Hessische Landeszentrale für politische Bildung

Blickpunkt Hessen

Martin Liepach

Oskar Schindler – Vater Courage

Nr. 8 / 2008 – Vater Courage Martin Liepach, Dr. phil., geb. 1961, studierte Geschichte und Mathematik in Frankfurt am Main. 1994 Promotion an der FU Berlin. Thema: „Das Wahlverhalten der jüdischen Bevölkerung: Zur politischen Orientierung der Juden in der Weimarer Republik“; 1994 Preisträger des Wolf-Erich-Kellner-Gedächtnisstiftung; 1995 Zweites Staats­ examen; seit Sommer 1999 am Jüdischen Museum Frankfurt am Main für museums­ pädagogische Aufgaben und den Bereich der Lehrerfortbildung zuständig; Mitglied u.a. in der Wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft des Leo-Baeck-Instituts in Deutschland. Zahlreiche Publikationen im wissenschaftlichen, didaktischen und museumspädagogischen Bereich.

Diese Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung der HLZ dar. Für die inhaltlichen Aussagen trägt der Autor die Verantwortung.

Blickpunkt Hessen In dieser Reihe werden gesellschaftspolitische Themen als Kurzinformationen aufgegriffen. Zur Themenpalette gehören Portraits bedeutender hessischer Persönlichkeiten, hessische Geschichte sowie die Entwicklung von Politik und Kultur. Die Schriftenreihe „Blickpunkt Hessen“ erscheint als Eigenpublikation der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung, Taunusstraße 4–6, 65183 Wiesbaden

Herausgeberin: Angelika Röming Gestaltung: G·S Grafik & Satz, Wiesbaden, 0611-2043816 Druck: Dinges & Frick, Wiesbaden Erscheinungsdatum: April 2008 Auflage: 4.000 ISSN: 1612-0825 ISBN: 978-3-927127-79-1

Titelfoto: Schindler in Jerusalem. United Holocaust Memorial Museum 03414 Oskar Schindler – Vater Courage

Annäherung an Oskar Schindler

Durch den Film „Schindlers Liste“ von Steven Spielberg aus dem Jahr 1993 ­wurde er weltberühmt: der deutsche Fabrikbesitzer, der unter Einsatz seines Lebens und seines gesamten Vermögens fast 1.100 Juden vor dem sicheren Tod im Vernichtungslager Auschwitz rettete. Dabei wandelte er sich im Laufe der Geschichte vom Kriegsgewinnler und Spion der Nazis zum Lebensretter. Doch wer war eigentlich dieser Oskar Schindler? Bereits Weggenossen und Zeitzeugen stellten sich diese „immer neue Frage“.1 Zu den vielfältigen Facetten seiner Persönlichkeit gehört auch, dass er ein Trinker, Spieler und Frauenheld war. Eine Annäherung an diese schillernde Persönlichkeit ist nicht einfach. Die Überlieferung fußt vielfach auf persön- lichen Beschreibungen von Zeitzeugen. Der amerikanische Historiker David M. Crowe befragte während der ­Recherchen zu seiner Biografie ­hunderte von Freunden und Bekannten. Unter Schindlers Geretteten findet sich eine breite Palette von Erklärungen. So Oskar Schindler (1949), 41 Jahre alt, auf- urteilt Sam Wertheim: „Er kam aus ganz genommen in Regensburg als Flüchtling anderen Beweggründen nach Krakau: Er wusste, dass er mit den Zwangsarbeitern eine Menge Geld machen konnte, was Für Victor Lewis war Oskar Schindler „ein ihm ja auch gelang. Doch dann erkann- Genie“: Vermutlich wollte er zu Beginn te er, dass diese Greueltaten nicht für des Krieges nicht an die Front gehen. immer so weitergehen konnten, dass sie Welche Möglichkeiten boten sich ihm irgendwann ein Ende haben müssten. dann an? Schindler liebte Geld, Frauen, Er hatte Mitgefühl. Er war menschlich. Alkohol. Als er die Fabrik von Abraham Nie hat er jemanden geschlagen oder Bankier entdeckte, sah er seine große gar getötet. Aber seine Absichten gingen Chance. Aber das Entscheidende ist eindeutig in die Richtung: ‚Deutsch- doch, dass Schindler sein Leben und sein land wird die Welt beherrschen, und ich Vermögen riskierte, indem er die ihm ­werde ein reicher Mann und kann es mir unterstellten Menschen rettete und sich gut gehen lassen.’ Als das nicht eintraf, gleichzeitig ein überzeugendes Alibi für war er enttäuscht.“2 die Nachkriegszeit aufbaute.“3

Blickpunkt Hessen – Oskar Schindler 1 Oskar Schindler (am Steuer) und sein Vater Hans, Zwittau in den 1920er Jahren

einer Geschäftsreise begleitete. Emilie Herkunft und stammte aus dem mährischen Dorf Anfangsjahre Alt-Moletin/Staré Maletin, knapp fünfzig Kiliometer südwestlich von Zwittau er- fernt. Die Eltern besaßen einen größeren Oskar Schindler wurde am 28. April 1908 Bauernhof. in Zwittau/Svitavy im nordöstlichen Teil Nach seiner Hochzeit führte Schindler Mährens, Österreich-Ungarn, geboren. eine Fahrschule in einem Ort knapp Im Alter von einem Monat wurde er hundert Kilometer von Zwittau entfernt. katholisch getauft. „Er trat Zeit seines Seine Karriere als Fahrlehrer wurde durch Lebens nicht aus der Kirche aus, hatte eine achtzehnmonatige Dienstzeit in der jedoch keine engen Bindungen an den tschechischen Armee unterbrochen. Die Katholizismus, zumindest nicht bis zu Firma, zu der Schindler nach absolvier- seinen letzten Lebensjahren.“4 Sein Vater tem Wehrdienst ging, meldete 1931 Hans Schindler betrieb in ­Zwittau eine Konkurs an. Schindler wurde arbeits- Fabrik für landwirtschaftliche Maschinen. los. Schon während der ersten Ehejahre Ab 1918 gehörte die Stadt zur neu ge- verschwendete Oskar die Mitgift für ein bildeten Tschechoslowakischen Republik. Luxusauto und diverse Frauenaffären. Bis zur Weltwirtschaftskrise 1929 lebte 1932 trat er als Vertreter und Disponent die Familie Schindler in einem gewissen in die Prager Jaroslav Simek Bank ein und Wohlstand. Recht jung heiratete Oskar verkaufte in dieser Funktion sechs Jahre Schindler 1928 die 1907 geborene Emilie lang Staatsbaulose. 1935 wurde Oskar Pelzl. Oskar hatte Emilie kennen gelernt, Schindler Mitglied der Sudetendeutschen als er im Herbst 1927 seinen Vater auf Partei (SdP) Konrad Henleins und knüpfte

