Volker Mall: Entartet? Ku Nst Und M Usi K in Der Zeit De S N Ationalsozialismus , St Uttga Rt 199 7
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Volker Mall : Entarte t ? 1 Musik in der Zeit des Nationalsozialismus Die Bedeutung des Themas für den Unterricht Jede herrschende Macht birgt in sich ein totalitäres Potential - eine Tendenz, die Mö glichkeit einer (sei es rationalen, sei es gefühlsmäßigen) B er ufung auf eine außerhalb ihres Machtbereichs liegen- de Urteilskraft zu verstellen. Historische Perioden relati - ver Freiheit ergeben sich dort, wo der Widerstand gegen diese Tendenz in ver schiede nen Formen eine gewisse Stetigkeit erlangt. Gewon- nen wird d e r Kampf jedo ch nie. Demokratie ist - anders als es immer gelehrt wird - kein System , sondern eine ständig sich wan delnde Form von Widerstand ... Eine totalitäre Tendenz zieht ständig Gefügig keit an sich, und ständig mu ss ihr Widerstand entgegengesetzt wer den ... ( John Be rger in der F rankfurter Rundschau 12.1. 19 95) Die Forderung, da ss Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung ... Jede De- batte über Erziehungsideale ist nic htig un d gleichgültig diesem einen gegenüber, da ss Auschwitz s ich nicht wiederhole. Es war die Ba rbare i, gegen die alle Erzie hung geht. ... Man mu ss die Mechanismen erkennen, die die Menschen so machen, da ss sie solcher Taten fähig werden, mu ss ihnen sel bst die se Mechanismen aufzeigen und zu verhindern trachten, da s s sie abermals so werden, indem man e in a llge meines Bewu ss tsein jener Mechanismen erweckt . ... Ich f ü rchte, durch Maßnahmen auch einer noch so weit gespannten Erziehung wird es sich kaum verhinder n lasse n, da ss Schreibtischmörder nachwachsen. Aber, da ss es Mensch en gibt, die unten, eben als Knecht e das tu n, wodurch sie ihre eigene Knechtschaft verewi gen ... dagegen lä ss t sich doch durch Erziehung und Aufklärung ein Weniges unternehmen. … (Theodor W.Adorno, Erzie- hung nach Auschwitz in: Stichworte, Kritische Modelle 2, Frankfurt 1969) Historisch - politische A ufkläru ng mu ss also erhellen, was Massen von Deutschen vor 1933 daz u gebracht hat, Hoffnunge n in den NS zu setzen; was sie nach 1933 zur Loyalität gegen ü ber der fa- schisti schen Herrschaft veranla ss t hat, und welche Eigenschaften des Dritten Reiches vielfa ch auch jenen Zeitgenossen als sympathisch galten, die terroristisc hen Maßnahmen des damalig en Systems durchaus Vorbehalte entgegenbrachten. (Arno Klönne: Jugend im Dritten Reich, M ü nchen 1995/1982 , S. 11) Es war und ist nicht einfach, die Themen Nationals ozialis mus und Holocaust im Unterricht zu be- handeln. War f ü r die 68 er noch ein zentraler Teil des Gener ationenkonflikts die Vermutung, die Eltern könnten an dem Schrecklichen beteiligt gewesen sein, Zuschauer , Mitläufer oder Täter ge- wesen sein, so ist es f ü r die heutigen Ju gendlichen Geschichte, die sie zwar nicht gleichg ü ltig lä ss t, sie interessi ert und ber ü hrt, aber ohne Schuld - und Betroffenheitsge f ü hle, wie wir sie als Nach- kriegsgeneration empfunden haben. Um aus der Geschichte lernen zu können - falls das ü b erhaupt mög lich ist - , mu ss man sie erst kennenlernen. Die S ch ü ler sollen ver stehen le rnen - ohne mora- lisch zu verurteilen - , aus welchem Hori zont heraus damals gehandelt wurde. Ohne eine Auseinanderset zung der Lehrenden mit ihren eigenen familiären und bio graphischen Bezügen zum Thema geht es nicht. Es wäre allerdi ngs naiv zu glauben, dass geschichtli che und politi sche Aufklärung neue Verführbarkeit verhindern könne. 