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Mag.art. Karina Thier 9406877

Aschenputtels Facetten und Dornröschens Spiegelungen Eine Untersuchung zur Entwicklung und Transformation des Aschenputtel- und Dornröschen Märchens im Kontext seiner Zeit mit Hauptaugenmerk auf zeitgenössische Bearbeitungen in Bezugnahme des Frauenbilds der Brüder Grimm

Schriftlicher Teil der künstlerischen Abschlussarbeit

Betreuerin: ao. Univ.-Prof. Dr.phil. Renate Vergeiner

Angestrebter Akademischer Titel: Mag.art.

Studienrichtung: Kunst und Kommunikative Praxis Lehramt für Bildnerische Erziehung und Textiles Gestalten Institut für Kunstwissenschaften, Kunstpädagogik und Kunstvermittlung

Wintersemester 2018/19 Wien im April 2019 Abstract

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Frage wie das beliebte Aschenputtel- und Dornröschen Märchen der Brüder Grimm ursprünglich ausgesehen hat, beziehungsweise mit der Veränderung und Transformation der typischen Motive der beiden Märchen. Weiter setzt sich die Untersuchung mit der Typologie der beiden Märchenheldinnen, dem Grimm´schen Weiblichkeitsentwurf und den gesellschaftlichen Erwartungen an die Frau im Kontext der jeweiligen Zeit auseinander. Das Bild der Frau in den beiden Märchen ist vor allem in der kritischen Literatur dem beständigen Vorwurf der Passivität und Unterordnung ausgesetzt. Die konträre Position vertritt den Ansatz, dass die Frauen in den Grimm´schen Märchen sehr wohl autonom und emanzipiert agieren. In dieser Arbeit wird versucht zu zeigen, dass die Grimm´sche Heldin als Frau ihrer Zeit keineswegs dem Bild der bürgerlichen Puppenfrau des 19. Jahrhunderts entspricht, sondern die bestmögliche Lösung für ihre Situation anstrebt. Im Zuge dessen werden die beiden ausgesuchten Märchen mit Vorläuferversionen der Grimm´schen Redaktionen, Bearbeitungen im 20. Jahrhundert und zeitgenössischen Adaptionen verglichen.

The present paper deals with the question how the popular - and Sleeping Beauty fairytale by the originally looked, respectively with the change and transformation of the typical themes of the fairytales. Furthermore, the investigation deals with the typology of the two heroines and the expectations of women in context of the particular time. The drawn picture of women in the fairy tales is, primarily in critical literature, under the constant reproach of passivity and submission. The contrary position represents the approach that women in the fairy tales of the brothers Grimm are acting autonomously and emancipated. This paper tries to show, that the heroin in the fairytales does not come up to the expectations of the bourgeois doll woman and rather tries to find the best solution for her situation. In the course of this, the two selected fairy tales are compared to previous versions of Grimm's editorial offices, twentieth-century arrangements and contemporary adaptations.

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Danksagung

Zuallererst gebührt mein Dank Frau Univ.-Prof. Dr.phil. Renate Vergeiner, für ihre herzliche und engagierte Betreuung meiner Diplomarbeit und ihrer Unterstützung durch konstruktive Kritik und inspirierende Anregungen, die mir geholfen haben meinen Blickwinkel zu erweitern. Danken möchte ich ebenfalls Herrn Univ.-Prof. Mag.art. Josef Kaiser, Herrn Kurt Wallner und Frau Sandra Reiss, die mir bei Fragen bezüglich meines Abschlusses immer weitergeholfen haben.

Besonderer Dank gebührt meinen wunderbaren Töchtern Lara und Zoi, die mir während der Fertigstellung meiner Arbeit geduldig und hilfreich zur Seite standen und mich mit Korrekturlesen und Layoutgestaltung unterstützt haben.

Abschließend möchte ich meinen Eltern, meinen beiden Brüdern Michael und Maximilian und insbesondere meiner Schwester Anna, die mich immer wieder motiviert hat, danken.

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Inhaltsverzeichnis Abstract ...... 2 1 Einleitung ...... 7 2 Das Aschenputtel-Märchen ...... 10 2.1 Bestseller „Aschenputtel“ ...... 10 2.1.1 Die Genese der Aschenputtel-Thematik ...... 11 2.1.3 Cinderella Enzyklopädie (1893) nach ...... 12 2.1.4 Zum Namen „Aschenputtel“ ...... 13 2.2 Früheste Aschenputtel-Referenzen ...... 14 2.2.1 Odyssee von Homer (7.-8. Jhd. v. Chr.) ...... 14 2.2.2 Das Amor und Psyche Märchen von Apuleius (2. Jhd. n. Chr.) ...... 15 2.2.3.Aspasia von Phokaia (1.-2.Jhd. n. Chr.) ...... 16 2.2.4.Joseph und Aseneth (~2.-3-Jhd.v.Chr.) ...... 19 2.3 Die ersten Belege des Schuhproben-Motivs ...... 20 2.3.1 (425 v. Chr) ...... 20 2.3.2 nach Strabo (63 – 26 n. Chr.) ...... 21 2.3.3 nach Claudius Aelianus (170-235 n. Chr.) ...... 21 2.3.4 Analogien zum Aschenputtel-Märchen ...... 21 2.4 Die Eschengrüdel-Legenden ...... 21 2.4.1 Legenda Aurea (1263) ...... 22 2.4.2 Die Törichte im Kloster Tabennese (um 420) ...... 22 2.4.3 „Am XVII. Sonntag Nach Pfingste“ (1517) ...... 23 2.4.4 Die verweltlichte Darstellung ...... 25 2.4.5 Ausblick auf die direkten Vorläufer des Aschenputtel-Märchens ...... 25 2.4.6 – Aschenputtels asiatische Schwester (850n.Chr.) ...... 25 2.5 Direkte Vorgänger des Aschenputtels der Brüder Grimm ...... 28 2.5.1 La Gatta Cenerentola- Die Aschenkatze (1632-34) ...... 28 2.5.2 ou La petite pantoufle de verre (1695) ...... 33 2.5.3 Finette Cendron - Finette Aschenbrödel (1697) ...... 36 2.5.4 Das Frauenbild bei Perrault und d´Aulnoy ...... 39 2.5.5 Die unterschiedliche Darstellung der Küchenarbeit des Eschengrüdels , der Lukretia und Cendrillons ...... 40 2.5.6 Cendrillon und Finette Cendron als Ratgeber(Innen)literatur für junge Mädchen . 41 2.6 Aschenputtel in den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm ...... 43 2.6.1 Aschenputtel (1812)- Erstdruck ...... 43 2.6.2 Aschenputtel (1819) ...... 46

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2.6.3 Aschenputtel (1837) ...... 48 2.6.4 Aschenputtel (1857) ...... 48 2.6.5 Charakter und Genese der Heldin von 1812-1857 ...... 49 2.7 Der Aschenputtel-Stoff im 20. und 21. Jahrhundert ...... 51 2.7.1 Das Aschenputtel in Oper, Ballett und Dramaturgie ...... 52 2.7.2 Das Aschenputtel in der filmischen Bearbeitung im 20. Jahrhundert ...... 52 2.7.3 Walt Disney´s Cinderella (1950) ...... 53 2.7.4 Das Aschenputtel in den 1980er Jahren ...... 57 2.7.5 Aschenputtel in Literatur und Film im 21. Jahrhundert - Shades of Grey (Trilogie, 2011-2017) ...... 61 2.7.6 Weitere Aspekte zum Aschenputtel-Märchen ...... 65 3 Das Dornröschen - Märchen ...... 66 3.1 Die Geschichte des Dornröschen-Stoffes ...... 66 3.1.1 Das Zentralmotiv der Zeitlosigkeit in Legende, Sage und Märchen ...... 67 3.2 Erste Dornröschen Referenzen ...... 67 3.2.1 Geschichte von Troylus und Zellandine (um 1330-40) ...... 68 3.2.2 Frayre de Joy e Sor de Plaser (um 1350) ...... 69 3.2.3 Das Motiv der Vergewaltigung ...... 70 3.2.4 Das Motiv der schwangeren Scheintoten ...... 72 3.2.5 Das Motiv des Scheintods ...... 73 3.3 Direkte Dornröschen –Vorläufer ...... 74 3.3.1 Sonne, Mond und Talia (1636) ...... 74 3.3.2 Die Schlafende Schöne im Wald (1695) ...... 78 3.4 Dornröschen in den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm ...... 83 3.4.1 Die Genese des Dornröschen Stoffes á la Grimm - von der „Ölenberger Märchenhandschrift“(1810) bis zur Ausgabe letzter Hand (1875) ...... 83 3.5 Bearbeitungen des Dornröschen-Stoffes in Musik, Theater, Film und Kunst ...... 95 3.5.1 Walt Disney´s Sleeping Beauty (1959) ...... 95 3.5.2 Disney´s Sleeping Beauty versus zeittypischer Dornröschen-Illustrationen ...... 95 3.5.3 Briar Rose (1992) ...... 98 3.5.4 Hable con Ella (2002) ...... 102 3.5.5 Weitere interessante Aspekte der Dornröschen-Thematik...... 104 4 Aschenputtel und Dornröschen beziehungsweise die Frau dahinter als Widerspiegelung der Romantik ...... 105 4.1 Die Entstehung der Kinder- und Haus Märchen der Gebrüder Grimm ...... 105 4.1.1 Die Gattung Grimm ...... 105

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5.1.2.MärchenzuträgerInnen und Gewährspersonen ...... 108 4.2 Die Frauen im Leben und Werk der Brüder Grimm ...... 111 4.2.1 Frauen in der Familie der Brüder ...... 111 4.2.2 Weibliche Freund- und Bekanntschaften ...... 113 4.2.3 Ansichten der Brüder zu Geschlechtlichkeit und Sexualität ...... 116 4.2.4 Resümierender Kommentar ...... 117 4.3 Die Stellung der Frau in der Romantik ...... 118 4.3.1 Der Einfluss des Rousseau`schen Geschlechterkonzepts ...... 119 4.3.2 Beginnende Umstrukturierungen im Denken ...... 120 4.3.3 Erste feministische Tendenzen aus den Reihen der bürgerlichen Frauen ...... 122 4.3.4 Die Kinder- und Hausmärchen im Kontext des 19.Jahrhunderts ...... 123 4.3.5 Kritische Betrachtung der Grimm´schen Frauenentwürfe als Ideal für weibliche Verhaltensmodelle ...... 124 4.4. Forschungsfrage: Verkörpern Grimms Heldinnen Aschenputtel und Dornröschen das zeittypische Frauenideal des Biedermeier beziehungsweise wirken diese Vorstellungen nachhaltig weiter? ...... 124 4.4.1„Some Day my Prince will come“ –Endstation Ehe? ...... 128 Ausblick ...... 129 Literaturverzeichnis ...... 131

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1 Einleitung

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Frage wie das beliebte Aschenputtel- und Dornröschen Märchen der Brüder Grimm ursprünglich erzählt wurde, beziehungsweise der Veränderung und Transformation der typischen Motive der beiden Märchen in modernen und überaus populären Adaptionen wie Pretty Woman, Twilight oder Shades of Grey. Die Märchentexte der Brüder Grimm bilden den Ausgangspunkt der Untersuchung, da deren Sammlung als die mit Abstand bekannteste und beliebteste dieses Erzählgenres gilt. Die Grimm`schen Märchen zählen zu den am häufigsten rezipierten literarischen Produktionen. Diese fanden in beispiellosem Ausmaß Eingang in die Kinder- und Jugendliteratur und beanspruchen eine zeitüberdauernde Stellung im Literaturkanon, „Das Märchenbuch der Brüder Grimm […] ist das einzige […] von weltweiter Bedeutung und weltweitem Einfluss“1. Bereits zu Lebzeiten Jacob und Wilhelm Grimms wurden sie vierfach übersetzt.2 Gegenwärtig sind die Märchen in mehr als über 170 Sprachen, Mundarten und Kulturdialekten erschienen; die Gesamtauflage aller Einzel-, Teil- und vollständiger Ausgaben dürfte mittlerweile die Milliardengrenze weit überschritten haben.3

Die ausgewählten Märchen belegen die Kraft und Kontinuität der Erzählstoffe und seiner wichtigsten Motive. Einerseits sollen Wechselbeziehungen und Verbindungen zwischen den Fassungen der Brüder Grimm und ihrer Vorläufer, dem Quellenmaterial aus dem sie schöpfen, beziehungsweise deren Neuinterpretationen, betrachtet werden. Gegenstand der Untersuchung im 2.Kapitel - Das Aschenputtel-Märchen und 3. Kapitel - Das Dornröschen- Märchen sind die frühesten Überlieferungen der Motive, deren Abänderungen und Transformationen. Die Grimm´schen Märchentexte werden hier mit frühesten Versionen, möglichen „Ursprungsgeschichten“ und späteren Bearbeitungen verglichen. Dabei wird untersucht, wie sich die Erzähltexte und die grundlegenden Motive, die heute mit dem Aschenputtel- und Dornröschenmotiven assoziiert werden, verändert und gefestigt haben. Da die vorliegende Untersuchung davon ausgeht, dass die Motive und Motivketten, die den Märchen der Brüder Grimm zugrunde liegen, schon viel länger bekannt waren und tradiert wurden, wird nach Ähnlichkeiten und Analogien in Sagen, Legenden, Mythen usw. gesucht, um diese darzulegen und zu besprechen. Der Erzählstoff wird im Kontext seiner Zeit unter der Berücksichtigung der Widerspiegelung der sozialhistorischen Gegebenheiten betrachtet. Der Blick soll darauf gelenkt werden, dass die Entstehung eines Textes immer von seiner zeitgeschichtlichen Realität beeinflusst ist und sich nicht isoliert davon entwickeln kann. Dabei werden die damals bereits bekannten wissenschaftlichen Erkenntnisse und Forschungsergebnisse berücksichtigt. Im Fokus steht dabei das jeweils vorherrschende Frauenbild, wie dieses in den Texten dargestellt wird, und an welches Publikum der Lesestoff gerichtet war. Angesichts der Fülle der literarischen, beziehungsweise filmischen Bearbeitungen des Aschenputtel- und Dornröschenstoffes, kann kein Anspruch auf Vollständigkeit gelten. Die getroffene Auswahl kann eher als literarische, beziehungsweise filmische, Kostprobe betrachtet werden.

1 Hasenkamp, Elfriede: Umgang mit Märchen. Ein märchenkundliches Leitbuch für Lehrkräfte, Eltern, sonstige Erzieher und alle Freunde des Märchens. Allenbach: Boltze, 1958. S.11 2 Vgl.Feustel, 2017, S.13 3 Vgl. Brüder Grimm-Gesellschaft e.V.: "Hin und zurück" - Grimms Märchen in den Sprachen der Welt. URL: http://www.grimms.de/de/content/hin-und-zur%C3%BCck-grimms-m%C3%A4rchen-den-sprachen-der-welt [letzter Aufruf am 28.03.2019] 7

Die Wahl des Aschenputtel-und Dornröschen- Stoffes erfolgte deshalb, weil beide Märchenheldinnen immer wieder harscher Kritik ausgesetzt waren und weiterhin sind. Die Frauengestalten der Brüder Grimm werden generell und vorschnell als „passiv“ und „unterwürfig“ bezeichnet. Die Grimm´schen Kinder und Hausmärchen,

„würden ein kulturell fixiertes Bild von Frauen enthalten, das fragwürdig ist […] der Absolution der patriarchalischen Normen und Werte zuspielen, sie erwecken falsche Identifikationsmöglichkeiten4 […]glücklich werden die unterwürfigen und frommen, die ihr Schicksal still ertragen […] weisen den Weg in die Passivität […] die Mädchen wünschten das Lustobjekt von jedem Nekrophilen zu werden – das unschuldige, geopferte Dornröschen, der schöne Körper von höchster, schlafender Güte5[…] Die beste Frau ist eine Hausfrau6 usw.

lauten weitere Kritikpunkte. Rudolf Schenda prägte in diesem Kontext den Begriff des „Grimm´schen Leidensmädchens“7. Heinz Rölleke vertrat eine völlig andere Ansicht:

Auch hinsichtlich des Themas Frau im Märchen bestätigt es sich, daß [!] wir es mit einer mutigen, einer emanzipatorischen Gattung zu tun haben, einem Typen von Literatur, der sich um Normen und überkommene Moralität gar nicht kümmert, wenn es um das Glück des Helden geht […] Die Märchenheldin hat es richtig gemacht. Sie ist den Regeln bürgerlichen Wohlverhaltens und anerzogener Moral so lange gefolgt, wie ihr Persönlichkeitskern davon untangiert blieb. Sie hat alle Konventionen und Rollenbilder brutallisime über Bord geworfen, als es um sie selbst ging. Und – nochmals - das Märchen gibt ihr recht.8

Jane Yolen stellte fest, dass die vielen aktiven und für Gerechtigkeit und Wahrheit kämpfenden Heldinnen erst durch die Entwicklung des Massenmarktes in gehorsame und wehrlose Frauen verwandelt wurden, “[…] die ursprüngliche Heldin [war] nie katatonisch […].“9

Die Märchen der Brüder Grimm wurden in der Epoche der Romantik verfasst und editiert. Bezug nehmend auf die These des amerikanischen Historikers Robert Darnton, der darauf hinweist, dass Volksmärchen auch immer als historische Belege gelten, […] folktales always historical documents […] they suggest that mentalitis themselves have changed,10müssen auch die Grimm´schen Märchen betrachtet werden, die ganz wesentlich von den Geschehnissen und den geistigen- und kulturellen Normen und Werten ihrer Epoche geprägt wurden11. Vor diesem Hintergrund wird auch die Rolle der Frau im 19. Jahrhundert verständlich. Es wird danach gefragt, ob die beiden Märchenheldinnen dem romantischen,

4 Zipes, Jack: Der Prinz wird nicht kommen. Feministische Kulturkritik in den USA und England. S.179. In: Wehse, Rainer/ Früh, Sigrid (Hrsg.): Die Frau im Märchen. Kassel: Röth, 1985. S. 174-192. 5 Ebd. 6 Ebd. S.180 7 Horn, Katalin: Über das Weiterleben der Märchen in unserer Zeit.S.68.In:Märchenstiftung Walter Kahn (Hrsg.): Die Volksmärchen in unserer Kultur. Berichte über Bedeutung und Weiterleben der Märchen. Frankfurt: Haag u. Herchen, 1997. S.25-71 8 Rölleke, Heinz: Die Frau in den Märchen der Brüder Grimm. S. 87. In:Wehse/Früh, 1985, S. 9 Vgl. Zipes, 1985. S. 181. 10 Darnton, Robert: The Great Cat Massacre: And Other Episodes in French Cultural History. New York: Basic Books, 2009. S.13. 11 Vgl. ebd. 8 biedermeierlichen Frauenideal entsprechen. Werden die Grimm´schen Frauengestalten auf ein bestimmtes Verhaltensmuster festgelegt? Verändert sich deren Haltung im Fortgang der Handlung? Werden traditionelle weibliche Rollenbilder gebrochen? Sind selbstständige und aktive Tendenzen der Frauengestalten auszumachen? Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede in der verbalen Ausdrucksform? Wie veränderten und gestalteten die Brüder Grimm „ihre“ Frauenimages im Verlauf der verschiedenen Auflagen? Lässt sich „privat- biographisches“,12 wie Heinz Rölleke behauptet, in den Märchen der Grimms nachweisen? Überwiegen die archetypischen Anteile oder das biedermeierliche Weiblichkeitsideal in den exemplarisch beleuchteten Grimm´schen Frauenfiguren? Unterstützen die Grimms ein restriktives, misogynes Weiblichkeitsbild oder finden sich emanzipatorische Züge in deren idealtypischem Frauenbild? Lassen sich individuell-biographische Anteile der jungen Frauen, die die Brüder in ihrer Sammeltätigkeit unterstützt haben, im präsentierten Frauenbild wiederfinden?

Im 4. Kapitel - Aschenputtel und Dornröschen beziehungsweise die Frau dahinter als Widerspiegelung der Romantik wird ein Blick auf die Sammeltätigkeit der Brüder, auf deren MärchenzuträgerInnen und die Rolle der Frauen im Leben und Schaffen der Brüder geworfen. Auf diesem Exkurs wird vergleichsweise zum Ursprungs- und Transformationskomplex nur in den Grundzügen eingegangen, da die Länge der Arbeit sonst bei weitem den Rahmen sprengen würde. Als Textgrundlagen werden die Ölenberger Handschrift, die Erstdrucke von 1812/15, die Zweitauflage von 1819, die dritte von 1837 und schließlich der Letztdruck von 1857 herangezogen, da sich anhand derer die Veränderungen am deutlichsten zeigen.

12 Rölleke, Heinz: Die „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. Einige neuere Forschungen und Erkenntnisse. S.99. In: Uther, Hans-Jörg: Märchen in unserer Zeit. Zu Erscheinungsformen eines populären Erzählgenres. München: Diederichs, 1992. 9

2 Das Aschenputtel-Märchen

Das Aschenputtel-Märchen zählt zu den beliebtesten, am öftesten rezipierten und bekanntesten Märchentexten der Weltliteratur. Bereits die Brüder Grimm schrieben in ihren Textanmerkungen: “gehört unter die bekanntesten und wird aller Enden erzählt“13. Im deutschsprachigen Raum ist es das Aschenputtel oder –brödel, die Franzosen kennen es als Cendrillon oder Finette Cendron, bei den Italienern heißt es Cenerentola, in Russland Chernushka, in China Ye Xian oder Ye Hsien, in Vietnam Tam Cam usw. Neben der weiblichen Form gibt es auch die männliche Variante als den Aschenhans, den Aschen-Iwan14 oder auch nur Aschenbrödel und viele weitere. Auch in den Kinder und Hausmärchen gibt es ein männliches Pendant: Der Eisenhans (KHM136).15 Aus den zahlreichen Aschenputtel- Versionen sind jene von – Cendrillon ou La petite pantoufle de verre – von 1697, eine aristokratische und die Grimm`schen „inniger erzählten“ 16 Fassungen, die populärsten. Das Thema der Geschichte erscheint auf ähnliche Weise in nahezu allen Teilen der Welt. Ulf Diederichis geht von circa 400 verschiedenen Versionen des Märchens aus17, Marian Roalfe Cox gelangte in ihrer umfassenden Untersuchung des Aschenputtel Märchens auf 354 Versionen18, Heide Anne Heiner spricht von über 1500 Fassungen.19 In der Aarne Thompson-Klassifizierung ist die Geschichte unter 510A gelistet. In dieser Abhandlung liegt der Fokus auf den Heldinnen der Erzählungen, daher wird in den theoretischen Analysen auch die weibliche Form benutzt. Das Märchen handelt meist von einer liebenswerten und gedemütigten Heldin, die unter der Missachtung ihrer Familie leidet. Die Protagonistin hat eine, oder mehrere magische HelferInnen, die sie dabei unterstützen sich endlich aus ihrem unglücklichen Schicksal zu befreien. In den meisten Erzählungen erlebt die Heldin eine Epiphanie, „that causes the heroine to be recognized for her true worth”20. Im Vorwort der Cinderella Enzyklopädie von Marian Roalfe Cox fasst sie das Thema der Erzählung folgendermaßen zusammen:

The fundamental idea of Cinderella, I suppose, is this person in a mean or obscure position, by means of supernatural assistance, makes a good marriage.21

2.1 Bestseller „Aschenputtel“

Dem ungeheuren Beliebtheitsgrad des Aschenputtel-Märchens muss eine besondere Beachtung zuteilwerden. Gerade erfolgreiche Bücher können als Barometer für Normen,

13 Grimm: Kinder und Hausmärchen. Bd. 1, Große Ausgabe. Berlin: Realschulbuchhandlung, 1812. Anhang Bd.1.[XV]. 14Vgl. Diederichs, Ulf: Who`s who im Märchen. München: dtv, 1995,S. 31 15 Grimm: Kinder und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand. Mit einem Anhang sämtlicher nicht in allen Auflagen veröffentlichten Märchen. Hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart: Reclam, 1997. S 645-654. Erstmals erscheint die Erzählung Der Eisenhans in der 6.Auflage der KHM 1850. 16 Diederichs, 1995, S.31 17 Vgl. ebd.S.31 18 Cox, Marian Roalfe: Cinderella: Three Hundred and Forty-five Variants of Cinderella, , and Cap O`Rushes, Abstracted and Tabulated, with a discussion of medivial analogues and notes. London: David Nutt for The Folk-Lore Society, 1893. 19 Heiner, Heide-Anne: History of Cinderella. In: SurLaLune fairytales. URL: http://www.surlalunefairytales.com [08.09.2018 ] 20 Ebd. 21 Cox,1893, S. 9 10

Werte und Ideale einer Gesellschaft gelten.22 Demnach erfüllt das Aschenputtel-Märchen die zeit- und geschlechtsspezifischen Bedürfnisse und Erwartungen der LeserInnenschaft. Das Aschenputtel- Märchen gehört neben seiner häufigen Rezeption auch zu den „kontroversesten diskutierten Märchentexten“23. Einerseits wird die Idee einer gedemütigten und entrechtetet Heldin präsentiert, von welcher vermittelt wird „fromm und gut“24 zu sein. Da wie Kay Stone mutmaßt, dass es, „brave und hübsche Mädchen für das ganze Leben gelöst haben, sobald es ihnen gelungen ist, den Märchenprinzen für sich zu interessieren und festzuhalten“.25 Max Lüthi vertritt eine gegenteilige Ansicht. Für ihn ist das Aschenputtel, „keineswegs einfach gehorsam, sie ist keine ergebene Dulderin“26, er betrachtet sie als selbständige und „initiative“ Heldin, die „sehr genau [weiß], wo und wann sie gehorchen, auf Gebote und Ratschläge hören soll und wo nicht“27.

2.1.1 Die Genese der Aschenputtel-Thematik

Das uns bekannte Motiv aus dem Aschenputtel-Märchen ist in ähnlichen Zügen bereits in Mythen aus der Antike enthalten. Diese sind mehr im übertragenen Sinn zu verstehen, da ihnen die bildliche Verbindlichkeit fehlt mit der heute das Aschenputtel- Märchen assoziiert wird. Dazu zählen die Odyssee von Homer, Joseph und seine Brüder aus der Genesis oder das Symposium von Platon. Erste Züge des vertrauten Aschenputtel Motivs finden sich in der Erzählung der ägyptischen Rhodopis, der jüdischen Aseneth und der griechischen Aspasia. Die Geschichte von Ye Xian ist eine chinesische Erzählung, die der Aschenputtel Variante auffallend ähnlich ist. Diese erscheint erstmals in der Sammlung von Duan Chengsi um ca. 850.28

Im europäischen Mittelalter und der frühen Renaissance gibt es zahlreiche Epen und Balladen in denen das Aschenputtel-Motiv enthalten ist. Vor allem in der weitverbreiteten Textsammlung der „Legenda aurea“ gibt es Erzählungen, in denen das aschenputteltypische Motiv der gedemütigten Heldin auftritt.29 Die ersten Belege dafür sind im deutschen Sprachraum unter anderem bei Martin Luther und dem damals berühmten Prediger Geiler von Kayersberg (1445-1510) zu finden. Auch die Brüder Grimm wiesen in ihrem Aschenputtel-Erstdruck von 1812 darauf hin.30

Aus dem 12. Jahrhundert stammt die Erzählung Le Fresne (dt. Esche) von Marie de Francis, die Züge des Aschenputtel-Motivkomplexes enthält. Diese bildet nach Heide Anne Heiner die

22Vgl. Illouz, Eva: Die neue Liebesordnung. Frauen, Männer und Shades of Grey. Berlin: Suhrkamp, 2013. S. 7. 23 Feustel, Elke: Rätselprinzessinnen und schlafende Schönheiten. Typologie und Funktionen der weiblichen Figuren in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Hildesheim: Georg Olms Verlag, 2012. S.305. 24 Grimm, 1997, S.137 25 Stone, Kay: Mißbrauchte Verzauberung: Aschenputtel als Weiblichkeitsideal. S.89 In. Doderer, Klaus (Hrsg.): Über Märchen für Kinder von heute: Essays zu ihrem Wandel und ihrer Funktion: Weinheim: Beltz, 1990. S.78-79. 26 Lüthi, Max: Der Aschenputtel-Zyklus. S. 56. In: Gehrts, Heino/ Janning, Jürgen/ Ossowski, Herbert (Hrsg.): Das Menschenbild im Märchen. Königsfurt: Urania, 2005. 27 Ebd. S.57 28 Beauchamp, Fay: Introduction and Overview. In: Asian Origins of Cinderella: The Zhuang Storyteller of Guangxi. In: Oral Traditions, 25/2. Columbia: John Miles Foley, 2010. S. 447-496, S. 447. URL: http://journal.oraltradition.org/files/articles/25ii/10_25.2.pdf [ letzter Aufruf am10.09.2018] 29Vgl. Mazenauer, Beat/ Perrig, Severin: Wie Dornröschen seine Unschuld gewann. Archäologie der Märchen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer Verlag, 1995. S.232 30 Grimm: KHM. Bd.2, 1812.Anhang [LXIII] 11 literarische Brücke zwischen den biblischen und antiken Texten, und denen, die aus der Zeit der Renaissance überliefert wurden.31 Zwischen 1634 und 1636 wurde posthum Giambattista Basiles Pentameron veröffentlicht, in dessen Sammlung das Märchen von der „Aschenkatze – Cenerentola“ - enthalten ist, die schließlich die berühmteste Vorläufer-Fassung für das Perraultsche und Grimmsche Aschenputtel bildete. Nach M.R. Cox` Aschenputtel-Studie würde auch die Erzählung Die Bärin – eine Variante von (KHM65) – dem Aschenputtel-Zyklus angehören. Basile gab dem Band zwar den Beinamen „Unterhaltung für die Kleinen“ („-overo Lo trattenemiento de peccerille“), erst 1674 wurde Das Märchen der Märchen („Lo cunto de li cunti“) in „Il Pentamerone“ umbenannt, dennoch ist das Buch nicht für ein Kinderpublikum gedacht. Die Aschenkatze präsentiert sich darin nicht demütig, sondern “is notable for its murderous, conniving Cinderella, a far cry from the virtuous innocent we know so well“32.

Es gibt nur Vermutungen welche literarischen Vorlagen Charles Perrault schließlich zu seiner Cendrillon inspiriert haben, die er 1697 in den „Histoires oder Contes du temps passé“ zum ersten Mal veröffentlichte. Perraults Geschichte ist in einem höfischen, romantischen, leicht humoristischen Stil mit augenzwinkernder Moral verfasst. Seine Variante verhalf dem Märchen zu Popularität und inspirierte unzählige Interpretationen in Film, Theater, Musik und Malerei. „Cinderella dressed in yella“ ist seit der Disney Produktion von 1950 ein geflügeltes Wort.33

1812 erschien die erste Grimm`sche Aschenputtel- Fassung in den Kinder und Hausmärchen. Eine mehrfach redigierte Version wurde 1857 veröffentlicht. Diese soll auch den Referenztext für Vergleiche, Analysen und Interpretationen bilden. Auch im 20. und 21. Jahrhundert regte das Aschenputtel zu unzähligen Bilderbüchern, Mädchenromanen, RatgeberInnenliteraturen (vor allem für Frauen) und Filmproduktionen an. Zu erwähnen sind dabei unter anderem „Disneys Cinderella“ 1950, Julia Roberts als „Pretty Woman“ 1990, die chinesische Variante, die 2006 in „The Year of the fish“ verfilmt wurde und auch Dakota Johnson in der Rolle des Aschenputtels in „Fifty Shades of Grey“. Die Begeisterung Hollywoods für den Aschenputtel-Stoff scheint ungebrochen zu sein.

2.1.3 Cinderella Enzyklopädie (1893) nach Marian Roalfe Cox

Marian Emily Roalfe Cox (1860–1916) war eine britische Linguistin und Folkloristin und nahm eine umfassende Untersuchung der Aschenputtel-Erzählung vor. Sie sammelte Versionen aus 80 verschiedenen Ländern von Finnland nach Zululand über Japan nach Brasilien und Chile.34Sie teilt diese in fünf große Kategorien ein. Die erste enthält die beiden Charakteristika, die für alle Versionen von wesentlicher Bedeutung sind: eine schlecht behandelte Protagonistin, die mittels ihres Schuhs erkannt wird. Hierzu zählen unter anderem das „klassische“ Aschenputtel (KHM 21), Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein (KHM 130) oder Rashin-Coatie, die von Joseph Jacobs gesammelt wurde. Die zweite Kategorie ist um zwei weitere Merkmale angereichert: jenes Motiv, welches Marian Cox als

31 Heiner, Heidi-Anne: The history of Cinderella. URL: http://www.surlalunefairytales.com/cinderella/history.html [10.09.2018] 32 Ebd. 33 Vgl. Diederichsen,1995, S.31 34Vgl. Burne, Charlotte S.: Obituary of Marian Emily Roalfe Cox. In: Folk-Lore, Volume 27. URL: https://en.wikisource.org/wiki/Folk-Lore/Volume_27/Obituary/Marian_Emily_Roalfe_Cox [letzter Aufruf am 05.04.2019] 12

„unnatural father“35 bezeichnet – einen Vater, der seine Tochter heiraten möchte, als Folge davon, flüchtet die Heldin und wird zum Aschenputtel. Dieser Gruppe gehören unter anderem Allerleirauh (KHM 65), Peau d’âne (dt.Eselshaut) und Griseldis von Perrault, L'orza (Die Bärin) von Basile oder Catskin von Joseph Jacobs an. In der dritten Kategorie sind die beiden letztgenannten Motive durch das sogenannte „King Lear judgement“36 ersetzt: Der Vater fordert von seiner Tochter eine Liebeserklärung, die ihm letztlich nicht genügt, sodass er seine Tochter verstößt und sie in ein Aschenputtel verwandelt. Dazu zählen unter anderem Das Mädchen ohne Hände (KHM 31) oder Cap-o'-Rushes (ebenfalls von Joseph Jacob sgesammelt). Die vierte Kategorie nennt sie „Indeterminate Tales“37. Hier sind alle genannten Motive beliebig versammelt. In der letzte Gruppe, den „Hero-Tales“, hat Cox Erzählungen gesammelt, die beliebige Gemeinsamkeiten mit den Aschenputtel-Versionen aufweisen.38In dieser Abhandlung wird die erste Kategorie berücksichtigt.

2.1.4 Zum Namen „Aschenputtel“

Etymologisch leitet sich die Bezeichnung von dem althochdeutschen „asca“ (8. Jahrhundert), mittelhochdeutsch „asche“ und „brodeln“ bzw „putteln“, in der Bedeutung von „graben“ , „im Sand wühlen“, ab.39 In der deutschen Sprache taucht der Begriff in Verbindung des Nomens „Asche“ mit den Verben „grüdeln“, „putteln“ oder „brodeln“ das erste Mal in der ersten Hälfte des 14. Jahrhundert in der Schrift Sanct Oswalds Leben auf.40 Den Textnachweisen zufolge wurde der Begriff damals vollkommen geschlechtsneutral gebraucht, als eine Bezeichnung für nichtbeachtetes, niederes Küchenpersonal. Forschungen der Grimms zufolge wurde er häufiger für männliche Protagonisten verwendet.41 Das Aschenhocker-Motiv findet sich bereits in der Antike, wenn Odysseus auf seiner Heimreise demütig in der Asche neben dem Herd hockt, oder bei biblischen Figuren.42 Martin Luther spricht in seinen Tischgesprächen von Abel als Aschenbrödel, der Kain unterworfen ist:

„Kain der gottlose Bösewicht ist ein gewaltiger auf Erden, aber der fromme und gottesfürchtige Abel muß der Aschenbrödel unterthan, ja seyn Knecht und unterdrückt seyn.“ (1,16)43

Damit spricht er auch die enge Mutterbindung Jacobs an: „Jacob der Aschenbrodel, der Muttersohn“ (594).44 Bruno Bettelheim weist auf den reinigenden Aspekt der Asche hin, da in vielen Gesellschaften Asche zu Waschungen benutzt wurde und der Reinigung diente (z.B.: die Reinigung von den Götzen der Aseneth). Daneben wird Asche mit Trauer assoziiert. „Asche

35 Cox,1893,Preface. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Vgl. ebd. 39 Vgl. Feustel, 2012, S. 213 40 Vgl. Mazenauer/Perrig, 1995, S.322 41 Vgl. Feustel, 2012, S. 213 42 Vgl. Mazenauer/ Perrig, 1995, S.322 43 Grimm: Kinder und Hausmärchen. Vergrößerter Nachdruck der zweibändigen Erstausgabe von 1812 und 1815 nach dem Handexemplar des Brüder Grimm Museums Kassel mit sämtlichen handschriftlichen Korrekturen und Nachträgen der Brüder Grimm sowie Ergänzungsheft, Transkriptionen und Kommentaren. Hrsg. von Ulrike Marquhardt und Heinz Rölleke. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1986. S. 49 44 Ebd. 13 auf dem Haupt“ ist ein Symbol schmerzlicher Trauer.45

2.2 Früheste Aschenputtel-Referenzen

Russel A. Peck sieht in der Odyssee von Homer die ersten Analogien, die später im Aschenputtel–Märchen wiederkehren. Es handelt sich hier allerdings um einen männlichen Protagonisten. Das Motiv des oder der gedemütigten und gottesfürchtigen Helden oder Heldin findet sich auch an einigen Stellen in der Bibel. In dieser Arbeit wird die Geschichte von Joseph und Aseneth näher behandelt, da Aseneth aus freien Stücken dem weltlichen Götzenkult entsagt und sich buchstäblich mit „Asche auf dem Haupte“ Waschungen und Reinigungen unterzieht, um die Liebe Josephs zu erlangen46. Weiter antike Aschenputtel-Züge finden sich im Amor und Psyche Märchen von Apuleius.

2.2.1 Odyssee von Homer (7.-8. Jhd. v. Chr.)

Die Odyssee Homers wurde wahrscheinlich zwischen dem 7. und 8. Jahrhundert v. Chr. das erste Mal schriftlich fixiert.

2.2.1.1 Vergleichende Analysen mit ersten aschenputtelähnlichen Sequenzen

Das Epos schildert die Heimkehr, auch als Irrfahrt bezeichnet, des Odysseus von Ithaka aus dem Trojanischen Krieg. Er irrt zehn Jahre umher, in denen er zahlreiche Prüfungen bestehen muss. Schließlich kehrt er als Bettler verkleidet (von Athene) unerkannt in seinen Palast zurück. Er findet diesen voller Fremder vor, die um seine Ehefrau Penelope freien, sein Eigentum verprassen und Penelope einreden, dass Odysseus bereits umgekommen sei. Sie wollen diese zur Heirat zwingen. In seinem letzten Abenteuer muss Odysseus den Kampf gegen Penelopes Freier bestehen. 47 Odysseus, der sich neben dem Herd in die Asche setzte, um die Gunst Aretes zu gewinnen handelt wie ein Aschenputtel. Athene, die als ständige Beschützerin und Helferin von Odysseus auftritt, übernimmt die Rolle der übernatürlichen Helferin. Sie hat die Fähigkeit sich selbst und andere zu verwandeln. Die Heiratsanwärter, die seinen Palast belagern, um Penelope zu freien, können im übertragenen Sinn als die Stiefschwestern gelesen werden, die die Gunst des Prinzen gewinnen wollen. Die Freier sind ebenso materiell (sie verprassen Odysseus‘ Eigentum) wie die selbstsüchtigen Stiefschwestern ausgerichtet. Im Zuge dessen wird Odysseus in seinem eigenen Heim gedemütigt. Eine Narbe an den Füßen, die er von einem früheren Kampf mit einem Eber davongetragen hatte, führt er als Erkennungszeichen ein, das schließlich seine alte Amme entdeckt, als sie ihm die die Füße wäscht. Um Penelope wiederzugewinnen muss er verschiedene Prüfungen bestehen. Schließlich besteht er mit Athenes Hilfe und besteigt mit Penelope an seiner Seite wieder den Thron als Herrscher über

45 Vgl. Bettelheim, 2017, S. 297 46 Die Geschichte von Joseph und Aseneth stellt nur einen Teil der biblischen Josephs-Geschichte dar. Ihr wurde der Vorzug gegeben, da Aseneth ebenfalls gedemütigt (wenn auch selbstauferlegt) und aus diesen Gründen die Liebe Josephs erlangt. Erwähnenswert im Aschenputtel- Kontext sind außerdem noch die Demütigungen die Joseph durch seine Brüder erfuhr. Ebenso beachtenswert ist die Geschichte von Kain und Abel [Anm. K.T] 47 Vgl. Homer: Odyssee. Übersetzung und Nachwort von Roland Hampe. München: Reclam, 1986. 14

Ithaka.48Athene sowie die Amme gelten gleichzeitig als übernatürliche Helferinnen als auch als Mutterfiguren.

2.2.2 Das Amor und Psyche Märchen von Apuleius (2. Jhd. n. Chr.)

Das Märchen von Amor und Psyche ist Teil des Romans Der goldene Esel – auch Metamorphosen genannt - von Lucius Apuleius (123-170 v. Chr.). Der Roman fällt in die Zeit der Zweiten Sophistik. Apuleius galt als sehr gebildet. Genauso so war sein Roman vom Magischen bestimmt. Im 2. Jahrhundert gewannen die Mysterienreligionen neben dem hohen Status der Bildung an Einfluss. Auch der Alltag der Menschen war stark vom Glauben an das Übernatürliche geprägt. Die Metamorphosen geben ein Beispiel des komisch- realistischen Romans der Antike, der den antiken idealisierenden Roman in Handlung und Erzählweise parodiert.49 Boccaccios „Decamerone“ wurde ebenfalls von den „Metamorphosen“ beeinflusst. Psyche, die jüngste von drei Töchtern eines Königspaares, ist von nahezu überirdischer Schönheit. Sie wird genauso wie Venus verehrt, was den Zorn der olympischen Göttin der Schönheit erregt. Sie befiehlt ihrem Sohn Amor, das Mädchen mit einem unansehnlichen Mann zu verkuppeln. Trotz ihrer Schönheit hält kein Mann um Psyches Hand an, während die beiden älteren, weniger anmutigen Schwestern längst verheiratet sind. Ihr Vater befragt das Orakel des milesischen Apollos und erfährt Schreckliches. Er soll seine jüngste Tochter auf den Gipfel eines Berges bringen, „[…] Prangend im Schmucke der Braut sei sie dem Tode geweiht […]“ Dort wird ihr ein geflügelter Drache als Ehemann prophezeit. Die verzweifelte Psyche wird zum Opfer geführt. Sie wird von Zephir auf Geheiß Amors abgeholt, der sich inzwischen in Psyche verliebt hat und bringt sie schlafend in einen prachtvollen Palast. Sie ist ganz alleine, dennoch wird sie von zahlreichen unsichtbaren Wesen bedient und umsorgt. Jede Nacht erhält sie Besuch von einem unsichtbaren Mann, der das Bett mit ihr teilt und sie vor Tagesanbruch wieder verlässt. Psyche ist einsam und bittet ihre Schwestern sehen zu dürfen. Ihr unsichtbarer Ehemann erlaubt es ihr, dennoch, warnt er Psyche, nicht auf das Gerede ihrer Schwestern zu hören und seine Gestalt sehen zu wollen. Zephir bringt die Schwestern zu Psyche, diese sehen den Prunk in dem sie lebt und erhalten reiche Geschenke. Psyche gibt vor, dass ihr Mann ein schöner Jüngling wäre und sich gerade auf der Jagd befände. Vor dem zweiten Besuch der Schwestern, warnt ihr „unsichtbarer“ Mann die mittlerweile schwangere Psyche erneut vor den missgünstigen Schwestern. Diese nützen Psyches Unsicherheit aus und reden ihr ein, dass ihr Mann das von dem Orakel vorhergesagte Drachenungeheuer sei, das sie und den Säugling verschlingen wolle. Die verängstigte Psyche bricht ihr Versprechen und missachtet Warnung ihres Gatten. In der folgenden Nacht leuchtet sie dem schlafender mit einer Öllampe ins Gesicht. Sie sieht „[…] das holdeste und süßeste aller Ungeheuer […]“ und erkennt Amor selbst. Sie zittert, ritzt sich an einem Pfeil aus seinem Köcher und verleibt sich leidenschaftlich in Amor. Als sie ihn küsst, fällt ein Tropfen heißes Öl auf Amors Schulter, worauf dieser erwacht. Er hat Psyche vor der Anordnung seiner Mutter verschont, nun bleibt ihm nur die Flucht. Ihre Schwestern stürzen sich von dem Felsen ohne wie üblich von Zephir aufgefangen zu werden. Amor wird krank und Venus sperrt ihn als Strafe, dass er sie betrogen und ihre Feindin zur Geliebten nahm

48Vgl. Peck, Russell A. : Cinderella Sources and Analogues from: The Cinderella Bibliography Created in 1995; ongoing URL: http://d.lib.rochester.edu/cinderella/text/cinderella-sources-and-analogues#medieval [letzter Aufruf am 10.09.2018] 49 Vgl.: Apuleius: Metamorphosen oder der goldene Esel. In: Ringvorlesungen Europäische Romane. S. 1 URL: http://www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de/wp-content/uploads/2015/10/Apuleius_Metamorphosen.pdf [letzter Aufruf am 12.09.2018] 15 ein. Psyche begibt sich auf die Suche nach Amor. Venus lässt sie mit Merkurs Hilfe einfangen und stellt ihr scheinbar unlösbare Aufgaben. Sie schüttet Mohn, Weizen, Gerste, Hirse, Erbsen und Linsen durcheinander aus und verlangt von Psyche diese bis zum Abend zu sortieren. Psyche bekommt Hilfe von Ameisen, sodass sie die Arbeit zeitgerecht erledigen kann. Anschließend soll sie von einer am Fluss weidender Herde Schafe goldene Wollflocken besorgen. Sprechendes Schilfrohr hilft ihr diesmal. Als dritte Forderung soll ihr Psyche Wasser aus der Quelle des Unterwasserflusses Styx besorgen. Jupiter, der seinen Adler aussendet, hilft Psyche. Dennoch ist Venus immer noch nicht zufrieden. Mit dem letzten Auftrag schickt sie Psyche in den Orkus, damit sie ihr eine Schönheitssalbe von Proserpina besorge. Psyche denkt an Selbstmord und will sich von einem Turm stürzen. Der Turm selbst hält sie ab und weist ihr den Weg um in die Unterwelt, sowie auch wieder zurück zu gelangen. Sie wird gewarnt keinesfalls die Büchse zu öffnen. Psyche folgt den Anweisungen, erhält die Büchse mit der Salbe und begibt sich auf den Rückweg. Trotz der Warnung kann sie nicht widerstehen und öffnet die Büchse. Allerdings enthält diese keine Schönheit, sondern den Todesschlaf, in den Psyche auch sofort fällt. Amor, der inzwischen wieder genesen ist, wird gerufen. Er erweckt sie mit seinen Pfeilen wieder zum Leben. Psyche kann nun Venus die Salbe übergeben, Amor bittet indes seinen Ziehvater Zeus um Hilfe. Dieser beruft eine Götterversammlung ein und entscheidet, dass Amor Psyche rechtmäßig ehelichen soll. Venus stimmt er versöhnlich, indem er Psyche die Unsterblichkeit schenkt. Bald darauf bringt Psyche eine Tochter zur Welt, die Voluptas (Wollust oder Vergnügen) genannt wird.50

2.2.2.1 Analogien zum Aschenputtel-Märchen

Das Amor und Psyche Märchen hat sowohl Parallelen zum Aschenputtel-Komplex, zu den Tierbräutigam-Märchen, sowie zu Dornröschen und Schneewittchen. Teil der Motivkette sind die missgünstigen Schwestern, die eifersüchtige Mutter, diesmal ihre zukünftige Schwiegermutter. Psyche muss unmögliche Aufgaben bewältigen, wobei sie jedes Mal magische Hilfe erhält. Letztendlich wird ihr Gehorsam belohnt, ihre Schwestern werden bestraft und sie darf Amor heiraten, zudem erhält sie die Unsterblichkeit, die sie mit ihrem Ehemann gleichsetzt.

2.2.3.Aspasia von Phokaia (1.-2.Jhd. n. Chr.)

Claudius Aelianus zeichnete in seinen „Bunten Geschichten“ („Varia Historia“) eine zweite Erzählung auf, die Züge der typischen Aschenputtel-Motivreihe enthält. Nach Graham Greene bildet „Aelian´s story from the second/third century ADn important missing link between fairytale and Romance“51. Aspasias Mutter verstirbt bei ihrer Geburt. Das Mädchen wächst bei ihrem Vater in ärmlichen Verhältnissen auf. Sie hat häufig immer wieder denselben Traum indem ihr vorhergesagt wird, dass sie einen vornehmen und großmütigen Mann heiraten werde. Leider ist das Mädchen durch eine Geschwulst am Kinn entstellt, dass sowohl sie als auch ihren Vater betrübt. Dieser bringt sie zu einem Arzt, doch er hat nicht die notwendigen finanziellen Mittel um dessen Dienste zu bezahlen. Aspasia ist verzweifelt, kann weder Essen noch

50 Vgl. Apuleius: Das Märchen von Amor und Psyche: Lateinisch/ Deutsch. Hrsg. und übersetzt von Kurt Steinmann. München: Reclam,1998. 51 Anderson, Graham: Fairytale in the Ancient World. New YorK: Routledge, 2000. S.29. 16

Trinken und fällt weinend in einen tiefen Schlaf. Diesmal träumt sie von einer Taube, die sich in eine Frau verwandelt. Diese tröstet sie und gibt ihr den Rat das Geschwulst mit getrockneten Rosen aus den Girlanden der Aphrodite zu behandeln. Das Mädchen befolgt die Anweisungen:

the tumor was wholly asswaged ; and Aspasia recovering her beauty by means of the most beautiful goddess, did once again appear the fairest amongst her Virgin- companions, enriched with Graces far above any of the rest52

Sie wird beschrieben mit großen Augen, einer Haut wie eine Rose, mit Zähnen, die weißer sind als Schnee und goldenem, gelocktem Haar, ihre Stimme ist sanft. Jeder der sie je gehört hatte, “ meinte die Stimme einer Sirene vernommen zu haben“.53 Doch das Mädchen bleibt bescheiden und legt auch keinen Wert auf schöne, ihrer Gestalt schmeichelnde Kleider. Eines Tages wird sie gewaltsam mit anderen Jungfrauen zu Kyros, Sohn von Darius und Parysatis, Bruder von Artaxerxes gebracht, da ihre Heimatstadt okkupiert wurde. Die drei anderen Mädchen tragen schöne Kleider, haben sorgfältig gelegte Haare und sind geschminkt. Sie verhalten sich wie Konkubinen, sehen Kyros offensiv an, lassen sich berühren und küssen. Einzig Aspasia muss erst mit Schlägen dazu gezwungen werden sich ein schönes Kleid anzuziehen. Sie wäscht sich auch nicht bevor sie zu Kyros gebracht wird. Ihr Blick ist zu Boden gesenkt. Als Kyros befiehlt die vier Mädchen sollen sich zu ihm setzen, wehrt sich Aspasia erneut und muss erst dazu gezwungen werden. Wenn Kyros sie berührt, schreit sie ihn an und verheißt ihm, dass er für seine Taten nicht ungestraft bleiben werde. Kyros schließlich berührt das Wesen der Aspasia mehr als das aller Frauen, die er bislang kannte. 54

This Maid onely, saith he, of those which you have brought me is free and pure; the rest are adulterate in face, but much more in behaviour." Hereupon Cyrus loved her above all the Women he ever had. Afterwards there grew a mutual love between them, and their friendship proceeded to such a height that it almost arrived at parity, not differing from the concord and modesty of Grecian Marriage. 55

Ihre einzigartige Liebe wird bekannt, es erreicht sogar den König von Persien. In Dankbarkeit und Aphrodite zu Ehren lässt sie ein goldenes, juwelenbesetztes Bild der Göttin mit einer Taube anfertigen. Täglich betet sie davor und bittet um ihre Gunst. Sie denkt auch an ihren Vater, den sie aus seinen bescheidenen Verhältnissen befreit. Eines Tages möchte ihr Kyros eine äußerst wertvolle Halskette schenken. Er sagt diese sei nur einer Tochter oder Frau eines Königs würdig. Doch Aspasia lehnt ab, da demnach die Kette seiner Mutter zustehe. Kyros ist zufrieden mit Aspasias Antwort und lässt die Kette seiner Mutter schicken, die sich ebenfalls über die Bescheidenheit und Tugend der Schwiegertochter freut. Cyrus wird ihm Kampf gegen seinen Bruder getötet. Dieser möchte sie nun zu seiner Frau nehmen. Doch Aspasia trauert um Kyros und weigert sich. Sie wird gewaltsam zu Artaxerxes gebracht, er lässt sie in ein Gefängnis werfen, sie muss ihre Trauerkleidung ablegen und schöne Kleider anziehen. Als er sie sieht, entflammt seine Liebe zu ihr. Demütig bietet sie ihm an ihn zu

52 Aelianus, Claudius: His Various History. Book XII (pages 212-257) Thomas Stanley, translator (1665). URL: http://penelope.uchicago.edu/aelian/varhist12.html [letzter Zugriff am 01.03.2019] 53Ebd. Nach eigener Übersetzung aus dem Englischem [Anm. K.T] 54 Ebd. 55 Aelianus, 1665. 17 trösten, wenn er dies verlange, ansonsten würde sie nach Hause zurückkehren.