2 Blickpunkt Hessen – Oskar Schindler erste Kontakte zur Abwehr, dem militä- rischen Geheimdienst des Deutschen Reichs. „Die Kontakte, sicher auch die Fähigkeiten, die er sich als Agent der Ab- wehr erwarb, sind ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis seiner späteren Erfolge in Krakau und Brünnlitz.“5 Henlein war ein willfähriger Gefolgsmann Hitlers. Schindlers Einsatz für den Geheimdienst hatte sicherlich mit einer sudetendeut- schen Gesinnung zu tun, aber auch mit der Möglichkeit „mit wenig Arbeit, viel Geld zu verdienen“6. Im Sommer 1938 wurde Schindler von der tschechoslowakischen Geheimpolizei Briefkopf der von Oskar Schindler über- beim Versuch, militärische und eisen- nommenen Emaillier-Fabrik bahntechnische Informationen zu sam- meln, verhaftet. Im Gefolge des Münche- ner Abkommens im Herbst 1938 wurde in der er in der Hauptsache jüdische er begnadigt. Die Abwehr beförderte Arbeiter beschäftigte. Ursprünglich lautete ihn hiernach zum Leiter einer Gruppe der Name der Firma Rekord. von fünfundzwanzig V-Männern an der Dass Schindler zu einem erfolgreichen tschechisch-polnischen Grenze. Am 1. Geschäftsmann wurde, hatte er nicht November 1938 stellte Oskar Schindler zuletzt Abraham Bankier zu verdanken. seinen Aufnahmeantrag für die NSDAP. Bankier war zuvor Mitanteilseigner der Am 1. September 1939 überfielen Firma Rekord gewesen. Unter Schind- deutsche Truppen Polen. Zuvor hatte ler fungierte er als Geschäftsführer. Im die SS einen polnischen Angriff auf den Sommer 1939 hatte die Firma Konkurs deutschen Sender Gleiwitz inszeniert. angemeldet. Im Januar 1940 unterzeich- Dafür sollen die Schindlers die polni- nete Schindler formell einen Pachtvertrag schen Uniformen besorgt haben und an und erwarb die Ausrüstung der früheren die entsprechende Abwehrabteilung des Firma Rekord. Dabei änderte er den Sicherheitsdienstes (SD) weitergeleitet Namen der Fabrik in Deutsche Emailwa- haben.7 Der vorgetäuschte Angriff lieferte renfabrik Oskar Schindler. Schindler und die propagandistische „Rechtfertigung“ für seine Arbeiter sprachen jedoch nur kurz den Einmarsch der Wehrmacht in Polen. von der „Emalia“. Der Historiker Crowe urteilt: „Gewiß hatte er, als er sich an das Handelsgericht wandte, den gesetzlichen Weg beschritten, andererseits konnte Schindler eine ehemals jüdische Fabrik zu Profiteur in Krakau einem Preis pachten, der nur dem Bruch- teil ihres Werts entsprach. Und selbst Kurz nach dem Einmarsch der deutschen wenn die Firma Rekord vor Kriegsbeginn Truppen in Polen im September 1939 in Konkurs geraten war, sie ist von den kam Schindler als Mitarbeiter der Abwehr Deutschen nach der Besetzung Polens konfisziert worden und blieb das Eigen- ins besetzte Krakau. Dort profitierte er 9 von der Arisierungspolitik der Nazis. „Os- tum des neuen Herren.“ kar Schindler war nur aus einem Grund Als die Emalia erhebliche Profite abwarf, nach Krakau gekommen: Er wollte Geld war Schindler daran interessiert sie voll- machen. Viel Geld.“8 Er eignete sich drei ständig zu übernehmen. Im September Firmen an, darunter eine Emaillier-­Fabrik, 1942 erwarb er die Firma vom Han-

Blickpunkt Hessen – Oskar Schindler 3 Oskar Schindler bei einem Fest in Krakau, 1942. delsgericht, zuvor hatte er im Rahmen Itzhak Stern sieht in der Ermordung der einer öffentlichen Auktion den Zuschlag Kinder des Ghetto-Kinderheims während erhalten.10 der Liquidierung des Krakauer Ghettos Die Anzahl der Beschäftigten in Schind- „das entscheidende Ereignis, das Schind- lers Unternehmen ist schwer ermittelbar. ler erschüttert hat. Schindler hat sich über Nacht geändert und war nicht mehr In der Spitzenzeit waren wohl 1.700 bis 13 1.750 Arbeiter bei Emalia beschäftigt. So derselbe wie zuvor.“ Und auch David arbeiteten auch mehrere hundert nichtjü- M. Crowe urteilt: „Wie auch immer, die Räumung des Ghettos bleibt ein entschei- dische Polen für Schindler. Im Dezember 14 1939 war im besetzten Polen die Arbeits- dender Punkt in Schindlers Geschichte.“ pflicht verfügt worden. Den Kern seiner Arbeiterschaft bildeten gut 1.000 Juden, die er nach und nach eingestellt hatte, da diese billiger waren als polnische Arbei- Helfer in der ter.11 Doch Schindlers Führung seines Be- triebes richtete sich nicht ausschließlich größten Not auf die Ausbeutung seiner Arbeitskräfte. 1940 ließ er auf dem Werksgelände eine Im Juni und Oktober 1942 veranlassten ärztliche Ambulanz und eine Werkküche 12 die NS-Machthaber jeweils Zwangsaus- mit Essraum für die Arbeiter einrichten. siedlungen aus dem Krakauer Ghetto Schindlers Fabrik lag in Podgórze, einer in die Vernichtungslager. Im März 1943 Vorstadt von Krakau; nicht weit von dem wurde das Ghetto Krakau endgültig liqui- durch die deutsche Besatzung eingerich- diert. Mit der Durchführung der Liqui- teten Ghetto entfernt, das seit Oktober dierung war Amon Göth beauftragt. Von 1940 bestand. Schindler konnte die Er- Februar 1943 bis September 1944 war er niedrigungen und den Terror des Ghetto- Kommandant des nahe gelegenen Lagers lebens aus nächster Nähe beobachten. Plaszów. Bereits vor seiner Ankunft im La- Wann vollzog sich die innere Wandlung ger hatte er sich einen Ruf als „Bluthund von Schindler? Schindlers Vertrauter von Lublin“ gemacht. Nach der Räumung

