ethisches Bekenntnis abgetan, denn der nur Ölpalmen, soweit das Auge reichte, wo transatlantische Sklavenhandel war für Groß- noch vor einer Generation Dschungel erblühte. britannien sehr profitabel. Er sicherte Ar- Der Anblick: chemisch gedüngte Monokultur, beitsplätze, er ermöglichte Vermögen, er ga- Wachstum in Richtung Tod (nach zwei Jahr- rantierte Konsumgüter. Er war daher zehnten sind die Böden ausgelaugt). In der gerechtfertigt. Genauso wie heutzutage die „Amsterdamer Erklärung“ wird nun angeregt, eklatante soziale Ungleichheit und die Um- dass die für die beispiellose Naturzerstörung weltzerstörung. Die Argumente Mr. Hydes sind seit Jahrzehnten mitverantwortlichen Han- von erstaunlicher Kontinuität. Und doch kam dels-, Agrar- und Ernährungskonzerne sich es nach einem fünfzigjährigen politischen freiwillig im Rahmen von Multi-Stakeholder- Kampf zu einer Abschaffung der Sklaverei in Plattformen auf strengere Standards einlassen Europa. 25

Auch das ist Teil der europäischen Tradition. In seiner eindringlichen Anklage „Crisis in Civiliz- ation“ gegen die britische Herrschaft in Indien bemühte sich der Dichter Rabindranath Tago- re, zwischen Widerstand gegen Imperialismus und Ablehnung westlicher Zivilisation zu un- terscheiden. Einerseits ersticke Indien „unter Zihnioglu / POOL AFP Foto: Kamil dem Eigengewicht der britischen Regierung“, Angela Merkel und Jean-Claude Juncker. andererseits dürfe es nie vergessen, was es durch Shakespeares Drama und Byrons Poesie und vor allem „den großherzigen Liberalismus Merkel vor Gericht? der englischen Politik des 19. Jahrhunderts“ Eine Klage in Den Haag wegen der gewonnen habe. Die Tragödie bestünde darin, Toten im Mittelmeer dass „das Beste in ihrer eigenen Zivilisation, die Wahrung der Würde menschlicher Bezie- So eine klare Sprache findet sich selten. hungen, bei den Regierungsgeschäften keine Der israelische Anwalt Omer Shatz und sein Rolle spielt“. französischer Kollege Juan Branco haben Klage vor dem Internationalen Strafge- Bekanntlich endet die Geschichte von Dr. richtshof in Den Haag gegen europäische Jekyll und Mr. Hyde schlecht. Bemerkenswert, Politikerinnen und Politiker erhoben. Ein wie genau Robert Louis Stevenson, der weit „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ sei gereiste Schotte, Europas doppeltes Wesen -er die EU-Politik. Die Toten im Mittelmeer, so fasst hat: „Zuzeiten stand Henry Jekyll ent- Shatz in einem Zeit-Interview, „sind fester setzt vor den Taten Edward Hydes. Doch unter- Bestandteil des Plans, die Migrationsströ- lag diese Situation nicht den gewöhnlichen me aus Afrika einzudämmen. Diese Politik Gesetzen, und die Stimme des Gewissens wur- wurde in den letzten fünf Jahren vorsätzlich de heimtückisch zum Schweigen gebracht. entworfen und umgesetzt.“ Schließlich war es Hyde, und Hyde allein, der schuldig war. Jekyll wurde deshalb nicht Beweise? Angela Merkel wisse über die Zu- schlechter, er erwachte stets wieder – an- stände in Libyen sehr genau Bescheid. 2017 scheinend unverändert – mit seinen guten Ei- habe sie eine Nachricht eines deutschen genschaften und beeilte sich, wo es möglich Botschafters aus der Region erhalten, in war, das wiedergutzumachen, was Hyde Böses der er diese Lager wortwörtlich mit den getan hatte. Dadurch schläferte er sein Gewis- „Konzentrationslagern der Nationalsozia- sen ein. listen“ verglich. Drei Tage später habe Mer- kel das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und Libyen unterzeichnet, das unter Der Schriftsteller Ilija Trojanow ist Mitglied des Kuratoriums der stif- anderem die Rückführung von Migrant*in- tung medico international. Mit nen nach Libyen regelt. Auf die Bemerkung, Thomas Gebauer hat er medico- dass man 300 Menschen aus libyschen La- Projekte im globalen Süden be- sucht und das Buch „Hilfe? Hilfe! gern gerettet habe, antwortet Shatz : „Aber Wege aus der globalen Krise“ ge- was ist mit den anderen rund 40.000 Men- schrieben. schen, die auf dem Mittelmeer abgefangen und in die Lager gebracht wurden?“ 26 Projekte Projekti-

Grenzüberschreitend onen Transborder-Camp: Austausch und Strategieentwicklung

Auf einer Stellwand, groß wie ein Fußballtor, markieren farbige Punkte, wo überall Initiativen und Organisationen der Transborder-Bewegung für die Verteidigung von Freizügigkeit eintreten: von Mauretanien über Afghanistan bis nach Nordengland. Aus diesem Kontext sind im Juli 2019 rund 500 Aktivist*innen bei Nantes zu ei- nem Transborder-Camp zusammengekommen, darunter auch zahlreiche medico-Partner*in- nen. Deutlich wurde, wie wichtig der Austausch über die vielfältigen Flucht- und Migrationsbe- wegungen weltweit und unterschiedliche loka- le Erfahrungen für Strategien zur Mobilisierung von Widerstand ist. Und während viele Gruppen in ihrem Engagement vor Ort auf sich alleine gestellt sind, macht das Camp erlebbar, dass sie Teil eines grenzüberschreitenden Netzwer- kes sind. Neben aller Analyse und Strategieen- twicklung ist diese Erfahrung bedeutsam: Der Einsatz für die Rechte von Flüchtenden und Migrierenden hat es aktuell nirgendwo leicht.

Spendenstichwort: Flucht und Migration 27 Foto: NAPAD

Mauern überwinden Die WHO Watchers und die globale Gesundheitspolitik

Wenn es nicht um Ebola-Ausbrüche oder den medico-Partner NAPAD hilft auch dort, wo andere sich Streit um Agrargifte geht, interessieren sich nicht hinwagen. meist nur Expert*innen für die Arbeit der Welt- gesundheitsorganisation. Von dem, was in der multilateralen Arena in Genf debattiert wird, dringt für gewöhnlich wenig nach außen – und Dürre Normalität noch weniger gelangen kritische Perspektiven Somalia: Wasserversorgung sichern hinein. Diese unsichtbaren Mauern versucht das von medico mitgetragene People‘s Health Bereits 2017 regnete es in Somalia so wenig, Movement hartnäckig zu überwinden. Seit 2011 dass sich eine katastrophale Hungersnot ab- hat die Basisgesundheitsbewegung ihre Prä- zeichnete. Massive internationale und lokale senz bei den jährlichen wichtigen Foren der Hilfe verhinderte das Schlimmste. Doch zwei WHO, dem Exekutivrat und der Weltgesund- weitere trockene Jahre lassen die Dürre zur heitsversammlung, verstärkt: Eine hochmo- bedrohlichen Normalität werden. Um die Fol- tivierte Gruppe meist junger Gesundheitsak- gen abzuwenden und einer vom Klimawan- tivist*innen aus aller Welt, die WHO Watchers, del geprägten Zukunft zu begegnen, setzt die bereitet sich intensiv vor und bringt – in dem langjährige medico-Partnerorganisation No- begrenzten Rahmen, der der Zivilgesellschaft madic Association for Peace and Development eingeräumt wird – kritische Stellungnahmen (NAPAD), gefördert vom Auswärtigen Amt und ein. Wichtiger noch: Indem sie die Debatten medico, auf die Autonomie der Dörfer und Fa- in Echtzeit an einen großen Kreis von Interes- milien. So werden an Brunnen alte Dieselgene- sierten vermittelt, sorgt sie für Transparenz. Im ratoren durch moderne Solaranlagen ersetzt, Mai 2019 hat medico die Teilnahme der Jour- was die kollektive Wasserversorgung sicherer nalistin Maíra Mathias von der brasilianischen macht. Die Wasser-Komitees der Dörfer, die NA- Partnerorganisation Outras Palavras ermög- PAD begleitet, kümmern sich um die Instand- licht. Verbindungen wie hier zwischen einem haltung. Gleichzeitig erhalten bedürftige Fami- wichtigen Debattenportal für Gegenöffentlich- lien Unterstützung per „Mobile Money“. Durch keit in Brasilien und dem PHM zu stärken, ist Bargeld-Transfers auf Mobiltelefone können sie zentral. Denn, so Maíra, der Druck für eine gute selber entscheiden, was für sie das Wichtigste Gesundheitspolitik muss in den Mitgliedslän- ist – seien es Nahrungsmittel, Arztkosten oder dern aufgebaut werden, damit er bis nach Genf Futter für die Tiere. Denn nicht alle haben die dringen kann: Globale Gesundheit beginnt zu gleichen Bedürfnisse, aber alle haben das glei- Hause. che Recht auf ein Leben in Würde.

Spendenstichwort: Gesundheit Spendenstichwort: Südostafrika 28 Haltloses

Geröll Alle Fotos: medico

Zu einem Fluss aus Geröll ist die Lawine erstarrt, die den Ort Copa überrollte. 29

Simbabwe: Wirbelsturm Idai hat die schleichende Katastrophe nur ver- schärft. Besuch in einem zerstörten Dorf. Eine Reportage