Thus more then all his other Women, or his own Son and Kindred, she comforted Artaxerxes, and relieved his sorrow; the King being pleased with her care, and prudently admitting her consolation.56

2.2.3.1 Vergleichende Analyse mit der klassischen Aschenputtel-Erzählung

Aspasia ist wie Aschenputtel eine Halbwaise, da ihre Mutter ebenfalls verstirbt. Sie wächst alleine bei ihrem Vater auf, der sich auch nicht wiederverheiratet. Demzufolge wird sie auch nicht von einer böswilligen Stiefmutter beziehungsweise Stiefschwestern gequält. Die ähnliche Komponente der Stiefschwestern kann mit den drei stolzen Mädchen verglichen werden, die gemeinsam mit Aspasia zum Festessen des Kyros gebracht werden, wo diese um dessen Gunst werben und verhalten sich damit ähnlich wie Aschenputtels Stiefschwestern, die den Prinzen gewinnen wollen. Gequält wird Aspasia in ihren Jugendjahren von einem Geschwür, das ihr Gesicht vollständig entstellt. Ihr erscheint im Traum eine Taube, ähnlich der Tauben, die Aschenputtel beim Verlesen des Getreides helfen und ihr mit guten Ratschlägen zur Seite stehen. Ihre „erträumten“ Tauben verwandeln sich in eine Frau, offensichtlich in die Göttin Aphrodite. Diese Frau entspricht der toten Mutter des Aschenputtels, die dieser auch in Form eines von ihr selbst gepflanzten Bäumchens und der darin brütenden Tauben an deren Grab als übernatürliche Helferin zur Seite steht. Aphrodite schließlich gibt ihr einen Rat um ihr Geschwür zu heilen. Sie befolgt diesen Rat getreu einer guten und frommen Tochter und wird zu einer hinreißenden Schönheit. Als schließlich Kyros befiehlt, man möge ihm vier Jungfrauen schicken, muss sich auch Aspasia fügen. Im Gegensatz zu ihren Mitstreiterinnen ist sie weder geschmückt, geschminkt oder trägt schöne Kleider. Sie badet nicht einmal. Auch versucht sie nicht Kyros zu umgarnen, ganz im Gegenteil sie weist ihn sogar ab. Dieser ist tief beeindruckt von ihrer natürlichen Schönheit, Tugend und Keuschheit. Er liebt sie mehr als all seine bisherigen Frauen, ähnlich dem Prinzen in Aschenputtel, der darauf besteht, nur mit ihr alleine zu tanzen. Es entsteht eine gegenseitige Liebe die ebenfalls in einer Heirat mündet. Aus Dankbarkeit errichtet Aspasia der Göttin Aphrodite und ihren Begleiterinnen, den Tauben, einen Altar, an dem sie täglich betet, ähnlich wie Aschenputtel, die ebenfalls täglich am Grab der Mutter betet. Aspasia muss auch eine Prüfung bestehen, die ihre Bescheidenheit auf die Probe stellt. Kyros schenkt ihr ein wertvolles Geschmeide, das diese ablehnt, da sie meint dies würde mehr seiner Mutter gebühren. Abermals erkennt Kyros, dass er die „richtige Braut“ erwählt hat, ähnlich der Aschenputtel-Erzählung, wo die Schuhprobe der Beweis für die rechtmäßige Braut ist. Aspasia bedenkt auch ihren Vater, den sie reich beschenkt. Die Geschichte der Aspasia ist mit der Prüfung und der Eheschließung noch nicht zu Ende erzählt, doch ist der weitere Verlauf für diese Analyse nicht relevant. Die Heldin agiert weiterhin demütig, bescheiden, treu und ergeben. Anderson resümiert, dass die Erzählung auch die Persönlichkeit Aelianus und seine Moralvorstellungen ausdrückt, sowie, dass die Erzählung die gleiche Botschaft übermittelt wie die des Aschenputtels:

[…] modesty, virtue and simple piety are to be rewarded; forwardness and self-seeking

56 Ebd. 18

will get a girl nowhere.57

2.2.4.Joseph und Aseneth (~2.-3-Jhd.v.Chr.)

Die Joseph und Aseneth- Geschichte ist in die biblische Josephserzählung in der Genesis eingebettet (Gen 37; 39-50).58 Diese ist in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil beschreibt, wie Aseneth, die Tochter eines ägyptischen Priesters, zum Judentum bekehrt wird. Im zweiten Teil versucht der Sohn des Pharao Aseneth gewaltsam für sich zu gewinnen.59 Aus dem 6. Jhd. n. Chr. stammen die ältesten Handschriften, die den griechischen Originaltext überlieferten. Es folgten Übersetzungen in Armenisch, Koptisch, Syrisch, Kirchenslawisch und Latein, die die Erzählung populär machten. Stefanie Holder geht davon aus, dass die Erzählung schon sehr viel früher verfasst wurde, da die Sprache des Romans der Septuaginta entspricht und eine Nähe zu den Psalmen, Mitte des 2. Jhds v. Chr., der Genesis und den Heldenerzählungen in den Büchern Daniel, Tobit und Ester besteht. Somit ist der Zeitraum der Entstehung vom 2. Jhd. v. Chr. bis zur Mitte des 3. Jhds. einzugrenzen.60 Die älteste Fassung ist in einem jüdischen Milieu der Zeit 250 v. Chr. bis spätestens um 100 n. Chr. zu verorte ist. Seinerzeit fanden Konversionen und Einbindungen von Proselyten in die jüdische Gemeinde statt.61Eine erste Bearbeitung des Textes stammt aus einem christlichen Umfeld im 2. Jahr. n. Chr., eine zweite folgte zwischen dem 3. und 5. Jhd. n. Chr.62 Joseph, Minister des Pharaos, begegnet Aseneth der Tochter des Pentepheres. Sie, die ebenso keusch wie schön ist, und von allen Männern des Landes begehrt wird, ist hochmütig und weist jeden ihrer Bewerber ab. Pentephres möchte sie Joseph zur Frau geben. Doch Aseneth ist darüber tief erzürnt, sie widersetzt sich, da sie nicht einen ehemaligen Sklaven, Fremden, Kanaanäer und Sohn eines Hirten, zum Mann möchte. Als sie Joseph vom Fenster ihres Turms bei seiner Ankunft erblickt, ist sie überwältigt von der Präsenz Gottes in ihm. Sie ist beschämt über ihre erste voreilige Reaktion und möchte Joseph nicht gegenübertreten. Doch auch Joseph hat sie gesehen. Da er von den Frauen der Ägypter bedrängt wurde, ist es ihm nicht ganz unrecht, dass er von Aseneth ihn nicht begrüßt wird. Erst als er hört, dass sie an Körper und Seele keusch geblieben ist, bittet er Pentephres sie zu holen. Joseph begegnet ihr zuvorkommend und freundlich, doch als sie ihn küssen will, weist er sie zurück. Joseph erklärt seine Ablehnung damit, dass sie anderen Göttern als dem Gott des jüdischen Volkes Götzen opfert und weist sie aus Treue zu seinem Gott ab und bittet um Gottes Segen für sie. Für Aseneth bricht eine Welt zusammen. Seine Fürbitte leitet sie auf dem Weg der Gottessuche und Buße. Sie entfernt alle Götzengegenstände aus ihren Räumen und legt Trauerkleidung an. 63

Danach nahm Aseneth den ledernen Türvorhang mit der Asche und tat die Asche auf den Fußboden.[…] Sie löste die geflochtenen Locken ihres Haupthaares und tat von oben Asche auf den Kopf.[…] Und sie streute Asche auf den Fußboden, schlug sich mit beiden

57 Anderson, 2000. S.33 58 Vgl. Holder, Stefanie: Joseph und Aseneth. Ein Roman über richtiges und falsches Handeln. Übersetzt und eingeleitet von Holder Stefanie. Kleine Bibliothek der antiken jüdischen und christlichen Literatur. Hrsg. von Jürgen Wehnert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 2017. S. 8. 59 Vgl. ebd. S. 7 60 Vgl. ebd. S. 11 61 Vgl. ebd. S.12 62 Vgl. ebd. S.13 63 Vgl. ebd. S. 7 – 8. 19

Händen an die Brust und klagte laut, sank auf die Asche und klagte, klagte, klagte ihre große Verzweiflung hinaus, die ganze Nacht lang mit Seufzern und Schreien, bis der Morgen graute.[…] Bei Morgengrauen stand Aseneth auf, und sieh viel Dreck war entstanden aus ihren Tränen und aus der Asche auf dem Fußboden. Da sank sie rückwärts mit dem Gesicht auf die Asche, von der Morgenröte bis zum Nachmittag […] So tat es Aseneth sieben Tage lang […]64

Die Geschichte berichtet, dass Aseneths, “ freier Wille vor Gott endete“. Während der Tage ihrer Reue erscheint ihr ein Engel, der ihre Bekehrung abschließt. Er lässt sie die Asche abwaschen, kleidet und schmückt sie. Als „Gestalt des Lichts“, wie sie beschrieben wird, kann sie schließlich vor Joseph treten. Dieser würdigt ihre Läuterung und, schenkt ihr seine Anerkennung und nimmt sie zu seiner Frau.

2.2.4.1 Analogien zum Aschenputtel-Märchen

Aseneth, die sich „freiwillig“ in die Asche legt, um ihre selbstauferlegte Buße zu tun entspricht der Rolle des bekannten Aschenputtels. Sie ist getrennt von Mutter und Vater und damit ähnlich einer Waise wie in der bekannten Grimmschen Geschichte. Sie bekennt sich zum Judentum und trifft damit eine selbstständige Entscheidung. Als übernatürlicher Helfer erscheint ihr ein Engel, der ihr hilft die Buße abzuschließen und aufzuerstehen, sie mit Kleidern und Schmuck versieht, um vor ihren zukünftigen Ehemann zu treten. Geläutert – selbstständig und emanzipiert - ist sie schöner denn je. Joseph an-erkennt die wahre Aseneth. Er erkennt auch das wahre Potential der Aseneth, da er sie den Ägypterinnen vorzieht, die ihn bedrängen. Diese Frauen können im Ansatz mit den Stiefschwestern verglichen werden, da auch dieses Motiv kompetitiven Charakter hat. 2.3 Die ersten Belege des Schuhproben-Motivs

Auf den Historiker Herodot (490 -430 v. Chr.) geht das zentrale Aschenputtel- Motiv der Schuhprobe zurück. Er berichtet als erster von der sagenumwobenen Kurtisane Rhodopis. Der Geschichtsschreiber Strabo (63 v. Chr. – 26 n. Chr.) entspann daraus eine Liebesgeschichte mit königlichem Interesse an einem Schuh. Diese Variante nahm der römische Philosoph und Schriftsteller Claudius Aelianus (170-235) auf und hielt sie in seinen „Bunten Geschichten“ fest.65

2.3.1 Rhodopis (425 v. Chr)

Rhodopis ist eine antike Erzählung über eine griechische Kurtisane, die den ägyptischen König heiratet. Der griechische Historiker Strabo zeichnete im 1. Jhd. eine Variante der Rhodopis-Geschichte auf, die auch als die früheste Aschenputtel-Version bekannt ist. Die Erzählungen von Strabo und Claudius Aelianus bildeten dafür die Grundlage. In Aelianus` Variante raubt den Wind, in Strabos ein Adler, die Schuhe der badenden Rhodopis und legt sie dem König vor die Füße. Dieser ist so angetan von der Zartheit der Sandalen, dass er nicht mehr zur Ruhe kommt, ehe er nicht jene Frau findet, der diese gehören und ehelichen kann. Viele Schriftsteller berichten über Rhodopis´ außergewöhnliche Schönheit - dies geht auch

64 Ebd. S.51 65 Vgl.Mazenauer/Perrig,1995. S. 235-236 20 schon aus ihrem Namen hervor, der übersetzt „die Rosenwangige“ und „Liebenswürdigkeit“ bedeutet.66 Herodot (490-420 v. Chr.) schrieb über Rhodopis im 5. Jhd. v. Chr.:

[…]hat Rhodopis gelebt, die der Herkunft nach eine Thrakerin war und die SIavin des Iadmon […] und Mitsklavin des Aisopos, des Fabeldichters […]Rhodopis aber kam nach Ägypten mit dem Xanthos von […] dann aber wurde sie für eine gewaltige Summe losgekauft von einem Mann aus Mytilene […] das war der Bruder des , der Dichterin […]Ist doch erstens diese Frau, von der hier die Rede ist, wirklich so berühmt geworden, dass die Hellenen in aller Welt den Namen Rhodopis kannten.67

2.3.2 nach Strabo (63 – 26 n. Chr.)

[…] Andere nenne sie Rhodopis, und fabeln, daß, als sie badete, ein Adler einen ihrer Schuhe der Dienerin entriss und nach Memphis trug, und dem im Freien Recht sprechenden Könige, über seinem Haupte schwebend, den Schuh in den Schoß warf. Der König, sowohl die Niedlichkeit des Schuhes als das sonderbare Begebnis bewundernd, sandte umher im Lande zur Erforschung der diesen Schuh tragenden Frau. Endlich aufgefunden in der Stadt der Naukratiten und hergeholt, wurde sie des Königs Gattin und empfing gestorben das erwähnte Grabmal.6869

2.3.3 nach Claudius Aelianus (170-235 n. Chr.)

Rhodopsis war, wie man sich in Ägypten erzählt, eine wunderschöne Hetäre. Einst, als sie beim Bade war, wunderbare und unerwartete Dinge tut, sie mit einem Geschenk, das weniger bedachte das Schicksal, das gerne ihrem Verstande als ihrer Schönheit angemessen war. Während sie nämlich badete, und die Dienerinnen auf ihre Kleider aufpaßten, stieß ein Adler herab, raubte einen ihrer Schuhe und flog davon. Er trug den Schuh nach Memphis, wo Psammetichos Gericht hielt, und warf ihn diesem in den Schoß. Psammetichos, erstaunt über die harmonische Form und die anmutige Arbeit des Schuhs und über die Tat des Vogels, gab Befehl in ganz Ägypten nach der Frau zu suchen, der der Schuh gehörte. Als er sie gefunden hatte, machte er sie zu seiner Gattin.70

2.3.4 Analogien zum Aschenputtel-Märchen

In der Rhodopis-Erzählung taucht zum ersten Mal das Schuh-Motiv auch, ein Vogel oder der Wind als magische Gehilfen, sowie ein König, der im ganzen Land nach der rechten Braut sucht, und schließlich das Erkennungszeichen des passenden Fußes. Herodot berichtet zudem von Rhodopis` Liebenswürdigkeit. 2.4 Die Eschengrüdel-Legenden

Vor weiblicher Schönheit und deren Vergänglichkeit wird bereits in der Bibel gewarnt: „Trügerisch ist Anmut, vergänglich die Schönheit, nur eine gottesfürchtige Frau verdient Lob“. (31,30)71 Auch der Kirchenvater Tertullian (160-220) sieht in „übertriebener Körperpflege und

66 Ebers, Georg: Eine ägyptische Königstochter. Köln: Bastei Lübbe Verlag, 1995. S.4 67 Herodot: Geschichten und Geschichte, Band 1. Übers. v. Walter Marg. Zürich: Artemis u. Winkler Verlag, 1973. S.193 68 Strabo: Beschreibung der Pyramiden bei Memphis, nebst Fabelsagen über die dritte. Paragraph 33. URL: https://web.archive.org/web/20050904060128/http://www.chufu.de/Strabon/31-35.htm [letzter Zugriff am 16.09.2018] 69 Strabo oder auch Plinius Secundus d. Ä. berichtet das die Mykerinos-Pyramide das Grabmal der Rhodopsis gewesen sein solle. 70 Älian, Claudius: Bunte Geschichten. Leipzig: Reclam, 1990. S.188 71 Mazenauer/ Perrig,S.231 21

Putz“ ein „Anraten des Teufels“, das bloß dem „Zweck der Verführung diene und nach irdischem Ruhm heische“72. Tertullian rät zu einer Verhüllung des Körpers, da weltliches Flitterwerk vor dem Tod keinen Bestand habe: Das Heil aber, und zwar nicht bloß für die Weiber, sondern auch für die Männer, beruht vor allem im Besitz der Sittlichkeit. Seine Abhandlung schließt er mit den Worten:

Senket das Haupt vor Euren Ehemännern, und Ihr werdet geputzt genug sein! Laßt die Hände nach der Wolle greifen und bannt die Füße innerhalb der Schwelle des Hauses fest, dann werdet Ihr mehr Gefallen erregen, als wenn Ihr in Gold einherginget! Kleidet Euch in den Seidenstoff der Rechtschaffenheit, in das Linnen der Heiligkeit und in den Purpur der Keuschheit! So angetan, werdet Ihr Gott zum Liebhaber haben.73

Diese asketische Lebenshaltung und Anti-Ästhetik wurde in den Heiligenlegenden übernommen. Diese berichteten in emotionalen Fallbeispielen davon und missionierten damit in die gewünschte christliche, unterwürfige Richtung.

2.4.1 Legenda Aurea (1263)

Mazenauer und Perrig sehen in der im Mittelalter verbreiteten Textsammlung „Legenda Aurea“ (um 1263 von Jacobus de Voragine) in den Erzählungen um weibliche Heilige ein typisches Erzählmuster. Schöne, gut situierte und vor allem christlich gläubige Jungfrauen müssen sich immer wieder vor heidnischen geilen Männern retten. Meist bleibt ihnen nur mehr der Märtyrerinnentod.74 Die Anastasia-Legende berichtet von einem lüsternen Richter, der Anastasia und ihre drei Dienerinnen in die schmutzige Küche sperrt und in seiner Wollust versehentlich Beischlaf mit den Küchenutensilien hält. Da er sich von ihnen genarrt fühlt, lässt er die Mägde töten, Anastasia einkerkern und später auf eine Insel verbannen, wo sie Heiden bekehrt und schließlich den MärtyrerInnentod stirbt.75 In einer der frühesten Sammlungen der Märtyrer- und Heiligengeschichten der „Historia Lausiaca“ (Leben der Väter) 76des oströmischen Bischofs Palladios (364 – 431) finden sich ähnliche Lehrbeispiele, allerdings ohne die erotische Ausgestaltungen eines de Voreigne.77

2.4.2 Die Törichte im Kloster Tabennese (um 420)

In „Die Törichte im Kloster Tabennese“ oder auch „Die Nonne, die sich wahnsinnig stellte“78 steht nicht die Entscheidung zwischen heidnisch- profanem und christlich- asketischem Leben, sondern das Leben einer keuschen, demütigen und fleißigen Nonne im Vordergrund, die sich um ihrer christlichen Überzeugung willen, als töricht verstellt. Freiwillig unterwirft sie sich der schweren Klosterarbeit und der Demütigungen durch die anderen Nonnen.

72 Tertullian: Über den weiblichen Putz: In: Tertullians private und katechetische Schriften, Bd. 1. URL: http://www.tertullian.org/articles/kempten_bkv/bkv07_16_de_cultu_feminarum.htm [letzter Aufruf am 26.10.2018] 73 Ebd. 74 Vgl.ebd. S.232 75 Vgl. https://www.heiligenlexikon.de/BiographienA/Anastasia.htm [letzter Zugriff am 10.10.2018] 76 Vgl. Prem, Enzo: Der Ausbruch in die Wüste. Eine Betrachtung zur Entstehung und Geschichte des frühchristlichen Mönchtums. URL: https://adam.unibas.ch/goto_adam_file_225625_download.html [letzter Zugriff am 10.10.2018] 77 Vgl. Emmenegger,Gregor / Voos, Jürgen: Palladius von Helenopolis († vor 431)Leben der Väter (Historia Lausiaca). In: Griechische Liturgien. München: Bibliothek der Kirchenväter, Bd.5, 1912.URL: Leben%20der%20Väter%20(Historia%20Lausiaca)%20%20(2).pdf [letzter Aufruf am 08.04.2019]

78Vgl.ebd.S.51-52 22

…um deren Haupt ein zerrissenes Tuch geschlagen war, […] jene also diente in der Küche […] ohne daß die anderen sie an ihrer Tafel hätten sitzen lassen […] und zum Leben nährte sie sich nur, wenn sie die Reste vom Tische aß und das Spülwasser aus den Schüsseln und Töpfen trank, und es genügte ihr, ohne daß sie je eine unter ihnen beleidigt […] hätte; allein, jene beleidigten und schlugen sie fortwährend. […] Da erschien dem seligen Pitorim […] ein Engel und sprach zu ihm:[…] Doch wenn du eine auserwählter Frau […] sehen willst, gehe ins Frauenkloster, das bei Tabennese liegt und siehe, da wirst du eine Frau finden, um deren Kopf ein Lappen geschlagen ist […] sie dient in einer großen Gemeinschaft, ihr Herz dabei ist ganz bei Gott […]Und als er dies vernommen hatte, ging der alte Mann […] schnell zu diesem Nonnenkloster, und er bat […] die Nonnen sehen zu dürfen. Und als er in diesem Kloster eingetreten war, kamen sie alle, um von dem seligen Pitor gesegnet zu werden, doch jene Selige benahm sich wie eine Wahnsinnige und tauchte nirgendwo auf. Da sprach der selige Pitor: Daß alle Nonnen kommen; freilich […] es fehlt eine. […] diese sprachen zu ihm: […] wir haben noch eine und sie ist töricht und sie ist in der Küche.“ Er aber sagte […] Führt sie her, daß ich auch sie sehe.“ […] Und wie sie nicht vor ihn treten wollte, zerrten […] jene sie mit Gewalt herbei […] Und als sie gekommen war, schaute Pitor sie an und sah den Lappen, der ihr ums Haupt geschlagen war, gemäß dem Zeichen, das ihm der Engel dafür gegeben hatte, und er verbeugte sich vor ihr und sprach zu ihr :“Segne mich Amma [geistliche Mutter]! Doch sie, viel ihm zu Füßen und sprach zu ihm: „Du, mein Herr, segne mich!“ […] die Nonnen waren alle blaß erstaunt und sprachen:“Daß dies nicht eine Beleidigung sein solle, mein Herr, weil es eine Törichte ist!“ […] Pitor […] sprach zu ihnen: „Ihr seid es, die töricht sind! Denn diese hier ist eure und meine Amma, und ich bitte Gott, an ihrer Seite sein zu dürfen am Tag des Gerichts!“ Und wie alle Nonnen dies vom seligen Pitor vernommen hatten, fielen sie ihr zu Füßen und entboten ihr Buße für alles, was sie ihr angetan hatten. Es waren in der Tat viele darunter, die das Spülwasser der Schüsseln über ihr ausgegossen und sie zudem geschlagen hatten, und es waren zahlreichen Beleidigungen, die sie von allen hatte ertragen müssen. […] Und nach einigen Tagen, wie diese Selige all die Ehrbezeugungen […] nicht mehr ertrug […] verließ sie das Kloster ganz. Und wohin sie ging oder wo auch immer sie ruht, weiß niemand.79

2.4.2.1 Parallelen zum Aschenputtel-Märchen

Hier wird von einer jungen Frau die freiwillig niedrige Küchenarbeit verrichtet, ohne dabei aufzubegehren, erzählt. Ein übernatürliches Wesen in Verkörperung eines Engels berichtet einer angesehenen geistlichen Person von dieser besonderen Frau. Der Bischof begibt sich auf die Such nach ihr. Er kann sie mithilfe eines Erkennungszeichens, welches ihm der Engel nannte, identifizieren. Durch ihre demütige Haltung erfährt sie Seligsprechung und ist dem geistlichen Manne ebenbürtig. Sie verrichtet wie Aschenputtel sanft und leise ihre schweren Dienste, und bekommt wie diese unvorhergesehene und übernatürliche Hilfe, die sie in einen höheren sozialen Status erhebt.

2.4.3 „Am XVII. Sonntag Nach Pfingste“ (1517)

Der Straßburger Prediger und Hofkaplan des römisch-deutschen Kaisers Maximilian I. Geiler von Kayersberg (1445-1510) stellt in der Predigt zum 17. Sonntag nach Pfingsten stellt er

79 Palladios: Die Törichte im Kloster Tabennese. Ch.34. In:Historica Lausiaca. Hrsg. u. übersetzt v. René Draguet. S.163-176. In: Mazenauer/Perrig, 1995, S.193-195. 23 eine theologische Reflexion zu Palladios Törichten von Tabennese an. Es geht darin um das Thema der menschlichen Hinfälligkeit („Asche zu Asche“), sowie, dass erst jener Mensch vor Gott Glaubwürdigkeit erreicht, dem dies stets bewusst sei. Geiler beschreibt in sieben Punkten was ein Eschengrüdel ist und wie „dieses“ sich vor Gott bekennt.

[…]Zum ersten so ist ein eschengrüdel foller eschen/ die augen/ die naß/ cleider er ist beroemt / und schmiddert / stickt/ und ist ein arm ding darumb. Also ein anfahender mensch muoß ein eschengrüdel sein (per mortis meditationem) Durch betrachtung des todes. Ein mensch soll gedencken/ das er bald zuo eschen wuert und toetlich ist […] Zuo dem andern so ist dein seel gleich der eschen. Eschen würt leichtiklich zerstroewet und verweyet von dem wind hin und her […]80

Außerdem führt Geiler ausführlich darin aus welche Arbeiten ein Eschengrüdel zu verrichten hat:

[…] Zum dem andern so muoß der eschengrüdel das feuer machen/ den ofen heitzen […] Zu dem dritten so muoß der Eschengrüdel fegen/ weschen und geschirr reiben/ kesseln unnd schüsseln/ es muoß als glitzern […] Zuo dem fierden so muoß der schengrüdel braten/ die knecht unnd die iunckfrawen seind darüber/ sollten sie braten der eschengrüdel muoß es als thoun […]81

Küchenarbeit galt als so minderwertige Arbeit, dass selbst Knechte und Jungfrauen diese ablehnten. Geilers Bericht ist einer der wenigen literarischen Zeugnisse, die Auskunft über diese Tätigkeit geben. Weiter erzählt er von den Verführungen, denen ein Eschengrüdel zu widerstehen hat. Diese werden in Gestalt von Katzen beschrieben.

[…] Zuo dem fünfften so muß der eschengrüdel den katzen weren/ wan die katzen beschlecken waz sie finden, laßt man Fisch ston in einem zuber […] Die katzen seind nüt anders denn anfechtungen des boeßen geistes/deren on zal ist. […]82

Geiler schließt seine Reflexion erstens, mit dem was ein Eschengrüdel ertragen muss, und zweitens mit den Aussichten, die es hat, wenn es fromm und fleißig bleibt.

[…] Der eschengrüdel muoß vil vil erleiden/ sie handeln in ubel/ man fluocht/ unnd was alle welt in dem Haus thout / unnd was geschicht […] Eltrn wen sprechen sie/ wer wolt es gethon ahen denn der echengrüdel. […] Zuo dem sibenden und zu dem letsten/ so ist etwann der eschengrüdel dem haußvater an dem allerliebsten/ und nympt in etwann zuo der ee/ und lat die stolzten iunckfrawen faren. Also wann du ein solicher eschengrüdel wersest/ so hette dich gott lieber/ denn etwann die / die da meinen sie seien gar volkumen und gar frum.83

2.4.3.1 Analogie zum Aschenputtel-Märchen

Hier wird ebenso von einer jungen Frau berichtet, die ohne jede Klage die niedrige und schmutzige Küchenarbeit verrichtet, und die, falls sie fromm und fleißig bleibt, von Gott wie

80 Kayersberg , Geiler von: Am XVII. sontaq nach Pfingste, in: Die brösalmin doct. Keiserpergs, S. LXXIX-LXXXi; das Original wurde behutsam modernisiert. In: Mazenauer/Perrig, 1995, S. 195-198 81 Ebd. 82 Ebd. 83 Ebd. 24 vom Hausherrn auserwählt wird, um seine Frau zu werden. Hier werden ebenfalls Tugendhaftigkeit und Sanftmut mit gesellschaftlichem Aufstieg belohnt. Dass es sich um eine weibliche Person handelt wird erst im siebenten Absatz klar, als „ihm“ die Aussicht auf die Ehe mit dem Hausherrn gestellt wird. Zuvor ist es immer der oder das Eschengrüdel.

2.4.4 Die verweltlichte Darstellung

In den Texten der Heiligenlegenden wird vor allem der Moment der Entsagung betont. Die späteren Lehrbeispiele beschreiben daneben auch noch die erniedrigende Küchenarbeit und die Demütigungen durch die übrigen Nonnen. Gesellschaftliche Normen alltäglicher Lebenserfahrungen werden so in einen theologischen Kontext gestellt, um das Leben im Kloster für ein gewöhnliches Publikum verständlich zu gestalten. Auch in der Nachfolge Geiler von Kayersberg erhielt die Loslösung der Legendendeutung aus dem klösterlichen Umfeld und die verweltlichte Darstellung eines theologischen Motivs große Resonanz. In der Zeit der Reformation diente die Darstellung der einfachen Küchenmagd als Vorbild für gottesfürchtige Tugend und Moral in profanem Umfeld. Luther spricht vom zurückgestellten „aschenbrodel inn der kuchen“ und meint die gedemütigten und von ihren Brüdern verspotteten Bibelfiguren Abel, Jakob oder Joseph.84 Georg Rollenhagen schreibt 1595 „von den verachten frommen Aschenpösel“ in den „wunderbarlichen Hausmehrlein […]das die Gottesfrucht/ fleiß in sachen/ Demut/ Gedult/ und gute hoffnung lehren. Denn die aller verachteste Person wird gemeinlich die aller berste“. Mit dem Begriff „Hausmehrlein“ scheint er schon die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm vorwegzunehmen. Herodot wird von ihm als der „Mehrlein Vater“ bezeichnet.85

2.4.5 Ausblick auf die direkten Vorläufer des Aschenputtel-Märchens

Das Schuhprobenmotiv im Rhodopis-Mythos, welches mit den damals populären Lehrbeispielen um die gottesfürchtige Hausmagd erweitert wird, leitet bereits die vertraute Aschenputtel-Geschichte ein. Basile (1575-1632) schreibt die Geschichte der Aschenkatze - eines aristokratischen Mädchens, das von seiner Stiefmutter in den niedrigen Küchendienst verbannt wurde.

2.4.6 Ye Xian – Aschenputtels asiatische Schwester (850n.Chr.)

Früher noch als in Europa gab es bereits im asiatischem Raum eine Erzählung mit dem typischen Aschenputtel-Motiv der gedemütigten Heldin, die auch schon das Schuhproben Motiv beinhaltete. In der Literatur ist diese als Ye Xian oder Yeh Hsien bekannt. Die Berücksichtigung dieser Version ist insofern bedeutend, da Chieko Irie Mulhern, annimmt, dass die Ye Xian-Geschichte durch japanisch sprechende italienische Jesuiten zwischen 1570 und 1614 nach Europa „gebracht“ wurde. In China lebten seit 1551 italienische Jesuiten, die der chinesischen Sprache in Wort und Schrift mächtig waren.86 Ye Xian ist eine chinesische Erzählung, die der Aschenputtel Variante sehr ähnlich ist. Sie wurde 850 n. Chr. von Duang Chengsi, einem chinesischen Dichter und Schriftsteller in der Sammlung „Miscellaneous Morsels from Youyang“ aufgeschrieben. Angeblich wurde sie ihm

84 Vgl. Mazenauer/ Perrig, 1995, S. 233-235 85 Vgl. ebd. 86Vgl. Beauchamp, 2010. 25 von seinem Diener Li Shiyuan erzählt und trug sich im 3. Jahrhundert vor Christus zu. Handlungsort ist wahrscheinlich Guangxi.87 Fay Beauchamp verortet die Erzählung in den Kontext:

of Zhuang beliefs, creativity and history […] the Zhuang lived at a crossroads […]absorbing and resitsing Hindu and Buddhist influences, from South and Southeast Asia, and Han Chinese political and cultural dominance from the north and east. Particulary in the Tang Dynasty, well established trade routes connected India, Southeast Asia, and edast Asia, and ideas were exchanged along with silk and other material goods. The resonances in this c. 850 story of Hindu, Buddhist and Han Chinese narratives […] help to explain the story´s symbolic power and ability to adapt to different world areas.88

Die Geschichte besteht aus zwei Erzählsträngen: “one emphasis the fish rescued by Ye Xian and the other focuses on an untidy being who rescues the girl at a time of anguish”. Beide Erzählstränge beinhalten sowohl buddhistische wie hinduistische Elemente. Folglich wirft Beauchamp die Frage auf, ob die Geschichte womöglich in Indien, Vietnam, Java oder Tibet entstanden sein könnte und Li Shiyuan hätte bloß als Verbindung zu Duan Chengsi fungiert. In ihrer umfassenden Untersuchung der Ye Xian – Geschichte liegt ihr Fokus auf der Komplexität der Zhuangs während der Tang Dynastie. Beauchamp übersetzte eine Variante, in der die Heldin Yeh Hsien heißt, darum wird diese in der folgenden Zusammenfassung der Erzählung auch so genannt.

Yeh Hsien ist die schöne und liebenswerte Tochter des Stammesoberhauptes Wu. Er ist, gemäß der Tradition, mit zwei Frauen verheiratet. Eine, die Mutter Yeh Hsiens` stirbt, nachdem auch Wu stirbt, muss die Vollwaise Yeh Hsien bei seiner zweiten Frau und deren Tochter leben. Yeh Hsien wird von Stiefmutter wie –schwester schlecht behandelt und als niedrige Dienstmagd missbraucht, da beide eifersüchtig auf sie sind. Einerseits, weil Yeh Hsien von ihrem Vater sehr geliebt wurde und andererseits, weil sie liebenswert, freundlich, hübsch und anmutig ist. Überdies ist sie geschickt und besitzt künstlerische Fertigkeiten wie Sticken und Töpfern. In der Folge muss sie schwere und gefährliche Arbeiten verrichten, wie Feuerholz an gefährlichen Plätzen sammeln und Wasser aus tiefen Brunnen schöpfen. Anstelle von Kleidern muss sie Lumpen tragen. Eines Tages findet sie einen kleinen Fisch mit roten Flossen und goldenen Augen. Sie nimmt ihn in einem wassergefüllten Behälter zu sich. Der Fisch wächst täglich und Yeh Hsien muss mehrmals sein Behältnis wechseln. Als er jedoch zu groß wird, bringt sie ihn in den Teich zurück. Sie besucht ihn jeden Tag und füttert ihn mit den übriggebliebenen Essensresten. Immer, wenn Yeh Hsien ihn ruft, schwimmt er zu ihr heran, legt seinen Kopf ans Ufer und spendet ihr Trost. Diese Zutraulichkeit erweist er nur Yeh Hsien, andere Menschen meidet er. Die Stiefmutter entdeckt schließlich Yeh Hsiens Geheimnis. Sie ist verärgert darüber, dass ihre Stieftochter „einen Freund“ gefunden hat. Listig schenkt sie ihrer Stieftochter neue Kleider und schickt sie zu einem weiter entfernten Teich Wasser holen. Indes zieht sie die Lumpen Yeh Hsiens an, versteckt eine scharfe Klinge unter ihrem Ärmel und geht zum Teich. Als der Fisch heranschwimmt, da er annimmt Yeh Hsien sei gekommen, tötet sie ihn. Der

87 Vgl. Beauchamp, 2010, S.447 88 Ebd. S.448. Alle weitern kursiv und in Anführungszeichen gesetzten Textzeilen in dem Kapitel “Ye-Xian- Aschenputtels asiatische Schwester“ sind der Abhandlung Beauchamps entnommen, sowie auch die inhaltliche Zusammenfassung der Handlung [Anm. K.T.] 26

Fisch ist mittlerweile über zehn Meter lang. Sie bereitet ihn für sich und ihre leibliche Tochter zu und er schmeckt ihnen genauso gut wie ein „gewöhnlicher“ Fisch. Seine Knochen wirft sie auf den Abfallhaufen. Als Yeh Hsien am darauffolgenden Tag ihren Freund besuchen möchte, kommt er auch nach mehrmaligem verzweifelten Rufen nicht ans Ufer geschwommen. Bitterlich weinend erscheint Yeh Hsien ein Mann in einfachen Kleidern und mit langem Haar. Er tröstet sie und erzählt ihr von der Tat ihrer Stiefmutter und rät ihr: „You go back, take the fish´s bones and hide them in your room. Whatever you want, you have only to pray to them for it. It is bound tob e granted.“ Yeh Hsien folgt dem Rat des alten Mannes und bekommt reichlich herrliche Speisen, Gold, Juwelen, neue Kleider wann auch immer sie Lust darauf hat. Am Tag des jährlichen „Höhlen-Festes“ befiehlt die Stiefmutter Yeh Hsien bei den Obstbäumen nach dem Rechten zu sehen, anstelle am Fest teilzunehmen. Als Stiefmutter und –schwester ihr Heim verlassen, um auf das Fest zu gehen, betet sie zu den Fischknochen und bittet um eine Ausstattung für das Fest. Sie erhält einen prachtvollen blauen Mantel aus Eisvogelfedern und dazu fein gearbeitete goldene Pantoffel. Damit begibt sie sich ebenfalls zum Fest. Dort wird sie von ihrer Stiefschwester und -mutter erkannt, Yeh Hsien bemerkt dies und verlässt fluchtartig das Fest. Dabei verliert sie einen ihrer goldenen Schuhe. Yeh Hsien legt sich eilig unter einem der Obstbäume schlafen, so findet sie auch ihre Stiefmutter vor und vergisst den Vorfall auf dem Fest. Ihr goldener Pantoffel wird in der Zwischenzeit von einem der Dorfbewohner gefunden und an einen Händler des nahen Königreichs der Insel T´ o-han verkauft. Der König von T´ o-han ist fasziniert von der Zierlichkeit des Schuhs und befiehlt nach jener Frau zu suchen, der der Schuh passt. Doch keine Frau in seinem Königreich hat so zierliche Füße. Der König argwöhnt, dass der Händler den Schuh unrechtmäßig erworben hat, lässt ihn ins Gefängnis werfen und foltern. Dennoch gelingt es ihm nicht herausfinden welcher Frau der Schuh gehört. Auf Anordnung des Königs wird nun jedes Haus des ehemaligen Stammes von Wu durchsucht. Jeder kleinste Winkel wird durchforstet, schließlich wird Yeh Hsien gefunden. Sie probiert den Schuh und dieser passt wie angegossen. Sie zieht ihr Kleid aus blauen Eisvogelfedern an und trägt dazu ihre goldenen Pantöffelchen. Der König ist begeistert von ihrer Erscheinung. Er nimmt Yeh Hsien mitsamt den Fischknochen mit in sein Königreich nach T´o-han, heiratet sie und macht sie zu seiner Königin. Die Stiefmutter und -schwester werden von fliegenden Steinen getötet. Die übrigen EinwohnerInnen des Stammes betrauern die beiden und beerdigen sie in einem Steinbruch der „Tomb oft he Distressed Woman“ genannt wird. Zukünftig werden von den männlichen Mitgliedern des Stammes an dieser Stelle Paarungsrituale abgehalten. Der König von T´o-han erweist sich als gierig und unersättlich. Er betet unablässig zu den Fischknochen und kann von Edelsteine und Jade nicht genug bekommen. Doch nach einem Jahr bekommt er weder Antwort noch Schätze von den Knochen. Deshalb vergräbt er sie am Meeresstrand. Er überdeckt sie “with a hundred bushels of pearls and bordererd them with gold”. Eines Nachts werden sie von der Flut weggespült.

Die Worte am Ende der Erzählung weisen auf eine Überlieferung aus dem einfachen Volk hin:

This story was told me by Li Shih-yuan, who has been in the sercvice of my family a long while. He was himself originally a man from the caves of Yung-chou and remembers many strange things of the South.

27

2.4.6.1 Vergleichende Analyse mit dem Aschenputtel-Märchen

Diese asiatische Fassung berichtet von einer gedemütigten Heldin, die als liebenswert, geschickt und anmutig beschrieben wird. Hier wird sie nicht von der Stiefmutter und den beiden Stiefschwestern gequält, sondern von der zweiten Frau des Vaters und ihrer Halbschwester. Die Heldin ist Vollwaise und muss darum bei der bösartigen zweiten Frau des Vaters wohnen. Yeh Hsien muss wie Aschenputtel alle niedrige Hausarbeit verrichten und Lumpen tragen. In ihrer Not erhält sie Hilfe von einem übernatürlichen Wesen, das erst als übernatürlich großer und sprechender Fisch, dann als alter Mann und schließlich von den Knochen des toten Fisches verkörpert wird. Die übernatürliche Hilfe stellt eine Referenz auf ihre verstorbene Mutter sowie auf ihren verstorbenen Vater dar. Ebenso gibt es das Motiv des alljährlichen Festes, auf dem jungen Mädchen Ausschau nach ihrem zukünftigen Ehemann halten. Wie Aschenputtel wird ihr verboten das Fest zu besuchen. Stattdessen wird sie mit einer Aufgabe schikaniert. Doch auch Yeh Hsien widersetzt und bewerkstelligt es, um doch auf dem Fest zu erscheinen. Als ihre Stiefmutter und Halbschwester das Haus verlassen haben, betet sie zu den Fischknochen und bittet um festliche Kleidung, die sie prompt erhält. Am Fest bemerkt sie, dass ihre Stiefmutter sie erkennt und sie muss wie Aschenputtel fluchtartig die Feierlichkeiten verlassen und stellt sich zu Hause angekommen, schlafend. Auch sie verliert einen ihrer goldenen Pantoffel, in den sich der König verliebt und die obligatorische Schuhprobe ausrufen lässt. Anhand Yeh Hsiens passenden Fußes für den zarten Pantoffel erkennt er sie als seine Braut an. Es folgt die Hochzeit und damit ihr sozialer Aufstieg als Königin wie in der Aschenputtel Erzählung. Stiefmutter und –schwester werden beide bestraft, während im Grimmschen Aschenputtel nur den Schwestern eine Strafe widerfährt. 2.5 Direkte Vorgänger des Aschenputtels der Brüder Grimm

Die älteste bekannte schriftliche Vollform des Aschenputtel-Typus ist jene von Giambattista Basile (1575-1632), einem neapolitanischen Schriftsteller und Höfling, dessen Märchensammlung 1632-34 veröffentlicht wurde. Diese Version inspirierte vermutlich Perraults Cendrillon ou La petite pantoufle de verre aus dem Jahr 1695 und Madame d`Aulnoys Finette Cendron wenige Monate später. Den Brüdern Grimm waren diese Märchen bekannt. Sie fanden Basiles Erzählung „unvergleichlich schön“, während sie Perraults Variante „nicht unter seine am besten erzählten Märchen“ reihten.89

2.5.1 La Gatta Cenerentola- Die Aschenkatze (1632-34)

1846 wurde die deutsche Übersetzung des Pentamerons herausgegeben. Das Vorwort dazu wurde von Jacob Grimm verfasst. Er verlieh darin seinem Erstaunen Ausdruck, dass so viele der Kinder- und Hausmärchen bereits in Neapel 200 Jahre zuvor erzählt wurden90. Basile lässt in „Lo cunto de li cunti, overo Lo trattenemiento de peccerille“ (dt.“ Das Märchen der Märchen oder Unterhaltung für Kinder"), dass erst 1674 in Pentamerone (dt. „Fünf-Tage- Werk“) umbenannt wurde, die „zehn ausnehmend häßlich[sten], krumm gewachsene Weiber[…] in einem volkstümlichem, grobianischem“91 neapolitanischem Dialekt an fünf

89 Rötzer, Hans-Gerd: Märchen. Bamberg: C.C. Buchners Verlag, 1988. S. 142 90 Dundes, Alain: „The Cat Cinderella“. In: Dundes, Alain: Cinderella. A Casebook. Wisconsin: The University of Wisconsin Press 1988, S.3. 91 Mazenauer/Perrig, 1995, S.14 28

Tagen fünfzig Märchen erzählen: „wie die alten Weiber zur Unterhaltung der kleinen Kinder zu erzählen pflegen.“92Seine Märchen, die keineswegs für ein kindliches Publikum konzipiert waren, dienten der vorwiegend männlichen Zuhörerschaft aus der feinen höfischen Oberschicht zur Belustigung, dem Amüsement und als „Anreiz für derb erotische Vorstellungen“93. Basile gehörte als weitgereister, gebildeter und belesener Verwaltungsbeamter ebenso dieser Gesellschaftsschicht an und wusste um deren Sitte und Lebensart Bescheid.94 Er nannte seine Protagonistin „Die Aschenkatze“. Jedes der Märchen steht unter einem moralisierenden Motto, das auch als Sprichwort jede Erzählung abschließt.95 Im ersten Absatz wird dem Märchen bereits folgende Moral vorangestellt:

[…]In dem Meer der Bosheit ist der Neid oft sehr schlimm angekommen, und statt einen anderen ertrinken zu sehen, stürzt er entweder selbst ins Wasser oder scheitert an einer Klippe; wie es auch gewissen Mädchen erging, von denen ich im Begriff bin zu erzählen[…]96

Antonella, eine der fünf Frauen, erzählt von dem Mädchen Lukretia, die Tochter eines Prinzen, dessen erste Frau starb und der sich darum wiederverheiratet. Lukretia leidet unter ihrer Stiefmutter, sodass sie auf Anraten ihrer Haushofmeisterin, von der sie verwöhnt wird, überreden lässt, die böse Stiefmutter zu töten. Sie rät ihr:

[…] Wenn Papa ausgeht, so sage zur Mutter, du wünschest eines von den alten Kleidern zu haben, die sich in der Hinterstube in dem großen Kasten befinden […]Da sie dich nun gern in lauter Lumpen und Fetzen gehüllt sehen möchte, so wird sie auch sogleich den Kasten öffnen und sagen: „Halt den Deckel!“ Du aber schlage ihn, während sie darin herumsucht, unvermutet zu und brich ihr auf diese Weise das Genick […]

Nach Durchführung des Planes ergeht es dem Mädchen aber noch schlechter. Der Prinz ehelicht die Haushofmeisterin, sie bringt ihre sechs - bis dahin geheim gehaltenen – Töchter mit in die Ehe und verdrängt Lukretia als Magd hinter den Herd. Von nun an wird sie von allen nur noch die Aschenkatze genannt. Überdies zieht der Vater seine Stieftöchter Lukretia vor:“ [die ehemalige Haushofmeisterin] brachte es bei ihrem Manne so weit, "dass er […] sein eigenes Kind hintansetzte“. Eines Tages verreist der Vater nach Sardinien und fragt seine Töchter nach ihren Wünschen. Calamita, Sciorella, Diamante, Colommina und Cascarella wünschen sich Kleider, Schmuck und Schminke, Lukretia möchte nur, dass er ihre Feentaube grüßen möchte. Gleichzeitig warnt sie ihn davor, es keinesfalls zu vergessen: „Vergiß nicht, was ich dir sage; denn wie du tun wirst, so wird`s dir gehen.“ Der Vater vergisst ihren Wunsch, daraufhin gerät sein Schiff auf der Rückreise in Not. Er holt das Versäumte eiligst nach und bringt der Aschenkatze einen Dattelzweig und verschiedenste Gartenwerkzeuge als Geschenk von der Feentaube mit.

92 Ebd. 93Ebd .S. 15 94 Vgl. ebd. S.15. 95 Vgl.: Sundmaeker, Linda: Nachwort. In: Basile, Giambattista: Das Pentameron. Das Märchen der Märchen. Hrsg und mit einem Nachwort versehen von Linda Sundmaeker. Bremen: Edition Falkenberg, 2015. S. 310 96 Basile, Giambattista: Das Pentameron. Das Märchen der Märchen. Hrsg u. m. einem Nachwort versehen v. Linda Sundmaeker. Bremen: Edition Falkenberg, 2015. S. 43. Alle folgenden kursiv und/oder in Anführungszeichen gesetzten Textteile in dem Kapitel „La Gatta Cennerentola“, sowie der zusammengefasste Inhalt sind dieser Literaturangabe entnommen. S.43-49. [Anm. K.T.] 29

[sie] war vor Freude ganz außer sich, pflanzte den Dattelzweig in einen schönen Blumentopf, pflegte […] ihn […], so dass […] eine Fee aus demselben hervortrat, welche Lukretia […] nach ihren Wünschen fragte.

Das Mädchen wünscht sich manchmal ohne das Wissen ihrer Schwestern außer Haus gehen zu dürfen. Die Fee lehrt sie einen Spruch, damit sie sich diesen Wunsch erfüllen könne:

„O Dattelbaum, du goldene Gabe, den stets ich mit goldenem Spaten umgrabe, mit Wasser aus goldenem Eimerchen labe. Mit seidenen Handtuch getrocknet habe, jetzt zieh du dich aus und mich putz heraus.“

Sollte sie sich wieder ausziehen wollen, musste sie die beiden letzten Verse ändern und sprechen: „Zieh mich doch jetzt aus und dich putz heraus.“ Am nächsten Festtag als die Stiefschwestern geschmückt und schön gekleidet ausgehen, spricht die Aschenkatze ihren Reim und wird von ihrer Feentaube „plötzlich wie eine Königin ausgeschmückt und auf einem Zelter sitzend“ und folgt ihren Schwestern. „Der Zufall fügte es nun aber so, dass sich in derselben Gesellschaft gerade der König jenes Landes befand […]“. Dieser war von Lukretias Schönheit so angetan, dass er seinem Diener aufträgt, Näheres über diese unbekannte Schöne herauszufinden. Er folgt ihr, Lukretia bemerkt ihn aber und wirft eine Handvoll Goldtaler hinter sich. Während der Diener mit dem Aufsammeln der Taler beschäftigt ist, eilt Lukretia nach Hause zurück und entkleidet sich, indem sie ihren Vers spricht. Der König gibt am folgenden Tag abermals ein Fest, Lukretia erscheint „so glänzend geschmückt […], dass sie leuchtete wie die Sonne“. Der König trägt dem Diener abermals auf ihr zu folgen, doch auch in dieser Nacht trägt es sich zu wie in der vorherigen. Der König lässt ein drittes Fest ausrichten. Als Lukretia das Fest verlassen möchte, folgt ihr der Diener wieder, „diesmal mit doppeltem Zwirn“, sodass sie in der Eile einen ihrer Pantoffel verliert. Da sie Lukretia in dem „dahinfliegenden Wagen nicht erreichen konnten, hob [der Diener] den Pantoffel […] auf und brachte ihn dem König […]“Dieser verliebt sich in die unbekannte Trägerin des Schuhs und lässt sofort durch seinen Trompeter bekanntmachen, dass er alle Frauen des Landes zur Schuhprobe einlädt. Jedoch passt keiner der Frauen der Schuh. Für den kommenden Tag veranstaltet er abermals eine Schuhprobe: „Kommet morgen wieder und esset mit mir eine Suppe, doch bitte ich auch, dass ihr kein einziges Frauenzimmer zu Hause lasset und sei sie, wer sie wolle...“ Daraufhin erwähnt Lukretias Vater seine „ausgestoßene“ Tochter, die „hinter dem Herd stecke“, und, dass es ihr „so gänzlich an aller Zierlichkeit der Gestalt und Sitten [fehle], dass sie es nicht verdient, an Eurem Tische zu essen.“ Der König wünscht, dass „gerade sie […] vor allen anderen kommen“ solle. Am folgenden Tag finden sich erneut alle Damen ein, auch Lukretia. „Kaum wurde diese von dem König erblickt, so schien sie ihm sogleich auch die zu sein, welche er suchte; jedoch hielt er seine Empfindungen fürs erste noch zurück.“ Als es zur Schuhprobe kommt, „[fährt der Pantoffel] gleich dem Eisen, welches auf den Magnet losfährt, von selbst an den Fuß dieses Herzblattes Amors […].“ Der König nimmt Lukretia zu seiner Frau, die Schwestern neiden es ihr und schlichen […] ganz heimlich und still nach Hause, indem sie sich wider Willen gestehen mussten, dass: In gar großer Narrheit lebt, wer den Sternen widerstrebt.“

2.5.1.1 Vergleichende Analyse mit dem Grimm`schen Aschenputtel

30

Hier gibt es eine Protagonistin, die ihren fünf Stiefschwestern hintenangestellt wird. Sie erhält Hilfe von einer übernatürlichen Helferin, sie erscheint ebenfalls dreimal bei einem Fest des Königs, dreimal kann sie unerkannt fliehen, es kommt schließlich zur finalen Schuhprobe, ihre zierlichen Füße dienen ihr als Erkennungszeichen, woraufhin die Hochzeit mit dem König und ihr sozialer Aufstieg folgt. Gemäß den Verbindlichkeiten für ein „echtes“ Märchen gibt es hier keine scharfe Trennung zwischen Gut und Böse, Lukretia macht sich des Mordes an ihrer Stiefmutter schuldig, wird aber nur für kurze Zeit bestraft. Sie wird nicht zur Königin, weil sie demütig und gut ist, sondern, weil ihre äußere Erscheinung den König überzeugt. Dies steht in völligem Kontrast zur typischen Grimmschen Märchenheldin. Ihre Schwestern werden ebenfalls nicht für ihre Eitelkeit bestraft. Die Erzählung lebt mehr von parodistischen Überzeichnungen, das wunderbar-märchenhafte ist mehr Beiwerk für das eigentliche Intrigenspiel.