1 Erika Ker n , H elm uth Kern , Volker Mall: Entartet? Ku nst und M usi k in der Zeit de s N ationalsozialismus , St uttga rt 199 7 . E n de 2018 wurde n Schüler - , Lehrer h eft un d C D a us d em Verlagsprogra mm ( Klet t) geno mmen . Ein Nachdruck ist ni cht mögl ich, da die Rechte fü r das Layout beim Ver lag liegen. Hier wird das Materi a l neu zu sam men ges tellt, m it dem Schwerpunkt „ Musik “ . Als „ Ersatz “ für die CD sind Links zu youtube angegeben. Dazu auch : Volker Mall mit Erika und Helmuth Kern. En tartet? In: Die Un terr ichtspra xis. Beilage zu „bildung und wi ssensc haft“ der Gewerkschaft Erzieh ung und Wissenscha ft Baden - Württemberg. 1998. 32.Jahrgang. He ft 3. S.17 - 24. 1 Das Thema ist lästig. Der Überdru ss ist unverkennbar . ... Geschichte wiederholt sich n icht, a ber es wiederholen sich Konstellationen, in denen gesellscha ftlich produzierte Nöte al te Ideologie n wie - derbeleben, die Menschen dazu verf ü h ren, Rezepten von gestern nochmals zu trauen. Unversehens leben wir in einer Situation, in der die Erforschu ng der Vergangenheit eine Form des Widerstands geworden ist. (Hans Weber: Betroffenheit und A u fklärung in : Hans Weber (Hrsg.), Musik in der Emigration 1933 - 1945, Stuttgart 1994 S. 6ff.) Wenn zum Beispiel ju nge Menschen mit kühnem Flammenschwert daherkomme n und a ufzählen, wer alles in Nazi - Filmen als Schauspieler mitgewir kt hat, sage ich: Pa ss nur auf, in welc hen Situa- tionen du dich opportunistisch und feig e verhältst, wo du die Augen zu drückst und nicht hins chauen magst . ... Das fängt ja schon damit an, wie man si ch im beruflichen und gesellschaftlichen Umfeld aufführt, we lche Blödheiten man begeht . Schauen Sie mal, wie leicht man dazu verführt werden kann, irgendwo mitzumachen, wo menschliche Schicksale zur Farce desavouiert werden. Das müs- sen keine Nazi - Fi lme sei n, da genügen schon üble Fernsehproduktionen. (Erika Pluhar in Fifty, Juli/Au gust 199 7, Hamburg, S .17f.) Ein „Zuviel“ ist schädlich: Es darf nicht sein, da ss an den Schu len die nazistische n Verbre chen auf eine Weise in den Vorder- grund ger ü ckt wer den, di e bei der jungen Generation einen Widerstand gegen ihre Beha ndlung im Un terri cht herv orruft. Ein Zu viel wäre genauso schädlich, wie es ein Zuwenig ist. (Heinz Galinski, ehemaliger Vorsitzender des Ze ntralrates der Juden in Deutschland in einem Int erview mit dem Rheinischen Merkur, 28.10.1988, S.8) 1 Avantgarde c o ntra Re stauration 2 Die Auftaktseite Avantgarde contra Tradition soll mit collage ar tig zusammengestellten Beispielen das breite kulturelle Sp ektrum vor 1933 und dabei v.a. in der Weimarer R epublik d eutlich mac hen, die ein Kaleidoskop deutscher M öglichkei ten ( Sontheimer) mit kaum versöhnbaren Widerspr ü chen und schroffen Gegensätzen war : A uf der einen Seite die Bespöttelung der Tra dition - auf d er ande- ren Seite ihre Historisie rung . Inmitten der expr essioni stischen Krise, der allgemeinen Desorientierung und des Auftriebs