4 Blickpunkt Hessen – Oskar Schindler des Krakauer Ghettos im März 1943 stellen. Mieczyslaw (Mietek) Pemper war wurden die arbeitsfähigen Juden in das KZ-Häftling und arbeitete unfreiwillig als Zwangsarbeitslager Plaszów deportiert. persönlicher Stenograf des Lagerkomman- Unter den nach Plaszów Verschleppten danten Amon Göth. Da Pemper Aktenein- war auch Itzhak Stern. Er wurde zu einer sicht in die Korrespondenz Göths mit den wichtigen Kontaktperson für Schindler. Berliner Behörden hatte, wusste er, dass Stern und Schindler hatten sich bereits langfristig nur Juden, die arbeitsfähig und 1939 kennen gelernt. Schindler traf Stern in der „Sieg entscheidenden Produktion“ erstmalig im Büro der Firma Buchheister tätig waren, nicht in die Vernichtungslager & Co, die sich ein deutscher Agenten- geschickt würden. Pemper gab Schind- kollege Schindlers angeeignet hatte, wo ler den entscheidenden Hinweis, seine Stern in der Buchhaltung tätig war. Stern Emaille-Produktion zum Teil auf Granat- berichtete Schindler über die Verhältnisse hülsen umzustellen, um die Arbeiter so vor im Lager Plaszów. Schindler wiederum der Deportation zu retten. Schindler be- lieferte Geldmittel zur Unterstützung folgte den Rat und stellte die Produktion der jüdischen Häftlinge oder veranlasste um, was die jüdischen Zwangsarbeiter vor den für seine Grausamkeiten berüchtig- dem Abtransport in die Vernichtungslager 16 ten Kommandanten des Lagers, Göth, bewahrte. den Bau eines Nebenlagers für seine Die Produktionsumstellung konnte Arbeiter zu genehmigen, damit diese jedoch nicht ohne Zustimmung Göths eine bessere Unterkunft und Versorgung geschehen. Wie war dies zu erreichen, hatten. Schindler beschäftigte 900 Juden, ohne den sprunghaften, mörderischen darunter auch viele Personen, die den Lagerkommandanten einzuweihen? Pem- Arbeitsanforderungen nicht gewachsen per erstellte frisierte und fiktive Produk- waren. tionstabellen, mit denen Göth zu seinen „Der Weg vom Ghetto zu Schindlers Vorgesetzten fuhr. Göths Interesse war ‚Emalia’ war nicht sehr weit gewesen, es, nach der Niederlage von Stalingrad während die Häftlinge vom Lager Plas- nicht an die Front geschickt zu werden. zów aus einige Kilometer Fußmarsch auf Im September 1943 entschied man im sich nehmen mussten. Schindler hatte Wirtschaftsverwaltungshauptamt der SS Mitleid mit den Menschen. Er sah, wie (WVHA) in Berlin-Oranienburg, welche entkräftet sie waren, und wusste, dass Lager erhalten bzw. liquidiert werden sie, kaum im Hauptlager angekommen, sollten. Das Zwangsarbeiterlager Plaszów eventuell noch einige Stunden auf dem wurde im Januar 1944 in ein Konzentra- Appellplatz stehen mussten, bevor sie tionslager umgewandelt. Die amerikani- ihre Baracken betreten durften. Schindler sche Historikerin Viktoria Hertling sieht benutzte die Abgezehrtheit der Häftlinge in der entschlossenen Handlung Pempers gegenüber Göth als Argument für die eine „gewaltlose und erfolgreiche Wider- Errichtung eines eigenen Barackenlagers standshandlung während des Holocaust, auf seinem Fabrikgelände. [ . . .] Es war die es in ihrer Einzigartigkeit erst noch zu eingezäunt und wurde von SS-Leuten würdigen gilt.“17 Schindlers Rettungstat bewacht. Im Vergleich zu den gefährli- wäre nicht ohne die aktive Unterstützung chen und schlechten Lebensbedingungen durch eine Reihe jüdischer Mitarbeiter waren die Verhältnisse im Außenlager der wie Itzhak Stern und Mietek Pemper Emailwarenfabrik wesentlich besser.“15 möglich gewesen. Nach der deutschen Niederlage von Schindlers Wandel vom Spion der Nazis Stalingrad im Januar/Februar 1943 erhielt zum Retter war indes nicht ungefähr- Schindler von Göths jüdischem Mitarbei- lich. Zwischen 1941 und 1944 wurde er ter Mietek Pemper den entscheidenden dreimal von der Gestapo inhaftiert. Ab Hinweis, seine Fabrik von „kriegswichtige“ 1943 begann er auch mit der geheimen auf „siegentscheidende“ Produkte umzu- Tätigkeit für das Joint Rescue Committee

Blickpunkt Hessen – Oskar Schindler 5 der Jewish Agency of Palestine. Dabei ner Brünnlitzer Fabrik arbeiten zu lassen. lieferte er jüdischen Hilfsorganisationen Die weiblichen Häftlinge wurden jedoch wichtige Informationen über die Lebens- aus dem Lager Plászow nach Auschwitz bedingungen im Generalgouvernement deportiert. In Auschwitz wurde die Grup- und die „Endlösung“. pe auseinander gerissen. Schindler be- stand darauf, dass die Frauen auf seiner Liste nach Brünnlitz kamen, wo sie auch Mitte November eintrafen. In Brünnlitz wurden sie so gut behandelt, wie es unter „Schindlers Liste“ den Umständen möglich war. Während dieser dramatischen Aktion Als im Herbst 1944 die Rote Armee im- entstanden die lebensrettenden Listen, mer näher rückte, erwirkte Schindler die die mittlerweile zum Mythos geworden Verlagerung seines Rüstungsbetriebes ins sind. „Die Realität, die hinter der be- Sudetenland nach Brünnlitz/Brnenec. Er rühmten ‚Schindler-Liste’ steht, hat wenig konnte dabei auch durchsetzen, dass er mit dem zu tun, was in dieser populär eine größtmögliche Anzahl von Arbeitern gewordenen Geschichte aus der Zeit des mitnehmen durfte. Pemper betont die Holocaust erzählt wird.“20 Der australi- Rolle Schindlers, als es darum ging in sche Journalist Thomas Keneally schrieb: Verhandlungen mit dem Wirtschaftsver- „Die Namen stehen fest, aber die Um- waltungshauptamt der SS im September stände, unter denen sie auf die Liste 1944 eine möglichst große Anzahl von kamen, sind wie gesagt, der Legendenbil- Arbeitern aus dem Lager Plaszów in sein dung förderlich. Das Problem liegt darin, neues Außenlager nach Brünnlitz mit- dass die Überlebenden sich mit einer nehmen zu dürfen. Die Genehmigung lag Leidenschaft an diese Liste erinnern, die nicht im Ermessen des Lagerkommandan- die Umrisse verschwimmen lässt. Die ten, sondern es war eine Genehmigung Liste verkörperte das Gute.“21 aus Oranienburg nötig. Schindler setzte Doch die Liste gibt es nicht. David M. dies durch, wobei Pemper vermutet, dass Crowe kam bei seinen Recherchen Schindler neben „Argumenten“ auch sei- zu folgendem Ergebnis: „Die ersten ne Kontakte aus seiner früheren Spiona- Listen – eine für die Männer und eine getätigkeit hilfreich gewesen seien.18 für die Frauen –, die ich entdeckt habe, Schindlers Fabrik in Brünnlitz wurde sind vom 21. Oktober – siebenhundert offiziell als Arbeitslager geführt und war Männer – und vom 12. November 1944 dem Konzentrationslager Groß Rosen als – dreihundert Frauen. Auch im Früh- Nebenlager zugeordnet. Am 15. Okto- jahr 1945 entstanden mehrere Listen, ber 1944 verließ ein Transport mit circa die man genau unterscheiden muss, 4.500 männlichen Häftlingen das Lager denn zwischen Herbst 1944, als Gold- Plaszów in Richtung Groß Rosen. Darun- berg die erste Liste aufstellte, und der ter befanden sich 700 Männer, für die Befreiung von Brünnlitz am 8. Mai, dem Schindler eine Transportgenehmigung er- Datum der endgültigen ,Liste‘ wurden reichte. Sie waren in Viehwaggons ohne die Namen mehrfach geändert. Es ist Wasser und ohne hygienische Vorkehrun- nicht nur falsch, sondern irreführend, gen zusammengepfercht. Dazu Mietek wenn man von der Liste spricht, denn Pemper: „Etwa einen Tag später kamen damit bleiben die Umstände außer acht, die zu den immer neuen Veränderungen wir in Groß Rosen an. Ohne Schindler 22 fühlten wir uns schutzlos und verlassen.“19 geführt haben.“ Nach einer Woche wurden die jüdischen Crowe benennt Marcel Goldberg, den Arbeiter nach Brünnlitz weiter beordert. jüdischen Personalschreiber in der Lager- Für 300 Frauen hatte Schindler gleichfalls verwaltung von Plaszów, als „Autor“ der die Genehmigung erhalten, diese in sei- Listen.23 Aufgrund seiner Position inner-

