Dan Diner (Jerusalem/Leipzig) Algerische Ouvertüren. Pierre Nora und Jacques Derrida im Widerstreit

Abstract: By way of a historical narrative, the article focuses on the background of biographical experience – familial and existential, cultural and political (in terms of the respective historical upheavals) – so as to scrutinize the emergence of the scholarly paradigms connected with the historian Pierre Nora and the philoso- pher Jacques Derrida. Proceeding from the set of problems pertaining to – which affected either of them, albeit differently – the epistemologically signifi- cant interrelation between “body and corpus” (Derrida) will be reflected upon. The historically dissimilar modes of a Jewish acculturation and accommodation to French modernity are crucial to both Nora’s and Derrida’s experience – Ashke- nazic in the former, Sephardic-Maghrebian in the latter. The Algerian experience lays the foundation for their respective conceptions of knowledge and interpre- tation: in Nora’s case, the continental preconditions for his historical concept of “lieu de mémoire”; in Derrida’s, the colonial origins of deconstruction in terms of its conceptualization.

„Mon cher Nora […]“. Mit dieser vertraut-distanzierten Anrede eröffnet Jacques Derrida einen inzwischen als ikonisch geltenden Brief an seinen ehemaligen Mit- schüler der Vorbereitungsklasse am Pariser Lycée Louis-Le-Grand zur Aufnahme in die École normale supérieure – der begehrten Grande école in der rue d’Ulm.¹ In dem mit Datum vom 27. April 1961 gezeichneten, neunzehn einzeilig-eng ge- tippte Seiten zählenden Schreiben offenbart der später hoch gerühmte Philosoph dem hernach nicht weniger berühmten Historiker seine Haltung zur damals in Richtung Unabhängigkeit sich wendenden algerischen Frage. Anlass war ein kurz zuvor erschienenes, der Feder Noras erwachsenes Buch mit dem Titel Les Français d’Algérie. Dort rechnet der nach einer zweijährigen Dienstzeit als Gymnasialleh- rer im algerischen Oran, dem Ort des Geschehens in Albert Camus’ Roman Die Pest tätig gewesene Nora mit den Algerienfranzosen, den colons,denpieds-noirs ab – den seinem Dafürhalten nach eigentlichen Verursachern der blutigen Ver- strickung Frankreichs in Nordafrika.² Vorzügliches Objekt seiner Philippika sind

1 „Lettre de Jacques Derrida“, in: Nora 22012, 271–299. 2 Dosse 2011, 71f. Die Algerienfranzosen für die Politik Frankreichs in Algerien ursächlich ver- antwortlich zu machen, entsprach auch der historiographischen Rückschau in den frühen 1960er Jahren. Signifikant hierfür Julien 1964.

DOI 10.1515/roja-2016-0002 36 | Dan Diner indes weniger die europäischen Ultras, die damals eher gewillt waren, das Mutter- land mit in den Abgrund zu reißen, als Algerien aufzugeben, denn jene Algerien- franzosen, die seit jeher für eine auf staatsbürgerlicher Gleichheit fußende nach- koloniale franco-muslimische Perspektive einstanden – inzwischen aber selbst auf die Linie einer algerischen Unabhängigkeit von Frankreich eingeschwenkt wa- ren.³ Namentlich ruft er die gleichwohl aus dem Mutterland stammende Germaine Tillion auf – herausragende Ethnologin, Schülerin von Marcel Mauss und dem Orientalisten Louis Massignon, eine in der groupedelaMaisondel’hommeaktive Résistante der ersten Stunde, Häftling in Ravensbrück und 1957, auf dem Höhe- punkt der Schlacht von Algier, Verbindungsperson der damaligen sozialistischen französischen Regierung in zur algerischen Front de Libération Nationale, der FLN.⁴ Und selbstredend den im Jahr zuvor, im Januar 1960 tödlich verunglück- ten Albert Camus, dessen zögerliche Haltung in der vermaledeiten Algerienfrage offenbar hinreichte, ihn im intellektuellen Milieu von Paris zur Unperson zuer- klären. Dass Camus nach Entgegennahme des Nobelpreises für Literatur in Stock- holm 1957 in einem öffentlichen Gespräch sich unversehens vor die Wahl zwi- schen seiner Mutter und dem Prinzip einer universellen Gerechtigkeit gestellt sah und dabei nicht umhin kam, ersterer den Vorzug zu geben, war ihm auch übers Grab hinweg nicht verziehen worden.⁵ Jacques Derridas Haltung war von der des ins Unrecht gesetzten Camus nicht sonderlich verschieden. Beide gehörten in Algerien der Linken an und sparten nicht mit Kritik am Kolonialregime und der von ihm ausgehenden Unterdrückung der muslimischen Bevölkerung.⁶ Dennoch empfanden beide Algerien als ihre Hei- mat und dachten nicht daran, sich vom Land abzuwenden. Dass Menschen wie sie, wohlmeinende, liberale, progressive Algerienfranzosen, gleichsam ausge- schieden ihrem Schicksal überlassen werden sollten, wofür Pierre Nora in seiner Interventionsschrift offenbar plädierte, forderte die verhaltene Empörung Derri-

