Algerische Ouvertüren. Pierre Nora Und Jacques Derrida Im Widerstreit
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Dan Diner (Jerusalem/Leipzig) Algerische Ouvertüren. Pierre Nora und Jacques Derrida im Widerstreit Abstract: By way of a historical narrative, the article focuses on the background of biographical experience – familial and existential, cultural and political (in terms of the respective historical upheavals) – so as to scrutinize the emergence of the scholarly paradigms connected with the historian Pierre Nora and the philoso- pher Jacques Derrida. Proceeding from the set of problems pertaining to Algeria – which affected either of them, albeit differently – the epistemologically signifi- cant interrelation between “body and corpus” (Derrida) will be reflected upon. The historically dissimilar modes of a Jewish acculturation and accommodation to French modernity are crucial to both Nora’s and Derrida’s experience – Ashke- nazic in the former, Sephardic-Maghrebian in the latter. The Algerian experience lays the foundation for their respective conceptions of knowledge and interpre- tation: in Nora’s case, the continental preconditions for his historical concept of “lieu de mémoire”; in Derrida’s, the colonial origins of deconstruction in terms of its conceptualization. „Mon cher Nora […]“. Mit dieser vertraut-distanzierten Anrede eröffnet Jacques Derrida einen inzwischen als ikonisch geltenden Brief an seinen ehemaligen Mit- schüler der Vorbereitungsklasse am Pariser Lycée Louis-Le-Grand zur Aufnahme in die École normale supérieure – der begehrten Grande école in der rue d’Ulm.¹ In dem mit Datum vom 27. April 1961 gezeichneten, neunzehn einzeilig-eng ge- tippte Seiten zählenden Schreiben offenbart der später hoch gerühmte Philosoph dem hernach nicht weniger berühmten Historiker seine Haltung zur damals in Richtung Unabhängigkeit sich wendenden algerischen Frage. Anlass war ein kurz zuvor erschienenes, der Feder Noras erwachsenes Buch mit dem Titel Les Français d’Algérie. Dort rechnet der nach einer zweijährigen Dienstzeit als Gymnasialleh- rer im algerischen Oran, dem Ort des Geschehens in Albert Camus’ Roman Die Pest tätig gewesene Nora mit den Algerienfranzosen, den colons,denpieds-noirs ab – den seinem Dafürhalten nach eigentlichen Verursachern der blutigen Ver- strickung Frankreichs in Nordafrika.² Vorzügliches Objekt seiner Philippika sind 1 „Lettre de Jacques Derrida“, in: Nora 22012, 271–299. 2 Dosse 2011, 71f. Die Algerienfranzosen für die Politik Frankreichs in Algerien ursächlich ver- antwortlich zu machen, entsprach auch der historiographischen Rückschau in den frühen 1960er Jahren. Signifikant hierfür Julien 1964. DOI 10.1515/roja-2016-0002 36 | Dan Diner indes weniger die europäischen Ultras, die damals eher gewillt waren, das Mutter- land mit in den Abgrund zu reißen, als Algerien aufzugeben, denn jene Algerien- franzosen, die seit jeher für eine auf staatsbürgerlicher Gleichheit fußende nach- koloniale franco-muslimische Perspektive einstanden – inzwischen aber selbst auf die Linie einer algerischen Unabhängigkeit von Frankreich eingeschwenkt wa- ren.³ Namentlich ruft er die gleichwohl aus dem Mutterland stammende Germaine Tillion auf – herausragende Ethnologin, Schülerin von Marcel Mauss und dem Orientalisten Louis Massignon, eine in der groupedelaMaisondel’hommeaktive Résistante der ersten Stunde, Häftling in Ravensbrück und 1957, auf dem Höhe- punkt der Schlacht von Algier, Verbindungsperson der damaligen sozialistischen französischen Regierung in Paris zur algerischen Front de Libération Nationale, der FLN.⁴ Und selbstredend den im Jahr zuvor, im Januar 1960 tödlich verunglück- ten Albert Camus, dessen zögerliche Haltung in der vermaledeiten Algerienfrage offenbar hinreichte, ihn im intellektuellen Milieu von Paris zur Unperson zuer- klären. Dass Camus nach Entgegennahme des Nobelpreises für Literatur in Stock- holm 1957 in einem öffentlichen Gespräch sich unversehens vor die Wahl zwi- schen seiner Mutter und dem Prinzip einer universellen Gerechtigkeit gestellt sah und dabei nicht umhin kam, ersterer den Vorzug zu geben, war ihm auch übers Grab hinweg nicht verziehen worden.⁵ Jacques Derridas Haltung war von der des ins Unrecht gesetzten Camus nicht sonderlich verschieden. Beide gehörten in Algerien der Linken an und sparten nicht mit Kritik am Kolonialregime und der von ihm ausgehenden Unterdrückung der muslimischen Bevölkerung.⁶ Dennoch empfanden beide Algerien als ihre Hei- mat und dachten nicht daran, sich vom Land abzuwenden. Dass Menschen wie sie, wohlmeinende, liberale, progressive Algerienfranzosen, gleichsam ausge- schieden ihrem Schicksal überlassen werden sollten, wofür Pierre Nora in seiner Interventionsschrift offenbar plädierte, forderte die verhaltene Empörung Derri- 3 Nora 22012, 222ff. 4 Tillion 2000; eindrücklich zu Person und Profession siehe Bromberger/Todorow 2002. 