Von Anne Jung

Die Wassermassen waren im März 2019 ohne den zerstört. Rund 100 Tage ist das her und Vorwarnung gekommen und hatten Copa über- noch immer sind Menschen in Copa der Erbar- spült. Von den Bergen rauschten Schlammlawi- mungslosigkeit ausgesetzt, irgendwie durchzu- nen über den kleinen Ort hinweg. Mehr als 100 kommen und weiterzumachen. Peter Mutisi ist Häuser wurden fortgerissen oder schwer be- ihr Sprecher. Die Nächte sind kalt, berichtet er, schädigt, Geröll und Felsbrocken haben den die sanitären Anlagen ein einziger Krankheits- wertvollen Ackerboden unter sich begraben. herd. Eine einzige Toilette steht den Menschen Rund drei Monate nach der verheerenden zur Verfügung, In dieser gespenstisch erstarr- Sturmnacht kommt es hier, im bergigen Osten ten Situation ist nichts vorhersehbar. Niemand Simbabwes nahe der mosambikanischen Gren- weiß, wann Lebensmittel verteilt werden; mal ze, zu einer Begegnung, die einem epischen kommt Öl, mal Reis, oft gar nichts. Das proviso- Theaterstück gleicht. Die Szenerie: vorne rechts rische Lager könnte jederzeit geräumt werden. eine riesige Geröllfläche, unwirklich anmutend Die Perspektivlosigkeit und die Willkür des Staa- wie eine Mondlandschaft; linkerhand ein not- tes münden in Ohnmacht. dürftig errichtetes Zeltlager für die Überleben- den. Es treten auf: Überlebende der Katastro- phe und der Sprecher des Lagers, eine Welche Zukunft? Regierungsbeamtin und Mitarbeiter*innen von Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen aus Andere Dorfbewohner*innen pflichten Peter Deutschland und Simbabwe. Mutisi bei und ergänzen. Nicht einmal die psy- chosoziale Versorgung für die oft schwer trau- Als erstes ergreift Peter Mutisi das Wort. Er matisierten Menschen, die ohnmächtig dem spricht ruhig und klar, als könnte die Präzision Verlust ihrer Liebsten zuschauen mussten, der Beschreibung ihm etwas von dem Halt zu- trägt dazu bei, wieder Vertrauen gewinnen zu rückgeben, der in der Katastrophennacht vor können, im Gegenteil: „Fast jedes Mal kommt seinen Augen fortgeschwemmt wurde. Er hat jemand Neues“, berichtet eine der Überleben- zusehen müssen, wie seine Frau und zwei sei- den. „Immer wieder müssen wir von vorne über ner drei Kinder sich nicht mehr an dem Seil hal- die schlimmen Ereignisse sprechen.“ Die Unbe- ten konnten, mit dem die Dorfbewohner*innen rechenbarkeit des täglichen Überlebens- versuchten sich zu retten. Kurz darauf seien kampfes paart sich mit der Unsicherheit, die auch sein Haus und die Häuser seiner Verwand- durch die Katastrophe ausgelöst wurde. Wie die ten, Nachbar*innen und Freund*innen in den Menschen sich in Zukunft schützen können? Fluten verschwunden. Auch die Schulen wur- Wie es weitergehen oder gar besser werden 30

kann? Hierauf gibt es keine Antwort. Nach den Fluten sind die Menschen längst wieder der Tro- ckenheit ausgesetzt. In Simbabwe schlägt der Klimawandel schon seit Jahren in Form fortge- setzter Dürre zu, nur war diese keine Meldung in den Medien wert. 2019 ist das regenärmste Jahr seit 40 Jahren. Idai hat nun auch noch die weni- gen verbliebenen Vorräte mit sich gerissen und Saatgut zerstört. Die leise Katastrophe der Hun- gersnot wird schwer aufzuhalten sein.

Tafadzwanashe Nkrumah und Edgar Mutasa, Peter Mutisi (re.) hat seine Frau und zwei seiner drei Kinder zwei Mitglieder der medico-Partnerorganisation verloren. Community Working Group on Health (CWGH) treten zu der Gruppe um Peter Mutisi hinzu, ma- chen sich Notizen und hören den Berichten auf- die Arbeit der Hilfsorganisationen zu überwa- merksam zu. Nachdem Idai den Distrikt chen und jedes längere Gespräch zwischen Chimanimani verwüstet hatte, setzt sich die Überlebenden und Hilfsorganisationen zu ver- medico-Partnerorganisation für eine gemein- hindern. In ihrer Empathielosigkeit steht die denahe Nothilfe ein. So hat die CWGH die Vertei- staatliche Repräsentantin in dieser Runde auch lung von Nahrungsmitteln, Solarlampen und stellvertretend für die schwere sozioökonomi- Hygieneartikeln an rund 100 Haushalte in not- sche Krise des Landes und der politischen Elite. dürftigen Camps koordiniert. Systeme zur Was- Die Preissteigerungen für Lebensmittel und seraufbereitung und Moskitonetze haben zur Benzin erschweren nicht nur das Leben eines Cholera- und Malariaprävention beigetragen. Großteils der Bevölkerung – selbst die Ärztinnen Besonders wichtig für die Menschen seien Töpfe und Ärzte des Landes geraten in ökonomische gewesen, weil sie dadurch wieder selbst Essen Notlage –, sie erschweren auch die Hilfstätig- zubereiten konnten. Handeln können, statt -er keit für die Überlebenden des Wirbelsturms. Auf dulden müssen – darum geht es. soziale Proteste reagiert die Regierung wie jüngst in der Hauptstadt Harare mit dem Einsatz Eine Beamtin der Regierung aus der Provinz- von Wasserwerfern und Tränengas. hauptstadt Mutare steht auch in der Runde und strahlt aggressive Teilnahmslosigkeit aus. Nur Doch nicht alle Vertreter*innen des Staates be- wenn ihr Handy klingelt oder sie angeregt auf gegnen dem Krisengeschehen des Landes so ihrem Telefon tippt, kommt Leben in ihr Gesicht. gleichmütig. Es gab diesen Moment in dem Von einem Staat, der nach einem kurzen Früh- ebenfalls von Idai betroffenen Bergort Chimani- ling der Post-Mugabe-Ära längst wieder zum mani, als der zuständige District Officer des- Or politischen Alltag der Einschüchterung zurück- tes sich die Zukunft der Überlebenden, die auch gekehrt ist und der einen Großteil der Staatsein- hier in Zeltlagern leben, ausmalt. Es werde gute nahmen für die Erhaltung des eigenen Machtap- Häuser geben, versichert er, Schulen, ein Kran- parats aufwendet, ist in diesen Zeiten nichts kenhaus. Die Toiletten werden Wasserspülung Gutes zu erwarten. Tatsächlich ist die Regie- haben. Er selbst wusste in diesem Moment, rungsvertreterin nur aus einem einzigen Grund dass dies niemals eintreten wird, dennoch war nach Copa gekommen: um mit kritischen Ohren dies ein wahrhaftiger Moment voller Empathie 31

für die Opfer und Verzweiflung über die Ohn- lichkeit bei den Hilfslieferungen bis zur Kontinu- macht der eigenen Handlungsunfähigkeit in ität bei der psychosozialen Unterstützung. Au- dem politischen System. ßerdem müsse das traditionelle System, in dem Verwandte dabei helfen, das Vertrauen in die Welt wiederherzustellen, gestärkt werden. Es Stärke der Gemeinden mobilisieren geht um Auswege aus der Ohnmacht. „Man muss doch die Möglichkeit bekommen, das ei- Zurück in Copa. Von einem Lastwagen werden gene Leben zu gestalten“, sagt Peter Mutisi Kartons voller Reis abgeladen. Gespendet hat zum Abschluss des Gesprächs. sie Strive Masiyiwas, Gründer der Telekommuni- kationsfirma Econet und einer der reichsten Die Community Working Group denkt über die und berühmtesten Menschen Simbabwes. Pri- Katastrophe hinaus. „Es ist fatal“, sagt Itai Ru- vatwirtschaftliche Hilfe wie diese lindert allen- sike, der Direktor der CWGH, „dass die Gemein- falls die Symptome der Bedürftigkeit. An den den bei jeder Choleraepidemie, einem Typhus- Ursachen ändert sie nichts. Genau darauf kom- ausbruch oder durch Idai aus dem Tiefschlaf men Tafadzwanashe Nkrumah und Edgar Muta- geweckt werden.“ Um Katastrophen wie diese sa von der CWGH jetzt zu sprechen. Sie fordern zu verhindern, bedarf es einer grundlegenden die Verantwortung des Staates ein – angesichts Verbesserung der Infrastruktur. Dass diese je- der akuten Krise, aber auch über den Tag hin- doch nur gegen Widerstände durchzusetzen ist, aus. Hierfür setzen sie auf die Mobilisierung von davon zeugt ein Schild im Büro der CWGH. Auf unten, in den Dörfern und Gemeinden. Am Vor- ihm steht: „Eure gebrochenen Versprechen tag war es CWGH gelungen, in Mutare rund 100 bringen uns um.“ Vertreter*innen von Überlebenden der Idai-Ka- tastrophe, aus den Gemeinden und von zivilge- Anne Jung beschäftigt sich seit so sellschaftlichen Initiativen zusammenzubrin- vielen Jahren mit Simbabwe, dass gen. Gemeinsam suchten sie nach Wegen, wie man fast von einer persönlichen sich die Ohnmacht überwinden lässt, und for- Beziehung sprechen kann. Nicht ohne Trauer angesichts des anhal- mulierten Forderungen an die Regierung. tenden Niedergangs.

Humanitäre Organisationen, so der Philosoph Georgio Agamben, können das menschliche Le- ben nur noch in der Figur des nackten Lebens erfassen und unterhalten deshalb gegen ihre medico weitet die Arbeit in Simbabwe aus und Absicht eine geheime Solidarität mit den Kräf- kooperiert mit gemeindebasierten Organisati- ten, die sie bekämpfen sollten. Die Community onen in den betroffenen Regionen, die Wieder- Working Group on Health tut alles dafür, dass aufbauarbeit leisten und die Folgen des Kli- genau das nicht geschieht. „Wir dürfen nicht mawandels und psychosoziale Gesundheit zulassen, dass die Stimmen der Betroffenen in thematisieren. In dem massiv von Idai getrof- Notfallsituationen mundtot gemacht werden“, fenen Mosambik stärken die Projektpart- hatte die CWGH schon bei dem Treffen in Mutare ner*innen die kleinbäuerlichen Gemeinden bei eingefordert. der Durchsetzung von Landrechten und setzen sich für eine gerechte Ressourcennutzung ein. Peter Mutisi macht noch einmal deutlich, was die Menschen in Copa brauchen, von Verläss- Spendenstichwort: Wirbelstürme Südostafrika 32 Nicht mehr stumm Die palästinensische Flüchtlingsgemeinde im Libanon hat ihre politische Kraft wiederentdeckt