3 Nora 22012, 222ff. 4 Tillion 2000; eindrücklich zu Person und Profession siehe Bromberger/Todorow 2002. 5 Siehe hierzu auch das Gespräch, das der Verlag Gallimard anlässlich der Veröffentlichung von Albert Camus’ Discours de Suède 1997 mit Carl Gustav Bjurström geführt hat, der bei der betref- fenden Szene anwesend war: Auf die Frage, wo und zu welcher Gelegenheit Camus’ berühmter Satz „Entre la justice et ma mère, je choisis ma mère“ gefallen sei, antwortete Bjurström: „À la Maison des Étudiants de Stockholm. À Upsala, sa conférence n’a provoqué aucun incident po- litique. Mais il en a profité pour s’expliquer. Tout en se défendant de faire de ‚l’art pour l’art‘, il a notamment dit préférer le terme d’‚embarqué‘ à celui d’‚engagé‘. C’était un peu un défi. Il savait très bien qu’on l’attendait au tournant et qu’il n’y a rien qu’on déteste autant qu’une bonne conscience moralisatrice“. Das Gespräch ist auf der Verlagsseite von Gallimard veröffentlicht: http://www.gallimard.fr/catalog/entretiens/01002289.htm (6. Mai 2016). 6 Peeters 2013, 173; zur Entstehungsgeschichte dieser Biographie vgl. Peeters 2010. Algerische Ouvertüren. Pierre Nora und Jacques Derrida im Widerstreit | 37 das heraus. Und sie forderte seine Empörung vor allem deshalb heraus, weil Nora den Algerienfranzosen, von denen nicht wenige Nachkommen der Deportierten der Juni-Insurrektion von 1848 und der Pariser Kommune von 1871 waren, die französische Zugehörigkeit absprach, sie als nachgeborene Malteser, Italiener und Spanier herabsetzte und sich über deren als fremd akzentuierte Aussprache mokierte: „Je suis froncé, moi, Monsieur, je suis aussi froncé que vous !“⁷ Derrida, der zeitlebens mit seinem algerischen Akzent im Französischen rang, wich einem Zerwürfnis mit seinem ehemaligen Mitschüler aus. Gleich- wohl lehnte er das Ansinnen Noras ab, den an ihn gerichteten Brief öffentlich zu machen.⁸ Derrida war nicht gewillt wie Camus, sich den Bedrängnissen einer Aporie zu überantworten, um dann gehalten zu sein, Ausflüchte in unbedachten Reaktionen zu suchen. Ihm, Derrida, der sich weder mit der einen noch mit der anderen Seite im Konflikt gemein zu machen vermochte, galt öffentlich zu Algerien zu sprechen als unziemlich. So schwieg er sich aus – ein Schweigen, das nach und nach und im Modus reflexiver Verzögerung in Sprechen überging, ohne dabei wirklich explizit zu werden. Ohnehin dachte und schrieb Derrida von einer intrinsischen Konstellation des Geheimnisses aus.⁹ Eines dieser Geheimnisse war das algerische Dilemma. Algerien, die algerische Erfahrung, sollte für beide, für Pierre Nora wie für Jacques Derrida, zum Humus von Erkenntnis werden.¹⁰ Sie lässt sich – in je un- terschiedlicher Konsistenz – im Gewebe ihrer jeweiligen geistigen Schöpfungen ermitteln. Pierre Nora wird sich einen Namen als Begründer des Konzepts der Ge- dächtnisorte und als Historiker der französischen Lieux de mémoire machen – ein postkoloniales Projekt der Neufindung eines kontinentalen Frankreich als Land des Hexagons, umschlossen von klar gezogenen Liniengrenzen.¹¹ Jacques Derrida wird zum Denker der Dekonstruktion werden, der Auflösung scharf ausgezoge-

7 Nora 22012, 79; Jacques Derrida zu seinem algerischen Akzent im Französischen in Derrida 2003, 77: „Ich glaube, daß ich meinen Akzent nicht verloren habe, daß ich nicht alles von meinem Akzent als ‚Algerienfranzose‘ verloren habe“, bzw. Derrida 1996, 77: „Je crois n’avoir pas perdu mon accent, pas tout perdu de mon accent de ‚Français d’Algérie‘“. 8 Peeters 2013, 174. 9 „Personne ne saura jamais à partir de quel secret j’écris et que je le dise n’y change rien.“ („Niemand wird je wissen, von welchem Geheimnis aus ich schreibe, und dass ich es ausspreche, ändert nichts daran“, Übersetzung der Hg.). In: Bennington/Derrida 1991, 175, zit. nach Federico Rodríguez Gómez 2008, 102, Anm. 43. 10 Baring 2010, 239–261, weist auf die Bedeutung der Herkunft, Erfahrung, vor allem die des Algerienkonfliktes, für das Werk Jacques Derridas hin. Siehe auch seine inzwischen erschienene Monographie, Baring 2014. 11 Nora (Hg.): Les Lieux de mémoire,3Bde:1.République (1984); 2. La Nation (1986); 3. Les (1992); vgl. Hue-Tam Ho Tai 2001. 38 | Dan Diner ner Linien der Unterscheidung, von binär gestifteten Begriffslagen.¹² Als er seinen Brief an Pierre Nora in Sachen Algerien verfasste, war Derrida gerade dabei, seine Übersetzung von und seine große, Buchlänge erreichende Einleitung zu Edmund Husserls posthum veröffentlicher Schrift über den Ursprung der Geometrie fertig- zustellen. Im Juli war das Werk abgeschlossen.¹³ Während eines 1996 in New York durchgeführten internationalen Kolloqui- ums zu Fragen von Biographie und Philosophie zitierte Derrida die auf einen einzigen Satz sich beschränkende Bemerkung Heideggers zum Leben des Aristo- teles: „Aristoteles wurde geboren, arbeitete und starb“. Alles andere sei bloße Anekdote. Dass Derrida diese Haltung nicht teilte, war offensichtlich. Ihm kam es vielmehr umgekehrt darauf an, die Grenze, die „das Korpus und den Körper“ durchquert, neu zu denken – mithin den Zusammenhang von Erfahrung und Epistemologie neu zu ergründen.¹⁴ Keine Konstruktion wohlfeiler Kausalität – dies mitnichten; Evidenzen von Affinität indes allemal. In den Biographien von Pierre Nora und Jacques Derrida verdichten sich unterschiedliche, gleichwohl paradox miteinander verflochtene jüdische Eman- zipationserfahrungen. Pierre Nora entstammt einer aschkenasischen Familie deren Wurzeln väterlicherseits ins Lothringische, an die Mosel führen, müt- terlicherseits ins Elsass zurückreichen;¹⁵ Jacques Derrida entspross einer weit vor der französischen Kolonisierung des Landes in Algerien ansässigen sefardi- schen Familie.¹⁶ In der Emanzipationsgeschichte der französischen Juden war die Region um Metz ebenso wie das Elsass von eminenter Bedeutung.¹⁷ Dort lebten der Tradition besonders stark verhaftete Juden, die im Zuge der Franzö- sischen Revolution auf Beschluss der Nationalversammlung 1791 emanzipiert, also gleichgestellt wurden. Mit der 1804 abschließend erfolgten Einführung des code civil und des ihm eigenen bürgerlichen Moralregimes stellten sich freilich Erschwernisse ein. Diese führten schließlich dazu, von Staats wegen die Verträg- lichkeit des jüdischen Religionsgesetzes mit den Normen des napoleonischen