2.5.1.2 Der Name der Aschenkatze

Der Name „Aschenkatze“ ist eine literarische Kreation Basiles und weist als Spottname über den Küchenherd hinaus, er steht nicht nur für das dämonische Tier, das „sich eigensinnig am Herd in der schwarzen Asche eines eben noch lodernden Feuers wärmt, sondern zugleich auch für das Sexuelle“97 (Vergleich Geiler von Kayersberg). Für Basiles Märchenmoral ist gerade die erotische Komponente, und nicht die fromme Verrichtung der Hausarbeit, von Bedeutung. Diese verschafft der Heldin auch den sozialen Wiederaufstieg. Das „Entflammen“ des Prinzen ist aber nicht mit „Kürbiswasser, Kamm und Schminktöpfchen“98 wie die Schwestern es versuchen, sondern mithilfe der magischen Feentaube zu erreichen. Wer sich wie die Schwestern gegen Amor auflehnt und in großer Narrheit lebt, wird vom Schicksal, den Sternen, bestraft. Lukretia entfacht das Feuer in der Brust des Königs, „indem sie glänzend geschmückt […] in einer sechsspännigen Karosse auf dem Fest erschien“. Speziell Kurtisanen war es im damaligen Neapel verboten, in einer feudalen Kutsche zu fahren.99 Der Königssohn ist weniger am Charakter seiner Flamme interessiert, als an ihrem Fußgestell.100 Basile verweist hier unmissverständlich auf den Sex-Appeal, und der damit einhergehenden Macht der Frauen.101 Mazenauer und Perrig sehen hier bewusst Strabos Rhodopis karikiert, da die Schuhepisode kurz gehalten wird, und sich die Erzählung vor allem „anzüglicher […] Details aus dem höfischen Milieu“ widmet.102 Basiles ProtagonistInnen sind meist mit Namen gekennzeichnet. Im neapolitanischen Original heißt die Aschenkatze noch „Zezolla“103. Dies entspricht dem familiären, verniedlichten Gebrauch von Lukretia.104 Der Name „Lukretia“ wurde damals oft von Prostituierten verwendet, da er damals als „modern“ galt und auf die historische Gestalt der römischen Ehefrau Lucretia, die von dem Königssohn Sextus Tarquinius vergewaltigt wurde, worauf diese Selbstmord beging, verweist. Diese „Legende“ wurde zur vorbildlichen,

97 Mazenauer/ Perrig ,1995, S. 237 98 Basile,2015, S. 47 99 Vgl. Mazenauer/ Perrig, 1995, S. 238 100 Basile, D.:2015, S.48 101 Vgl. Mazenauer/ Perrig, 1995, S. 238 102 Ebd.S.38 103 La Gatta Cennerentola. URL: http://ilportaledelsud.org/cenerentola.htm [letzter Aufruf am 04.03.2019] 104 Vgl. Mazenauer/Perrig, 1995, S. 333 31 weiblichen Tugendhaftigkeit stilisiert.105 Daneben war auch noch die berüchtigte Lukretia Borgia (1480-1519), die Tochter des Papstes Alexanders VI., aus der Renaissance bekannt. Diese erhielt ihren Namen nach der legendären Märtyrerin Lukretia von Merida und war sowohl als humanistische Mäzenin am Hof von Ferrara, als auch für ihre Intrigen- und Machtspiele, die mehreren Geliebten und Ehemännern das Leben kosteten, bekannt. Der kulturhistorischen Forschung nach war die Aschenkatze auch noch Patin der großbürgerlichen Geliebten Lukrezia d`Alagno von Alfons, dem Großmütigen von Aragon (1396-1458). Dieser eroberte 1442 Neapel und entwickelte sich während seiner Zeit als Herrscher zu einem Förderer des italienischen Humanismus. Unterstützt wurde er dabei von seiner Geliebten, die neben der Königin zur mächtigsten Frau im spanischen Herrschaftsbereich aufstieg. Die Liebesbeziehung Lukrezias und Alfonsos war öffentlich bekannt und ließ dadurch Neapel über dessen Grenzen hinaus interessant erscheinen. Dies bot Anlass zu Gerüchten und Anekdoten. Nach dem Tod Alfonsos war Lukrezia zur Emigartion gezwungen, da sie von seinem Nachfolger nicht weiter unterstützt wurde und bis zu ihrem Tod 1479 kaum genug zum Leben hatte. Basile ließ sich für sein wunscherfüllendes „Dattelbäumchen im Blumentopf – Motiv“ von dieser Liaison inspirieren. In Neapel gab es den Brauch, dass Mädchen am Abend vor dem „Johannes, des Täufer- Tages“ Gerstenkörner in einen Blumentopf säten. Wenn diese zu keimen begannen, hofften sie, dass ihr Wunsch nach einer baldigen Hochzeit in Erfüllung gehen werde. Der Legende nach glaubte auch Lukrezia an diesen alten Volksbrauch. Sie versuchte beim Papst vergeblich die Scheidung Alfonsos von seiner Ehefrau Maria von Kastilien zu erwirken, woraufhin ihr Alfonso einen Beutel mit Goldtalern in den Blumentopf legte. Diese Anekdote und weitere großzügige Geschenke an seine Geliebte zogen böses Gerede und Neid nach sich.106 Basiles Märchen verklärt das aristokratische Leben und übt dabei gleichzeitig subtile Kritik am höfischen Milieu indem er ganze Passagen dem Geschmause und Gejubel widmet:“ […] woher kamen nur all die Pasteten und Torten, woher die Braten und Fleischklöße, woher die Makronen und das Zuckerwerk? Denn sie waren in so großer Menge vorhanden, dass man ein vollständiges Heer damit hätte speisen können.“ 107 Stilistisch ist es zeitgemäß an die üppige, genießerische und schicksalsgläubige barocke Ausdrucksweise angelehnt. 108 Hausarbeit, niedrige Küchenarbeit oder eine ergebene Heldin erwähnt Basile gar nicht.

2.5.1.3 Die schuldige Aschenkatze – Der Mord an Lukretias erster Stiefmutter

Basiles Aschenputtel- Version ist die einzig bekannte, in der sich das Aschenputtel beziehungsweise die Aschenkatze etwas zuschulden kommen lässt. Üblicherweise wird das Aschenputtel als die reine Unschuld dargestellt. Lukretias vorübergehende Degradierung ist eine inadäquate Strafe für einen Mord. Bruno Bettelheim sieht die Erklärung in der „Verdoppelung der Stiefmutter“, die ebenso wie das Mord-Motiv in sonst keiner bekannten Erzählung vorkommt.109 Basiles Version gibt auch keine Hinweise auf die leibliche Mutter des Kindes, wie es auch keine symbolische Repräsentation von ihr als übernatürliche Helferin gibt. Nach Bettelheim sind die leibliche Mutter und die erste Stiefmutter ein und dieselbe Person in verschiedenen Entwicklungsstadien. Ihre Ermordung und ihr Ersatz „sind eher

105 Vgl. Mazanauer/ Perrig,1995, S.239-239 106 Vgl.Mazenauer/ Perrig, 1995, S. 239-240 107 Basile, 2015, S. 48 108 Vgl.ebd. 109 Vgl. Bettelheim, 2017, S.185 32

ödipale Phantasien als Wirklichkeit.“110So betrachtet ist die Aschenkatze tatsächlich unschuldig, sie muss nicht bestraft werden, da der Mord nur in ihrer Phantasie passierte. Nach der ödipalen Phase, wenn sie also wieder in der Lage ist, eine gute Beziehung zur Mutter aufzunehmen, kehrt diese in Gestalt der Fee oder symbolisch als Dattelbäumchen zurück und die Heldin kann „beim König als einem nicht-ödipalem Objekt sexuellen Erfolg haben“111.

2.5.2 Cendrillon ou La petite pantoufle de verre (1695)

Dieses Märchen stammt aus der Sammlung « Histoires ou Contes du temps passé avec des moralités » von Charles Perrault (1628 -1703). Perrault war ein französischer Schriftsteller und hoher Beamter. Bekanntheit erreichte er vor allem durch seine Märchensammlung, die er erst unter einem Pseudonym mit dem Titel „Contes de ma Mère l’Oye“ veröffentlichte. Damit hat er das Märchengenre in Frankreich und folglich in ganz Europa popularisiert. Perraults Version diente als Grundlage zu unzähligen Märchenfilmen, unter anderem auch Walt Disney´s Cinderella und zählt zu den beliebtesten der Aschenputtel-Varianten. Das Märchen beginnt mit der zweiten Heirat des Vaters, eines Edelmannes, von Cendrillon. Seine zweite Frau bringt zwei Töchter mit in die Ehe, die ebenso stolz und hochmütig wie ihre Mutter sind. Diese hasst ihre Stieftochter, da durch deren „Sanftmut und Liebenswürdigkeit“112 ihre beiden „Töchter noch verabscheuungswürdiger erschienen“. Cendrillon werden von ihrer Stiefmutter die „niedrigsten Arbeiten im Hause“ aufgetragen. Diese erträgt dies geduldig, ohne sich bei ihrem Vater zu beklagen. Wenn sie mit ihrer Arbeit fertig ist,

[…] ließ es sich in einer Ecke des Kamins nieder und setzte sich in die Asche, und so nannte man es im ganzen Hause Aschenhocker, nur die jüngere, die nicht ganz so böse war wie ihre ältere Schwester, rief es Aschenputtel. Aber Aschenputtel war in seinen schlechten Kleidern hundertmal schöner als seine Schwestern, obgleich sie so prächtig gekleidet waren.

Eines Tages gibt der König einen Ball, die beiden hochnäsigen Schwestern werden ebenfalls eingeladen. Cendrillon hilft ihren Schwestern bei den Vorbereitungen. Als die beiden zum Fest aufbrechen, weint es unerbittlich. So findet es ihre Patin, die eine Fee ist. Sie verhilft ihr zu prächtigen Kleidern, einer Kutsche, sechs Pferden und Lakaien indem sie mit ihrem Zauberstab ihre alten Kleider, einen Kürbis, Mäuse und Eidechsen verwandelte. Sie wird von der Fee ermahnt, nur ja keine Minute länger als Mitternacht zu bleiben. Als Cendrillon erscheint verstummen sogar die Geigen wegen ihrer Schönheit. Sie tanzt mit dem Königssohn und wird von allen anderen Damen beneidet. Kurz vor zwölf eilt sie davon. Zu Hause angekommen bittet sie ihre Patin am folgenden Tag noch einmal zum Ball gehen zu dürfen. Sie wird abermals mit den schönsten Kleidern ausgestattet, der Königssohn ist abermals fasziniert von ihr. Allerdings versäumt sie es vor Mitternacht zu verschwinden. Als sie die Glocken hört, flieht sie eiligst, verliert dabei aber „einen seiner gläsernen Schuhe“. Der Königssohn hebt ihn auf und betrachtet ihn „bis zum Ende des Balls fortwährend“. Wenige

110 Ebd. S. 185 111 Ebd. S.186 112 Perrault, Charles: Sämtliche Märchen. Mit 10 Illustrationen von Gustave Doré. Übers. v. Doris Distelmaier-Haas. Stuttgart: Reclam, 2017. S.95-104. Alle folgenden kursiv und/oder in Anführungszeichen gesetzten Textteile in dem Kapitel „Cendrillon ou La petite pantoufle de verre“, sowie der zusammengefasste Inhalt sind dieser Literaturangebe entnommen. [Anm. K.T.] 33

Tage später lässt er zur Schuhprobe ausrufen. Der Schuh wird auch zu den beiden Schwestern gebracht, doch sie schaffen es nicht sich hineinzwängen. Cendrillon beobachtet die Szene und möchte den Schuh ebenfalls probieren. Ihre Schwestern verspotten sie und lachen sie wegen ihres Wunsches aus.

Der Edelmann, der die Anprobe des Schuhs durchführte, hatte aber [Cendrillon] aufmerksam betrachtet und wohl gesehen, wie schön es war […]Er hieß [sie] niedersitzen, und als er den Schuh an seinen kleinen Fuß führte, sah er, daß er mühelos darüberging und wie angegossen saß.

In diesem Moment erscheint Cendrillons Patin, berührt sie mit dem Zauberstab und verwandelt ihre schäbigen Kleider in noch prächtigere als zuvor. Da erkennen die Schwestern in Cendrillon die schöne Dame vom Ball. Sie bitten sie um Verzeihung für die schlechte Behandlung, Cendrillon umarmt sie und vergibt ihnen. Sie wird zum Königssohn gebracht und es wird Hochzeit gefeiert. Sie nimmt auch ihre Schwestern mit auf das Schloss und verheiratet diese ebenfalls mit „zwei großen Herren am Hofe“.

Perrault stellt dem Märchen eine Moral hintenan:

Moral Schönheit ist für Frauen ein seltener Schatz, den man nicht müde wird zu bewundern; doch was gemeinhin Anmut heißt, ist unschätzbar und weit mehr wert. Aschenputtel gewann sie durch die Erziehung und die Lehren ihrer Patin und wurde gar eine Königin. So will es die Moral des Märchens. Ihr Schönen, diese Gabe ist mehr wert als schöner Putz. Wollt ihr ein Herz gewinnen und behalten, so ist Anmut die wahre Gabe aus dem Feenreich. Ohne sie vermag man nichts, und alles, wenn man sie besitzt. Zweite Moral Es ist gewiß ein großer Vorzug, hoher Abkunft zu sein und Geist, Herz, Verstand und andere Gaben, die der Himmel schenkt zu besitzen; doch sind sie euch umsonst gegeben und bringen euch in nichts voran, wenn ihr, um sie zu nützen, nicht auch einen Paten oder eine Patin an eurer Seite habt.113

2.5.2.1 Inhaltliche Gegenüberstellung von Basiles Aschenkatze und Perraults Cendrillon

Im Gegensatz zu Basile betont Perrault die guten Charaktereigenschaften des Aschenputtels. Auch ihre leibliche Mutter wird erwähnt. Cendrillon gerät allerdings völlig unschuldig in ihre missliche Lage. Als übernatürliche Helferin dient ihr ihre Feenpatin. Außerdem berichte Perrault über das weitere Schicksal der ehemals „bösen“ Schwestern, die Stiefmutter dagegen ist aus der Erzählung verschwunden. In der ersten Moral lobt Perrault die guten Charaktereigenschaften einer Frau, in der zweiten schreibt er, dass dies alles nichts nütze, hätte sie nicht einen Paten oder eine Patin. Diese „Hilfe von außerhalb“ stuft Perrault höher ein, als einen guten Charakter. Basile dagegen lässt in seiner Erzählung mehr das Schicksal walten.

2.5.2.2 Vergleichende Analyse mit dem Grimm`schen Aschenputtel

113 Ebd. S. 104 34

Perraults Heldin ist ebenso geduldig und liebenswert wie Aschenputtel, das niedrige Küchendienste verrichten muss und in der Asche sitzt. Daneben geht sie den Schwestern ähnlich einer Kammerzofe zur Hand. Perraults Heldin geht nur zweimal zum Ball, die Grimms lassen die Dreizahl walten. Als Helferin steht ihr ihre Feenpatin zur Seite, bei den Grimms ist es, wie schon bei Basile, das Bäumchen am Grab der Mutter. Beide Schwestern werden bei dem Grimm bestraft, Perrault belohnt sie. Insgesamt splittern die Grimms ihre Fassung prägnanter in Gut und Böse auf.

2.5.2.3 Psychologische Analyse der beiden Charakter nach Bruno Bettelheim

Bettelheim betrachtet den Charakter der Heldin Perraults als „völlig anders als bei allen anderen Versionen. [Sie]ist zuckersüß und langweilig brav, und es geht ihr jegliche Initiative ab.“114 Dies nimmt er auch als Grund an, warum sich die Disney Produktion auf Perraults Version bezogen hat. Das Grimm`sche Aschenputtel ist eine viel „ausgeprägtere Persönlichkeit“. Als Beispiel setzt sich Cendrillon nach getaner Arbeit freiwillig in die Asche. Bei den Grimms „kommt eine solche Selbsterniedrigung nicht vor“115. Ihr Aschenputtel, „mußte sich neben den Herd in die Asche legen116“. Perraults Protagonistin berät ihre Stiefschwestern „auf das Beste und erbot sich sogar, sie zu kämmen […] es hatte ein gutes Herz und kämmte sie besonders schön“117. Grimms Aschenputtel wird befohlen, „die zwei Stiefschwestern […]riefen Aschenputtel und sprachen:“ Kämm uns die Haare, bürste uns die Schuhe und mache uns die Schnallen fest […], „Aschenputtel gehorchte, weinte aber, weil es auch gern zum Tanz mitgegangen wäre […]“118Perraults Cendrillon kommt auch nicht selber auf die Idee, dass sie hingehen möchte, es ist vielmehr die Feenpatin, die es ihr vorschlägt: „Seine Patin […] sprach zu ihm: „Du möchtest gern auf den Ball gehen, nicht wahr?[…] dann will ich zusehen, daß du auch auf den Ball gehst.“119Grimms Aschenputtel, „bat die Stiefmutter, sie möchte es ihm erlauben.“ 120 Und obwohl ihr der Wunsch abgeschlagen wird, hält sie mit dem Bitten an, um hingehen zu dürfen. Als der Ball zu Ende ist, geht sie freiwillig und versteckt sich vor dem Königssohn. Cendrillon allerdings geht nicht, weil sie es für angemessen hält, sondern, weil sie von ihrer Feenpatin ermahnt wird, da sich die Kutsche, die Diener, die Pferde und schließlich ihre Kleider wieder zurückverwandeln würden. Als es zur Schuhprobe kommt, überzeugt sich der Prinz auch nicht selbst, sondern ein Edelmann macht es für ihn. Bevor Cendrillon mit dem Prinzen zusammentreffen kann, erscheint die Patin, „[…] berührt [ihre] Kleider mit ihrem Stab und verwandelte sie in noch prächtigere Gewänder als zuvor.“ 121Damit geht ein essentielles Detail verloren, nämlich, dass der Prinz Aschenputtel oder Cendrillon anhand ihrer inneren Qualitäten erkennt. Grimms Aschenputtel,

[…] wusch […] sich erst Hände und Angesicht rein, ging dann hin, neigte sich vor dem Königssohn, der ihm den goldenen Schuh reichte […] Und als es sich in die Höhe richtete und der König ihm ins Gesicht blickte, so erkannte er das schöne Mädchen, dass mit ihm

114 Bettelheim, 2015, S.293 115 Ebd. S.295 116 Grimm,2000, S. 137 117 Perrault, 2017, S.96. 118 Grimm,2000, S.138 119 Perrault, 2017, S.97 120 Grimm, 2000, S. 138 121 Perrault, 2017, S.99 35

getanzt hatte […]122

In der Version von Perrault wird der Kontrast zwischen den materialistisch und auf Äußerlichkeiten eingestellten Stiefschwestern123 und Cendrillon, und damit die märchenhafte Kontrastierung zwischen Gut und Böse, weniger herausgearbeitet. Perraults Cendrillon wird von ihrer Stiefschwestern auch mehr schikaniert als jene von den Grimms, dennoch verzeiht sie ihnen und wünscht sich, „sie möchten es immer lieb behalten.“124 Es ist völlig unverständlich warum Cendrillon, nachdem sie von den Schwestern sekkiert und verspottet wurde, auch noch nach deren Liebe verlangen sollte. Zudem verhilft sie ihnen zu einer lukrativen Heirat. Grimms Geschichte endet anders. Die Stiefschwestern verstümmeln erst ihre Füße um eine passende Schuhgröße vorzutäuschen, dann kommen sie in eigenem Interesse zu Aschenputtels Hochzeit, „um sich einzuschmeicheln“125. Beiden werden von Aschenputtels einst hilfreichen Tauben die Augen ausgepickt. Die beiden schließen das Märchen ebenso mit einer Moral, ohne diese extra zu benennen: „Und waren sie also für ihre Bosheit und Falschheit mit Blindheit für ihr Lebtag gestraft.“126 Bettelheim zufolge macht Perrault aus dem Aschenputtel, „ein gefälliges Phantasieprodukt, das in keiner Weise innerlich berührt“127. Dies nimmt er paradoxerweise auch als Grund für die Beliebtheit dieser Version an.

2.5.3 Finette Cendron - Finette Aschenbrödel (1697)

Marie-Catherine d’Aulnoy (1650 – 1705) veröffentlichte 1697 – einige Monate nachdem Perrault seine „Histoires ou Contes du temps“ herausgab - unter dem Titel „Les Contes des fées“ ihre „Feen- und Zaubermärchen“, darunter auch Cendron Finette. Sie gehörte genau wie Charles Perrault einer Bewegung an, durch die sich das Märchen als gefragte Unterhaltungsliteratur etablieren konnte. Gesellschaftlich gehörte d´Aulnoy ebenfalls der Aristokratie an. Ihre und Perraults Aschenputtel Variante weisen, obwohl beide in der Epoche der französischen Klassik lebten und arbeiteten und auch derselben gesellschaftlichen Schicht angehörten, deutliche Unterschiede auf. Die Grimms waren mit den Märchen d´ Aulnoys durch die Familie Hassenpflug, die hugenottischer Abstammung war, ebenfalls vertraut. Der Beginn des Märchens erinnert an Hänsel und Gretel (KHM 15), da sich ein Königspaar in einer derart miserablen wirtschaftlichen Lage befindet, sodass die Königin, um zu überleben, beschließt ihre drei Töchter im Wald auszusetzen. Sie möchte, dass Finette, die Jüngste ihrer drei Töchter, ihre beiden Schwestern Fleur-d'Amour und Belle-de-Nuit soweit vom elterlichen Schloss fortbringt, dass diese nie wieder zurückfinden würden. Finette, die das Gespräch zwischen ihren Eltern belauscht hat, bittet ihre Patin Merluche um Hilfe. Diese gibt ihr ein Knäuel als Hilfe um wieder zurückzufinden. Am darauf folgenden Tag bringt die Mutter die Kinder unter einem Vorwand in den Wald und lässt sie dort schlafend zurück. Wie bei Hänsel und Gretel findet die Aussetzung dreimal statt. Auch beim zweiten Mal holt sich Finette Rat bei Merluche. Diesmal gibt ihr die Patin einen Sack mit Asche,“ vous macherez sur la cendre, et quand vous voudrez revenir, vous n`aurez qu`a´regarder l`impression de vos

122 Grimm, 2000, S.144 123 Bettelheim,2015, S. 294 124 Perrault, 2017. S.104 125 Grimm, 2000, S.144 126Grimm, 2000, S. 144 127 Bettelheim, 1995, S. 306 36 pas“128 Diesmal knüpft die Patin ihren Rat an eine Bedingung, nämlich, dass Finette ihre beiden Schwestern aufgrund ihrer Boshaftigkeit im Wald zurücklassen solle. Finette bringt dies nicht übers Herz und nimmt beide Schwestern mit zurück. Deshalb kann sie Merluche beim dritten Mal nicht mehr um Hilfe bitten. So kommt es, dass es die drei Mädchen nicht wieder zurückfinden. Hunger leidend pflanzen sie eine Eichel, aus der ein großer Baum wird. Finnette klettert jeden Tag auf den Baum, um die Umgebung zu erkunden, bis sie schließlich „une grande maison, si belle, si belle que je ne saurais assez le dire“129 entdeckt. Gleich machen sie sich auf den Weg um zu diesem Schloss zu gelangen. Allerdings wird es von einem Menschenfresser und dessen Frau, welche die Mädchen gefangen nehmen, bewohnt. Finette gelingt es beide zu überlisten und zu töten. Daraufhin machen sich die beiden älteren Schwestern auf die Suche nach einer guten Partie und befehlen Finette zu Hause zu bleiben. Sie wird von ihren Schwestern ausgeschlossen und muss alle Hausarbeit erledigen. Sie bereut mittlerweile nicht dem Rat ihrer guten Patin gefolgt zu sein,

Wie unglücklich bin ich […] daß ich meiner guten Pathin nicht gefolgt habe. Meine Schwestern haben mir meine schönen Kleider gestohlen und putzen sich damit […] Ach! Was hilft es mir nun, daß ich den Popanz und seine Frau umgebracht habe? Wäre es nicht eben so gut gewesen, sie hätten mich gefressen, als daß ich mich so von meinen Schwestern misshandeln lassen muss? Sie vergoß bei diesen Worten heiße Thränen […]130

Finettes Schwestern besuchen Bälle und Feste, auf denen auch der Königssohn anwesend ist. Später erzählen sie Finette davon, während sie ihnen beim Auskleiden helfen muss, und wenn sie auch nur leise widerspricht, „so fielen sie über sie her und schlugen sie halb todt.“ So geht das einige Tage. Eines Abends sitzt Finette am Feuer auf einem Aschenhaufen und stöberte aus Langeweile darin herum. Sie findet einen kleinen schmutzigen Schlüssel darin, nach ausgiebigem Reinigen erkennt sie, dass er aus reinem Gold ist. Sie probiert im ganzen Schloss jedes einzelne Schlüsselloch aus, bis sie ein kleines Kistchen findet, zu dem er passt. Sie schließt es auf und findet darin die schönsten Kleider, Diamanten, Spitze, Bänder und Wäsche. Ihre Schwestern erzählt sie nichts davon. Am nächsten Abend kann sie es kaum erwarten, dass diese sich zum Ball aufmachen. Dann kleidet sie sich an und war schöner als, „Sonne, Mond und Sterne“ Am Ball wird sie von ihren Schwestern nicht erkannt und von allen anderen bewundert. Die Veranstalterin fragt Finette nach ihrem Namen, worauf sie „Aschenbrödel“ antwortet. „[…] auf dem ganzen Ball war kein Liebhaber, der seiner Geliebten nicht untreu ward; kein Dichter, der Aschenbrödel nicht besung, und in langer Zeit hat kein Name so viel Aufsehen gemacht und so viele Verwüstungen angerichtet.“ Auch ihre Schwestern möchten die „unbekannte“ Schöne kennenlernen. Als der Ball zu Ende ist, verschwindet sie eiligst und zieht wieder ihre alten Kleider an. Ihr wird von den Schwestern von der unglaublich schönen und liebenswürdigen Prinzessin berichtet, „[…] die war nicht so eine Meerkatze du. Sie war weiß wie Schnee und ihre Wangen roth wie Rosen […]“Finette gibt zu, dass sie selber diese Prinzessin gewesen sei. Dafür erntet sie Spott und Gelächter. Das allabendliche Ballgeschehen dauert eine ganze Weile. Jeden Abend macht sich Finette, nachdem ihre Schwestern das Haus verlassen haben, zurecht für den Ball. Das Kistchen ist

128 Aulnoy, Marie-Catherine le Jumel de Barneville, Comtesse d’: Finette Cendron, in:Les Contes des Fées, Paris 1697. S. 472- 503. 129 Ebd. 130 Mme d´Aulnoy: Finette Aschenbrödel. In: Die blaue Bibliothek aller Nationen, Bd. 4. Hrsg. von Friedrich Johann Justin Bertuch, Friedrich Jacobs. Baden: Ettlinger, 1790. Alle folgenden kursiven oder in Anführungszeichen gesetzten Textteile aus dem Kapitel „Finette Cendron“ entstammen ebenfalls dieser Quellenangabe. [Anm. K.T.]

37 schier unerschöpflich, es kommen immer neue, noch prächtigere Kleider hervor. Einmal tanzt Finette länger als üblich um vor ihren Schwestern zu Hause zu sein. In der Eile verliert sie einen ihrer Pantoffel „von rothem Sammt mit Perlen gestickt“. Am nächsten Tag findet Prinz Chéri, der älteste Sohn des Königs, den Schuh und verliebt sich so sehr in seine Besitzerin, dass er in eine tiefe Melancholie verfällt. Er kann weder Essen noch Trinken und ist vollkommen lustlos. König und Königin holen sich Rat bei den berühmtesten Ärzten, diese beobachteten den Prinzen, „drey Tage und Nächte, und versicherten endlich einmüthig, seine Krankheit sey Liebe und er werde sterben, wenn man nicht Rath schaffe.“ Seine Mutter veranlasst schließlich die Suche nach dem unbekannten Mädchen und lädt alle Damen der Umgebung an den Hof zur Schuhprobe. Natürlich nehmen auch Fleur-d'Amour und Belle-de- Nuit daran teil. Nachdem beide das Haus verlassen haben, zieht Finette eines der Kleider aus dem magischen Kistchen an, denn „es ahndete ihr was Gutes“. Vor dem Haus erwartet sie das spanische Pferd ihrer Patin, „Es fiel auf die Knie nieder und sie schwung sich darauf […] sein Zeug war mit kostbaren Diamanten besezt, und Finette sah einer Göttin ähnlich. Das Pferd schwebte dahin wie ein Vogel […]“ Als sie beim Schloss eintrifft, wird sie von ihren beiden Schwestern erkannt. „In dem Augeblick sprengte Finette neben ihnen vorbey, und besprüzte sie über und über mit Kothe. Meine schönen Damen, rief sie ihnen zu, Finette Aschenbrödel verachtet sie so sehr, wie sie es verdienen.“ Als Finette im Palast ankommt wird sie feierlich begrüßt und zum Zimmer des kranken Prinzen gebracht. Schon als er sie sieht, weiß er, dass dies das Mädchen ist nachdem er sich so sehr verzehrt hatte. Es kommt zur Schuhprobe, der Pantoffel passt. Gleichzeitig zieht sie den anderen aus ihrer Tasche. Der Prinz steht vom Bett auf und küsst seine zukünftige Gemahlin. Sie erzählt in wenigen Worten ihre Geschichte und die Freude der Brauteltern ist „noch einmal so groß“ als sie erfahren, dass sie eine Prinzessin ist. Sie erwähnt auch ihren Vater als ehemaligen Besitzer dieses Königreichs und bittet ihn wieder als König walten zu lassen. Da ihr künftiger Schwiegervater „mehr denn hundert Königreiche besaß“ erfüllt er ihren Wunsch. Sie denkt auch an ihre Schwestern, diese befinden sich bereits am Heimweg, da sie hörten, dass Aschenbrödel die gesuchte Prinzessin ist. Doch Finette „gieng ihnen entgegen, und umarmte sie auf das zärtlichste. […] Finettens Güte machte sie stumm. […] sie […] fielen ihr zu Füßen und benetzten sie mit ihren Thränen.“ Es wird Hochzeit gefeiert. Finette vergisst auch ihre Patin Merluche nicht. Sie schickt ihr einen Brief mit prächtigen Geschenken und bittet sie, dass sie ihre Eltern aufsuchen solle, um ihnen zu sagen, dass sie in ihr ehemaliges Königreich zurückkehren können.

2.5.3.1 Vergleichende Analyse zwischen Perraults und d`Aulnoys Cendrillon

Es kann angenommen werden, dass d´Aulnoy mit dem Perraultschen Erzählungen vertraut war. D´Aulnoys weicht insofern von der Perraultschen Fassung ab, als dass sie ihre Version mit anderen Geschichten verwebt. Ihre Geschichte handelt im ersten Teil von drei verlassenen Mädchen und einer Menschenfresserin und enthält damit Elemente aus Perraults Märchen Le petit poucet (Der kleine Däumling). Beide Märchen geben dem Lesepublikum einen Einblick in die jeweilige familiäre Situation. Cendrillon hat zwei Stiefschwestern, während Finette zwei leibliche Schwestern hat, die beiden Heldinnen das Leben schwermachen. In beiden Fällen sind es Familien, die auf einen höheren Stand verweisen, auch wenn Finettes Eltern ihr Königreich „herabgewirtschaftet“ haben. Perraults Familienvater ist zwar kein König, er erzählt von einem „gentilhomme“, was auf einen Mann von vornehmer Gesinnung verweist. Der soziale Abstieg ist bei Perrault nicht durch die ganze 38

Familie gekennzeichnet. Es ist nur Cendrillon, die zur niedrigen Küchenmagd degradiert wird. Beide Fassungen berichten von der Eifersucht der boshaften Schwestern beziehungsweise Stiefschwestern, die sie dazu treibt die Heldin zu quälen. In Perraults Märchen werden diese von der Mutter dazu gedrängt, in der Version d`Aulnoys verbünden sie sich auf eigene Faust gegen die Heldin. Diese erträgt ihr Leid mit Sanftmut und Geduld. Beiden Mädchen scheint das höfisch-aristokratische Milieu bekannt zu sein, da beide mühelos von einer Dienstmagd zu einer Prinzessin aufsteigen können und nicht im Geringsten über prächtige Kleider, Gesellschaften oder Paläste verwundert zu sein scheinen. Eine wesentliche Unterscheidung nimmt d´ Aulnoy in der Frage der Identität ihrer Protagonistin vor131. Wenn es bei Perrault die Stiefschwestern sind, die der Heldin das Leben erschweren, sind es bei ihr die leiblichen Schwestern. Somit ist Perraults Cendrillon d´Aulnoys Finette sozial überlegen, da diese die Tochter eines „gentilhomme“ ist. Finette kann somit nur durch ihren Charakter und ihr Verhalten ihre Individualität bestimmen. D´Alnoys Heldin ist wesentlich aktiver, als Perraults Cendrillon. Finette sucht aktiv Rat bei ihrer Patin Merluche, sie selbst entscheidet, obwohl ihr Merluche anderes rät, aus purer Güte ihre Schwestern wieder bei sich wohnen zu lassen. Sie täuscht auch die Menschenfresserin und sorgt eigenständig dafür auf den Ball gehen zu können, sowie diesen auch wieder pünktlich zu verlassen. D´Aulnoy fügt ihre Heldin erst mit der Heirat in ihr passives, rollenergebenes Schicksal. Allerdings lässt sie auch danach nicht dieselbe Güte walten wie Perraults Cendrillon, sondern grenzt sich deutlich von ihren Schwestern und ihren Eltern ab. Sie lässt ihre Schwestern nicht bei sich im Palast wohnen und obwohl ihre Eltern wieder in ihrem ehemaligen Königreich regieren dürfen, ist es ihr nicht wichtig für eine soziale Gleichstellung zu sorgen, da ihre „neue“ Familie „mehr als hundert Königreiche besitzt“. Perrault stellt seine Cendrillon von Anfang an passive dar. Seine Heldin erträgt passiv und geduldig ihr Schicksal. Nur dank ihrer magischen HelferInnen kann sie den königlichen Ball besuchen. Einzig am Ball wird Cendrillon von sich aus aktiv, sie tanzt mit dem Prinzen, plaudert mit den anderen Gästen und beschenkt ihre neidischen Stiefschwestern mit Orangen und Zitronen. Perrault lässt seine Heldin aktiv am gesellschaftlichen Leben am Hof teilnehmen, selbstverständlich unter der Prämisse, dass dies in eine Heirat mit dem Prinzen mündet und damit ihre Herabsetzung als Aschenputtel beendet.

2.5.4 Das Frauenbild bei Perrault und d´Aulnoy

Resümierend lässt sich festhalten, dass sowohl Perrault als auch d`Aulnoy dem damals vorherrschenden frauenverachtenden Frauenbild widersprechen. Perrault scheint die damalige misogyne Haltung gegenüber Frauen sogar zu parodieren, er stattet seine Protagonistin mit den vorbildlichsten Tugenden und Moralvorstellungen aus, dennoch hinterfragt er die negativen Stereotypisierungen Frauen gegenüber kaum.132D´Aulnoy erschafft eine kluge, spontane und aktive Heldin, passt sich aber insofern an und stimmt dem patriarchal bestimmten Gesellschaftsbild zu, indem ihre Heldin nur durch eine Heirat von ihren Erniedrigungen erlöst werden kann.

131 Vgl. Korneeva, Tatiana: Rival Sisters and Vengeance Motifs in the contes de fees of d´Alnoy, L`heritier and Perrault. In: MLN Johns Hopkins University Press. Bd.127. Nr.4.2012. S.732-753. 132 Vgl Duggan, Anne E.: Woman Subdued: The Abjefication and Purification of female Charaacters in Perrault´s Tales. In: The Romanic Review Bd. 99 Nr. 3–4 The Trustees of Columbia University, 2008. S.11-216. URL: https://www.google.com/search?client=firefox-b&ei=bgFsXMKnNs UlwTvlqeQDA&q=Duggan+Anne++Woman+Subdued&oq=Duggan+Anne++Woman+Subdued&gs_l=psy- ab.3...18090.29436..29892...1.0..0.714.4076.0j7j6j2j6-1...... 0....1..gws-wiz...... 0i22i30j33i160j33i21.nsDDe9_ypIE# [18.02.2019] 39

Beide haben ihrem Märchen einen knappen moralischen Verweis angefügt. Diese geben gemeinsam mit den Erzählungen einen Hinweis auf die Wertevorstellungen der damaligen Zeit. Perrault verweist sehr deutlich auf die „Duldsamkeit als besondere Tugend der Frau“133 wie auf schicksalshafte Hilfe von außen. Das geduldige Ertragen ihres Martyriums und eine „Ergebenheit gegenüber“ ihren VerursacherInnen134 beschert am Ende eine Hochzeit und einen gesellschaftlichem Aufstieg. Die Erzählung gibt damit sehr klare Belehrungen über weibliche Tugenden mit sehr „konkreten Versprechungen“135. In seinen kleinen moralischen Lektionen spricht er fast ausschließlich über Liebe und Ehe als das wichtigste Ziel einer Frau und verweist eindeutig auf die notwendigen sozialen Beziehungen als Voraussetzungen dafür136. Nach seinem moralischen Verweis zu urteilen stuft Perrault die Hilfe von Außenstehenden eindeutig höher ein als jede noch so vorbildlichen Charaktereigenschaften. D´Aulnoys Wertevorstellungen ähneln denen Perraults. Sie bildet ebenfalls Finettes Geduld und Sanftmut als besondere Tugenden ab. Genauso sieht sie weibliche Schönheit und prachtvolle Kleider als Vorbedingung für das Erreichen von Liebe und der damit einhergehenden Eheschließung. Dennoch zeichnet sich d`Aulnoys Heldin nicht nur durch passives Erdulden von scheinbar unentrinnbaren Situationen aus, sondern sie stattet diese zusätzlich mit Mut, Standhaftigkeit und Willensstärke aus, die ihr schließlich zu ihrem Glück verhelfen. In ihrer abschließenden Morallektion spricht d´Aulnoy überraschenderweise von Rache. Die Erzählung selber ist so gestaltet als hätte Finette ihren Schwestern vorbehaltslos verziehen, was sie auch die Nähe der Erzählung Perraults rückt. Doch spricht sie in ihrer Moral von einer „noble vengeance“137, die sie als Tugend preist und die eigentliche (moralische) Lehre sein sollte. Paradoxerweise wird Finette von d`Aulnoy als großzügig und edel ihren stolzen Schwestern gegenüber beschrieben, dann bezeichnet sie dies als geheime Rache, da ihre Schwestern künftig mehr leiden würden. D´Aulnoy bleibt schließlich unbestimmt bezüglich des Rache-Themas, da es in der Literatur für das aristokratische, vorwiegend weibliche Publikum mehr darum ging, den Gedanken des „plaire“ (dt. jemanden gefallen) abzubilden.

2.5.5 Die unterschiedliche Darstellung der Küchenarbeit des Eschengrüdels , der Lukretia und Cendrillons

Basiles Erzählung von der Aschenkatze enthält bereits alle wesentlichen Motive des Aschenputtel-Typs. Der häuslichen Tätigkeit wird in seiner Erzählung dennoch kaum Beachtung geschenkt, während im Eschengrüdel die Küchenarbeit sehr detailliert als demütigende, freudlose und mühevolle Arbeit dargestellt wird. Basile schildert „nur“ den sozialen Fall des Mädchens und die Verbannung in Küche:

[…] so dass Lukretia, immer mehr und mehr vernachlässigte und immer tiefer sinkend, am Ende aus den Staatszimmern in die Küche, von dem Thronhimmel an den Herd, von […] Prachtgewändern zu dem Scheuerwisch und von dem Zepter zum Bratspieß kam und nicht nur den Stand, sondern auch den Namen änderte […].138

133 Krüger, Helga: Die Märchen von Charles Perrault und ihre Leser. Hochschulschrift. Universität Kiel: 1969. S.70 134 Ebd. 135Vgl. ebd. S. 71 136 Perrault,2017, S. 137 D´Aulnoy, 1697. S.457 URL: https://fr.wikisource.org/wiki/Finette_cendron [letzter Zugriff am 18.02.2019] 138 Basile, 2017, 40

Dennoch ist von der prekären sozialen Lage der Protagonistin kaum etwas zu bemerken. Der Märchenton gerät frei von jeder Tragik, er hat vielmehr eine beschwingte und erotische Komponente. Eine völlig andere Bedeutung erhält diese bei Perrault. Schon im zweiten Absatz des Märchens beschreibt er ihren Küchendienst als „niedrigste Arbeit im Hause“139:

sie mußte das Geschirr abwaschen und die Treppen scheuern, sie putzte das Zimmer der gnädigen Frau und die Zimmer der gnädigen Fräulein, ihrer Töchter; sie schlief hoch oben im Hause auf einem elenden Strohsack[…]140

Dem setzt er eine Schilderung der aristokratischen Sphäre gegenüber: „indes ihre Schwestern in Zimmern mit Parkettböden wohnten, wo Betten nach der neuesten Mode standen und Spiegel, in dem sie sich von Kopf bis Fuß sahen.“141 Genauso anspruchsvoll gestaltet er die Namensgebung der Heldin. Sie wird einerseits „Cucendron“- Aschenhocker, andererseits ruft sie die, „jüngere [Schwester], die nicht ganz so böse war […] Cendrillon [Aschenputtel]“142, weil sie nicht nur Küchenmagd, sondern auch Kammerzofe der Schwestern war: „[…]sie musste die Wäsche für ihre Schwestern bügeln und ihre Manschetten fälteln […]“143. Cendrillon wird auch in Styling-Fragen um Rat gebeten, „[…] es besaß einen guten Geschmack“.144 Mit speziell stilisierten Szenen wollte er seiner adeligen und vorwiegend weiblichen Leserschaft den „Alltag der kleinen Leute“ näherbringen.145

2.5.6 Cendrillon und Finette Cendron als Ratgeber(Innen)literatur für junge Mädchen

Die sich im 17. Jahrhundert herausbildende Salonkultur, der auch d`Aulnoy angehörte, beschäftigte sich speziell mit literarischen Neuerscheinungen, Fragen der Lebensführung und der Kindererziehung.146 Insbesondere wurden auch Fragen bezüglich der Ausbildung von Frauen diskutiert. 1687 erschien „Über die Erziehung der Mädchen“ von Fenelon, der mit seiner Ratgeberlektüre für eine Ausbildung der Mädchen unter mütterlicher Führung plädierte, damit sie auf ihre spätere Hausfrauen-, Ehefrauen- und Mütterrollen vorbereitet werden.147 Ursprünglich war das Werk nicht für die Allgemeinheit bestimmt, sondern sollte nur zur Unterweisung für herzogliche Töchter bestimmt sein, 148 da den aristokratischen Damen Vergnügungssucht und Müßiggang vorgeworfen wurden. Fenelon sah diese Untugenden in unzureichender Bildung, dürftiger moralischer und religiöser Lehre, und mangelnden Kenntnissen in ökonomischer Haushaltsführung begründet. Besonders die Haushaltsökonomie betrachtete Fenelon als Therapeutikum gegen die höfische Arroganz ihrem Personal gegenüber. Jene negativen Tugenden die man den adeligen Damen zuschrieb charakterisieren auch Perraults Stiefschwestern.

139 Perrault, 2017. S.95 140 Ebd. 141 Ebd. 142 Ebd.S.96 143 Ebd. 144 Ebd. 145 Vgl. Mazenauer/Perrig, 1995, S. 241 146 Vgl. Grimm, Jürgen: Die französische Klassik. Stuttgart: J.B. Metzler, 1999. S. 125 147 Vgl. Fénelon, François de Salignac de La Mothe: Über die Erziehung der Mädchen. Für den Schulgebrauch und das Privatstudium bearbeitet. mit einer Einleitung von Fr. Schieffer. Paderborn: Schöningh, 1905. URL: Über%20die%20Erziehung%20der%20Mädchen%20(2).pdf [letzter Aufruf am 04.03.1019] 148 Vgl. ebd. S. XIII. 41

[…] Sie sprachen über nichts anderes als Mode […] Sie ließen die beste Putzmacherin kommen, die ihnen die Hauben richten mußte, und kauften von den besten Schönheitspflästerchen.[…] und sie standen fortwährend vor dem Spiegel.149

Die Stiefschwestern klatschen fortwährend über Mode und Schönheit, lästern und haben Freude daran ihre ergebene Schwester zu schikanieren. Die Figur der Cucendron oder Cendrillon ist den eitlen Stiefschwestern konträr gegenübergestellt. Sie ist rechtschaffend und fleißig, selbst wenn sie das Fest des Prinzen besucht, kehrt sie vor Mitternacht nach Hause zurück und vernachlässigt auch nicht ihre niedrigen Dienste. Die treue Cendrillon ist auch in keiner Weise rachsüchtig und nachtragend, sie vergibt ihren boshaften Schwestern und verhilft ihnen zu einer guten Partie. Perrault etikettiert diese Tugendhaftigkeit aber,

[…] nicht mit frommer „Güte“ öder bürgerlichem „Fleiß“ und schon gar nicht mit „Einfalt“ im Sinne der geistlichen Hausmagd, […] vielmehr verwendet er dafür den zeitgemäß modischen Begriff der Anmut („bonne grace“)150

Dieser Begriff umfasst äußere wie innere Schönheit, sowie das richtige Gespür in Sachen Geschmack und drückt damit die eigentliche Überlegenheit gegenüber ihren Stiefschwestern aus: „[…] doch was gemeinhin Anmut heißt, ist unschätzbar und viel mehr wert […] Aschenputtel war in seinen schlechten Kleidern hundertmal schöner als seine Schwestern, obgleich sie so prächtig gekleidet waren.“151 Perrault bezeichnet „Anmut“ als eine „Gabe aus dem Feenreich“, die durch „Erziehung und den Lehren einer Patin“152 gewonnen werden kann. Damit begibt er sich in den Bereich der Pädagogik, Fenelon benutzt in seinem Erziehungsbuch nahezu die gleichen Worte:

Wahre Anmut bedarf keines eitlen und gesuchten Putzes […]. Wahre Anmut kann nur mit dem Natürlichen, nie mit dem Naturwidrigen bestehen.153

1699 erschien von Fenelon ein didaktisch-fiktionaler Roman, der im 18. und 19. Jahrhundert zu einem vielgelesenen Jugendbuch in Frankreich avancierte. In „Die Abenteuer des Telemach“ beschreibt er die idealtypische Frauenfigur Antiope. Er stattet sie mit den Attributen schweigsam, bescheiden, zurückgezogen, fleißig, geschickt, sorgfältig, sittsam, verantwortungsbewusst, naiv, unschuldig, anspruchslos und natürlich aus. Besonders anziehend wird sie dadurch, „daß sie […] selbst nicht einmal weiß, wie schön sie ist“. 154 Noch viel deutlicher ist der pädagogische und erzieherische Anspruch bei D`Aulnoy in Finette Cendron zu bemerken. Wenn Finette Cendron ihrer hilfreichen Patin gegenübertritt, knickst sie erst dreimal, küsst den Saum ihres Kleides und überreicht ihr ihre Gastgeschenke. Erst dann erbittet sie ihren Rat. Die Heldin wird von ihrer Patin zudem auf die Probe gestellt, indem sie ihr anweist ihre beiden boshaften Schwestern im Wald zurückzulassen. Dies bringt die herzensgute Finette natürlich nicht über ihr Herz. Deshalb hilft Merluche ihrem Patenkind auch weiterhin, da sie ihrer Güte wegen ihren Forderungen nicht folgte. D´Aulnoy bewegte sich wie bereits erwähnt in den für kulturelle und gesellschaftliche Impulse

149 Perrault, 2017, S. 96-97 150 Mazenauer/ Perrig, 1995, S. 242-243 151 Perrault, 2017, S. 96 u. S.104 152 Ebd. S. 104 153 Fenelon, 1905, S.52 154Vgl.: Fenelon, François de Salignac de La Mothe-Fénelon: Die Abenteuer des Telemach. Stuttgart: Reclam, 1998. 42 wichtigen Salons. Der Einfluss der Philosophie Descartes, nach dieser sowohl Frauen wie auch Männer mit dem gleichen Verstand ausgerüstet seien, war sicher Faktor für die Emanzipation der Frauen.155 Gemäß dem lässt d`Aulnoy ihrer Heldin eigenständigen Spielraum. Fenelon spricht sich in seinen „Ratgebern“ dezidiert für eine Erziehung und Bildung der Mädchen (der Aristokratie) aus, um den weiblichen Untugenden entgegenzuwirken.156 Vermutlich wurde auch deshalb eine beträchtliche Anzahl an Frauen, zu denen auch d´Aulnoy zählte, schriftstellerisch tätig. Dem gegenüber stand noch immer das streng reglementierte und etikettierte Leben am Hof von Versailles. Natürliche Anmut, Klugheit und offene Geselligkeit konnten sich eher in den Salons entwickeln. Darauf reagierte auch Perrault, sein junges, weibliches, aristokratisches Lesepublikum würde er mit der implizierten Moral in Cendrillon nicht wirklich überzeugen können, wenn es alleine auf Anmut ankäme, um Erfolg zu haben. Deshalb fügte er eine zweite Lektion an, in der er auf die Lehren einer Patin, somit einer einflussreichen Gouvernante verweist. Somit zeichnet er ein zwiespältiges Bild, das zwischen Erscheinungsideal und tatsächlicher Realität schwankt, welches in Cendrillon gut spürbar wird. Cendrillon absolviert die niedrige Hausarbeit mit Anmut, sie beherrscht die komplizierten Tänze und auch den „Small-Talk“ am Ball. Ihre „bonne grace“ bringt Schwung in die Langeweile von Versailles, da zunehmend nach neuen, lebendigeren Formen gesucht wurde, als den lebensfremden feudalen Vergnügungen. Perraults zweite Moral weist bereits auf eine gesellschaftliche Veränderung hin. Cendrillon ist gleichzeitig Sittengemälde und Kritik an einer Gesellschaft, die sich von Reichtum und Schein blenden lässt.157 2.6 Aschenputtel in den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm

Die Zuträgerin des Aschenputtel-Märchens ist namentlich nicht bekannt. Wilhelm fertigte im September 1810 im Elisabeth-Hospital in Marburg eine Niederschrift nach der Erzählung einer „alten Frau“ an. Diese ging aber verloren. Jakob sandte die Märchen- Manuskripte unter der Nummer 50158 an Bretano mit den Worten:

„Wie sie sehen hat der Wilhelm in Marburg wenig bekommen, nur die zwei letzten (Nr.50 und 51) worunter doch das vorletzte sehr hübsch und merkwürdig.“159

2.6.1 Aschenputtel (1812)- Erstdruck

1812 wurde die Erzählung unter der Nummer 21 erstmals in den Kinder- und Hausmärchen publiziert. Hier befindet sich ein erster und zweiter Anhang, indem sie erwähnen mit den Fassungen Basiles, Perraults und d`Aulnoys bekannt zu sein. Die Brüder Grimm nehmen hier auch das Motiv des Wunderbäumchens auf, das auch schon bei Basile erscheint. Während es

155 Vgl. Grimm, 2005, S. 127 156 Vgl. Fenelon, 1905, S. 55 157 Vgl. Hiergeist, Theresa: "Der gestiefelte Kater" und sein kulturgeschichtlicher Transformationsprozess (anhand von Charles Perrault, den Gebrüdern Grimm und Janosch). Lyon: Hrsg. Marie-Laure Durand, 2010. URL: http://cle.ens- lyon.fr/allemand/litterature/mouvements-et-genres-litteraires/jeunesse-et-contes/der-gestiefelte-kater-und-sein- kulturgeschichtlicher-transformationsprozess-anhand-von-charles-perrault-den-gebrydern-grimm-und-#section-13 [letzter Aufruf am 10.03.2018] 158 Grimm: Kinder und Hausmärchen. Die handschriftliche Urfassung von 1810. Hrsg. und kommentiert von Heinz Rölleke. Stuttgart: Reclam, 2007. S. 92. In der handschriftlichen Urfassung von 1810 wird das Aschenputtel-Märchen lediglich mit dem Titel erwähnt und unter KHM 50 gelistet, allerdings folgt dem keine Erzählung. 159 Ebd. S. 138 43 bei Basile ein Dattelbäumchen ist, handelt es sich bei den Grimms um ein nicht näher definiertes „Bäumlein“160. Dieses gibt die Mutter dem Mädchen bevor sie stirbt,

[…] liebes Kind, ich muß dich verlassen, aber, wenn ich oben im Himmel bin, will ich auf dich herabsehen, pflanz ein Bäumlein auf mein Grab, und wenn du etwas wünschest, schüttele daran, so sollst du es haben, und wenn du sonst in Noth bist, so will ich dir Hülfe schicken, nur bleib fromm und gut.