6 Blickpunkt Hessen – Oskar Schindler Auszug aus Schindlers Liste vom 18. April 1945

Blickpunkt Hessen – Oskar Schindler 7 halb des Lagers und des Desinteresses ohne seinen kontinuierlichen Einsatz für des neuen Lagerkommandanten Büscher, uns Juden in Krakau-Plaszów, später in der allein sich auf die Liquidierung des Brünnlitz und auch anderswo hätten wir Lagers Plaszów konzentrierte, waren die nicht überleben können.“27 Listen den Eingriffen Goldbergs ausge- Weitere Menschenleben retteten Oskar setzt. Gegen Zahlung manipulierte Gold- und Emilie Schindler im Januar/Februar berg die Liste zugunsten einiger seiner 1945. Als ein Waggon mit halberfro- „Günstlinge“. Schindler hatte bei seinen renen Männern und Frauen aus dem Verhandlungen beim Wehrwirtschafts- Lager Golleschau/Goleszow in Zwit- und Rüstungsamt erreicht, dass er eine Genehmigung für 700 Männer und 300 tau festgehalten wurde, erreichten sie Frauen erhielt. Dies waren weit mehr als deren Freilassung und die Aufnahme in zu diesem Zeitpunkt noch in Schindlers Brünnlitz. Sowohl die genauen Umstän- Fabrik arbeiteten. Folglich kam es bei de als auch die Anzahl der Geretteten der weiteren Ergänzung der Liste auch lassen sich kaum hinreichend präzise zu Bestechungen Goldbergs. Außer aus rekonstruieren. Oskar Schindler notierte Schindlers Fabrik gelangten auch jüdische in seinem „Finanzbericht“ von 1945: Zwangsarbeiter aus dem Betrieb des Wie- „Ich übernahm z.B. einen Transport von ner Unternehmers Julius Madritsch, der 100 Juden, der nicht für mich bestimmt in Krakau eine Uniformfabrik betrieb, und war, nur weil ich erfahren hatte, dass eines Flugzeugwerks in Wieliczka auf die bereits 17 der Juden tot (erfroren) in lebensrettende Liste. Madritsch wurde den Waggons lagen, und rettete durch nach dem Krieg wie Schindler für seinen meine Entschlossenheit und gegen den Einsatz von Yad Vashem geehrt. Willen des Lagerkommandanten die noch Lebensfähigen ... durch sorgfälti- Die Darstellung in Spielbergs Film, ge Pflege.“28 Emilie Schindler hingegen wonach Schindler Stern die Namen berichtete, dass sie in der Nacht durch der Erretteten diktierte, hat wenig mit einen Mann geweckt worden sei, der der Realität zu tun. Nach einer Version sie bat, 250 Juden zu übernehmen, die sollen Raimond Titsch, ­Betriebsleiter er in vier Waggons zusammengepfercht von Madritschs Fabrik, und Oskar mitgebracht habe. Sie seien von einer Schindler in aller Eile die Namen von 62 Fabrik angefordert, aber angesichts der Arbeitern aus Madritschs Fabrik auf die Nachricht vom unmittelbar bevorstehen- Liste gesetzt haben. Diese soll dann der den Einmarsch der russischen Truppen angeheiterte Büscher auf einer Feier ab- 24 zurückgewiesen worden. Wenn sie gezeichnet haben. Mietek Pemper be- ebenso handle, würden sie erschossen tont, dass die Erstellung von Listen zum werden. „Ich musste rasch handeln, Lageralltag gehörte. So seien beispiels- wenn ich ihnen helfen wollte. Ich rannte weise Listen für die Abkommandierung ans Telefon, rief Oskar an und erklärte von Lagerhäftlingen als Arbeitskräfte 25 ihm die Lage. Schließlich bat ich ihn, die in andere Lager üblich gewesen. Bei Juden in unsere Fabrik aufnehmen zu der Erstellung der Listen hätten meh- dürfen. Er war einverstanden.“29 rere Personen mitgewirkt. „Doch diese Liste ist nicht von mir allein, sondern Als Schindler und seine Frau sich bei von mehreren Lagerinsassen im Büro Kriegsende von den Überlebenden dieser Dienststelle getippt worden.“26 trennen, schenken diese Schindler einen Schindler hätte die Anweisung gegeben, Ring. In diesem war ein abgewandeltes dass „seine Leute“, d.h. sein jüdisches Wort aus der Mischna, der wichtigsten Arbeitskommando in der Emailwarenfa- Textsammlung religionsgeschichtlicher brik auf die Liste kommen sollte. Über Überlieferung des rabbinischen Juden- die Diskussion zum Anteil Schindlers an tums, eingraviert: „Der Bewahrer eines dem Zustandekommen der Liste urteilt einzigen Lebens hat eine ganze Welt er: „Ohne Oskar Schindlers Mut und bewahrt.“30