Von Zafer Al Khateb

Seit 70 Jahren leben Hunderttausende palästi- Palästinenser*innen mit einer neuartigen Vitali- nensische Geflüchtete im Libanon entrechtet tät den öffentlichen Raum, die Straße, zurück- in Lagern und abgezirkelten Stadtteilen, aus- erobert und das Programm einer politischen gegrenzt von der libanesischen Mehrheitsge- Bewegung entwickelt, die alle sozialen Schich- sellschaft. Ihre Lage ist der beredte Ausdruck ten miteinbezieht. Im Wesentlichen geht es da- eines ungelösten israelisch-palästinensischen rum, dass die palästinensischen Geflüchteten Konflikts, in dem ihre Situation gar nicht be- ihr Recht auf ein Leben in Würde und unter dem rücksichtigt wird wie im Oslo-Abkommen, oder Dach der Menschenrechte einfordern. Der Pro- lediglich Spielball in vermeintlich übergeord- test geht mittlerweile in die fünfte Woche. Die neten Interessenspolitiken ist. Die Verzweif- lung äußerte sich durch Jugendgangs, die die Lager terrorisierten. Nun aber gibt es einen Sie beansprucht Rechte Aufstand der Zivilgesellschaft. Das Recht auf für sich selbst in ihrer Rückkehr spielt dabei nach wie vor eine Rolle. jetzigen Gegenwart. Denn die Nakba, also die Vertreibung der Pa- lästinenser*innen aus Israel, ist Ursache ihres Flüchtlingsdaseins und damit auch Bestand- teil ihrer kulturellen Identität. In dem Maße, Rede ist von einer Intifada für zivile und soziale wie sie jetzt auf ihre Bürger*innenrechte po- Rechte der Palästinenser*innen. Dem Protest chen, wird die Forderung nach Rückkehr vor gelingt es, verschiedene politische und soziale allen Dingen eine nach der Anerkennung ihrer Gruppen zusammenzuführen. Er äußert sich leidvollen Geschichte. durch zivilen Ungehorsam wie Boykott der liba- nesischen Läden. Gleichzeitig erfährt er Solida- rität in der libanesischen Zivilgesellschaft. Plötzlich und ohne Vorwarnung sind die Palästi- nenserinnen und Palästinenser im Libanon aus Diesen Aufbruch, aus einem Zustand der Frust- ihrer anhaltenden Stummheit erwacht und sind ration und des Pessimismus, hin zu einer Bewe- politisch aktiv geworden. Und das just in einem gung für Gerechtigkeit und Freiheit herunterzu- Moment, in dem viele Menschen im Libanon spielen oder ihn gar gegen vermeintlich über- eher dazu neigen, sich aus öffentlichen Angele- geordnete palästinensische Interessen oder genheiten herauszuhalten. In einer Zeit allge- solche des libanesischen Staates zu stellen, meiner Zurückgezogenheit haben sich also die wäre ein großer Fehler. Natürlich kann man mit 33

kleinen Zugeständnissen und Symbolpolitik die schen den palästinensischen Bewohner*innen Lage wieder beruhigen. (Zum Beispiel erlauben des Libanons und der Politik der PA. Dieser darf die Behörden den Palästinenser*innen plötz- nicht auf Kosten der gemeinsamen politischen lich, sich bei der Einreise am Flughafen am Ziele auch gegenüber Israel gehen. Aber er Schalter für libanesischen Bürger*innen und kann auch nicht zu Lasten der im Libanon le- nicht mehr an dem für Ausländer*innen einzu- benden Geflüchteten gehen. reihen. Red.) Aber nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist die Tatsache, dass die palästinen- Schon jetzt ist der palästinensische Aufstand sischen Bewohner*innen des Libanon begrei- erfolgreich. Er hat die geplante massive Ein- fen, in welcher dramatischen Lage sie sich be- schränkung palästinensischer Arbeiterrechte finden. erst einmal gestoppt. Erstmals gibt es eine Ein- heit unterschiedlicher sozialer und politischer Die palästinensischen Geflüchteten, die im Li- Bewegungen, die dadurch auch ein neues Be- banon zumeist in vierter Generation leben, sind wusstsein ihrer Handlungsmöglichkeiten ge- sozial extrem marginalisiert. Sie haben keine wonnen haben. Mehr noch: Zum ersten Mal lie- Rechte und werden durch Gesetze, staatliche gen die palästinensischen Angelegenheiten im Prozeduren, Polizei, Zoll und autoritäre Traditio- Libanon nicht in den Händen des Sicherheits- nen, durch all das, was ich als tiefen Staat be- dienstes oder der Armee, sondern in denen des zeichne, in ihrem täglichen Leben systematisch Ministerrats. Wir sind kein Sicherheitsproblem. behindert. Zwei Drittel der Geflüchteten, so das Es geht um unsere bürgerlichen Rechte. zuständige UN-Komitee UNWRA, lebt unterhalb der Armutsgrenze. Dass das noch immer so ist, Zafer Al Khateb ist Präsident des liegt auch daran, dass die politischen Vertre- medico-Partners Nashet, der im ter*innen der Geflüchteten insbesondere nach Flüchtlingslager Ein El Hilweh seit Ende des libanesischen Bürgerkrieges auf frag- Jahrzehnten Maßnahmen zur politi- schen Bildung von Jugendlichen würdige Weise Rücksicht auf das austarierte li- und Frauen durchführt. banesische Gleichgewicht aus den unter- schiedlichen religiösen und ethnischen Gruppen und deren Prioritäten genommen hat. Die Inter- essen der palästinensischen Gesellschaft ha- ben sie hintenangestellt. Als das Oslo-Abkommen 1993 zwischen der Unterdessen hat sich die Sicht auf den Libanon PLO und Israel verabschiedet wurde, blieb die verändert. Die palästinensische Gemeinde im Situation der Geflüchteten im Libanon, unbe- Libanon will nicht mehr nur die Souveränität des rücksichtigt. medico entschied damals entge- Landes achten und gleichzeitig die eigene kul- gen dem Hilfetrend, der sich auf die besetzten turelle palästinensische Identität bewahren, zu Gebiete konzentrierte, die Arbeit im Libanon der auch die politische Forderung nach einem auszuweiten. Seither unterstützen wir Nashet Recht auf Rückkehr gehört. Sie beansprucht in Ein El-Hilweh. Gerade arbeiten wir an der auch Rechte für sich selbst in ihrer jetzigen Ge- Ausweitung der Nahrungsmittelsouveränität genwart. Diesen Wechsel hat das offizielle Pa- der Bewohner*innen durch Dachgärten, weil lästina, repräsentiert durch die palästinensi- das Pilotprojekt ein schlagender Erfolg war. sche Autonomiebehörde (PA), bislang nicht mitvollzogen. Es gibt also einen Konflikt zwi- Spendenstichwort: Libanon Falsch gegründete Republiken

Nach den gescheiterten Versuchen in Lateinamerika, mit Ressourcenabbau umzuverteilen und auf eine Demokra- tisierung der Staatlichkeit zu hof- fen, stellen sich die Fragen nach Emanzipation neu. Die Antworten kön- nen unterschiedlicher nicht sein: eine heterogene Frauenbewegung im Cono Sur, Migration aus der Gegen- wirklichkeit in Zentralamerika, eine Umweltbewegung wider den Freihandel à la TTIP. Falsch gegründete Republiken Foto: Gabriel Sotelo / NurPhoto

Das grüne Halstuch als neues Symbol des Feminismus: Demonstration für das Recht auf Abtreibung vor dem argentini- schen Parlament. 36 Häretikerin des Patriarchats

Ein Gespräch mit Rita Segato über Parastaatlich- keit, das Scheitern progressiver Regierungen und den feministischen Aufbruch in Lateinamerika

Feministische Bewegungen in Lateinamerika sind in den letzten Jahren weithin sicht- und hörbar geworden, fast wie eine Explosion an Gedanken und Wünschen, die sich lange an- gesammelt haben. Woher kommt plötzlich diese Kraft? Ich würde nicht von einem neuen Feminismus sprechen. Die feministische Bewegung in La-

Foto: Beto Monteiro, Secom UnB, CC BY 2.0 CC BY Secom UnB, Foto: Beto Monteiro, teinamerika hat eine 70 Jahre lange Tradition und eine Kontinuität. Es findet eine Akkumula- tion von Erfahrungen und von unterschiedli- chen Formen der Rezeption statt. In allen Län- Die argentinische Anthropologin Rita Segato gehört zu den dern gibt es unzählige Publikationen und NGOs, einflussreichsten lateinamerikanischen politischen Intel- die sich feministisch verstehen. Zum Beispiel lektuellen. Bekannt wurden u.a. ihre Forschungen über Genderfragen und ihre Beziehung zu Rassismus und Koloni- ist auch ein indigener Feminismus entstanden. alitität. Zurzeit beschäftigt sie sich mit einer „Ethik des Un- Ein Wendepunkt waren allerdings die Feminizi- gehorsams“. de, also die systematische Ermordung von Frauen, wie sie unter anderem in der mexikani- Im Juni 2019 fand in Frankfurt die Konferenz schen Grenzstadt Ciudad Juarez stattfinden. „Geographien der Gewalt“ statt. Wissen- Heute erlebt die feministische Bewegung ei- schaftler*innen und Journalist*innen aus La- nen Höhepunkt und sie nimmt sich den öffent- teinamerika, darunter Rita Segato, eröffne- lichen Raum. An den großen Demonstrationen, ten dem Publikum eine Diskurswelt jenseits die gerade überall stattfinden, nehmen vor al- linker Orthodoxien und suchten nach einer len Dingen Hunderttausende Mädchen und emanzipatorischen Perspektive unter den junge Frauen teil. Die Frauenmärsche unter- Bedingungen eines „apokalyptischen Kapita- scheiden sich von anderen politischen De- lismus“. Im Rahmen der Konferenz fand auch monstrationen, weil ein gemeinsamer Raum dieses Interview statt. entsteht, in dem auch körperlicher Kontakt möglich ist und stattfindet. Es wirkt, als wären 37

sie auf einem großen Fest auf der Straße – und konsolidieren. Es handelt sich um eine trotz eines zum Teil massiven Polizeiaufgebo- männliche Bruderschaft, die sich über die Ver- tes. Die Interviews mit jungen Teilnehmerinnen gewaltigung stärkt und über das weibliche Op- haben mich perplex gemacht: Sie sind so ge- fer konsolidiert. Die Vergewaltigungs-, Ver- scheit und selbstbewusst. Sie sind, so scheint stümmelungs- und Mordakte gegen unbe- es mir, in ein anderes geschlechtliches Selbst- kannte Frauen lassen sich nicht damit begrün- verständnis hinein geboren worden. Sie haben den, dass die Frauen selbstbewusster und -or ein Verständnis von Geschlecht, das viel grö- ganisierter sind. Wenn Frauen in der anonymen Ordnung der Straße vergewaltigt und ermordet werden, ist das nicht als Reaktion auf den Fe- minismus zu erklären. Maskulinität ist Syno- Die jungen Frauen stellen nym von Potenz. Um ein Mann zu sein, muss durch ihr Sein die patriar- man Potenzbeweise liefern, sei es die sexuel- chale Ordnung und damit alle le, die kriegerische, politische oder ökonomi- Hierarchien in Frage. sche oder auch die intellektuelle Potenz. Die Suche nach Ausdruck von männlicher Potenz verschärft sich mit der Prekarisierung des Le- bens als eine Konsequenz des Neoliberalis- ßere Autonomie und Selbstbestimmung über mus. Diese Prekarisierung des Lebens führt ihren Körper zulässt. Für uns waren diese The- dazu, dass sich die maskuline Potenz über Ge- men ein zu verwirklichendes Programm, für sie walt äußert. Denn das Mandat der Maskulinität sind sie Wirklichkeit. Das ist eine Revolution, verpflichtet zum Töten. Wenn sich die Männer die schon stattgefunden hat. Und das erklärt von dieser Maskulinität befreien wollen, brau- auch, warum die fundamentalistischen Teile chen sie die Frauenbewegung. der katholischen und evangelischen Kirchen mit allen Mitteln versuchen, diese Entwicklung Ersetzen die Frauenbewegung und der Kampf aufzuhalten und umzukehren: Diese jungen um die Pluralität der Lebensentwürfe die Idee Frauen stellen durch ihr Sein die patriarchale vom Klassenkampf als emanzipatorische Idee? Ordnung und damit alle Hierarchien funda- Kann das die Leere füllen, die das Scheitern mental in Frage. Denn das Patriarchat ist die des Marxismus hinterlassen hat? erste Pädagogik für hierarchische Beziehun- Ich bin politisch im Marxismus aufgewachsen. gen und Verhältnisse. Aber wir sind sehr weit entfernt von der Epo- che, in der sich der Kapitalismus aus dem Wi- Könnte man diese Veränderungen nicht auch derspruch zwischen Kapital und Arbeit und aus als Ergebnis einer Liberalisierung verstehen, der Produktion von Mehrwert erklärte. Die mar- die der Individualisierung durch die Urbani- xistische Auffassung von der Kapitalakkumu- sierung geschuldet ist? lation über die Mehrwertproduktion trifft auf Auf keinen Fall. An den Frauendemonstratio- eine Zeit zu, in der das auf legalem Wege ge- nen nehmen unterschiedliche Schichten teil, schah. Heute aber findet ein großer Teil der Ka- die Mittelschicht ebenso wie die schwarze pitalakkumulation in der zweiten Realität statt: Bäuerin. Was es allerdings gibt, ist eine ver- Jedes große Unternehmen steht mit einem schärfte Form männlicher Gewalt. Das zeigt Fuß in der Illegalität in irgendeinem Land der sich in den Feminiziden und in den Banden, die Welt, wo das möglich ist. Politikvorstellungen, die kooperative männliche Ordnung stärken die ihren Schwerpunkt in den Arbeiterkämpfen 38