12 Jacques Derrida: „Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen“, in: Derrida 1972, 422–442; Critchley 1992; Royle 2000. 13 Peeters 2013, 175; Derrida/Husserl 21974. 14 Peeters 2013, 9. 15 Dosse 2011, 25f. 16 Im Vorwort zur Neuausgabe von Les Français d’Algérie deutet Pierre Nora (22012, 19) den Un- terschied in der Herkunft beider am Lycée Louis-le-Grand am Rande an, wenn er schreibt: „Lui (Derrida, D.D.), sanglé dans la blouse grise des internes, concentré sur lui-même, plutôt triste et intense, quoique chaleureux ; moi, Parisien déjà déluré. Lui, toujours premier en philo ; moi, parfois second. Rapprochés sans doute par une sympathie d’Ashkénaze émancipé et de Séfarade affranchi, dont nous n’étions nullement conscients à l’époque“. 17 Meyer 2013. Algerische Ouvertüren. Pierre Nora und Jacques Derrida im Widerstreit | 39

Codes zu überprüfen – und dies vornehmlich in Fragen des Familien- und Per- sonenstandsrechts.¹⁸ Auf Geheiß des Kaisers der Franzosen wurde 1806 eine jüdische Notabeln-Versammlung einberufen, deren Antworten im Jahr darauf auf einem eigens von ad hoc anberaumten Großen Sanhedrin zu Paris religiöse Rechtsverbindlichkeit erlangten.¹⁹ Damit galt die Harmonisierung von jüdischem Gesetz und code civil als vollzogen. Die davon ausgehenden adminis- trativen Maßnahmen waren vielfältig. Dazu gehörte unter anderem die Verfügung, dass Juden vererbbare Nachnamen anzunehmen haben. Der Vorfahr von Pierre Nora, Moise Aron, nahm den durch Inversion kreierten Familiennamen Nora an.²⁰ Die den Juden der östlichen Regionen Frankreichs, vor allem den elsässischen Juden auferlegten, sie in volle Staatsbürger, also zu Franzosen verwandeln- den Maßgaben sollten später auf die algerischen Juden ausgedehnt werden. Dies geschah, als Frankreich fast zeitgleich mit dem Ausbruch der liberalen Juli-Revolution 1830 zur Eroberung Algeriens schritt. Bislang im Elsässischen wirkende französische Administratoren und erfolgreich französisch akkulturierte elsässische Juden setzten das napoleonisch begonnene Werk der sogenannten régénération, also der lebensweltlichen Anpassung an die Moderne, mittels mas- siver Eingriffe in das Personenstandsrecht der algerischen Juden fort.²¹ Die Emanzipation der Juden Algeriens und ihre Akkulturation an den fran- zösischen Tugendkatalog wurde vorzügliches Ziel liberalen Eifers des in Alge- rien etablierten Kolonialregimes. Bei diesem Eifer mag es sich auch um eine Gewissensentlastung seitens liberaler Orléanisten für die von ihnen mit äußerster Brutalität und Grausamkeit erzwungene mission civilisatrice der widerständi- gen muslimischen Bevölkerung gegenüber gehandelt haben.²² Ein totaler Krieg der verbrannten Erde, bei dem Ernten zerstört, Herden geraubt oder vernichtet wurden. Der 1840 vom Bürgerkönig Louis-Philippe zum General-Gouverneur in Algier ernannte Marschall Thomas-Robert Bugeaud sprach 1845 von einer Exeku- tion „heilsamen Terrors“, als ihm unterstehende Truppen algerisch-muslimische Dorfbewohner in Grotten trieben, um sie durch die Rauchentwicklung von an den Ausgängen entzündeten Feuern zu ersticken – die Methode der enfumades.²³ Der liberale Alexis de Toqueville, der nicht nur ein Experte für die Demokratie in Ame- rika, sondern auch bestens über Algerien informiert war, hatte gegen ein solches Vorgehen nichts einzuwenden, solange es auf die Kolonie beschränkt blieb – die

