Zeitschrift f r Volkskunde
Halbjahresschrift der Deutschen Gesellschaft f r Volkskunde
Aus dem Inhalt
Karl Braun: Vom „Volksk rper“. Deutschnationaler Denkstil und die Positionierung der Volkskunde
Alexander Pinwinkler: Walter Kuhn (1903–1983) und der Bielitzer „Wandervogel e.V.“. Historisch-volkskundliche „Sprachinselforschung“ zwischen v lkischem Pathos und politischer Indienstnahme
Berichte
Buchbesprechungen
105. Jahrgang Waxmann 2009/I Zeitschrift f r Volkskunde Im Auftrag der Deutschen Gesellschaft f r Volkskunde herausgegeben von Silke G ttsch und Thomas Hengartner, Timo Heimerdinger, Ruth Kilian und Beate Spiegel Inhalt 105. Jahrgang 2009, I. Halbjahresband
Aufs tze Karl Braun: Vom „Volksk rper“. Deutschnationaler Denkstil und die Positionierung der Volkskunde ...... 1 Alexander Pinwinkler: Walter Kuhn (1903–1983) und der Bielitzer „Wandervogel e.V.“. Historisch-volkskundliche „Sprachinselforschung“ zwischen v lkischem Pathos und politischer Indienstnahme ...... 29 Berichte ...... 53 Buchbesprechungen ...... 96 Eingesandte Schriften ...... 164 Anschriften der Autorinnen und Autoren der Aufs tze und Berichte ...... 170 English Summaries (bearbeitet von Ramona Lenz) ...... 27,51
Die Zeitschrift erscheint j hrlich in zwei Halbjahresb nden mit einem Gesamtumfang von 21 Bogen. Der Bezugspreis betr gt im Abonnement j hrlich 47 E. Vorzugsabonnement f r Stu- dierende 31 E. Einzelheft 23,50 E. Alle Preise zuz gl. Porto- und Versandkosten. In den angegebe- nen Preisen sind 7 % MwSt. enthalten. K ndigung nur zum Ende des Jahrganges m glich. Bei Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft f r Volkskunde e. V. ist der Bezugspreis im Mitgliedsbei- trag enthalten. Anzeigenverwaltung: Waxmann Verlag GmbH, Postfach 8603, D-48046 M nster Gesamtherstellung: Waxmann Verlag GmbH, Postfach 8603, D-48046 M nster ISSN 0044–3700 www.waxmann.com; E-mail: [email protected] Anschriften der Redaktionen: Aufsatzteil: Prof. Dr. Silke G ttsch, Seminar f r Europ ische Ethnologie/Volkskunde, Christian- Albrechts-Universit t zu Kiel, Olshausenstraße 40, D-24098 Kiel; Prof. Dr. Thomas Hengartner, Universit t Hamburg, Institut f r Volkskunde/Kulturanthropologie, Edmund-Siemers-Allee 1, D-20146 Hamburg Berichte: Prof. Dr. Timo Heimerdinger, Johannes Gutenberg-Universit t Mainz, Deutsches Insti- tut, Abt. Kulturanthropologie/Volkskunde, Jakob Welder-Weg 18, D-55099 Mainz Besprechungen: Dr. Ruth Kilian, Rieser Bauernmuseum Maihingen, Klosterhof 3-8, D-86747 Maihingen; Dr. Beate Spiegel, Schw bisches Volkskundemuseum, Obersch nenfeld, D-86459 Gessertshausen Waxmann: M nster / New York / M nchen / Berlin Walter Kuhn (1903–1983) und der Bielitzer „Wandervogel e. V.“ Historisch-volkskundliche „Sprachinselforschung“ zwischen v lkischem Pathos und politischer Indienstnahme*
Von Alexander Pinwinkler, Wien/Salzburg
Zur „Sprachinsel“ als gelehrtem Konstrukt Deutsche Volkstumsforscher der Weimarer Republik und des „Dritten Reichs“ schrieben den deutschen „Sprachinseln“ außerhalb der Grenzen des Deutschen Reichs eine besondere politische Bedeutung als vermeintliche Br cken zum soge- nannten „Grenz- und Auslanddeutschtum“ zu. Die Forschungsrichtungen der „Sprachinselforschung“ und „Sprachinselvolkskunde“ erlebten damals eine aus- gepr gte Konjunktur. Sie waren nicht zuletzt mit dem Wirken des Volkskundlers und Siedlungshistorikers Walter Kuhn (1903–1983) und seines Kreises von ju- gendbewegten „Heimatforschern“ verkn pft, die selbst aus Bielitz (poln. Bielsko- Biała) im ehemaligen sterreichisch-Schlesien stammten. Gegenstand meines vor- liegenden Artikels sind begrifflich-diskursive Auspr gungen und biografische Kon- texte sowie die Rezeption des Sprachinselkonzepts in der fr hen Bundesrepublik, wobei ich besonders auf Ingeborg Weber-Kellermanns Auseinandersetzung mit dem Sprachinselkonzept eingehe. Ferner skizziere ich Aspekte der performativen Umsetzung des Sprachinselkonzepts im „Dritten Reich“. Dabei ist besonders zu beachten, dass die wissenschaftlich-politische Bedeutung des Sprachinselbegriffs im 20. Jahrhundert nur dann angemessen eingesch tzt wer- den kann, wenn seine Genese im Kontext der deutschen Romantik wenigstens an- gedeutet wird. Das Interesse deutscher Gelehrter an den Sprachinseln am Rande des deutschen Sprachgebiets ging auf die erste H lfte des 19. Jahrhunderts zur ck, als die Romantik „Sprache“ und „Volk“ als Gegenst nde linguistischer und ethno- grafischer Forschungen entdeckte.1 Zu dieser Zeit strebten berwiegend Literatur- und Sprachwissenschaftler, aber auch (popul r-)wissenschaftliche Schriftsteller da- nach, vermeintlich urspr ngliches Volksgut zu sammeln und dieses f r die Nach- welt aufzuzeichnen. Aus diesem Interesse heraus bereisten sie Sprachinseln bzw. sprachliche Enklaven, sie sp rten augenscheinlich vor ihrem Verschwinden ste-
* Die vorliegende Studie ist im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms 1106 „Urspr nge, Arten und Folgen des Konstrukts ,Bev lkerung‘ vor, im und nach dem ,Dritten Reich‘“ ent- standen. 1 Vgl. Jacob u. Wilhelm Grimm: Deutsches W rterbuch, Bd. 10 (1), Leipzig 1905, Sp. 2762, s. v. Sprachinsel („kleineres, abgesprengtes st ck des gebiets einer sprache innerhalb fremd- sprachlicher umgebung“).
29 Alexander Pinwinkler hende lokale Dialekte auf und machten ihren lexikalischen Bestand der b rgerli- chen ffentlichkeit zug nglich. Im Unterschied zu fr hneuzeitlichen gelehrten Diskursen, in denen mit Bezug auf Siedlungsgebiete deutscher Auswanderer meist nur vage von „deutschen Kolonien“ die Rede war, erschien so der Begriff „Sprach- insel“ erstmals als Gegenstand systematischer wissenschaftlicher Forschung.2 Eine zweite Traditionslinie der gelehrten Besch ftigung mit Sprachinseln l sst sich mit jenen ethnografisch-statistischen Forschungen benennen, die quantifizie- rende und qualifizierende Zug nge der „Volksbeschreibung“ miteinander zu ver- binden suchten. Einer der Vorreiter von Studien dieser Art war der sterreichische Statistiker Karl Freiherr von Czoernig (1804–1889), der in den 1850er-Jahren eine dreib ndige „Ethnographie der sterreichischen Monarchie“ ver ffentlichte. Der zweite Band dieses 1857 erschienenen Werks enthielt auch eine „Allgemeine Ethnologie oder Ueberblick einer Bev lkerungsgeschichte der sterreichischen Monarchie mit Andeutung ber die Entstehung der Sprachgr nzen und Sprach- inseln“. Die Ergebnisse seiner ethnografischen Studien bertrug Czoernig in eine Karte, die erstmals die sprachliche Vielfalt der Habsburgermonarchie verh ltnis- m ßig differenziert darstellte. Czoernig wies in dieser Karte nach eigenen Angaben alle Gemeinden und Ortschaften aus, die in Regionen mit gemischtsprachiger Be- v lkerung lagen. Er dokumentierte damit nachdr cklich das ethnografisch-statis- tisch fundierte Interesse an „Sprachgr nzen“ und „Sprachinseln“.3 „Ethnografisch“ in einem weiteren Sinn waren drittens auch die soziologisch und historisch orientierten Arbeiten Wilhelm Heinrich Riehls (1823–1897)4, der eine Form der Geschichtsbetrachtung anstrebte, die jenseits des Paradigmas der „Haupt- und Staatsaktionen“, Adolf Hauffens (1863–1930)5 und Raimund Fried- rich Kaindls (1866–1930) lag. Letzterer besch ftigte sich mit der Ansiedlung und
2 So etwa der Innsbrucker Germanist Ignaz von Zingerle (1825–1892), der sich schon Mitte des 19. Jahrhunderts mit deutschen Sprachinseln in S dtirol besch ftigte. Vgl. Reinhard Joh- ler: Zur Entstehung von Volkskunde an der Sprachgrenze. In: Wolfgang Jacobeit, Hannjost Lixfeld, Olaf Bockhorn (Hrsg.): V lkische Wissenschaft. Gestalten und Tendenzen der deut- schen und sterreichischen Volkskunde in der ersten H lfte des 20. Jahrhunderts. Wien u. a. 1994, S. 407–415, hier S. 408. Vgl. auch Walter Kuhn: Deutsche Sprachinselforschung. Ge- schichte – Aufgaben – Verfahren. Plauen 1934 (=Ostdeutsche Forschungen, 2), S. 82ff. 3 Karl Czoernig: Ethnographische Karte der Oesterreichischen Monarchie. Wien 1857; vgl. Ders.: Ethnographie der sterreichischen Monarchie. Bde. 1–3, Wien 1855–57. Vgl. Morga- ne Labb : La carte ethnographique de l’empire autrichien: la multinationalit dans ’l’ordre des choses’. In: Revue du Comit Fran ais de Cartographie, 2004, n˚ 180, S. 71–84. 4 Vgl. Wilhelm Heinrich Riehl: Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik. Bd. 1: Land und Leute; Bd. 2: Die b rgerliche Gesellschaft; Bd. 3: Die Fami- lie; Bd. 4: Land und Leute; 2. Wanderbuch. Stuttgart 1854–69. 5 Hauffen war Professor f r deutsche Sprache, Literatur und deutsche Volkskunde an der Deutschen Universit t Prag. Vgl. Adolf Hauffen: Die deutsche Sprachinsel Gottschee. Ge- schichte und Mundart, Lebensverh ltnisse, Sitten und Gebr uche, Sagen, M rchen und Lie- der. Graz 1895; vgl. auch Carl Freiherr v. Czoernig: Die deutsche Sprachinsel Gottschee. In: Zeitschrift des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins 9 (1878), S. 273–287.