8 Blickpunkt Hessen – Oskar Schindler Itzhak Stern und Oskar Schindler beim Wiedersehen in Paris 1949 Leben, das er führte, sprach er später von Neuanfang seinen „untätigen und unproduktiven und Emigration Jahren“ in Deutschland. Bitter äußerte er sich über das Schicksal von Millionen von Flüchtlingen, die sich entnazifizieren Nach der Kapitulation flohen Oskar lassen mussten, während prominente Na- Schindler und seine Frau Emilie in die zis „kaum von dem lückenhaften Gesetz amerikanische Besatzungszone. Die erreicht werden“.31 folgenden Jahre bis 1949 verbrachten sie meist in Regensburg. Einer der Gründe Ende 1949 wanderte Oskar Schindler mit für die Wahl des Wohnortes, so mutmaßt seiner Frau Emilie nach Argentinien aus. der amerikanische Historiker David M. Die Auswanderung war nur mit der finan- Crowe, war wohl, dass Schindlers hier ziellen Hilfe des Joint möglich gewesen. ihrer Heimat, dem Sudetenland nahe Dort verdingte er sich zunächst als Ver- waren. Anfänglich bezogen sie Lebens- walter einer Farm und baute mit seiner mittelspenden aus dem nahe gelege- Frau eine Hühner- und Legehennenzucht nen Lager für Displaced Persons (DP) auf. 1953 gründete er eine Nutria- und vom American Jewish Joint Distribution Wildtierzucht auf einer vier Hektar Committee (kurz: Joint). Später erhielt großen Farm in San Vicente. Bei Nutrias Schindler eine Stelle im Lagerhaus des handelt es sich um Biberratten, deren Fel- Joint. 1947 halfen ihm „Schindlerjuden“, le für die Pelzherstellung genutzt werden. eine Stelle als Importeur für Metallwaren Die Zuchtfarm wurde zu einem finan- und Maschinen im Münchener Büro der ziellen Debakel, binnen kurzem war sie Jewish Agency for Palestine zu bekom- verschuldet. Versuche, finanzielle Mittel men; doch dieses wurde bereits 1948 aus Deutschland im Zuge des Bundeslas- wieder geschlossen und Schindler verlor tenausgleiches zu erhalten, schlugen fehl. den Posten. Voller Enttäuschung über das Das Gesetz über den Lastenausgleich

Blickpunkt Hessen – Oskar Schindler 9 (1952) hatte zum Ziel, Deutschen, die in- folge des Zweiten Weltkrieges und seiner Nachwirkungen Vermögensschäden oder besondere andere Nachteile erlitten hat- ten, teilweise finanziellen Schadensersatz zu leisten. 1955 schrieb ihm jedoch das Lastenausgleichsamt, dass er nicht die Kriterien erfülle, die für eine Entschädi- gung notwendig seien. 1957 übersiedelte Schindler wieder nach Deutschland, seine Frau Emilie ließ er in Argentinien zurück.

Emilie Schindler Emilie und Oskar Schindler während eines Urlaubs nach dem Krieg

Die Ehe zwischen Oskar und Emilie war fig, ab 1941 zog sie zu ihm. Sie litt damals keineswegs glücklich. Zahlreiche Frauen- unter furchtbaren Rückenschmerzen in geschichten setzten Emilie Schindler zu. Folge eines von Oskar verursachten Auto- Die Ehe blieb kinderlos. Aus der Affäre unfalls, bei dem sie sich einen Wirbel ge- Oskars mit Aurelie Schlegel, einer alten brochen hatte. Nach einer Behandlung in Schulfreundin, gingen zwei uneheliche Berlin und einem längeren Sanatoriums- Kinder hervor, die 1933 geborene Edith aufenthalt in Österreich kehrte sie nach und Oskar jr., der zwei Jahre später zur Krakau zurück. Welt kam.32 Schindlers Charakter brachte „seine eigene Ehefrau auf einen Leidens- In Brünnlitz gelang im Winter 1944/45 weg, auf dem sie so sehr verbitterte.“33 die Versorgung der Belegschaft nur unter großen Schwierigkeiten. Dabei half Emilie Schindlers Äußerungen über ihren Emilie Schindler, indem sie Lebensmittel Mann sind vielfältig, oft widersprüchlich: beschaffte und die Kranken versorgte. „Ständig belog und betrog er mich nach Der Überlebende Maurice Markheim be- Strich und Faden, dann kam er wie ein richtet: „Durch irgendein Schwarzmarkt- schuldbewusster kleiner Junge, um sich geschäft bekam sie (Emilie Schindler) zu entschuldigen und um Verzeihung einen ganzen LKW voller Brot. Ich sollte zu bitten. Danach ging alles wieder von ihn abladen. Sie sprach mit SS-Männern, vorne los. Doch Oskar hatte auch gute durch die Art, wie sie sich abwandte und Eigenschaften: Er war gutmütig, immer das Gespräch führte, konnte ich einen freundlich, großzügig und hilfsbereit. So Laib Brot unter meinem Hemd ver- wurde meine Ehe schon bald zu einem schwinden lassen. Ich merkte, dass sie Wechselbad aus Freud und Leid.“34 In das mit Absicht machte. Ein Laib Brot war einem Interview für die Illustrierte Bunte zu diesem Zeitpunkt Gold wert! Es gibt 1994 griff sie ihren Mann scharf an: „Der ein altes Sprichwort: ,Hinter dem Mann Schindler konnte doch nichts. Reden und steht die Frau‘, und ich glaube, sie war lügen vielleicht. Aber damit ernährt man der großartigste Mensch.“36 keine tausend hungernden Menschen, 35 Nachdem ihr Mann sie mit reichlich das musste alles ich machen.“ Schulden in Argentinien zurückgelassen 1939 zog Emilie mit ihrem Mann nach hatte, geriet sie weithin in Vergessenheit. Mährisch-Ostrau und unterstützte ihn bei Die jüdische Organisation B‘nai B‘rith seiner Geheimdiensttätigkeit. Als Oskar nahm sich ihrer an und half ihr aus dem nach Krakau ging, besuchte sie ihn häu- finanziellen Desaster, organisierte ein