18 Woloch 1994. 19 Birnbaum 2014; Graetz 1996; Schwarzfuchs 1979. 20 Dosse 2011, 25. 21 Shurkin 2010, 262; Schreier 2007; Martin 1936; Stora 2006; Leff 2006. 22 Shurkin 2010, 270; Schreier 2007, 87. 23 Sullivan 1983, 130f. 40 | Dan Diner dortigen Kommandeure sich also nicht anheischig machten, derartiges bei mög- licher Aufstandsbekämpfung in der Metropole zu praktizieren.²⁴ François Guizot, der wohl wie kein anderer das liberale, wenn auch wenig demokratische Regime der Juli-Monarchie repräsentierte (man denke an das signifikante, von ihm aus- gerufene enrichissez-vous) und nicht nur als professioneller Historiker unbeirrt dem Telos des Fortschritts huldigte, vereinheitlichte und rationalisierte das fran- zösische Bildungs- und Verwaltungswesen und regulierte die noch von Napoleon eingerichteten jüdischen Repräsentanzen – die sogenannten Consistoires israé- lites.²⁵ Deren Vertreter verschrieben sich mit staatlichen Weihen versehen eben jenem Vorhaben der régénération ihrer algerischen Glaubensbrüder – ein Unter- nehmen, über das die algerischen Juden sich nicht gerade beglückt zeigten. Folge war ein in Algerien sich abspielender innerjüdischer Kulturkampf zwischen einer- seits emanzipierten und andererseits den Segnungen der Emanzipation abholden jüdischen Bevölkerungen – zwischen aschkenasischen und sefardischen Juden, zwischen Metropole und Kolonie.²⁶ Im Zentrum des Konflikts stand – wie Jahre zuvor im Elsass – das Personenstandsrecht. Die der lokalen Tradition folgende Auslegung jüdischen Familienrechts, vor allem was Fragen von Eheschließung, Ehescheidung und Erbfolge anging – und dies in Verbindung mit der unter algeri- schen bzw. arabischen Juden jedenfalls formal zulässig gewesenen Polygamie –, musste zusehends weichen.²⁷ Parallel dazu wurden die traditionellen lokalen rabbinischen Autoritäten aus der Metropole von ins Land kommenden und vom Consistoire central israélite geförderten aschkenasischen Rabbinern ebenso ver- drängt, wie Juden das Eingehen von Zivilehen anheimgestellt wurde. Solches Ansinnen kam in den Augen algerischer Juden einer Apostasie gleich.²⁸ Tatsächlich war dem Personalstatut der sakralen Imprägnierung von Geburt, Tod, Ehe und Familie wegen so etwas wie eine politisch-theologische Bedeutung eingeschrieben. Jacques Derrida sollte nicht zuletzt der Körperlichkeit solcher Einschreibung wegen das Wort von der Circonfession prägen.²⁹ Dass so wenige Muslime aber auch Juden vom durch den senatus consulte vom 14. Juli 1865 in Algerien möglich gewordenen Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft Ge- brauch machten, stand ohne Zweifel mit dem für einen solchen Akt erforderlichen

24 Toqueville 1991, 712; Toqueville 2001. 25 Haus 2012. 26 Shurkin 2010, 276. 27 Schreier 2007, 79f. 28 Schreier 2007,92. 29 Schumm 2013; zur nicht-jüdischen jüdischen Zugehörigkeit Derridas siehe Ofrat 2001 und dessen kritische Besprechung von Cohen 2003. Algerische Ouvertüren. Pierre Nora und Jacques Derrida im Widerstreit | 41

Wechsel des Personenstandsrechts in Verbindung.³⁰ Ein solcher Wechsel in das Moralregime des Code civil hinein wäre für Muslime der Aufgabe des Islam und einer säkular verdeckten Konversion zum Christentum gleichgekommen. Der im Weiteren geltende Ausschluss der muslimischen Bevölkerung, von Arabern und von Berbern und damit der überwiegenden Mehrheit aus dem kolonial verfassten Gemeinwesen, beruhte im Prinzip auf dem die Religion zum qualifizierenden Unterscheidungsmerkmal erhebenden statut personnel. Hinsichtlich der zah- lenmäßig wenig bedeutenden jüdischen Bevölkerung konnte das Regime des Second Empire es sich zunehmend leisten, deren kollektive Aufnahme in den Status der französischen Staatsbürgerschaft zu erwägen. Im Oktober 1870, nach der französischen Niederlage bei Sedan und während eines zeitweiligen Aufent- halts der Regierung einer temporären Republik in Tours, wurde auf Initiative des amtierenden Justizministers Adolph Crémieux im Rahmen eines verschiedene Maßgaben regulierenden Gesetzespakets auch die vollständige Emanzipation der algerischen Juden verfügt.³¹ Das Décret Crémieux versetzte die algerischen Juden in eine bedenkliche Zwi- schenlage. Es entfernte und entfremdete sie zusehends der muslimischen Bevöl- kerung, die sich jetzt mit einem niederen Rechtsstatus zu begnügen hatte als die von ihnen traditionell verachteten Juden.³² Für die wesentlich katholische euro- päische Bevölkerung wiederum bedeutete die Gleichbehandlung von Juden und vor allem von sogenannten orientalischen Juden eine kaum hinnehmbare Beschä- digung einer als natürlich erachteten hierarchischen Ordnung.³³ Darauf reagier- ten sie mit Ablehnung und Widerwillen. Das europäische Algerien galt als Hort des französischen Antisemitismus. Éduard Drumont, dessen gegen die Juden ge- richtete, 1886 erschienene Schmähschrift „La France Juive“ zum Katechismus der extremen Rechten wurde und bis tief in die Zeit von Vichy hinein ihre unheilvolle Wirkung tat, wurde als prononcierter Anti-Dreyfusard 1898 zum Deputierten von Algier in die französische Kammer zu Paris gewählt.³⁴ Es nahm nicht Wunder, dass mit der Etablierung des Vichy-Regimes infolge der im Frühsommer 1940 aus deutscher Hand empfangenen Niederlage das Dé- cret Crémieux alsbald außer Kraft gesetzt wurde: Den Juden Algeriens wurde die französische Staatsangehörigkeit kollektiv aberkannt – ein Vorgang, der zu einer