30 Walter Kuhn und der Bielitzer „Wandervogel e. V.“
Aspekten der Wirtschaftsgeschichte der Deutschen in den Karpatenl ndern. Kaindl6 sprach nicht von Sprachinseln, sondern von „Colonien“ und „Colonisten“; mit seinen Fragestellungen und methodischen Zugangsweisen beschritt er insofern in einem begrenzten Rahmen historiografisches Neuland, indem er siedlungs- und wirtschaftsgeschichtliche Aspekte miteinander verkn pfte und in deutschnationaler Stoßrichtung deutsche Kolonisten im Osten der Habsburgermonarchie als Objekte der historiografischen Forschung „entdeckte“. Nationale und „v lkische“ Orientierungen von Sprachinsel-Forschungen ver- st rkten sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, wobei deutschb hmische Volkskundler eine Schl sselrolle einnahmen: Die sprachlich-metaphorische ber- h hung von Sprachinseln erfolgte in B hmen im sozialen Raum gelehrter Nationa- listen, von denen einige selbst am Rande des deutschen Sprachgebiets aufgewach- sen und dort politisch sozialisiert worden waren. Der publizistisch-politische Kampf um die „Sprachgrenze“ verband sich in B hmen mit dem dort zunehmend heimatkundlich fundierten Interesse an der Geschichte einzelner Regionen, St dte oder D rfer. Dass der „v lkische“ Begriff der Sprachinsel im Milieu der wissen- schaftlichen Volkskunde entstehen konnte, ist f r seine spezifische semantische Auspr gung charakteristisch. Bei Emil Lehmann (1880–1964), dem sudetendeutschen Begr nder einer soge- nannten „Sprachinselvolkskunde“, l sst sich eine enge Verbindung von volkskund- lichem, sprachgeschichtlichem und „biologischem“ Interesse an Sprachinseln fest- stellen. Lehmann hob nachdr cklich hervor, dass „die bestehenden Sprachinseln fast s mtlich [. . .] Sch pfungen unserer Volkskraft [sic!] sind“7. Mit dem Begriff „Volkskraft“ spielte er auf die ausschließlich biologisch gedeutete „Reproduktions- f higkeit“ des „Volkes“ an. Die Entwicklung der Geburtenrate und des „deutschen Volkstums“ waren in dieser Sicht eng aufeinander bezogen. Heimatromantik und „Volksforschung“ gingen auch bei dem Prager Volks- kundler Gustav Jungbauer (1886–1942), der seine Sachkenntnis aus Feldforschun- gen in B hmen sch pfte, eine enge Verbindung ein. Jungbauer ver ffentlichte 1930 einen einflussreichen Aufsatz ber die „Sprachinselvolkskunde“, in dem er von einem berzeitlichen Kulturgef lle zwischen Siedlern und „Umvolk“ ausging. Den Sprachinseldeutschen sei ein „Herrengef hl“ eigen, das sich auf ihre wirt-
6 Raimund Friedrich Kaindl: Geschichte der Deutschen in den Karpathenl ndern. Bde. 1–3, Stuttgart 1907–11; zum Czernowitzer Historiker Kaindl, der ab 1915 an der Universit t Graz t tig war, vgl. zuletzt Alexander Pinwinkler: Raimund Friedrich Kaindl. Geschichte und Volkskunde im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik. In: Karel Hruza (Hrsg.): sterreichische Historiker 1900–1945. Lebensl ufe und Karrieren in sterreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Portr ts. Wien 2008, S. 125–154. 7 Emil Lehmann: Deutsches Volkstum auf Vorposten. Prag 1918 (=Volksb cher zur Deutsch- kunde, 5), S. 4.
31 Alexander Pinwinkler schaftliche und kulturelle berlegenheit im Vergleich zu ihrer nicht deutschspra- chigen Umgebung zur ckf hren lasse.8 Als die deutschsprachigen Volksgruppen außerhalb des Deutschen Reiches um 1914/18 in den Blick v lkisch orientierter deutscher Kulturwissenschaftler gerie- ten, wurde der Begriff der Sprachinsel in wissenschaftlichen Diskursen zunehmend akzeptiert – auch und gerade in Kontexten der sogenannten „Volks- und Kulturbo- denforschung“ in der Weimarer Republik9, von der Walter Kuhn und der Kreis der Bielitzer „Wanderv gel“ außer von den sudetendeutschen Volkskundlern Lehmann und Jungbauer maßgeblich beeinflusst wurden.
Walter Kuhn in der Sicht von Geschichtswissenschaft und Volkskunde ber den Volkskundler, Historiker und „Heimatforscher“ Walter Kuhn gibt es bislang keine ausf hrlichere biografische Studie. Michael Burleigh, Michael Fahl- busch und Ingo Haar ber cksichtigten in ihren Arbeiten ber „Ostforschung in the Third Reich“, ber die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ bzw. ber „Historiker im Nationalsozialismus“ jeweils Kuhns Rolle im „Dritten Reich“. Wil- helm Fielitz besch ftigte sich in seiner Studie ber „Das Stereotyp des Wolhynien- deutschen“ gleichfalls mit dem Bielitzer Kreis von „Heimatforschern“, wobei er sich auf Kuhns Forschungen zu den „Wolhyniendeutschen“ beschr nkte.10 Außer Autoren wie den oben genannten, die in ihren Studien eine kritische Rekonstruk- tion v lkischer Forschungen und damit verbundener Netzwerke bezweckten, gab es in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung der Volkskunde und der Geschichts- wissenschaft bis in die j ngste Gegenwart eine Richtung, die dazu neigte, Wissen-
8 Gustav Jungbauer: Sprachinselvolkskunde. In: Sudetendeutsche Zeitschrift f r Volkskunde 3 (1930), S. 143–150, 196–204, 244–256, bes. S. 250ff. Vgl. Ingeborg Weber-Kellermann: Zur Frage der interethnischen Beziehungen in der „Sprachinselvolkskunde“. In: sterreichische Zeitschrift f r Volkskunde N. S. 13 (1959), S. 19–47, hier S. 28; dies.: Zur Interethnik. Do- nauschwaben, Siebenb rger Sachsen und ihre Nachbarn. Frankfurt a. Main 1978, S. 72. 9 Albrecht Penck, der Begr nder dieses Theorems, sprach in seinem programmatischen Auf- satz 1925 allerdings noch von (deutschen) „Inseln“ oder von „Inseln deutschen Volks- bodens“, die sich vorrangig in ihren Siedlungsformen und hinsichtlich des hohen Stands der in ihnen betriebenen Landwirtschaft signifikant von ihrem Umland abheben w rden. Vgl. Albrecht Penck: Deutscher Volks- und Kulturboden. In: Karl C. von Loesch: Volk unter V l- kern. Breslau 1925, S. 62–73, hier S. 66ff. 10 Michael Burleigh: Germany turns Eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich. Cambridge 1988; Michael Fahlbusch: Wissenschaft im Dienste der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931–1945. Baden-Baden 1999; Ingo Haar: Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten. G ttingen 2002 (=Kritische Studien zur Geschichtswis- senschaft, 143); Wilhelm Fielitz: Das Stereotyp des wolhyniendeutschen Umsiedlers. Popu- larisierungen zwischen Sprachinselforschung und nationalsozialistischer Propaganda. Mar- burg 2000 (=Schriftenreihe der Kommission f r deutsche und osteurop ische Volkskunde e. V., 82); vgl. ferner Wilhelm Fielitz: Walter Kuhn. In: Ingo Haar, Michael Fahlbusch (Hrsg.): Handbuch der v lkischen Wissenschaften. M nchen 2008, S. 350–353.
32 Walter Kuhn und der Bielitzer „Wandervogel e. V.“ schaftler vom habituell-mentalen Zuschnitt Kuhns als unpolitische „Nur-Gelehrte“ darzustellen. So attestierte beispielsweise Brigitte B nisch-Brednich Kuhns Studien pauschal eine „große Realit tsn he“. Sie motivierte Kuhns vorgeblich n chternen Wirklichkeitssinn mit dessen Identit t als Sprachinseldeutscher und „ sterrei- cher“. Seine „Deutsche Sprachinselforschung“ (1934) sei „kaum oder gar nicht von nationalsozialistischer Ideologie oder dem entsprechenden Vokabular beeinflußt“ gewesen.11 Kuhns aktive Mitarbeit an Praktiken der NS-Siedlungspolitik in den er- oberten Ostgebieten wurde in dieser Sichtweise allerdings tendenziell marginali- siert bzw. ausgeblendet. Zur Konstruktion der affirmativen Erz hlung ber einen Gelehrten, der auf sein Fach beschr nkt geblieben sei und der sich jenseits seiner wissenschaftlichen Forschungen nicht politisch bet tigt habe, trugen nicht zuletzt Kuhns Weggef hr- ten und Sch ler bei, die – ob bewusst oder unbewusst, bleibt dahingestellt – darauf verzichteten, „kritische“ Stellen in seiner Biografie und seinem Werk anzusprechen. Exemplarisch erw hne ich hier Bruno Schiers (1902–1984) Laudatio zu Kuhns 65. Geburtstag, aber auch Heide Wunders Nachruf auf Kuhn, in dem sie ihrem Lehrer bescheinigte, in seinen Arbeiten „immer Distanz und Sachlichkeit“ gewahrt zu ha- ben.12 Dass vermeintliche „Distanz“ und „Sachlichkeit“ – jedenfalls im „Dritten Reich“ – mit H rte und geradezu mit sozialtechnologischem „Machbarkeitswahn“ auf das engste verkoppelt sein konnten13, wird in dieser Sicht negiert. Die Bielitzer „Heimatforscher“ schrieben sich derartige Eigenschaften in ihrer legitimatorischen R ckschau notorisch selbst zu, ohne darauf einzugehen, dass sie als national/natio- nalistisch gesinnte Forscher zwischen Gelehrsamkeit und politischem Engagement selbst kaum getrennt hatten. Wenigstens retrospektiv sollten aber Distanz, Sach- lichkeit und wissenschaftlicher Anspruch geradezu eine Symbiose eingehen. Alfred Karasek (1902–1970) etwa ußerte sich zur Ausbildung der vier Bielitzer „Wander- v gel“ als Elektrotechniker und Maschinenbauer wie folgt: „[. . .] Diese technische Seite unseres Daseins bewahrte uns Bielitzer davor, als Scholaren der Wiener Alma mater dem dort g ltigen Hang zur Mythologie in der Volkskunde [. . .] zu verfal- len. [. . .] Wir [haben] uns eher der Sachforschung, Statistik, Kulturgeographie, So- ziologie und hnlich n chterner Betrachtungsweise zugeh rig gef hlt.“14
11 Brigitte B nisch-Brednich: Volkskundliche Forschung in Schlesien – eine Wissenschafts- geschichte. Marling 1994, S. 239. 12 Bruno Schier: Prof. Dr. Walter Kuhn – Hamburg zum 65. Geburtstag. In: Jahrbuch f r Ost- deutsche Volkskunde 11 (1968), S. 174–178; und Heide Wunder: Walter Kuhn. In: Preu- ßenland 21 (1983), S. 61. 13 Vgl. J rgen Reulecke: Generationalit t und die West-/Ostforschung im „Dritten Reich“ – ein Interpretationsversuch. In: R diger vom Bruch, Brigitte Kaderas (Hrsg.): Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Br chen und Kontinuit ten im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Wiesbaden 2002, S. 354–360, hier S. 358. 14 Vgl. etwa Alfred Karasek-Langer: Walter Kuhn zum 65. Geburtstag. Ostdeutsche Siedlungs- forschung zwischen gestern und morgen. In: Der Kulturwart 16 (1968), S. 1–21, hier S. 5.