10 Blickpunkt Hessen – Oskar Schindler Haus in San Vicente und überließ ihr Hessische Rundfunk über die Rettungsak- lebenslanges Wohnrecht. tion Schindlers. Doch seine Taten wurden Nach dem Filmstart von „Schindlers Lis- nicht dauerhaft in einer breiten Öffent- te“ rückte Emilie Schindler in den Blick- lichkeit in Deutschland wahrgenommen, punkt der Öffentlichkeit und eine gewisse wenngleich seit dem Auschwitzprozess Anerkennung wurde ihr zuteil. 1995 kam (1963-1965) eine begrenzte Öffentlichkeit für die Auseinandersetzung mit den NS- sie erstmals wieder nach Deutschland. Verbrechen vorhanden war. Bundespräsident Roman Herzog ver- lieh ihr das Bundesverdienstkreuz der Zwischen 1962 und 1972 sagte Schind- Bundesrepublik. Vier Jahre später kam sie ler in fünf Ermittlungsverfahren gegen erneut nach Europa und besuchte dabei nationalsozialistische Gewaltverbrecher ihre Heimatstadt Maletín in Tschechien. aus. Die meisten dieser Ermittlungsver- Nach einem Sturz im November 2000 fahren wurden eingestellt, da die nötigen lebte sie in einem deutschen Altenheim Beweismittel als unzureichend angese- in einem Vorort von Buenos Aires. Emilie hen wurden oder der Angeklagte nicht Schindler starb am 6. Oktober 2001 vernehmungsfähig war. Als in Frankfurt während eines Deutschlandaufenthalts. der Auschwitzprozess stattfand, gehörte Kurz zuvor gab es noch Pläne, dass Emilie Schindler zu einem Kreis von Bürgern, Schindler einen Altersruhesitz in einem die dort auftretende Zeugen – vor allem sudetendeutschen Heim im bayerischen Überlebende – begleiteten und betreu- Waldkraiburg beziehen solle. Dort wurde ten. sie beigesetzt. Da Schindler zu jung war für eine Las- tenausgleichsrente, konnte er für seine Ansprüche nur durch ein Darlehen der Lastenausgleichsbank entschädigt wer- den, das für den Ankauf eines bankrotten Unternehmens gewährt wurde. Verschie- Oskar Schindler dene Versuche, ein solches Unternehmen zu erwerben, scheiterten in den Folgejah- in Frankfurt ren, da es immer wieder Schwierigkeiten mit den Behörden gab. Erst im Frühjahr Oskar Schindler lebte von 1957 bis zu sei- 1962 gelang es Schindler das Beton- und nem Tod 1974 in Frankfurt, ohne dass die Kunststeinwerk Kurt Ganz in Hochstadt Öffentlichkeit von ihm viel Notiz nahm. am Main zu kaufen. Die Firma stellte 1966 wurde der evangelische Stadtju- Fensterbretter und Treppenstufen aus gendpfarrer und spätere Probst, Dieter Zement her. Innerhalb eines Jahres ging Trautwein, auf Oskar Schindlers Namen das Unternehmen bankrott. Beim Ver- und seine Geschichte in Yad Vashem auf- such, den Betrieb wieder in Schwung zu merksam. Er suchte daraufhin Schindler bringen, erlitt Schindler einen Herzanfall, auf, zu einer Zeit als nur wenige Men- der ihn fast umbrachte. schen von Schindlers Rettungstaten Notiz Mietek Pemper urteilt über Schindlers nahmen. Zwischen beiden entwickelte Scheitern nach dem Krieg: „Er konnte sich eine Freundschaft. Mit seinem katho- sich nicht zurechtfinden. Er hatte keine lischen Kollegen, dem Frankfurter Jugend- unternehmerische Erfahrung im Sinne pfarrer Lothar Zenetti, bat er Schindler des Wortes gehabt. Weder in der Fabrik am Tag der Evangelischen Jugend 1967 zu seines Vaters noch später in Krakau und einer Podiumsveranstaltung. Mit auf dem Brünnlitz. Die Emailwarenfabrik führten Podium saß auch einer seiner Gerette- seine jüdischen Mitarbeiter. Außerdem ten: Leopold Pfefferberg, der sich nun befürchte ich, dass er nicht den ganzen Leopold Page nannte. Nach der Veran- Lastenausgleich für die Firma einsetzte. staltung berichteten Zeitungen und der Und für den Job eines Angestellten war

Blickpunkt Hessen – Oskar Schindler 11 Am 9. Oktober 1996 (22. Todestag Schindlers) wird im Kaisersaal des Frankfurter Römer eine Gedenktafel für Schindler vorgestellt. Sie wird dann an seinem Wohnort in Frankfurt/ Main, Am Hauptbahnhof 4, angebracht. An der Feier wirken auch die Geretteten Stella Müller-Madej (links) und Mietek Pemper (neben der Gedenktafel) mit, ganz links Stadtkäm- merer a.D. Ernst Gerhardt. er auch nicht geschaffen. Er war kein seinen „Schindlerjuden“ wurde er nie Schreibtischmensch. Ich glaube, er ist vergessen, bis zu seinem Tode haben sie während des Krieges in eine vollkommen Oskar Schindler immer wieder finanziell andere Situation hineingewachsen – mit unter die Arme gegriffen. Die von ihm mehr als tausend Arbeitern und einem Geretteten bezeichneten ihn als „Vater riesigen Maschinenpark. Da sollte er Courage“, er nannte sie „meine Kinder“.38 plötzlich zurückgestuft werden? Nein, er Ab 1962 reiste Oskar Schindler einmal fand sich nicht mehr zurecht, das ging im Jahr auf ihre Einladung hin nach Israel. nicht mehr, rauf geht es, aber runter Heute gibt es über 6.000 Nachkommen nicht“37. der „Schindlerjuden“. Schindlers letzte zehn Lebensjahre waren bestimmt von finanziellen und gesund- heitlichen Problemen. Er lebte in einer kleinen Wohnung in der Nähe des Frank- Späte Ehrungen furter Hauptbahnhofes. Die Hessische und Würdigungen Landesregierung gewährte ihm eine klei- ne Ehrenrente von monatlich 500 DM. Als Geschäftsführer des Bundesverbandes Betrachtet man die Ehrungen und der Gesellschaft der Freunde der Hebräi- Würdigungen, die Schindler im späteren schen Universität in Deutschland erhielt Lebensabschnitt erhielt, so entsteht der er zudem ein kleines Gehalt. In dieser Eindruck, dass er nunmehr – zu Recht – Zeit lebte er in zwei Welten, in einer die Anerkennung erfuhr, die ihm für sein jüdischen und in einer deutschen. Von Engagement zustand. 1962 ehrte ihn die 12 Blickpunkt Hessen – Oskar Schindler Der Limburger Weihbischof übergibt bei einer Feier in Frankfurt/Main im Oktober 1968 Oskar Schindler den von Papst Paul VI. verliehenen Silvester-Orden.

Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechter den seine wirtschaftlichen Misserfolge im der Völker“, Schindler kam zum ersten Land des Wirtschaftswunders belasteten. Mal nach Israel, um diese Ehrung ent- Insbesondere bestand eine besondere gegenzunehmen und pflanzte als einer Verbundenheit zwischen ihm und den der Ersten einen Baum in der „Allee der geretteten jüdischen Zwangsarbeitern Gerechten“. Diese Nominierung weckte und ihren Familien. Auch in Frankfurt internationales Interesse. Doch verschie- bildete sich ein enger Freundeskreis um dene anvisierte Filmprojekte über seine Schindler. Gleichwohl stießen die Bemü- Rettungstat scheiterten letztendlich. So hungen dieser beiden Personkreise auf trat auch Hollywood Anfang der 60er Grenzen, so dass Schindler zu Leibzeiten Jahre an Schindler heran. Doch das Film- in Deutschland nicht die angemessene skript mit dem Titel „To the Last Hour“ öffentliche Anerkennung zuteil wurde. nahm es mit der Faktentreue nicht son- 1974 starb er nach einem Schlaganfall derlich genau und wurde unter anderem am 9. Oktober im Alter von 66 Jahren in aus diesem Grund nicht realisiert. Hildesheim, wo er sich zeitweilig bei sei- 1966 erhielt er das Bundesverdienstkreuz ner letzten Lebensgefährtin aufgehalten Erster Klasse, 1967 wurde ihm der Mar- hatte. Schindler wurde seinem Wunsch tin-Buber-Friedenspreis verliehen. Im da- entsprechend auf dem Franziskaner- rauf folgenden Jahr überreichte man ihm Friedhof auf dem Zionsberg in Jerusalem den päpstlichen Silvester-Orden. Diese beigesetzt. Ehrungen wurden erst durch das Engage- 1976 wurde am nördlichen Ortsrand von ment eines Unterstützerkreises möglich, Frankfurt eine kleine Straße zu Ehren der sich um Oskar Schindler kümmerte, von Oskar Schindler benannt. In den fol- Blickpunkt Hessen – Oskar Schindler 13 genden Jahren versuchen der Kreis um Jahr 1994 publiziert wurde, als Spielbergs Dieter Trautwein und die Ackermann- Film für ein entsprechendes Medienecho Gemeinde, eine Gemeinschaft deutscher gesorgt hatte. Katholiken aus Böhmen, Mähren-Schle- Personen, die während der nationalsozia- sien, die Erinnerung an Oskar Schindler listischen Verfolgungs- und Vernichtungs- wach zu halten. Gedenkfeiern zu seinem politik Verfolgten halfen, fanden in der 70. und 80. Geburtstag, 10. Todestag bundesrepublikanischen Nachkriegsge- oder 20. Todestag brachten evangeli- sellschaft zumeist wenig Beachtung und sche Christen, katholische Christen und Anerkennung für ihre Tat. Öffentliche Juden zusammen, so dass ihn Propst Ehrungen blieben bis in die sechziger und Trautwein einen „Stifter und Anstifter 39 siebziger Jahre eher eine Ausnahme. 1957 einer größeren Ökumene“ nennt. 1996 veröffentlichte Kurt R. Großmann das wurde nach einer Feierstunde im Frank- Buch „Die unbesungenen Helden: Men- furter Römer eine Gedenktafel am Haus schen in Deutschlands dunklen Tagen“. „Am Hauptbahnhof 4“, seinem letzten Damit setzte er den „stillen Helden“, wie Wohnsitz angebracht. Am 9. November „Retterinnen“ und „Retter“ auch bezeich- 2003 eröffnete das Frankfurter Jüdische net werden, ein erstes Denkmal. Es war Museum in den Räumlichkeiten seiner das erste Buch, das Rettungsgeschichten „Dependance“, dem Museum Juden- während der Zeit des Nationalsozialismus gasse, das Oskar und Emilie Schind- aufgriff, darunter war auch die Geschich- ler Lernzentrum. Ein Antrag auf eine te Schindlers.40 Gedenk-Briefmarke wurde 1988 vom Bundesminister für Post und Telekom- Mitte der 60er Jahre interviewten munikation abschlägig beschieden. Erst der Filmproduzent Martin Gosch und 2008 erfolgt eine Würdigung durch eine Howard Koch, Drehbuchautor des Sonderbriefmarke. Filmklassikers „Casablanca“, zahlreiche „Schindlerjuden“ und versuchten MGM (Metro-Goldwyn-Mayer) für ein Film- projekt zu gewinnen. Doch erst als im Dezember 1993 Steven Spielberg seinen Literarische und Film „Schindlers Liste“ weltweit in die filmische Rezeption Kinos brachte, wurde Schindler zu einer allseits bekannten Persönlichkeit. Spiel- bergs mit sieben Oskars prämierte Dar- 1948 reiste der kanadische Journalist stellung beruht in erster Linie auf dem Herbert Steinhouse nach Europa, um für gleichnamigen Roman des Australiers das American Jewish Joint Distribution Thomas Keneally aus dem Jahr 1982. Zu Committee zu arbeiten. Dabei besuchte dem Roman „Schindlers Liste“ hatte der er auch Oskar und Emilie Schindler in in Los Angeles lebende „Schindlerjude“ deren Regensburger Wohnung. Er war Leopold Page (Pfefferberg) mit seinen mündlichen Berichten 1980 Keneally zunächst skeptisch, wenn er Geschichten 41 über „gute Deutsche“ hörte. Im Verlauf angeregt. von sechs Wochen erzählte Schindler, In Steven Spielbergs Verfilmung des was er getan hatte, um „seine“ Juden zu Romans „Schindlers Liste“ von Thomas retten. Steinhouse war überzeugt und Keneally trägt die Kunstfigur des Itzhak schrieb darüber einen langen Artikel. Er Stern sowohl Züge des jungen Mietek versuchte vergeblich diesen zu veröffent- Pemper als auch des Schindler-Vertrauten lichen. Von seinem Agenten hörte er, Stern.42 Für die dramaturgische Verdich- dass Zeitschriften keine Interesse mehr an tung reduzierte Spielberg die Anzahl der Artikeln über die Judenvernichtung und zentral handelnden Personen. 1994 er- über „gute Deutsche“ hätten. So kam hielt der Film sieben Oscars und war für es, dass Steinhouses Reportage erst im fünf weitere nominiert.

14 Blickpunkt Hessen – Oskar Schindler Steven Spielberg und Liam Neeson während der Dreharbeiten zum Film „Schindlers Liste“.