Hier kümmert sich keine Fee um das Mädchen, sondern es ist die Mutter selbst. Das Mädchen gießt das Bäumchen mit seinen Tränen. Der Vater heiratet abermals und die Stiefmutter bringt wie schon bei Basile und Perrault Stiefschwestern mit in die Ehe, die als „[…] von Angesicht schön, von Herzen aber stolz und hoffährtig und bös“ beschrieben werden. Sie quälen das Mädchen fortan und weisen ihm den Platz neben dem Herd in der Asche zu. Wieder gibt der König einen Ball. Aschenputtel muss den Schwestern helfen sich für den Ball herzurichten, darf selber aber nicht daran teilnehmen. Anstelle dessen gibt stellt sie ihr scheinbar unlösbare Aufgaben. Sie muss an jedem der drei Abende Hülsenfrüchte verlesen. Am ersten sind es Linsen, an den zweiten Wicken und am dritten Erbsen. Jedes Mal erhält sie dabei Hilfe von den Tauben, die in dem „Bäumlein“ brüten. Die erste Ballnacht kann sie nur vom Taubenschlag aus beobachten. Am darauffolgenden Tag raten ihr die Tauben zum Grab der Mutter zu gehen, das Bäumlein zu schütteln und sich schöne Kleider zu wünschen. Sie wird so ausgestattet, dass „es so schön wie eine Rose“ war. Wie schon in Perraults und d`Aulnoys Erzählung weisen sie die Tauben an vor Mitternacht wieder zu Hause zu sein. Angekommen am Ball hält sie der Prinz für eine fremde Prinzessin, tanzt mit ihr und denkt bereits an eine Heirat: „Er gedachte auch bei sich: „ich soll mir eine Braut aussuchen, da weiß ich mir keine als diese“. Es wird Mitternacht und Aschenputtel muss den Ball wieder verlassen.

Für so lange Zeit in Asche und Traurigkeit lebte Aschenputtel nun in Pracht und Freude; als aber Mitternacht kam, eh’ es zwölf geschlagen, stand es auf, neigte sich und wie der Prinz bat und bat, so wollte es nicht länger bleiben.

Der Prinz begleitet sie noch zum Wagen, zu Hause geht sie zum Grab der Mutter, gibt ihre Kleider dem Bäumlein zurück und „zog sein altes Aschenkleid an, damit ging es zurück, machte sich das Gesicht staubig und legte sich in die Asche schlafen“. Am nächsten Tag sind ihre Schwestern missmutig, da sie neidisch auf das schöne unbekannte Mädchen der letzten Ballnacht sind. Wieder muss ihnen Aschenputtel beim Herrichten für die Ballnacht helfen und abermals raten ihr die hilfreichen Tauben am Grab der Mutter das Bäumlein um schöne Kleider zu bitten. Aschenputtel erhält noch prächtigere als am Tag zuvor und wird mit einer Kutsche samt Dienstpersonal zum Ball gebracht. Wieder soll sie rechtzeitig vor Mitternacht zu Hause sein. In dieser Nacht tanz der Prinz allein mit Aschenputtel. Voraussehend ließ er die Treppe mit Pech bestreichen, da ihm das Mädchen nicht noch einmal entwische sollte. Aschenputtel vergisst fast die Zeit, sodass sie beim mitternächtlichen Glockenschlag erschrickt und mitten im Tanz davoneilt. Der Prinz läuft ihr nach, doch das einzige, das er noch vom Aschenputtel sieht ist ihr goldener Pantoffel, der in der Eile auf der Treppe kleben bleibt. Als die Glocke ausgeschlagen hat sind „Wagen und Pferde verschwunden und

160 Grimm: Kinder und Hausmärchen. Bd. 1, Große Ausgabe. Berlin: Realschulbuchhandlung, 1812. S.88-101. Alle folgenden kursiv und/ oder in Anführungszeichen gesetzten Passagen im Kapitel „Aschenputtel (1812) – Erstdruck“ und §Unterschiede im Erstdruck 1812 im Gegensatz zu den folgenden Auflagen“ entstammen dieser Literaturangabe (Anm. K.T.). 44

Aschenputtel stand in seinen Aschenkleidern auf der dunkeln Straße“. Sie geht zurück nach Hause, bald kommen auch ihre missgünstigen Schwestern nach, da der Prinz nach dem Verschwinden der Schönen das Fest beenden lässt. Dieser möchte nun unbedingt seine Prinzessin finden „und ließ bekannt machen, welcher der goldene Pantoffel passe, die solle seine Gemahlin werden“. Doch allen Mädchen war er viel zu klein, auch Aschenputtels Stiefschwestern. Diese verstümmeln sich sogar, eine hackt sich die Ferse ab, die andere die große Zehe, nur um in den Schuh zu passen. Beide werden von den Tauben verraten, die rufen:

„Rucke di guck, rucke di guck! Blut ist im Schuck: (Schuh) Der Schuck ist zu klein, Die rechte Braut sitzt noch daheim!“161

Der Prinz verlangt die dritte Tochter zu sehen, erst weigert sich die Stiefmutter: „Nein, sagte die Mutter, nur ein garstiges Aschenputtel ist noch da, das sitzt unten in der Asche, dem kann der Pantoffel nicht passen.“ Doch er besteht darauf und natürlich passt Aschenputtel der Schuh „Die Stiefmutter und die zwei stolzen Schwestern erschracken und wurden bleich, aber der Prinz führte Aschenputtel fort und hob es in den Wagen.“162

2.6.1.1 Unterschiede im Erstdruck 1812 im Gegensatz zu den folgenden Auflagen

Diese Version endet sehr abrupt mit der Entdeckung der rechten Braut. Nur die Tauben rufen noch ihren „Abschiedsvers“. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Stiefmutter oder Stiefschwestern ihre gerechte Strafe erfahren würden wie es sonst in den Märchen der Gebrüder Grimm üblich ist. In dieser Auflage des Märchens trauert der Vater länger als in den folgenden Fassungen um seine verstorbene Frau. Erst „als das Bäumlein zum zweiten Mal grün geworden war, da nahm sich der Mann eine andere Frau.“ Nach der Heirat verschwindet der Vater aus der Erzählung. Von da an muss das Mädchen auch den Platz neben dem Herd in der Asche einnehmen. Ebenso die Stiefmutter, die erst bei der Schuhprobe wieder ihre Rolle einnimmt. Gequält und verspottet wird Aschenputtel fortan von ihren Stiefschwestern. Der Charakter der Schwestern wird hier mehr ausdifferenziert. Als Aschenputtel gesteht, dass sie die erste Ballnacht vom Taubenschlag aus beobachten konnte, erfahren die LeserInnen, dass die jüngere Schwester empathischer ist:

Wie sie [die ältere Schwester] das hörte, trieb sie der Neid und sie befahl, daß der Taubenstall gleich sollte niedergerissen werden. Aschenputtel aber mußte sie wieder kämmen und putzen; da sagte die jüngste, die noch ein wenig Mitleid im Herzen hatte: „Aschenputtel, wenns dunkel ist, kannst du hinzugehen und von außen durch die Fenster gucken!

Als die Schwestern nach der zweiten Ballnacht von der schönen Prinzessin berichten, lügt Aschenputtel, sie gibt vor, dass sie in der Haustür stand und diese vorbeifahren sah. Eine lügende gute Heldin erscheint in keinem anderen Märchen der Brüder Grimm. Auch am nächsten Abend werden die Schwestern noch einmal von ihm getäuscht. Aschenputtel liegt

161 Grimm,2000, S.143 162Grimm, 1812, S.101 45 bereits im Bett stellt sich, als die beiden nach Hause kommen. Als es zur finalen Schuhprobe kommt, drücken ihre zierlichen und kleinen Füße symbolisch ihren edlen Charakter aus. Die Stiefmutter tritt noch einmal auf, doch weder sie noch die Schwestern werden bestraft. Der Vater ist vollkommen von der Bildfläche verschwunden.

2.6.2 Aschenputtel (1819)

Wilhelm Grimm milderte 1819 die Erniedrigung des Aschenputtels etwas ab, vermutlich da die Vorstellung einer „in der Asche wühlenden Heldin“ ein Bild suggeriert, das nicht mit dem reinen, unbefleckten Charakter des Mädchens in Einklang steht.163 Während es 1812 noch hieß:

„Wenn es müd war Abends kam es in kein Bett, sondern mußte sich neben dem Heerd in die Asche legen. Und weil es da immer in Asche und Staub herumwühlte und schmutzig aussah, gaben sie ihm den Namen Aschenputtel.“ 164 redigiert Wilhelm diese Passage 1819 folgendermaßen:

Abends, wenn es müd war, kam es in kein Bett, sondern mußte sich neben dem Heerd in die Asche legen. Und weil es darum immer staubig und schmutzig aussah, nannten sie es Aschenputtel.165

In dieser Auflage kommen dem Vater und der Stiefmutter bedeutendere Rollen zu, die Stiefschwestern dagegen rücken mehr in den Hintergrund. Der Vater verheiratet sich auch früher als in der Fassung von 1812:“Der Schnee aber deckte ein weißes Tüchlein auf das Grab [von Aschenputtels Mutter], und als die Sonne es wieder herabgezogen hatte, nahm sich der Mann eine andere Frau.“ Auch hier sind es die Stiefschwestern, die Aschenputtel ihren Namen geben, sie verspotten und erniedrigen es. Zusätzlich wird 1819 eine ganz neue Episode eingefügt. Der Vater geht auf Reisen fragt erst seine beiden Stieftöchter nach deren Wünschen und danach Aschenputtel. Die beiden Schwestern wünschen sich „Kleider, Perlen und Edelsteine“, Aschenputtel hingegen, „das erste Reis, das euch auf eurem Heimweg an den Hut stößt“. Aschenputtel geht,

[…] damit zu seiner Mutter Grab und pflanzte es darauf und weinte so sehr, daß das Reis von seinen Thränen begoßen ward. Es wuchs aber und ward ein schöner Baum. Aschenputtel ging alle Tage dreimal darunter, weinte und betete und allemal kam ein Vöglein auf den Baum und gab ihm, was es sich wünschte.

Diesmal sind es nicht die Schwestern, die Aschenputtel verbieten am dreitägigen Fest des Königs teilzunehmen, sondern die Mutter:

Du Aschenputtel, sprach sie, hast nichts am Leib und hast keine Kleider und kannst nicht tanzen und willst zur Hochzeit!

163 Vgl. Feustl, 2017, S. 314 164 Grimm, 1812, S.88 165 Grimm: Kinder- und Hausmärchen Bd.1 Große Ausgabe. Berlin: G. Reimer, 1819. S. 114-123. Alle kursiven und/ oder in Anführungszeichen gesetzten Textteile im Kapitel „Aschenputtel (1819)“ sind dieser Quelle entnommen (Anm. K.T.). 46

Als das Mädchen weiterbittet doch hingehen zu dürfen, schikaniert sie die Mutter, indem sie binnen zwei Stunden Linsen aus der Asche verlesen haben sollte. Wieder helfen dem Mädchen die Tauben. Nach verrichteter Arbeit bittet sie die Mutter erneut, doch sie wird wieder abgewiesen:

[…]es hilft alles nichts, du kommst nicht mit, du hast keine Kleider und kannst nicht tanzen und wir müßten uns nur schämen.

Somit wurde die Heldin nur hingehalten. In dieser Fassung entscheidet sie selber zum Grab der Mutter zu gehen und ihr Bäumchen um eine passende Ballausstattung zu bitten. Sie bekommt, „ein golden und silbern Kleid […] und mit Seide und Silber ausgestickte Pantoffeln“. Damit erscheint sie am Ball und wird weder von ihrer Stiefmutter noch den – schwestern erkannt, diese halten sie für ein „fremdes Königsfräulein […] so schön sah es in den reichen Kleidern aus“. Der Königssohn tanzt nur mit Aschenputtel und besteht auch darauf. Mit „das ist meine Tänzerin“, weist er andere Bewerber ab, die sie auffordern wollen. Als sie den Ball verlassen will, begleitet sie der Prinz, doch sie „entwischte ihm aber und sprang in das Taubenhaus“. Aschenputtels Vater wird gerufen und schlägt das Taubenhaus entzwei. Es kommt ihm zwar der Gedanke, dass das unbekannte Fräulein Aschenputtel sein könnte, er verwirft diesen aber wieder. Aschenputtel ist bereits geflüchtet und hat sich zum Schlafen wieder neben den Herd gelegt. Am folgenden Tag scheint sie schon eingesehen zu haben, dass sie den Ball nicht besuchen darf. Sie bittet nicht mehr darum und muss auch keine unmöglichen Aufgaben erledigen. Als, “ die Eltern und Stiefschwestern wieder fort waren, ging Aschenputtel zu dem Haselbaum“ und bittet abermals um eine Ausstattung. Sie erhält „ein noch viel stolzeres Kleid […] als am vorigen Tag“. Die Gäste sind erstaunt über ihre Schönheit, der Prinz wartet bereits auf sie, er besteht wieder darauf, nur mit ihr zu tanzen. Abermals möchte er herausfinden, wer das fremde Fräulein sei und begleitet sie, doch, „es sprang ihm fort und in den Garten hinter dem Haus. Darin stand ein schöner, großer Birnbaum voll herrlichem Obst, auf den stieg es gar behend und der Königssohn wußte nicht, wo es hingekommen war“. Wieder lässt er den Vater kommen und wieder stellt der Vater eine kurze Überlegung an, ob das fremde Mädchen nicht Aschenputtel gewesen sein könnte. Er fällt den Baum, doch vergeblich. Aschenputtel liegt wie gewöhnlich bereits an seinem Platz am Herd. Am dritten Abend wiederholt sich der Ballbesuch noch einmal. Sie erhält ein noch aufsehenerregenderes Kleid, ihre Erscheinung erstaunt die Ballgäste und den Prinzen noch mehr. Dieser möchte nun unbedingt herausfinden wir das unbekannte Mädchen sei. Darum lässt er die Treppe mit Pech bestreichen. Als Aschenputtel nun wiederrum den Ball flink verlässt, verliert sie einen ihrer Pantoffel auf der Treppe. Der Prinz geht nun zu Aschenputtels Vater und verkündet, dass er jenes Mädchen, dem der Schuh passt, zu seiner Frau nehmen werde. Die Stiefschwestern sind hocherfreut und schrecken auch vor der Verstümmelung ihrer Füße nicht zurück, da diese nicht in den Pantoffel passen. Ihre Mutter steht ihnen bei dieser Verstümmelung hilfreich zur Seite. Wieder werden die Schwestern von den Tauben verraten, indem sie dem Prinzen verraten, dass noch ein Mädchen im Haus sei:

„rucke di guck, rucke di guck, Blut ist im Schuck (Schuh), der Schuck ist zu klein, die rechte Braut sitzt noch daheim.“

47

Er verlangt diese zu sehen. Vater und Stiefmutter möchten es ihm verweigern: „Nein, […] „nur von meiner verstorbenen Frau ist noch ein kleines garstiges Aschenputtel da, das kann aber nicht die Braut seyn.“ Doch das Mädchen muss geholt werden:

Da wusch es sich erst Hände und Angesicht rein, gieng dann hin und neigte sich vor dem Königssohn, der ihm den goldenen Schuh reichte. Nun streifte es den schweren Schuh vom linken Fuß ab, setzte diesen auf den goldenen Pantoffel, und drückte ein wenig, so stand es darin, als wär er ihm angegossen. Und als es sich aufbückte, erkannte er es im Angesicht und sprach „das ist die rechte Braut!“

Stiefmutter und -schwestern erschraken, der Prinz nimmt Aschenputtel auf sein Pferd, die Rufe der Tauben bestätigen diesmal, dass Aschenputtel die rechtmäßige Braut sei. Diese Version wurde mit der Strafe an den Schwestern ergänzt. Beiden Stiefschwestern, die der Trauung in der Kirche beiwohnen, werden von den Tauben die Augen ausgepickt: „und waren sie also für ihre Bosheit und Falschheit mit Blindheit auf ihr Lebtag gestraft.“ Damit endet das Märchen. Eigenartigerweise werden weder der Vater noch die Mutter für ihre Vergehen bestraft. Sprachlich ist diese Version flüssiger geraten.

2.6.3 Aschenputtel (1837)

Die dritte Auflage bleibt weitgehend unverändert im Vergleich mit der Fassung von 1819. Es werden lediglich Veränderungen in der Orthografie und geringfügig im Satzbau vorgenommen. Erwähnenswert ist, dass Aschenputtel bisher als „Unnütz“ bezeichnet wurde: „Was will der Unnütz in den Stuben, “, nun wird es von den Stiefschwestern als „Geschöpf“ bezeichnet: „Was soll das Geschöpf in den Stuben“166.

2.6.4 Aschenputtel (1857)

Die Ausgabe von 1857 ist jene „letzter Hand“. Hier sind nur geringfügige Änderungen im Ausdruck zu finden. Das Aschenputtel wird von den Stiefschwestern nun als „dumme Gans“ bezeichnet: „Soll die dumme Gans bei uns in der Stube sitzen!“167In dieser Fassung nehmen sie dem Mädchen nicht nur ihre schönen Kleider weg und geben ihm stattdessen einen „grauen alten Kittel“168, sie muss zudem noch „hölzerne Schuhe“ tragen. Verspottet wird sie dann mit den Worten: „Seht einmal die stolze Prinzessin, wie sie geputzt ist!“. In dieser Fassung werden die beiden Stiefschwestern „stolz“ genannt, als sie sich mit der Stiefmutter auf den begeben: „Darauf kehrte sie ihm den Rücken zu und eilte mit ihren zwei stolzen Töchtern fort“169. Der Vater nennt seine Tochter nun nicht mehr „garstig“, wenn der Königssohn darauf besteht seine dritte Tochter sehen zu wollen, sondern bezeichnet sie als „ein kleines verbuttetes Aschenputtel“, das noch „von [seiner] verstorbenen Frau“ sei. „Verbuttet“170 beschreiben Jacob und Wilhelm Grimm in „ihrem“ deutschen Wörterbuch als „körperlich

166 Grimm: Kinder und Hausmärchen. Große Ausgabe. Bd. 1. Göttingen: Dieterichsche Buchhandlung, 1837. S. 137-146 167 Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand. Mit einem Anhang sämtlicher nicht in allen Auflagen veröffentlichten Märchen. Hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart: Reclam, 1997. S 137-144. 168Ebd. 169 Ebd. 170Vgl. Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854-1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971.[pdf] URL: http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/genFOplus.tcl?sigle=DWB&lemid=GV00706 [letzter Zugriff 28.02.2019] 48 und geistig zurückbleiben“171. Darin wird auch ein Verweis auf Aschenputtel angeführt. In den Ausgaben von 1819 und 1837 nennt der Vater sie ein „garstiges Aschenputtel“. „Garstig“ hingegen beschreiben die Brüder als „verdorben, ranzig, faulig, stinkend“172, im Wörterbuch wird dazu der Verweis auf einen Küchenjungen173 gegeben.

2.6.5 Charakter und Genese der Heldin von 1812-1857

Das erniedrigte Aschenputtel wirkt genügsam und herzensgut. Ihr frommes Wesen wird durch die Kontrastierung mit den eitlen und herzlosen Stiefschwestern betont. Zum Ausdruck kommt dies zum ersten Mal, als der Vater auf Reisen geht und seine Töchter nach ihren Wünschen befragt. Aschenputtel wünscht sich lediglich „ein Reis“, während ihre Stiefschwestern nach materiellen Dingen verlangen. Die Gleichsetzung von gutem Charakter und bescheidenem Verhalten ist typisch für das Menschenbild in den Grimm`schen Märchen.174 Durch Wilhelm Grimms kunstvolle Ausschmückungen und Eingriffe treten zusätzliche religiöse Tendenzen auf. Die Mutter des Mädchens verspricht Aschenputtel am Sterbebett eigene, sowie Gottes Unterstützung, die, vor allem die göttliche Hilfe, einen frommen und demütigen Lebenswandel voraussetzt: „liebes Kind, bleib fromm und gut, so wird dir der liebe Gott immer beistehen, und ich will vom Himmel auf dich herabblicken, und will um dich sein.“175Die Figur des Aschenputtels wird von einer durchdringende Frömmigkeit bestimmt: „Aschenputtel gieng alle Tage dreimal darunter [zum Grab der Mutter], weinte und betete[…]“176.Dadurch erscheint das Mädchen noch unschuldiger. Aschenputtels Kindheit und frühen Jugendjahre werden bestimmt durch ihre über den Tod hinaus bestehende Verbindung mit der Mutter, dem Ausgeschlossen sein aus der eigenen (wenn auch neuen) Familie und intensiver Hausarbeit. Auf den ersten Blick suggeriert dies Einsamkeit und Trostlosigkeit. Tatsächlich entwickelt sie in „dieser Phase der Besinnung auf sich selbst formvollendet ihre Weiblichkeit aus“177. Durch ihre Arbeit im Haus erwirbt sie praktische Fertigkeiten und muss lernen rational und ökonomisch zu agieren. Damit ist sie ihren untätigen Stiefschwestern gegenüber im Vorteil, da Aschenputtel dadurch bereits eine gereifte Persönlichkeit entwickelt hat. Als der Prinz einen Ball ausrichten lässt um eine Ehefrau zu finden trifft sie ihre eigene Entscheidung daran teilnehmen und den Prinzen für sich zu erobern. Obwohl ihr der Besuch des Balls verboten und durch Schikanen erschwert wird, setzt sie alles daran dennoch teilnehmen zu können. Nach der ersten Ballnacht handelt sie noch sehr unüberlegt und erzählt ihren beiden Schwestern, dass sie vom Taubenhaus aus das Balltreiben beobachtet habe. Als Konsequenz wird ihr auch das bloße Zuschauen untersagt. Um dennoch an der zweiten Ballnacht teilnehmen zu können werden ihr in der Erstausgabe von 1812 noch von den Tauben Anweisungen gegeben wie sie das bewerkstelligen könne. In der folgenden überarbeiteten Auflage von 1819 tilgt Wilhelm jede Zögerlichkeiten Aschenputtels. Sie geht aus freiem Willen und ohne jede Ratschläge zum

171 Vgl. Ebd. 172 Vgl.: Grimm, Jacob und Wilhelm, 1854. URL: http://woerterbuchnetz.de/DWB//wbgui_py?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GG01276#XGG01276 [letzter Aufruf am 28.02.2019] 173 Vgl. ebd. 174 Vgl. Feustel, 2017, S.317 175 Grimm, 2017, S. 137 176 Ebd. 177 Feustel, 2017, S.317 49

Grab ihrer Mutter und bittet um eine angemessene Ballausstattung. Außerdem nimmt sie in dieser und allen weiteren Auflagen an allen drei Ballnächten teil. Sie agiert dabei äußerst selbstständig und selbstbewusst. In der Version von 1812 narrt sie die Schwestern zudem noch, indem sie vorgibt die schöne, fremde Königstochter gesehen zu haben, als ihr die Schwestern verdrossen berichteten, dass der Königssohn nur mit ihr getanzt hätte. Sie gibt vor, in der Haustüre gestanden zu haben und sie vorbeifahren gesehen zu haben. Es ist anzunehmen, dass Aschenputtel ihre Freude daran hatte ihre missgünstigen Schwestern zu täuschen, da sie selbst die begehrenswerte Schöne war. Wilhelm strich diese Passage bereits 1819, vermutlich deshalb, weil Charakterzüge wie Hinterlist, Verlogenheit und Schadenfreude nicht der Vorstellung einer guten Heldin entsprechen. Aschenputtel agiert weiterhin raffiniert, um den Prinzen für sich zu gewinnen. Sie verlässt die Ballnacht jedes Mal sehr abrupt, ohne dem Königssohn ein Wiedersehen in Aussicht zu stellen. Geschickt beherrscht sie das Spiel zwischen Zuwendung und des „sich rar Machens“. Dem Königssohn, der zu diesem Zeitpunkt bereits großes Interesse für sie entwickelt hat, erscheint sie dadurch noch begehrenswerter. Obwohl sie den Prinzen erobern möchte, verhält sie sich ihm gegenüber zu keinem Zeitpunkt unterwürfig, sondern behält fest die Fäden in der Hand. Aschenputtel ist sich ihrer weiblichen Reize und Schönheit und ihrer damit einhergehenden Macht vollends bewusst und bedient sich dieser geschickt. Wilhelm ließ Aschenputtel von Auflage zu Auflage mehr „erstrahlen“. „Als es in dem Kleid zu der Hochzeit kam, wußten sie alle nicht was sie vor Verwunderung sagen sollten“178Max Lüthi beschreibt dieses Phänomen als „Schönheitsschock“179, dieser tritt dann ein, wenn ein Mann vollends in den Bann einer Frau gezogen wird, wenn dessen einziges Ziel ist, diese eine Frau für sich zu gewinnen. 180 Unmissverständlich stellt der Prinz in jeder Ballnacht klar, dass sie seine alleinige Tänzerin ist. Aschenputtel lässt dem Prinzen sogar die Standesunterschiede vergessen, so sehr ist er ihr bereits hingegeben. Er läuft ihr buchstäblich nach, erst glaubt er sie im Taubenhaus zu finden, dann im Birnbaum und zuletzt folgt er ihr in ihr bürgerliches Heim. Der Prinz lässt auch ihren Vater holen bei der Suche nach dem überstürzten Abgang des Mädchens. Dieser hegt bereits eine stille Vermutung, dass jene unbekannte Schöne seine Tochter sein könnte. Doch auch ihn täuscht Aschenputtel, als sie ihm gegenübersteht ist sie wieder nichts als seine unschuldige, fleißige und unscheinbare Tochter. Diese Täuschungsmanöver sind sicher ungemein anstrengend. Sie muss abwarten bis ihre Familie das Haus verlassen hat, dann erst kann sie sich für die Ballnacht zurechtmachen. Jedes Mal muss sie rechtzeitig vor allen anderen wieder zu Hause sein und ihre Rolle als Aschenputtel einnehmen. Scheinbar ist ihr bewusst, dass sie den Prinzen erst emotional an sich binden muss, bevor sie ihre wahre Identität preisgeben kann, damit er sie trotz der Standesunterschiede heiraten wird. Aschenputtel hat den Spieß völlig umgedreht. Die wettbewerbsähnlichen Ballnächte, auf denen der Prinz unter vielen „heiratswütigen“ Kandidatinnen eine hätte erwählen sollen, sind nun umgekehrt zu einer Probe für den potentiellen Thronfolger geworden. Scheinbar möchte Aschenputtel ganz sicher sein, dass die Absichten des Prinzen ernst sind, sodass er ihre tatsächliche Stellung und Identität akzeptiert. Möglicherweise hat Aschenputtel auch Gefallen an ihrer nun mehr mächtigen Position durch ihre doppelte beziehungsweise versteckte Identität. Im Erstdruck lässt Wilhelm noch den Prinzen diese Maskerade beenden, indem er Aschenputtels Schuh mittels

178 Grimm, 2000, S.142 179 Lüthi, M.: Das Volksmärchen als Dichtung: Ästhetik und Anthropologie. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1990. S.12 180 Vgl. ebd. 50 einer geschickten Initiative in Besitz nehmen kann. Er ließ die Treppe mit Pech bestreichen, wo der Schuh in der Eile kleben blieb: „Aschenputtel war froh, daß es nicht schlimmer gekommen war, und ging nach Haus […] und legte sich in die Asche.“181Gemäß einer frommen Tochter reinigt sie sich von der leidenschaftlichen Begegnung mit Asche. In den folgenden Auflagen strich Wilhelm dieses Reinigungsritual. Dies lässt annehmen, dass Aschenputtel vielleicht ganz absichtlich ihren Schuh verloren hat.

Aschenputtel ist auf ihre Art die verkörperte Rätselprinzessin: Sie gibt dem Prinzen nicht mit Worten, sondern schon als Erscheinung ein Rätsel auf, das er schließlich, und wieder nicht mit Worten, sondern durch Handeln, zu lösen weiß.182

Als es zur finalen Schuhprobe kommt und der Prinz bereits ihr Zuhause betreten hat, spielt sie ihr Katz` und Maus`-Spiel raffiniert weiter. Der Königssohn muss sich erst qualifizieren. Sie hält sich hinterlistig im Verborgenen, ihr ist bewusst, dass der Königssohn auf der Suche nach ihr ist, dass sie diejenige ist, der der Schuh passt. Und dennoch lässt sie dieses grausame Schauspiel aufführen. Vermutlich kann sie die Verstümmelungen ihrer Stiefschwestern sogar beobachten, da aus dem Märchentext zu schließen ist, dass sie sich in unmittelbarer Nähe aufhielt: „[…] Aschenputtel mußte gerufen werden. Da wusch es sich erst Hände und Angesicht rein, gieng dann hin und neigte sich vor dem Königssohn, der ihm den goldenen Schuh reichte.“183Trauriger Begleitumstand ihres kalkulierten Gängeln des Prinzen ist, dass sich ihre Stiefschwestern wohl für den Rest ihres Leben nur mehr eingeschränkt fortbewegen werden können, und das dadurch auch deren Heiratsaussichten mit einer vorteilhaften Partie deutlich beschränkt wurden. Resümierend betrachtet ist die Figur des Aschenputtels eine äußerst ambivalente. Sie gibt sich fromm, bescheiden und fleißig, andererseits beeindruckt sie das aristokratische Leben so sehr, dass sie scheinbar bereit ist alles dafür zu tun um dazuzugehören. Sie betet drei Mal täglich, dennoch bricht sie das Versprechen der Mutter und damit das christliche Verbot Vater und Mutter zu ehren.184 Sie organisiert sich ein betörendes Erscheinungsbild „ein golden und silbern Kleid […] mit Seide und Silber ausgestickte Pantoffeln“.185Ein geeignetes Blendwerk sozusagen, denn blenden wird sie im weiteren Verlauf das gesamte Figurenarsenal der Erzählung: die Stiefschwestern, die Steifmutter, selbst ihren leiblichen Vater und den begehrten Königssohn. Diametral ist ihrem frommen Charakter mangelnde Integrität entgegengesetzt. Gleichzeitig zeichnet sie sich durch Mut, Entschlossenheit, Klugheit, Reife und Intuition aus, um ihre persönlichen Ziele zu erreichen.

2.7 Der Aschenputtel-Stoff im 20. und 21. Jahrhundert

Nicht nur als Buchmärchen, sondern auch als, „ Bilderbogen, Kolportageliteratur und andere Medien […]“186fand der Aschenputtel-Stoff wie kein anderer enorme Verbreitung. Max Lüthi schrieb dazu:

181 Grimm, 1812, S.88-101. 182 Lüthi, Max: Es war einmal. Vom Wesen des Volksmärchens. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2008. S. 101. 183 Ebd. 184Vgl. Feustl, 2017, S.327 185 Ebd. 186 Scherf, Walter: Lexikon der Zaubermärchen. Stuttgart: Kröner, 1982. S. 9 51

In welchem Maße und in welcher Weise die Funktion des in der mündlichen Tradition nicht mehr lebendigen Volksmärchen von seinen Erben (Buchmärchen, Kunstmärchen, Trivialroman, Film, comics, science fiction u. ä.) und von anderen Erzählgattungen […]übernommen worden ist, diese Frage ist gestellt, aber erst in Ansätzen beantwortet worden.187

2.7.1 Das Aschenputtel in Oper, Ballett und Dramaturgie

Gestützt auf Perraults Version schrieb Carlo Goldoni 1760 bereits das Libretto 1760 für die erste Aschenputtel-Oper „Buona Figliuola- La Cecchina“ (dt. die gute Tochter). 1870 folgte Giacomo Rossinis Oper , ossia La bontà in trionfo“ (dt. „Der Triumph der Herzensgüte“), der Wagnerianer Jules Massenet komponierte 1899 die Oper „Cendrillon“, Johann Strauß 1901 das Ballett “Aschenbrödel“, Sergei Prokofieff schließlich „Soluschka“ 1945188, die als die bekanntesten gelten. Katalin Horn sieht in der zunehmenden Produktion von Märchenopern eine Antwort auf die Verunsicherung der damals vorherrschenden gesellschaftspolitischen Gegebenheiten. Die staatliche Umorganisation von der Monarchie zur Republik setzte den Akzent auf das demokratische, zuversichtliche Märchen mit seiner immanenten Wendung zum Guten.189 In Ludwig Bechsteins Bearbeitung 1847 hieß die Titelheldin Aschenbrödel, ebenfalls in einem Dramolett von Robert Walser 1901. Im Zentrum von Walsers Stück steht „190Walser konzipiert das Märchen neu, er lässt Aschenputtel aufbegehren, sie möchte gar nicht Prinzessin werden bis die Kunstfigur des Märchens auftritt und ihm nahelegt, dass es gar keine Wahl habe: „Das Märchen will´s. Das Märchen ist´s gerad, das uns verlobt will sehn.“191Die Heldin gibt sich geschlagen und erweist dem Märchen ihre Dienste.192

2.7.2 Das Aschenputtel in der filmischen Bearbeitung im 20. Jahrhundert

Das Aschenputtel-Märchen steht nicht nur an oberster Stelle aller bisher verfilmten Märchenstoffe, sondern auch am Beginn dieser filmhistorischen Entwicklung. 193 1899 wurde das Märchen von Georges Melies erstmals verfilmt. Er gestaltete den visuellen Stil des Films nach den Stichen von Gustave Doré, der bereits Perraults Märchen illustriert hatte. 1916 wurde das Märchen von Urban Gad verfilmt, mit Asta Nielsen als Aschenputtel. Nadeshda Koschewerowa führte Regie im sowjetischen Märchenfilm Soluschka 1947. Die Sowjetunion hatte durch den 1. und 2. Weltkrieg mit 20 Millionen Toten die höchsten Verluste erlitten. Dazu kamen Hunger, materielle und existentielle Nöte und unfassbares menschliches Leid. Das Bedürfnis nach hoffnungsvollen und mutmachenden Bildern war in jener Zeit besonders groß. Der Aschenputtel-Stoff bot all das, eine Waise, die der ärmlichen und beschwerlichen häuslichen Tristesse durch die Heirat eines wohlhabenden Ehemannes entkommen kann,

187 Lüthi, Max: Märchen. Stuttgart: Metzler Verlag, 1990. S.104 188 Vgl. Diederichs, 1995, S. 34. 189 Vgl. Horn, Katalin: Über das Weiterleben der Märchen in unserer Zeit. S.41 In: Kahn, Walter (Hrsg.) Märchen-Stiftung: Die Volksmärchen in unserer Kultur. Berichte über Bedeutung und Weiterleben der Märchen. Hanau: Haag und Herchen, 1997. S. 25-71. . 190 Derungs, Martin: Robert Walser Aschenbrödel. URL: https://www.gianotti.ch/robert-walser-aschenbroedel/[letzter Zugriff am 03.03.2019] 191 Walser, Robert: Aschenbrödel. URL: http://www.gianotti.ch/wp-content/uploads/2017/01/Robert-Walser- ASCHENBR%C3%96DEL-der-Text.pdf [letzter Aufruf am 03.03.2019] 192 Vgl.ebd. 193 Vgl. Jörg, Holger: Die sagen- und märchenhafte Leinwand: Erzählstoffe, Motive und narrative Strukturen der Volksprosa im klassischen deutschen Stummfilm (1910-1930). Berlin: Pro Universitate, 1994. S. 251 52

„diente den Menschen als Kompensation für die erbärmliche Realität ihres Lebens“194. Dennoch erhielt der Spielfilm eine vernichtende Kritik: „Das Grimm`sche Märchen in einer vergröbernden, theatralischen und aufdringlich didaktischen Verfilmung, die der Vorlage nicht gerecht wird.“195

2.7.3 Walt Disney´s Cinderella (1950)

Ebenfalls wenige Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges, 1950, begeisterte Walt Disney´s Cinderella nach einer sehr frei interpretierten Version nach Perrault das Publikum. Nicht selten wird Disneys Trickfilm-Cinderella mit der Grimm´schen Protagonisten aus Mangel an Quell- und Sachkenntnissen gleichgesetzt.196 Jane Yolen beschreibt in ihrem Aufsatz „American Cinderella“, wie deren ursprünglich aktive Rolle in eine passive verwandelt wurde:

The American "Cinderella" is partially Perrault's. The rest is a spun-sugar caricature of her hardier European and Oriental forbears, who made their own way in the world, tricking the stepsisters with double-talk, artfully disguising themselves, or figuring out a way to win the king's son. The final bit of icing on the American Cinderella was concocted by that mastercandy-maker, Walt Disney, in the 1950s. Since then, America's Cinderella has been a coy, helpless dreamer, a "nice" girl who awaits her rescue with patience and a song. This Cinderella of the mass market books finds her way into a majority of American homes while the classic heroines sit unread in old volumes on library shelves.197

Disney schuf dazu eine ganze Industrie, die das kindliche Verständnis der Märchenfigur nachhaltig beeinflusste. Es folgten Bilderbücher, Puppen, Poster, Cartoons und schließlich baute er in Disneyland Cinderellas Schloss.198 Bis heute prägt Disney´s Version selbst unter KritikerInnen der Grimm´schen Märchen fälschlicherweise das verallgemeinerte Bild der Heldin.199Disney`s Märchengestalt wird im Originaltext als, „[…] lovedby everyone […] sweet, kind and gentle“200charakterisiert. Kay Stone schreibt in ihrem Aufsatz „Things Walt Disney never told us“, dass die popularisierten Heldinnen nicht nur „passiv“ und „schön anzusehen“, sondern auch duldsam, fleißig und ruhig sein müssen. Eine Frau, die diese Eigenschaften nicht besitzt, darf keine Heldin werden. Auch Aschenputtel wurde, bevor sie in Disney´s Rampenlicht trat, gesäubert und anständig gekleidet. 201Eine weitere Schablone, die Disney über alle seine weiblichen Protagonistinnen legt, ist die,

194 Feustel, 2017, S.308. 195Soluschka: Lexikon des Internationalen Films. URL:https://www.filmdienst.de/suche/filme?searchText=Soluschka&isPost=True [letzter Aufruf am 03.03.2019] 196 Vgl. Feustel, 2017, S. 309. 197 Yolen, Jane: America's "Cinderella". In: Writing and Reading Across the Curriculum, 7th Edition. Laurence Behrens and Leonard J. Rosen, 2001. S.1. URL:http://wsufairytales.pbworks.com/w/file/fetch/72318587/Yolen%20Article.pdf [letzter Aufruf am 03.03.2019] 198 Vgl. Diederichs, 1995. S.35 199Vgl. Feustel. 2017, S.309. 200 Disney, R.H.:Cinderella. USA: Golden, 2005 201 Vgl. Stone, Kay: Thing Walt Disney never told us. In: The Journal of American Folklore, Vol.88, Nr.347. Woman and Folklore. Illinois: University of Illinois Press on behalf of American Folklore Society, 1975. S.42-50. 53

des unschuldigen jungen Mädchens, welches von einer reifen und ehrgeizigen älteren Frau bedroht wird. Dennoch entwickelt die Heldin sich nicht zu einer reifen, positiven Figur, sondern überläßt, geduldig wartend, dem Prinzen ihre Errettung.202

Linda Degh führt den bis heute anhaltenden, ungebrochenen Erfolg von Walt Disneys Cinderella darauf zurück, dass die Heldin perfekt das vorherrschende amerikanische Weiblichkeitsideal erfüllt. Frauen waren in Nordamerika und Europa nach den beiden Weltkriegen aus juristischer Perspektive mit ihren Männern nahezu gleichberechtigt. Sie erhielten Zugang zu Universitäten und durften arbeiten gehen. Dies bedingten die Kriegssituation und der Mangel an Arbeitskräften, da die Männer im Krieg gefallen oder verwundet waren. Zudem wurde die Arbeit im Haushalt durch technische Innovationen erleichtert. Valerie Bryson spricht sogar von einem neuen Zeitalter, in dem die meisten Frauen die Erfüllung im Haushalt finden würden203, „from which drudgery had been removed“204. Eine kleine Minderheit (von Frauen) „könnte“ auch Karriere machen, wenn sie dies wollten. Es scheint als ob fortan die Hausarbeit wie von selbst von der Hand ginge, ohne jegliche Anstrengungen. Die Frau der 1950er Jahre sieht dabei auch noch blendend aus und ist stets bester Laune. Diese Erwartungen an die Frau spiegelt auch Disneys Cinderella wider. Seine Figuren sind im Gegensatz zu einem „echten“ Märchen mit Namen ausgestattet, die auch deren Charakter und Position beschreiben. Der Film ist von Anfang an fern jeder Realität. Cinderella muss auf Anweisung ihrer bösen Stiefmutter das ganze Haus blitz und blank putzen. Sie erledigt dies quietschvergnügt und singend, weder jammert sie, noch widersetzt sie sich, sie bleibt „schön“, selbst ihre Hände sehen aus, als wären sie stets frisch manikürt. Durch ihre Tugenden – Fleiß, Demut, Güte, Bescheidenheit, Selbstlosigkeit – steht ihr die Hilfe der guten Patin zu, die ihr zu dem passenden Ballkleid verhilft. Nicht das Verbot der Stiefmutter hindert Disneys Märchenfigur am Besuch des Balls, sondern lediglich die fehlende Ballgarderobe. Tiere spielen auch in der Version Disneys eine Rolle, aber nicht wie im Grimm´schen Märchen, indem deren Hilfe die Schikanen der Stiefmutter hervorheben, sondern in einer verkitschten Form. Sperlinge und Mäuse werden mit Mützchen und Jäckchen bekleidet und erhalten menschliche Attribute. Der Kater der Stiefmutter ist boshaft wie diese. Sie bleibt selbst in dieser Situation verständnisvoll und nimmt ihre zukünftige Mutterrolle bereits vorweg, sie behandelt, “her child positively. […] and prevent misbehaviour (she develops a sixth sense like radar that operates all day […]) “205 Cinderella hat durch ihr Geschick im Haushalt und den liebevollen Umgang mit den Tieren ihren Wert als gute Hausfrau und Mutter bewiesen und sich damit als geeignete Ehefrau für den Prinzen qualifiziert. Ganz so wie es sich die Mutter des Prinzen erhoffte: „There must be at least one who would make a suitable mother […] a suitable wife! “206 Ihr Ballkleid wird mithilfe der Mäuse und Vögel geschneidert, wird jedoch von den boshaften Stiefschwestern zerrissen, also muss ihre gute Fee eines herbeizaubern. Sie verdreht auf dem Ball dem Prinzen den Kopf, der sich aber genauso passiv verhält wie sie selber. Nicht er sucht nach ihr, sondern sein Vater der König lässt nach ihr suchen, um sie als die rechtmäßige Braut zu identifizieren. Danach fahren beide in der Hochzeitskutsche davon, während die Mäuse Reis werfen. Weder die Stiefmutter noch die –schwestern erhalten eine Strafe.

202 Stone, Kay: Walt Disney (Walter Elias). In: Bausinger, Hermann (Hrsg.): Enzyklopädie des Märchens. Bd.7: Berlin/ New York: de Gruyter, 2008. S.701-704. 203 Bryson, Valerie: Feminist Political Theorie. Hondmills/Basingstoke/Hampshire:Macmillan, 1992. S. 148 204 Ebd. 205 Spock, Benjamin: Dr Spock Talks with Mothers. Growths and Guidance. London: The Bodley Head, 1954. S. 106. 206 Walt Disney`s Cinderella. Regie: Clyde Geronimi, Wilfred Jackson, nach dem Märchen von Charles Perrault, Drehbuch von Bill Peet. USA, 1950. 54

Linda Degh konstatiert, dass Aschenputtel die prototypische Heldin der amerikanischen Erfolgsstory - „rags to riches“- sei, da sie von der wundersamen Verwandlung eines armen, unbedeutenden Individuums erzählt, deren Lebensführung sich streng an den christlichen Werten orientiert und geduldig seine alltäglichen, nicht sehr glamourösen Pflichten, verantwortungsbewusst verrichtet, bis dieses eines Tages überraschenderweise, außerordentliches Glück oder Erfolg hat, wodurch es zum Star der amerikanischen Gesellschaft aufsteigt. Cinderella gelingt dieser Statuszuwachs durch eine Heirat mit einem einflussreichen Partner.207Jane Yolen sieht in Disney´s Cinderella die Aufsteigerstory nicht:

It is part of the American creed, recited subvocally along with the pledge of allegiance in each classroom, that even a poor boy can grow up to become president. […] "Cinderella" is not a story of rags to riches, but rather riches recovered; not poor girl into princess but rather rich girl (or princess) […] The wrong Cinderella has gone to the American ball.208

Dieser Cinderella-Figur ist von Anfang an der Weg geebnet, sie verhält sich vollkommen passiv und übernimmt auch keinerlei Eigenverantwortung.

[…]Cinderella herself is a disaster. […] She answers her stepmother with whines and pleadings. She is a sorry excuse for a heroine, pitiable and useless. She cannot perform even a simple action to save herself,[…] she is "off in a world of dreams." Cinderella begs, she whimpers, and at last has to be rescued by--guess who—the mice! 209

Die „richtige“ Cinderella muss „hardy, helpful, inventive“ sein, für Yolen erzählt diese Version den falschen Traum, dessen Magie nicht verstanden wurde und wahre Bedeutung verloren gegangen sei.210 Noch bedenklichere Worte findet Betty Friedan, die darauf hinwies, dass die damit suggerierten Erwartungen an die Frau fatale Folgen haben könnten:

If we continue to produce millions of young mothers who stop their growth and education short of identity, without an strong core of human values to pass on to their children, we are committing, quite simply, genocide, starting with the mass burial of American woman and ending with the progressive dehumanization of their sons and daughters.211

2.7.3.1 Vergleich der Cinderellas von Walt Disney mit einer zeittypischen Interpretation von Ludwig Emil Grimm

Auch die Darstellung von Walt Disneys Cinderella steht in klarem Kontrast zu Grimms Aschenputtel, die seinerzeit von Ludwig Emil Grimm um 1825 in einem Kupferstich interpretiert wurde.

207 Feustel, 2017., S. 309-310 208 Yolen, 2001, S.1 u. 2. 209 Ebd. S.6. 210 Vgl. ebd. 211 Friedan, Betty: The Feminine Mystique. London: Penguin, 2010. S.38. 55

Abb.1 Abb.2

Disney`s animierte, “ stark stilisierte Cinderella folgt einigen evolutionsbedingten Grundregeln, die als unbewusste Signale für Jugendlichkeit und weibliche Fruchtbarkeit sprechen“,212 ihre ebenmäßige Züge werden von blonden Locken umrahmt, sie hat hohe Wangenknocken, eine fein geschwungene Nase, leicht geöffnete Lippen, blaue Augen mit langen Wimpern. Lutz Röhrich schreibt von „glotzäugigen Gesichtern“, die „Bescheidenheit, Verlegenheit oder Verletzlichkeit“ ausdrücken. In der Tat schwankt Cinderella zwischen Naivität und aufreizend präsentierter Fraulichkeit213.Ihr Körper gleicht der einer Barbiepuppe: lange Beine, wohlgeformtes Hinterteil und gut proportionierter Busen. Grimms Aschenputtel erinnert an das Eschengrüdel von Kayersberg. Er stellt eine junge Frau mit demütig gesenktem Blick in einem dunklen Raum dar. Ihre Lippen sind sittsam geschlossen, sie hat eine markante Nase, ihre dunklen Haare streng nach hinten geknotet und ihre Kleidung umhüllt vollständig ihren Körper. Diverse Gerätschaften wie Küchenutensilien, Eimer, Besen, Brennholz zeugen von ihrer mühevollen, alltäglichen Arbeit. Durch eine spitzbogige Tür ins Freie ist das Grab der Mutter mit dem Haselnussbaum zu erkennen. Zudem zeigt er eine Szene, die in Dinsney`s Adaption völlig fehlt: Die hilfreichen Täubchen, die dem Mädchen beim Verlesen der Linsen helfen. Einige picken bereits emsig, weitere fliegen ein.

2.7.3.2 Filmische Resonanzen auf Disneys Cinderella

Auf Walt Disneys dem Aschenputtel entfremdete Kitschfigur wurde unter anderem von Lotte Reininger reagiert. Sie bearbeitete den Aschenputtel-Stoff gleich zweimal, das erste Mal 1922214, wo sie sich an ein erwachsenes Publikum richtete, das zweite Mal 1953, wobei sie ihre Konzeption, als Antwort auf Disney`s verengenden Blickwinkel, für Kinder formuliert. Sie

212Feustl, 2017. S. 310 213 Röhrich, Lutz: „und weil sie nicht gestorben sind…“Anthropologie, Kulturgeschichte und Deutung von Märchen. Wien/ Köln: Böhlau, 2002. S.4 214 Cinderella. A fairy film in shadow by Lotte Reininger. Verse von Humbert Wolfe. Bernstein Theatres Ltd, 1922. URL: https://www.youtube.com/watch?v=S8WcPiHoP6A&list=PL7C5UDxYRrFp_drhSYiPJste7QwGKx3IT&index=9 [letzter Aufruf am 03.03.2019] 56 nützt als Vorlage die Fassung Perraults, fügt aber eigenständig weitere Motive dazu, so zum Beispiel eine Kellertür215, da Aschenputtel von den bösen Stiefschwestern weggesperrt wird um nicht an der Schuhprobe „teilnehmen“ zu können.1922 reißt sich die Stiefmutter selbst vor Wut in zwei Stücke, 1953 verzichtet sie auf Gewalt. Die beiden missgünstigen Schwestern fallen in Ohnmacht, da sie das Glück Aschenputtels nicht fassen können;

Die Ohnmacht ist das Ergebnis zu eng geschnürter Kleider, die selbstauferlegten Zwängen gleichzusetzen sind. In ihrer Eitelkeit und Geltungssucht erkennen die Mädchen nicht, dass sie sich durch falsche Ideale selbst im Weg stehen.216

Ihre Bearbeitung lässt durch die Silhouetten-Technik mehr Raum für eine freie Interpretation seitens der Betrachterinnen. Die tägliche Plackerei im Haushalt ist wie bei Disney´s Bearbeitung kaum nachzuempfinden. Insgesamt erscheint die Heldin dennoch empathischer und aktiver.

Weiter reagierte auch 1960 mit in der Hauptrolle mit der Komödie „“ (Aschenblödel) auf Disney´s Cinderellaboom .217

2.7.4 Das Aschenputtel in den 1980er Jahren

Disney´s Aschenputtel in den 1950er Jahren suggerierte die Heirat mit einem einflussreichen Mann als die oberste Priorität einer Frau für ein glückliches Leben. In den 1980er und 90er Jahren diente der Aschenputtel-Stoff immer noch als Anregung für filmische Bearbeitungen. Bonnie Bianco und Julia Roberts schlüpften in die Rolle einer modernen Cinderella der sogenannten Yuppie-Ära.