33 Alexander Pinwinkler
Walter Kuhn: biografische und generationelle Kontexte Walter Kuhn wurde 1903 in Bielitz (poln. Bielsko-Biała) geboren, das damals als Kronland sterreichisch-Schlesien zur Habsburgermonarchie geh rte. Bielitz, das s dwestlich von Auschwitz am Fuß der Beskiden liegt, und seine Umgebung bildeten zusammen die einzige mehrheitlich von Deutschen besiedelte sprachliche Enklave, die in Oberschlesien gelegen war. Sein Vater Josef Kuhn wurde 1865 in der N he von Trautenau als Sohn eines armen „Feldg rtners“ in B hmen geboren. Josef Kuhn studierte an der Technischen Hochschule in Wien und war seit 1896 bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1925 Professor f r Maschinenbau an der Bie- litzer Staatsgewerbeschule. Kuhns Mutter Therese Mischka wurde 1872 in Wien geboren; ihre Vorfahren kamen aus Deutschb hmen. Ihr Vater war ein Tscheche, der als Schneider nach Wien gekommen war. Die deutschnationale Gesinnung sei- nes Elternhauses war f r die Ausformung von Kuhns Weltsicht von großer Bedeu- tung. Josef und Therese Kuhn bekannten sich zur „Los-von-Rom-Bewegung“, die mit den sterreichischen Deutschnationalen eng verbunden war.15 Im Februar 1919 trat Kuhn dem Bielitzer Zweigverein des „Wandervogels“ bei und wurde im folgenden Jahr ihr Leiter.16 Der „Wandervogel e. V.“ verband eine lebensreformerische Haltung mit einer prononciert „nationalen“ Gesinnung. Die romantisch verkl rte Entdeckung des „deutschen“ Mittelalters und des mittelalter- lichen Vagantentums sowie die proklamierte R ckkehr zur Natur sollten zu einer „ganzheitlichen“ Lebensform ausgestaltet werden, die sich im Wandern als gemein- schaftliches Erlebnis verdichtete.17 Schon zu dieser Zeit schloss sich Kuhn mit einigen lteren Bielitzer „Wanderv - geln“ – Josef Lanz (geb. 1902), Alfred Karasek und Viktor Kauder (geb. 1899) – zu einer sogenannten „heimatkundlichen Arbeitsgemeinschaft“ zusammen, deren Losung „Heimatbildung durch Heimatforschung“ war. Wie sich sp ter zeigen soll- te, bildete die Entstehung dieser „Arbeitsgemeinschaft“ den Auftakt f r eine le-
15 „Bei Festen wurde bei uns nicht sterreichisches Schwarz-Gelb, sondern gesamtdeutsches Schwarz-Rot-Gold geflaggt, und das Bismarck-Bild mit dem Schlapphut in unserem Wohn- zimmer ist mir noch heute gegenw rtig.“ Walter Kuhn: Eine Jugend f r die Sprachinselfor- schung. Erinnerungen. In: Ders.: Neue Beitr ge zur schlesischen Siedlungsgeschichte. Eine Aufsatzsammlung. Sigmaringen 1984 (=Quellen und Darstellungen zur schlesischen Ge- schichte, 23), S. 239. 16 Staatsarchiv Hamburg (StAH), Entnazifizierungsakt Dr. Walter Kuhn, Zl. 37704, Fragebo- gen. 17 Vgl. Andreas G rtner: Der sterreichische Wandervogel. Geschichte (bis 1918) und Charak- terisierung der Bewegung unter Ber cksichtigung der Entwicklung im Deutschen Reich. Phil. Dipl.-Arb., Salzburg 1995 [masch.], S. 1f., S. 24 und S. 59. Aus der umfangreichen neueren Literatur zur Geschichte des „Wandervogels“ und der deutschen Jugendbewegung in der Zeit zwischen den Weltkriegen vgl. u. a. Hermann Giesecke: Vom Wandervogel zur Hitlerjugend. Jugendarbeit zwischen Politik und P dagogik. Weinheim 1981; und Sigrid Bias-Engels: Zwischen Wandervogel und Wissenschaft. Zur Geschichte der Jugendbewegung und Studentenschaft 1896–1920. K ln 1988.
34 Walter Kuhn und der Bielitzer „Wandervogel e. V.“ benslange arbeitsteilige Zusammenarbeit von Kuhn, Karasek, Kauder und Lanz auf dem Gebiet der „Heimatforschung“, die Volkskunde und Bev lkerungsfor- schungen in einem weiteren Sinn miteinander verkn pfte. W hrend Kuhn sich an- fangs der Geschichte seiner Heimatstadt Bielitz/Bielsko zuwandte, w hlten Lanz Volksmusik, Lied und Tanz, Karasek Volkssage, M rchen und Brauch und Kauder das B chereiwesen als Gegenst nde ihrer Forschungen.18 In den 1920er-Jahren studierte Kuhn auf Geheiß seines Vaters Elektrotechnik in Wien. Daneben betrieb er Feldforschungen in den deutschsprachigen Gebieten Ostmittel- und S dosteuropas. Bestandsaufnahmen volkskundlicher Realien und demografischer Strukturen anhand von Auswertungen lokaler Kirchenb cher ver- banden sich mit dem individuellen oder gemeinschaftlichen Erwandern der deut- schen Sprachinseln im romantischen Geist. Nachdem er sein technisches Studium mit dem Diplomingenieursexamen abgeschlossen hatte, absolvierte Kuhn gemein- sam mit Karasek ein Studium der Geschichte und Volkskunde an der Universit t Wien. Materiell und ideell wurden er und seine Freunde bereits in dieser Zeit von Personen und Institutionen aus dem Umfeld deutschtumsbewusster Kreise unter- st tzt, ohne deren Hilfe ihre Reisen und Forschungsarbeiten vermutlich gar nicht m glich gewesen w ren. So studierte Kuhn in Wien auf Kosten der „Studienstif- tung des deutschen Volkes“, und seine Bekanntschaft mit dem Prager Historiker Eduard Winter (1896–1982) erm glichte es ihm und Karasek, ber das „Deutsch- tum Galiziens“ zu arbeiten. Winter hatte sich an Georg Schreiber (1882–1963)19 gewandt, der sich bereit erkl rte, die Ergebnisse von Kuhns Forschungen in der Reihe „Deutschtum und Ausland“ als Buch herauszubringen („Die jungen deut- schen Sprachinseln in Galizien. Ein Beitrag zur Methode der Sprachinselfor- schung“). Es enthielt ein Vorwort von Winter und wurde 1930 gedruckt.20 Auf- grund dieser Arbeit wurde Kuhn bei Arthur Haberlandt (1889–1964)21, dessen erster Dissertant er war, im Fach V lkerkunde (Volkskunde) promoviert. Zweit-
18 Vgl. W. Kuhn: Eine Jugend f r die Sprachinselforschung (wie Anm. 15), S. 238–275, hier S. 242. 19 Zum Pr laten, Zentrumspolitiker und Erforscher des Auslandsdeutschtums Schreiber vgl. Jan Nikolas Dicke: Eugenik und Rassenhygiene im wissenschaftlichen Diskurs der Univer- sit t und des Gesundheitswesens der Stadt M nster 1918–1939. Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatspr fung f r das Lehramt der Sekundarstufe II. M nster 2001 [masch.], S. 39–44. 20 M nster i. W. 1930. Vgl. W. Kuhn: Eine Jugend f r die Sprachinselforschung (wie Anm. 15), S. 252. Vgl. R diger vom Bruch, Rainer A. M ller: Historikerlexikon. M nchen 22002, s.v. Winter, Eduard. 21 Zu Haberlandt vgl. Olaf Bockhorn: Von Ritualen, Mythen und Lebenskreisen: Volkskunde im Umfeld der Universit t Wien. In: W. Jacobeit u. a. (Hrsg.): V lkische Wissenschaft (wie Anm. 2), S. 477–526, hier S. 507–509.
35 Alexander Pinwinkler pr fer war der Historiker Alfons Dopsch (1868–1953)22, der als Pr fungsstoff „vor allem die mittelalterliche Ostsiedlung“ vorsah.23 Um 1930/31 intensivierten sich zeitgleich zum Aufbau der „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ (VFG) Kuhns Kontakte zu den v lkischen Forschern in sterreich und Deutschland. 1931 nahm der Geograf Hans Schwalm mit Kuhn Kontakt auf, um ihn zur Mitarbeit am „Handw rterbuch des Grenz- und Ausland- deutschtums“ zu bewegen.24 1932 wurden Kuhn und Alfred Karasek als „j ngere Leute“, die „das Gebiet aus eigener wissenschaftlicher Arbeit kennen“, eingeladen, an einer Fahrt der S dostdeutschen Forschungsgemeinschaft (SODFG) in die Slo- wakei teilzunehmen, um dort verschiedene deutsche Sprachinseln zu besuchen. Auf dieser Fahrt hielt Kuhn ein Referat „Volkskundliches ber die Kremnitzer Sprachinsel“. Kremnitz (slowak. Kremnitza) entsprach nicht seiner These von der „nat rlichen“ zivilisatorischen berlegenheit der Deutschen im Vergleich zur sla- wischen Umwelt. Diese Annahme, die auf einen fortgeschritteneren Stand von Agrartechnik und Landesausbau bei den deutschen Siedlern abhob, w hrend „Kul- tur“ sich auf ihre sozialen Eigenschaften und Verhaltensmuster beziehen sollte, hatte er in seiner Jugendarbeit „Naturgeschichte der deutschen Sprachinsel“ vor- getragen. Jetzt musste Kuhn aber im Gegenteil feststellen, dass die Bewohner von Kremnitz geradezu „zivilisatorisch zur ckgeblieben“ seien. Gerade deshalb seien sie jedoch besonders z h in der „Verteidigung ihrer nationalen Art“. Sie w ren „die Anspruchsloseren, Z heren, Fleißigeren. Sie haben die gr ßere Kinderzahl, ihre D rfer sind im st rksten Maß berf llt, der Bev lkerungs berdruck ist ein außer- ordentlicher. Darum gibt es keine fremde Einwanderung, Mischehen sind selten, schon infolge der Verschiedenheit der beiderseitigen Wirtschaftsformen“25. Mit seinem Kremnitzer Tagungsbeitrag verwies Kuhn auf die diskursive Pr va- lenz eines bestimmten Bev lkerungsbegriffs, dessen semantische Struktur die Vor- stellung beinhaltete, dass sprachliche Minderheiten aufgrund ethnischer Kriterien „eindeutig“ von Mehrheiten abgegrenzt werden k nnten. Dieses Prinzip eines „eth- nischen“, auf Sprache und Abstammung abzielenden Differenzierungsmusters zwi- schen als verschieden erkannten sozialen Gruppen reichte dort ins Biologische/Bio- logistische hinein, wo Kuhn sich bestimmter Denkfiguren bediente, die dem Re- servoir „demografischer“ Argumentationsmuster entnommen waren: Die gr ßere Kinderzahl war in dieser Sichtweise, die wiederum mit Kuhns origin rer Kulturstu-
22 Vgl. Hanna Vollrath: Alfons Dopsch. In: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.): Deutsche Historiker. Bd. 7, G ttingen 1980, S. 39–54. 23 W. Kuhn: Eine Jugend f r die Sprachinselforschung (wie Anm. 15), S. 258. 24 Ebd., S. 260. Vgl. Walter Kuhn (unter Mitarbeit weiterer Autoren): Art. Galizien. In: Hand- w rterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums. Bd. 3, hrsg. von Carl Petersen u. a., Bres- lau 1938, S. 1–47. 25 Politisches Archiv des Ausw rtigen Amtes (PA AA), Kult VI A, 2-FOG Bd. 2, versch. Be- richte, Protokoll der 1. Tagung der „S dostdeutschen Forschungsgemeinschaft“ in der Slo- wakei vom 24.-27. September 1932.