sehen, reflektieren diese neue Wirklichkeit Hand. Zwei Tage später vergewaltigt er ein nicht. Die Marx´sche Kritik an der entfremde- zehnjähriges Mädchen, das unter seinem ten Arbeit hingegen benutze ich ständig. Denn Schutz stand. Tschüss Revolution, Tschüss sie erklärt, wie der Körper zur Sache wird. Die- Idee vom revolutionären Helden. Leider ist der se Verdinglichung des Lebens ist das Problem revolutionäre Tempel im Allgemeinen sehr ma- der Gegenwart. Am deutlichsten wird das in chistisch. Auf einem Markt in El Salvador fand der Prostitution, was nicht immer so war. Heu- ich kürzlich ein Hemd, auf dem Farabundo te befinden sich die Bordelle nah an den Orten Marti, Sandino, Erzbischof Romero und Che des Extraktivismus, den Erdölfeldern oder den Guevara abgebildet waren. Ich wollte es kau- fen, aber eine Salvadorianerin schrie mich an, ich solle das lassen. Erst da habe ich mir ver- gegenwärtigt, wie sehr die Revolutionen das Ich glaube nicht, dass der Patriarchat verinnerlicht haben. Wir haben das Klassenkampf der Motor der revolutionäre Patriarchat mit der Muttermilch Geschichte ist. Der antipat- eingesogen. Erst jetzt haben wir das Vokabu- riarchale ist es sehr wohl. lar, um darüber zu sprechen. Bislang war das Häresie.

In welchem Verhältnis steht das Patriarchat Minen. Dort wird eine Pädagogik der Grausam- zum doppelten Staat, ein Begriff, mit dem keit gelehrt. Denn dort lernt man, den Körper Sie lateinamerikanische Staatlichkeit be- und das Leben als Sache, als Ware zu sehen. schreiben? Da gehe ich mit Marx. Ich glaube nicht, dass Die Theorie vom doppelten Staat geht auf den der Klassenkampf der Motor der Geschichte deutsch-amerikanischen Juristen Ernst Fraen- ist. Der antipatriarchale Kampf ist es aber sehr kel zurück, der damit die nationalsozialisti- wohl. sche Staatlichkeit beschrieb. Gemeint ist da- mit, dass es zwei Legalitäten, zwei Gerichts- Nicht nur die lateinamerikanische Linke hat barkeiten, zwei Wirklichkeiten gibt. Dass es geglaubt, man müsse nur die Staatsmacht zum Beispiel zwei Arten von Recht gibt: eines erringen und Dinge werden sich grundlegend für „Verdächtige“ und eines für „Unverdächti- ändern. Was lehrt uns die jüngste Erfahrung ge“. Unsere Staaten haben nie den kolonialen linker Regierungen in Lateinamerika? Blick auf diejenigen aufgegeben, die sie ver- Man muss unbedingt aus der Geschichte ler- walten. Was aber ist die wichtigste Charakte- nen. Und man kann keine Transformation hin ristik einer kolonialen Administration? Eine zu einer Gesellschaft, die für mehr Menschen Kolonialadministration verwaltet das Leben, lebenswert ist, erreichen, wenn das Patriar- das Territorium, die Ressourcen für ein Wohl chat, das den Kern dieser Staaten ausmacht, außerhalb dieses Territoriums. Die kreolischen nicht angerührt wird. Denken Sie nur an eine Eliten haben diese Exterritorialität der Interes- Figur wie Ortega. Ich war zum ersten Jahrestag sen in Bezug auf die Völker, die Räume und der sandinistischen Revolution in Nicaragua. Ressourcen seither erhalten. So gibt es trotz Ich sah, wie die Helden der Revolution von der der Unabhängigkeit eine Kontinuität der Kolo- Bühne gingen: Borge oder Ortega. Ortega war nialität. Diese Republiken sind falsch gegrün- angezogen wie Fidel. Von oben bis unten im dete Republiken. Die einheimischen Eliten ha- olivgrünen Militärstil, mit einer Waffe in der ben Institutionen geschaffen, die die Aneig- 39

nung von Territorien zum Ziel hatten. Daraus auch den apokalyptischen Kapitalismus zu ist eine parastaatliche Institutionalisierung beschreiben, benutzen sie das Wort Dueñi- entstanden, um das Leben zu kontrollieren. Es dad. Was meinen Sie damit? gibt eine Paraökonomie und immer größere Wir leben in einer Welt der Besitzenden. Beson- Teile unserer Bevölkerung werden von einem ders interessant ist nicht die Kluft, sondern der Parastaat kontrolliert: durch die Parapolizei Rhythmus, in dem die Welt in Besitz verwan- und Paramilitärs, durch eine Paralegalität, die delt wird. Denken wir nur an das vergangene ganz andere Regeln verfolgt als der Rechts- Jahr, als Bayer Monsanto gekauft hat. Oder die staat, der eine Fiktion ist, und durch eine Pa- Küste in Chile: 4.000 Kilometer gehören nicht ranormativität, die andere Regeln für das auf- den Millionen von Chilen*innen, sondern neun stellt, was man tun darf und was nicht. Auch Familien. Das gesamte kultivierte Territorium die Frauenmorde in Ciudad Juarez fanden im der USA von gigantischer Größe gehört 10 Pro- zweiten Staat statt. In Guatemala, Honduras zent der Bevölkerung. Jedes Jahr wird die Zahl und El Salvador würde ich von einer komplet- der Besitzenden kleiner, aber ihr Besitz größer. ten zweiten Realität sprechen. Millionen von Die Welt der Dueñidad ist ein Territorium des Menschen leben hier in einer Welt, zu der der Parastaats, sie breitet sich mit ihren Tentakeln Staat keinen Zugang hat und in der es trotz- überall aus und äußert sich mit einer willkürli- dem Normen gibt. Die öffentliche Sphäre der chen, beliebigen Gewalt. Das ist eine Gewalt, Parastaatlichkeit ist eine Gegenwirklichkeit. die nicht den Regeln folgt, die wir Staatsbürger Sie hat verschiedene Formen: Die Repression kennen. Es ist eine überdimensionierte Gewalt auf Frauenkörper und zeigt sich im Verschwin- denlassen der 43 Lehramtsstudierenden in Ayotzinapa (Mexiko). Diese Grausamkeit hat Den größten Schrecken kann keinen Sinn und ist nicht die des klassischen man verbreiten, indem man Krieges. Den größten Schrecken kann man extreme Gewalt an einem verbreiten, wenn man extreme Gewalt an ei- unschuldigen Körper voll- nem unschuldigen Körper vollzieht. Die Gewalt zieht. selbst ist eine Botschaft des Besitztums, der Dueñidad, die sagt, dass man fähig ist grau- sam zu handeln. Deshalb ist für mich der anti- patriarchale Kampf der Vektor der Geschichte. im autoritären Staat, die Gewalt der Polizei in den Demokratien, die auch parastaatlich han- Wie reflektieren Sie die Erfahrung mit den delt, zum Beispiel mit den extralegalen Tötun- progressiven und linken Regierungen in La- gen, die organisierte Gewalt, was nicht dassel- teinamerika? be ist wie die Banden. Die Menschen in diesen Ihr Ziel war es, einen Wohlfahrtsstaat zu er- Sphären sind ihr ausgesetzt, den Staat gibt es richten. Dafür gibt es nur zwei Möglichkeiten: scheinbar nicht. Diese Abwesenheit ist jedoch Entweder man entschleunigt den Rhythmus eine Form seiner Präsenz. Das Überlassen der der Akkumulation und der Konzentration des Menschen an die Parastaatlichkeit ist seine Kapitals. Das wurde aber weder in Argentinien Form der Anwesenheit. noch in Brasilien ernsthaft versucht, im Ge- genteil. Oder man veräußert die strategischen Um die Macht und Gegenmacht in den falsch Ressourcen als Waren auf dem globalen Markt. gegründeten Republiken Lateinamerikas, aber Das haben die linken Regierungen gemacht 40