5 Siehe hierzu auch das Gespräch, das der Verlag Gallimard anlässlich der Veröffentlichung von Albert Camus’ Discours de Suède 1997 mit Carl Gustav Bjurström geführt hat, der bei der betref- fenden Szene anwesend war: Auf die Frage, wo und zu welcher Gelegenheit Camus’ berühmter Satz „Entre la justice et ma mère, je choisis ma mère“ gefallen sei, antwortete Bjurström: „À la Maison des Étudiants de Stockholm. À Upsala, sa conférence n’a provoqué aucun incident po- litique. Mais il en a profité pour s’expliquer. Tout en se défendant de faire de ‚l’art pour l’art‘, il a notamment dit préférer le terme d’‚embarqué‘ à celui d’‚engagé‘. C’était un peu un défi. Il savait très bien qu’on l’attendait au tournant et qu’il n’y a rien qu’on déteste autant qu’une bonne conscience moralisatrice“. Das Gespräch ist auf der Verlagsseite von Gallimard veröffentlicht: http://www.gallimard.fr/catalog/entretiens/01002289.htm (6. Mai 2016). 6 Peeters 2013, 173; zur Entstehungsgeschichte dieser Biographie vgl. Peeters 2010. Algerische Ouvertüren. Pierre Nora und Jacques Derrida im Widerstreit | 37 das heraus. Und sie forderte seine Empörung vor allem deshalb heraus, weil Nora den Algerienfranzosen, von denen nicht wenige Nachkommen der Deportierten der Juni-Insurrektion von 1848 und der Pariser Kommune von 1871 waren, die französische Zugehörigkeit absprach, sie als nachgeborene Malteser, Italiener und Spanier herabsetzte und sich über deren als fremd akzentuierte Aussprache mokierte: „Je suis froncé, moi, Monsieur, je suis aussi froncé que vous !“⁷ Derrida, der zeitlebens mit seinem algerischen Akzent im Französischen rang, wich einem Zerwürfnis mit seinem ehemaligen Mitschüler aus. Gleich- wohl lehnte er das Ansinnen Noras ab, den an ihn gerichteten Brief öffentlich zu machen.⁸ Derrida war nicht gewillt wie Camus, sich den Bedrängnissen einer Aporie zu überantworten, um dann gehalten zu sein, Ausflüchte in unbedachten Reaktionen zu suchen. Ihm, Derrida, der sich weder mit der einen noch mit der anderen Seite im Konflikt gemein zu machen vermochte, galt öffentlich zu Algerien zu sprechen als unziemlich. So schwieg er sich aus – ein Schweigen, das nach und nach und im Modus reflexiver Verzögerung in Sprechen überging, ohne dabei wirklich explizit zu werden. Ohnehin dachte und schrieb Derrida von einer intrinsischen Konstellation des Geheimnisses aus.⁹ Eines dieser Geheimnisse war das algerische Dilemma. Algerien, die algerische Erfahrung, sollte für beide, für Pierre Nora wie für Jacques Derrida, zum Humus von Erkenntnis werden.¹⁰ Sie lässt sich – in je un- terschiedlicher Konsistenz – im Gewebe ihrer jeweiligen geistigen Schöpfungen ermitteln. Pierre Nora wird sich einen Namen als Begründer des Konzepts der Ge- dächtnisorte und als Historiker der französischen Lieux de mémoire machen – ein postkoloniales Projekt der Neufindung eines kontinentalen Frankreich als Land des Hexagons, umschlossen von klar gezogenen Liniengrenzen.¹¹ Jacques Derrida wird zum Denker der Dekonstruktion werden, der Auflösung scharf ausgezoge- 7 Nora 22012, 79; Jacques Derrida zu seinem algerischen Akzent im Französischen in Derrida 2003, 77: „Ich glaube, daß ich meinen Akzent nicht verloren habe, daß ich nicht alles von meinem Akzent als ‚Algerienfranzose‘ verloren habe“, bzw. Derrida 1996, 77: „Je crois n’avoir pas perdu mon accent, pas tout perdu de mon accent de ‚Français d’Algérie‘“. 8 Peeters 2013, 174. 9 „Personne ne saura jamais à partir de quel secret j’écris et que je le dise n’y change rien.“ („Niemand wird je wissen, von welchem Geheimnis aus ich schreibe, und dass ich es ausspreche, ändert nichts daran“, Übersetzung der Hg.). In: Bennington/Derrida 1991, 175, zit. nach Federico Rodríguez Gómez 2008, 102, Anm. 43. 10 Baring 2010, 239–261, weist auf die Bedeutung der Herkunft, Erfahrung, vor allem die des Algerienkonfliktes, für das Werk Jacques Derridas hin. Siehe auch seine inzwischen erschienene Monographie, Baring 2014. 11 Nora (Hg.): Les Lieux de mémoire,3Bde:1.République (1984); 2. La Nation (1986); 3. Les France (1992); vgl. Hue-Tam Ho Tai 2001. 38 | Dan Diner ner Linien der Unterscheidung, von binär gestifteten Begriffslagen.¹² Als er seinen Brief an Pierre Nora in Sachen Algerien verfasste, war Derrida gerade dabei, seine Übersetzung von und seine große, Buchlänge erreichende Einleitung zu Edmund Husserls posthum veröffentlicher Schrift über den Ursprung der Geometrie fertig- zustellen. Im Juli war das Werk abgeschlossen.¹³ Während eines 1996 in New York durchgeführten internationalen Kolloqui- ums zu Fragen von Biographie und Philosophie zitierte Derrida die auf einen einzigen Satz sich beschränkende Bemerkung Heideggers zum Leben des Aristo- teles: „Aristoteles wurde geboren, arbeitete und starb“. Alles andere sei bloße Anekdote. Dass Derrida diese Haltung