2.7.4.1 Cinderella 80´

Bonnie Bianco verkörperte die - schon ihr Name verweist auf das Aschenputtel - in der vierteiligen Fernsehserie Cinderella 80`. Der Aschenputtel-Stoff wird 1984 für ein Teenager- Publikum als Pop-Märchen inszeniert. Die 18-jährige Cindy – eine begabte Sängerin und Tänzerin - lebt gemeinsam mit ihren arroganten Stiefschwestern, ihrer ständig nörgelnden Stiefmutter und ihrem Vater, einem italo-amerikanischen Pizzabäcker, in Brooklyn. Ihre Stiefmutter lässt kaum eine Gelegenheit aus, um Cindy spüren zu lassen, dass sie „nur“ der unliebsame Fehltritt ihres Vaters ist. Im Gegensatz zu den üblichen Aschenputtel- Versionen hält der Vater zu Cindy und bestärkt sie in ihrem Talent als Musikerin. Die Stiefmutter plant eine Reise nach Rom, damit ihre beiden leiblichen Töchter dort ihr Studium abschließen können, primär möchte sie aber Ausschau nach potentiellen Heiratskandidaten aus elitären Kreisen für diese halten. Noch am Flughafen lernt Cindy Mizio, einen Musiker, kennen. Die beiden verlieben sich ineinander. Die Mutter ist gegen die Beziehung, sie bezeichnet Mizio als „Gammler“. Nach einem Streit brennt Cindy mit Mizio durch, doch auch hier kommt es zu einem Konflikt, worauf sie ihn verlässt. Enttäuscht kehrt Cindy zu Stiefmutter und ihren

215 Vgl. Schwab, Olga: Lotte Reinigers Aschenputtel (1922) versus Cinderella (1953/54). URL: https://publikationen.uni- tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/46956/pdf/04_Schwab.pdf?sequence=1&isAllowed=y [letzter Aufruf am 03.03.2019] 216 Tews, Julia: Darstellung von Märchen im Animationsfilm. 2006. URL: Die%20Darstellung%20von%20Märchen%20im%20Animationsfilm.pdf [letzter Aufruf am 03.03.2019]. S. 32 217 Cinderfella. Regie und Drehbuch von Frank Tashlin. Produktion: Ernest D. Glucksmann und Jerry Lewis. USA, 1960. 57

Schwestern zurück, für die sie nun als billiges Dienstmädchen arbeiten muss, jedoch nicht ohne aufzubegehren und ihren Unmut zu zeigen. Als Patin fungiert hier eine benachbarte Wahrsagerin mit der sie sich angefreundet hat. Cindy hat Erfolg als Pop-Sängerin und trifft Mizio wieder. Als es zum finalen Ball bei der aristokratischen Familie Gheradeschi kommt, trifft Cindy auf Mizio. Sie wusste nicht, dass Mizio eigentlich Michele Eudizio heißt und ein Prinz aus dem Hause Gheradeschi ist. Wie es sich für Aschenputtel gehört flüchtet sie zunächst, da sie enttäuscht und wütend ist, da er sie wegen seiner wahren Identität belogen hatte, aber nicht ohne einen silbernen Schuh zu verlieren. Mizio findet seine Cindy und es kommt zu einem Happy- End. 218 In diesem Vierteiler sind alle wichtigen Aschenputtel-Motive, sowie dessen Charaktere versammelt. Aller Realitätsferne, jeglichem Kitsch, übertriebenen theatralischen und unglaubwürdigen Szenen mit dementsprechenden Dialogen zum Trotz hat sich das Frauen- und auch Männerideal sichtbar verändert. Cindy stellt eine sehr selbstbewusste, spontane, übermütige und entschlossene junge Frau dar, die weder den männlichen Beschützer braucht noch einen geeigneten Ehepartner sucht. In einer Szene „scheuert“ sie sogar einem Polizisten eine, da er sie betatscht habe. Sie setzt sich zur Wehr, lässt sich von nichts und niemanden beirren, sondern möchte ihr Talent nutzen und Pop-Sängerin werden. Allerdings ist auch diesem Aschenputtel weder die Leidensrolle als „billiges, gedemütigtes Dienstmädchen“ abzunehmen, noch ist sie duldsam. Mizio stellt ebenfalls einen selbstbewussten und eigenständigen Charakter dar, der allem Standesdünkel trotzt und auch seinen eigenen Weg gehen möchte. In zwei Szenen gibt es dennoch Verweise auf seine adelige Herkunft und ihn als verwöhnten Spross auszeichnen. Einmal ist er beim Fechten im königlichen Palast zu sehen und ein zweites Mal als er seine Mutter um eine ungewöhnlich hohe Menge Lira bittet. Typisch märchenhaft ist die extrem herausgearbeitete Kontrastierung von Gut und Böse. Bemerkenswert zu erwähnen bleibt allerdings, dass Mizio infolge eines Streites Cindy eine Ohrfeige gibt, über die einfach hinweggesehen wird. Auch tat dies seinem Beliebtheitsgrad in der Rolle des Prinzen wie als Schauspieler Pierre Cosso keinen Abbruch:

Ich mag den Film sehr. Ich habe ihn als Kind oft gesehen und liebte auch besonders immer das Titellied ...und Mizio auch ;D(Tessa)219

Cinderella 80 hatte sich meine Tochter zum Geburtstag gewünscht […] (Klaus)220

[…] Gefallen ist gar kein Ausdruck, einfach nur Klasse. Und für Liebhaber der 80er ein muss.(Sandra)221

Angesichts dessen bleibt die offene Frage, ob in den 1980er Jahren körperliche Gewalt gegen Frauen als gesellschaftlich akzeptabel galt. Den vielfältigen Kritiken und Rezensionen – vor allem von Frauen - schien diese schnulzige Liebesromanze der 1980er Jahre Teenie Generation „auf den Leib“ geschrieben. Hier ist festzustellen, dass wohl jede Generation

218 Cinderella 80`: Regie und Produktion von Roberto Malenotti, Drehbuch von Ottavio Alessi/Roberto Malenotti/ Ugo Liberatore / Charles Crysta, Italien und Frankreich, 1984. 219 KundInnenrezessionen zu Cinderella 80`: https://www.amazon.de/dp/B00029MM78?_encoding=UTF8&isInIframe=0&n=284266&ref_=dp_proddesc_0& s=dvd-de&showDetailProductDesc=1#product- [letzter Aufruf am 15.03.2019] 220 Ebd. 221 Ebd. 58

„ihr“ Aschenputtel hat (braucht).

2.7.4.2 Pretty Woman (1990)

Eine zweite (scheinbar) selbstbestimmte Aschenputtel-Figur mit dazugehörigem typischem Arsenal und Motiven findet sich in dem 1990 produzierten Hollywoodfilm „Pretty Woman“222. Die attraktive, langmähnige, rotgelockte Vivian lebt unabhängig von ihrer Familie gemeinsam mit ihrer Freundin und Kollegin Kit in Los Angeles. Beide verdienen sich ihren Lebensunterhalt als Prostituierte. Vivian und Kit wirken selbstbewusst, sie setzen sich gegen fiese Zuhälter zur Wehr, dennoch wirken beide verletzlich und verloren. Vivian stammt aus einer Familie der unteren Gesellschaftsschicht aus Georgia, sie geht mit einem Mann gegen den Willen ihrer Eltern nach Los Angeles. Als dieser sie verlässt, sorgt sie für ihr Auskommen als Prostituierte, da sie nicht mehr zu ihrer Familie zurückkehren will. Sie lernt Edward Lewis, ihren Prinzen, einen sehr reichen und attraktiven Geschäftsmann kennen. Er bucht Vivian für eine Woche als seine Begleitung. Sie fasziniert Edward mit ihrem natürlichen Charme und ihr unbeschwerten, kindlichen Art. Dennoch schreibt er ihr vor, wie sie sich benehmen soll. Beim Fernsehen kritisiert er ihr „Herumgezappele“, beim Gehen ihr „Schlenkern“. Sie passt sich still seinen Vorstellungen an und lernt sich wie eine Dame zu benehmen, um den gesellschaftlichen Codes der Elite zu entsprechen. Dazu muss sie auch ihren Kleidungsstil verändern. Edward überlässt ihr seine Kreditkarte und schickt sie auf den schicken Rodeo Drive zum Einkaufen. Dort wird sie allerdings von zwei Verkäuferinnen, denen die Rolle der Stiefschwestern zukommt, herablassend behandelt. Barney, der Hotelmanager, der in der Rolle der Patin oder guten Fee fungiert, greift ein und sorgt dafür, dass sie zuvorkommend behandelt wird. Er ist es auch, der sie mit der gesellschaftlichen Etikette vertraut macht und ihr die richtige Verwendung des Bestecks für ein Geschäftsessen, bei dem sie Edward begleiten soll, beibringt. Vivian lässt sich vollkommen von Edwards Vorstellungen umgestalten. Zwei Männer, Edward und Barney, sorgen dafür, dass Vivian sich dem Habitus der Elite anpasst. Ihre äußere Verwandlung bedingt auch ihre innere. Aufgrund dieser antrainierten damenhaften Attitüden geht ihr unbeschwertes, kindliches Wesen verloren. Durch die Modifikation ihres Kleidungsstils verändert sich auch ihre Persönlichkeit. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass Vivians Identität von ihrem äußeren Erscheinungsbild und den Erwartungen und Wünschen der Männer abhängig ist. Scheinbar ist es wichtig, dass die gute Heldin, „in einem nach herrschendem Maßstab „schöne Frau“ [umgewandelt] wird 223“. Nach ihrer Transformation richten sich ihre Befindlichkeiten ganz nach Edwards Bedürfnissen. Als sie standesgemäß gekleidet ist, rächt sie sich an den beiden Verkäuferinnen, die sie einst so herabwürdigend behandelten. Zudem erkennen sie Vivian erst gar nicht, ihr ergeht es wie Aschenputtel, die auf dem Ball von ihren Schwestern ebenfalls nicht erkannt wird. Es gibt drei markante Höhepunkte in dem Film, in dem Vivian Edward und seine Businesspartner, Bekannten und Freunde mit ihrer Schönheit, Ausstrahlung und natürlichen Anmut in ihren Bann zieht, sowie es in der klassischen Aschenputtel-Erzählung drei Ballnächte gibt. Das erste Mal bei einem geschäftlichen Abendessen, bei dem sie auch Edwards Kontrahenten mit ihrem natürlichen Charme begeistern kann. Edward zieht sich danach zurück, er ändert seine Perspektive, ihm ist nun das persönliche Schicksal seiner

222 Pretty Woman: Regie: Garry Marshall, Drehbuch: J. F. Lawton, Produktion: Arnon Milchan/Steven Reuther. USA; 1990. 223 Rainer, Alexandra: Hollywoods märchenhaftes Frauenbild: der Einfluss von Märchen und Mythen auf das Frauenbild im Hollywoodfilm der 80er und 90er Jahre. Europäische Hochschulschriften. Bd. 68. Bern: Peter Lang, 1997. S. 98 59

Kontrahenten wichtiger, als sein wirtschaftlicher Profit. Er spielt in der Lobby alleine Klavier, Vivian sucht ihn, beide gestehen sich ihre Hingezogenheit zueinander ein. Ein zweites wesentliches Ereignis ereignet sich bei einem Polospiel. Edwards rücksichtsloser Partner möchte wissen, wo er Vivian kennengelernt habe, während er beobachtet wie sie sich mit einem seiner Kontrahenten unterhält, und reagiert eifersüchtig. „Seine Tänzerin“ fasziniert offensichtlich auch andere Männer. Edward macht seine Besitzansprüche geltend, indem er sie demütigt Morse erzählt, dass sie eine Prostituierte sie. Vivian flüchtet, sie ist verletzt, da sie sich bereits in ihn verliebt hat. Edward hält sie zurück und entschuldigt sich. Am Abend besuchen sie eine Opernvorstellung. Edward bekommt abermals den nach Lüthi bezeichneten „Schönheitsschock“. Er ist hingerissen von ihrer eleganten Erscheinung und ihrer sensiblen Reaktion. Verdis Oper „La Traviata“ erzählt von der gesellschaftlich geächteten Kurtisane Violetta Valery, die letztendlich an den Folgen einer unerwiderten Liebe und Tuberkulose stirbt. Vivian ist zu Tränen gerührt. Beide, Vivian und Edward, erkennen, dass sich ihre Beziehung über ein bloßes Geschäftsarrangement hinausentwickelt hat. Edward hat sich in sie verliebt, ist allerdings noch nicht bereit zu dieser Liebe zu stehen. Da er es nicht über das Herz bringt sie gehen zu lassen, hat ihr ein Appartement gekauft und will für ihren Lebensunterhalt aufkommen. Vivian ist dies zu wenig, sie möchte mehr, er hat Angst sich tiefer einzulassen. Sie verlässt ihn nach der gemeinsam verbrachten Woche, Edward bittet sie für eine weitere Nacht zu bleiben, doch sie lehnt ab. Sein Chauffeur bringt sie zurück in ihre Wohnung. Beide können nicht zurück in ihr altes Leben, Edward ändert seine Geschäftsstrategien, Vivian will den Schulabschluss nachholen. Wieder greift der Hotelmanager als hilfreiche Fee ein. Als Edward ihn bittet das für Vivian ausgeborgte Collier zurückzugeben, meint er das Schmuckstück betrachtend, dass es „sicher sehr schwer sei“ etwas so Wertvolles gehen zu lassen. Er gibt ihm auch den Hinweis, dass sein Chauffeur Vivian nach Hause gebracht hätte. Edward fährt zu ihr und steigt über die Feuerleiter, trotz seiner Höhenangst, in ihr Appartement und fragt sie was sie machen würde, nachdem der Prinz gekommen sei, worauf sie antwortet, dass sie sein Leben rettet. Die zwischenmenschlichen Beziehungen werden in Pretty Woman sehr viel differenzierter als in den vorangegangen Bearbeitungen und in der Märchenvorlage dargestellt. Einst braucht der Königssohn noch eine Königin, in den 1950er Jahren eine Hausfrau und Mutter und nun eine attraktive Begleiterin für Geschäftstermine und gesellschaftliche Verpflichtungen. Auch der Retter-Königssohn, dessen Charakter einst gar nicht weiter beleuchtet wurde, gewinnt nun in den 1980er Jahren an Kontur. Er stellt einen klassischen Workaholic dar, seine Beziehungen zu Frauen bezeichnet er als grundsätzlich kompliziert, kann kaum Gefühle zeigen, spontan reagieren oder sich entspannen. Hier hilft ihm Vivian weiter. Edward macht in dieser Woche eine deutliche Verwandlung durch. Mit ihr spricht er über Gefühlen, nimmt sich sogar einen freien Tag und sorgt damit für Verwunderung bei seinem Partner Morse. Auch Vivian verändert sich. Im weiteren Handlungsverlauf verliert Vivian analog zu ihrem sozialen Aufstieg ihre einstige Unabhängigkeit, sie lässt sich verunsichern und zweifelt an sich. Sie braucht Edward, der ihr eine Identität gibt. Damit ist die Aussage von Pretty Woman klar: Alle Verbesserungen im Leben einer Frau, hier Vivians, werden von einem Mann in Aussicht gestellt. Edward bietet ihr finanzielle Absicherung und eine Identität, Barney lehrt sie das richtige Verhalten. Vivian und ihre Freundin Kit schaffen es nicht sich gegenseitig zu helfen. Selbst hier befindet sich Edward in der Retter-Rolle, indem er auch Kit indirekt unterstützt, da ihr Vivian Anteile aus dem Edward-Lewis-Fond zur Verfügung stellt. Zusammenfassend kann interpretiert

60 werden, dass weibliche Macht begrenzt ist, Rettung und wirkliche Hilfe kann nur von einem Mann kommen.224

2.7.5 Aschenputtel in Literatur und Film im 21. Jahrhundert - Shades of Grey (Trilogie, 2011-2017)

Shades of Grey ist eine erotische Roman-Trilogie, verrissen als „mommy porn“225, der britischen Autorin Erika Leonard alias E.L. James. Der erste Teil erschien 2011 und stieg beinahe über Nacht in den Bestseller-Himmel auf. 2015 und 2017 erschienen Band zwei und drei. Weltweit wurden mehr als 100 Millionen Exemplare verkauft, von keiner anderen Taschenbuchserie gingen jemals zuvor so viele Exemplare über den Ladentisch.226 Die Übersetzungsrechte wurden in 37 Länder verkauft.2272015 wurde der erste Teil der-Trilogie als „Fifty Shades of Grey“ verfilmt, 2016 folgten die Dreharbeiten zu „Fifty Shades of Grey – Gefährliche Liebe“ und „Fifty Shades of Grey – Befreite Lust“228. Die Filme liefen 2017 beziehungsweise 2018 in den Kinos an. Die Romantrilogie spielt in Seattle und Portland. Der erste Teil wird aus der Perspektive der 21jährigen Literatur-Studentin Anastasia Steele erzählt, die zu Beginn der Handlung noch Jungfrau ist. Sie lernt den attraktiven, erfolgreichen und vermögenden 27jährigen Milliardär Christian Grey kennen. Sie empfindet zum ersten Mal in ihrem Leben intensives sexuelles Verlangen, auch Christian fühlt sich zu ihr hingezogen, allerdings nicht bedingungslos. Er erklärt sich nur zu einer exklusiven Beziehung mit ihr bereit, wenn sie einen Vertrag unterschreibt, in dem sie einwilligt, seine Sub - die passive, unterwürfige Rolle in einer BDSM-Beziehung - zu werden. Also ausschließlich dann, wenn sie sich bereit erklärt, sich von ihm schlagen, fesseln und bestrafen zu lassen, dass sie ihm immer und jeder Zeit zur Verfügung steht, in seiner Gegenwart den Blick senkt, nur die Speisen und Getränke zu sich zu nehmen, die er erlaubt, die Kleidung zu tragen, die er vorgibt. Diese Punkte hält er alle in dem von ihm aufgesetzten Vertrag fest. Weiter dazu heißt es:

Die Sub dient dem Dom in jeglicher dem Dom als angemessen erscheinender Weise und bemüht sich dem Dom […]jederzeit Vergnügen zu bereiten […]229Du [sollst] dich mir freiwillig unterwerfen.230

Natürlich gibt es auch eine Verschwiegenheitsklausel in dem Vertrag. Im Zentrum der Trilogie stehen die Themen Herrschaft und Unterwerfung, die permanent ausgehandelt

224 Vgl. Wittmann, Gerda-Elisabeth: Aschenputtel und ihre Schwestern. Eine Kontrastierung des Grimmschen Aschenputtels von 1875 mit Aschenputtelerzählungen des 20. und 21. Jahrhunderts. Stellenbosch University, 2008. URL: https://core.ac.uk/download/pdf/37321029.pdf [letzter Aufruf am 03.03.2019] 225Kellogg, Carolyn: Bestselling 'mommy porn': '50 Shades of Grey'. In: Los Angeles Times (13.03.2012). URL: https://latimesblogs.latimes.com/jacketcopy/2012/03/bestselling-mommy-porn-50-shades-of-gray-.html [letzter Aufruf am 03.03.2019] 226Vgl. Charles, Ron: Fivty Weeks of „Shades of Grey“. In: Washington Post, 15.03.2013. URL: ttps://www.washingtonpost.com/news/arts-and-entertainment/wpshades/2013/03/15/fifty-weeks-of-fifty--of- grey/?noredirect=on&utm_term=.607f858d5398 [letzter Aufruf am 03.03.2019] 227Vgl. Bosnan, Julie: 10 Million Shades of Green: Erotic Trilogy Dominates Book Sales. In: The New York Times, 22.05.2012. URL: ttps://artsbeat.blogs.nytimes.com/2012/05/22/10-million-shades-of-green-erotic-trilogy-dominates-book-sales/ [letzter Aufruf am 03.03.2019] 228 Schumann, Rebecka: 'Fifty Shades Of Grey' Sequels Confirmed; Fans React To 'Fifty Shades Darker' And 'Fifty Shades Freed' Movie Announcement. In: International Business Times (02.06.2015]. URL: https://www.ibtimes.com/fifty-shades- grey-sequels-confirmed-fans-react-fifty-shades-darker-fifty-shades-freed-1807934 [letzter Aufruf am 05.04.2019] 229James, E.L.: Shades of Grey. Geheimes Verlangen. 9.Aufl. München: Goldmann, 2012. S.191. 230 Ebd. S. 115. 61 werden und am Ende in eine klassische Liebesbeziehung münden.

2.7.5.1 Anastasia Steele - das befreite Aschenputtel?

Als Anastasia und Christian sich im ersten Band kennenlernen, geht es vor allem darum ihre beiden Rollen zu definieren, als "dominant“ versus „devot“ und die Bedingungen auszuhandeln, um sicher zu stellen, dass er die Kontrolle behält. Am Anfang der Handlung verkörpert Anastasia eine durchschnittliche Frau. Sie führt im Gegensatz zu ihrer Mitbewohnerin Kate ein Mauerblümchen-(Aschenputtel)-Dasein. Sie ist unscheinbar, kleidet sich unvorteilhaft, ist unsicher, kaut auf ihrer Lippe, errötet bei jeder Gelegenheit, kommt aus bescheidenen Verhältnissen und ist konfus. Kate ist stilsicher, gerissen, kommt aus gutem Haus und ist wohlhabend. In ihren stummen Selbstgesprächen gewährt Ana den LeserInnen Einblick in ihre Selbstzweifel:

„In der Liebe habe ich mich nie so weit aus dem Fenster gelehnt. Das liegt an meiner lebenslangen Unsicherheit - ich bin zu blass, zu dünn, zu linkisch […]“231

Tatsächlich verlässt Ana am Ende des ersten Bandes Christian, da sie nicht bereit ist, sich seinen Bedürfnissen zu unterwerfen. In der kurzen Zeit mit Christian ist sie sich über ihre eigenen Bedürfnisse bewusst geworden und behauptet damit ihre eigene Autonomie.232 Christian gewinnt sie im zweiten Teil zurück, im dritten ehelicht er sie. Eine Beziehung, die damit begonnen hat, sie in eine „Sub“, eine „Sklavin“ zu verwandeln entwickelt sich zu einem Kampf um Anerkennung. Die emotionale Dynamik des Romans wird fortwährend dadurch bestimmt, dass Anas Autonomie und Greys Macht ihrer beiden Begehren und Unterwerfung unter den Willen des jeweils anderen auslösen, was dieses (Autonomie und Begehren) wieder verstärkt. Der Roman erfüllt eine Phantasie, in der Autonomie und Macht keinen Gegensatz zum Begehren darstellen, sondern dieses hervorrufen.233

2.7.5.2 Altmodische Botschaft in der BDSM-Trilogie – „Ragst to Riches“ 2012

Anas Unsicherheit verfolgt sie bis in den dritten Band. Sie kann es sich nicht erklären, wieso der begehrteste Junggeselle von ganz Seattle gerade sie auserwählt hat. An seiner Seite macht Ana eine wahre Metamorphose durch, wie einst Vivian in Pretty Woman, sie trägt teure, schicke Kleidung, immer anlassbezogen, entweder aufreizend, elegant oder leger, die ihr (von Christian engagierten) „personal-shopper“ für sie aussucht. Er kauft ihr selbstverständlich ein neues Auto und verkauft ihr altes ungefragt. Er rüstet sie mit Laptop, Smartphone und iPod aus, um sie jederzeit orten und kontrollieren zu können. Er nennt es beschützen. An seiner Seite steigt sie von der unbedeutenden Assistentin zur selbstsicheren Cheflektorin auf, da er kurzerhand die Firma aufkauft in der sie arbeitet. Aus dem bücherverschlingenden, unkomplizierten Mädchen, das beim Kochen unbeschwert singt, wird eine Frau, deren Leben sich ausschließlich um Mr. Grey zu dreht. Christian verleiht ihr eine völlig neue Identität. Weibliche Freundschaften spielen kaum eine Rolle. Als sie sich mit ihrer ehemaligen Mitbewohnerin verabredet, und ihm das nicht erzählt, bestraft er sie, indem er sich ihr verweigert. Sie besucht ihre Mutter, er steht plötzlich vor ihr. Ihre beruflichen Verpflichtungen und Termine muss sie dann absagen, wenn er es verlangt, sie

231 Ebd. S.60 232Vgl. Illouz, 2013, S.48 233 Vgl. ebd.S.49 62 abholt, mit ihr verreisen möchte. Plötzlich und ohne vorherige Absprache. Ana befindet sich in einer regelrechten „Standby-Postition“. Christian möchte besitzen. 1857 erklärte der Prinz: „Das ist meine Tänzerin“, Christian, hingegen sagt: „Sie sind alle verrückt nach dir. Sie wollen, was mir gehört.“234 „ Du bist mein Besitz“, „Ich will, dass du mir gehörst“, ist an unzähligen Stellen zu lesen. Ana ist der Prototyp der devoten, liebenden, sich aufopfernden, mütterlichen, häuslichen und stets freundlichen Frau (bei häuslichen Tätigkeiten trällert sie wie Disneys Cinderella). Christian Grey hingegen ist der Prototyp, des hedonistischen Mannes, der serielle Liebesbeziehungen pflegt. Seine Beziehung mit Ana wird immer wieder durch seine Ex-Subs gestört, von denen er bereits 15 vor ihr hatte. In seinem Luxusappartement ist ein Zimmer ausschließlich dem Sex, dem BDSM, gewidmet. Er nennt es „Kammer der Qualen“. Unweigerlich stellt dies eine Assoziation zu dem Blaubart-Märchen her. Unterstützt wird diese durch eine seiner Ex-Subs, die schwer traumatisiert zu sein scheint. Christian erklärt sich für bindungs- und liebesunfähig, steht darauf Frauen (im legalen Rahmen) Schmerzen zuzufügen, ist mächtig, wirtschaftlich wie gesellschaftlich und kultiviert. Er spielt Meisterwerke der klassischen Musik auf dem Klavier genau wie Edward aus „Pretty Woman“ und ist wie dieser auffallend attraktiv und potent.235 Ana hat es nicht leicht. Christian ist launenhaft und unnahbar. Ein Kindheitstrauma erfüllt ihn mit Selbsthass, doch Anas uneingeschränkte Loyalität, Unterwerfung und mütterliche Fürsorge bringen ihm seelische Heilung. „Christian […]lehrt Anastasia […] nicht nur einen luxuriösen Lebensstil, sondern kuriert sie auch“236. Er verschafft ihr eine neue (sexuelle) Identität und einen märchenhaften sozialen Aufstieg. Damit ist Ana die Verkörperung des Aschenputtels des 21. Jahrhundert, ihr Verhalten trägt sogar Züge des Eschengrüdels von Kayersberg. Anas Geschichte ist die Wunschvorstellung einer romantischen Liebe, die auf Charakterstärke und Entschlossenheit der Protagonistin basieren. Dieser Roman, der sich oberflächlich uneingeschränkt um Sex dreht, verbirgt eine altmodische Botschaft, nämlich, dass Charakter über Sexappeal triumphiert.237

2.7.5.3 Das Aschenputtel´sche Figurenarsenal in Shades of Grey

Interessanterweise tritt auch das gesamte Figurenarsenal aus Aschenputtel in „Shades of Grey“ auf: Ana ist der Inbegriff des Aschenputtels: sittsam und raffiniert; Christian der Traumprinz: erfolgreich, beschützend und sensibel. Die beiden Stiefschwestern werden von einer Ex-Sub verkörpert, die Ana bedroht, und einer Arbeitskollegin, die ihr ebenfalls böses will. Die mittlerweile gealterte Freundin von Christians Adoptivmutter, die ihn als 14-jährigen verführte, stellt die missgünstige Stiefmutter dar. Sie erklärt Ana darauf, dass sie Christian nie genügen wird. Von ihrem Vater erfährt Ana Unterstützung. Zu ihrer Mutter pflegt sie ebenfalls eine liebevolle Beziehung, doch diese lebt in großer räumlicher Entfernung von Ana, wie auch die Mutter Aschenputtels.

2.7.5.4 Von Frauen für Frauen- „Shades of Grey“ als Beziehungsratgeber?

234 James, E.L: Darker - Fifty Shades of Grey. Gefährliche Liebe von Christian selbst erzählt. Bd 2.München: Goldmann, 2017. S.131 235 Vgl. Illouz, 2013, S. 43 236 Vgl. Griemk, Julia: Eine literarische Magersuchttherapie. In: Frankfurter Allgemeine (13.11.2012]. URL: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/shades-of-grey-eine-literarische-magersuchttherapie-11958482- p2.html [letzter Aufruf am 03.03.2019] 237 Vgl. ebd. S.53 63

Shades of Grey ist von einer Frau für Frauen geschrieben, und wird zweifellos eher von Frauen als von Männern gelesen. Belegt wir dies durch die zahlreichen Kundenrezessionen, z.B. auf Amazon.

Ich habe mir alle drei Bänder bestellt und kann sie einfach nicht mehr aus der Hand legen. Ich bin immer wieder wenn mit dem letzten Band fertig zum Anfang zurück...... einfach nur herlich...[Yvonne]238

obwohl ich die Bücher teil 1-3 rauf und runter gelesen habe, bin ich erstaunt. das buch liest sich wieder unglaublich gut und christians Sicht ist so faszinierend, als ob ich ein anderes buch lese. ich finde ihn noch besser als den 1. teil aus christians Sicht. [Birgit]239

Es steht außer Frage, dass der Roman schlechte Literatur ist. Dennoch stellt sich die Frage, wieso er einen dermaßen bahnbrechenden Erfolg erzielte. Zum einen ist dies sicher darin begründet, dass Ana als „Frau Mustermann“ gleichsam ein Identifikationsobjekt für viele Frauen darstellt, „die insgeheim fürchten nicht einzigartig oder besonders genug zu sein.“240 Eine der Wunschvorstellungen, die James vorführt ist, dass Durchschnittlichkeit zu Exklusivität führen kann. Möglicherweise ist das auch der Grund, warum Greys zutiefst tyrannisches Verhalten nicht (oder kaum) negativ aufgenommen wird. Kritisch betrachtet ist er ein kontrollsüchtiger Freak. Sophie Morgan schreibt treffend, dass Shades of Grey kein Roman über BDSM und Lustgewinn sei, sondern “it's about abuse“.241 BDSM basiere Freiwilligkeit, Grey dagegen übe häusliche Gewalt sowohl physisch als auch psychisch aus.242 Anas ständig vorgeführter Autonomie konterkariert diese eher.243 Es gibt wohl Szenen, in denen sie sich mutig selbst verteidigt: ein Mann gegrapscht sie, sie gibt ihm eine Ohrfeige, genau wie die ehemalige Pop-Cindy in Cinderella 80`, und kommt ihrem Traumprinzen als Beschützer damit zuvor. James bringt die diversen mit der Sexualität einhergehenden Formen von Verunsicherung zur Sprache. Das Gefühl der Verliebtheit entsteht aus der sexuellen Freiheit, respektive der sexuellen Unterwerfung, nicht aus der Beziehung heraus.244 Es ist ein beständiger Kreislauf von Begehren und Verweigerung, letztendlich ein Ausloten der Macht. Durch die Thematisierung des BDSM verlagert James die emotionalen Unsicherheiten und Spannungen in den sexuellen Bereich und formuliert damit „eine zeitgenössische Liebesutopie […], die sich wie Phönix aus der Asche der Konventionen romantischer Leidenschaft erhebt“245.Die Autorin trifft den Nerv der Zeit und führt vor Augen, wie es um das heutige Liebes- und Sexualleben bestellt ist.246

239 Kundenrezensionen. URL: https://www.amazon.de/Fifty-Shades-Grey-Gef%C3%A4hrliche- Unmaskierte/dp/B073FVXCFP/ref=sr_1_1?keywords=Fifty+Shades+of+Grey&qid=1553531387&s=gateway&sr=8-1 [letzter Aufruf am 03.04.2019] 240 Vgl. Illouz, 2013, S. 53 241 Morgan Sophie: 'I like submissive sex but Fifty Shades is not about fun: it's about abuse'. In: The Observer (25.08.2012). URL: https://www.theguardian.com/society/2012/aug/25/fifty-shades-submissive-sophie-morgan [letzter Aufruf am 03.03.2019] 242 Ebd. 243 Vgl. Illouz. S.56 244 Vgl. ebd. S.39 245 Ebd. 246Ebd. 64

Es scheint, dass Anastasia Steel die Verkörperung des Aschenputtels der letzten Generationen, beziehungsweise Epochen ist. Sie weckt Assoziationen zu einer ganzen Variationsbreite von gedemütigten, aber unterschätzten Heldinnen, die uns bereits in Literatur und Film begegnet sind: sie senkt demütig den Blick wie Aseneth, ist ergeben wie das Eschengrüdel, ist entschlossen wie Aschenputtel, verkörpert den amerikanischen Traum wie Cinderella, verteidigt sich wie Cindy, erlangt eine neue Identität wie Vivian. Als befreite, autonome Heldin kann sie nicht überzeugen. Ihre Willenlosigkeit, die offensichtlich Liebe und Hingabe demonstrieren soll, zeigt die tiefgreifenden Strukturen der patriarchalen Gesellschaftsordnung, in der Frauen nach wie vor als Sexobjekt stigmatisiert und auf ihr Äußeres reduziert werden247, Selbstverwirklichung ist nur durch den Mann möglich. Offensichtlich wird in „Shades of Grey“ auch demonstriert wie Frauen Männer in der Moderne wahrnehmen. Grey verkörpert sinnbildlich den Mann des 21. Jahrhunderts, „als ausgesprochen mehrdeutig und schwer zu durchschauen, als unentschlossen, als fürsorglich, verletzlich und mächtig“.248 Zum Ausdruck bringt er dies in überbordender Dominanz und Kontrollsucht. Frauen können ebenso fürsorglich, tough und letztendlich bedrohlich sein. Agiert aber eine Frau in analoger Weise wie Grey, wird sie mit den Attributen „hysterisch“ und „verrückt“ versehen, woraus,“ man das karnevaleske Bild der „gefährlichen Frau“ zusammengeschustert hat“249. Daran ist sehr gut ablesbar, dass Männer noch immer über größere soziale Macht verfügen.250

2.7.6 Weitere Aspekte zum Aschenputtel-Märchen

In den modernen Aschenputtel Adaptionen wird eine scheinbare Selbstbestimmung vorgeführt, tatsächlich definieren Cinderella, Vivian Ward, Bella Swan und Anastasie Steele ihre Identität aber über die Erwartungen der patriarchal bestimmten Gesellschaftsordnung. Luce Irigaray legt dar, dass Frauen noch nicht gelernt haben ihre Identität selbst zu bestimmen, da seit der Antike eine konsequent männliche Sichtweise vorherrsche. Sie plädiert dafür, dass Frauen selbst bestimmen, wie sie definiert werden möchten.251 Aus diesem Blickwinkel betrachtet hat es keine der vorgestellten Aschenputteltypen geschafft eine eigene Identität zu erlangen beziehungsweise wird es ihnen unter den bestehenden Voraussetzungen gar nicht erst ermöglicht. In diesem Kontext wäre es interessant, das Frauenbild in der tschechischen Filmadaption „Drei Haselnüsse für ein Aschenbrödel“252 von 1973 nach der Romanvorlage von Božena Němcová zu thematisieren. Hier steht eine sozial engagierte Heldin im Mittelpunkt, die ihre eigenen Interessen denen des Staates opfert. Damit wird ein Frauenideal vorgeführt, das wiederrum instrumentalisiert wird die Ideale des Sozialismus zu verkörpern und ihren männlichen Pendants als Vorbild zu dienen. Somit wird es auch Aschenbrödel nicht vergönnt ein gleichberechtigtes Leben an der Seite eines Mannes zu führen.

247 Illouz, Eva: „Ich bin für Nerds!“. In: taz archiv (13.07.2013). URL: http://www.taz.de/!469648/ [letzter Aufruf am 03.03.2019] 248 Illouz, 2013, S.43 249 Ebd. S. 44 250 Vgl. ebd. S.43-44 251 Vgl.Irigaray, Luce: Speculum, Spiegel des anderen Geschlechts. Frankfurt: Suhrkamp, 1980. 252 Drei Haselnüsse für Aschenbrödel. Regie v. Václav Vorlíček, Drehbuch v. František Pavlíček. Produktion: Filmstudio Barrandov, Prag, DEFA, KAG „Berlin“. CSSR/ DDR, 1973. 65

3 Das Dornröschen - Märchen

Das Dornröschen-Märchen rangiert ebenfalls ungebrochen auf den Bestsellerlisten der beliebtesten Erzählungen. Zentrales Motiv ist die schlafende, schöne Königstochter im dornenumrankten Schloss, die von einem Prinzen wiedererweckt wird. In den Kinder- und Hausmärchen ist es seit der Zweitauflage 1812 unter der Nummer 50 gelistet. Dornröschen- Varianten existieren auch im ägyptischen, arabischen und indischen Raum. Am bekanntesten war der Dornröschen-Stoff jedoch in den romanischen Ländern, wo die Überlieferung bereits im 14. Jahrhundert einsetzt. Die ursprüngliche Motivkette der Vergewaltigung, der Geburt eines Kindes im Schlaf, der darauffolgende Wiedererweckung und abschließender Entschädigung durch die Heirat mit dem Täter wurde in den folgenden Jahrhunderten „verschoben“, beziehungsweise ergänzt. Genauso wie dem Aschenputtel-Märchen widerfährt der Dornröschen-Thematik in derselben Dimension positive wie negative Kritik, letztere bezieht sich auf den Stereotyp einer schönen und passiven Frau, die nur darauf wartet, bis der Königssohn endlich ankommt. Da die Märchenheldinnen der Grimms zu Stereotypen avancierten, treten, „ das Aschenputtel [oder…] Dornröschen in den verschiedenen Formen der Massenkultur immer aufs Neue [auf].253“ 3.1 Die Geschichte des Dornröschen-Stoffes

Bereits in Apuleius „Amor und Psyche“- Märchen gibt es das Motiv des Todesschlafes. Die schöne Psyche fällt in todesähnlichen Schlaf, aus dem sie Amor mit seinen Pfeilen, die symbolisch seine Liebe ausdrücken, wiedererweckt. Aphrodite als Stellvertreterin der Schicksalsgöttinnen, bösen Feen und weissagenden Frauen hat sie aus Eifersucht und Rache in diesen todesähnlichen Zustand versetzt. Im 14. Jahrhundert wird der „Dornröschen-Stoff“ in die Prosaromanze „Roman de Perceforest“,254 der zwischen 1330 und 1344 auf Altfranzösisch in den Niederlanden von einem anonymen Autor verfasst wurde, wieder- aufgenommen. Der Roman erzählt die Vorgeschichte der Artussage.255 1528 wurde der Roman erstmals in Paris als“ La Tres Elegante Delicieux Melliflue“ und „Tres Plaisante Hystoire du Tres“ in vier Bänden gedruckt. Die italienische Übersetzung folgte 1531, ebenso existierte eine spanische. Die englische Übersetzung erschien 2011.256 Die hier relevante frühe Dornröschen Überlieferung stellt nur eine der vielen Episoden des Romans dar. Ritterliches Abenteurertum und märchenhaft, phantastische Elemente ranken sich um die Geschichte der schlafenden Schönen, Zellandine, und ihrem Erretter-Ritter Troylus. Zellandine fällt, wie bei ihrer Geburt von Themsis vorhergesagt, durch eine Flachsfaser in einen tiefen Schlaf aus dem sie nicht mehr erwacht. Troylus erfährt davon und macht sich auf, um sie zu heilen. Er dringt in das Schlafgemach Zellandines ein und ist so entzückt von ihrer Schönheit und begehrt sie so sehr, dass er sie vergewaltigt. Zellandine wird schwanger, gebiert einen Sohn, dessen Nachfolger Lancelot sein wird, der ihr die Flachsfaser aus dem Finger saugt, sodass sie schlussendlich erwacht. Um die Tat zu sühnen, heiratet Troylus Zellandine schließlich.

253 Degh, Linda: Zur Rezeption der Grimmschen Märchen in den USA. S. 123: In Doderer, Klaus: (Hrsg.): Über Märchen für Kinder von heute: Essays zu ihrem Wandel und ihrer Funktion: Weinheim: Beltz, 1990. S. 116-128. 254Vgl. Bryant, Nigel (Hrsg. und Übersetzung): A Perceforest Reader: Selected Episodes from Perceforest: The Prehistory of Arthur's Britain (English Edition). Woodbridge: D. S. Brewer, 2012. 255 Bryant, Nigel (Übersetzung): Long Ago and Far Away. Sleeping Beauty From the French romance Perceforest, composed c.1330–40 (first printed edition Paris, 1528. URL: https://www.hesperuspress.com/media/lookinside/l/o/long_ago_and_far_away.pdf [letzter Aufruf am 03.03. 2019] 256 Vgl. Bryant, 2012 66

„Frayre de Joy e sor de plaser“ um ca. 1350, ebenfalls anonym in okzitanische Sprache verfasst, stellt eine ähnliche Version dar und enthält dieselbe Motivkette. Eine weitere Version mit ähnlichem Erzählkern ist „Blandín de Cornualles“, auch aus dem 14. Jahrhundert mit unbekannter Autorenschaft und in Okzitanisch überliefert. Im frühen 17. Jahrhundert greift Giambattista Basile, “die Motivkette Schlaf, Vergewaltigung, Erlösung und eheliche Legitimation in seinem Märchen „Sonne, Mond und Talia“ [auf und schmückt] es in einer konsequent männlichen Sichtweise [aus].“257 Er fügt dem das Motiv der Eifersucht und des Kannibalismus hinzu. Charles Perrault reichert 1699 seine Adaption des Dornröchen-Stoffes La Belle au bois dormant – conte mit weiteren Motiven an. In Kontrast zu der derben Ausdrucksweise Basiles, ist seine eine höfisch-galante, da sie junge, aristokratische Damen adressiert ist. Die Brüder Grimm schließlich bereinigen das Märchen von allen anzüglichen und gewaltsamen Elementen und gestalten es in ihrer traditionellen bürgerlichen und kindgerechten Manier des 18. Jahrhunderts.

3.1.1 Das Zentralmotiv der Zeitlosigkeit in Legende, Sage und Märchen

Heinz Rölleke weist darauf hin, dass das zentrale Dornröschen-Motiv, das des „Aus-der-Zeit- Fallens“258bereits in der Sage und auch in der Legende bekannt war. Als Beispiele nennt er die Erzählung von den 700 Jahre lang schlafenden „Siebenschläfern“ oder jene von Caesarius von Heisterbach aus dem frühen 13.Jhd. Hier meditiert ein Mönch über das Psalm-Wort „Vor dir, o Herr sind tausend Jahre wie ein Tag“259. Dies erweist sich als fatal, da er als er in sein Kloster zurückkehrt, herausfinden muss, dass bereits 100 Jahre vergangen sind. Er preist dies als Wunder und verstirbt selig. 260Anders geht die Sage mit diesem Motiv um. In einer Erzählung aus Otmar Nachtigalls Volkssagensammlung um 1800261, wird von einem jungen Hirten berichtet, der sich im Unterirdischen verirrt und beim Wiederauftauchen seine Herde nicht mehr findet. Er glaubt, dass seine Abwesenheit nur wenige Stunden gedauert hätte, tatsächlich sind es aber Jahrzehnte. Der Held reagiert darauf mit „Grauen oder Wahnsinn, oft auch mit dem plötzlichen Tod durch grenzenloses Erschrecken. Das mysterium tremendum et fascinosum ist ihm begegnet; indem er dieses […] zu begreifen versucht, ver- oder zerstört es ihn.“262 Sage, Märchen und Legende beinhalten dasselbe Zentralmotiv und gestalten dies vollkommen anders aus. Das Märchen „wundert“ sich keineswegs über den übernatürlichen langen Schlaf, „es erzählt […] darüber hinweg“.263

3.2 Erste Dornröschen Referenzen

Beide folgende Erzählungen dienten der Unterhaltung der feudalen Aristokratie. Sie spiegeln die höfische Kultur, „die geprägt war von rituellem Respekt vor dem Ranghöheren, sorgsamen Betragen und Sprechen, sowie einer formal gebändigten Sprache zwischen Dame und Ritter“264, wider.

257 Mazenauer/ Perrig, 1995, S. 65 258 Rölleke, 1984, S.126 259 Zitiert aus: Rölleke, 1984, S.127 260 Vgl. ebd.S.127 261 Vgl.ebd. 197 262Ebd. S.126 263 Ebd. S.127 264 Mazenauer/ Perrig,1995, S. 60 67

3.2.1 Geschichte von Troylus und Zellandine (um 1330-40)

Troylus liebt Zellandine mehr als sich selbst. Nach dem Unfall mit der Spindel erhält er die Nachricht von dem todesähnlichen Schlaf Zellandines.265 Er erfährt auch, dass ihr kein Arzt helfen könne. Ihr Schlaf ist ein Mysterium, da sie weder an Gewicht noch an Farbe verliert, obwohl sie weder essen noch trinken kann. Troylus betet zu Venus, die ihm ihren Zuspruch erweist:

Noble knight, do not lose heart, See if you are capable of such an accomplishment of prowess And penetrate inside the tower, Where the lady of noble appearance, Is sleeping, as stiff as stone, And afterwards you could through the opening, Find the fruit where lies a remedy, The poor maid will be cured[…]Love will find the opening, And Venus who knows the wayTo find the fruit, will pick it up. Nature will arrange it. If you are a man, go right away, Do not make long speeches here. 266

Der junge Ritter reist nach Zeeland. Mit Amors Hilfe und einem Boten kann er den unzugänglichen Schlossturm überwinden und in ihr Schlafgemach eindringen. Als er Zellandine sieht ist er ihrer Schönheit wegen ganz von Sinnen. Amor drängt ihn, sie zu küssen. Doch widerstreitende Stimmen, die von Vernunft und Weisheit verkörpert werden lassen ihn zögern:

Sir Knight, it is not proper for a man to enter a place where a maid is alone in privacy, without previous permission; and he knows he must not touch her while she is sleeping!267

Die Sehnsucht allerdings flüstert ihm, dass Küssen Heilung bringen werde und ihre Ehre aus diesem Grund nicht besudelt würde. Er küsst sie wieder und wieder und beobachtet, dass ihre Gesichtsfarbe immer rosiger wird, dennoch bewegt sie sich immer noch nicht. Frustriert fleht Troylus Venus erneut um Hilfe an, diese schimpft ihn feige,

How can you be so cowardly, young knight, since you are alone next to such a beautiful maiden whom you love more than any other and yet you are not lying by her side.268

Die unsichtbare Venus redet weiter auf ihn ein, die Treue möchte ihn noch davon abhalten, dennoch gibt er den Anweisungen der Venus nach:

[…] he followed only Venus' advice, and he acted according to her wishes, and so much so that the beautiful Zellandine could no longer be rightly considered a virgin. This happened to her during her sleep, and without moving at all, except at the end when she let out a heavy sigh269

265 Vgl. Bryant, Fußnote 197: S. 3 266 Mc Neill Cox, Susan: The Complete Tale of Troylus and Zellandine from the „Perceforest“ Novel. An EnglishTranslation. In: Merveilles & contes, Vol. 4, No. 1 (May 1990), pp. 118-13. Wayne State University Press, 2015. S.123-124URL: https://canvas.brown.edu/courses/953257/files/48177901/download?wrap=1 (letzter Aufruf am 03.03.2019] 267 Ebd.S.130 268 Ebd. 269 Ebd. S. 131 68

Bald danach erscheint der Bote und weist ihn an, die schöne Zellandine zu verlassen, da der Auftrag erfüllt und die Frucht für ihre Heilung gepflückt worden sei. Troylus zieht sich rasch an und verlässt unzufrieden die schöne Zellandine. Indes wird die Tür zum Schlafgemach geöffnet, Zelland, der Vater Zellandines, tritt ein. Er bemerkte, dass der Turm heller ist als gewöhnlich, und will sich vergewissern, ob alles in Ordnung ist. Er vermutet, dass die Götter Zellandine erlösen wollen. Zelland weckt seine Schwester und gemeinsam betreten sie das Zimmer Zellandines. Sie sehen Troylus am Fenster stehen, als er gerade einen riesigen Vogel besteigt, um davonzufliegen. Sie vermuten, dass Mars sie besucht hätte, sehen nach Zellandine und bemerken das zerwühlte Bett. Zelland übergibt seine Nichte in die Obhut ihrer Tante, die täglich nach ihr sieht und ihr immer etwa Ziegenmilch zu trinken gibt. Nach neun Monaten bringt sie schlafend einen schönen Sohn zur Welt. Das Baby sucht nach der Brust der Mutter, findet aber nur ihren Finger und beginnt daran zu nuckeln, sodass es ihr die Flachsfaser heraussaugt. Zellandine erwacht, fühlt sich krank, ihre Tante erklärt ihr die Situation. Sie beginnt zu weinen, da sie nicht glauben will, was ihr ein Mann angetan hat. Ihre Tante erzählt ihr, dass ihr „Peiniger und Retter“ Mars persönlich war und von dem schrecklichen Fluch Themsis´ nach ihrer Geburt. Bei dem Festessen für Venus, Lucina und Themsis war ein Silbermesser für die dritte Göttin zu wenig aufgelegt. Durch diese Missachtung war Themsis dermaßen empört, dass sie einen Fluch aussprach,

[…] from the first spin of linen that she pulls from the distaff, a splinter will prick her finger and in this way, she will immediately fall asleep, and will not wake up until it [the splinter] is sucked out.270

Venus` Plan hatte Zellandine wiedererweckt. Zellandines Tante wusste zwar um den Fluch Bescheid, erklärte aber nicht, warum sich nie jemand darum gekümmert habe den Fluch zu brechen oder ihn zu erwähnen. Der Junge, Benuic, der kurz nach der Erweckung seiner Mutter Zellandine von einer halb-Frau-halb-Vogel-Kreatur aus dem Fenster gestohlen wird, wird zukünftig ein berühmter Ritter und vollbringt viele großartige Taten. Zudem ist Benuic der Vorfahre von König Ban, dem Vater von Sir Lancelot. Troylus kehrt zurück, Zellandine und er verlieben sich ineinander. König Zelland hat allerdings bereits einen Heiratskandidaten für Zellandine erwählt, doch sie möchte Troylus heiraten. Schließlich flüchten sie gemeinsam, um der unglücklichen Heirat zu entkommen. Zellandine, obwohl sie Troylus liebt, kommt nie über ihre Vergewaltigung hinweg.

3.2.2 Frayre de Joy e Sor de Plaser (um 1350)

Sor de Plaser (dt.„ Schwester der Freude“) – Tochter der Kaisers Gint-Senay- fällt während eines Festessens in einen mysteriösen Zustand. Da sie so frisch aussieht und keine Zeichen der Verwesung zeigt, lässt ihr Vater sie in einem Schloss aufbahren, das von einem undurchdringlichen Graben isoliert ist. Fray de Joy (dt.„ Bruder der Freude“) - der Prinz von Florianda - hört von der Schönheit des Mädchens und verliebt sich in sie, ohne sie je gesehen zu haben. Mit Hilfe seines Ratgebers Vergil kann er den unzugänglichen Turm dennoch erreichen. Als er die Schöne sieht, ist er hingerissen von ihr, ehrfürchtig kniet er vor ihr nieder. Er möchte sie küssen und spricht zu sich selbst:

270 Ebd. S. 135 69

[…] Ich werde sie küssen und wenn sie nicht beleidigt ist, aus ihr auch noch mehr Freude schöpfen […] Wenn es ihr gefällt, so werde ich das sofort an ihrem Gesichtsausdruck sehen, weil man sagt, daß wer Schmerz oder Glück empfindet, dies auf dem Gesicht zeigt: man kann das Herz nicht zwingen, ein böses Gesicht zu einem guten Dienst zu machen.271

Als er sie schließlich missbraucht, „[…] ihre ganze Freude ausgekostet hatte“272, tauscht er mit ihr die Ringe. Die schöne Schlafende trägt einen mit der Inschrift: „Ich bin der Ring der Soeur-de-plaisir-, wer mich besitzen wird, wird sie durch Liebe und wahrhaftige Freude besitzen“.273 Seiner trägt die Gravur: „Ich bin der Ring von Frere-de-joie, wer mich besitzen wird, wird ihn lieben, nicht als Gemeinen, sondern als Sohn eines edlen Königs.“274Er besucht die Schlafende häufig, aber penibel darauf achtend, dass er von ihren Eltern nicht entdeckt wird. Die Mutter beobachtete besorgt und verzweifelt den immer dicker werdenden Bauch ihrer Tochter. Nach neun Monaten bringt sie völlig schmerzfrei einen Sohn zur Welt. Das Kind findet die Brust der Mutter, saugt daran, ohne jede Hilfe von außen. Mutter wie Vater sind verzweifelt darüber, wie so etwas passieren konnte. Sie suchen im ganzen Turm, verbringen ihre Tage voller Angst, da so etwas Ungewöhnliches noch nie geschehen war. Es sei jenseits des Verstandes und der Natur:

[…] sie weinten und beteten, und sie waren so demütig und gottergeben, daß Gott sie auf diese Art belohnte: die Jungfrau hob die Hand auf die Decke, als ob sie sprechen würde, aber sie sprach nicht, „Ich bin lebendig, weinet nicht mehr“, Und ihr Schmerz verwandelte sich in Freude275

Frere-de –joie reist in der Zwischenzeit in der ganzen Welt umher, konsultiert mehrere Ärzte, Philosophen und Magier und sucht Rat. Vergil indes zieht einen Eichelhäher auf. Dieser kennt alle Kräuter und Heilkräfte, spricht alle Sprachen, überbringt Botschaften, Grüße, Neuigkeiten und „bezaubert mehr als ein Zauberer“. Vergil überlässt den Vogel Frere- de- joie, dieser schenkt ihm im Gegenzug sein Königreich Florianda. Der Vogel schließlich wird mit der heiklen Sache betraut, er wird zu Soeur-de-plaisir gesandt, um die unritterliche Schandtat zu erklären. Durch die taktischen Fähigkeiten des Vogels lässt der Liebhaber die Tat rechtfertigen und seine Liebe zu der geschändeten „Schwester der Freude“ gestehen. Dem Vogel gelingt es, der jungen Mutter das „Ja-Wort“ abzunehmen. Ihr Sohn wird Joy de plaser genannt („Freude an der Freude“.) Die Hochzeit wird verschwenderisch in Gegenwart des Königs, Kaisers, Vergils, Priesters und Papstes gefeiert.