und dabei haben sie kommunale Formen der dienstliche Analytikerin eingesetzt. Eines Ta- Souveränität über das Territorium und über die ges sei sie von einer Kaserne in eine andere Produktion von Nahrungsmitteln, regionale gebracht worden und erlebte auf dem Weg ei- und kommunale Märkte zerstört. Landschaf- nen direkten militärischen Angriff. Da habe sie ten wurden durch Fracking oder ungesicherte begriffen, dass aufgrund ihrer Informationen Überlaufbecken der Minen vergiftet. Funktio- tatsächlich Menschen aus Fleisch und Blut niert hat es nicht. Der Staat ist darauf ausge- sterben, deren Körper leiden, und keine Com- richtet, sich Gemeingut anzueignen, weil er im puterfiguren. Mit ihrer Ausbildung als IT-Spezi- Inneren ein zutiefst kolonialer Staat ist, der alistin, die im Irak nachts arbeitete und tags- sich gerade wieder in einen kolonisierenden über schlief, habe sie keine Vorstellung davon Staat verwandelt. Diesen Staat haben die pro- gehabt, wie der Körper leidet. Sie war program- gressiven Regierungen durch Wahlen zur Ver- miert auf eine psychopathische Persönlich- waltung erhalten. Das politische Territorium keit, also auf eine nicht-empathische Persön- des Staates beherrschen jedoch Allianzen und lichkeit. Sie hat sie überwunden. Das ist für Netzwerke. Die Politik der progressiven Regie- mich die erste Konversion von Chelsea Man- rungen hat sich in enormer Geschwindigkeit ning. Nach dieser Konversion fängt sie an, Un- desideologisiert und ebenfalls in ein Territori- mengen an Geheiminformationen an Wikileaks um von Allianzen verwandelt, aus linken Politi- zu übergeben. Dann wird sie verhaftet und vie- kern wurde ein Netzwerk von Managern und le Jahre in totaler Isolation gehalten. Dort er- Freunden. Verheerend war zudem der soge- lebt sie ihre zweite Konversion und entdeckt nannte demokratische Vertikalismus: In allen ihre Weiblichkeit und vollzieht eine Ge- progressiven Regierungen wurden abweichen- schlechtsumwandlung. Sie ist eine Heldin un- de Meinungen ausgeschlossen, nirgendwo serer Zeit. durften Zweifel geäußert werden. Die Netzwer- ke isolierten sich und hörten auf niemanden Das Interview führte Katja Maurer. mehr. Ich habe lange Jahre in Brasilien gelehrt. Es war traurig mit anzusehen, wie eine Partei Die Auf- und Umbrüche der politi- wie die PT, die eine interessante Mischung aus schen Linken in Lateinamerika sind Bewegung und Partei war, diesen Prozess der ein Thema, das Katja Maurer seit Verwandlung in einen elitären Zirkel vollzog. vielen Jahren journalistisch beglei- tet. Die Sprache Rita Segatos ken- nenzulernen, war für sie wie einen Das Pantheon der Revolution ist leer. Gibt es Schatz zu finden. neue Anwärterinnen oder Anwärter? Eine der großen Figuren des antipatriarchalen Kampfes heute ist für mich Chelsea Manning. Sie erzählte kürzlich in einem Interview mit der New York Times, wie sie als Junge in einer Fa- milie im Nordosten aufwuchs, mit einem Vater, der bei der US-Marine war und anschließend als IT-Fachmann arbeitete. Der überredete den Jungen zur Armee zu gehen, um sich zu „sta- bilisieren“. Die IT-Kenntnisse von Chelsea wa- ren für die Armee von höchstem Interesse und so wurde sie im Irak-Krieg als nachrichten- 41 Eine Foto: REUTERS/Daniel Becerril Region, die nicht zählt

Flucht aus Zentral- amerika

Hunderttausende Menschen sind aus den Ländern des „Triángulo Norte“ vor Gewalt, Korruption und Straflosigkeit geflohen. 42

Solange die Länder Zentralamerikas nichts als Beute ihrer Eliten sind und die USA unter Trump die Lage weiter verschärfen, wird der Exodus aus der Region weitergehen

Von Moritz Krawinkel

In Guatemala wurde gewählt und wie in so vie- Unendlich lange scheint es her, dass mithilfe len Ländern Lateinamerikas hat ein Ultrarechter eines zufällig entdeckten Polizeiarchivs und gewonnen. Alejandro Giammattei steht für den dank der institutionellen Aufbauarbeit von me- „Pakt der Korrupten“, den Parlamentarier*in- dico-Partner*innen eine Aufarbeitung der Bür- nen gegen die Verfolgung durch die Internatio- gerkriegsverbrechen einsetzte und der frühere nale Ermittlungskommission gegen die Straflo- Diktator Efraín Ríos Montt wegen Genozids ver- sigkeit (CICIG) gebildet haben. 2006 hatte eine urteilt werden konnte. Gerechtigkeit für indige- Übereinkunft zwischen den Vereinten Nationen ne Frauen, die über Jahre in einer Kaserne und Guatemala den Weg für die Verfolgung von missbraucht wurden, wie im Fall Sepur Zarco? Schwerverbrechen geebnet. Seitdem ist die Eli- Kaum mehr vorstellbar. Auch sind die Zeiten te des Landes zunehmend in den Fokus der In- vorbei, in denen ein Ex-Präsident und seine Vize ternationalen Ermittlungskommission geraten. wegen Korruption verhaftet werden, wie ge- Ihre Arbeit in Guatemala steht nun endgültig vor schehen im Jahr 2015, und machtvolle Proteste dem Aus. alle relevanten Parteien an den Pranger stell- ten, weil sie von kriminellen Vereinigungen Dass der indigenen Kandidatin Thelma Cabrera nicht zu unterscheiden sind. Dass in den letzten bei den Wahlen mit über zehn Prozent der Stim- Jahren immer wieder Tausende für ein Ende der men ein Achtungserfolg gelang und auch ande- Straflosigkeit auf die Straße gingen und den Eli- re progressive Kandidat*innen ein paar Prozent ten manchen Kompromiss aufzwingen konn- errangen, kann nicht über die Aussichtslosig- ten, hat nicht gereicht für eine grundsätzliche keit der Lage hinwegtäuschen. Die einzige Ge- Veränderung der Spielregeln. Der Staat ist wie in genkandidatin mit echten Erfolgschancen, die den anderen Ländern der Region Beute von Eli- frühere Vorsitzende des Obersten Gerichts Thel- ten, die keine Grenze zwischen Verbrechen und ma Adana, ist im Vorfeld von den Wahlen ausge- Politik kennen. Ein Interesse am Leben und schlossen worden. Das CICIG-Mandat wurde Überleben der Mehrheit haben sie nicht. nach diversen Angriffen aus dem Lager des bis- herigen Präsidenten Jimmy Morales nicht ver- Der neue guatemaltekische Präsident erklärt längert und läuft im September 2019 aus. 2020 zwar öffentlichkeitswirksam seine Ablehnung kann die Regierung außerdem Teile des bislang des Migrationsabkommens mit den USA, das relativ unabhängigen Verfassungsgerichts mit sein Amtsvorgänger Morales hinter dem Rücken ihren Leuten neu besetzen. Auf weitere Erfolge der Öffentlichkeit ausgehandelt hat. Dabei han- in der juristischen Aufarbeitung gegen die Eliten delt es sich aber wohl eher um einen Versuch, ist nicht mehr zu hoffen. mehr Geld für die Erklärung Guatemalas zum 43

„sicheren Drittstaat“ nachzuverhandeln. Die dert. Die Nationale Menschenrechtskommissi- Sache selbst kann getrost als Erpressung be- on CNDH geht von an die 20.000 Menschen aus zeichnet werden: Trump hatte unverhohlen mit Zentralamerika aus, die auf ihrem Weg durch wirtschaftlichen Sanktionen gedroht, sollte das Mexiko jedes Jahr spurlos verschwinden. Abkommen nicht zustande kommen. Die Kon- sequenzen sind obszön: Wer vor der anhalten- Der neue mexikanische Präsident, der ver- den Gewalt, der Armut und der Perspektivlosig- meintlich linke Hoffnungsträger Andrés Manuel keit in Guatemala flieht, kann in Mexiko Asyl López Obrador, verschärft die Lage. Ebenfalls beantragen. Wer vor der anhaltenden Gewalt, auf Druck der USA militarisiert er gleich den der Armut und der Perspektivlosigkeit in El Sal- ganzen Süden Mexikos, um den „Durchmarsch“ vador oder Honduras flieht, muss in Guatemala der Migrant*innen aufzuhalten. Ende letzten Asyl beantragen. Jahres machten Tausende Menschen aus Zent- ralamerika weltweit Schlagzeilen, die als Kara- wane aus der Unsichtbarkeit traten. Ihre Masse Mexiko: Land als Grenze schützte sie, ebnete den Weg durch die gefähr- lichsten Regionen des Landes. Ein Exodus, sag- Mit dem Abkommen verschieben die USA ihre te damals Marta Sánchez Soler. Wie dramatisch Südgrenze weiter nach Zentralamerika. Der die Situation inzwischen ist, zeigen Zahlen des Hinterhof wird zum bewehrten Vorgarten. Be- UNHCR: 2017 hatten 294.000 Menschen aus Gu- reits seit Jahren macht sich Mexiko mit dem atemala, Honduras und El Salvador in den be- Programm „Frontera Sur“ zum Gehilfen der nachbarten Ländern und den USA eine Anerken- US-Abschottungspolitik. Die Zahl abgeschobe- nung als Flüchtling beantragt, doppelt so viele ner Migrant*innen aus Mexiko nimmt stetig zu, wie im Vorjahr – und 16-mal so viele wie noch ebenso die von Asylanträgen aufgrund des ver- 2011. sperrten Weges in die USA. Die Kriminalisierung zwingt die Menschen in die Unsichtbarkeit und In Honduras verlassen die einen das Land, weil damit in die Gewalt des organisierten Verbre- sie von Gangs mit dem Tode bedroht werden chens, das eng mit dem Staatsapparat verwo- oder sich ihre ökonomische Situation nicht ver- ben ist. „Mit dem Krieg gegen die Drogenkartel- bessern lässt. Währenddessen versuchen die le ist die Migration dem organisierten Ver- Optimistischeren noch, mit Straßenprotesten brechen übergeben worden“, sagt Marta Sán- etwas im Land zu bewegen. Immer wieder flam- chez Soler von der mexikanischen medico-Part- men Proteste gegen die honduranische Regie- nerorganisation Movimiento Migrante Mesoa- rung auf, auch jetzt wieder, nachdem eine Zeu- mericano. Im Dezember 2006 hatte die genaussage in den USA nahelegen, dass der mexikanische Regierung unter Felipe Calderón Präsident des Landes, Juan Orlando Hernández, den „Krieg gegen die Kartelle“ ausgerufen, der direkt in den Drogenhandel verstrickt ist. Er das Land in den Abgrund katapultiert hat. Heute wurde Ende 2017 im Amt bestätigt, wobei die scheinen Schätzungen von 200.000 Opfern rea- Wahlen höchstwahrscheinlich manipuliert wur- listisch. Auch die Zahl der Verschwundenen den. Seitdem der gewählte Präsident Manuel geht in die Zehntausende. Entführungen, Er- Zelaya 2009 mit Billigung der USA aus dem Amt pressungen, Morde und Vergewaltigungen von geputscht worden ist, hat sich die Lage zuneh- und an Migrant*innen sind seit 2006 exponenti- mend verschlechtert. Zelaya hatte den Min- ell angestiegen, sie sind leichte Opfer für die destlohn angehoben, sich Venezuela angenä- Kartelle. Daran hat sich bis heute nichts geän- hert und damit den Ärger der eigentlichen 44

Machthaber*innen (zu denen er vorher auch der Linken zu entkommen. So reiht sich Nicara- gehörte) auf sich gezogen. Damals wie heute gua inzwischen in die Liste der Länder ein, aus gehen die Repressionsorgane mit aller Härte denen die Menschen in Scharen fliehen. gegen Protestierende vor. Weil eine Verände- rung im Land kaum mehr wahrscheinlich ist, nimmt die Auswanderung zu. Der Exodus wird weitergehen