36 Walter Kuhn und der Bielitzer „Wandervogel e. V.“ fen- und Reifungstheorie eng zusammenhing, Ausdruck einer „biologisch“ deter- minierten h heren „Fruchtbarkeit“ unter den Deutschen: Die „zivilisatorisch“ be- dingte „geringere Reife“ bei den in geografischen „R ckzugsgebieten“ lebenden Deutschen der Kremnitzer Sprachinsel bewirkte notwendigerweise eine gr ßere Kinderzahl und rief einen chronischen „Bev lkerungs berdruck“ hervor. Dadurch wurde ein elementarer „Landhunger“ ausgel st, der dem Deutschtum gleichsam die innere Kraft gab, um in der „fremden“ Umgebung zu berleben. Der sozialdar- winistisch begr ndete Gedanke der Auslese verschmolz mit dem konstruierten Bild eines archaisch-aggressiven Kolonistenvolks, das auf Scholle, Boden und Volkstum fixiert war. Im Jahr 1934 erschien als zweiter Band der Reihe „Ostdeutsche Forschungen“, die von Viktor Kauder herausgegeben wurde, eine weitere Monografie Kuhns. Diese Arbeit trug den Titel „Deutsche Sprachinselforschung – Geschichte, Auf- gaben, Verfahren“26. Im selben Jahr erschien Werner Conzes (1910–1986) geschichtswissenschaftli- che Studie „Hirschenhof – Die Geschichte einer deutschen Sprachinsel in Liv- land“. Conze bezeichnete Kuhns „besondere Methode“ der Sprachinselforschung als „richtungweisend [. . .] f r die Erforschung der gesamten deutschen Bauernsied- lungen, die im Osten in der Neuzeit entstanden sind“.27 Folgt man dieser Bemer- kung Conzes, hatte sich Kuhn somit binnen kurzem auch außerhalb der universit - ren Volkskunde einen Namen als Volkstumsforscher gemacht. 1936 wurde Kuhn vertretungsweise auf den Lehrstuhl f r deutsche Volkskunde an der Universit t Breslau berufen, wo er sein Amt im Oktober 1937 definitiv an- trat. Die Voraussetzung von Kuhns Habilitierung bildete seine „Deutsche Sprach- inselforschung“. Zum Zeitpunkt seines Karrieresprungs war er erst 33 Jahre alt.28 Kuhns Berufung stieß aber aus anderen Gr nden auf erhebliche Hindernisse: Die- ser ging n mlich ein offener Machtkampf zwischen der Gruppe um den bisherigen Leiter der volkskundlichen Abteilung am „Deutschen Institut“ Walther Steller (1895–1971) und den Bef rwortern des neuen Lehrstuhlinhabers voraus. In dem inneruniversit ren Streit um die Besetzung des Postens sprachen sich neben der Philosophischen Fakult t, der Dozentenschaft Breslau und dem Rektor der Univer- sit t Breslau u. a. die Professoren Bruno Schier, Friedrich Maurer (1898–1984) und Friedrich Metz (1890–1969) f r Kuhn aus. Die Anh nger Stellers f hrten ge-
26 Plauen 1934 (=Ostdeutsche Forschungen, 2). 27 Berlin 1934 (=Neue Deutsche Forschungen: Abteilung Volkslehre und Gesellschaftskunde, 2), hier S. 14f. F r „Hirschenhof“ strebte Conze aber nicht eine historisch-soziologische, an Kuhn orientierte, sondern eine mehr historisch-politische Darstellungsweise an. Dies liege an der „Andersartigkeit der baltischen Lage“. 28 Walter Kuhn: Der Lehrstuhl f r „Deutsche Volkskunde und ostdeutsches Volkstum“ an der Universit t Breslau. In: Schlesische Bl tter f r Volkskunde 1 (1939), S. 100–102.
37 Alexander Pinwinkler gen ihn ins Treffen, dass er „kein vollwertiger Vertreter des Faches“29 sei. Das mag daran gelegen haben, dass „Kuhn nach damaligen Maßst ben eigentlich kein Volkskundler [war]. Sein Konzept, Kultur, Geschichte und Lebensweise der Deut- schen in den Sprachinseln darzustellen, war f r den engen Kanon der Volkskunde der dreißiger Jahre zu unspezifisch“30. Als eigentliche Urheber und treibende Kr fte der Idee, Kuhn als Fachmann f r Schlesien an die „Ost-Universit t“ Breslau zu berufen, wo er als j ngstes Mitglied seiner Fakult t zu einem „Kreis von Siedlungsforschern, den Hermann Aubin mit Herbert Schlenger, Ludwig Petry, Heinrich Appelt um sich gesammelt hatte“31, las- sen sich allerdings weniger die Bef rworter Kuhns an der Universit t Breslau aus- machen, sondern vielmehr zwei einflussreiche Historiker im Hintergrund: Neben Hermann Aubin (1885–1969) auch Albert Brackmann (1871–1952)32: Aubin war in den VFG seit 1933 stellvertretender Vorsitzender der „Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft“ (NOFG) und „Beauftragter f r Schlesien“. In der Fach- diskussion um die Bewertung der deutschen Ostkolonisation trat Aubin daf r ein, diesen Begriff gegen den der „Ostbewegung“ und der „Besiedlung“ auszutauschen. In enger Anlehnung an entsprechende Positionen der Sprachinselforschung vertrat er „die These von der zeitlichen und r umlichen Geschlossenheit der Ostbewe- gung, die sich zwischen Karl dem Großen und dem Beginn des Ersten Weltkrieges bis in die W lder Wolhyniens und die Weiten Bessarabiens vorgeschoben hatte“33. Brackmann war seit 1929 Generaldirektor der Preußischen Staatsarchive. In dieser Funktion organisierte er die wissenschaftliche Abwehrarbeit gegen Polen. Er betei- ligte sich maßgeblich an der Organisation des Forschungsverbunds der VFG, ins- besondere der NOFG. Brackmann war eine der Integrationsfiguren der deutschen Geschichtswissenschaft im „Dritten Reich“.34 Aubins und Brackmanns Initiative, Kuhn als Professor nach Breslau zu berufen, erfolgte auf dem Hintergrund bestimmter wissenschaftspolitischer Konstellatio- nen: Die Deutsche Akademie M nchen (DA) und das Deutsche Auslandinstitut Stuttgart (DAI) hatten n mlich geplant, den Bielitzer Volkstumsforscher zum
29 So Ministerialdirektor Theodor Vahlen, 10.08.1936, in einer Stellungnahme zur Berufungs- angelegenheit Kuhn. Zit. n. B. B nisch-Brednich: Volkskundliche Forschung in Schlesien (wie Anm. 11), S. 233. 30 Ebd., S. 238. 31 Gotthold Rhode: Nachruf. Zum Tode von Walter Kuhn (1903–1983). In: Zeitschrift f r Ostforschung 32 (1983), S. 161–172, hier S. 163. 32 Vgl. B. B nisch-Brednich: Volkskundliche Forschung in Schlesien (wie Anm. 11), S. 238; I. Haar: Historiker im Nationalsozialismus (wie Anm. 10), S. 274. 33 Hans-Erich Volkmann: Historiker aus politischer Leidenschaft. Hermann Aubin als Volks- geschichts-, Kulturboden- und Ostforscher. In: Zeitschrift f r Geschichtswissenschaft 49 (2001), S. 32–49, hier S. 36; vgl. ferner Eduard M hle: F r Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung. D sseldorf 2005 (=Schriften des Bundesarchivs. 65). 34 Vgl. zu Brackmann I. Haar: Historiker im Nationalsozialismus (wie Anm. 10), S. 106–115.
38 Walter Kuhn und der Bielitzer „Wandervogel e. V.“
Schriftleiter der neu zu begr ndenden Zeitschrift „Archiv f r Landes- und Volks- forschung“ zu machen, die den 1934 eingestellten „Deutschen Heften f r Volks- und Kulturbodenforschung“ nachfolgen sollte. Dieses Vorhaben d rfte jedoch am Widerstand norddeutscher Volkstumsforscher gescheitert sein, die bef rchteten, dass die s ddeutschen Organisationen sich zusammenschließen w rden.35 Dass Kuhn seine Breslauer Professur mithilfe seiner beiden F rderer zugesprochen er- hielt, w rde in diesem Licht nicht so sehr – wie von B nisch-Brednich behauptet wurde – als Auswirkung eines „Nachwuchsmangels“ im Fach Volkskunde erschei- nen, sondern eher als Resultat eines Kompromisses zwischen verschiedenen regio- nal gebundenen Milieus von Volkstumsforschern, die um einen ann hernden Aus- gleich zwischen regionalen Interessen und finanziellen Ressourcen rangen.
Die Bielitzer „Wanderv gel“ und die NS-Umsiedlungs- und Vertreibungspolitik w hrend des Zweiten Weltkriegs Aufgrund ihrer gemeinsamen generationellen und sozialen Herkunft, durch ihre Sozialisation in der Jugendbewegung wie durch gemeinsame Studienerfahrun- gen bildeten Walter Kuhn und seine Freunde aus dem Bielitzer „Wandervogel e. V.“ eine nach außen hin relativ geschlossene Gruppe. Zwischen 1899 (Kauder) und 1903 (Kuhn) geboren, lassen sie sich der Alterskohorte jener jungen „Volks- forscher“ zuordnen, die zwischen der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 und dem deutschen Angriff auf Polen 1939 entscheidende Karriereschritte vollzogen. Die gemeinsam geteilten lebensgeschichtlichen Pr gungen und ideologi- schen Anschauungen der Bielitzer „Wanderv gel“ d rften jedoch nicht ausreichen, um ihren Aufstieg w hrend des „Dritten Reiches“ zu erkl ren. Das Konzept der „Funktionselite“, wie es Alf L dtke beschreibt36, scheint mir in Bezug auf die Gruppe um Walter Kuhn das Generationsmodell37 berzeugend zu erg nzen. Bei genauer Rekonstruktion der sozialen und institutionellen Bedingungen, aufgrund derer Kuhn und den anderen „Bielitzern“ der Sprung in das Milieu der „Ostfor-
35 M. Fahlbusch: Wissenschaft im Dienste der nationalsozialistischen Politik (wie Anm. 10), S. 142. 36 Vgl. Alf L dtke: Funktionseliten: T ter, Mit-T ter, Opfer? Zu den Bedingungen des deut- schen Faschismus. In: Ders. (Hrsg.): Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-an- thropologische Studien. G ttingen 1991, S. 559–590. 37 Als instruktive Fallstudie, die dieses Modell anhand der F hrungsspitze des RSHA plastisch greifbar werden l sst, vgl. Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das F hrungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Hamburg 2002. Wildt betont die „weitgehende generatio- nelle Homogenit t“ der Spitze des RSHA, von der mehr als drei Viertel „den Jahrg ngen 1900 und j nger“ entstammten. Eine weitere ann hernde Parallele zum Bielitzer Kreis ist der von Wildt konstatierte funktionale Zusammenhang zwischen Antisemitismus und ei- nem modernen, „sachlichen“ „Rationalit tsmodus“, wodurch nicht zuletzt „Juden“ zu einem „Sicherheitsproblem“ erkl rt und damit der Willk r des nationalsozialistischen Regimes be- liebig unterworfen werden konnten (vgl. S. 24, 23).