3.2.3 Das Motiv der Vergewaltigung

Eine Vergewaltigung einer ungeschützt Schlafenden wog dementsprechend schwer und verlangte nach einer angemessenen Sühne. Der Strafenkatalog, um ein solches Vergehen zu ahnden sah Enthauptung, Verstümmelung, Verbannung und Geldstrafen vor. Trotzdem wurden Missbrauchshandlungen nur selten amtlich verfolgt und bestraft, da die betroffenen

271 Zago, Ester: Frayre de Joy e Sor de Plaser (Auszug), nacherzählt von Ester Zago. In: Franco,G/ Zago, Ester: La bella addormentata.Übers. aus d. Ital. v. Bruno Grütter. S. 65-70. In: Mazenauer, Beat/ Perrig, Severin: Wie Dornröschen seine Unschuld gewann. Archäologie der Märchen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer Verlag, 1995. S. 33-37. S.34 272 Ebd. 273 Ebd. 274 Ebd. 275 Ebd. S. 36 70

Frauen Angst vor familiärer und gesellschaftlicher Repression hatten276 und die Opfer häufig aus unterprivilegierten Schichten stammten, Dienstmägde und Prostituierte277 waren, die mit Geld oder einer nachträglich arrangierten Heirat „entschädigt“ wurden, um den Vorfall als einmaligen Ausrutscher und Teilaspekt einer Heirat erscheinen zu lassen278. In beiden Texten wird die Verzweiflung der vergewaltigten Frauen zum Ausdruck gebracht:

Then she began to cry because she did not believe that any man could have done something with her body […]279

Tante muss sie trösten und erklärt ihr, dass ihr Peiniger eigentlich ihr Retter war, „for this reason you will give him thanks and praise“ 280Mehr noch ist Zellandine besorgt, wegen des unehelichen Kindes, doch auch hier weiß die Tante Rat:

[…] don´t have any worries, because I will hide so well this adventure, that it will never be known“[…]she was so alarmed that she could not speak. Then her aunt said to hen "Do not be discouraged, but eat well because I will put your child in such a secret place that he will never be found or known until it pleases the gods.281

Doch Zellandine kann sich nicht beruhigen, zudem kommt ein Vogelwesen mit Körper und Gesicht einer schönen Frau zu ihr und entführt ihren Sohn. Zellandine ist traurig darüber, obwohl ihr die Chimäre sagte, dass sie sich keine Sorgen machen solle. Obwohl die Schwangerschaft keine Spuren an ihrem Körper hinterlassen hat wird die junge Frau traurig wenn sie an ihre Vergewaltigung denkt. Schließlich wird anlässlich ihrer Heilung ein Fest ausgerichtet, auf dem sie Troylus begegnet,

[…] the young lady became very ashamed and began to cry very hard because her friend, by his indiscretion, had taken her virginity. “282

Troylus tröstet sie, indem er ihr erklärt, dass dies notwendig gewesen sei, um den Bann zu brechen. Zellandine schließlich ist erleichtert, dass sie,

“not be blamed by any man except you who comforts me, I should feel reassured. “283

Sehr gefühlvoll bringt die/der der anonyme Autor/in hier zum Ausdruck, wie nachhaltig belastend die Missbrauchssituation für ihr Opfer war. Sie fühlt Scham und Traurigkeit, die sie permanent begleiten. Der König fühlt sich mit der missbrauchten Tochter offensichtlich überfordert, er übergibt sie der Obhut ihrer Tante. Er tritt erst wieder nach deren Genesung in Erscheinung und möchte Zellandine so schnell wie möglich verheiraten um deren Ehre wieder herzustellen. Auch Michel de Montaigne (1533-1592) empfiehlt im Falle eines Missbrauchs und einer daraus resultierende Schwangerschaft in einem Essay die

276Vgl. Classen Albrecht: Sexual Violence and Rape in the Middle Ages: A Critical Discourse in Premodern German and European Literature. Fundamentals of Medivial and Early Modern Culture.Berlin/ Boston: De Gruyter, 2011. S. 6 und S.161- 197. 277 Vgl. ebd. 278Vgl Mazenauer/ Perrig, 1995. S. 60 279 Mc Neill Cox, Susan, 1990. S. 135 280 Ebd. S. 134 281 Ebd. S .135 282 Ebd. S. 138 283 Ebd. S. 138 71

Eheschließung.284 Die Tante versucht ihre Nichte davon zu überzeugen, dass ihre Vergewaltigung gleichzeitig ihre Rettung und göttliche Fügung gewesen sei. Ähnlich verhält es sich mit der zweiten Erzählung. Hier vergeht sich der Ritter sogar mehrmals an seinem Opfer und ist sich seiner Schandtat offensichtlich auch bewusst, da er peinlich genau darauf achtet, dass ihn niemand dabei erwischt. König und Königin betrachten die Situation als göttliches Wunder, denn niemand außer dem Heiligen Geist würde in den Turm eindringen können. Hier wird ein Eichelhäher vorgeschickt, der mit geschickten Überredungskünsten, sein Opfer schließlich überzeugen kann, ihren Täter zu ehelichen, während in der Geschichte von Troylus und Zellandine der Ritter zumindest noch den Mut besaß, mit der Dame persönlich zu sprechen. Tatsache ist, dass Vergewaltigungen und deren anschließende Beschönigungen und Verdrängungen auch im Mittelalter traurige Realität war.

3.2.4 Das Motiv der schwangeren Scheintoten

Aus medizinischer Sicht sind die Fragen der menschlichen Zeugung heutzutage vollkommen beantwortet. Empfängnis und Zeugung war im 19. Jahrhundert noch nicht restlos aufgeklärt, sodass es Raum für spekulative Erklärungen gab. Jahrhundertlang herrschte die Vorstellung vor, dass der männliche Körper die vollendetste Form darstellte, der weibliche Körper sich nicht grundsätzlich, sondern nur graduell davon unterschied. Es wurde angenommen, dass die geringere Körpertemperatur der Frau, eine weniger deutliche Ausprägung ihrer Genitalien zur Folge hatte. Aetios von Amida (502-575), einer der bedeutendsten Mediziner im 6. Jahrhundert, konstatierte das orgiastische Beben als Zeichen der Empfängnis der Frau. Folglich wurde angenommen, dass es keine Empfängnis ohne den weiblichen Orgasmus geben könne. Frauen, die dagegen zum Geschlechtsakt genötigt wurden, sollten dagegen unfruchtbar sein. Diese Annahmen bestimmten lange Zeit die Kenntnisse über die menschliche Fortpflanzung. Daran orientierten sich auch die therapeutischen Maßnahmen bei ausbleibenden Schwangerschaften und es wurden Bade- und Trinkkuren verordnet.285 Dergleichen war unklar, wie Frauen nun, während einer Ohnmacht oder eines komatösen Zustandes schwanger werden konnten.286 Heute ist bekannt, dass eine Befruchtung nicht vom Schlaf-oder Wachzustand einer Frau abhängig ist. Bevor die Menschen ausreichende Kenntnisse über den Hergang einer Befruchtung hatten, brauchten sie dennoch Ventile um mit diesen Ungewissheiten fertig zu werden. Thomas Laqueur, ein Medizin-Historiker, geht davon aus, dass die Frauen angesichts dessen eher an der eigenen Wahrnehmung und Erinnerung zu zweifeln begannen als sich den Gesetzen der damaligen vorherrschenden naturwissenschaftlichen Kenntnisse entgegenzustellen:287

Kurz gesagt, Erfahrung wird so erinnert und wiedergegeben, daß sie sich mit den herrschenden Paradigmen deckt.288

Diese Betrachtungsweise deckt sich auch mit der Erzählung Frayre de Joy e Sor de Plaser, wenn die Eltern die Schwangerschaft ihrer schlafenden Tochter lieber auf göttliche Einwirkung zurückführen, statt auf eine Tatsache die den damaligen medizinischen

284 Vgl. Mazenauer/ Perrig, 1995. S. 60 285 Vgl. ebd.. S. 60 u. 61 286 Vgl. Classen, 2011. S. 205-277. 287 Vgl. Laqueur, Thomas: Auf den Leib geschrieben: Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. Frankfurt: Campus, 1992. S. 118 288 Ebd. S. 118 72

Erkenntnissen entgegensprechen. Eine zweite Methode stellte das Erzählen dementsprechender Märchen dar, um diese Unsicherheiten zu bewältigen. Der Kern des Dornröschen-Märchens fasst die Unstimmigkeiten von medizinischen Auffassungen und tatsächlichen Begebenheiten zusammen. Wie eine Randbemerkung fügt der Autor des Perceforst-Romans, „[…]at the end when she let out a heavy sigh“, den orgiastischen Seufzer Zellandines ein, um der medizinischen Vorstellung, dass ein Orgasmus eine Empfängnis anzeige, gerecht zu werden.

3.2.5 Das Motiv des Scheintods

In der Perceforest –Romanze irritiert der rosige Teint der Schlafenden:

[…] she slept so deeply[…] without losing color […]as if she was sleeping naturally, as rosy complexioned as she was[…] beautiful and […] ruby red like a rose, and with skin like a fleur de lis.289

Frayre de Joy ist fasziniert von der rosigen Frische der Aufgebahrten, 290 Basile spricht von der „toten Tochter“291, bei Perrault,

[…]vermag [nichts die Prinzessin] ins Leben zurückzurufen […] die Ohnmacht hatte nicht die leuchtenden Farben von ihrem Gesicht genommen: ihre Wangen waren strahlend rot und ihre Lippen wie Korallen […],292 die dreizehnte Fee verkündet im Grimm´schen Märchen , dass Dornröschen sterben wird.293In jeder dieser Fassungen hängt der Tod wie ein Damoklesschwert über dem jungen, schlafenden Mädchen und droht deren Schönheit und „[…] Objekt elterlicher wie männlicher Liebe zu vernichten“294. Die drohende Gefahr wird in jeder dieser Überlieferungen durch den zeitlich begrenzten Schlaf entschärft. Der Scheintod stellt ein Phänomen dar, das die Menschen bis in unsere Zeit ängstigt und beschäftigt. Das Märchen bot eine Möglichkeit diese Ängste in Worte zu fassen und sich damit auseinanderzusetzen. Lutz Röhrich misst den Scheintodgeschichten in den vergangenen Jahrhunderten eine ungleich größere Bedeutung zu als heute. Erzählungen über Scheintote waren überall verbreitet, besonders in den Sagen aus der Pestzeit, da solche Vorkommnisse der Wirklichkeit entsprachen.295 Die Angst vor einer Ansteckung mit der tödlichen Epidemie war so groß, dass die Pestopfer schnellstmöglich weggebracht und in Massengräber geworfen wurden. Dabei kam es durchaus vor, dass sich noch Lebendige unter den Körpern befanden.296 Unzureichende medizinische Diagnostik war bis ins 19. Jahrhundert Grund für eine beständige Angst vor einer Lebendbestattung. Das Motiv des Scheintodes im Dornröschen Märchenkomplex drückt diese Furcht und Unbestimmtheit aus, indem die jungen Frauen, die zwar tot

289 Mc Neill Cox, Susan, 1990. S.120 u. 129 290 Vgl.Zago in Mazenauer/ Perrig, 1995. S. 33 291 Vgl. Basile, 2015. S. 284 292 Perrault, 2017. S. 58-59 293Vgl. Grimm, 2007. S. 35 294 Mazenauer/ Perrig, 1995. S. 63 295Vgl. Röhrich, Lutz: Erzählungen des späten Mittelalters und ihr Weiterleben in Literatur und Volksdichtung bis zur Gegenwart. Sagen, Märchen, Exempel und Schwänke. Bd 2. Bern: Francke, 1976. S.415-428. S. 416 296 Mazenauer/ Perrig, 1995. S. 63 73 erscheinen, in einem abgeschiedenen Turm oder (später) Schloss aufgebahrt wurden.

3.3 Direkte Dornröschen –Vorläufer

Basiles Erzählung „Sonne, Mond und Talia“ entspricht inhaltlich der direkten Beeinflussung der Perceforest –Romanze und der katalanischen Dornröschen-Variation. Vom Perceforest – Roman existierte bereits seit 1558 eine italienische Übersetzung. Für die Kenntnis der katalanischen Novelle sprechen die gesellschaftspolitischen und kulturellen Beziehungen zwischen Neapel und Spanien.297Perrault greift 1695 die Motivkette in „La belle au bois dormant“ (dt. Die schlafende Schöne im Wald) auf und verlegt diese in ein höfisches Milieu.

3.3.1 Sonne, Mond und Talia (1636)

Talias Vater, ein vornehmer Herr, lässt bei ihrer Geburt alle Weisen und Wahrsager des Landes zusammenkommen, um ihr Lebensschicksal vorherzusagen zu lassen. Diese prophezeien, dass ihr durch eine Flachsfaser große Gefahr drohen werde. Der Vater erlässt ein strenges Gebot, dass weder Flachs noch Hanf jemals in den Palast gebracht werden dürfe. Als Talia heranwächst, sieht sie eine alte Frau spinnen und möchte es ebenfalls ausprobieren. Sie nimmt die Kunkel in die Hand und sticht sich,

[…]dabei eine Hanffaser unter den Nagel eines Fingers und fiel dabei sogleich tot zur Erde[…]Der Vater […]ließ die tote Tochter im Lustschloss […] auf einem Samtsessel unter dem Thronhimmel von Brokat setzen, worauf er alle Türen veschloß und den Ort […] verließ, um gänzlich und für immer das Andenken daran aus seinem Gedächtnisse zu streichen.“298

Eines Tages gelangt ein König während der Jagd in das Zimmer der bezauberten Prinzessin. Er nimmt an, dass sie schlafe, doch weder Schreien noch Rütteln kann sie aufwecken. Schließlich vergeht er sich an ihr: „er aber von ihrer Schönheit […] erglühte, so trug er sie in seinen Armen auf ein Lager und pflückte dort die Früchte der Liebe.“299Danach verlässt und vergisst er sie. Talia schenkt nach neun Monaten einem wunderschönem Zwillingspärchen, einem Jungen und einem Mädchen, das Leben. Zwei Feen erscheinen, legen ihr die Säuglinge an die Brust und pflegen diese. Auf der Suche nach der Brust saugen sie einmal an ihrem Finger und ziehen ihr damit die Hanffaser heraus, worauf Talia erwacht. Sie kann sich weder erklären was vorgefallen war noch die unsichtbaren Hände, die ihr täglich Speisen und Getränke bringen. Endlich erinnert sich der König an die schlafende Schöne und besucht sie. Hocherfreut, dass Talia erwacht ist und ihm noch dazu zwei schöne Kinder geboren hat, erzählt er ihr, wie sich die Geschichte zugetragen hat. Sie schließen ein Freundschaftsbündnis, er verbringt einige Tage mit ihr bevor er wieder in sein Königreich zurückkehrt, verspricht aber sie abzuholen und zu sich zu nehmen. Er denkt täglich an seine Geliebte und seine beiden Kinder, die er Sonne und Mond nennt. Auch im Schlaf spricht er ihre Namen, dies weckt die Eifersucht seiner Ehefrau, worauf sie ihrem Geheimschreiber befiehlt die Geliebte ihres Mannes zu finden. Listig schickt sie ihn zu Talia, damit er ihr im

297 Vgl.ebd.S.65 u. 66 298 Basile, 2007, S. 284 299 Ebd. S. 284 74

Namen des Königs die Kinder bringe. Die arglose Thalia ist erfreut darüber, die Gemahlin jedoch befiehlt dem Koch diese zu schlachten und Suppen und Ragouts daraus zuzubereiten. Der Koch bringt dies nicht übers Herz, lässt die Kinder von seiner Frau verstecken und bereitet stattdessen zwei junge Zicklein zu. „Iß, denn du isst von dem Deinen.“300, antwortet die Königin, als ihr Gatte das Essen lobt. Bald ist ihm ihr Gerede zu viel und er zieht sich verärgert zurück. Die Königin lässt in der Zwischenzeit unter demselben Vorwand Talia holen. Wütend beschimpft sie diese, Talia beteuert unschuldig zu sein, da sich doch alles zugetragen habe, während sie schlief. Die Königin lässt keine Erklärungen gelten und befiehlt ein Feuer anzuzünden, um Talia hineinzuwerfen. Talia bittet um Aufschub, um ihre Kleider ablegen zu können. Die Königin gewährt es ihr, da sie sich ohnehin die kostbaren Kleider Talias aneignen wollte. Mit jedem Kleidungsstück, das Talia nun ablegt, stößt sie ein lautes Geschrei aus. Als sie das letzte Teil ablegt, eilt der König herbei und will wissen was vor sich geht. Als er von dem Racheakt seiner Frau erfährt wird ihm klar, dass er seine eigenen Kinder verspeist hatte. Er befiehlt, seine Gattin, den Geheimschreiber und den Koch ins Feuer werfen zu lassen. Der Koch klärt den König darüber auf, dass er seine Kinder gerettet habe, die inzwischen auch schon von dessen Frau gebracht wurden. Beiden wird ihre Tat reich vergolten. Überglücklich beginnt der König mit Sonne, Mond und Talia,

Kussmühle zu spielen [danach] heiratet [der König] Talia, welche nun mit ihrem Gemahl und ihren Kindern ein langes und glückliches Leben führte, nachdem sie erkannt hatte: „Wem der Himmel wohlwill, dem gibt er das Glück im Schlafe“301

3.3.1.1 Der männliche Blick, Medeaherz, Nerogesicht und bittere Rache in Sonne, Mond und Thalia

Basile setzt an den Beginn seiner Erzählung drei gängige Sprichworte, beziehungsweise kleine moralische Lektionen:

Es ist durch Erfahrung vielfach bewiesen, dass die Grausamkeiten meistenteils gerade der Henker desjenigen wird, der sie ausübt; man hat ferner jederzeit gesehen, dass wer andern eine Grube gräbt, selbst hineinfällt; sowie andererseits die Unschuld ein Schild von Feigenbaumholz ist, an dem das Schwert der Bosheit zerbricht oder die Spitze verliert, dass gerade in dem Augenblick, wo der Unglückliche sich schon für tot und begraben hält er mit Fleisch und Bein wieder auflebt, wie ihr dies aus folgender Erzählung ersehen könnt […]302

Damit verweist er auf die Erzählung, die sich um Unschuld und Bosheit ranken wird. Zu Beginn des Märchens beschreibt er gesellschaftliche Stellung von Talias Vater – „ein vornehmer Herr“, 303die ihn als „Adeligen städtischer Herkunft“304 ausweist. Das Verfluchungsmotiv durch die Schicksalsgöttin Themsis, das in der katalanischen Fassung fehlt ersetzt Basile durch die Beratschlagung von weisen Männern, die Talia ihr Horoskop erstellen, „dass ihr durch eine Flachsfaser große Gefahr drohe“.305Die Phrophezeiung

300 Ebd. S. 285 301 Ebd. S. 287 302 Basile, 2015, S. 283. 303 Ebd. 304 Mazenauer/ Perrig, 1995. S. 66 305 Basile, 2015, S. 283 75 bewahrheitet sich, gleich der katalanischen Fassung lässt der Vater sie auf ein Lustschloss bringen. Der explizite Hinweis auf das „Lustschloss“ regt bereits die Vorstellung von amourösen Abenteuern an. Anstatt Talia zu betten, setzt er sie auf einen Prunksessel, als würde er ihren Tod-, Koma- oder Ohnmachtszustand nicht wirklich ernst nehmen, sondern nur für ein vorübergehendes Nickerchen halten. Dann überlässt er Talia sich selbst und vergisst sie. Konträr zu den früheren Versionen ist ihr Liebhaber-Vergewaltiger-Retter nun ein verheirateter Mann, der der beliebtesten Beschäftigung des Hochadels, der Jagd, fröhnt. Während die Junggesellen in den mittelalterlichen Romanzen und auch bei Perrault und den Grimms Gräben und Dornengestrüpp überwinden müssen und dazu magische Hilfe benötigen, kann der König über eine Winzerleiter zu der bezauberten Prinzessin einsteigen. Skrupellos „pflückte [er] die Früchte der Liebe306, kehrt anschließend ohne Reue in sein Königreich zurück und vergisst die ganze Angelegenheit. Während die jugendlichen Ritter von heftigen Zweifeln geplagt werden, Troylus, der in der Perceforest Romanze in eine ähnliche Situation gerät, von den „drängenden Einflüsterungen der Venus und den Einwänden der gesellschaftlichen Moral“307hin und hergerissen ist, hat Basiles Held mit gar keine Gewissenskonflikten zu kämpfen. Konträr dazu können die mittelalterlichen Helden ihre Geliebte auch nicht vergessen und wollen ihre Ehre durch eine Heirat wieder herstellen. Für den König stellt diese „Episode […] keine entscheidende Wegmarke“308 dar. Der Perceforest Autor beschreibt zudem noch sehr einfühlsam die emotionalen Qualen unter denen das Missbrauchsopfer leidet. Basile lässt die Komponente einer weiblichen Sichtweise völlig außer Acht, daher ist umso mehr anzunehmen, dass seine Erzählung für ein männliches Zuhörerpublikum ausgerichtet war.309 Basiles Held erinnert sich schließlich doch noch an sein pittoreskes Abenteuer und sucht seine Geliebte abermals auf. Er findet sie mit zwei Kindern und gibt diesen die Namen „Sonne und Mond“. Offensichtlich wählte Basile bewusst den Namen „Talia“, da dieser einen Bezug zu dem sizilianischen Mythos der Thaleia, herstellt. Zeus unterhält eine Liebschaft mit Thaleia und muss die mittlerweile schwangere Geliebte vor der eifersüchtigen Hera in einer Höhle verstecken. Dort gebiert sie Zwillinge, die Paliken310. Ironischerweise wurden Zwillingsgeburten im Mittelalter als Ehebruch seitens der Frau gedeutet.311 Basiles König verweilt einige Tage bei ihr und gibt ihr das Versprechen zurückzukehren und sie mitzunehmen. Er beschreibt hier eine durchaus übliche Männerpraxis eines gelungen Doppellebens. Eine Ehefrau, die brav zuhause weilt und sich um Heim und Kinder kümmert, hier das Königreich, und eine Geliebte, die gesellschaftlich geächtet wird, umso mehr, da sie zwei uneheliche Kinder geboren hat. Von seitens der Geliebten hat er durch die gesellschaftlich heikle Situation nichts zu befürchten und besitzt umso mehr die Macht leere Versprechungen zu geben. Schließlich „übernimmt“ die verratene Ehefrau und leitet damit den Fortgang der Erzählung ein. Sie kommt seiner Liebschaft dahinter und sendet den Geheimschreiber,

[…] daher im Namen des Königs zu Thalia und ließ ihr sagen, der König wolle die Kinder sehen […] jenes Medeaherz jedoch dem Koch befahl, sie zu schlachten und aus ihnen

306 Ebd. S. 284 307 Mazenauer, Perrig, 1995. S 67 308Ebd. 309 Vgl. ebd. 310 Vgl. Vogt, Friedrich: Dornröschen-Thalia. In: Weinhold, Karl: Beiträge zur Volkskunde. Festschrift. Germanistische Abhandlungen. Hildesheim/ New York. Georg Olms, 1977. S.195-239, S.205 311 Vgl. Mazenauer, Perrig, 1995, S, 321 76

verschiedene Suppen und Ragouts zu machen, die sie dann dem armen König zu essen geben wollte.312

Erneut spielt Basile auf einen Mythenstoff an. Die zauberkündige Medea, die sich für den Verrat ihres Gatten Jason rächt und ihre Söhne, sowie Jasons neue Braut Glauke mit einem giftgetränkten Kleid tötet.313 Die Situation zwischen König und Königin spitzt sich immer weiter zu, er wirft ihr vor, „nichts ins Haus gebracht [zu haben]“314Es ist anzunehmen, dass der Gatte auf ihre Kinderlosigkeit und damit einhergehende Eheunwürdigkeit anspielt. Somit wird ihr auch jedes Recht auf Eifersucht abgesprochen.315Dies bekräftigt sie noch weiter in ihrem Rachefeldzug, sodass sie den Plan fasst, auch noch die Mutter der Kinder zu töten. Sie lässt diese wieder unter dem gleichen Vorwand ins Schloss bringen.

Als [Talia] daher vor der Königin erschein, sprach diese zu ihr mit einem Nerogesicht und giftig wie eine Natter: „[….] Du bist also die Metze, das Unkraut, das meinen Mann von mir abzieht? Du bist also die infame Hündin, die mir so viele schlaflose Nächte bereitet hat? […] Jetzt bist du ins Fegefeuer gekommen, wo du für das büßen sollst, was du mir angetan hast.316

Basile nennt die betrogene Ehefrau „Nerogesicht“ und stellt damit einen direkten Vergleich zu dem von Nero veranlasstem Mord an seiner Mutter Aggripina, sowie an seiner unfruchtbare Ehefrau Claudia Octavia, beide Male beeinflusst von seiner Geliebten Poppaea, her. Nero unterstellte der schuldlose Octavia einen Ehebruch und eine Abtreibung.317 Die Königin erweist sich als mitleidlos, wenn die arme Talia ihre Unschuld beteuert, sich entschuldigt, beteuert nichts verbrochen zu haben, der König habe, „während sie im Schlafe dalag, von ihrem Grund und Boden Besitz genommen […].“318Basile erhöht die erotische Spannung in dem Machtspiel zwischen den beiden Frauen, indem er Talia um Aufschub bitten lässt, da diese noch ihre Kleider ablegen und nackt ins Feuer geworfen werden möchte. Die Königin gewährt ihr diesen aber nicht aus Gnade, sondern aus Gier, da sie selber, „ die mit Gold und Perlen gestickten Gewänder319“ tragen will. Das Ausziehen der Kleider verwandelt Basile in einen burlesquen Striptease. Dieser kontrastiert zudem die Vergewaltigung im Lustschloss, die vollkommen übergangen wurde.320 Mit jedem Teil, das sie abstreift, stößt sie einen gellenden Schrei aus. Detailliert beschreibt Basile die Szenerie: erst der Überwurf, dann das Kleid, das Mieder und schließlich den Unterrock. Als sie bereits nackt ist und fortgeschleppt wird, eilt der König herbei. Er tritt nun als Retter auf, als „deus ex machina“, die Sympathien der männlichen Zuhörerschaft gehören Talia und auch ihrem unentschlossenem Ehemann. Die betrogene Ehefrau ist zu weit gegangen. Zudem lösen sich für den „zufällig“ dazu gestoßenem Ehemann bei dem Duell „seiner“ Frauen zwei Probleme gleichzeitig. Die überflüssig gewordene Ehefrau endet gerechtfertigterweise als Barbarin auf dem Scheiterhaufen, er muss keine angemessene Zeit als trauernder Witwer verbringen, sondern kann seine Geliebte sofort zu seiner rechtmäßigen Frau erklären lassen. Basiles

312 Basile, 2015, S. 285 313 Vgl. Euripides: Medea. Hrsg. u. übers. Paul Dräger. Stuttgart: Reclam, 2017. 314 Basile, 2015, S. 285 315 Vgl. Mazenauer/ Perrig, 1995, S. 68 316 Basile, 2015, S. 285 317 Vgl. Tacitus, Publius Cornelius: Annalen 14,1-14,16: Muttermord an Agrippina. URL: http://www.gottwein.de/Lat/tac/ann1401.php [letzter Aufruf am 03.03.2019] 318 Basile, 2015, S. 285 319 Ebd. 320 Vgl. Mazenauer/ Perrig, 1995, S. 68 77

Schlussmoral, in der er Talia erkennen lässt, dass das Glück im Schlaf kommt, ist wohl mehr eine Rechtfertigung für die Männerfiguren in dieser Erzählung. Erst Talias Vater, der sie vergisst und schlafend zurücklässt, dann der König, der sie ebenfalls vergisst und sie missbraucht zurücklässt. Einzig der Koch beweist Mut und Mitgefühl, indem er die unschuldigen Kinder versteckt. Vorangetrieben werden die Handlung von einer Frau, die eine rachedurstige und mordlustige Rolle verkörpern muss, da es in Basiles Märchen nicht um das Leid der geschändeten Talia geht, sondern um die unerfreuliche Ehe des Königs. Die legitimierte Ehe dient weniger der Sühne der Vergewaltigung oder der rechtmäßigen Anerkennung der beiden Kinder, sondern mehr der Beseitigung der Eheprobleme des Königs. Paradox und zynisch mutet auch die Eingangsformel seiner abschließenden Moral an: „Wem der Himmel wohl will […]“321

3.3.2 Die Schlafende Schöne im Wald (1695)

Ein König und eine Königin sind sehr betrübt, da sie keine Kinder haben. Sie unternehmen Badekuren, Wallfahrten, Andachtsübungen. Diese sind lange Zeit vergeblich bis die Königin endlich doch schwanger wird. Sie bringt eine Tochter zur Welt und gibt ihr sieben Feenpatinnen, damit ihr jede eine Gabe verleihen konnte. Anschließend an die Taufe wird ein Festessen auf dem Schloss ausgerichtet. Jede Fee erhält ein „Besteck aus purem Gold […]“322. Plötzlich erscheint eine alte Fee, die seit fünfzig Jahren nicht mehr gesehen wurde und man sie darum für tot oder verzaubert hielt. Der König lässt auch für sie ein weiteres Gedeck auflegen, dieses unterscheidet sich jedoch von dem der anderen Feen, da man nur sieben anfertigen ließ. Die Alte fühlt sich verachtet und murmelt einige Drohungen. Eine der Jüngeren hört dies und versteckt sich hinter einem Wandteppich, um als letzte ihren Segen aussprechen zu können, damit sie das Übel ausgleichen kann. Unterdessen beginnen die Feen ihre Gaben auszusprechen. Sie schenken ihr Schönheit, ein Engelsgemüt, Anmut, Begabung zu Tanz, Musik und Gesang. Schließlich spricht die Alte ihren Fluch aus, dass sich die Prinzessin mit der Spindel stechen und daran sterben solle. Die Gesellschaft erzittert. Rechtzeitig tritt die versteckte Fee hervor und mildert den Spruch der Alten ab. Der prophezeite Spindelstich bedeutet nicht ihren Tod, sondern einen hundertjährigen Schlaf aus dem sie ein Königssohn erwecken wird. Der König untersagt das Spinnen mit einer Spindel und den Besitz einer solchen. Als die Prinzessin fünfzehn oder sechzehn Jahre alt ist, erkundet sie das ganze Schloss. König und Königin sind verreist. Sie gelangt in eine kleine Dachkammer und sieht eine alte Frau an ihrem Spinnrocken sitzen. Das Mädchen versucht sich auch beim Spinnen, sticht sich in die Hand und sinkt ohnmächtig zu Boden. Nichts vermag sie ins Leben zurückzurufen. Der König lässt sie in das schönste Zimmer des Palastes bringen und ordnet an, sie friedlich schlafen zu lassen. Jene Fee, die einst den Spruch abschwächte, befindet sich außer Landes, kommt aber sofort angereist und berührt alles, außer den König und die Königin, mit ihrem Zauberstab. Augenblicklich fallen alle in einen tiefen Schlaf, damit sie der Prinzessin wieder zu Diensten sein können, wenn sie wieder gebraucht werden. König und Königin küssen ihre Tochter und lassen bekannt machen, dass es jedermann verboten ist das Schloss zu betreten. Umgehend wachsen um den Park große und kleine Bäume, Brombeer- und Dornengestrüpp, das weder Mensch noch Tier durchdringen können. Nach hundert Jahren entdeckt ein Königssohn auf der Jagd einen der Türme hinter dem Dickicht. Niemand kann ihm Auskunft geben außer ein alter Bauern, der

321 Basile, 2017, S. 287 322 Perrault, 2017. S. 55 78 gehört haben wollte, dass sich in dem Wald ein Schloss verbirgt mit einer schönen Prinzessin, die hundert Jahre schlafen müsse, um von einem Königssohn geweckt zu werden. Der Prinz wird von Liebe erfasst und von Siegesfeuer getrieben und beschließt auf der Stelle zu der Prinzessin zu gelangen. Kaum nähert er sich dem Wald, öffnen sich Brombeersträucher und Dornengestrüpp, die sich jedoch sogleich wieder schließen und ihn passieren lassen. Tapfer setzt der verliebte Prinz seinen Weg fort. Im Vorhof des Schlosses bietet sich ihm ein Bild des Schreckens:

Da herrschte ein schreckliches Schweigen: überall bot sich ihm das Bild des Todes: allenthalben lagen ausgestreckte Körper von Menschen und Tieren, die tot zu sein schienen.323

Doch gleich schließt er aus der roten Schnapsnase des Wächters, das alle bloß eingeschlafen seien. Endlich erreicht er das Gemach der Prinzessin,

[…]deren wunderbare Erscheinung etwas Strahlendes und Göttliches besaß. Er näherte sich zitternd und voll Bewunderung und fiel neben ihr auf die Knie. Nun aber, da das Ende des Zaubers gekommen war, betrachtete sie ihn mit weit zärtlicheren Augen, als dies eine erste Begegnung gestatten sollte.324

Sie bekunden sich ihre gegenseitige Liebe. Inzwischen erwacht der ganze Palast, jeder geht seinen Pflichten nach, Essen wird aufgetragen und unverzüglich danach findet die Trauung statt. Der Prinz verlässt sie am nächsten Morgen und kehrt in sein Reich zurück. Täglich gibt er vor auf die Jagd zu gehen und besucht seine Frau. Seine Mutter mutmaßt bereits, dass er eine Liebschaft unterhält. Doch er will ihr nichts von seiner Frau, die ihm inzwischen zwei Kinder geboren hat, erzählen, da seine Mutter einer Menschenfresserfamilie entstammt. Der König hatte sie nur ihres Reichtums wegen geheiratet. Als der König stirbt, tritt der Sohn die Herrschaft an, lässt seine Ehe öffentlich bekanntgeben und holt Frau und Kinder mit großer Pracht an den Hof. Wenig später muss er in den Krieg ziehen und überlässt seiner Mutter die Regierungsgeschäfte, sowie Frau und Kinder. Diese schickt ihre Schwiegertochter und deren Kinder in ein Landhaus, „um sich ihren schrecklichen Gelüsten ungestört hingeben zu können.“325Sie verkündet dem Haushofmeister, dass sie erst „Morgenrot“ und dann „Abendlicht“, so werden die Kinder genannt, verspeisen möchte. Dieser weiß, dass mit der Königinmutter nicht zu spaßen ist, deshalb schafft er Morgenrot und Abendlicht fort und lässt sie von seiner Frau verstecken. Stattdessen bereitet er zwei Gerichte von einem zarten Lämmchen und einem Zicklein zu, die der Königinmutter außerordentlich gut schmecken. Alsbald weist sie an, die Königin verspeisen zu wollen. Der Haushofmeister weiß nicht, wie er es anstellen soll, ein Tier zu finden, dass eine vergleichbar „zähe Haut“ besitzt wie die der jungen Königin. Deshalb fügt er sich und teilt dieser den Befehl mit. Dieser ist es ganz gleich, dass er sie töten will, sie möchte nur ihre Kinder wiedersehen, die sie tot glaubte. Gerührt erzählt ihr der Haushofmeister, dass ihre Kinder wohlauf seien und bringt sie zu ihren Kindern. Er täuscht die Königinmutter erneut, indem er eine Hirschkuh zubereitet. Diese plant ihrem Sohn zu sagen, dass Frau und Kinder von Wölfen gefressen worden seien. Eines Abends hört sie aber die Stimmen der Königin und ihrer Kinder, wütend lässt sie am folgenden Morgen einen Trog mit Kröten, Vipern, Nattern und Schlangen befüllen. Dort

323Ebd. S. 63 324Ebd. 325 Ebd. S.66 79 hinein sollen die Königin, ihre Kinder und deren HelferInnen geworfen werden. Die Hände auf den Rücken gefesselt werden sie herbeigeführt, als unerwartet der König zurückkehrt. Entsetzt fragt er was vor sich gehe, da stürzt sich die Königinmutter ohnmächtig vor Wut kopfüber in den Trog und wird von den Tieren gefressen. Der König grämt sich dennoch, schließlich war sie seine Mutter, „doch tröstete er sich bald mit seiner schönen Frau und seinen Kindern“.326 Wie bei Perrault üblich, setzt er auch hier eine Moral an den Schluss:

Ein wenig auf einen Ehemann zu warten, der reich, schön anzusehen, von höflicher und feiner Art ist, ist ganz und gar üblich. Doch hundert Jahre zu warten und dabei zu schlafen - dieses junge Mädchen findet man nicht mehr, das so brav schläft. Die Geschichte will uns wohl lehren, daß der Ehe zarte Bande durch Aufschub nichts von ihrem Glück verlieren und daß das Warten niemals schadet. Aber das weibliche Geschlecht strebt so leidenschaftlich zum ehelichen Glück, daß ich nicht die Kraft noch den Mut besitze, ihm eine solche Moral anzuempfehlen.327

3.3.2.1 Märchenrealismus und gesellschaftliche Repräsentation bei Perrault

Perrault schafft es durch vielfältige Detailinformationen seinem Lesepublikum einen realistischen Eindruck zu vermitteln. Lutz Röhrich bezeichnet dies als „Märchenrealismus“.328 Ebenso wie Basile legt er Wert auf Bildungshumanismus und Unterhaltungswert seiner Erzählungen, obgleich Perrault ein gänzlich anderes Publikum bedient. Seine HörerInnen sind überwiegend jung, weiblich und adelig. Er verlegt das schlafende Mädchen in einen Wald und enthebt es damit bewusst eines städtischen und kulturellen Ambientes. Doch die Schöne schläft nicht etwa inmitten von wilden Tieren oder auf einem bemoosten Boden, sondern ihre Schlafstätte ist hocharistokratisch eingerichtet. Dies verweist auf die ausgeprägte Komponente der gesellschaftlichen Repräsentation in seinen Märchen. Lediglich das Schloss ist von Bäumen und Gestrüpp umgeben. Perrault gibt seiner Heldin Feen als Patinnen, die ihr hilfreich zur Seite stehen oder sie verfluchen. Das Motiv der Vergewaltigung mit folgender Schwangerschaft verlegt Perrault in den dringlichen Kinderwunsch der Eltern. Die Motivverschiebung war allerdings nur bedingt dem damals vorherrschenden Sittenkodex geschuldet. Perrault wusste, dass anzügliche und erotisierte Motive nur geschickter verschleiert werden mussten.329 Obwohl Perrault von „damals“ und von Feen als Patinnen spricht, entsprechen die Geschenke jener den Idealvorstellungen der kultivierten, aristokratischen Frau: Schönheit, Engelsgemüt, Anmut, Fertigkeiten in Tanz, Musik und Gesang. Die achte, nicht geladene, sich zurückgesetzt fühlende Fee verwünscht das Kind. Diesen Fluch kann die jüngste Fee im letzten Moment noch abschwächen. Perrault bezieht sich hier auf die Gepflogenheiten des 16. und 17. Jahrhunderts die vorsahen, bei familiären Feiern die gesamte Nachbarschaft einzuladen. Durch die veränderten wirtschaftlichen Umstände und individualistischeren Trends verloren sich diese Bräuche und es kam vermehrt zum Ausschluss von alleinstehenden, kinderlosen und älteren Frauen und Witwen. Dennoch wurde aus

326 Ebd. S. 69 327 Ebd. S. 69 328 Vgl. Röhrich, Lutz: Märchen und Wirklichkeit. 5. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 2001. 329Vgl. Mazenauer/ Perrig, 1995, S. 70. 80 schlechtem Gewissen deren Rache, in Form von Hexerei, Flüchen und Verwünschungen,der sozial und ökonomisch benachteiligten Frauen gefürchtet. 330 Analog zur Abschwächung des Fluches mildert Perrault den todesähnlichen Zustand, der noch Basiles Talia betraf, in einen hundertjährigen Schlaf, als Folge eines Spindelstichs ab. Trotz der Vorkehrungen des Königs, kann er seine Tochter nicht vor den Folgen des Hexenspruchs bewahren. Die Prinzessin verfällt in den vorhergesagten Schlaf, währenddessen untersagen die Eltern jedem Zutritt zu dem Schloss, ihre beschützende Feenpatin lässt Bäume, Gestrüpp und Dornenhecken um das Schloss wachsen und das gesamte Dienstpersonal wird in weiser Voraussicht miteingeschläfert, damit sie dem Mädchen beim Erwachen wieder zur Verfügung stehen. Das Arsenal an Dienstboten die eingeschläfert werden müssen ist groß: „Gouvernanten, Ehrendamen, Kammerjungfern, Edelleute, Köche, Küchenjungen, Laufburschen, Wächter, Diener, Pagen, Lakaien […]“331 Perrault war die Lebensweise des Hochadels, sowie die der einfachen Bevölkerung durchaus bekannt. Das Motiv der Dornenhecke, die die schlafende Prinzessin abschirmt, war im 17. Jahrhundert als Schutzzaun in der Landwirtschaft üblich332. Pünktlich nach hundert Jahren erfährt der Königssohn von der schlafenden Prinzessin, sowie der dahinterstehenden Prophezeiung, dass der Bann nur von einem ausgewählten Prinzen gebrochen werden kann, der diese dann als Gemahlin gewinnt. Gerüchten zum Trotz wird der Prinz von „Liebe und Siegesfeuer getrieben“ und gelangt zur Prinzessin, die „etwas Strahlendes und Göttliches besaß“333Faszinierte und beinahe geschockt („Schönheitsschock“) von diesem „allerschönsten Anblick“334fällt er auf die Knie. Genau in diesem Augenblick erwacht die Prinzessin ohne sein Zutun und beginnt mit ihm ein ungezwungenes Geplänkel. Kokett wirft sie ihm vor, dass er aber lange auf sich habe warten lassen. Nichts hat den Anschein, als sei sie gerade aus einem langem Koma erwacht, eher wirkt es als hätte ihr eine kurze Ohnmacht vorübergehend das Bewusstsein geraubt, ganz so wie es damals a´la mode war. Ihr „weit zärtlicherer [Blick] als es eine erste Begegnung gestatten sollte“335gibt dem Märchen eine erotische Komponente. Perrault hält sich an die moralischen Vorstellungen und Bedürfnisse seiner LeserInnen. Er lässt die beiden Verliebten „nur“ miteinander reden, auch wenn deren Gespräch den Charakter eines Flirts annimmt, bei dem die Prinzessin lebhafter und der Prinz schüchterner erscheint. Inzwischen ist auch der gesamte Hofstaat samt Schlosskaplan erwacht, sodass die Trauung noch am selben Tag stattfinden kann. Erst dann wird züchtig der Vorhang vor dem Bett zugezogen mit einer wiederholten feinen, erotisierenden Anspielung, dass die Prinzessin nur wenig Bedarf an Schlaf habe, womit er den definitiven Liebesakt, der bei seinem unmittelbarem Vorgänger Basile oder den mittelalterlichen AutorInnen ohne Umschweife genannt wird, diskret verschleiert, ohne tatsächlich offen zu lassen, was sich dahinter zutragen wird. Wie schon bei Basile hält auch der Held bei Perrault seine Liebe geheim, obwohl diese legitimiert wurde und er ledig war. Dies gibt der Liebschaft den Charakter einer verbotenen Affäre, Perrault gibt der Erzählung damit einmal mehr einen pittoresk-erotischen Anstrich. Zwei Jahre dauert die geheim gehaltene Ehe bereits an, zwei Kinder sind bereits geboren, bis der Königssohn mehr oder weniger gezwungen wird, die Ehe offenzulegen, da sein Vater

330 Vgl. Keith, Thomas: Die Hexe und ihre soziale Umwelt. In: Honegger, Claudia (Hrsg.): Die Hexen der Neuzeit: Studien zur Sozialgeschichte eines kulturellen Deutungsmusters. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1978. S. 256-308, S. 282 331 Perrault, 2017, S. 59 332Vgl. Röhrich, 2001, S. 140. 333 Perrault,2017, S.63 334 Ebd. 335 Ebd. 81 verstorben ist und er die Regierungsgeschäfte antreten muss. Grund der Geheimhaltung seiner Ehe ist die Mutter des Prinzen, die einer Familie von MenschenfreserInnen entstammt. Die Ehe der Eltern des Königssohns scheint eine reine Zweckverbindung gewesen zu sein, „da der König […]sie nur um ihre großen Reichtümer willen geheiratet […]“336hat. Hier übernimmt die Königsmutter die Rolle der gekränkten Ehefrau Basiles. Der Prinzenheld verhält sich auch ähnlich wie Basiles König, der vorgibt auf die Jagd zu gehen, während er Geliebte beziehungsweise Frau und Kinder besucht. Die Mutter wittert bereits die geheime Liebschaft. Als der Vater stirbt, normalisiert sich vorübergehend die Mutter/ Sohn Beziehung, er vergisst sogar den mütterlichen Kannibalismus und holt seine Frau und Kinder „mit großer Pracht […] in das Schloß.337Traditionell übernehmen die Erstgeborenen Söhne nach dem Tod des Vaters die Regierungsämter, der junge König muss jedoch bald in den Krieg ziehen, deshalb überlässt er seiner Mutter zwischenzeitlich die Amtsgeschäfte. Genau zu dieser Zeit gewinnen die kannibalistischen Neigungen seiner Mutter wieder überhand, sie schickt Schwiegertochter und Enkellinder in ein Landhaus im Wald, um sich ihre Gelüsten ungezwungen hingeben zu können. Es gibt hier kein Motiv der Rache, des Betrugs oder der Eifersucht, sondern die reine Lust am Menschenfleisch. Mittels des Motivs des Kannibalismus wir die Mutter zur bösen Königinmutter. Der Haushofmeister beweist Loyalität und Empathie, er rettet beide Kinder, sowie die junge Königin, indem er alle drei versteckt. Der Königinmutter serviert er entsprechend präpariertes Fleisch. Diese kommt dem Betrug dahinter und will nun grausame Rache an allen Beteiligten nehmen: der jungen Königin, den Enkelkindern, am Haushofmeister, dessen Frau und einer Dienerin. Unverhofft kehrt der König frühzeitig zurück und kann rechtzeitig eingreifen und allen das Leben retten. Die Mutter stürzt sich ohnmächtig vor Wut selbst in den Schlangentrog. Der König braucht Zeit um das Geschehene zu überwinden, „schließlich war sie ja seine Mutter“,338 umso mehr, weil er sie nun auch nicht mehr zu fürchten braucht. Perrault geht in seiner abschließenden Moral auf den finalen Teil der Geschichte gar nicht mehr ein, er bezieht diese auf den ersten Märchenteil und spielt auf die damalige Heiratspolitik einer standesüblichen Verbindung an, auf die mühsam und langwierig auszuhandelnden Mitgiftprobleme einer arrangierten Standesheirat und das Warten auf die Genehmigung des Königs. 339Hier rät Perrault zu Geduld. Im Märchen selber spricht er die (möglichen) Probleme der Schwiegertöchter an, die infolge standesüblicher Eheschließungen zu den Eltern ihres Ehemannes ziehen müssen. Dies kann mitunter zu erheblichen Differenzen führen. Damit ist auch eine leise Kritik an der damals üblichen Heiratspolitik zu vernehmen. Sein Märchen widmete er der 21jährigen Elisabeth-Charlotte d´Orleans, deren Mutter Liselotte von der Pfalz, als unglückliche Verheiratete galt und in ihren Briefen trauriges, wie aufschlussreiches Zeugnis einer arrangierte Heirat ablegte und damit auch das Leben am Hof von Versailles schilderte.340 Ihre Berichte bestätigen die oftmals durchklingende Kritik in Perraults Märchen am höfischen Leben, der preziösen Lebensart und Repräsentation des Scheins, Gefühle hingegen mussten versteckt werden. Nach Stefan Neuhaus kündigt sich in der Moral bereits ein Paradigmenwechsel an. Die Abkehr von einem religiös zentrierten Weltbild zu einer individualistisch geprägten Gesellschaft.

336 Ebd. S. 65 337 Ebd. 338 Ebd. S69 339 Vgl. Mazenauer/ Perrig, 1995. S. 74 340Vgl. Cruysse, Dirk Van der: Madame sein ist ein ellendes Handwerck. Liselotte von der Pfalz. Eine deutsche Prinzessin am Hof des Sonnenkönigs. Übers. aus d. franz. v. Inge Leipold. 7. Aufl.: München: Piper, 2001. 82

„Die alten Moralvorstellungen müssen durch neue ersetzt werden, wobei es in dem männlich codiertem Normsystem die aktive Rolle der Männer und die passive der Frauen zu festigen gilt […] wird explizit vor der Aktivität der Frau gewarnt […] sie kann die Moral der Gesellschaft untergraben und deren Fortbestand gefährden. Ohne Aufsicht des Mannes wird selbst die Mutter zur Megäre.“341 3.4 Dornröschen in den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm

Nach langem Warten erfüllt sich der Kinderwunsch eines Königspaares. Der König veranstaltet aus Freude darüber ein Fest, in dem er auch die zwölf weisen Frauen einlädt. Die 13., Übergangene, belegt das Kind mit einem Fluch. Sie soll an ihrem 15. Geburtstag an den Folgen eines Spindelstichs sterben. Der Zauberspruch kann noch rechtzeitig von einer der „guten“ Frauen in einen 100-jährigen Schlaf umgewandelt werden. Obwohl der König umgehend alle Spindeln verbrennen lässt, kann sie ihrem Schicksal nicht entkommen. An ihrem 15. Geburtstag sticht sie sich an einer Spindel und fällt in einen tiefen Schlaf, und mit ihr der gesamte Hof. Um das Schloss zieht sich eine undurchdringliche Dornenhecke, die exakt nach 100 Jahren ein mutiger Prinz zu durchringen vermag. Mit dem legendären Kuss erweckt er das schlafende Dornröschen und den gesamten Hof, worauf die Hochzeit folgt.

3.4.1 Die Genese des Dornröschen Stoffes á la Grimm - von der „Ölenberger Märchenhandschrift“(1810) bis zur Ausgabe letzter Hand (1875)

Jacob Grimm zeichnete die Urfassung des Dornröschen-Märchens nach einer Erzählung der 20jährigen Marie Hassenpflug auf, die mütterlicherseits aus Frankreich stammte und damit in einem durch französische Sprache und Kultur gepflegtem Haushalt aufwuchs. Damit war Marie mit den Märchen Charles Perraults und den Feenmärchen der Mme d´Aulnoy bestens vertraut. 342 Diese erste handschriftliche Fassung sandte er 1810, markiert als Nr.19, an Clemens Bretano, der sie jedoch - wie alle übrigen Aufzeichnungen - nicht veröffentlichte. Im Gegensatz zu den literarisch ausgefeilten Erzählungen Basiles, Perraults oder d`Aulnoys ist die Grimm`sche Niederschrift kurz und sprachlich kaum ausgearbeitet.

3.4.1.1 Das Motiv des Kinderwunsches und die Metamorphose des Krebses

Jacob Grimm fügte in der Handschrift erst als Herkunftsverweis „mündlich“ ein, später den Nachtrag, „ Dies scheint g(an)z aus Perrault´s Belle au bois dormant.“343 Jede der Auflagen beginnt mit dem unerfüllten Kinderwunsch des verzweifelten Herrscherpaares. In der handschriftlichen Urfassung heißt es:

Ein König und eine Königin kriegten gar keine Kinder, und hätten so gern eins gehabt. Einmal saß die Königin im Bade, da kroch ein Krebs aus dem Wasser ans Land und sprach: „dein Wunsch wird bald erfüllt werden und du wirst eine Tochter zur Welt bringen.344

341 Neuhaus, Stefan: Märchen. 2. Aufl. :Tübingen: A. Francke, 2017. S.163 342 Vgl. Rölleke, Heinz: Die Stellung des Dornröschenmärchens zum Mythos und zur Heldensage. S. 131. In: Siegmund, Wolfdietrich (Hrsg.): Antiker Mythos in unseren Märchen. Im Auftrag der Europäischen Märchengesellschaft. Kassel: Erich Röth-Verlag, 1984. S.125-137. 343 Grimm, 2007. S.111 344 Ebd. S.35 83

Allerdings ist anzumerken, dass ein Krebs, der die baldige Empfängnis prophezeit in keiner der Perrault`schen Erzählungen auftritt, sondern aus dem d´Aulnoy`schen Märchen „La biche ou bois“ stammt.345 Den Brüdern waren die Feenmärchen d´Aulnoys bestens bekannt. Jacob Grimm äußerte sich in einem Brief an seinen Bruder lobend über ihre Märchen. Wilhelm resümiert 1832:

Ihre Sammlung ist beides schlechter und besser [gegenüber Perrault]. Schlechter insofern, als darin die Überlieferungen weniger treu beibehalten […]moralische Betrachtungen eingemischt sind, überhaupt der Stoff willkürlicher behandelt wird […]Die Manier der d`Aulnoy kann man nicht ungeschickt nennen […] es zeigt sich eine gewandte schon geübte Hand; manches ist liebenswürdig erzählt und manches naiv und kindlich ausgedrückt.346

1925 findet die Metamorphose des Krebses in einen Frosch, nach Wilhelms einschneidenden Überarbeitungen, statt.347 Vermutlich eignete sich der Frosch wegen seiner positiv besetzen Symbolik aus früheren Zeiten besser als Überbringer der frohen Botschaft, da er im alten Ägypten als Symbol des Lebens und der Fruchtbarkeit galt. Die Geburtsgöttin Heket wird als Frosch oder froschköpfige Frau dargestellt.348 Das Märchen wurde ab 1819 als Nummer 50 in die KHM aufgenommen349. Die enorme Beliebtheit des Dornröschen-Märchens setzt erst 1825 in der kleinen Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen ein.350 Zwischen der ersten Ausgabe von 1812, der dritten 1837 und der Ausgabe letzter Hand 1857 formierte sich das ursprüngliche Notat zu einem literarischen Text, parallel dazu kristallisierte sich der „eigentliche“ Märchenstil, der Gattung Grimm, heraus.351 Ab der 3. Auflage 1837 ist es nun der Frosch, der der Königin die Geburt einer Tochter vorhersagt:

Vor Zeiten war ein König und eine Königin, die sprachen jeden Tag, „ach, wenn wir doch ein Kind hätten!“ und kriegten immer keins. Da trug sich zu, als die Königin einmal im Bade saß, daß ein Frosch aus dem Wasser ans Land kroch, und zu ihr sprach, „dein Wunsch wird erfüllt werden, und du wirst eine Tochter zur Welt bringen.352

In der Handschrift Jacobs kamen der innige Kinderwunsch und die tiefe Liebe zu ihrem Kind erst gar nicht zum Ausdruck. Erst durch die Zufügung Wilhelms im Erstdruck: „[…]und hätten so gern eins gehabt“353, wird der Stellenwert eigener Kinder, beziehungsweise der Druck, der auf kinderlosen (Herrscher-)Paaren lastete, verdeutlicht.354 Da die Brüder aber bevorzugten ihre Märchen mehr im bürgerlichen Milieu anzusiedeln, erschien Wilhelm der emotionale Aspekt der Kinderliebe beziehungsweise Kinderlosigkeit wichtiger. Sicher auch dadurch bedingt, da die Märchen auf ein kindliches Publikum ausgerichtet waren. In der Auflage von

345Vgl. Rölleke, 1984, S. 131 346 Rölleke, Heinz: Die Märchen der Brüder Grimm. Eine Einführung. Stuttgart: Reclam, 2016. S. 17 347 Vgl. Rölleke, 1984, S. 131 348 Vgl. Dechant, Andrea: Heket – Geburtsgöttin im alten Ägypten. URL: https://artedea.net/heket-die-grose-zauberin/ [letzter Aufruf am 10.03.2019] 349 Vgl. Grimm, 2007. S.111 350 Vgl. Feustel, 2012. S. 330 351 Vgl. Mazenauer/ Perrig, 1995, S. 76. und Lüthi, Max: Märchen. Zehnte Auflage. Sammlung Metzler: Stuttgart: Springer, 2004. S. 2 352 Grimm, 1837, S. 298–302 353 Grimm, 1812, S. 225-229 354 Vgl. Feustel, 2017, S.333 84

1857 verstärkte er den sehnlichen Wunsch nach einem Kind und die Leiden des Elternpaares erneut: „Vor Zeiten war ein König und eine Königin, die sprachen jeden Tag „ach, wenn wir doch ein Kind hätten!“ und kriegten immer keins.“355In der Erstfassung ließ der König nach der Geburt der Tochter „in der Freude […] ein großes Fest“356ausrichten, entsprechend der Redaktion Wilhelms wird schon ab der dritten Auflage 1837 anlässlich der besonderen Schönheit des Mädchens das Fest ausgerichtet: „ […] und die Königin gebar ein Mädchen, das war so schön, daß der König vor Freude sich nicht zu lassen wußte, und ein großes Fest anstellte.“357Es ist offensichtlich, dass es sich bei dem Fest um eine Taufe handelt.