30 Schreier 2007, 99; Shurkin 2010, 277. 31 Leff 2012; Stora 2006, 48–52. 32 Höhepunkt der jüdisch-muslimischen Entfremdung war der Pogrom von Constantine vom Au- gust 1934 mit fünfundzwanzig getöteten jüdischen Männern, Frauen und Kindern durch einen arabischen Mob. Dazu Attal 2002. 33 Dermendjian 1985. 34 Stora 2006, 58. 42 | Dan Diner tiefen Erschütterung ihres noch jungen, gleichwohl umso enthusiastischer ge- pflegten französischen Selbstverständnisses führte.³⁵ Dem Dafürhalten des His- torikers Algeriens und der algerischen Juden Benjamin Stora nach erzeugte die davon verursachte Wunde einen lang anhaltenden Schmerz deshalb, weil die al- gerischen Juden für ihre Zugehörigkeit zu Frankreich in relativ kurzer Zeit so viel an Tradition haben hingeben müssen.³⁶ Der 1942 verordnete Ausschluss des jüdi- schen Schülers Jackie Derrida aus dem Lycée deBenAknounverletztedendamals Zwölfjährigen für sein Leben. Gleichwohl wird er später und angesichts des Wis- sens um die Vernichtung der europäischen Juden sich vor einer Übersteigerung solcher Erfahrung hüten. Anderes, so meinte er, wäre „unanständig“.³⁷ Der immer schärfer gehandhabte Ausschluss algerisch-jüdischer Kinder aus dem Schulwesen wurde von dem Vichy-französischen Generalkommissar für Judenfragen Xavier Vallat veranlasst.³⁸ Vallat, Anhänger der rechtsradikalen und katholisch-antisemitischen Action Française, war zudem anti-protestantisch und deutschfeindlich gesinnt.³⁹ Im Ersten Weltkrieg schwer verwundet und neben dem Verlust eines Auges beinamputiert, sagte er den Juden nach, Frankreich ins Unglück zu stürzen. Der physische Angriff auf Léon Blum, den jüdischen fran- zösischen Premier der Volksfrontregierung Mitte der 30er Jahre, war auf seine Agitation zurückzuführen.⁴⁰ In Vichy wird er mit der sogenannten „Arisierung“ der französischen Wirtschaft, des Bildungswesens, der Beamtenschaft, der freien Berufe sowie der polizeilichen Registrierung der Juden befasst sein. Mit der Ver- nichtung der Juden will Vallat freilich nichts zu tun gehabt haben. In Konflikt mit dem deutschen Botschafter in Frankreich Otto Abetz in Angelegenheiten der französischen Kriegsgefangenen in Deutschland wurde er im Mai 1942 von Pétain entlassen. Nach dem Krieg wurde Vallat vor einem französischen Tribunal mit der Aussicht, zum Tod verurteilt zu werden, angeklagt. Durch die entlastende Aussage eines jüdischen Arztes, Urologen und Chirurgen am Hôpital Rothschild zu Paris wurde er zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt und bereits 1949 aus der

35 Abitbol 1983. 36 Stora 2006, 90f. Jacques Derrida spricht in seiner „autobiographischen Anamnese“ davon als „eine profunde, rasche, eifrige und spektakuläre Assimilation innerhalb zweier Generationen“ (Derrida 2003, 36) bzw. „une ‚assimilation‘ sans précédent : profonde, rapide, zélée, spectacu- laire. En deux générations“ (Derrida 1996, 37). 37 Peeters 2013, 35. 38 Poznanski 2015. 39 Joly 2001. 40 Bruttmann/Joly 2000. Algerische Ouvertüren. Pierre Nora und Jacques Derrida im Widerstreit | 43

Haft entlassen. Der Chirurg hörte auf den Namen Gaston Nora. Es handelte sich um den Vater des späteren Historikers Pierre Nora.⁴¹ Mit der ihnen revolutionär zuerkannten französischen Staatsangehörig- keit waren die Juden der östlichen Provinzen, vor allem die Juden des Elsass, zu glühenden französischen Patrioten geworden.⁴² Mit dem Verlust der 1871 als Reichsland Elsass-Lothringen dem in Versailles ausgerufenen Deutschen Reich einverleibten Landschaften optierten sie in großer Zahl für Frankreich – so die Familie des späteren Artilleriehauptmanns Alfred Dreyfus oder die des großen Mediävisten .⁴³ Gaston Noras Anhänglichkeit an Frankeich entsprach solchem Empfinden. Die Nähe zum späteren Vichy-französischen Ge- neralkommissar für Judenfragen Xavier Vallat war den Schützengräben des Ersten Weltkrieges erwachsen. Damals rettete Gaston Nora durch beherzte Amputation unter mörderischem Trommelfeuer Vallat das Leben. Dieses war er dem jüdischen Arzt schuldig geblieben.⁴⁴ Als Ritter der Ehrenlegion erwirkte Gaston Nora bei Vallat für sich und andere ihres Einsatzes im Großen Krieg wegen ausgezeichnete Juden besonderen Schutz. Seine Familie hatte er gleichwohl, bald nach Eintritt des Waffenstillstands 1940, nach Grenoble verbracht, das unter italienischer Besatzung zu stehen kam und so für tausende dort anlangender Juden als Hort relativer Sicherheit galt. Er selbst hielt in Paris, als Chefarzt das Mal des Gelben Sterns tragend, am Rothschild- Hospital aus. Als mit der Operation „Torch“ Anfang November 1942 alliierte Trup- pen in Nordafrika anlandeten, dehnten die Deutschen ihre militärische Kontrolle auch auf den bislang unbesetzten Teil Frankreichs aus.⁴⁵ Gaston Nora war jetzt von seiner Familie abgeschnitten. Diese verließ Grenoble, um im Massiv de Ver- cors Schutz zu suchen. Die Lage dramatisierte sich mit dem Fortschreiten des Krieges, als im Januar 1944 der zwölfjährige Pierre einer Razzia der Gestapo auf der Suche nach jüdischen Kindern mit einem Sprung aus dem Fenster zuvorkam.⁴⁶ Seine beiden älteren Brüder hatten sich derweil der Résistance angeschlossen und waren im Maquis aktiv. Die Noras hatten eine ebenso bewusst jüdische wie stolze französische Geschichte vorzuweisen. Diese stand der Republik gut an. Mit einer derart verwachsenen Zugehörigkeit zu Frankreich vermochte der aus der Kolonie stammende Jacques Derrida nicht aufzuwarten. In einer autobio-