39 Alexander Pinwinkler scher“ und „Ostexperten“ gelang, f llt die Bedeutung der VFG, aber auch des staats- und parteinahen Stipendien- und Preisverleihungswesens auf.38 Kuhns, Karaseks und Kurt L cks (1900–1942) Karrierewege verliefen anf ng- lich ber Instanzen und Netzwerke, die außerhalb der Universit ten angesiedelt waren. Alle drei wurden jedoch bereits in der Weimarer Republik zunehmend von einflussreichen Universit tsprofessoren gef rdert. Arthur Haberlandt, Georg Schreiber (1882–1963), Wilhelm Winkler (1884–1984) und Eduard Winter wa- ren v lkisch orientierte Sozial- und Kulturwissenschaftler, die einer lteren Genera- tion angeh rten. Sie wirkten in katholisch-nationalen Milieus und f rderten gezielt „jungkonservative“ Nachwuchsforscher, so auch Kuhn und seine Weggef hrten.39 Gerade die Bereitschaft der Bielitzer „Wanderv gel“, sich mit Methoden aus Volks- kunde, Statistik, Geschichte und Siedlungsgeschichte, mithin von einander be- nachbarten Disziplinen, auseinanderzusetzen, sollte sie sp ter, in Kontexten des Nationalsozialismus, in ihrer eigenen Sicht dazu bef higen, komplexe Nationalit - tenverh ltnisse Ostmitteleuropas multiperspektivisch zu erforschen und diese ziel- gerichtet sozialplanerisch und -technologisch umzugestalten.40 Die Bielitzer „Wanderv gel“, besonders Walter Kuhn, profitierten unverkenn- bar von neuen Karrierechancen, die die Macht bernahme der Nationalsozialisten 1933 und der – schon vorher erkennbare – Trend zur „Volksgeschichte“ innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft mit sich brachten. Wie J rgen Reulecke in Bezug auf die j ngere Generation der „West- und Ostforscher“ treffend feststellte, ffneten sich bisher verschlossene berufliche M glichkeiten „sp testens [. . .] ab Mitte der 30er-Jahre f r diejenigen jungen Wissenschaftler, die sich den ,richtigen‘ Mentoren angeschlossen hatten und die [die] ,richtigen‘ Forschungsthemen bear- beiteten“41. Im Fall Kuhns und Karaseks waren zweifellos Hermann Aubin und Albert Brackmann die „richtigen Mentoren“, die besonders nach dem Krieg daf r sorg-
38 Vgl. Johann Wolfgang Goethe-Stiftung: Der Nikolaus Coppernicus-Preis 1939. Zur Erinne- rung an die Verleihung des Nikolaus Coppernicus-Preises 1939 an Walter Kuhn, Breslau o. O., o. J. Der Coppernicus-Preis wurde in den folgenden Jahren u. a. an A. Breyer, A. Ka- rasek und an V. Kauder vergeben. Vgl. Jan Zimmermann, Beitrag Toepfer-Preise 1935– 1945, in: H-Soz-u-Kult Humanities Sozial- und Kulturgeschichte. http://hsozkult.geschich- te.hu-berlin.de/BEITRAG/diskusio/NSZEIT/nszeit23.htm (26.8.2008). 39 Wilhelm Winkler beispielsweise ver ffentlichte zwei Studien Kuhns (als Nr. 6 und 7) in der Schriftenreihe des „Instituts f r Statistik der Minderheitsv lker“ an der Universit t Wien. Vgl. Alexander Pinwinkler: Wilhelm Winkler (1884–1984) – eine Biographie. Zur Ge- schichte der Statistik und Demographie in sterreich und Deutschland. Berlin 2003 (=Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 75), S. 217f. 40 Diese Selbstsicht sollte heute nicht dazu verleiten, v lkischen Siedlungsforschern etwa ein besonderes Potenzial an methodischer „Innovation“ zuschreiben zu wollen. Vgl. zur Kritik an der „Innovationsthese“ Axel Fl gel: Ambivalente Innovation. Anmerkungen zur Volks- geschichte. In: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), S. 653–671. 41 J. Reulecke: Generationalit t (wie Anm. 13), hier S. 358.
40 Walter Kuhn und der Bielitzer „Wandervogel e. V.“ ten, dass zwei der wichtigsten Forscher des Bielitzer Kreises sich fachlich der Ge- schichtswissenschaft zuordneten.42 Es bleibt somit festzuhalten, dass jene spezi- fischen Voraussetzungen, die letztlich zur Entstehung einer technokratischen Funk- tionselite der Siedlungs- und Bev lkerungsplanung f hrten, erst im Zusammen- wirken von m chtigen „Mandarinen“ der „Wilhelminer“ oder der „Frontk mpfer“- Generation mit den j ngeren Nachwuchskr ften43 geschaffen wurden. So war Alfred Karasek im Jahr 1939 gemeinsam mit Wilfried Krallert (1912– 1969), dem Gesch ftsf hrer der Publikationsstelle der SODFG in Wien, und Fritz Valjavec (1909–1960) f r die SODFG Mitglied im „Hauptschulungsamt“ der NSDAP. Seit 1938 war Karasek u. a. wissenschaftlicher Referent der SODFG in Wien. Im Krieg geh rte er als SS-Obersturmf hrer dem „Sonderkommando K ns- berg“ an, das seit 1941 der Waffen-SS unterstand. Dieses diente „unmittelbar der Erbeutung, der Sicherstellung und dem Abtransport von politischen Archiven der ausw rtigen mter, der statistischen Zentral mter bei den Innenministerien und der milit risch-geographischen Karten der besetzten Staaten“. F r die SODFG war Karasek u. a. als „Gebietsbevollm chtigter f r die Umsiedlungsaktion der Deutschst mmigen in Wolhynien zust ndig.44 Kurt L ck, der als Achtzehnj hriger bei den K mpfen um Posen (poln. Poznan´) verwundet worden war, promovierte 1926 an der Universit t Breslau mit einer Arbeit ber „Die Bauern im polnischen Roman des 19. Jahrhunderts“. Er arbeitete vor allem im deutschen Kulturleben in Posen mit, wo er bis 1940 die „Gesch fts- stelle der Volksdeutschen“ leitete. Im „Dritten Reich“ bescheinigte er u. a. „Volks- tumszugeh rigkeiten“ und avancierte zum SS-Obersturmbannf hrer. Als solcher leitete er die „Volksdeutsche Vereinigung“ und fungierte als Verbindungsmann der NOFG zum SD-Oberabschnitt Warthe. L ck war damit neben Kuhn der zweite „Polenexperte“ der NOFG. Beide wurden seit 1934 von der NOFG regelm ßig mit Geldmitteln unterst tzt. L ck starb 1942 als SS-Hauptsturmf hrer und „Sonderf hrer“ bei einer sogenannten „S uberungsaktion“ im Mittelabschnitt der Ostfront.45 Viktor Kauder war ein wichtiger Aktivist der deutschen Kulturpflege in Polen. Er gab einige Zeitschriften und Reihen heraus, darunter seit 1925 gemein-
42 Kuhn selbst schrieb sp ter f r den ausf hrlichen, von G. Rhode verfassten Nachruf auf Au- bin jenen Teil, der Aubins Anteil an der „Siedlungsforschung“ w rdigen sollte. Vgl. Gotthold Rhode (in Zusammenarbeit mit Walter Kuhn): Hermann Aubin und die Geschichte des deutschen und europ ischen Ostens. In: Zeitschrift f r Ostforschung 18 (1969), S. 601– 621, hier S. 605–613. 43 Vgl. hierzu auch Ingo Haar: „Revisionistische“ Historiker und Jugendbewegung: Das K - nigsberger Beispiel. In: Peter Sch ttler (Hrsg.): Geschichtsschreibung als Legitimationswis- senschaft 1918–1945. Frankfurt 21999, S. 52–103. 44 M. Fahlbusch: Wissenschaft im Dienste der nationalsozialistischen Politik (wie Anm. 10), S. 487f., 492, 497, 480, 516. 45 Ebd., S. 192f., 516, 559; M. Burleigh: Germany turns Eastwards (wie Anm. 10), S. 103f.; W. Fielitz: Das Stereotyp des wolhyniendeutschen Umsiedlers (wie Anm. 10), S. 383.
41 Alexander Pinwinkler sam mit Hermann Rauschning (1887–1982), dem sp teren Danziger Senatspr - sidenten, die „Deutschen Bl tter in Polen“. Kauder war zusammen mit Kuhn und L ck einer der Vertrauensm nner der NOFG in Polen. 1932 vermittelte er Kuhn eine Stelle als wissenschaftlicher Assistent beim „Deutschen Kulturbund“ in Polen. Im Rahmen des deutschen Kulturraubs nach dem Polenfeldzug war Kauder als ehemaliger Sekret r des „Verbandes deutscher Volksb chereien“ daf r verantwort- lich, dass ganze Bibliotheken geschlossen und beschlagnahmt wurden.46 Josef Lanz war Lehrer in Neudorf bei Drohobycz und in Dornfeld in Galizien, wo er 1939/40 als Sachverst ndiger in der Umsiedlungskommission mitarbeitete.47 Walter Kuhn selbst hatte, wenige Monate nachdem Bielitz/Bielsko durch deut- sche Truppen erobert worden war, am 6. Dezember 1939 um Aufnahme in die NSDAP nachgesucht, in die er am 1. Februar 1940 tats chlich eintreten konnte.48 Wie Kuhns h ufige Teilnahmen an verschiedenen Veranstaltungen von Deutsch- tumsverb nden49 und seine Mitwirkung an Tagungen der VFG vor und nach 1933 belegen, wurde seine Karriere nach der Macht bernahme der Nationalsozialisten in Deutschland nicht gehemmt. Im Gegenteil: Seine vielf ltigen Aktivit ten in und außerhalb nationalkonservativer und NS-naher Institutionen und Organisationen d rften seinen Aufstieg nur gef rdert haben. F r die NOFG bekleidete Kuhn neben Kurt L ck die Funktion eines Sachver- st ndigen f r Polen und das dortige Deutschtum. F r die NOFG, der er seit ihrer Gr ndung am 1. November 1933 angeh rte, war er 1939 auch im Hauptschu- lungsamt der NSDAP t tig.50 Die VFG hielten nicht nur Tagungen in ethnischen Grenzgebieten ab und beobachteten die Publikationst tigkeit von Sozialwissen- schaftlern in den „Feindstaaten“, sondern sie engagierten sich auch konkret in den Planungen f r die „Neuordnung“ Europas im „Dritten Reich“. Die Schnittstellen und handlungsrelevanten Verbindungslinien zwischen „wis- senschaftlichen“ Entw rfen sozio konomischer „(Neu-)Ordnungen“ und deren so- zialtechnischen Umsetzungsstrategien scheinen in der zeitgeschichtlichen For- schung noch nicht restlos gekl rt zu sein. Der instrumentelle Charakter von Denk- schriften aus dem Umfeld der VFG in derartigen Zusammenh ngen ist dennoch
46 M. Fahlbusch: Wissenschaft im Dienste der nationalsozialistischen Politik (wie Anm. 10), S. 193; 479; M. Burleigh: Germany turns Eastwards (wie Anm. 10), S. 106; W. Fielitz: Das Stereotyp des wolhyniendeutschen Umsiedlers (wie Anm. 10), S. 377. 47 W. Fielitz: Das Stereotyp des wolhyniendeutschen Umsiedlers (wie Anm. 10), S. 381. 48 Bundesarchiv (BArch) Berlin, (ehemaliges Berlin Document Center, BDC), W. Kuhn, NSDAP-Gaukartei. 49 Kuhn geh rte z. B. dem Bund deutscher Osten (BDO), der als Grenzlandorganisation den nationalsozialistischen „Volkstumsgedanken“ vertrat, seit 1938 als Mitglied an. Vgl. StAH, Entnazifizierungsakt W. Kuhn, Fragebogen. Vgl. auch I. Haar: Historiker im Nationalsozia- lismus (wie Anm. 10), S. 156–158. 50 M. Fahlbusch: Wissenschaft im Dienste der nationalsozialistischen Politik (wie Anm. 10), S. 132f.