Gleiches gilt für El Salvador, wo zwar das erste Ein Ende des Exodus aus Zentralamerika ist Mal seit Ende des Bürgerkriegs das Zweipartei- nicht in Sicht. Gemeinsam sind den Ländern der ensystem der einstigen linken Guerilla FMLN Region Armut und Perspektivlosigkeit, Gewalt und der rechten Arena durchbrochen wurde. und Straflosigkeit. Das ist gewollt von den poli- Der neue Präsident, der ehemalige Bürgermeis- tischen und ökonomischen Eliten, die „ihre“ ter von San Salvador, Nayib Bukele, macht aber Länder als Beute betrachten und kein Interesse eher mit lustigen Sprüchen auf Twitter von sich daran haben, funktionierende Infrastrukturen reden als mit einer ernsthaften Veränderung und Ökonomien aufzubauen, die mehr Men- der Lage im Land. Auch er setzt gegenüber den schen Teilhabe ermöglichen würden als nur ih- Maras, den kriminellen Gangs, die das Land in nen selbst. Der Staat und seine Institutionen Atem halten und für Tausende Jugendliche der sind Mittel zur Bereicherung und zur repressi- einzige Weg aus Bedeutungslosigkeit und Elend ven Aufrechterhaltung der Besitz- und Macht- zu sein scheinen, auf Härte. Hierzulande ist das verhältnisse. Land nur dann eine Nachricht wert, wenn mal wieder einer dieser Tage ist, an denen kein ein- Von der damit einhergehenden Rechtlosigkeit, ziger Mord registriert wird – immerhin acht seit von den Menschenrechtsverletzungen gegen dem Jahr 2000. Währenddessen hat der frühere Umweltverteidiger*innen und den Vertreibun- Präsident, Mauricio Funes (FMLN), der im eige- gen indigener Gruppen profitieren aber nicht nen Land wegen Korruption angeklagt ist, Asyl nur die lokalen Eliten, sondern auch die Import- in Nicaragua erhalten. länder der zentralamerikanischen Güter. Solan- ge die Kernfunktion der zentralamerikanischen Nicaragua galt im Vergleich zu den Ländern des Länder auf dem Extraktivismus von Primärgü- „Triángulo Norte“ über viele Jahre als Hort der tern beruht, für den die Landbevölkerung ver- Sicherheit. Das Land litt zwar schon lange unter trieben und Natur zerstört wird, solange Men- dem Autoritarismus des Ortega-Clans und die schenrechtsverletzungen dafür inkaufgenom- klientelistischen Sozialprogramme erreichten men werden, solange wird auch der Exodus aus vor allem die Getreuen der FSLN. In einer Regi- der Region weitergehen. on, in der auf 100.000 Einwohner*innen bis zu 100 Morde kommen, war die relative Friedlich- Moritz Krawinkel ist in der Öffent- keit in Nicaragua jedoch bemerkenswert. Aber lichkeitsarbeit bei medico internati- selbst davon ist seit der Niederschlagung der onal für Lateinamerika zuständig. Proteste gegen das Regime seit April 2018 nicht Im Herbst begleitete er die Karawa- ne mittelamerikanischer Migrant* mehr viel übrig. Über 320 Tote forderte die Re- innen im Süden Mexikos. pression, 70.000 Menschen aus Nicaragua ha- ben in Costa Rica Zuflucht gesucht, aber auch in den Karawanen Richtung USA liefen Viele mit, um der Verfolgung im einstigen Sehnsuchtsort 45 Nach Foto: REUTERS/Paulo Whitaker dem Regen- wald

Das EU-Mercosur- Abkommen

Soja-Ernte in Serra de Cuiabá im brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso. 46

TTIP für Südamerika: Der geplante europäisch- südamerikanische Freihandel atmet den Geist der Rekolonisierung – mit fatalen sozialen und ökologischen Folgen

Von Antonio Martins

Nach zwei Jahrzehnten zäher Verhandlungen Wie inzwischen bei derartigen Abkommen üb- unterzeichneten am 28. Juni 2019 die Staat- lich, gibt es zwei Arten von Klauseln: Ein Kapi- schefs des Mercosur, der Organisation Gemein- tel befasst sich mit Handelsfragen, das andere samer Markt Südamerika, und der Präsident der enthält weitreichende Normen, die die Wirt- Europäischen Kommission ihre Einigung über schafts- und Sozialordnung der Länder verän- ein vorläufiges Freihandelsabkommen. Das dern können. EU-Mercosur-Abkommen soll die größte Frei- handelszone weltweit schaffen. In Brasilien fei- erten die Regierung Bolsonaro, Vertreter*innen Zementierung der ökonomischen der großen transnationalen Konzerne und kon- Asymmetrie servative Medien dies als „Ereignis von histori- scher Tragweite“. Noch gibt es keine Gewähr, ob Das Handelskapitel schreibt drei zentrale Ver- die Vereinbarungen eines Tages wirksam wer- änderungen fest: Zum einen sollen die Zölle den. Sollte aber rechtskräftig werden, was in auf europäische Industrieprodukte entfallen. Brüssel ausgeheckt wurde, sind drei Dinge si- In fünf bis zehn Jahren sollen alle Handels- cher: Brasilien, Argentinien, Uruguay und Para- schranken, die die heimische Produktion im guay zementieren ihren Status als Produzenten Mercosur noch schützen, abgebaut sein. Ex- einfacher Primärgüter unter noch prekäreren plizit genannt werden Autos und Kfz-Teile, Ma- Bedingungen für Gesellschaft und Umwelt. schinen und Anlagen, chemische Produkte Auch in Europa werden Arbeitnehmer*innen- und pharmazeutische Erzeugnisse. Hochwerti- rechte, Umweltschutz und die kleinbäuerliche ge landwirtschaftliche Erzeugnisse wie Wein, Landwirtschaft Schaden nehmen. Profitieren Schokolade, Spirituosen oder Käse soll die EU werden allein Großkonzerne sowie zerstörerisch zollfrei in den Mercosur einführen können. Mit wirtschaftende Branchen wie die industrielle fast kindlicher Freude frohlockt das brasiliani- Landwirtschaft Brasiliens. sche Außenministerium: „Die Verbraucher werden von dem Abkommen profitieren, da sie Das Transparenzdefizit des gegenwärtigen Zugang zu einer größeren Vielfalt von Produk- Globalisierungsmodells zeigt sich erneut. Die ten zu wettbewerbsfähigen Preisen erhalten.“ genauen Inhalte der Vereinbarung werden Was es verschweigt: Im Wettbewerb mit euro- auch nach der Unterzeichnung nicht bekannt päischen Unternehmen, die einen weit besse- gegeben. Aus Kommuniqués und Interviews ren Zugang zu Infrastruktur, Technologie und lassen sich aber grundlegende Züge erahnen. vor allem zu Krediten haben, werden die Pro- 47

duzent*innen im Mercosur den Kürzeren zie- aus Ungarn einführen. Womöglich reicht be- hen. Ein erstes Warnsignal gab das Institut der reits die Drohung, um brasilianische Arbeit- Eisen- und Stahlindustrie in Brasilien: „Eine nehmer*innen davon zu „überzeugen“, dass Öffnung der Wirtschaft ohne Korrektur der niedrigere Löhne immer noch besser seien als asymmetrischen Beziehungen kann die Lage der Verlust des Arbeitsplatzes. der Stahlindustrie nur verschlechtern“, so der Vorsitzende Marco Polo Neves. Konzerne erhalten freien Zugriff Als „Gegenleistung“ wird die EU dem Mercosur Zugang zu ihrem Markt für landwirtschaftliche Noch weniger durchschaubar, aber nicht weni- Erzeugnisse gewähren. Kommuniqués nennen ger gefährlich sind die nicht handelsbezoge- die Ausfuhr von Produkten mit äußerst gerin- nen Vereinbarungen. Unter dem Stichwort Li- gem Verarbeitungsgrad wie Orangensaft, beralisierung des Dienstleistungssektors ist im Früchte, löslicher Kaffee, Fleisch, Zucker und Kommuniqué der brasilianischen Regierung Ethanol. Der großspurige Ton der brasiliani- davon die Rede, dass „das Abkommen den ef- schen Regierung ist umso merkwürdiger ange- fektiven Zugang zu diversen Dienstleistungs- sichts der Dürftigkeit der eigenen Prognosen: branchen wie Kommunikation, Bauwirtschaft, Durch das Abkommen werde das Bruttoin- Versorgung, Fremdenverkehr, Transportwesen, landsprodukt „in fünfzehn Jahren um 87,5 bis professionellen und Finanzdienstleistungen 125 Mrd. US-Dollar steigen”. Das entspräche ermöglichen” wird. Der dritte Sektor gliedert einem Wachstum von allenfalls 0,4 Prozent sich in Hunderte von Branchen, die seit Jahr- des BIP. Doch nicht einmal das ist sicher, die zehnten starken Schutz genießen. So darf eine EU hat als Schutzmaßnahmen maximale Ein- ausländische Firma heute keine Anwaltskanzlei fuhrmengen festgelegt. Die jährliche Fleisch- in Brasilien einrichten oder als Mehrheitseigne- einfuhr etwa ist auf 99.000 Tonnen begrenzt – rin einer Telekommunikationsgesellschaft auf- das entspricht 1,2 Prozent des Jahresver- treten. Transnationale Konzerne kämpfen ve- brauchs der EU. Außerdem wurde ein „Vorsor- hement dafür, solche Einschränkungen abzu- geprinzip” verankert: Wann immer die EU es für schaffen. Mit dem Abkommen könnte dies ge- notwendig erachtet, kann sie die Einfuhr land- lungen sein. Ähnliches gilt für Änderungen im wirtschaftlicher Erzeugnisse auf Verdacht – Bereich der öffentlichen Auftragsvergabe: Bis- zum Beispiel aus Gründen des Verbraucher- lang können Regierungen bei der Ausschrei- schutzes – blockieren. bung einer Bahnstrecke oder einer Windener- gieanlage lokale Unternehmen begünstigen Das Handelskapitel enthält einen dritten fol- und damit deren Fortbestand fördern. Auch genreichen Eingriff: Auch der konzerninterne dies ist transnationalen Konzernen seit Lan- Handel soll weitgehend liberalisiert werden. gem ein Dorn im Auge. Alle Kommuniqués le- Dadurch können Konzerne, die auf beiden Sei- gen nahe, dass sie ihr Ziel erreicht haben. ten des Atlantiks tätig sind, die Konkurrenz zwischen den Beschäftigten an verschiedenen Genau das Gegenteil, nicht die Aufhebung von Standorten weiter erhöhen. Falls zum Beispiel Schutzmechanismen, sondern ihre Verschär- für Volkswagen in Brasilien die Lohnstückkos- fung droht hingegen dort, wo das „Eigentum“ ten für Bremsanlagen zu hoch sind und die Ar- der Konzerne betroffen ist: im Bereich des Pa- beitnehmer*innenrechte zu weit gehen, kann tentschutzes und konkret der Generika in der der Konzern Bremsen aus der Slowakei oder Arzneimittelindustrie. Schon lange warnen zi- 48