41 Dosse 2011, 21–25. 42 Hyman 1991. 43 Zur Familiengeschichte Blochs und dem revolutionären Patriotismus der elsässischen Juden siehe Fink 1989, Kap. I–III. 44 Dosse 2011, 22. 45 Abitbol 2011. 46 Dosse 2011, 16. 44 | Dan Diner graphischen Anamnese mit dem Titel Le monolinguisme de l’autre ou la prothèse d’origine (im Deutschen unter Einsprachigkeit bekannt),⁴⁷ sucht sich Derrida als Franco-Maghrebiner zu verstehen – eine, wie er es nannte, „Selbstheit“ ohne fes- ten Grund.⁴⁸ Die Introspektion geht zurück in die Geschichte der Akkulturation der algerischen Juden und kulminiert in der Reflexion über die Möglichkeit und Grenzen von Sprache und Sprachvermögen als Kernbestand von Zugehörigkeit. Darüber hinaus öffnet sie ein Fenster zum Verständnis dessen, was unter Dekon- struktion verstanden werden könnte.⁴⁹ Im Anfang war die Entwurzelung von der ursprünglichen Kultur durch das den Prozess der Assimilation beschleunigende, auf dem Code civil beruhende Per- sonenstandsrecht. Es war eine „Französisierung“, die zugleich eine Verbürger- lichung war und dem „geistigen Leben der jüdischen Kultur“ in Algerien, wie Derrida meint, einen „Erstickungstod“ („asphyxie“) bereitete.⁵⁰ In rituellen Ver- haltensmustern erstarrt, deren Sinn für die meisten der dortigen Juden nicht mehr entzifferbar war, öffnen sie sich, so Derrida weiter, einer „christlichen ‚Kontami- nation‘“ („cette ‚contamination‘ chrétienne“).⁵¹ Der Eintritt in die neue Zeit er- folgt überstürzt. Sprachen die Großeltern noch arabische und berberische Dia- lekte und vermochten sie sich für kultische Zwecke wie für familienrechtliche Angelegenheiten noch des Hebräischen zu bedienen, waren den Enkeln diese Sprachen nicht mehr zugänglich.⁵² Aber auch das Französische, die Sprache der Schulbildung und der herrschenden Kultur, blieb ihnen fremd. Die Einwurzelung ins Französische erfolgte auf kargem Grund – eine unbewohnte, reine Sprache.⁵³ Alle verräterischen Residuen von Herkunft waren ihr ausgetrieben – eine zur ei- genen Sprache gewordene Sprache des anderen. Gleichwohl verweist Derrida auf die anhaltende Wirkung von auf archaische Tiefenschichten verweisenden kol- lektivbiographischen Restbeständen – weder ganz jüdisch, noch ganz algerisch, noch ganz französisch.⁵⁴ Solche Ablagerungen generieren ein starkes Empfinden von Ahnung – und solche Ahnung vermag tiefer zu reichen denn Wissen. So wird die Ahnung zum eigentlichen Humus von Erkenntnis. Ihr erwächst wiederum ein