3.4.1.2 Die Schuld des Vaters, weissagende Frauen und Biedermeier

Die nachfolgende fatale Situation in die das Mädchen in seiner Pubertät gerät ist dem Vater geschuldet. Denn ohne die aufsehenerregende Feierlichkeit, „Er lud nicht blos seine Verwandte, Freunde und Bekannte sondern auch die weisen Frauen dazu ein, damit sie dem Kind hold und gewogen würden […]“358, hätte er die Rache der 13. Fee möglicherweise gar nicht heraufbeschworen, die seiner Tochter zum Verhängnis wurde. Dem Volksglauben nach stellte gerade der Taufakt eine prekäre Gefahr für das Neugeborene dar, da er eine Zurückweisung der bösen Geistern, Dämonen, Hexen etc. bedeutete. In den alten Gebräuchen wurde den dämonischen Gestalten, Opfer und Geschenke dargebracht um diese milde zu stimmen. Offensive Zurschaustellung persönlichen Besitzes konnte besonders den Zorn der dunklen Mächte nach sich ziehen.359Die aufsehenerregende Inszenierung der Tauffeierlichkeit stellte ein verhängnisvolles Risiko dar. In der Urfassung hielt Jacob flüchtig fest:

[…] im Lande waren dreizehn Feen, er hatte aber nur zwölf goldene Teller und konnte also die dreizehnte nicht einladen. Die Feen begabten sie mit allen Tugenden und Schönheiten. Wie nun das Fest zu Ende ging, so kam die dreizehnte Fee u. sprach: ihr habt mich nicht gebeten u. ich verkündige Euch, daß eure Tochter in ihrem funfzehnten Jahr sich an einer Spindel in den Finger stechen u. daran sterben wird.360

Der Schuldanteil des Vaters ist umso gravierender, da er bewusst auf die Einladung der dreizehnten Fee verzichtete, obwohl er um die mächtige Position der weisen Frauen wusste, die sowohl eine wohlwollende als auch eine dunkle Seite besaßen.361 Bereits in der zweiten Ausgabe heißt es:

“Er lud […]auch die weisen Frauen dazu ein, damit sie dem Kind hold und gewogen würden. Es waren ihrer dreizehn in seinem Reich, weil er aber nur zwölf goldene Teller hatte, von welchen sie essen sollten, konnte er eine nicht einladen.“362

Die Begründung, dass nur zwölf Gedecke zur Verfügung stehen, ist für das Oberhaupt eines Landes kaum haltbar. Eher wir deutlich, dass Wilhelm durch seine zahlreichen

355 Grimm, 2000, S.257 356 Grimm, 2017, S.35 357Grimm, 1837, S.298 358 Grimm, 1819, S.249 359 Vgl. Feustel, 2017, S.334 360 Grimm, 2007. S. 35 361 Vgl. Feustel, 2007, S. 335 362Grimm, 2019. S. 249. 85

Überarbeitungen versuchte, das Märchen in einen bürgerlichen Kontext zu stellen363. Damit wurde ein biedermeierlicher Zug eingefügt, da zwölf Gedecke der damaligen bürgerlichen Aussteuer entsprachen. 364 Ob nun bescheiden oder üppig ausgerichtete Taufzeremonie, wird offenkundig, „[…]wer die wahre Herrschergewalt im Menschenreich besitzt“365. Es sind unmissverständlich die Feen, die weis(sagenden) Frauen, die göttinnengleich über das Schicksal jedes Einzelnen verfügen.366Im Vergleich mit Perraults Märchen werden in der Grimmschen Fassung nicht nur die sieben Feen durch zwölf, beziehungsweise dreizehn ersetzt, auch die Feierlichkeit wird in der französischen Version noch explizit als Taufe ausgewiesen, die Grimms unterlassen diese christliche Konnotation. Anders als bei den Grimms hat der König auch gar keine Ahnung von der Existenz der achten vergessenen Fee, […] da sie seit mehr als fünfzig Jahren ihren Turm nicht mehr verlassen hatte und man sie für tot oder verzaubert hielt.“367Folglich trägt er auch keine Verantwortung für die verhängnisvollen Folgen im Leben seiner Tochter.368 Perraults König lässt auch noch ein Gedeck für die übergangene Fee auflegen, doch deren Kränkung sitzt zu tief. Die Feen sind für das Mädchen Segen und Fluch zugleich. In der Urschrift verweist Jacob nüchtern: „Die Feen begabte sie mit allen Tugenden und Schönheiten“369 Schon in der folgenden Ausgabe gestaltet Wilhelm die Feen weit großzügiger: „[Sie] beschenkten […] mit ihren Wundergaben; die eine mit Tugend, die andere mit Schönheit, die dritte mit Reichthum und so mit allem, was Herrliches auf der Welt ist.“370 Die Gaben der Grimmschen Feen orientierten sich nun nicht mehr am höfischen Frauenideal, sondern an Reichtum, Schönheit, Liebreiz und besten Zukunftsaussichten, entsprechend den Wünschen und Erwartungen der frühkapitalistischen BürgerInnenwelt.371Gleichzeitig bringen die Frauen dem Mädchen aber auch den Tod und jahrelange Einsamkeit. Die übergangene Fee und weise Frau reagiert in ihrer Kränkung emotional und agiert menschlich372:

Sie wollte sich dafür rächen daß sie nicht eingeladen war, und ohne jemand zu grüßen oder nur anzusehen, rief sie mit lauter Stimme „die Königstochter soll sich in ihrem funfzehnten Jahr an einer Spindel stechen und todt hinfallen.“ Und ohne ein Wort weiter zu sprechen kehrte sie sich um und verließ den Saal. Alle waren erschrocken […]373

Wilhelm Grimm ersetzte ab der dritten Auflage 1837 die Bezeichnung „Fee“ mit „weiser Frau“. Das Auftreten der Weisen, die plötzliche Erscheinung, ihr rascher Abgang, lässt an das Bild einer Femme Fatale denken, deren „Auftrag“ es war andere (meist Männer) in ein Unglück zu stürzen. Das Wesen der weissagenden Frauen ist ambivalent, sie sind einerseits Heilbringerinnen und greifen in den schier ausweglosesten Situationen unterstützend ein, andererseits können sie zerstörerisch als dämonische Hexengestalt ihr Unwesen treiben. Die Märchengestalt der weisen Frau lässt sich bis auf die Schicksalsgöttinnen der Antike zurückverfolgen. In der antiken Mythologie hüteten die Schicksalsgöttinnen auf ihrem

363 Vgl. Mazenauer/ Perrig, 1995. S. 76 364 Vgl. Rölleke, 1984, S. 135. 365 Feustl, 2017. S, 334 366 Vgl. ebd. 367 Perrault, 2017, S. 55 368 Vgl. Feustel, 2017. S. 337. 369 Grimm, 2017, S. 35 370 Grimm, 1819, S.249. 371 Vgl. Mazenauer/ Perrig, 1995, S. 76 372 Vgl. Feustel, 2017, S.337-338 373 Grimm, 2000, S.257 86

Spinnrad den Lebensfaden eines jeden Menschen.374 „Allein in ihrer Hand lag es, ihn weiterzuspinnen oder abzutrennen“375. Unter den Menschen waren sie gefürchtet und verehrt zugleich. Im Dornröschen-Märchen manifestiert sich die Abstammung der weisen Frau von der antiken Schicksalsgöttin noch deutlicher, da sie mit ihren typischen Attributen Spinnrad, Faden und Spindel ausgestattet ist. Die Wirksamkeit des verheerenden Fluches der gekränkten Frau zeigt sich an dem oberen Textausschnitt. Dieser ist so nachhaltig, dass selbst eine andere der geladenen Feen, die mit denselben magischen Fähigkeiten ausgestattet ist, den Bann nicht brechen kann, sondern nur etwas abschwächen:

„Da trat die zwölfte hervor, die noch einen Wunsch übrig hatte; zwar konnte sie den bösen Ausspruch nicht aufheben, aber sie konnte ihn doch mildern und sprach: „es soll aber kein Tod seyn, sondern ein hundertjähriger tiefer Schlaf, in den die Königstochter fällt.“376

In der Handschrift bedurfte es noch der Kraft aller zwölf Feen, um den Zauberspruch zu entschärfen:

Die anderen Feen wollten dies so gut noch machen, als sie konnten u. sagten: sie sollte nur hundert Jahre in Schlaf fallen.377

Der König ist verzweifelt und versucht seine Tochter vor der Weissagung zu bewahren indem er den Befehl gibt, “daß alle Spindeln im ganzen Reich abgeschafft werden sollten, welches geschah […]“378 In der Ausgabe von 1857 ordnet er die Verbrennung derselben an: „Der König, der sein liebes Kind vor dem Unglück gern bewahren wollte, ließ den Befehl ausgehen, daß alle Spindeln im ganzen Königreiche sollten verbrannt werden.“379 Mazenauer und Perrig erkennen anlässlich der Redaktion Wilhelms vom Abschaffen zum Verbrennen der Spindeln einen zeitgemäßen Bezug und verweisen auf den Napoleonischen Kontinentalsperren-Erlass von 1806. In Ludwig Bechsteins Dornröschen-Variante wird gar von einem königlichem „Regierungsmandat“ gesprochen.380

3.4.1.3 Dornröschens Reifeprozess - geliebt, „verflucht“ und einsam

In dem Bestreben seine Tochter zu beschützen wird zwar die intensive Liebe des Königs zu seinem Kind erkennbar, zugleich auch dessen Naivität erkennbar. Anstatt seine Tochter mit dem richtigen Umgang einer Spindel vertraut zu machen und sie vor der prophezeiten Gefahr des Spinnwerkzeuges zu warnen, versucht er dieses lediglich von ihr fernzuhalten. Dies passiert zudem auch noch laienhaft, da augenscheinlich eine der Spindeln übersehen wird.381Bettelheim sieht diese Maßnahme oder vielmehr ausbleibende Vorkehrung dadurch bedingt, dass der Vater die Notwendigkeit der Menstruation nicht begreifen will, und seine Tochter vor der schicksalshaften Blutung bewahren möchte. Die Königin scheint in allen

374 Vgl. Feustel, 2017, S. 205 375Ebd. 376 Grimm, 2019, S. 249 377 Grimm, 2007, S. 35 378 Grimm, 2007, S.35 379 Grimm, 2000, S. 258 380 Mazenauer/ Perrig, 1995, S. 77 u. S.315 381 Feustel, 2017, S. 340 87

Auflagen die Prophezeiung des bösen Fluches nicht zu tangieren, da sie nirgends als besorgte Mutter auftritt. Ihr ist offensichtlich bewusst, dass das Eintreten der Menstruation ohnehin nicht zu verhindern ist.382 Hinter dem Bemühen die Spinnerfahrung, die symbolisch für den bösen Fluch steht, abzuwehren und neben dem Weben als zutiefst weibliches Sinnbild gelesen wird, steckt die fehlende Einsicht des Vaters, der die entwickelnde Autonomie der Tochter nicht akzeptieren möchte.383Trotz der schrecklichen Prophezeiung und der Angst des Königs, wird das Mädchen an seinem 15. Geburtstag alleine zurückgelassen: „Es geschah, daß an dem Tage, wo es gerade funfzehn Jahr alt ward, der König und die Königin nicht zu Haus waren, und das Mädchen ganz allein im Schloß zurückblieb“.384 Angesichts des sehnlichen Kinderwunsches und der intensiven Liebe zu ihrer Tochter ist es verwunderlich, dass gerade an diesem schicksalsträchtigen Tag beide Eltern außer Haus sind und ihre Tochter alleine und schutzlos zurücklassen. Zudem war das Feiern des wiederkehrenden Tages der Geburt bereits in der griechischen und römischen Antike Brauchtum, um die guten Geister zu stärken und die dämonischen fernzuhalten.385In der handschriftlichen Urfassung beschreibt Jacob das Durchforsten der Räume des Schlosses als sachlich und eher zufällig:

[…] u. eines Tags die Eltern ausgegangen waren, so ging sie im Schloss umher u. gelangte endlich an einen alten Thurn. In den alten Thurn führte eine enge Treppe, da kam sie zu einer kleinen Thür, worin ein gelber Schlüßel steckte, den drehte sie um […]386

In den folgenden Editionen stattete Wilhelm das Mädchen bereits mit wesentlich mehr Motivation und Forscherdrang aus. Er gestaltete eine aktive und wissbegierig 15- jährige Heldin:

[…]und sie ganz allein im Schloß, da ging sie aller Orten herum nach ihrer Lust, endlich kam sie auch an einen alten Thurm. Eine enge Treppe führte dazu, und da sie neugierig war, stieg sie hinauf und gelangte zu einer kleinen Thüre[…]387

Doch schon in der nächsten Auflage 1819 strich er den Verweis auf die Neugier des Mädchens, das lustvolle Herumstreifens hingegen bleibt erhalten: „Da ging es aller Orten herum, besah Stuben und Kammern, wie es Lust hatte und kam endlich auch an einen alten Thurm […]“388 Mit dem Einfügen der „Stuben und Kammern“ richtet er den Blick mehr auf das Öffnen von Türen.389

Es stieg die enge Wendeltreppe hinauf, und gelangte zu einer kleinen Thüre. In dem Schloß steckte ein verrosteter Schlüssel, und als es umdrehte, sprang die Thüre auf, und saß da in einem kleinen Stübchen eine alte Frau mit einer Spindel und spann emsig ihren Flachs.390 Das Mädchen untersucht mit Eintritt in die Adoleszenz eigenständig die ihm bis dahin verborgenen Lebensbereiche, die von dem „kleinen Stübchen“ repräsentiert

382 Vgl. Bettelheim, Bruno: Kinder brauchen Märchen. 34. Aufl. München: dtv, 2017. S. 270. 383 Vgl. Friedman, Leonhard: Dornröschens Erweckung. S. 415. In: Laiblin, Wilhelm (Hrsg.): Märchenforschung und Tiefenpsychologie. Darmstadt: Primus, 1997. 408-410 384 Grimm, 2000, S.258 385 Vgl. Feustel, 2017, S.341 386 Grimm, 2007, S. 36 387 Grimm, 1812, S.225 388 Grimm, 1819, S. 249. 389 Vgl. Feustel, 2017, S. 342 390 Grimm, 2000, S. 258 88 werden.391Dass sie ihre Entdeckungsreisen gerade dann macht, als ihre Eltern abwesend sind, lässt darauf schließen, dass diese mit ihrem Reife- und Lernprozess nicht einverstanden sind.392 Das Mädchen begrüßt die Alte höflich und fragt nach deren Tätigkeit: „‘Ich spinne‘ sagte die Alte und nickte mit dem Kopf“393. Unmissverständlich wird die Alte bereits hier mit der dreizehnten bösen Fee assoziiert. Ihr Nicken verweist auf das Kopfwackeln der alten buckligen Hexen in den Grimmschen Märchen. Auch die Metamorphose des einstmalig „gelben Schlüssel“ der Urschrift in einen „rostigen Schlüssel“ der späteren Auflagen suggeriert den Ort der Alten als menschenverlassen und seit langer Zeit nicht mehr besucht. Die Alte macht auch noch Scherze mit der Königstochter um sie zu locken und ihr Vertrauen zu gewinnen: „Und sie scherzte mit der Frau u, wollte auch spinnen.“394 Im Erstdruck von 1812 wurde das scheinbar freundliche Wesen der Alten noch einmal mehr suggeriert: „Die alte Frau gefiel ihr wohl, und sie machte Scherz mit ihr und sagte, sie wollte auch einmal spinnen […]“395. An der Stelle des Turmmotives fließt das Märchen von Freud´scher Symbolik gerade zu über.396 Als sich das Mädchen dem verhängnisvollem „Stübchen“ nähert, muss es eine Wendeltreppe hinaufsteigen. Parallel zu ihrer zukünftigen gesellschaftlichen Isolation verliert sie Bewegungsfreiheit und Handlungsspielraum. Verglichen mit der Größe und Weite des Schlosses gelangt sie über eine „enge Wendeltreppe“ an eine „kleine Türe“ in das noch kleinere „Stübchen“, wo die Enge des Raumes und ihre Bedrängnis kulminieren und sie erstarren lassen.397 Die Heldin wird von ihrem Schicksal eingeholt. Welche Vorkehrungen der Vater auch immer treffen mochte schlugen fehl, er kann das sexuelle Erwachen seiner Tochter nicht verhindern.398Sie fällt in den hundertjährigen Schlaf. In Träumen bedeutet „eine Treppe hinaufsteigen“ ein sexuelles Erlebnis, das „Umdrehen des Schlüssels“ symbolisiert den Geschlechtsakt, das „kleine Stübchen“ steht für die Vagina.399

Was ist das für ein Ding, das so lustig herumspringt?“ sprach das Mädchen, nahm die Spindel und wollte auch spinnen. Kaum hatte sie aber die Spindel angerührt, so gieng der Zauberspruch in Erfüllung, und sie stach sich damit in den Finger. In dem Augenblick aber, wo sie den Stich empfand, fiel sie auf das Bett nieder, das da stand, und lag in einem tiefen Schlaf.400

Das Mädchen geht vollkommen unbefangen mit der Spindel um, da sie von ihren Eltern nicht über den Fluch aufgeklärt wurde. Der Vater versuchte der bösen Weissagung zuvorzukommen, womit diese jedoch nur kurzfristig aufgeschoben werden konnte. Es ist unschwer zu deuten, dass die Spindel den Phallus symbolisiert. Als das Mädchen diese berührt, sticht sie sich daran, blutet und sinkt in einen tiefen Schlaf. Dieses Blut bezieht sich auf die Menstruation, die sexuelle Reife und nicht auf den Geschlechtsakt. Schon in der Bibel wird die monatliche Menstruation als „der Fluch“ bezeichnet, der Fluch einer Frau, den eine

391 Vgl. Bettelheim, 2017, S. 270 392 Vgl. Feustel, 2017. S. 342 393 Grimm, 1819, S. 249 394 Grimm, 2017, S. 36 395 Grimm, 1819, S.249 396 Vgl. Bettelheim, 2017, S. 270 397 Vgl. Feustel, 2017, S. 343 398 Vgl. Bettelheim, 2017, S. 268 399 Vgl. Bettelheim, 2017, S. 270-271. 400 Grimm, 2000, S. 258 89 an die nächste weitervererbt. Hier kommt es zur Blutung durch den Kontakt mit einer alten Frau und nicht mit einem Mann. 401 Der paralytische Zustand der Heldin symbolisiert ihre innere Einkehr während der Übergangsphase zwischen Adoleszenz und der einsetzenden fraulichen Reife.402 Bettelheim beschreibt diese Reaktion treffend als „narzisstisches Sichinsichselbstzurückziehens“, der sich das Mädchen an diesem Wendepunkt hingibt.403 Dornröschens Schlaf überträgt sich auf die gesamte Umgebung. In der Urschrift notierte Jacob: „Da auch in dem Augenblick der König u. der Hofstaat zurückgekommen war, so fing alles im Schloß an zu schlafen, bis auf die Fliegen an den Wänden“404.

Wilhelm staffierte in den folgenden Auflagen das Märchen viel erzählfreudiger, heiterer und bildlicher aus:

Und dieser Schlaf verbreitete sich über das ganze Schloß: der König und die Königin, die eben heim gekommen waren und in den Saal getreten waren, fiengen an einzuschlafen, und der ganze Hofstaat mit ihnen. Da schliefen auch die Pferde im Stall, die [253] Hunde im Hofe, die Tauben auf dem Dache, die Fliegen an der Wand, ja, das Feuer, das auf dem Herde flackerte, ward still und schlief ein, und der Braten hörte auf zu brutzeln, und der Koch, der den Küchenjungen, weil er etwas versehen hatte, in den Haaren ziehen wollte, ließ ihn los und schlief. Und der Wind legte sich, und auf den Bäumen vor dem Schloß regte sich kein Blättchen mehr.405

Die Beschreibung trifft eher auf einen gutbürgerlichen Gutshof, als auf ein Schloss zu. Perrault ließ seine „schlafende Schöne“ noch in einem prunkvollen Schloss wohnen. Bei den Grimms dominiert bereits der zeitgemäße Biedermeier-Realismus. Wilhelm zeichnet ein Familien-Idyll mit Gutshofgesinde, Fliegen an der Wand und brutzelndem Braten. Analog wird auch der ganze Hof gelähmt, zusammengehörige hierarchische, aufeinander bezogene Familien- und Arbeitsverhältnisse, bleiben auch im Schlaf bestehen.406

3.4.1.4 Das Motiv der Dornenhecke - Schutz und Isolation

In der französischen Fassung werden die Eltern nicht miteingeschläfert, demnach können sie das Erwachend der Tochter auch nicht mehr miterleben, obgleich Perrault die Eltern sehr viel fürsorglicher darstellte: „Der König und die Königin [küssten]ihr geliebtes Kind [und]verließen das Schloß[…]“ 407 Beide verlassen selbstlos das Schloss, um die Tochter zu schützen :„um bekanntzumachen, daß es jedermann verboten sei, das Schloß zu betreten.“408Der Grimmschen Heldin bleiben beide Elternteile erhalten, obwohl die Mutter dem Kind kaum besondere Zuwendung entgegenbrachte. Geschützt wird das Mädchen von einer Dornenhecke. Jacob notierte ursprünglich dazu, “Um das ganze Schloß zog sich eine Dornenhecke, daß man nichts davon sah.409Durch die redaktionelle Überarbeitungen Wilhelms entstand über die Jahre ein regelrechter Schutzwall:

401 Vgl. Bettelheim, 2017, S. 270-271. 402 Vgl. Feustel, 2017, S. 343 403 Vgl. Bettelheim, 2017, S, 272 404 Grimm, 2017, S. 36 405 Grimm, 2000, S. 258-259 406 Vgl. Mazenauer/ Perrig, 1995. S. 77 407 Perrault, 2017, S.60 408 Ebd. 409 Grimm, 2017, S. 36 90

Rings um das Schloß aber begann eine Dornenhecke zu wachsen, die jedes Jahr höher ward, und endlich das ganze Schloß umzog, und darüber hinaus wuchs, daß gar nichts mehr davon zu sehen war, selbst nicht die Fahne auf dem Dach.410

Während des hundertjährigen Schlafes ist „nur“ diese Dornenhecke aktiv. Ihr trauriger Leistungsnachweis sind die zahlreichen toten Jünglinge411, die sich darin „verstricken“ und sterben. Jacob beschreibt diese Szenerie noch sehr bündig:

Nach langer Zeit kam ein Königssohn in das Land, dem erzählte ein alter Mann die Geschichte, die er sich erinnerte von seinem Großvater gehört zu haben, u. daß schon viele versucht hätten durch die Dornen zu gehen, aber alle hängen geblieben wären412.

Wie bekannt schmückt Wilhelm diese aus und gibt ab 1812 erstmals einen Verweis auf die Namensgebung der Heldin, die offensichtlich aus dem eingeschlossenen Status innerhalb der Dornenhecke herrührt.413

Prinzen, die von dem schönen Dornröschen gehört hatten, kamen und wollten es befreien, aber sie konnten durch die Hecke nicht hindurch dringen, es war als hielten sich die Dornen fest wie an Händen zusammen, und sie blieben darin hängen und kamen jämmerlich um. So währte das lange, lange Jahre: da zog einmal ein Königssohn durch das Land, dem erzählte ein alter Mann davon, man glaube, daß hinter der Dornhecke ein Schloß stehe, und eine wunderschöne Prinzessin schlafe darin mit ihrem ganzen Hofstaat; sein Großvater habe ihm gesagt, daß sonst viele Prinzen gekommen wären und hätten hindurchdringen wollen, sie wären aber in den Dornen hängen geblieben und todtgestochen worden.414

Die undurchdringliche Dornenhecke wird vielen jungen Männern zum Verhängnis. Obgleich die Jungfrau unschuldig zu schlafen scheint, werden zahlreiche Jünglinge getrieben von dem Verlangen nach der aphroditischen Schönheit und sterben hilflos an den fatalen Verletzungen durch die dichten Rosendornen.415 Die vorzeitigen Bewerber erliegen ihrer Sehnsucht, da die Reifezeit des Dornröschens noch nicht abgeschlossen ist416. Zudem verweist die Verkleinerungsform „Röschen“ auf die Unreife des Mädchens, das beschützt werden muss. Gleichzeitig werden die verhängnisvollen Aspekte der fraulichen Reize herausgestrichen, womit die Jungfrau selber in die Nähe beziehungsweise in die Rolle der Femme Fatale gerät. Allgemein werden die Dornenranken mit der Dornenkrone Jesu assoziiert.417 In beiden Fällen, in den biblischen und märchenhaften Bezügen, stellen die Dornen ein Martyrium dar. Stellt man sich das Bild der hilflosen, von Dornen durchbohrten, blutenden, öffentlich zur Schau gestellten jungen Männer vor, wird die Verbindung mit dem Tode Jesu am Kreuz sichtbar.418

410 Grimm, 2000, S. 259 411 Vgl. Mazenauer / Perrig, 1995. S. 77 412 Grimm, 2017, S. 36 413 Vgl. Feustel, 2017, S. 346 414 Grimm, 1812, S.226 415 Vgl, Feustel, 2017. S. 347 416 Vgl. Bettelmann, 2017, S. 271 417 Vgl, Feustel, 2017. S. 347. Vgl. zudem auch den brennenden Dornenbusch, den selbst das Feuer nicht vernichten konnte im Buch Mose. 418 Vgl. ebd. 91

3.4.1.5 Das Motiv der Reife - „Die Rose kann gepflückt werden“

Als Dornröschen ihre körperliche und emotional Reife erlangt und bereit für Liebe, Sexualität und die Ehe ist419, weicht die Dornenhecke nach Ablauf der 100-jährigen Frist wie von selbst zurück. Dornröschens Weiblichkeit ist voll entfaltet, welche in dem Aufblühen der Blüten symbolisiert wird:

Nun waren aber gerade die hundert Jahre verflossen, und der Tag war gekommen, wo Dornröschen wieder erwachen sollte. Als der Königssohn sich der Dornenhecke näherte, waren es lauter große schöne Blumen, die thaten sich von selbst auseinander und ließen ihn unbeschädigt hindurch, und hinter ihm thaten sie sich wieder als eine Hecke zusammen.420

Nur ihrem Auserwählten gestattet sie, sich ihrem Innersten zu nähern, für alle weiteren Bewerber verschließt sich die Dornenhecke wieder. Sinnbildlich steht die aufgeblühte rote Rose nicht nur für das Blut, das Christi während seines Leidenswegs für die Erlösung der Menschheit vergossen hat. Sie ist gleichzeitig Symbol der Liebe, der Schönheit, der Erotik, des Genusses, der Fruchtbarkeit, des weiblichen Genitals, der Menstruation wie auch der Verschwiegenheit und des Geheimnisses421. Das damalige sehr bekannte Gedicht „Heidenröslein“ von Johann Wolfgang Goethe spielt auch auf die weibliche Jungfräulichkeit an.422 Das Sprichwort „Die Rose wurde zu früh gepflückt“ bedeutet den Verlust eben dieser. Die „Rose zu pflücken“ ist auch zentrales Thema des „Roman de la Rose“, eines Versromans aus dem 13. Jhd. Die Rose symbolisiert die Frau, die der Liebende nach Überwindung zahlreicher Widerstände erlangen und pflücken möchte. Ähnlich wie in der Perceforest – Prosa steht ihm dabei Venus hilfreich zur Seite und ähnlich wie im Dornröschen-Märchen muss der Liebeswerber einen Schutzwall um den Rosenbusch herum bezwingen.423 Die deutsche Rockband „Rammstein“ greift das Thema in ihrem Lied „Rosenrot“ von 2005 ebenfalls auf.424 Jacob Grimm misst in seiner knappen Notiz dem Gewinnen der Jungfrau vergleichsweise zu Wilhelms Überarbeitungen nur wenig Gewicht zu. Die zentralen Ereignisse verlaufen wie in einem Zeitraffer: Erweckungskuss, Hochzeit und Schlußformel.425“ Wie er nun in das Schloß kam, küßte er die schlafende Princeßin und alles erwachte von dem Schlaf u. die zwei heirateten sich und wenn sie noch nicht gestorben sind, so leben sie noch.“426Wilhelm verwendet in der ausgeschmückten Fassung von 1812 noch, wie auch Jacob, das weibliche Personalpronomen für die schlafende Königstochter, ab 1819 verzichtet er auf die weibliche Form und mildert so deren erotische Reize ab.

[…]da kam er endlich in den alten Thurm, da lag Dornröschen und schlief. Da war der Königssohn so erstaunt über ihre Schönheit, daß er sich bückte und sie küßte, und in dem Augenblick wachte sie auf, und der König und die Königin, und der ganze Hofstaat[…]427

419 Vgl. Bettelheim, 2017, S. 271 420 Grimm, 2000, S.259 421 Vgl. Biedermann, Hans (Hrsg.): Knaurs Lexikon der Symbole. München: Droemer Knaur, 1998. 422 Vgl. Goethe, Johann Wolfgang von: Gedichte. Redaktion u. Vorwort von Stefan Zweig. Stuttgart: Reclam, 1998. S. 21. 423 Vgl. Lorris, Guillaume de: Der Rosenroman. Übers. v. Manfred Krüger. Dornach:Verlag am Goetheanum, 1985. 424 Vgl. Rosenrot, Rammstein:2005. URL: https://www.youtube.com/watch?v=af59U2BRRAU [letzter Aufruf am 10.03.2019] 425 Vgl. Feustel, S. 348 426 Grimm, 2017, S. 36 427 Grimm, 1812, S. 229 92

Durch die außergewöhnliche Wirkung, die die Schlafende auf den Königssohn ausübt, erhält sie gleichzeitig eine aktivere Rolle bei der Erstbegegnung der beiden Liebenden. In den weiteren Auflagen wird die Erweckung der Jungfrau immer weiter entsexualisiert:

Da lag es und war so schön, daß er die Augen nicht abwenden konnte, und er bückte sich und gab ihm einen Kuß. Wie er es mit dem Kuß berührt hatte, schlug Dornröschen die Augen auf, erwachte, und blickte ihn ganz freundlich an.428

1837 berührt der Königssohn die Heldin gar nur mehr mit einem Kuss: „Wie er es mit dem Kuß berührt hatte, schlug Dornröschen die Augen auf […]429 Da der Erweckungskuss eine zentrale Rolle spielt, war es Wilhelm nicht möglich ihn vollständig zu eliminieren.430 Dennoch achtet er peinlich genau darauf den Körperkontakt so beiläufig wie möglich zu halten. Die junge Frau bleibt zurückhaltend, mit ihrem freundlichen Blick gibt sie ihre Einwilligung in die Beziehung. Damit steht die Grimmsche Version in klarem Kontrast zu ihrer französischen Vorläuferfassung von Perrault, die eindeutig sexuell nuanciert war. Perraults Paar zieht sich nach der schnellstmöglichen Trauung zurück um die geschlechtliche Liebe zu genießen, deren Beweis die baldige Geburt der beiden Kinder ist. Wilhelm lenkt den Blick mit einer humoristischen Note nach dem Erweckungskuss unmittelbar auf das parallele Erwachen des ganzen Schlosses, auf dem unverzüglich der Arbeitsalltag wieder aufgenommen wird:„[…]der Braten fieng wieder an zu brutzeln: und der Koch gab dem Jungen eine Ohrfeige daß er schrie: und die Magd rupfte das Huhn fertig“431. Perraults und Basiles Eifersuchtsmotiv bleibt völlig ausgespart. Das Grimmsche Märchen endet mit der Hochzeit, die auch das Ende der Kindheit Dornröschens signalisiert. Der einstige symbolische Fluch ist ein versteckter Segen.432Erstaunlich ist dennoch, dass Wilhelm, selbst als er Hochzeit feiern lässt, weder auf die Diminutivform verzichtet noch der Heldin das Femininum zugesteht, obwohl diese den Zustand einer reifen Frau erreicht hat: „Und da wurde die Hochzeit des Königssohns mit dem Dornröschen in aller Pracht gefeiert, und sie lebten vergnügt bis an ihr Ende.“433Dem Märchen wird jede Erotik und Verspieltheit eines Perraults oder Basiles genommen. Die Grimms inthronisieren geschickt das Ideal der bürgerlich-kapitalistischen Leistungsgesellschaft. Nach erbrachter Leistung erhält der Königssohn die Königstochter, Standesunterschiede müssen keine überwunden werden. Das adelige Glück taugt nicht mehr als erstrebenswerteste Lebensform. Geschickt inszeniert Wilhelm volkstümliche Schlichtheit und sucht nach einer Rückkoppelung an eine heile Welt. Im Dornröschen–Märchen fügt er in einer Überarbeitung den Begriff „Sage“ ein und unterstreicht damit die Anbindung an eine Welt, in der es noch Wunder gibt.434

3.4.1.6 Das Dornröschen Märchen als Ur-deutscher Mythos? Brunhild als Dornröschen?

1812 verweisen die Brüder im Anhang neben Perraults „Belle au bois dormant“ auf die schlafende Brunhild aus dem nordgermanischen Sagenschatz der Edda:

428 Grimm, 1819, S. 254 429 Grimm, 1837, S. 302. 430 Vgl. Feustel, 2017, S. 349 431 Grimm, 2000, S. 260. 432 Vgl. Bettelheim, 2017, S. 273 433Grimm, 2000, S.260 434 Vgl. Mazenauer/ Perrig, 1995, S. 78-79 93

Die Jungfrau, die im Schloß mit Dornenwall umgeben schläft, bis sie der Königssohn erlöst, ist mit der schlafenden Brynhild, die ein Flammenwall umgiebt, durch den Sigurd dringt, insofern identisch.435

In der zweiten Auflage 1819 ändert Wilhelm das kursierende Gerücht um die schöne Königstochter in eine „Sage in dem Land von dem schönen, schlafenden Dornröschen […]“.436 Der Begriff „Sage“ bleibt bis zu der endgültigen Fassung 1857 bestehen. Die Nähe zur Götter- und Heldensage „Edda“ präzisiert er in den Anmerkungen dazu noch mehr:

Die Jungfrau die in dem von einem Dornenwall umgebenen Schloß schläft, bis sie der rechte Königssohn erlöst, vor dem die Dornen weichen, ist die schlafende Brunhild nach der altnordischen Sage, die ein Flammenwall umgibt, den auch nur Sigurd allein durchdringen kann, der sie aufweckt. Die Spindel woran sie sich sticht und wovon sie entschläft, ist der Schlafdorn, womit Othin die Brunhild sticht […]437

Dieser apodiktische Kommentar, indem die Grimms das Märchen in die Nähe des Mythos rücken rief ein ganzes Bataillon an Wissenschaftlerinnen auf den Plan, um diese Äußerung zu untersuchen. Für zusätzliche Verwirrung sorgte die weitere Quellenangabe, da sie nun nicht mehr „von der Marie“, sondern „aus Hessen“ anführen und die ausschließliche Nähe zu Perrault 438minimieren, indem sie auch auf Basile verweisen.439 Rölleke fasst in seiner Untersuchung zusammen, dass weder das Märchen aus der „Edda“ hervorgegangen sei oder gar umgekehrt, da es sich um völlig andere Motivzusammenhänge handelt: Odin bestraft seine Tochter wegen Ungehorsams, Dornröschen hingegen ist ein völlig unschuldiges Kind am Ende der Adoleszenz. Brunhild ist in ihrem Zauberschlaf von einer Hecke oder der Waberlohe, einem Flammenwall umgeben. Der Held – Sigurd- durchschreitet diese und schneidet der Schlafenden den Panzer auf. Brunhild erwacht und es erfolgt ein keusches Beilager, wo der Held das Schwert zwischen sich und die Jungfrau legt.440

3.4.1.7 Grimms „grimmiger“ Glückstraum

Grimms Heroisierung einer bürgerlichen Lebensausrichtung und die Integration an „alte Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat […]“441ergeben gemeinsam den kapitalistischen Traum vom Glück.442 Jede der vorgenommenen Überarbeitungen Wilhelms folgte einer pädagogischen Zielsetzung. Möglicherweise ist dies der Grund für den stellenweise „grimmigen“ Ernst443 der brutalen Bestrafungen und klaren Kontrastierungen.

435 Grimm, 1812, Anhang: XXXI 436 Grimm, 1819, S. 252 437 Grimm: Kinder und Hausmärchen: Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen hrsg. v. Heinz Rölleke. Bd.3. Stuttgart: Reclam, 2018. S.86. 438 Rölleke, 1984, S. 133 439 Vgl. Grimm, 2018, Bd.3, S.86 440 Vgl. Rölleke, 1984, S. 133-134. 441Grimm, 2000, S.29 442 Mazenauer/ Perrig, 1995. S. 78 443 Ebd. S. 78 94

3.5 Bearbeitungen des Dornröschen-Stoffes in Musik, Theater, Film und Kunst

Gemäß der Beliebtheit des Märchens gibt es zahlreiche Bearbeitungen und Adaptionen sowohl in der bildenden Kunst als auch in Literatur, Musik, Theater und Film. Nach Ulf Diederichs wurde das Dornröschen- Märchen über 50 Mal vertont. Zu den bekanntesten Komponisten zählt Sergei Rachmaninow. Pjotr Iljitsch Tschaikowsky schrieb die Musik zum Dornröschen-Ballett, dass auf der Perrault´schen Fassung basiert. Weiter beziehen sich 22 Bühnendichtungen im Zeitraum von 1855-1924 ausschließlich auf das Grimm´sche Dornröschen.444 Auch in der filmischen Bearbeitung fand das Märchen seine Umsetzung. Zwei dieser Filme, die den Dornröschen–Stoff, beziehungsweise dessen Motive als Vorlage benützen, sollen hier vorgestellt werden. In der Literatur, insbesondere der Jugend-, Frauen- und Ratgeberliteratur ist die Fülle des Dornröschen Stoffes enorm. Darum kann hier auch nur eine exemplarische Auswahl getroffen werden.

3.5.1 Walt Disney´s Sleeping Beauty (1959)445

Wie schon bei Cinderella wurde auch die Version von Charles Perrault als Vorlage gewählt, dennoch weicht die Umsetzung an einigen Stellen grundlegend von dieser ab. Zusätzlich werden weitere Motive eingefügt. Im deutschsprachigen Raum erschien der Zeichentrickfilm unter dem Titel „Dornröschen und der Prinz“. In der Version Disney´s wächst das Mädchen, Aurora, nach dem verhängnisvollen Fluch nicht bei ihren Eltern, sondern bei den drei guten Feen tief im Wald auf, um sie vor dem Zauberspruch der bösen Malefiz zu verstecken und beschützen. Genau an ihrem 15. Geburtstag vernachlässigen die Feen ihre Aufsichtspflicht, obwohl dieser Tag als ihr „Schicksalstag“ vorhergesagt wurde. Sie wollen den Geburtstag „Röschens“ vorbereiten und schicken sie zum Beerenpflücken in den Wald. An diesem Tag lernt sie auch ihren Traumprinzen kennen. Indes gelingt es Malefiz sie aufzuspüren, hypnotisiert sie und leitet so den legendären Spindelstich ein, der sie in einen tiefen Schlaf fallen lässt. Die drei Feen versetzen, um unnötige Aufregung zu vermeiden, die gesamte Geburtstagsgesellschaft, außer Auroras Zufallsbekanntschaft im Wald, der sich noch auf dem Weg zu ihr befindet, ebenfalls in einen schlafenden Zustand. Ihr Traumprinz wird jedoch von Malefiz in ihr dunkles Schloss entführt, den drei Feen gelingt es aber, ihn zu befreien. Unverzüglich macht er sich auf den Weg zu der schlafenden Aurora, die von Malefiz durch einen dichten Dornenwald abgeschottet wird. Er kämpft sich durch und muss auch noch einen feuerspeienden Drachen bezwingen. Endlich erreicht er Aurora und erweckt sie und die ganze Gesellschaft bereits nach nur wenigen Stunden.

3.5.2 Disney´s Sleeping Beauty versus zeittypischer Dornröschen-Illustrationen

Disney´s Frauengestalten (die „guten“ Protagonistinnen) sind der Inbegriff vollkommener, puppenhafter Schönheit, Jugend und Weiblichkeit. Aurora ist „barbiegleich“, sie besitzt ebenmäßige Züge, eine kleine, geschwungene Stupsnase, einen kirschroten Kussmund, haselnussbraune Augen, blondes, leicht gewelltes Haar, das verführerisch ihr tiefes Dekolleté umschmeichelt. Sie ist aufreizend schulterfrei gekleidet. Ihre schmale Taille gleicht der einer

444Vgl. Diederichs, 1995, S.67 445 Sleeping Beauty. Regie: Clyde Geronimi, Produktion: Walt Disney, Drehbuch: Erdman Penner: USA: Buena Vista Distribution, 1959. 95

Barbiepuppe.446 Disney vereint Kindchenschema und subversiv, sexuelle Elemente. Ihre Züge weisen keine charakterliche Individualisierung auf. Lutz Röhrich beschreibt den Zeichenstil Disney`s als schablonenhaft, typisiert, eine Figur gleiche der nächsten. Fairerweise muss hier festgehalten werden, dass auch der männlich, gute Held die Ausstattung des zeitgemäßen männlichen Idealbildes erhält, das Vitalität und Fertilität verspricht. Im selben Jahr brachte die Firma Mattel die legendäre Barbie-Puppe auf den Markt, deren Markenzeichen bis in die Gegenwart ebenfalls Schönheit, Jugend und weibliche Reize sind und Disneys Cinderella zum verwechseln ähnlich ist. 1961 wurde sie um ihr männliches Pendant „Ken“ ergänzt. 447 Wie bereits Cinderella erledigt Aurora ihre Arbeit singend und verkörpert mit ihrem idealtypischen Äußeren das (Hausfrauen)-ideal der späten 1950er Jahre. Sie stellt mit ihrem Verhalten den Inbegriff weiblicher Hilflosigkeit, dümmlicher Naivität und Einfalt dar. Dies beweist sie sowohl im Umgang mit ihrem männlichen Verehrer als auch mit ihren Ziehmüttern. Als sie beispielsweise von ihren drei erziehungsberechtigten Feen erfährt, dass sie eigentlicher adeliger Abstammung ist, beharrt sie übertrieben darauf einfacher Herkunft und „Sonnenschein“ zu sein, obwohl an der wahrheitsgemäßen Aufklärung der drei guten Frauen kein Zweifel bestehen sollte. So erscheint sie eher als störrisches Kind in der Trotzphase als eine fünfzehnjährige, sich entwickelnde junge Frau, obgleich sie bereits mit anzüglichen, weiblichen Reizen ausgestattet ist. Nichts weist auf die neugierige, agile, reifende Frauenfigur aus dem Grimm´schen Märchen oder auf Perraults kokette, selbstbewusste Heldin hin.

Dornröschen von Ludwig Emil Grimm (1825)- Vergleich Abb.4

Ludwig Emil Grimm zeigt in seinem Kupferstich das Dornröschen schlafend auf einem einfachen Bett. Sie schläft seitlich gedreht zur/zum BetrachterIn, der Kopf ruht auf einem Kissen, ihre Hand ist daneben abgelegt. Sie trägt ein langes, weites, ihre Gestalt verhüllendes Kleid. Ihr Gesicht und ihre Gestalt wirken mädchenhaft, das Gesicht ist fein gezeichnet und trägt individuelle Züge. Das sehr lange, vermutlich brünette Haar fällt in sanften Wellen über ihren Rücken. Der Schlaf scheint sie plötzlich überkommen zu haben, da sie auch keine Zeit fand sich zuzudecken. Auch Hund, Kätzchen und Vogel sind in den Zauberschlaf gefallen. Gotische Spitzbogenfenster lassen den Raum beinahe sakral wirken. Licht fällt nur mehr aus dem oberen Fünftel des Fensters in den Raum, da die Dornenhecke bereits zu wuchern begonnen hat, dennoch scheint das Mädchen zu erstrahlen. Ludwig Grimm erschafft eine beinahe zen-artige Ruhe die auf die BetrachterInnen übergreift. Die Raumkomposition wirkt wirklich und unwirklich zugleich. Diese, das isolierte Mädchen, und die absolute Stillen rufen Assoziationen zu den Werken Edward Hoppers hervor.

Dornröschen von Eugen Napoleon Neureuther (1836) – Vergleich Abb.5

Wilhelm Grimm favorisierte die Kupferstiche Eugen Napoleons Neureuther. Lobend äußerte er sich darüber in der Vorrede der KHM von 1843. Er bezeichnete den Stich als sinnreich und betonte die Einwirkung der Dichtung auf die bildende Kunst.448Dies ist insofern verwunderlich, da Wilhelm jede Andeutung von Erotik und Sinnlichkeit peinlich genau in seinen Arbeiten zensuriert hatte. In Neureuthers Blatt präsentiert sich jedoch zentral eine

446 Vgl. McDonough, Yona Zeldis: The Barbie Chronicles: A Living Doll Turns Forty. New York: Simon & Schuster, 2011. S.112 u. S.79 447 Vgl.ebd., S.21 448 Grimm, 2018, S.26 96 verführerische, bereits sehr weiblich entwickelte, schlafende Jungfrau, die dem Königssohn ihren üppigen Busen einladend entgegenstreckt. Üppig wuchern auch die Rosenhecken, die sich bereits bis ins Innere der Räumlichkeiten ranken. Neureuthers Stich ist streng symmetrisch aufgebaut. Das Schloss ist gleich einem Triptychon dargestellt, gleichzeitig suggeriert es auch ein biedermeierliches Puppenstübchen zu sein, in dessen Mittelteil die Jungfrau ihre Schlafstätte hat. Hier ist ein weiterer Bildraum zu sehen, der die Wendeltreppe zu dem verhängnisvollen Stübchen erkennen lässt. In den beiden schmaleren Flügeln sind ebenfalls Räumlichkeiten zu erkennen. Darunter schlafen König und Königin, beide tragen eine Krone, der König hält noch sein Zepter in der Hand. Die „Predella“ ist mit Bildszenen und barockem Dekor geschmückt. Der Märchentitel ist ebenfalls eingraviert. Der Stich hat gleichermaßen sakralen, wie unwirklich märchenhaften Charakter.

Abb.3. Abb.4

97

Abb.5

3.5.3 Briar Rose (1992)

Jane Yolen verlegt in ihrem Roman die klassischen Dornröschen-Motive in den Kontext des Holocaust. Sie behandelt in diesem Zusammenhang auch die Themen Zensur und Homosexualität. Der Roman wird aus der Perspektive der jungen, jüdisch-amerikanischen Journalistin Becca erzählt. Diese unternimmt eine Reise nach Polen, um das Versprechen, dass sie ihrer geliebten Großmutter Gemma am Sterbebett gibt, zu erfüllen und das Geheimnis ihrer rätselhaften Vergangenheit zu lösen. Dadurch erfährt sie die Geschichte ihrer Familie, über die die Großmutter aufgrund der traumatischen Erfahrungen nie gesprochen hat. Gleichzeitig erobert sie ihre jüdische Identität zurück.449 Auf dem Weg nach Chelmno trifft sie auf verschiedene Personen, darunter auf Josef Potocki, einen ebenfalls den Holocaust-Überlebenden, der die damals junge Frau (Großmutter) rettete, ihr ihren Flug in die USA organisierte und sie damit vor dem sicherem Tod bewahrte. Das Dornröschen- Märchen ermöglichte es Gemma mit ihrem Trauma und ihrer unaufgearbeiteten Vergangenheit zurechtzukommen und dennoch darüber zu sprechen. Der Schlüssel zu Gemmas Vergangenheit liegt in der obsessiven Nacherzählung des Dornröschen-Märchens in einem jiddischen Akzent. Ihre jüngste Enkelin schließlich vermag die Geschichte während ihrer Polen-Reisen zu dekodieren. Die verschlüsselte Erzählung ist Zeugnis ihres:

[…]miraculous survival of the extermination camp of Chelmno thanks to the intervention of a group of partisans […] “Sleeping Beauty” is made to express the unspeakable truth because it offers the consolation of a fairy tale romance lying outside reality, set in a

449 Vgl. Hennard, Martine Dutheil de la Rochère / Viret , Geraldine: “ Sleeping Beauty ” in Chelmno : Jane Yolen’s Briar Rose or Breaking the Spell of Silence .S. 399-424,2011 In: https://journals.openedition.org/edl/221 [letzter Aufruf am 01.04.2019] 98

dream-like, magical universe that obeys its own laws and where fantasy reigns supreme.450

Das märchenimmanente Versprechen des guten Ausgangs trösten und beruhigen die Heldin.