42 Walter Kuhn und der Bielitzer „Wandervogel e. V.“ unbestritten. Von Kuhn ist bisher mindestens eine Denkschrift bekannt, die mit „Deutsche D rfer in Mittelpolen, unmittelbar jenseits der alten Reichsgrenze“51 bertitelt ist. Fahlbusch und Haar erw hnten ferner eine „Denkschrift ber die Eindeutschung Posens und Westpreußens und der damit zusammenh ngenden Umsiedlungen“ vom 11. Oktober 1939, die eine Gemeinschaftsarbeit von Albert Brackmann, Hermann Aubin, Walter Kuhn, Theodor Schieder (1908–1984), Werner Trillmich (1914–1985) und Ludwig Petry (1908–1991) darstellte.52 Weitgehend dokumentiert ist Kuhns beratende Rolle bei der geplanten Umsied- lung der Wolhyniendeutschen, die von Ostpolen in die Gaue Posen und War- thegau verbracht werden sollten.53 Am 22. J nner 1940 wandte sich Kuhn an den Chef der Sicherheitspolizei und deren SD-Einwandererzentrale Nord-Ost „Lodsch“ mit der Schrift „Stammesgruppen, Bodenverh ltnisse, Anbaufr chte usw. in Galizien und Wolhynien und die sich daraus f r die Umsiedlung ergebenden Gesichtspunkte“. Bei einer Sitzung des Arbeitskreises Umsiedlung der „Reichs- arbeitsgemeinschaft f r Raumforschung“ (RAG) am 12. April 1940 warnte er da- vor, die Wolhyniendeutschen im Vergleich zu den Reichsdeutschen als „Menschen zweiter Klasse“ bzw. lediglich als „Menschenmaterial“54 zu betrachten. Gleichzeitig behauptete er, dass sie zivilisatorisch r ckst ndig seien, was ihn nicht daran hinder- te, ihnen als Kolonisten besondere F higkeiten zuzuschreiben. Kuhn trat daf r ein, den Wolhyniendeutschen diese Eigenschaften oder F higkeiten auch nach ihrer Umsiedlung zu bewahren. Dies schien nur m glich zu sein, indem f r ihre Ansied- lung ein spezifisches naturr umliches Umfeld gesucht werden sollte, das ihrer ange- nommenen „Stammesart“ entsprach. Nationalsozialistische Umsiedlungspolitiken beruhten wesentlich auf dem wis- senschaftlichen Paradigma der Ansiedlungen in „geschlossenen“ Dorfgemeinschaf- ten, das seit den Studien des Wiener Geografen Hugo Hassinger (1877–1952) ber die Umsiedlung der S dtiroler (1939) und den Forschungen Peter-Heinz Se- raphims (1902–1979)55 ber das osteurop ische Judentum (1938) vorherrschend geworden war. Hassinger griff bei seinen berlegungen auch auf Studien Kuhns zur ck, als er mit Blick auf eine m glichst „vollst ndige ethnographische Rekons-
51 BA, R 153 Puste Berlin-Dahlem, F 63 b, 1939. 52 M. Fahlbusch: Wissenschaft im Dienste der nationalsozialistischen Politik (wie Anm. 10), S. 473f.; I. Haar: Historiker im Nationalsozialismus (wie Anm. 10), S. 11. 53 Vgl. Michael Burleigh: Die Stunde der Experten. In: Mechtild R ssler, Sabine Schleiermacher (Hrsg.): Der „Generalplan Ost“. Hauptlinien der nationalsozialistischen Vernichtungspoli- tik. Berlin 1993, S. 346–350, hier S. 349. 54 Zit. n. M. Fahlbusch: Wissenschaft im Dienste der nationalsozialistischen Politik (wie Anm. 10), S. 516. 55 Zu Seraphim vgl. Hans-Christian Petersen: Bev lkerungs konomie – Ostforschung – Politik. Eine biographische Studie zu Peter-Heinz Seraphim (1902–1979). Osnabr ck 2007.
43 Alexander Pinwinkler truktion der S dtiroler“56 vorschlug, diese Volksgruppe in den Beskiden nahe der Bielitz-Bialaer Sprachinsel anzusiedeln. In Kuhns Denken spiegelte sich ein statisches Bild grundlegender Wirkungs- mechanismen innerhalb von Gesellschaften, deren Dynamiken von sozialem Wan- del, von Migrationen und von Kulturtransfers er in Bezug auf die Wolhyniendeut- schen nicht ber cksichtigte. Indem er im Anschluss an Hassinger sich daf r ein- setzte, eine bestimmte „Stammesart“ ber ihre Umsiedlung hinweg zu bewahren und in einem neuen geografischen Umfeld zu rekonstituieren, n herte er sich der nationalsozialistischen Utopie eines ethnisch abgrenzbaren und rassisch homoge- nen Staates an, der die „Volksgemeinschaft“ als Dogma ber den Einzelnen stellte, ohne auf die betroffenen Menschen R cksicht zu nehmen. Insofern war Kuhns Haltung gegen ber den Wolhyniendeutschen doch die eines Wissenschaftlers, der eine bestimmte, erst durch nationalistische Pr missen und gelehrte Vorannahmen „konstruierte“ Volksgruppe diskursiv zu einem „Menschenmaterial“ machte, das letztendlich f r nationalsozialistische Umsiedlungszwecke beliebig instrumentali- siert werden konnte. Die zweite Region, f r die Kuhn neben Ostpolen und Wolhynien als Berater eingesetzt wurde, war seine engere Heimat Schlesien. Bei einer Berliner „Bev lke- rungsgeschichtlichen Tagung“, an der im Herbst 1940 außer Kuhn u. a. der Danzi- ger Historiker Erich Keyser (1893–1968) und Hermann Aubin teilnahmen, wurde dar ber gesprochen, wie die „Germanisierung“ slawischer Bev lkerungsgruppen in den preußischen Ostprovinzen historisch zu bewerten sei. Kuhn bezog sich in sei- ner Stellungnahme auf die j ngere Bev lkerungsgeschichte Schlesiens: Der Bev l- kerungsr ckgang sei dort einerseits darauf zur ckzuf hren, dass im 19. Jahrhun- dert eine Abwanderung nach Westen eingesetzt habe. Dagegen habe die saisonale Migration polnischer Landarbeiter zugenommen. Ferner sei die Geburtenrate der Deutschen Schlesiens vergleichsweise niedriger, wodurch es zu einer relativen Ab- nahme der Deutschen gegen ber den Polen gekommen sei. Die besondere Proble- matik, die sich aus der Sicht der Volkstumsforscher aus diesen demografischen Entwicklungen ergab, fasste Kuhn b ndig so zusammen: „W hrend die Sprach- grenze nach dem Osten vordrang, so stand dem eine Verschiebung des Menschen- tums in Rasse nach dem Westen gegen ber“57.
Relationen von „Sprache“, „Volk“ und „Bev lkerung“: Zur Kritik der Theorie der „Sprachinsel“ In seinem Aufsatz „Versuch einer Naturgeschichte der deutschen Sprachinsel“, der 1925 in der Zeitschrift „Deutsche Bl tter in Polen“ erschien, entwarf der da-
56 M. Fahlbusch: Wissenschaft im Dienste der nationalsozialistischen Politik (wie Anm. 10), S. 514. 57 Zit. n. ebd., S. 579.
44 Walter Kuhn und der Bielitzer „Wandervogel e. V.“ mals 22-j hrige Kuhn erstmals eine Volkstumssoziologie der deutschen Sprachmin- derheiten. Ausgehend von der Forderung, „Gesetze des Sprachinsellebens“ zu fin- den, entwarf er eine Theorie und Methode der „vergleichenden Sprachinselkunde“. Er trat daf r ein, die „biologischen“ Kr fte des deutschen Volkstums in den Sprachinseln zu erforschen, die sich auf „die nat rliche Volksvermehrung, die Ver- bundenheit mit der Scholle, die b uerliche Art berhaupt“ beziehen sollten58. Als Sprachinsel bezeichnete Kuhn „eine durch geschlossene Kolonisation neu- geschaffene Siedlung eines Volkes im Sprachgebiete eines anderen. [. . .] Nur sie tragen die wesentlichen Merkmale, die Neusch pfung ,aus frischer Wurzel‘ und die Entstehung in einem Zuge, an sich.“ Nach dieser Definition geh rten „die moder- nen Ansammlungen Deutscher in fremdsprachigen Großst dten“ nicht zu den Sprachinseln. Diese „unechten Sprachinseln“ entbehrten n mlich jener „vegetati- ven und geistigen Kr fte, die eine Sprachinsel im engeren Sinne kennzeichnen“59. Wesentlich f r das Sprachinseltheorem war, dass Kuhn damit eine ganz be- stimmte Theorie verband, die auf dem Gedanken unterschiedlicher „Reifestufen“ kulturell verschieden entwickelter V lker beruhte: Die „Kolonisation eines Volkes im Gebiet eines anderen“ sei n mlich „nur dann m glich, wenn beide auf verschie- denen Reifestufen stehen.“ Jene „unechten“ Sprachinseln, die aus den modernen Wanderungen entstanden seien, schloss Kuhn aus seinen Untersuchungen aus, da sie auf den „Menschenaustausch zweier V lker mit gleicher Entwicklungsreife“ zu- r ckgingen.60 Kuhn grenzte sich nachdr cklich gegen ber lteren Darstellungen ab, die die Verh ltnisse bei den „Auslanddeutschen“ thematisiert hatten. Diese h tten sich n mlich zu sehr darauf konzentriert, politische und wirtschaftliche Fragen zu be- handeln, und dabei die Erforschung des „Volkstums“ vernachl ssigt. Kuhn stand hingegen f r eine besondere Richtung in der Volkskunde, die „biologischen“ Kr f- ten eine zentrale Bedeutung f r die „wissenschaftliche“ Beschreibung der Sprach- inseln zuerkennen wollte. Diese neuartige Zugangsweise zielte nicht zuf llig auf die „Sprachinseldeutschen“ ab: Die jungen Volkskundler und Feldforscher um Walter Kuhn waren n mlich der Auffassung, dass diese eine im Reich berwundene (oder: verlorene) Kulturstufe repr sentierten, die gleichsam unter Laborbedingungen mit neuartigen, erst zu entwickelnden „soziologischen“ Methoden erforscht werden und zwecks v lkischer R ckbesinnung den „Reichsdeutschen“ als Spiegel vor Au- gen gehalten werden sollte. Den volkstumsbegeisterten jungen Forschern galten die deutschsprachigen Minderheiten als Vorbilder einer anscheinend urspr ng- lichen und daher von ihnen als authentisch bewerteten deutschen Lebensf hrung, die von Industrialisierung und Urbanisierung nicht oder wenig betroffen sei.
58 Walter Kuhn: Versuch einer Naturgeschichte der deutschen Sprachinsel. In: Deutsche Bl tter in Polen 3 (1926), S. 65–140, 629–634, hier S. 67. 59 Ebd., S. 69f. 60 Ebd., S. 71f.