47 Derrida 1996 und 2003. 48 Derrida 2003, 46, bzw. Derrida 1996, 47f. 49 Derrida 2003, 83: „Von da stammt natürlich alles, was unter dem Titel der ‚Dekonstruktion‘ vorgebracht wird […]“, bzw. Derrida 1996, 82: „En relève tout ce qui s’avance au titre de ‚la décon- struction‘ […]“; Bennington/Derrida 1994, bzw. Bennington/Derrida 1991. 50 Derrida 2003, 90, bzw. Derrida 1996, 88. 51 Derrida 2003, 92, bzw. Derrida 1996, 90. 52 Derrida 2003, 89, bzw. Derrida 1996, 88f. 53 Derrida 2003, 79, 108, bzw. Derrida 1996, 78, 98. 54 Derrida 2003, 120, bzw. Derrida 1996, 118. Algerische Ouvertüren. Pierre Nora und Jacques Derrida im Widerstreit | 45 systematisches Denken in Treue zum philosophischen Vorhaben, sich der Frage nach dem Sein zu verweigern. Dieses sei befangen in binär gestifteten Konstella- tionen von „richtig“ und „falsch“, von „gut“ und „bös“, von „innen“ und „außen“ und – in lebensweltlicher Erweiterung – von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit – und so fort. An deren statt verschreibt es sich solchen Denkfiguren, die im Modus dekonstruktiver Taktik dichotom an- gelegte Begriffslagen zu überwinden, zu unterlaufen, zu unterspülen trachten. Es ist weder das eine noch das andere, beziehungsweise sowohl das eine als auch das andere.⁵⁵ Dekonstruktion und geometrische Form sind gegenläufige Modi. Das Hexa- gon ist eine Figur harmonischer Konfiguration. Es zeugt von ästhetischem Gleich- maß in rationaler Linienführung – „systématique, proportionnée et régulière“.⁵⁶ Frankreich gilt als das eminente Land des Hexagons. Diese Zuweisung findet erst- malig 1830 in einem belgischen Lexikon Erwähnung – paradoxerweise dem Jahr des französischen Zugriffs auf Algerien.⁵⁷ Die geometrische Figur des Hexagons wird auch des Weiteren mit Algerien aufgerufen werden. Recht eigentlich gewinnt sie erst in den 1950er Jahren im Zuge des Algerienkrieges politische Kontur, als sie zum Synonym für das metropolitane, sich seiner Kolonien entledigende Frank- reich wird – le repli sur l’hexagone.⁵⁸ Nach 1962, dem Jahr des Vertrages von Evian, in dem Frankreich Algerien notgedrungen in die Unabhängigkeit entlässt, wird das Hexagon neben der Trikolore zum Symbol des Gaullismus und eines nach Eu- ropa zurückkehrenden Frankreich. So fügte es sich, dass im Juni selbigen Jahres das hochsymbolische Treffen zwischen de Gaulle und Adenauer in Reims zele- briert wird. Dort wohnen beide, der französische Präsident und der bundesdeut- sche Kanzler, in der traditionsreichen Kathedrale einer katholischen Messe bei. Es ist der Krönungsort der heiligen und wundertätigen französischen Könige, der Rois thaumaturges, um einen Titel Marc Blochs aus dem Jahre 1924 zu evozieren. Den Eintrag zu Reims im Werk der Lieux de mémoire von Pierre Nora verfasste Jac- ques le Goff.⁵⁹ Ihm ging es in erster Linie um die politische Sakralität des Ortes, der heiligen Topographie einer mittelalterlichen Begründung Frankreichs. Zeitge- schichtlich kommt Reims indes eine andere Bedeutung zu. Die Stadt ist der Ort,

55 Prenowitz 2012. 56 Weber 1986, 98, Bezug nehmend auf Buisson 1887; zuvor schon Smith 1969. 57 Dictionnaire géographique universel, Paris, Kilian u. Picquet 1830, zit. nach Smith 1969, 145. 58 „The questions ‚Is le repli sur l’hexagone possible? Can la plus grande France become again l’hexagone?‘ stand in the center of the debate between (Le Drame algérien,1957, p. 66, etc.) and (L’Algérie et la République, 1958, pp. 65, 70, 80, etc.)“, zit. nach Smith 1969, 150. 59 Le Goff 1986. 46 | Dan Diner an dem das nationalsozialistische Deutschland am 7.bzw. am 8. Mai 1945 vor den Alliierten bedingungslos kapitulierte. Zum Ende des umfänglichen, das Ausmaß eines kleinen Buches annehmenden Eintrages von Le Goff zu Reims findet die- ses Ereignis auf nur wenigen gezählten Zeilen Erwähnung.⁶⁰ Keine Erwähnung hingegen findet der Umstand, dass am selbigen 8. Mai 1945, dem Tag der Ka- pitulation des Deutschen Reiches zu Reims, französische Truppen, Polizei und Siedlermiliz an Muslimen in Algerien ein entsetzliches Massaker verübten, in des- sen Verlauf Zehntausende grausam gemeuchelt wurden. Es war der eigentliche Auftakt der mit fast zehnjähriger Verzögerung am 1. November 1954 anheben- den algerischen Revolte gegen die französische Kolonialherrschaft. Das am 8. Mai 1945, zeitgleich mit dem Akt der Kapitulation zu Reims verübte Massaker in der im nordalgerischen département von Constantine gelegenen Stadt Sétif zeugt eine der kontinentalen Ereignisfolge gegenläufige Gedächtnisikone – einen veritablen Erinnerungsort der Dekolonisierung.⁶¹ Genau besehen liegt Pierre Noras französischem Konzept der Lieux de mé- moire die geometrische Figur des Hexagons zugrunde. Keine bewusste, keine systematische Entscheidung – wohl aber eine wie von selbst sich einstellende historiographische Ratifizierung eines nachkolonialen Frankreich, das in Zeiten gesteigerter lebensweltlicher Beschleunigung sich seiner Ursprünge zu versichern trachtet.⁶² Dabei führt die dem Hexagon eigene Epistemologie des Historischen in die Kernzeit dessen, was den strukturierenden Leitbegriffen des Werkes – La République, La Nation und Les France – eigentlich zugrunde liegt: nämlich die spirituellen Konturen des bereits in der Dritten Republik institutionalisierten Gedächtnisses Frankreichs.⁶³ Im Jahre 2012, nach gut fünfzig Jahren, lässt Pierre Nora sein Erstlingswerk Les Français d’Algérie aufs Neue erscheinen. Nach einem halben Jahrhundert kommt dem Buch indes weder ein politischer noch ein akademischer Mehrwert zu. Seine Bedeutung liegt wesentlich in einer Geste begründet. Pierre Nora will mit der Neuherausgabe des Buches offenbar etwas richten, will Bedauern aus-