Die von Steven Spielberg im gleichen Jahr etwa 250 ihm zugewiesene jüdische gegründete „Survivors of the Shoah Visual Zwangsarbeiter vor der Ermordung in History Foundation“ hat im Rahmen ihres den Vernichtungslagern rettete, oder der weltweiten Interviewprojekts mit den Einsatz des Frankfurter Arztes Fritz Kahl, Überlebenden der Shoah über 50.000 der einen aus dem Konzentrationslager Interviews in 56 Ländern und 32 Sprachen Maidanek entflohenen jüdischen Häftling durchgeführt. Darunter sind rund 150 versteckte und für ihn und seine Verlobte Überlebende von „Schindlers Liste“, mit die Flucht organisierte. denen ausführliche Gespräche geführt und Für Frankfurt kann es als Glücksfall in Filmen festgehalten wurden. Das Jüdi- gelten, dass Oskar Schindler viele Jahre sche Museum Frankfurt verfügt zur Zeit seines Lebens in dieser Stadt verbrachte. über 43 Interviews von Schindlers Liste. Bei der Einweihung der Gedenktafel für Oskar Schindlers Rettungstat war kein Oskar Schindler am Haus gegenüber dem Einzelfall, sie war aber die Ausnahme in Hauptbahnhof sprach Dieter Trautwein einem Menschen vernichtenden System, 1996 folgende Worte: „Wie sehen heute das von zu vielen Opportunisten und Eure Zeichen der Zivilcourage aus für Mitläufern unterstützt wurde. Sehr häufig Menschen, die ins Abseits gestellt und taucht der Name Oskar Schindler auf, abgeschrieben werden: Kinder, Jugend- wenn andere Helfer und Retter genannt liche, Fremde, Alte, Arbeitslose ...? Mein werden. Doch erst in den letzten Jahren Wunsch: Möge diese Gedenktafel uns fanden diese Personen die Beachtung, daran erinnern, dass dieser einstige Mit- die ihre mutigen Taten verdienen. Jede bürger durch sein Leben und Tun unsere Rettungstat ist einzigartig und sollte als Zeit heute qualifiziert hat in Richtung auf solche gewürdigt werden. Dazu ge- eine neue Qualität des Miteinanders von hört die Rettungstat des Darmstädters Juden, Christen, Muslimen und anderen Karl Plagge, der als Wehrmachtsoffizier Menschen hier bei uns.“43

Blickpunkt Hessen – Oskar Schindler 15 30 Übersetzung des freien Zitates aus der Anmerkungen Mischna, durch Dr. Johannes Wachten, Jüdisches Museuem Frankfurt. Da der Originalring nicht mehr vorliegt, variieren die 1 Vgl dazu beispielsweise Dieter Trautwein, Übersetzungsversionen in der Literatur. Eine Oskar Schindler, ... immer neue Geschich- andere Variante ist z.B bei Trautwein, S. 28 ten. Begegnungen mit dem Retter von mehr nachzulesen. als 1200 Juden. Frankfurt 2000, S. 273. 31 Zitiert nach Crowe, S. 546. 2 Elinor J. Brecher: Ich stand auf Schindlers Liste. Lebenswege der Geretteten. Sam und 32 Crowe, S. 22. Edith Wertheim. Bergisch Gladbach 1995, 33 Trautwein, S. 271. S. 467. 34 Erika Rosenberg (Hrsg.) Ich, Emilie Schindler. 3 Ebd. Victor Lewis, S. 294. Erinnerungen einer Unbeugsamen. München 4 David M. Crowe, Oskar Schindler. Die Bio- 2001, S. 51. graphie. Berlin, 2005, S. 15. 35 Zitiert nach Crowe, S. 670. 5 Crowe, S. 24. 36 Elinor J. Brecher: Ich stand auf Schindlers 6 Crowe, S. 33. Liste. Lebenswege der Geretteten. Maurice Markheim. Bergisch Gladbach 1995, S. 396. 7 Ausführlich zur Agententätigkeit Schindlers vgl. Crowe, S. 63–107. 37 (Crowe, S. 567) 8 Crowe, S. 167. 38 Die Juden nennen ihn Vater Courage. Neue Presse, 24.6.1976, siehe auch Trautwein, 9 Crowe, S. 139. S. 31. 10 Crowe, S. 208 39 Trautwein, S. 131. 11 Crowe, S. 164–168. 40 Das Buch gab den Anstoß für den Berliner 12 Crowe, S. 207. Innensenator Joachim Lipschitz zwischen 13 Crowe, S. 228. 1958 und 1966 Judenretter in Berlin zu ehren. 14 Crowe, S. 229. 41 Zur Entstehungsgeschichte des Romans 15 Mieczyslaw (Mietek) Pemper: Der rettende Schindlers Liste vgl. Thomas Keneally, Sear- Weg – Schindlers Liste. Die wahre Geschich- ching for Schindler. Sidney 2007. te. Aufgezeichnet von Viktoria Hertling und Marie Elisabeth Müller. Hoffmann & Campe 42 Thomas Keneally, Schindlers List. Simon and Hamburg 2005, S. 100f. Schuster 1982. 16 Pemper: S. 120f. 43 Trautwein, S. 304. 17 Pemper: S. 271. 18 Pemper, S. 191. 19 Pemper, S. 200. 20 Crowe, S. 358. 21 Thomas Keneally, Schindlers Liste. München 1994, S. 246. 22 Crowe, S. 410. 23 Crowe, S. 412ff. 24 Crowe, S. 417. 25 Pemper, S. 190. 26 Pemper, S. 189. 27 Pemper, S. 111. 28 Crowe, S. 472. 29 Erika Rosenberg (Hrsg.) Ich, Emilie Schindler. Erinnerungen einer Unbeugsamen. München 2001, S. 125.

16 Blickpunkt Hessen – Oskar Schindler Bildnachweise:

S. 1: Dieter Trautwein, Oskar Schindler . . . immer neue Geschichten. Frankfurt 2000, S. 9, Quelle: M. Bejski S. 2: United Holocaust Memorial Museum 03380 S. 3: United Holocaust Memorial Museum 02858 S. 4: United Holocaust Memorial Museum 03379 S. 7: Yad Vashem S. 9: United Holocaust Memorial Museum 08275 S. 10: Dieter Trautwein, Oskar Schindler ... immer neue Geschichten. Frankfurt 2000, S. 262, Quelle: Radislav Fikejz S. 12: Frankfurter Rundschau: Georg Kupfermüller S. 13: Katholische Nachrichten Agentur S. 15: United International Picture Blickpunkt Hessen

In dieser Reihe werden gesellschaftspolitische Themen als Kurzinformationen aufgegriffen. Zur Themen­palette gehören Portraits bedeutender hessischer Persönlichkeiten, hessische Geschichte sowie die Entwicklung von Politik und Kultur. Hrsg.: Angelika Röming. Bisher erschienen: Blickpunkt Hessen 1: Erwin Stein – Mitgestalter des neuen Bundeslandes Hessen Blickpunkt Hessen 2: Fritz Bauer und die Aufarbeitung der NS-Verbrechen nach 1945 Blickpunkt Hessen 3: Carl Ulrich – Vom sozialdemokratischen Parteiführer zum hessischen Staatspräsidenten Blickpunkt Hessen 4: Die Gründung des Landes Hessen 1945 Blickpunkt Hessen 5: Eugen Kogon – Ein Leben für Humanismus, Freiheit und Demokratie Blickpunkt Hessen 6: Hessische Grenzmuseen: Point Alpha und Schifflersgrund Blickpunkt Hessen 7: Hessische Partnerregionen: Emilia-Romagna, Aquitaine, Wielkopolska, Wisconsin, Jaroslawl Blickpunkt Hessen 8: Oskar Schindler – Vater Courage