45 Alexander Pinwinkler
Der ideologischen Aufwertung der „Sprachinseldeutschen“ entsprach eine Um- wertung des bisher vorherrschenden Geschichtsbilds: Nicht der Staat, sondern das Volk, genauer die „vegetativen Kr fte“ des Volkes, traten als eigentliche Triebkr fte der geschichtlichen Entwicklung ins Leben. Das angenommene Missverh ltnis von „Land“ bzw. „Boden“ und Bev lkerungsgr ße regulierte Kuhn zufolge gesetzm ßig den zahlenm ßigen Ab- und Zustrom von und zu einem „Volksk rper“, der eine nat rliche Entwicklung vom „Urzustand“ bis in die Moderne durchlaufen habe. Andere Einflussfaktoren, die auf die Bev lkerungsentwicklung einwirkten – wie etwa strukturelle Ver nderungen von Arbeitsm rkten oder die Rolle von trans- nationalen Kommunikationssystemen als Stimulans von Wanderungen –, gerieten nicht in Kuhns Blick. In seinem Modell trat „Migration“ ausschließlich als ein Massenph nomen auf, dessen Dynamik von „Bev lkerungs bersch ssen“ induziert wird und in dem einzelne Menschen als eigenst ndig Handelnde keine Rolle spie- len. Kuhns normatives „Geschichtsmodell“ beanspruchte allgemeine G ltigkeit und zielte darauf ab, die behauptete kulturelle berlegenheit der Deutschen gegen ber den Slawen historisch zu begr nden. Wie eng bei Kuhn Kulturtr ger- und Reife- stufentheoreme miteinander verflochten waren, belegen seine Aussagen, die er an die Er rterung der Reifestufentheorie unmittelbar anschloss: Demnach w rden die Slawen im Wesentlichen die gleiche Entwicklung wie die Deutschen durchmachen, allerdings „um mehrere Jahrhunderte“ verz gert.61 Wenigstens ließ Kuhn den Sla- wen damit indirekt die M glichkeit offen, einmal an den zivilisatorischen Aufstieg der Deutschen anzuschließen. Es ist jedoch wichtiger, den instrumentellen Charak- ter von Kuhns Reifestufentheorie richtig einzusch tzen: Diese sollte die Theorie von der berlegenheit der Deutschen (Kulturtr gertheorie) gegen ber den Slawen legitimatorisch untermauern.
Zum Problem der Kontinuit t nationalistischer Traditionen der „Sprachinselvolkskunde“ nach 1945 – Ingeborg Weber-Kellermann ber Walter Kuhns „Sprachinselforschung“ Auf den Zusammenbruch von Nationalsozialismus und „Drittem Reich“ rea- gierten die Volkskundler, darunter Alfred Karasek und Josef Lanz, indem sie damit begannen, eine „Volkskunde der Heimatvertriebenen“ aufzubauen.62 Kuhn selbst, der erst 1955 – bezeichnenderweise mit Hilfe von Hermann Aubin – an der Uni- versit t Hamburg neuerlich eine Professur, diesmal f r „Siedlungsgeschichte und
61 Ebd., S. 75. 62 Vgl. W. Kuhn: Eine Jugend f r die Sprachinselforschung (wie Anm. 15), S. 274.
46 Walter Kuhn und der Bielitzer „Wandervogel e. V.“
Volkstumsforschung namentlich Ostdeutschlands“63, erhalten hatte, betonte die Kontinuit t der volkskundlichen Forschung ber 1945 hinweg. An Grundz gen seiner Theorie der deutschen Sprachinsel hielt er fest, selbst nachdem die deutsch- sprachigen Minderheiten in Ostmittel- und S dosteuropa als Folge von National- sozialismus, Flucht und Vertreibung gr ßtenteils verschwunden waren.64 „Die bertragung der im Osten lebenden Formen nach dem Westen“ sei mit einer Me- thodik ergr ndet, die der bisherigen „Sprachinselvolkskunde“ gleichen w rde. Er selbst wandte sich nunmehr „der Geschichte des Ostdeutschtums“ zu und war da- mit „Siedlungshistoriker“ geworden. Verschiedene Stipendien erm glichten es ihm, zwei groß angelegte Studien zu ver ffentlichen: die 1954 in W rzburg er- schienene „Siedlungsgeschichte Oberschlesiens“ und die zweib ndige „Geschichte der deutschen Ostsiedlung in der Neuzeit“65. Einzelne Vertreter der Volkskunde setzten sich in den f nfziger Jahren zuneh- mend kritisch mit den historischen Wurzeln und der politischen Selbstindienst- nahme vieler Volkskundler f r den Nationalsozialismus auseinander. Auch Kuhn wurde neben anderen „Sprachinselvolkskundlern“ zur Zielscheibe von publizisti- schen Angriffen aus den eigenen Reihen: Gegenstand der Kritik war besonders seine „Deutsche Sprachinselforschung“ aus dem Jahr 1934, die durch die Marbur- ger Volkskundlerin Ingeborg Weber-Kellermann (1918–1993) und ihren Wiener Kollegen Leopold Schmidt (1912–1981) massiv kritisiert wurde. Weber-Keller- mann warf Kuhn vor, ein einzelnes soziokulturelles Kennzeichen unter vielen, n mlich das der Sprache, berbewertet und die vielf ltigen Beziehungen zwischen den Volksgruppen vernachl ssigt zu haben. Das Wort von der „fremdv lkischen Umwelt“, das „nicht anders als feindlich und aggressiv“ wirken konnte, geh re „bis
63 Dass Kuhn diesen auf ihn pers nlich zugeschnittenen Lehrstuhl erhielt, stellte eine Ausnah- me dar, denn die Aufgabenbeschreibungen der bundesdeutschen Ordinariate wiesen sonst keine „ostdeutschen“ Bez ge auf. Matthias Weber: Zur deutschen Historiographie ber Schlesien seit 1945. In: Jerzy Kloczowski, Witold Matwiejczyk, Eduard M hle (Hrsg.): Erfah- rungen der Vergangenheit. Deutsche in Ostmitteleuropa in der Historiographie nach 1945. Lublin/Marburg 2000, S. 133–144, hier S. 140. 64 „Das Bestehen eigener deutscher St dte in den mittelalterlichen Sprachinseln z. B. war si- cherlich keine Folge einer Reifeentwicklung, sondern der andersartigen Methoden in der mittelalterlichen deutschen Ostsiedlung.“ Von dieser sp ten Einsicht blieb allerdings Kuhns zentrales Theorem, die Annahme einer zivilisatorischen berlegenheit der „Deutschen“ ber das „slawische Umvolk“, nicht ber hrt. W. Kuhn: Eine Jugend f r die Sprachinselfor- schung (wie Anm. 15), S. 247. 65 Walter Kuhn: Geschichte der deutschen Ostsiedlung in der Neuzeit; Bd. 1: Das 15. bis 17. Jahrhundert (Allgemeiner Teil). K ln/Graz 1955; Bd. 2: Das 15. bis 17. Jahrhundert (landschaftlicher Teil). K ln/Graz 1957 (=Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegen- wart, 1). Diese Arbeit Kuhns und die in ihr enthaltenen Sch tzungen des zahlenm ßigen Ausmaßes der Emigration aus dem mittelalterlichen Deutschen Reich erw hnte noch j ngst Massimo Livi Bacci: Europa und seine Menschen. Eine Bev lkerungsgeschichte. M nchen 1999 (dt.), S. 38 u. 249. G. Rhode: Nachruf. Zum Tode von Walter Kuhn (wie Anm. 31), S. 164.
47 Alexander Pinwinkler heute zum eisernen Wortschatz jedes sich mit Auslandsdeutschtum befassenden Volkskundlers“. Dadurch sei zwischen den deutschen Minderheiten und ihren „Umv lkern“ eine Schranke aufgerichtet worden, die den wahren Verh ltnissen in den ethnischen Mischgebieten nicht entsprochen habe.66 Weber-Kellermann beschr nkte sich in ihrer Auseinandersetzung mit Kuhn da- rauf, einige der von ihm vertretenen zentralen Denkfiguren und Begriffe ideologie- kritisch zu reflektieren. Sie entwickelte aber den Gedanken einer interethnischen Volkskunde, die die einzelnen Volksgruppen einander gleichberechtigt gegen ber- stellen sollte. Die Interethnik untersucht Erscheinungen des kulturellen Austauschs und der wechselseitigen Beziehungen zwischen den Nationalit ten. Sie reicht bis in die Untersuchung der Sph re des Alltags hinein. Die neue Forschungsrichtung er- setzte etwa seit 1970 weitgehend die alte „Sprachinselvolkskunde“, auch wenn de- ren Ausl ufer partiell in die Kultur- und Geisteswissenschaften der j ngeren Ver- gangenheit hineinreichten und es lange an einer grundlegenderen Besch ftigung mit den lteren Theoremen fehlte.67 So berechtigt Weber-Kellermanns Kritik an den Konzepten der „Sprachinsel- volkskunde“ war, so sehr verriet die von ihr verwendete Terminologie, dass sie selbst in mancher Hinsicht in der Tradition der lteren Volksforschung stand. Im Jahr 1978 gab sie ffentlich zu, dass sie damals zusammen mit einer ganzen Gene- ration von Studierenden und Forschern von Kuhns „Lehrbuch“ beeindruckt gewe- sen sei.68 Ihre Dissertation „Josefsdorf (Josipovac). Lebensbild eines deutschen Dorfes in Slawonien“ war 1942 als Band 5 der „Deutschen Schriften zur Landes- und Volksforschung“ erschienen, die von Emil Meynen herausgegeben wurden. Ih- ren damaligen Forschungsaufenthalt in Slawonien hatte sie mit Hilfe der SODFG und des Verbands f r das Deutschtum im Ausland (VDA) finanziert. In ihrer Stu- die war sie von der „Erkenntnis des Wertes eines volkskundlichen Dorfbildes auf lebensgesetzlicher Grundlage“ ausgegangen, worunter sie die „biologischen [. . .] Verh ltnisse des Dorfes“ verstand. „Bl te und Verfall von Gemeinschaftsformen“ h tten, so Ingeborg Kellermann im Jahr 1942, „ihre tiefste Begr ndung auf lebens- gesetzlichem Gebiete“.69
66 I. Weber-Kellermann: Zur Frage der interethnischen Beziehungen (wie Anm. 8), S. 21f. 67 Vgl. Matthias Weber, Hans Henning Hahn, Kurt Dr ge: Ostmitteleuropaforschung statt „deutsche Ostforschung“? In: Forschungsmagazin der Carl von Ossietzky-Universit t Ol- denburg, Okt. 1999. Dieser Befund gilt auch f r Teile der germanistischen Sprachwissen- schaft. Kuhns „Deutsche Sprachinselforschung“ wird etwa bei Hadumod Bußmann, Lexi- kon der Sprachwissenschaft, Stuttgart 21990, Eintrag „Enklave [Auch: Sprachinsel]“, bei den Literaturangaben aufgef hrt. Der Linguist C. J. Hutterer bezeichnete Kuhn sogar als „bis heute richtungweisenden Theoretiker[] der deutschen Sprachinselforschung“. Claus J rgen Hutterer: Sprachinseldialektologie. In: Klaus Mattheier, Peter Wiesinger (Hrsg.): Dia- lektologie des Deutschen. T bingen 1994, S. 93–101, hier S. 96. 68 Vgl. I. Weber-Kellermann: Zur Frage der interethnischen Beziehungen (wie Anm. 8), S. 69. 69 Ingeborg Kellermann: Josefsdorf. (Josipovac): Lebensbild eines deutschen Dorfes in Slawo- nien. Leipzig 1942, S. 521.