60 Le Goff 1986, 181. 61 Diner 2007,65–68. 62 Der Ausschluss von France outre-mer bzw. des Kolonialreiches aus dem Konzept der Lieux de mémoire in Pierre Noras Werk wird als pragmatische Entscheidung hingestellt („Il faut choisir […]. À propos des manques, il rappelle qu’alors on était plutôt dans une période de négation de l’époque coloniale […]. Mais on ne peut sérieusement lui faire le reproche d’une intention délibérée d’occultation de la page coloniale écrite par la France […]“, Dosse 2011, 335f.). 63 Weber 1986, 97,verweist auf das durch das Erziehungsprogramm von Jules Ferry konstruierte republikanische Selbstverständnis Frankreichs, das dem Konzept des Hexagons entspricht, ohne dass es bereits zum Begriff eines solchen gekommen wäre. Algerische Ouvertüren. Pierre Nora und Jacques Derrida im Widerstreit | 47 drücken.⁶⁴ In erster Linie gegenüber seinem inzwischen verstorbenen Mitschüler am Lycée Louis-le-Grand, Jacques Derrida, dessen Jahrzehnte lang privat geblie- benen Brief er dem Druckwerk beigibt und dies auf dem Buchtitel für alle Welt sichtbar prangen lässt: „Mon cher Nora […]“ ist dort zu lesen. Auch Germaine Tillion gegenüber, die inzwischen über hundertjährig 2008 verstarb, galt es Re- verenz zu erweisen.⁶⁵ In diesem Jahr, im Jahre 2015, wurde sie am 27. Mai, dem Journée nationale de la résistance, als Große der Nation symbolisch ins Panthéon überführt – der säkularen Entsprechung der Kathedrale zu Reims. In dem wieder aufgelegten Buch aus dem Jahre 1961 rückt Pierre Nora von sei- ner damals eingenommenen politischen Haltung nicht ab. Dafür besteht in der Tat kein Grund. Für die Unabhängigkeit Algeriens und den Rückzug Frankreichs aus Nordafrika eingetreten zu sein, war damals ebenso richtig wie unumgänglich. No- ras Bedauern gilt wohl eher der dort eingestimmten Intonierung, dem dem Buch eigenen, verletzenden Zungenschlag. Und vielleicht gilt der jetzt angeschlagene Tenor des Bedauerns auch der lebensgeschichtlich gegenläufig sich eingestell- ten existenziellen Konstellation des Sommer 1962. Damals entschied sich Jacques Derrida in einer von Chaos, Panik und Gewalt gezeichneten Lage – zwischen „Kof- fer und Sarg“, wie es hieß⁶⁶ – seine Eltern aus ihrem Haus in El Biar bei Algier nach Frankreich zu geleiten. Tausende und Abertausende sogenannter europäi- scher „Repatriierter“ und algerischer Harkis drängten sich an den Quais zu ihrer Einschiffung übers Mittelmeer.⁶⁷ Ein Nachbar der Derridas, ein pied-noir,zoges vor, sich lieber mit einem Messer die Kehle durchzuschneiden, als von dannen zu ziehen. Es war ein Bild, das Albert Camus in seinem Torso gebliebenen auto- biographischen Roman Der erste Mensch, in dem der algerische Autor französi- scher Sprache verdeckt für ein Anrecht aus Gebürtigkeit, aus Natalität (Hannah Arendt) plädiert, literarisch vorwegnahm, als er eine Szene beschreibt, in der ein Weinbauer, ein colon,einpied-noir, stoisch auf seinem Traktor sitzend die von sei- nen Vorfahren gesetzten Weinreben mit den Wurzeln ausreißt.⁶⁸ Während Derrida seine Eltern, die niemals zuvor in Frankreich ansässig gewesen waren, dorthin be- gleitet, hält sich Pierre Nora in Algerien auf – und dies in doppelter Mission. Als Journalist des France Observateur und als Emissär des consistoire centrale israé- lite de France.⁶⁹ Im Auftrag des letzteren galt es, die Archive der algerischen Juden zu sichern und sie nach Frankreich zu überführen. Als Journalist interviewte er in

64 Nora 22012, 23, 32. 65 Nora 22012, 26. 66 Stora/Quemeneur 2014, 130. 67 Peeters 2013, 178. 68 Camus 2000, 113f. 69 Dosse 2011, 88. 48 | Dan Diner

Oran, der Stadt, in der er noch kurz zuvor als Lehrer wirkte, den Revolutionsführer und baldigen Staatspräsidenten Algeriens, . Dieser nahm Nora in seinem Wagen mit nach Algier.⁷⁰ Ben Bella hatte vor seiner Entlassung aus fran- zösischem Gewahrsam Noras Buch Les Français d’Algérie gelesen und sich über die dort zum Ausdruck gebrachte Tendenz zufrieden gezeigt. Nach fünfzig Jahren hat Pierre Nora, der Begründer des Konzepts der Lieux de mémoire, mit der Wiederauflage des Buches Les Français d’Algérie dem vermale- deiten algerischen Dilemma und der Jacques Derrida geschlagenen Wunde einen textuellen Gedächtnisort gestiftet. Dies getan zu haben, ehrt ihn.⁷¹

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70 Dosse 2011, 88. 71 Bei diesem Text handelt es sich um eine anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Fakultät für Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin am 12. November 2015 gehaltene Rede, die thematisch in das von Dan Diner geleitete ERC-Projekt „JudgingHistories“ gehört. Algerische Ouvertüren. Pierre Nora und Jacques Derrida im Widerstreit | 49

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