vilgesellschaftliche Organisationen aus Euro- minoeffekt voraus, der eine Reihe weiterer pa und dem Mercosur vor der geheimen Verab- Freihandelsabkommen auslösen werde. Tat- redung zum sogenannten „Schutz des sächlich ist der Weg bis zum Inkrafttreten des geistigen Eigentums“. Zwar kommt die am 28. Abkommens steinig und ungewiss – zumal Juni herausgegebene Note diesbezüglich zentrale Akteur*innen wackeln. Während Ar- recht einsilbig daher, explizit aber werden sol- gentinien von einer nie dagewesenen Verar- che Maßnahmen genannt. Verwunderlich ist mung, einer Währungskrise und einer rasant das nicht, das zeigen die Erfahrungen mit an- ansteigenden Inflationsrate gebeutelt wird, deren Freihandelsabkommen. Großkonzerne läuft die Amtszeit von Präsident Mauricio Macri streben eine lückenlose Kontrolle auch über auf fast melancholische Weise aus. Seine immaterielle Güter an. Mit einer Ausdehnung Rechtskoalition dürfte bei den Wahlen im Okto- etwa von pharmazeutischen Patenten wird die ber Schiffbruch erleiden. In Brasilien ist die Be- Herstellung von Generika und damit bezahlba- liebtheit von Jair Bolsonaro schnell in den Kel- rer Medikamente für die breite Masse noch ler gerauscht. In Europa läuft das Mandat der stärker beschränkt. Mitglieder der Europäischen Kommission ab und die bestimmenden Parteien haben bei der Ein weiterer bedrohlicher Punkt ist der Vorrang jüngsten Wahl zum Europäischen Parlament von „Investor*innenrechten” vor Sozial- und massiv verloren. Umweltgesetzen. Fast alle in den letzten Jahr- zehnten unterzeichneten Freihandelsabkom- men enthalten das Prinzip des Investor*innen- Widerstand auf beiden Seiten des rechts und die Einrichtung sogenannter Atlantiks „Schiedsgerichte“. Beides sind Attentate auf die Demokratie. Investor*innenrecht bedeutet, Auch der Weg durch die Instanzen wird kompli- dass transnationale Unternehmen, die sich in ziert. Der Wortlaut des Abkommens muss erst einem Land niederlassen, Entschädigungen einmal bekannt werden. Dann muss es sowohl beanspruchen können, wenn sie sich durch das dem Europäischen Parlament als auch den Sozial- oder Umweltrecht benachteiligt wäh- Gesetzgebungsorganen der Mercosur-Staaten nen. Ein Bergbaukonzern kann zum Beispiel be- vorgelegt und abschließend müssen die wich- haupten, dass seine Gewinne infolge von Aufla- tigsten Klauseln von den 28 Parlamenten der gen zum Bau sichererer Rückhaltebecken Mitgliedsstaaten der EU ratifiziert werden. All zurückgegangen seien, und Schadenersatz for- das gibt viel Raum zur Kritik, zum Widerstand dern. Über solche Ansprüche entscheiden dann und zur Entwicklung von Alternativen. Schon nicht etwa ordentliche nationale Gerichte. jetzt gibt es Stimmen, die den Chorgesang der Stattdessen werden sie von undurchsichtigen Zufriedenen vernehmbar stören. Vor allem in „Schiedsgerichten” behandelt, die in der Regel Südamerika, wo das Gespenst der Rekolonisie- mit von den Streitparteien ernannten An- rung umgeht, sind sie unüberhörbar. So wies wält*innen besetzt sind. Das Prinzip der der Vorstand des Partido Peronista in Argentini- Schiedsgerichtsbarkeit ist in den Verhandlun- en darauf hin, dass das Land durch das Abkom- gen immer wieder vorgebracht worden. men unterworfen werde. Präsidentschaftskan- didat Alberto Fernández sagte: „Es gibt nichts Auf dem G20-Gipfel Ende Juni tat Jair Bolsona- zu feiern.” Sein Wahlsieg wäre ein erster schwe- ro so, als sei das Abkommen bereits unter rer Rückschlag für das Abkommen. In Brasilien Dach und Fach. Mehr noch: Er sagte einen Do- kamen kritische Wortmeldungen von den ehe- 49

Der Journalist Antonio Martins ist maligen Minisstern Celso Amorim, Luiz Carlos Gründer und Redakteur des von Bresser-Pereira und Ciro Gomes. Auch die sozi- medico geförderten Debattenpor- alen Bewegungen beginnen zu mobilisieren. tals Outras Palavras („Andere Wor- te“) – einem zentralem Medium der Noch am 28. Juni unterstrich das Koordinie- kritischen Gegenöffentlichkeit in rungsbüro der Gewerkschaftszentralen des Brasilien. Cono Sur in einem Kommuniqué seine „völlige Ablehnung des vorliegenden Abkommens“.

Zivilisation am Scheideweg

Steht in Südamerika der Antikolonialismus im Solidarischer Waldschutz Zentrum der Kritik, richtet sich das Augenmerk Hilfe für die Ka’apor im in Europa auf die Zerschlagung sozialer Rechte Amazonas und der solidarischen Wirtschaft zugunsten der Logik der Konzerne und des Kapitalismus. Viele Brände im Amazonas werden gelegt, Erste Proteste kamen von Umweltschutzinitia- um neue Anbau- und Weideflächen zu er- tiven und aus der Bauernschaft, die einen un- schließen. Brasilien ist weltweit der größte lauteren Wettbewerb mit Latifundien jenseits Exporteur für landwirtschaftliche Produk- des Atlantiks fürchtet. Nicolas Hulot, früherer te in die EU. Allein im Jahr 2018 ist der So- Landwirtschaftsminister im Kabinett von Em- jaexport aus Brasilien um über 20 Prozent manuel Macron sagte: „Dieses Abkommen ist gestiegen. Zementiert wird die Rolle La- das Gegenteil unserer Ambitionen in Bezug auf teinamerikas als Primärgüter-Lieferant für das Klima.“ Wenig später veranlasste Macron Europa im Mercosur-Abkommen. Geschützt angesichts möglicher negativer Reaktionen wird der Amazonas von indigenen Grup- seiner Wähler*innen „eine unabhängige, um- pen, die im und vom Regenwald leben. An fassende und transparente Evaluierung dieses der Grenze der brasilianischen Bundestaa- Abkommens, vor allem in Bezug auf die Belan- ten Pará und Maranhão leben rund 2.000 ge der Umwelt und der Biodiversität”. Im Rin- indigene Ka‘apor in 17 Dörfern. Über 90 gen um das Abkommen zeichnet sich ein Sze- Prozent ihres 600.000 Hektar großen Terri- nario ab, in dem sich zwei Blöcke und Zukunfts- toriums sind von üppigem Regenwald be- modelle gegenüberstehen: auf der einen Seite deckt. Die grüne Insel der Ka’apor ist aber die Großkonzerne, die in ihrem Schlepptau agie- umzingelt von Rinderweiden, für die der renden Medien und die Mehrheit der Regierun- übrige Wald bereits abgeholzt wurde. Jetzt gen, sowohl in der EU als auch im Mercosur; auf dringen immer wieder Holzfäller in das in- der anderen Seite ein Meer politischer Bewe- digene Territorium ein und roden den ge- gungen und Initiativen, die auf beiden Seiten schützten Wald. Dabei kommt es häufig zu des Atlantik nach Alternativen suchen und auf Gewalttaten gegen die Indigenen, mehrere eine neue ökonomische und soziale Logik set- ihrer Anführer wurden ermordet. Mit medi- zen. Der Zusammenprall dieser beiden Zu- co-Unterstützung schützen die Ka‘apor kunftsprojekte könnte tiefgreifende Verände- ihren Wald, der nicht nur für sie Lebens- rungen entfalten – just in einem Moment, in grundlage ist. dem die Zivilisation an einem Scheideweg steht. Spendenstichwort: Brasilien 50 medico aktiv

Was Südafrika lehrt Konferenz: Afrika, Europa und 25 Jahre Post-Apartheid

Während sich in Südafrika die ersten demo- kratischen Wahlen zum 25. Mal jähren, ist das

Foto: medico Land vom Ende rassistischer Strukturen, der Überwindung postkolonialer Beziehungen und der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit noch immer weit entfernt. Das hat massive Protes- te, neue politische Bewegungen und soziale Kämpfe hervorgerufen. Diese sind auch für Europa und den hier erstarkenden Rassismus und Rechtsnationalismus relevant: Die Suche nach neuen Formen gesellschaftlichen Zu- sammenlebens in der Post-Apartheid-Ära steht modellhaft für eine postkoloniale Perspektive, Boniface Mabanza – hier beim medico-Stiftungssymposium – ist Teil des Organisationsteams von „Afrika neu denken“. die koloniale und rassistische Strukturen zu überwinden versucht. Die Zusammenhänge zwischen europäischen und afrikanischen Entwicklungen stehen im Zentrum des dies- jährigen Kongresses „Afrika neu denken“, der am 27. und 28. September 2019 an der Frank- furter Goethe-Universität stattfinden und von medico mitveranstaltet wird. Zahlreiche Re- ferent*innen aus Südafrika und Deutschland eröffnen neue Perspektiven für die Europa- Afrika-Beziehungen.

www.medico.de/afrika-neu-denken 51

Freiwilligkeit tötet Menschenrechte vor Profiten: Kampagne startet Foto: Mark Mühlhaus/attenzione