48 Walter Kuhn und der Bielitzer „Wandervogel e. V.“
In ihren sp teren kritischen Ausf hrungen problematisierte Weber-Kellermann das Konzept der „Sprachinsel“ nicht als solches, sondern sie wandte sich nur gegen seine metaphorisch berh hte Verwendung als Kampfbegriff gegen nichtdeutsche Nationalit ten. Daneben waren bestimmte Begriffe in ihrer Argumentation enthal- ten, die ihrerseits problematisiert und in ihrer historischen Genese dekonstruiert werden k nnen: Da war beispielsweise – wenn auch in kritischer Distanzierung – von der „deutschen Volksforschung“ bzw. vom „Volksforscher“ die Rede70. „Volks- gut“ und „Wesensart“ in Bezug auf die Deutschen, „Umvolk“ und „Wirtsvolk“ in Bezug auf die nichtdeutschen Nationalit ten Ostmittel- und S dosteuropas bilde- ten scheinbar selbstverst ndliche Gegenst nde ihrer Betrachtungen.71 Wichtiger als manche Kontinuit ten in der Verwendung der Begriffe, die We- ber-Kellermann unzweifelhaft vom Negativ-Abwertenden ins Positive wendete, ist jedoch die von ihr nicht gestellte Frage nach bestimmten methodischen Pr missen, von denen die Arbeiten der Sprachinselvolkskundler gepr gt waren. Weder unter- suchte Weber-Kellermann die biologistischen Grundannahmen, die berhaupt zur Konstruktion der Sprachinsel gef hrt hatten, noch befasste sie sich mit bestimmten antisemitischen Argumentationsmustern, die etwa in einigen Phasen von Kuhns Ver ffentlichungst tigkeit integrierende Bestandteile seiner Sprachinselforschungen gebildet hatten. Kuhn neigte dazu, Antislawismus und Antisemitismus miteinan- der zu verkn pfen: Er er rterte Kultur und Geschichte der slawischen Nationen ausschließlich in Abh ngigkeit von Problemen der deutschen Siedlungsgeschichte. Slawen und Juden – letztere kamen bei Kuhn als Akteure wie auch als Objekte deutschzentrierter Wahrnehmungsformen allerdings nur am Rande vor – wertete er als „Fremde“, die den deutschen „Volksk rper“ potenziell sch digen w rden. Die deutschen Siedler w ren gleichermaßen antislawisch wie antisemitisch einge- stellt gewesen. In seiner „Naturgeschichte“ behauptete Kuhn, dass der Antisemitis- mus „des deutschen Siedlers“ nicht einer bewussten Einstellung folge, sondern „auf reinem Instinkt“ beruhe, „der unbewußten Sicherheit, das Richtige und Gesunde zu treffen“. In seiner Dissertation „Die jungen deutschen Sprachinseln in Galizien“ erschienen die galizischen Juden berwiegend als nicht sesshafte H ndler, gegen die die deutschen Siedler sich mit zunehmend gr ßerem Erfolg, z. B. durch Boy- kott, zur Wehr gesetzt h tten.72
70 I. Weber-Kellermann: Zur Frage der interethnischen Beziehungen (wie Anm. 8), S. 35, 41. 71 Vgl. ebd., S. 22, 24, 28, 36. In ihrer Dissertation hatte Weber-Kellermann im Kapitel „Die Menschen“ u. a. „Bev lkerungszusammensetzung“, „Biologische Verh ltnisse“ und „Die fremdv lkische Umwelt“ thematisiert. Vgl. I. Weber-Kellermann: Josefsdorf (wie Anm. 69), Inhaltsangabe. 72 W. Kuhn: Naturgeschichte (wie Anm. 58), S. 96f. Vgl. ferner W. Kuhn: Eine Jugend f r die Sprachinselforschung (wie Anm. 15), bes. S. 144–147. Dass Kuhn j dische Menschen als Fremde wahrnahm, schimmerte noch in seinen Erinnerungen durch, die gegen Ende seines Lebens erschienen: So meinte er sich „eines sonderbaren Gef hls“ erinnern zu k nnen, wenn er das „armselige, meist von Juden bewohnte St dtchen“ Sompolno durchschritt, um dort den Siedlungshistoriker Albert Breyer zu besuchen. Breyers Haus sei gleichsam eine
49 Alexander Pinwinkler
Die zum Teil gravierenden Vers umnisse bei der Rezeption von Kuhns Studien in Volkskunde und Geschichtswissenschaft w hrend der 1960er- und 1970er-Jahre lassen sich einerseits damit begr nden, dass Ethnizit t als soziologische Kategorie, wie sie in Deutschland u. a. von Friedrich Heckmann maßgeblich entwickelt wur- de73, in der volkskundlichen Theoriebildung damals weitgehend vernachl ssigt wurde. Dies ist umso bemerkenswerter, als in soziologischen und kulturanthro- pologischen, vornehmlich angloamerikanischen Diskursen zur gleichen Zeit Ethni- zit t als genuines Ph nomen des sozialen Wandels in der „Moderne“ zunehmend er rtert wurde.74 Zum anderen scheinen es Kuhn und die anderen berlebenden ehemaligen Bielitzer „Wanderv gel“ nach 1945 geschickt verstanden zu haben, den Argumenten ihrer Kritiker so weit entgegenzukommen, als es aus ihrer Sicht unbe- dingt notwendig erschien. M glicherweise entsprach es einem zielgerichteten Han- deln der Bielitzer Volkstumsforscher, auf Kritik bloß selektiv einzugehen. Zugleich erschlossen sie neue Forschungsfelder, ohne den thematischen Zusammenhang zu ihren fr heren Studien ganz abreißen zu lassen. Unentwegt betonten sie, dass die „Sache“ selbst in ihren fr hen Arbeiten vor der „Ideologie“ Vorrang gehabt habe, und sie gingen publizistisch zum Gegenangriff ber, um die Glaubw rdigkeit ihrer Kritiker in Zweifel zu ziehen.75 Die problematische Kehrseite der nach außen hin demonstrativ vermittelten inneren Einigkeit und Geschlossenheit der Gruppe um Kuhn und Karasek bestand in ihrer relativen Abschottung gegen ber neueren Ent- wicklungen in Geschichtswissenschaft und Volkskunde. Im Vergleich zu den un- gleich einflussreicheren ehemaligen „K nigsbergern“ um Werner Conze und Theo- dor Schieder, die bei der Etablierung von Struktur- und Sozialgeschichte in der
einsame Insel im Meer der polnischen Bev lkerung gewesen – eine Art „Sprachinsel“ im kleinen –, oder, wie sich Kuhn w rtlich ausdr ckte: „eine kleine Zelle deutscher Wissen- schaft inmitten einer fremden Umwelt.“ W. Kuhn: Eine Jugend f r die Sprachinselforschung (wie Anm. 15), S. 255. J dische Menschen in Sompolno wurden somit noch Jahrzehnte, nachdem sie in der Shoa ausgel scht worden waren, im R ckblick von Kuhn gleichsam ex- territorialisiert und aus dem Blick genommen. 73 Vgl. Friedrich Heckmann: Ethnische Minderheiten, Volk und Nation. Soziologie intereth- nischer Beziehungen. Stuttgart 1992, S. 35. Heckmann sieht folgende Hauptelemente des Konzepts der Ethnizit t, die noch kein soziales Handeln konstituiere und die somit als eine – situativ bedingte – M glichkeit sozialer Vergesellschaftung aufzufassen sei: „soziokulturelle Gemeinsamkeiten geschichtlicher und aktueller Erfahrungen, Vorstellungen einer gemein- samen Herkunft, eine auf Selbst-Bewußtsein und Fremdzuweisung beruhende kollektive Identit t, die eine Vorstellung ethnischer Grenzen einschließt, und ein Solidarbewußtsein.“ 74 Vgl. ebd., S. 30ff. Heckmann zitiert in diesem Zusammenhang u. a. Studien von M. Banton (Race Relations, 1967), N. Glatzer, D. P. Moynihan (eds.) (Ethnicity, Cambridge, Mass. 1975), E. K. Francis (Interethnic Relations, New York 1976) und S. Wallman (ed.) (Ethnici- ty at Work, London 1979). 75 Vgl. A. Karasek-Langer: Walter Kuhn zum 65. Geburtstag (wie Anm. 14), S. 12f. Kuhn ge- stand namens des Bielitzer Kreises Weber-Kellermann zu, dass „wir die gegenseitigen Ein- wirkungen zwischen Sprachinseln und Umvolk [sic!] nicht voll ber cksichtigt“ h tten und begr ndete dies ausschließlich mit seinen mangelnden Kenntnissen slawischer Sprachen. W. Kuhn: Eine Jugend f r die Sprachinselforschung (wie Anm. 15), S. 261f.
50 Walter Kuhn und der Bielitzer „Wandervogel e. V.“
Bundesrepublik Deutschland eine maßgebende Rolle spielten, gelang es von den berlebenden „Bielitzern“ allein Kuhn, nach 1945 wieder an seine akademische Laufbahn anzuschließen. In der breiteren Fach ffentlichkeit der Geschichtswissen- schaft war Kuhn zwar nur wenig bekannt, doch konnte er dem Kreis der „Ostfor- scher“ um das Marburger Johann Gottfried Herder-Institut zugerechnet werden. Karasek und Lanz positionierten sich fr h als Vertreter der Heimatvertriebenen- Verb nde. All dies mag erkl ren, warum Walter Kuhn76 und sein Bielitzer Kreis bisher aus der Traditionsbildung der Wissenschaftsgeschichtsschreibung in Geschichtswissen- schaft und Volkskunde entweder weitgehend ausgeblendet, mit unzureichenden Mitteln kritisiert oder bloß apologetisch „gew rdigt“ wurden. Eine kritische Of- fenlegung historisch-volkskundlicher „Sprachinselforschungen“ im Spannungsfeld zwischen nationalistischem Pathos und politischer Indienstnahme erlaubt es hin- gegen, Einblicke in methodisch zum Teil vergleichsweise unorthodoxe, wenn auch zu keiner Zeit methodisch „innovative“ Forschungen zu gewinnen und wissen- schaftsgeschichtliche Zusammenh nge aufzudecken, die bislang weitgehend ver- sch ttet geblieben sind.
English Summary
Alexander Pinwinkler: Walter Kuhn (1903–1983) and the „Wandervogel e. V.“ of Bielitz. Historical-ethnographic research on „linguistic islands“ between nationalistic emotionalism and political exploitation This study reconstructs the rise of a group of „local historians“ in Bielitz around the folklorist and historian Walter Kuhn. It reconstructs discursive and institutional conditions that facilitated the implementation of the nationalistic „linguistic island“-paradigm in the Weimar Republic and in the „Third Reich“. It is shown that the „distance“ and „objectivity“ that the „local historians“ of Bielitz claimed apologetically for their research in the „Third Reich“ could be closely inter- twined with the the mythologizations of „Germanity“ and with socio-technological application practices. In the 1950s Ingeborg Weber-Kellermann was the first to formulate a critique of the „biological“ concept of „linguistic islands“ which Kuhn only slightly modified after 1945. But only the sociological and cultural anthropological conceptualizations of „ethnicity“, which have been developed since the 1970s in Anglo-American contexts, provided alternatives to the dis- course on „linguistic islands“ that in Germany had been significantly shaped by Kuhn and his circle.
76 Einige Jahre nach seiner Emeritierung als außerordentlicher Professor an der Universit t Hamburg, die 1968 erfolgte, zog Kuhn im Jahr 1972 nach Salzburg, wo er sich wieder Fra- gen der Geschichte seiner engeren Heimat Bielitz/Bielsko zuwandte. Kuhn starb am 25. Au- gust 1983 in Salzburg. Vgl. K rschners Deutscher Gelehrtenkalender, Bd. 1–3, 2. Hrsg. v. Werner Schuder. Berlin 1983, S. 2354; G. Rhode: Nachruf. Zum Tode von Walter Kuhn (wie Anm. 31), S. 168.
51