unbekannter Kräfte übernahm die Historie die doppel te Aufgabe, de r Gegenwartsflucht als Asyl und dem Willen zur Zukunft als Ene rgie quelle zu dienen. Was auch in buntem Wechs el der Ge gen- wart zuge f ü hrt wurde und sich zum Teil in einer Bewegun g auswirken konnte: Spätwerke Bachs und altdeutsche Lieder, Händel - Opern und Mus ik der Gotik, niederländische Polyphonie und Spielmusik des 18 . Jahrhun derts - darin stimmen alle Erscheinung en ü berei n, da ss sich in ihnen die Abkehr von einer vermeintlichen ‚Romantik’ kundgab. Man mied die Tradition der Väter, u m von den Ah nen zu lernen . .. Eine der ersten Parolen des neuen Historismus war der Ru f nach ‚Gemein schaftsmusik’. Mit ihm protestierte eine jüng ere Generation gegen die artistische Grundhaltung des über lieferten Musiklebens, dessen Schwerpunkt sich in die berufsmäßige Spezia- lisierung des Virtuo sen, das Aufgebot eines riesigen Orchester - un d Chorapparats und den immer stärker von ökonomisc hen Geset zen beherrschten Konzert betrieb verlagert hatte. Dem stell te die Jugend - Laienbewegung das Ideal des gemeinsam musizierenden K reises entgegen , in dem der einzelne aktiv und selbstverantwortlich am G anzen mitzuwirken hatte. ( Heinrich Besseler: Die M u- sik des Mittelalters und der Re naissance. In: H an db u ch der Musikwi ss ensch aft . Hrsg.von Ernst B ü cken, Potsdam o.J. (19 31), S.18 ff ; zit iert nach Funkkolleg Musikgeschichte 10, S.106 ) Der breite Fächer des politischen Lebens der Weimarer Republik enthielt alles, w as das 19. Jahr- hundert an politischen Kräf ten entbunden ha tte: Revolutionäre und Reaktionäre, de mokratiefeind - liche Altliberale und fortschrittliche Neoliberale, vorwiegend an klerikaler Kulturpo litik interes- sierte Katholiken und in völkische Id een verr a nnte Protestanten, gemäßigte Sozialdemo kraten und 2 Schüle r heft S. 4 f. 2 nicht vö llig reformunwillige Ko nservative, Ver teidiger des unsozialsten Kaptalismus mit unge zü gel- tem Gewinn - und Ausbeutungsstreben und bescheidene re Anwälte des Kapitalismus, die ihn durch soziale und int e rventionistische Maßnahmen von sein en Ausw ü chsen und Unge r echtigkeiten befrei- e n wollten, Fana tiker des F ü hrerprinzips und Menschen, die allein auf die Automatik der Instituti- onen vertrau ten, ohne d arauf zu achten, da ss auch Institutionen aus Me nschen b estehen, Militaris- ten und Pazifi sten usw., usw. (Kurt Sont heim er: Weimar - ein deut sches Kaleidosko p , in: Wolfgang Rothe (Hrsg.): Die deutsche Literatur in der Weimarer Republik, Stuttgart 1974, S.12) Der Vielfalt der politischen Gruppen und Strömungen entsprach das wid e rspr ü chliche geistige und kulturel le Leben. B estimmend wa r auch in diesem Bereich, da ss die beherrsc hende Wil helminische Kultur ihren F ü hrungsanspruch hatte preisgeben m ü ssen, ohne da s s es den neuen Kräften des Liberalismus, der Aufklärung und de s Ration a lismus gelungen wäre, ihrerseit s herrschend zu werden. So gab es mythisches Philoso phieren neben posi tivistischem Ratio nalismus, Marxismus neben Or- ganizismus . .usw. Hinzu kam, da ss da nk der mythisch - irrationalen Fluchtwege des Geisteslebens die pessi mis t ischen, zivilisationsfe indlichen Tendenzen ger ade unter de r Weimarer Republik be- so nders stark wurden .