Miserable Bezahlung in Textilfabriken in Bangladesch? Kann weitergehen. Kinderar- beit in Kobaltminen im Kongo? Geht klar. Von Stahlwerken zerstörte Umwelt in Brasilien? Das zerstörte Rakka nach der Befreiung vom IS. Schulterzucken. In den vergangenen Mona- ten hat die Bundesregierung eine Politposse Rückkehr um jeden Preis? hingelegt, die ihresgleichen sucht. Noch An- Fachtag zur aktuellen Migrations- fang des Jahres verteidigte Entwicklungsmi- politik nister Gerd Müller seinen erstaunlich mutigen Gesetzentwurf, mit dem er die Einhaltung von Die Zahl der Ausreisen zu erhöhen, ist erklär- UN-Menschenrechtsstandards für Unterneh- tes Ziel der Bundesregierung und dominiert men entlang ihrer globalen Lieferketten notfalls vielfach auch die migrationspolitischen Ent- erzwingen wollte. O-Ton: „Freiwilligkeit führt scheidungen in der EU. Abschiebungen und die nicht zum Ziel.“ Damit hätten deutsche Unter- Förderung der „freiwilligen“ Rückkehr, u.a. mit nehmen endlich für das haftbar gemacht wer- Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit, sind den können, was sie fernab mitverantworten. zentrale Instrumente dieser Politik. Dass die Doch seither haben Wirtschaftsministerium Situation in den Herkunftsländern einer nach- und Industrieverbände ganze Arbeit geleistet. haltigen Rückkehr und Reintegration oftmals Stand heute: Wenn bei einer Selbstauskunft ein entgegensteht, wird dabei vernachlässigt. Mit Bruchteil der international tätigen deutschen einem von medico gemeinsam mit Brot für die Unternehmen behauptet, beim Geschäfte- Welt, Heinrich Böll Stiftung (HBS) und Pro Asyl machen die Menschenrechte zu achten oder organisierten Fachtag möchten wir einen Bo- dies vorzuhaben, ist das aus Sicht der Bun- gen spannen von der politischen Debatte und desregierung ausreichend. Müllers Entwurf ist Beratungssituation hier zur Lage vor Ort. Was vom Tisch. Der CSU-Minister spricht von einer heißt es für Flüchtlinge und Migrant*innen, „erstaunlichen Widerstandsmobilisierung aus in von Gewaltkonflikten geprägte Länder zu- organisierten Kreisen“. Umso mehr braucht es rückzukehren? Wie „freiwillig“ geschieht ihre organisierten Widerstand aus der Zivilgesell- Rückkehr tatsächlich und womit sehen sich schaft. Um den Vorrang von Menschenrechten Beratungsstellen hier konfrontiert? Die Tagung vor Profiten durchzusetzen, haben sich Grup- mit öffentlicher Abendveranstaltung findet am pen und Organisationen aus ganz Deutschland 21. Oktober 2019 bei der Heinrich-Böll-Stiftung in der „Initiative Lieferkettengesetz“ zusam- in Berlin statt. Ein detailliertes Programm und mengetan, auch medico ist dabei. Die Kam- die Möglichkeit zur Anmeldung über die Inter- pagne startet am 10. September 2019 – und netseite folgen in Kürze. braucht Ihre Unterstützung. www.boell.de www.medico.de/menschenrechte-vor-profite 52 Materialliste

Bilder jesidischer Männer und Frauen, die 2014 von kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) vor dem bereits begonnenen Genozid gerettet wurden, werden wir nicht vergessen. Nicht auszuschließen aber, dass wir bald Bilder sehen müssen, die uns kurdische Opfer zeigen. Als die Jesiden vor den Au- gen der Weltöffentlichkeit von ihren Peinigern überfallen wurden, waren sie von allen Mächten dieser Welt verlassen – außer von den Kurdinnen und Kurden. Letztere trugen auch während der vergangenen dieJahre die Hauptlast des Kampfes gegen den Islamischen Staat, etwa 10.000 ihrer Kämpferinnen und Kämpfer haben ihr Leben verloren. Nun könnte es sie selbst treffen: nicht zum ersten Mal. Seit der Ankündigung des Abzugs der US-Truppen droht die Tür - kei mit dem Einmarsch ihrer Armee in Rojava, die mehrheitlich kurdisch besiedelten Gebiete des syrischen Nordens. Präsident Erdogan hat vor der syrischen Grenze bereits 80.000 Soldaten und seine Luftwaffe in Stellung gebracht. Es ist absehbar, dass es niemanden gibt, der den Bewohnerinnen und Bewohnern Nordsyrien beistehen wird. Wir melden uns deshalb heute zu Wort, um Europa aufzufordern, der angekündigten humanitären und politischen Katastrophe in den Weg zu treten. Kommt es zur Eroberung Rojavas, werden die türkische Armee und verbündete dschihadistische Milizen wiederholen, was sie im Januar 2018 mit der völkerrechtswidrigen Besetzung der kurdischen Region Afrin begonnendrohende haben. Dort nutzen sie die Flucht von weit über 100.000 Menschen für ein sys- tematisches Umsiedlungsprogramm. Dasselbe geschah 2016 bereits in kurdischen Städten im Kein angriff Südosten der Türkei, die von türkischen Kampffliegern zuvor massiv bombardiert wur- den. Aus Rojava aber wird niemand mehr fliehen können: für die Menschen dort aUf die KUrdische wird es keinen sicheren Ort mehr geben. Mit einer Eroberung Rojavas aUtonomie in nordsyrien würde der dort seit mittlerweile sechs Jahren voranschreiten- de Demokratisierungsprozess zerstört. Die Selbstver- elfriede Jelinek, Schriftstellerin / Österreich, axel honneth, waltung Nordsyriens war nie und ist auch heu- Philosoph / Deutschland, USA, milo rau, Regisseur, Theaterautor / Schweiz, Belgien, te keine bloß kurdische, sondern eine Leyla imret, abgesetzte Bürgermeisterin von Cizre / Türkei, Deutschland,g esine schwan, multiethnische und multireligiöse Politikwissenschaftlerin, Präsidentin der HUMBOLDT VIADRINA Governance Platform / Deutschland, Selbstverwaltung. Unter den widrigen nancy fraser, Philosophin / USA, vivienne Westwood,Designerin / England, Bedingungen einer vom Krieg verwüsteten sandro mezzadra, Politikwissenschaftler / Italien,Étienne Balibar, Region können ihre Bürgerinnen und Bürger frei Philosoph / Frankreich und medico international ihren Ansprüchen auf Freiheit, Gleichheit und Solidari- tät folgen. Es gab und gibt demokratische Wahlen, die Me- dien haben mehr Rechte als in den anderen Teilen Syriens. Die Bemühungen um den Aufbau einer Basisgesundheitsversorgung sind außerordentlich und gelten auch den mehreren hunderttausend Menschen aus Syrien und dem Irak, die dort Zuflucht gefunden haben. Im Unterschied zu den anderen Kriegsparteien in Syrien hat sich die nordsyrische Selbstverwaltung Vorwürfen von Menschenrechtsverbrechen gestellt und sich auf internationale Prozesse ihrer Überprü- fung eingelassen. Um sich mit Erdogan zu arrangieren, verhandeln die USA jetzt über die Einrichtung einer sogenannten Schutzzone. Doch bildet die in Frage stehende Region das Zentrum des mehrheitlich kurdischen Siedlungsgebiets einschließlich der Städte Kobanê und Qamislo. Sie türkischen Truppen zu öffnen, heißt, die Menschen Nordsyriens jeden Schutzes zu berauben. Deshalb müssen die verbliebenen diplomatischen Möglichkeiten genutzt werden, um die vor aller Weltöffentlichkeit angekündigte, zugleich politische und humanitäre Ka- 2 5 tastrophe abzuwenden. Nach Lage der Dinge hängt dabei viel an der Europäischen Union, die mit Frankreich, Großbritannien, Belgien und Deutschland im UN-Sicherheitsrat vertreten ist. Wir appellieren an die europäischen Regierungen, dazu alles in

Katastropheihrer Macht stehende zu unternehmen. Das muss die entschlossene Bemühung um eine gesamtsyrische Friedenslösung ein- schließen, zu der auch gehört, die zweite angekündigte Katastrophe zu verhindern, einen Vernichtungsfeldzug Assads und sei- ner Verbündeten gegen die Provinz Idlib. Eingekesselt sind dort eben nicht nur dschihadistische Milizen, die sich vieler Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen schuldig gemacht haben. Eingekesselt sind auch Millionen von Zivilistinnen und Zivilisten. Zu ihnen gehören auch viele Angehörige der demokratischen Opposition, die bereits einen langen Leidensweg aus Krieg und Verfolgung hinter sich haben. Statt Erdogans Diffamierung der Kur- den und überhaupt aller Oppositionellen als „Terroristen“ zu flankieren,verhindern sollte die die EU die Kooperation überprüfen, die sie in der Migrationspolitik mitAnka- ra eingegangen ist. Dies richtet sich insbesondere an die deutsche Regierung, die bereits das Zeigen kurdischer Sym- bole verbietet. Im Gegenzug ist das Recht von Menschen aus Syrien, in Europa Schutz vor ihren Verfolgern zufin- den, ausdrücklich zu garantieren. Das läge auch im eigenen Interesse: Wer demokratische Prozesse schwächt oder gar zerstört, indem er autoritären Regimes freie Hand lässt, wird diese Welt für niemanden sicherer machenkönnen.

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Europa ist ExportwEltmEistEr rüstung, Klima, DumpingprEisE: Europa ExportiErt FluchtgrünDE

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7 Bestellen & Verbreiten In kostenlosen Broschüren, Flyern und auf Plakaten informieren wir über aktuelle Themen und Kampagnen, die uns wichtig sind. Wir freuen uns, wenn Sie Freund*innen, Bekannte und Kolleg*innen darauf aufmerksam machen. Gerne dürfen Sie unser rundschreiben und alle anderen Materialien auch in größerer Stückzahl be- stellen und an Orten in ihrer Umgebung – in Arztpraxen, Cafés oder Buchläden – auslegen. Sie helfen uns und unseren Projektpartner*innen sehr, wenn Sie zur Verbreitung unserer Inhalte beitragen.

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2 Plakat WHY?* – DIN A1-Plakat gegen das Ster- Broschüre: Warum Menschen fliehen benlassen im Mittelmeer. Für das Recht zu bleiben. Broschüre: Europa ist Exportweltmeister Für das Recht zu gehen. medico-Jahresbericht 2018 3 Warum Menschen fliehen – (32 S.) Mit dieser Bro- schüre möchten wir Material liefern für informierte, Broschüre zu Testament und Erbschaft reflektierte und engagierte Beiträge zur gesellschaft- medico-rundschreiben 03-19 lichen Auseinandersetzung mit Flucht und Migration, die hierzulande zunehmend von Angst und Ausgren- Anzahl zung bestimmt ist. Herausgegeben von medico inter- national und der Gewerkschaft Erziehung und Wissen- schaft. Name

4 Europa ist Exportweltmeister- 12-seitige Kurzbro- Straße schüre zur neuen Grenzschutz- und Migrationspolitik der EU. Herausgegeben von medico international, Ort Brot für die Welt und Pro Asyl.

5 medico-Jahresbericht 2018 – (44 S.) Projekte, Meine Spendennummer Netzwerke, Aktionen, Kampagnen: der Gesamtüber- blick mit Grundsätzen und Finanzbericht Ich möchte: kostenlose Materialien bestellen 6 Wissenswertes zu Testament und Erbschaft – (28 S.) Wenn Sie medico testamentarisch berück- dass eine Spende in Höhe von € sichtigen möchten, bietet die Broschüre Informa- einmalig von meinem Bankkonto abgebucht wird. tionen zu rechtlichen und steuerlichen Fragen.

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Vielen Dank für die solidarische Unterstüt- zung unserer Arbeit! inspiration für emanzipatorisches denken und handeln auftakt 28./29. september 2019 im osthafenforum im medico-haus/lindleystraße 15/frankfurt es geht auch anders! – der utopische raum im globalen frankfurt vorträge, debatten und musik mit eva von redecker, ina hartwig, ilija trojanow, harald welzer, ensemble modern, thomas gebauer, gerrit von jorck, ulrich schachtschneider, fridays for future ffm, anne jung, ute klis- senbauer, junge deutsche philhar- monie, peter wagner u.a. in kooperation mit dem institut für sozialforschung monatlicher jour fixe ab oktober 2019, infos unter www.stiftung-medico.de

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