3.5.3.1 Fiktion und Realität: Sleeping Beauty als Holocaustliteratur

Jane Yolen kombiniert in ihrem Roman Wirklichkeitserfahrung, Traumata und das populäre Genre eines klassischen Märchens. So schafft sie es bei den LeserInnen eine Vorstellung für die schier unaussprechlichen Erfahrungen der Holocaust- Opfer zu entwickeln, die Voraussetzung für Mitgefühl und die Ausbildung von moralischen, sozialen und ethischen Werten sind.451 Yolen knüpft hier an die pädagogischen Funktionen des Märchens an. Briar Rose appelliert an das kollektive Gedächtnis der LeserInnen um die vertraute Geschichte,

um […] den Wunsch zu wecken mehr über die Umstände des Holocaust zu erfahren, und das Vergessen in einer Zeit zu verhindern, in der Zeugen aus erster Hand verschwinden und Ereignisse allmählich aus dem Gedächtnis verschwinden.452

Gemmas eigentümliche Version des Märchens enthält Hinweise, die sich nur allmählich offenbaren. Ihre Enkeltöchter werden erwachsen, die Geschichte bleibt dieselbe. Damit erhält sie eine universelle und zeitlose Bedeutung.453

3.5.3.2 Das Motiv des Zaubers/ Fluches in Briar Rose

Der Fluch, beziehungsweise der Zauber der Errettung sind der Antrieb der Handlung in Briar Rose. Der Zauber bildet den Ursprung von Gemmas Trauma. Das zwanghafte Nacherzählen der Geschichte neutralisiert den Fluch, sprich die Gräueltaten der Nationalsozialisten. Gemmas seltsame Nacherzählung des Märchens dominieren die Kindheitserinnerungen ihrer Enkeltöchter, vor allem die der Jüngsten. Becca erhält Hinweise auf die Vergangenheit ihrer Großmutter und ihr eigenes Erbe.454 Im Zuge ihrer Reise stellt sich heraus, dass das erwartete Märchenschloss ein „albtraumhaftes“ Schloss ist: das Vernichtungslager in Chelmno, in dem die Insassen der Tod durch Vergasung erwartete455.“Ein Mausoleum für 360000 Männer, Frauen und […] Kinder, die weggeworfen wurden, als ob sie nur tote Tiere wären […] alle [wurden]in Öfen gesteckt, “456erfährt Becca in Polen von einer (unvermuteten) Verwandten. Die Erzählerin Gemma identifiziert sich mit dem Dornröschen. Ihre körperlichen und emotionalen Handlungen während des Erzählens weisen immer wieder darauf hin:

[…] eines Tages, schließlich und endlich und zur rechten Zeit, ging die Königin zu Bett und gebar ein kleines Mädchen von flammend rotem Haar.“ Gemma versuchte ihr eigenes

450 Ebd. 451 Vgl. ebd. 452 Ebd. Sehr ähnlich beschrieben auch die Brüder Grimm in ihrer Vorrede 1819, warum es gerade zu jener Zeit wichtig war die Märchen aufzuzeichnen. 453 Vgl. end. 454 Ebd. 455 Ebd. 456 Yolen, Jane: Dornrose. Die Geschichte meiner Großmutter. Berlin: Bloomsbury, 1992. S.153 99

Haar zu berühren […]“Das Kind war so schön wie die wilden Heckenrosen, deshalb nannte es der König […] Prinzessin Dornrose.457

Im Zuge der Geschichte übernimmt auch gleichzeitig Becca die Rolle des Dornröschens, da sie der Großmutter mit ihren roten Haaren ähnelt und wie die Grimmsche Heldin mit einem mutigen und wissbegierigen Wesen ausgestattet ist. Während ihrer Polenreise durchläuft sie einen Reifungsprozess. Diese wird über die Gewissheit der Gräueltaten der Nationalsozialisten zu einer Suche und Entdeckung ihrer Identität. Wie das traditionelle Dornröschen verlässt sie die Komfortzone ihrer gewohnten Umgebung und begibt sich „einsam“ und allein auf die Suche nach ihrer Vergangenheit, um die Ungewissheit, den Bann des Fluches, zu brechen, da niemand in ihrer Familie jemals die reale Geschichte Gemmas erfuhr. Weder ihr Vater noch ihre Mutter wissen den richtigen Geburtsnamen oder –ort der Großmutter, beziehungsweise Mutter. Zu traumatisch waren ihre Erfahrungen, sodass sie nie mit irgendjemanden darüber sprach, außer in der verschlüsselten Form ihrer Märchennacherzählung. Gemmas Nacherzählung folgt dem Grimmschen Märchen, weicht aber auch in Schlüsselszenen davon ab. Zu Ehren der Geburt von Grimms Dornröschen lässt der König ein großes Fest ausrichten, doch da in der jüdischen Tradition die Taufe nicht Teil deren Kultur ist, gibt der König eine Party,

[…]mit Kuchen, Eiscreme und goldenen Tellern. Und er verschickte Einladungen an alle guten Feen des Königreichs. Aber nicht an die böse Fee. Nicht an die Hexenmeisterin ganz in Schwarz mit ihren großen schwarzen Stiefeln und silbernen Adlern. […] Aber sie ist gekommen […] dieser Todesengel458

Der Fluch spielt in Yolens Version eine ebenso große Rolle wie bei den Grimms, dieser richtet sich hier gleich direkt an Briar Rose:

Ich verfluche Dich und deinen Vater, den König, und deine Mutter, die Königin, und alle deine Onkel, Cousinen und Tanten…und alle Menschen, die deinen Namen tragen“459[…]“Wenn du siebzehn Jahre alt bist“ […]“wird mein Fluch dich treffen. Du wirst zu Boden sinken, ein dichter Neben wird das Schloss einhüllen, und alle werden sterben. Auch du Prinzessin“[…]Aber eine […] hatte sich ihren Wunsch aufgespart […]Einige werden nur in einen tiefen Schlaf fallen. Du wirst eine von ihnen sein.460

In der Beschreibung des „großen Nebels“ verweist Gemma beziehungsweise Yolen auf die Vergasung von Millionen von Nazi-Opfern. Die Geschichte in der es einst um sexuelles Erwachen ging, wird nun in eine historische Begebenheit, in der es um Völkermord („alle die deinen Namen tragen“), Extremismus und Antisemitismus geht, transformiert: „Es wird zu einem Alptraum der Gewalt, des Leidens und des Todes, aus dem [Gemma] niemals vollständig erwachen wird.“461 Sie ersetzt ihre Identität durch die Fiktion des Märchens. Gemma betont, dass diesem Fluch niemand entkommt, außer der Märchenheldin, mit der sie sich identifiziert: „Alle schliefen: Lords und Ladies, Lehrer und Tummler […] Raben und Rabbitzen und auch sonst allerlei Volk…“.462 Yolen kombiniert hier wieder historische Bezüge

457 Ebd. S.12 458 Ebd.S.47 459 Ebd.S.48 460 Ebd.S.48 u. 43. 461 Hennard/Viret, 2011. 462 Ebd. S.48-49 100 mit dem Märchen, indem sie Rabbitzen – weibliche Rabbiner – und Tummler (jiddisch: tumeln, treiben; damit sind Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime gemeint)463 miterwähnt. Gemmas Prinz ist Josef Potocki: „Während er durch das Schloss wanderte, sah er […] wie viele Menschen hier schlafend lagen[…]doch keiner regte sich.“464 Die schlafenden, beziehungsweise bewusstlosen, oder bereits toten „BewohnerInnen“ des „Schlosses“ sind mit der Entdeckung des Massengrabes durch die Partisanen gemeint. Becca erhält diese Informationen während ihres Polen-Aufenthalts und kann so Josef als den Prinzen und Retter identifizieren und erfährt wie knapp ihre Großmutter dem Tod entronnen ist.“ […] ein Nebel schwebte wie ein letzter Atemzug auf den Lippen der Schlafenden.“ Der Nebels steht symbolisch für die tödliche Wirkung des Gases, aber auch den erstickenden Geruch der Krematorien, den Rauch und die Asche, die Zerstörung durch den Holocaust. Die Erzählungen der Großmutter enden wie in dem konventionellen Märchen mit einem Kuss. Allerdings geht es bei Yolen weder um Romantik noch um Heroismus, sondern der lebensspendende Aspekt des Kusses wir betont. Wie traumatisch diese Erfahrungen auf die überlebenden Opfer gewirkt haben müssen, erfahren die LeserInnen dadurch, dass Gemma während ihren Erzählungen immer wieder unterbricht oder auch in der Begegnung Beccas mit Josef, als er wegen der aufgewühlten Erinnerung, „unterdrückt weinte[…] und sich die Augen tupfte“.465 Josef erklärt Becca, dass dies keine Geschichte von Helden, sondern von Überlebenden ist.

3.5.3.3 Die subtile Botschaft in Briar Rose

Auch wenn Gemmas Nacherzählung dem klassischen Märchen zu entsprechen scheint, offenbart ein genauer Blick doch eine ganz andere Botschaft. Es wird von einer sozialen Realität berichtet, die „nicht der märchenhaften Definition von Glück entspricht.“466 Becca, ihre Enkelin, kann erst als Erwachsene die Antworten auf jene Fragen finden, die sie ihrer Großmutter schon als Kind stellte. Gemma konnte oder wollte die furchtbaren Aspekte ihrer Lebensgeschichte nicht enthüllen. Hinter dem scheinbar harmlosen Märchen verbergen sich Verzweiflung, Horror, Schmerz und Tod. Jane Yolen, weist in ihrem Nachwort darauf hin, dass, „nie eine Frau lebend aus Chelmno herausgekommen [ist]“.467Und dennoch impliziert ihr Roman, dass, „die Literatur zum Zeugen und vielleicht zum einzigen Zeugen der Krise der Geschichte wird, die gerade nicht artikuliert werden kann […]“468 In einem Interview spricht sie über ihre Rolle als Schriftstellerin, als "[…] the memory of a civilization and we who are alive now really must not forget what happened in that awful time or else we may be doomed to repeat it.”469 Damit wird die LeserInnenschaft aufgefordert auf menschliche Tragödien zu reagieren und kann Mitgefühl und ethische Werte entwickeln.

463 Vgl. Hennard/Viret, 2011. 464 Yolen, 1992, S.178 465 Ebd.S.184. 466 Hennard/Viret, 2011 467 Yolen, 1992, S.283. 468 Hennard/Viret, 2011 469 Stone,RoseEtta: A Book Review and a Discussion with Jane Yolen, Author. 2011. URL: Interview with Jane Yolen about Briar Rose, and a Review of this Controversial Book.html [letzter Aufruf am 30.03.2019] 101

3.5.4 Hable con Ella (2002)

Pedro Almodovar führte Regie und schrieb das Drehbuch zu dem 2002 erschienen Drama „Hable con Ella“- „Sprich mit Ihr“. Er inszenierte damit ein psychologisch, äußerst sensibel gezeichnetes Werk um die Themen Liebe, Einsamkeit, Angst und Tod. „Sprich mit ihr“ handelt von der sich am Krankenbett ihrer beiden Geliebten sich entwickelnden Freundschaft zwischen zwei Männern und von einer Liebe jenseits aller Wahrscheinlichkeiten.470 Beide Frauen liegen im Wachkoma. Benigno ist Krankenpfleger und pflegt voller Hingabe die komatöse Alicia. Zuvor pflegte er 15 Jahre lang seine psychisch kranke Mutter. Via Fernkursen ließ er sich zum Friseur und Kosmetiker ausbilden, um sie angemessen betreuen zu können. In diesen Jahren der Zurückgezogenheit verliebt er sich in die junge Tänzerin Alicia. Er beobachtet sie täglich während ihres Tanztrainings und entwickelt eine Obsession für sie. Er sieht, dass sie ihre Geldbörse verliert und folgt ihr unter dem Vorwand ihr diese zurückgeben zu wollen. So findet er heraus wo sie wohnt und erfährt, dass ihr Vater Psychiater ist. Benigno konsultiert diesen, um in der Nähe Alicias zu sein. Als er wieder einmal Alicia „besuchen“ möchte, erfährt er, dass sie als Folge eines Autounfalls im Wachkoma liegt. Ihr Vater engagiert Benigno als ihren Pfleger, da er glaubt, dass er homosexuell ist und damit keine Gefahr für Alicia bedeutet. Seitdem widmet ihr Benigno sein Leben, er betreut sie fast rund um die Uhr, er sieht sich Stummfilme und Ballettaufführungen an, weil er weiß, dass sie sich dafür interessierte. Anschließend erzählt er ihr davon. Er wäscht Alicia, massiert sie, spricht mit ihr, schiebt ihr Krankenlager an die Sonne, wechselt ihr die Monatsbinden. Wenn er von ihr spricht, sagt er häufig „wir“, ganz so, als ob sie ein Paar wären. Parallel ereignet sich die Handlung des zweiten Paares: Marco, ein argentinischer Journalist und Lydia eine umstrittene Stierkämpferin. Marco verliebt sich in die androgyne Schönheit, die Angst vor Schlangen hat und ihn dadurch an seine frühere Liebe erinnert. Sie gehen eine Beziehung ein. Marco begleitet Lydia zu einer Corrida, sie will ihm unbedingt etwas erzählen, doch er redet unablässig von sich. Sie wird lebensgefährlich von einem Stier verletzt und fällt in ein Wachkoma ohne Aussicht je wieder daraus zu erwachen. Lydia wird in dasselbe Krankenhaus wie Alicia gebracht. Der Arzt erklärt Marco, dass Lydia nie wieder in der Lage sein wird zu sprechen, denken oder fühlen. Allein die physiologischen Funktionen bleiben intakt. Dort lernen sich die beiden Männer kennen. Marco findet zwar befremdlich wie Benigno mit den beiden Frauen spricht, lässt ihn aber gewähren. Nino, Lydias vermeintlicher Ex-Liebhaber, erscheint im Krankenhaus. Marco erfährt, dass Lydia und Nino sich wieder versöhnt hatten und sie sich von ihm trennen wollte. Enttäuscht reist er nach Jordanien und arbeitet an einem Reiseführer. Durch eine Zeitungsmeldung erfährt er, dass Lydia verstorben ist. Er ruft im Krankenhaus an, Schwester Rosa berichtet ihm kurz von den Geschehnissen und auch davon, dass Benigno im Gefängnis sitzt, weil er wegen der Vergewaltigung an Alicia angeklagt wird. Alicias Menstruation blieb aus, worauf sie untersuchte und eine Schwangerschaft feststellt wurde. Marco reist sofort nach Spanien zurück um seinem Freund beizustehen. Er übernimmt auch dessen Mietwohnung, welche voller Fotos und Erinnerungen an Alicia ist. Trotz seiner prekären Lage interessiert sich Benigno ausschließlich dafür, wie es Alicia geht. Marco findet heraus, dass sie verlegt wurde, eine Totgeburt hatte

470 Vgl. Reicher, Isabella: "Sprich mit ihr": Verbunden auf immer und ewig. In: Der Standard (27.04.2004) URL: https://derstandard.at/1036858/Verbunden-auf-immer-und-ewig (letzter Aufruf am 03.03.2019] 102 und im Zuge dessen aus dem Koma erwacht ist. Sie macht bereits wieder die ersten Ballett- beziehungsweise Bewegungsübungen. Benignos Anwalt, den Marco für ihn engagierte, rät ihm ab, diesem vom Erwachen Alicias zu erzählen. Dieser folgt dem Rat. Als er seine Mailbox abhört, kündigt Benigno seinen Suizid an. Marco rast zum Krankenhaus, doch er kommt zu spät. Benigno ist tot. Er hat sich mit, extra dafür versteckten Tablette, das Leben genommen, um näher bei Alicia zu sein. Am Ende des Films sehen wir, wie Marco und Alicia sich im Theater begegnen. Ihre Ballettlehrerin sieht dies und zieht Alicia schnell mit sich fort, so als ob sie diese Begegnung verhindern wollte.471 Aber Marco hat bereits mit Alicia gesprochen. Ob daraus einmal ein neues Paar entstehen wird, bleibt offen. Es scheint, als wäre es Begninos Vermächtnis, dass Marco sie anspricht: „Sprich mit ihr“ forderte er ihn am Krankenbett seiner apallischen Geliebten auf.472

3.5.4.1 Almodovars Rückgriff auf das Motiv der begehrenswerten Komatösen

Die Vergewaltigung der im Wachkoma liegenden Alicia wird gar nicht gezeigt, stattdessen durch eine Szene aus dem Stummfilm Amante Menguante473 (Der schrumpfende Liebhaber) symbolisiert. Der missglückte Selbstversuch mit einem Schlankheitsmittel lässt einen glühenden Verehrer immer mehr zum Däumling werden. Er begibt sich auf Wanderschaft auf dem Körper seiner schlafenden Geliebten, „bis er schließlich ganz Phallus wird und für immer in ihr verschwindet.“ Dabei entlockt er ihr ein wohliges Seufzen.474 Offenbar ist Almodovar die Perceforest-Romanze bekannt, in dem auch die begehrte Komatöse,“at the end when she let out a heavy sigh.“ Der weitere Fortgang ist bekannt, Alicia wird wie Zellandine schwanger, da doch der Seufzer untrügliches Zeichen der Empfängnis ist. Beide erwachen aus ihrem Koma durch die Geburt eines Kindes. Anders als in der Ritterromanze erleidet Alicia eine Totgeburt und ihr obsessiver Verehrer sitzt mittlerweile im Gefängnis. Scheinbar leidet Alicia ebenso wie einst Zellandine unter dem Missbrauch, sie versucht an ihre Kariere als Ballerina anzuknüpfen. Ihr Körper trägt keine Spuren der Schwangerschaft lediglich ihre Muskulatur muss wieder aufgebaut werden. Auch in Perceforest wird betont, dass Zellandine nach ihrer Genesung ihre jungfräuliche Gestalt wieder erreicht hatte. Alicias verwirrter Liebhaber, der jahrelang an ihrem Bett Wache hielt bekundet deutlich mehr Aufmerksamkeit für sie, als ihr leiblicher Vater. Auch dieses Motiv des vernachlässigenden Vaters ist bereits aus Perceforest und Basiles Version bekannt. Die Krankenschwestern, die über das Ausbleiben von Alicias Monatsblutung rätseln, ähneln der Mutter der schönen Joie de Plaser. Die Ballettlehrerin verkörpert zugleich die gute und böse Fee, einerseits kümmert sie sich um Alicia und versucht sie zu beschützen, andererseits wehrt sie die Bekanntschaft Marcos mit Alicia ab, als ob sie neidisch oder eifersüchtig auf die fraulichen Reize der

471 Vgl. Rohde-Dachser, Christa: „Sprich mit ihr“. Aus der Reihe „Psychoanalyse und Film „des Instituts für Psychoanalyse der DPG Frankfurt/Main. URL: https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=2&ved=2ahUKEwiCv7Ht4KDhAhUy4KYKHe4TDqwQF jABegQIBBAC&url=http%3A%2F%2Fwww.rohde-dachser.de%2Fpdf%2Fhabla-con- ella.pdf&usg=AOvVaw3EmchAnqF1r4xikevuT64k [letzter Aufruf am 03.03 2019] 472 Hable con ella: Regie und Drehbuch: Pedro Almodovar, Produktion: Augustin Almodovar, Michel Ruben. Spanien: Tobis, 2002. 473Vgl. Reicher, Isabella: Ballerina, Stierkämpferin, schrumpfende Liebhaber und die erotische Ausstrahlung von Komatösen: Einige Einblicke in "Sprich mit ihr!", den neuesten Film von Almodóvar. In: Der Standard (02.09.2019] URL: https://derstandard.at/1033478/Ballerina-Stierkaempferin-schrumpfende-Liebhaber?_slide=32 [letzter Aufruf am 03.03 2019] 474Vgl. Vorwerk, Thomas: Sprich mit ihr. URL: http://www.satt.org/film/02_09_sprich-mit-ihr_1.html [letzter Aufruf am 03.03 2019] 103 hübschen Alicia wäre und ihr infolge dessen keine Liebesbeziehung gönnen würde.

3.5.4.2 Motive der Angst - Wachkoma und Tod

Almodavar vereint in diesem Drama mittelalterlichen Dornröschen- und Romeo und Julia- Stoff. Benigno begeht wie Romeo Selbstmord, da seine Geliebte Julia aufgrund eines Zaubertranks das Bewusstsein verliert und für tot gehalten wird. Almodovars Opfer und Held vergiftet sich paradoxerweise nach einer „gutgemeinten“ Lüge mit einer Überdosis Tabletten, um auf diese Weise ewig mit Alicia vereint zu sein. Er glaubt sie bereits tot, denn vermutlich wäre eine Konfrontation mit der Wahrheit für ihn ebenso unerträglich wie ein Leben abseits seiner Geliebten fristen zu müssen.

3.5.4.3. Erzählungen von reizvollen Scheintoten – ein unerschöpflicher Topos

Juristisch und moralisch betrachtet, schildert der Film einen sexuellen Missbrauch, in dem Benigno seine Macht als Krankenpfleger dazu einsetzt, seine sexuell-perversen Neigungen auszuleben. Sein Opfer ist eine bewusstlose junge Frau, die von ihm behandelt wird, als hätte sie einen eigenen Willen. Er will sie sogar heiraten und setzt ihr „Ja“ dazu als selbstverständlich voraus. Das Unrechtmäßige der Situation vermag er nicht zu erkennen. Es handelt sich dabei eindeutig um eine strafbare Tat. Deshalb sitzt er auch zu Recht im Gefängnis, wo er sich der zu erwartenden Verurteilung durch Selbstmord entzieht.475 Die Filmkritiken sprechen von einer „Wundertüte der Zärtlichkeiten“, einem „[…]Melodram […] aus erstickendem Herzschmerz“ und „metaphysischen Momenten“476, aber auch von „Abgründigem und Monströsem“ „an [einen an]Nekrophilie grenzenden Akt“477. Für Literatur, Kunst und Film erweisen sich solche Erzählungen, die mit dem Tod, dem Scheintod, dem Begehren, der Liebe über den Tod hinaus und der Verzweiflung spielen, als besonders attraktiv. Es lassen sich hier zwei Erzählmuster bis in die Antike zurückverfolgen: einfache, ohne erotischen Charakter und romantisch gefärbte.478 Vor allem das romantisch gefärbte Erzählmuster fand und findet zahlreichen Niederschläge in unzähligen künstlerischen Bearbeitungen. Zusätzlich muss erwähnt werden, dass die Boulevardpresse dieses Thema ebenfalls gerne vorführt.479

3.5.5 Weitere interessante Aspekte der Dornröschen-Thematik

Die Dornröschen-Bearbeitungen greifen den Märchenstoff und das implizierte „Frau kann nur von einem Mann gerettet werden“ – Motiv wesentlich kritischer auf, wie die Adaptionen von Almadovar oder Yolen zeigen. Auch Stephen und Owen Kings Roman „Sleeping Beauties“480, in dem die apokalyptische Vision „Was wäre wenn die Frauen aus dieser Welt

475Vgl. Drachser, S.2 476 Vgl.Hüttmann, Oliver: Pedro Almodóvars "Sprich mit ihr „Wundertüte der Zärtlichkeiten. In. Spiegel online (08.08.2002). URL: http://www.spiegel.de/kultur/kino/pedro-almodovars-sprich-mit-ihr-wundertuete-der-zaertlichkeiten-a-208564.html [letzter Aufruf am 03.03.2019] 477 Vgl. Nord, Christina: Der eine spricht, der andere nicht. In: taz archiv (08.08.2002) URL: http://www.taz.de/!1095424/ [letzter Aufruf am 03.03.2019] 478 Vgl. Mazenauer/ Perrig, 1995, S.65 479 Vgl. Davies, Madlene: Mother slept through childbirth and had no recollection of it when she woke up TWO WEEKS later due to bizarre brain disorder. In: MailOnine (22.09.2015) URL: https://www.dailymail.co.uk/health/article- 3370156/Mother-rare-neurological-disorder-slept-birth-baby.html [letzter Aufruf am 03.03.2019] 480 King, Stephen/ King, Owen: Sleeping Beauties. Übers. v. Bernhard Kleinschmidt. München: Heyne, 2017. 104 verschwinden würden…?“ konstruiert wird, wäre einen Exkurs wert. Es grassiert die „Aurora- Grippe“, die aber nur Frauen heimsucht und sie einschlafen lässt. Sobald sie schlafen, werden sie in einen Kokon eingesponnen und wachen nicht mehr auf. Während die Frauen schlafen, befinden sie sich in einer Parallelwelt, in der sie ganz ohne Männer friedlich zusammenleben. Wird der Kokon zerstört und die Frauen aufgeweckt, verwandeln sie sich in wütende Bestien. Nur eine einzige Frau ist dagegen immun, Evie, die unerwartet erscheint und natürlich sofort mit Segen oder einem Fluch in Verbindung gebracht wird. Sie wird “als Teufelsweib, Hexe und Göttin, die mit einem Kuss Kreaturen aller Art, von Kaninchen bis zu Menschen, ins Leben zurückholen kann“ 481 beschrieben. Die Kings integrieren den Gender- Gap, üben Kritik an der amerikanischen Politik und der Fake-News Problematik. Gleichzeitig lassen sie an matriarchale Mythen, die von der patriarchalen Gesellschaft verschleiert wurden, denken. Evie ist der Inbegriff der Göttin, die durch den Dogmatismus der Großreligionen als Dämonin oder Hexe verfemt wurde.482 Die matriarchale Mythologie ist ein weiterer Aspekt der aus Platzgründen in dieser Arbeit nicht thematisiert werden konnte. Der Erweckungskuss durch den Prinzen in Dornröschen ist eine „süßliche“ Variation des ursprünglichen Bildes der archaischen Erdgöttin, die Sonne und Mond, aus dem Jenseits wiedergebiert.483 Das Werk der Kings stellt in Ansätzen eine Referenz dazu.

4 Aschenputtel und Dornröschen beziehungsweise die Frau dahinter als Widerspiegelung der Romantik

Um das Aschenputtel beziehungsweise das Dornröschen als Märchen beziehungsweise Frau seiner/ ihrer Zeit untersuchen oder vielmehr klassifizieren zu können, muss ein Blick auf die Entstehungsgeschichte der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, sowie auf die Stellung der Frau im 19. Jahrhundert geworfen werden.

4.1 Die Entstehung der Kinder- und Haus Märchen der Gebrüder Grimm

Heinz Rölleke betrachtet, „das einigermaßen komplizierte Phänomen der Grimmschen Märchen“ 484als zu einem großen Teil mit deren Entstehungsepoche und von den Persönlichkeiten der beiden Brüder bestimmt. Daher gilt es, die verizierbaren Facta und Realia (nach einem Lieblingsausdruck Jacob Grimms)485angemessen zu beachten.

4.1.1 Die Gattung Grimm

Als Brüder Grimm werden die beiden ältesten - Jacob (1785–1863) und Wilhelm (1786– 1859) - von den insgesamt neun Kindern, drei davon verstarben bereits sehr früh, des

481 Schmitt, Uwe: Familie King lädt in Dornröschens Horrorwelt. In: Welt (11.11.2017).URL: https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article170521137/Familie-King-laedt-in-Dornroeschens-Horrorwelt.html [letzter Aufruf am 30.03.2019] 482 Vgl. Göttner-Abendroth, Heide: Die Göttin und ihr Heros. Die matriachalen Religionen in Mythen, Märchen und Dichtung. Stuttgart: Kohlhammer, 2011. S. 181. 483 Vgl. ebd. S.192 484 Rölleke, Heinz: Die Märchen der Brüder Grimm. Eine Einführung. Stuttgart: Reclam, 2004. S. 29 485 Ebd. 105

Amtsmannes Philipp Wilhelm (1751-1796) und Dorothea Grimm (1755-1808) bezeichnet, „die sich zeitlebens zu einer einmaligen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft verbanden“.486Der frühe Tod des Vaters stellte die Familie vor existentielle Probleme. Fortan wurde die Familie von der älteren Schwester der Mutter finanziell unterstützt. Auch Wilhelm und Jacob übernahmen die Verantwortung für die übrigen Familienmitglieder, sobald es ihnen möglich war mit großem Ernst. Wilhelm gründete erst 1825 eine Familie, während Jacob zeitlebens unverheiratet blieb. Das Heranwachsen in Hanau und Steinau mit ihren kleinbürgerlichen Strukturen begründete möglicherweise die „literarischen Hervorbringungen“ der beiden Brüder mit.487Dennoch ist davon auszugehen, dass erst durch die Aufnahme ihrer beider Studien in Marburg die entsprechenden Kontakte, beziehungsweise Impulse für die Entstehung der Kinder- und Hausmärchen gegeben wurden. Die Begegnung mit Achim von Arnim, Clemens Bretano und Carl von Savigny initiierte schließlich die Sammeltätigkeit der beiden. Die Brüder betrieben Recherchen für die Liedersammlung des „Knaben Wunderhorn“ von Bretano und Arnim, und weiteten diese auf die Suche nach lebendigen mündlichen Überlieferungen aus, womit der Grundstein für ihre weitere Märchenarbeit gelegt wurde.488Zu erwähnen ist, dass die Sammlung zu Beginn „ gänzlich unter dem mächtigen Einfluss Bretanos stand[…]ihnen entsprechende Muster an die Hand gab und seine […] reichhaltige Privatbibliothek […] überließ.“489 Durch die Vermittlung Arnims und Bretanos erlangten sie auch Kenntnis von zwei Märchenaufzeichnungen der Malers Philipp Otto Runge, die für sie Ideal, Muster und Vorbild zugleich für ihre weitere literarische Arbeit werden sollten.490 1809 schickte Jacob an Bretano den gesamten, gesammelten Bestand, ließ aber vorher in weiser Voraussicht eine Abschrift davon anfertigen, da sich Bretano Bearbeitung wie Veröffentlichung der Texte vorbehielt.491Die aus den ersten Jahren erhaltenen Manuskripte sind,

[…]wertvolle Zeugnisse für weithin unretouchierte Märchenaufnahmen zu Beginn des 19. Jahrhunderts und bilden darüber hinaus den entscheidenden Ausgangspunkt für alle philologischen und stilkritischen Untersuchungen zur Textgenese der Grimm´schen Märchen.492

War es einst Bretano gewesen, der die Brüder in ihrer Leidenschaft für das Volksmärchen unterstützte, regte sie Arnim zur Publikation der Kinder- und Hausmärchen an, sodass die Drucklegung 1812 erfolgte. In der Vorrede zur dritten Edition der Kinder- und Hausmärchen 1837 betonte Wilhelm Grimm dies auch ausdrücklich. Die erste Druckfassung der Kinder – und Hausmärchen enthielt bereits die beliebtesten Erzählungen der Brüder Grimm: Der Froschkönig und der eiserne Heinrich (KHM 1), Hänsel und Gretel (KHM 15), Aschenputtel (KHM 21), Frau Holle (KHM 24), Dornröschen (KHM 50), Sneewitchen (KHM 53) und viele weitere. In der Vorrede dazu vermerkt Wilhelm:

Wir haben uns bemüht, diese Märchen so rein als möglich war aufzufassen […]Kein Umstand ist hinzugedichtet oder verschönert und abgeändert worden, denn wir hätten

486 Ebd. S. 30 487Vgl. ebd. S. 30-31 488 Vgl. ebd. S. 32-33 489 Ebd. S.36 490 Vgl. ebd. S.57. 491 Ebd. S.37 492Ebd.S.39 106

uns gescheut, in sich selbst so reiche Sagen mit ihrer eigenen Analogie oder Reminiscenz zu vergrößern, sie sind unerfindlich.493

Trotz diesem Verweis Wilhelms zeigt die Erstauflage untrüglich deutliche Veränderungen gegenüber der Ölenburger Handschriften, die Heinz Rölleke als „lakonisches Notat“ 494Jacobs bezeichnete. Diese Überarbeitungen weisen bereits in Richtung des typisch Grimm´schen Märchenstils, der sich allmählich herauszukristallisieren begann und als die Gattung Grimm in die Literaturgeschichte eingehen sollte. In der Einleitung dazu erläutert Wilhelm sowohl den Begriff „Märchen“, sowie deren Entschluss die Sammlung Kinder- und Hausmärchen zu benennen:

Kindermärchen werden erzählt, damit in ihrem reinen und milden Lichte die ersten Gedanken und Kräfte des Herzens aufwachen und wachsen; weil aber einen jeden ihre einfache Poesie erfreuen und ihre Wahrheit belehren kann, und weil sie beim Haus bleiben und forterben, werden sie auch Hausmärchen genannt.495

Dennoch empfanden zeitgenössische Kritiker die bislang vorgenommenen Eingriffe als unbefriedigend, woraufhin Wilhelm seine Bearbeitungstendenzen intensivierte.496 In der Theorie ließen die merklich unterschiedlichen Auffassungen um den von Jacob favorisierten Begriff „Naturpoesie“, und Wilhelms angewandte „Kunstpoesie“ in der Überarbeitung der Märchen kaum überbrücken:

Die […]Volkspoesie tritt aus dem Gemüth des Ganzen hervor; was ich unter Konstpoesie meine, aus dem des Einzelnen […]Ich sehe also in der Kunstpoesie […] eine Zubereitungh, in der Naturpoesie ein Sichvonselbstmachen;497

Wilhelm überwand diesen Konflikt, indem er den charakteristischer werdenden Märchenstil herausbildete, der zu der einstigen und heutigen Berühmtheit der Kinder- und Hausmärchen führte. Von Arnim schrieb bereits 1815 lobend an Wilhelm, „Du hast glücklich gesammelt, hast manchmal recht glücklich nachgeholfen, was Du dem Jacob freilich nicht sagst […]“498. Die von beiden Seiten bewusst konzipierte Verschiebung vom wissenschaftlichen Editionswerk hin zur populären Leseausgabe geriet allerdings nie zu einem grundlegenden Herausgeber-Konflikt der beiden.499 Jacob widmete sich der Dokumentation und Sammlung neuer Texte und überließ die Hauptredaktion seinem Bruder. Damit wurde das Klischee der „dem Volksmund abgelauschten“500 Erzählungen endgültig abgelöst. Andre Jolles beschrieb 1930 diese Neukonstituierung treffend:

[…] ein Märchen ist eine Erzählung oder eine Geschichte in der Art, wie sie die Gebrüder Grimm in ihren Kinder- und Hausmärchen zusammengestellt haben. Die Grimmschen Märchen sind mit ihrem Erscheinen, nicht nur in Deutschland sondern allerwärts, ein Maßstab bei der Beurteilung ähnlicher Erscheinungen geworden. Man pflegt ein

493 Grimm, 1812, S.XIX 494 Rölleke, 2004, S. 39 495 Grimm, 1812, S.XXII 496 Vgl. Feustel, 2017, S. 33 497 Zitiert aus: Feustl, 2017, S. 35: Briefwechsel Arnim-Grimm. 498 Zitiert aus Mazenauer/ Perrig, 1995, S. 20. Briefwechsel Grimm- v. Arnim 499Vgl. ebd. S.20 500Ebd. S.20 107

literarisches Gebilde dann als Märchen anzuerkennen, wenn es - allgemein ausgedrückt - mehr oder weniger übereinstimmt mit dem, was in den Grimmschen Kinder- und Hausmärchen zu finden ist. Und so wollen auch wir […] von der Gattung Grimm sprechen.501

Die Zweitauflage von 1819 wird als die wichtigste angesehen. Eine Vielzahl der Texte zählen bis heute zum Grundbestand der Kinder- und Hausmärchen. In dieser wurde auch bereits ausdrücklich auf die Erziehungs- und Bildungsfunktion der Märchen aufmerksam gemacht:

Darum auch geht innerlich durch diese Dichtungen jene Reinheit, um derentwillen uns Kinder so wunderbar und selig erscheinen […] Das ist der Grund, warum wir durch unsere Sammlung nicht bloß der Geschichte der Poesie einen Dienst erweisen wollten, sondern es zugleich Absicht war […]daß es ein eigentliches Erziehungsbuch werde […] Dabei haben wir jeden für das Kinderalter nicht passenden Ausdruck in dieser neuen Auflage sorgfältig gelöscht.502

Seit den Brüdern Grimm gelten Märchen definitiv als Kindergeschichten.503 Da der Absatz schleppend voran ging, nahm Wilhelm Grimm eine geschickte Auswahl von 50 Märchen vor, die 1825 als „Kleine Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen“ publiziert wurde. Von nun an nahm die Nachfrage nach den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm stetig zu. 1837 folgte eine 3. Drucklegung der großen Ausgabe mit 177 Erzählungen, die erneut durch Wilhelm spürbar, stilistisch überarbeitet wurden. 1840 folgte eine 4. Auflage mit 187 Texten, 1843 eine 5. mit 203 Stücken, 1850 die 6. mit 210 Erzählungen und schließlich die „Ausgabe letzter Hand“ von 1875, die das umfangreichste Märchenkonvolut darstellt.504

5.1.2.MärchenzuträgerInnen und Gewährspersonen

Der überwiegende Teil des Grimm´schen Märchenschatzes geht auf gebildete, junge, ledige und gutsituierte Frauen aus dem Bekanntenkreis der beiden Brüder zurück. Interessant ist, dass, „unter den mehr als 200 Märchentexten nicht einer direkt auf Kindheitserinnerungen (etwa nach Erzählungen der Mutter) zurückgeht“.505 Weder Jacob noch Wilhelm zogen zu irgendeiner Zeit durch das Land um sich Märchen vom „einfachen Volk abzulauschen“506. Die beiden arbeiteten vor allem am Schreibtisch, starteten zwei Sammelaufrufe und ließen sich Märchen über Bekannte und Freunde zuschicken.507 Meistens ließen sie ihre ErzählerInnen zu sich nach Hause kommen.508 An erster Stelle seien hier die Familie Hassenpflug, Wild, Haxthausen und Friederike Mannel zu nennen. 509 Die Hassenpflugs waren hugenottischer Abstammung und zogen 1790 nach Kassel. Durch die Freundschaft ihrer jüngeren Schwester Lotte mit Marie Hassenpflug wurden die Brüder mit der Familie bekannt. Aus deren Erzählschatz, den ausschließlich Jacob aufzeichnete, stammten 48 Beiträge. Die drei Töchter, Marie (1788-1856), Jeanette (1791-1860) und Amalia (1800-1871), der Familie waren mit

501 Jolles, Andre: Einfache Formen: Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft, Bd. 15. 8.Aufl. Berlin: de Gruyter, 1993. S.219 502 Grimm, 1819, S.VIII 503 Vgl.Mazenauer/Perrig, 1995, S.23 504 Vgl. Feustel, 2017, S.40-41. 505 Rölleke, 2004, S.31. 506 Vgl. Mazenauer/Perrig, 1995, S.7 507 Vgl. Pöge-Alder, Kathrin: Märchenforschung. Theorien, Methoden, Interpretationen. 3. Aufl.:Tübingen, narren Studienbücher, 2016. S. 141. 508 Vgl. Feustel, 1995, S.48 509 Vgl. Rölleke, 2004, S.76 108 den französischen Märchen bestens vertraut, was auch die Brüder bald bemerkten. In Folge haben die Brüder hinsichtlich der Provenienz der hassenpflug´schen Beiträge in ihren Anmerkungen lediglich „aus Hessen“, „aus den Maingegenden“ oder „aus Hanau“ vermerkt.510 Bemerkenswert ist neben der beachtlichen Bildung der hassenpflug´schen Mädchen auch deren zartes Alter, in dem sie ihre Märchen den Brüdern erzählten. Amalie Hassenpflug zählte gerade einmal zwölf Jahre als die erste Märchenausgabe erschein. Wilhelm äußerte sich in einem Brief an seinen Bruder Ferdinand ausgesprochen erfreut darüber, „[…] das kleine Amalie weiß sie schon paßabel zu erzählen und hat den Verstand auch, der überhaupt der Familie nicht fehlt […]“511 An zweiter Stelle steht die Familie Haxthausen, denen die Grimms circa 70 Erzähltexte verdankten, die zum größten Teil von Anna von Haxthausen (1800-1877), einige von ihrer Schwester Ludowine (1795-1872), ihrem Bruder August (1792-1866) und deren Mutter Marianne (1755-1829) stammten.512 Wieder waren es mehrheitlich junge, gebildete, noch nicht gebundene Damen aus gutbürgerlichen Kreisen. Umfangreiches Material trug ihnen auch die Familie Wild zu, die eine Apotheke in Kassel führte. Und wieder machten sie deren Bekanntschaft über ihre jüngere Schwester Lotte, die mit Dortchen Wild (1795-1867), einer der vier Töchter, befreundet war. Die übrigen Schwestern hießen Gretchen (1787-1819), Lisette(1782-1858)und Mie (1794-1867). Drei Beiträge erhielten sie auch von deren Mutter. Das beachtliche Märchenrepertoire der wild´schen Frauen umfasste 40 Texte.513 Wieder einmal steuerten blutjunge, eloquente, gebildete und ungebundene Frauen einen Löwenanteil der Kinder- und Hausmärchen bei. Erwähnenswert als wichtige Zuträgerin ist auch Friederike Mannel (1783-1833). Seit 1807 sandte sie den Brüdern Erzähltexte zu, aus denen fünf Eingang in die Kinder- und Hausmärchen fanden. Friederike war ebenfalls des Französischen mächtig und eine literarisch gebildete und belesene junge Frau.514 Als weitere wichtige Beiträgerin ist Jenny von Droste zu Hülshoff zu nennen, deren Texte ebenfalls Eingang in die Kinder- und Hausmärchen fanden. (z.B.: Die zertanzten Schuhe (KHM 133)). Bemerkenswert an den sehr jungen und durchwegs weiblichen Märchenzuträgerinnen ist, dass sie verstummten, sobald sie sich verheiratet hatten.515 Jacob Grimm traute seiner Schwägerin, Gretchen Wild, nach ihrer Eheschließung kein weiteres Interesse an der Märchensammlung zu, die sie zu Beginn noch engagiert unterstützt hatte. 516In einem Brief an Wilhelm beklagt er sich:

Mit der Gretchen ist ohnedum nichts mehr anzufangen, die hat es weiter mit nichts zu tun als ihrem Mann und scheut sich wie die meisten Weiber über die Schreibfehler.517

Ebenfalls schickte Friederike Mannel 1809 den letzten Märchentext an die Brüder, exakt nach ihrer Eheschließung. Marie Hassenpflug beendete ebenfalls ihre Erzählkarriere nach ihrer Verheiratung.518 Ihre Schwester Lotte enttäuschte sie

510 Vgl. ebd. S.77 511 Zitiert aus: Feustel, 2017, S.49 512 Vgl. Feustel, 2017, S. 50 513 Vgl. ebd. S.51 514 Vgl. Rölleke, 2004, S. 76. 515 Vgl. Rölleke, 1985, S. 76 516 Vgl. Rölleke, Lange (Hrsg.),2004, S.42 517 Rölleke, Heinz (Hrsg.):Die älteste Märchenfassung der Brüder Grimm.. Synopse der handschriftlichen Urfassung von 1810 und der Erstdrucke von 1812. Cologny-Geneve: Bodmer,1975. 518 Vgl. Feustel, 2017, S.51-52 109 ebenfalls als sie diese baten eine alte Frau in Marburg aufzusuchen, die auf Bretanos Anraten, sehr viele Märchentexte wisse. Wilhelm schrieb an Jacob:

Daß Lotte keine Märchen mitgebracht, ist bloß ihre Schuld, sie ist nicht recht vertraulich mit der Frau umgegangen.519

Zwei Ausnahmen bestätigen die Regel, dass es sich bei ihren Gewährspersonen nicht ausschließlich um junge, ledige Mädchen gehandelt hatte. Zum einen durch die Apothekersgattin Wild, die eine Generation älter war als die Brüder und die sogenannte Marburger Märchenfrau aus dem Elisabeth-Hospital, der auch schon ihre Schwester versucht hatte, Texte „abzulauschen“.520 Natürlich besteht der Kreis der MärchenvermittlerInnen noch aus weiteren Personen, auch männlichen Zuträgern, doch lieferten diese in der Mehrzahl nur Einzelbeiträge. Ein repräsentatives Beispiel stellt hier der annähernd siebzig Jahre alte, ehemalige Dragonerwachtmeister Krause dar, der eine vollkommen andere soziokulturelle Prägung erfahren hatte, als die jungen Mädchen. Hier stellt sich die Frage, ob sich aufgrund Alter, Geschlecht, Status und Erfahrung, Unterschiede in den Erzähltexten aufzeigen lassen.521 Die Analyse des beigesteuerten Textmaterials zeigt, dass die jüngeren Beiträgerinnen Märchentexte favorisieren, in denen das Märchen mit einer glücklichen Eheschließung der Helden abschließt. Texte mit dem Ausgang, dass Standesunterschiede mittels Liebesheiraten, eine Heldin, nicht adeliger Herkunft heiratet einen Königssohn, überwunden werden, erfahren ebenfalls eine Bevorzugung. „Der Wolf und die sieben Geißlein“ (KHM 5) und „Brüderchen und Schwesterchen“ (KHM 11) sind dem Repertoire der damals 12-jährigen Amalie Hassenpflug zu verdanken und entsprechen deren Kindheitsalter. Heldenrollen sind gleichmäßig auf männliche wie weibliche Protagonisten verteilt. Negativ gezeichnete Frauencharaktere treten kaum auf. Anders sieht das Figurenarsenal der Beiträge August von Haxthausens aus. „Seine“ Texte sehen keine Eheschließung vor. Die wild´schen Märchenbeiträge, die wiederum von jungen, ledigen Frauen stammen, beenden ihre Erzählungen mit einer Hochzeit. Der Märchenschatz Friederike Mannels thematisiert infantile Beziehungskonflikte, dennoch werden auch hier die zentralen Themen „Heirat“ und „Liebe“ behandelt.522 Der Märchenbeitrag der älteren Dorothea Viehmann weist dagegen kaum weibliche Hauptcharaktere auf, die Handlung wir mehrheitlich von einem männlichen Helden bestimmt. Die Märchenheldinnen müssen prekäre Aufgaben bewältigen, werden entblößt, vergewaltigt, geschlagen oder betrogen. Als Beispiel gilt „Hans mein Igel“ (KHM 108): […]da zog ihr Hans mein Igel die schönen Kleider aus, und stach sie mit seiner Igelhaut, bis sie ganz blutig war, sagte: "Das ist der Lohn für eure Falschheit, geh hin, ich will dich nicht", und jagte sie damit nach Haus, und war sie beschimpft ihr Lebtag […]523

Böswillige Hauptprotagonistinnen sind in ihren Texten dagegen sehr wohl zu finden. Das Figurenrepertoire des ehemaligen Wachtmeisters Krause sieht ähnlich aus: Kaum Heldinnen, Frauen werden in der Regel als hinterhältig, faul und neiderfüllt charakterisiert, verachten die Helden und trachten bestenfalls nach deren Besitz.524 Heinz Rölleke betrachtet dieses

519 Rölleke, Lange (Hrsg), 2004, S. 41 520 Vgl.Rölleke, 2004, S.79 521Vgl. Feustel, 2017, S.52 522 Vgl. Feustel, 2017, S. 53-54 523 Grimm, 2000, S. 534 524 Vgl. Feustel, 2017, S.55 110 negative Frauenbild als Widerspiegelung der persönlichen, schlechten Lebenserfahrung Krauses. Diese Motivwahl stelle eine Art unbewussten, subtilen Racheakt an die Frauen dar. 525 Resümierend kann festgestellt werden, dass die Rezeption der Märchen durch das in ihnen enthaltene Identifikationspotential klar beeinflusst zu sein scheint:

Nur wenn der persönliche Erfahrungs- und Erwartungshorizont der Rezipienten im Erzählmaterial genügend Erwiderung erfuhr […], wurde der entsprechende Text von den […]Hörern […]emotional so stark verinnerlicht, dass die erzählte Geschichte tatsächlich in das persönliche Repertoire überging und zu einem späteren Zeitpunkt – […]im Rahmen der Grimm´schen Märchensammeltätigkeit reproduzierbar war.526

Dafür spricht das jugendlichen Alter der sehr jungen Erzählerinnen, die unbewusst in ihren Beiträgen den Wunsch nach einer alles (standes-) überwindenden Liebesheirat äußern, und dieser bei den sehr jungen SammlerInnen als die „rechte“ Lebensweise aufgenommen wird. 4.2 Die Frauen im Leben und Werk der Brüder Grimm

Ob das in den Erzähltexten vorgeführte stereotype Weiblichkeitsideal mit der damaligen Stellung der Frau in Bezug steht, lässt sich sicher nur erfahren, wenn ein Blick auf die persönliche Auffassung Jacobs und Wilhelms von der gesellschaftlichen Rolle der Frau geworfen wird.527 Dennoch weist Heinz Rölleke nachdrücklich darauf hin, dass die biographischen Gegebenheiten der Brüder und deren Einfluss auf die Märchengestaltung, weder über- noch unterschätzt werden darf. 528‘ Die Lebensläufe Jacobs und Wilhelms unterscheiden sich gerade hinsichtlich ihrer privaten Lebensführung deutlich. Jacob heiratet zeitlebens nicht, Wilhelm vermählte sich mit 39 Jahren, an damaligen Konventionen gemessen, ungewöhnlich spät. Seine Frau wurde eine ihrer ehemaligen Märchenzuträgerinnen, Dortchen Wild. Heinz Rölleke meint, dass Jacob sein Leben lang mit der Wissenschaft verheiratet war.529 Durch die überwiegend weiblichen Märchenzuträgerinnen lässt sich festhalten, dass die „Kinder- und Hausmärchen“ ganz wesentlich von Frauen geprägt wurden.

4.2.1 Frauen in der Familie der Brüder

Nach dem frühen Tod ihres Vaters übernahm die Schwester ihrer Mutter, ihre Tante Juliane Schlemmer, die Rolle des Oberhauptes der Familie, da sie finanziell besser etabliert war. Ihre andere Tante Henriette Zimmer übernahm die Finanzierung des Studiums ihrer insgesamt fünf Neffen. 530 Das Bild das sich die damals knapp 20-jährigen von der Frau zu Beginn ihrer Märchensammlung gemacht haben, die Idealvorstellung, die sie entwickelt haben war von der Mutter, der Tanten und ihrer Schwester bestimmt.531 Die Kinder der Familie Grimm erfuhren eine rigorose, von einem traditionellen, konservativen Werte- und Normengefüge

525 Vgl. Rölleke, Heinz: Wo das Wünschen noch geholfen hat: Gesammelte Aufsätze zu den Kinder- und Hausmärchen Der Brüder Grimm. Trier: WVT, 1985. S.225. u. Rölleke, 1985, S.78 526 Feustel, 2017, S.56 527 Vgl. Feustel, 2017, S.134. 528 Vgl. Rölleke, 1985, S. 74. 529Vgl. ebd. S. 74 530 Vgl. Feustel, 2017, S.135-136. 531 Vgl. Rölleke, 1985, S.74 111 bestimmte Erziehung, die fest im reformierten Glauben verankert war. Pflichterfüllung, Treue, Sittlichkeit und Recht galten als höchste Werte.532 Mutter wie Schwester erfüllten Zeugnissen der Brüder zufolge voller Eifer und Hingabe ihre haushaltstechnischen Pflichten im Dienst der Familie und entsprachen damit dem Weiblichkeitsideal des 19. Jahrhunderts: „Die Tante sorgte für Feld und Garten mit Treue und Gewissenhaftigkeit, […] die Mutter regirte […] die Küche.533Als die Tante verstarb, erfüllte dies die Brüder mit tiefer „Herzenstraurigkeit“534, Jacob gab in der Trauerbotschaft bekannt:

Sie war so gut und bestand bloß in der Liebe zu uns […] Welch ein reines und wohltätiges Leben hat die selige Tante von Anfang bis zu Ende geführt […] es ist ihr niemals jemand bös ‘gewesen und jeder hat sie liebgehabt.535

Die Mutter erfüllte perfekt die ihr zugewiesene weibliche Bestimmung als liebevolle Gattin, umsichtige Gastgeberin, gute Hausfrau und fürsorgliche Mutter. 536Sie wird beschrieben als „liebe Frau, von hessischer Biederkeit [und] völlig anspruchslos […]“537, Emil Grimm schildert die Freude der Mutter über einen Besuch der beiden Brüder:

Da wurden Hühnerchen gebraten und Zwetschgenkuchen gebacken […] Das war eine Freude, wie er ankam […] und die gute Mutter war immer so betrübt, wenn er wegreiste! Da sah sie immer in der Nacht in den Himmel, ob das Wetter auch gut sei.538

Das Wesen der Mutter, deren familiäre Rolle im Zentrum der Forschungsliteratur steht, wird mehrfach idealisierend geschildert, „liebevoll und gutherzig war sie.“539 Die Brüder erinnerten die Mutter vor allem durch deren Verrichtungen der häuslichen Pflichten. Insgesamt lässt sich Dorothea Grimm sicher als willensstarke Persönlichkeit beschreiben, die nach dem frühen Tod ihres Mannes allein und fast mittellos für ihre sechs minderjährigen Kinder sorgen musste.540 Nach dem Tod der Mutter musste die 15-jährige Charlotte, genannt Lottchen, die Führung des Haushalts übernehmen. Aus den Briefen der Brüder lässt sich gut herauslesen, wie sie sich eine angemessenen Mädchenerziehung und weibliches Verhalten vorstellten:

Bist Du hübsch fleißig und artig? Das müssen alle Mädchen sein, sonst kann man sie nicht leiden, aber wenn sie eigensinnig sind, dann ---[…] liebes Schwesterchen […] du hast doch die gute Mutter lieb und wirst ihr gerne gehorchen. Jetzt wirst Du wohl nähen lernen, zeichnen und stricken […]und bittest die liebe Mutter recht schön, so lehrt sie Dich alle diese Sachen.541

532 Vgl. Seitz, Gabriele: Die Brüder Grimm:Leben-Werk-Zeit. 2.Aufl. München: Winkler, 1985. S.11 533Zitiert aus Feustel, 2017, S.141: Grimm, Jacob: Besinnungen aus meinem Leben. S.105. 534 Grimm, Hermann/ Hinrichs, Gustav (Hrsg.): Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm aus der Jugendzeit. 8.Aufl. Hamburg: Severus, 2013. S.430 535 Grimm/Hinrichs, 2013. S. 431 536 Vgl. Feustel, 2017, S.145 537 Praesent, Wilhelm: Märchenhaus des deutschen Volkes. Aus der Kinderzeit der Brüder Grimm. Kassel: Bärenreiter, 1957. S. 40. 538 Grimm, Emil-Ludwig: Erinnerungen aus meinem Leben. Hrsg. u. ergänzt Alfred Stoll. Nachdruck v.1913. Hamburg: Severus, 2012. S.35 539 Denecke, Ludwig/ Kemminghausen, Karl: Die Brüder Grimm in Bildern ihrer Zeit. Tüchersfeld: Röth, 1963. S.5 540 Vgl. Feustel, 2017, S.147-148. 541 Praesent, 1957, S.83 112

Da Lotte den Haushalt nicht zur vollen Zufriedenheit der Brüder führte oder führen konnte, verschlechterte sich deren Beziehung zunehmend. Jacob charakterisierte sie als äußerlich der Mutter ähnlich, „aber lange nicht so gut […] die Mutter ist viel frömmer und weiblicher erzogen worden.“542 1810 beklagt er sich in einem Brief über die nachlässige Haushaltsführung der Schwester:

Abends komme ich um 6 Uhr müd heim, […]niemand zu Haus, […] die Überbleibsel noch alles auf dem garstigen großen Tisch untereinander […] des anderen Morgen die Lotte halb durch die Türe: „Hör Jacob, du mußt mir Geld geben, aber viel.“ […] Gott weiß, wie sie an Unangenehmheit und Einbildung täglich zunimmt, mir ist manchmal als müßte ich fortgehen […]543

Möglicherweise ist hier der Grund für Jacobs Scheu im Umgang mit Frauen begründet.544In einem Brief an Wilhelm bekundet er bekundet er sein Ressentiment gegenüber den Emanzipationsbestrebungen der Schwester:

[…]jetzt im Ungang mit der Lotte […]muß ihr deren [der Frauenzimmer] Einfluß eh´r schaden […]Diese […] fatale Einwirkung der Menschen untereinander betrachte ich als das größte Unglück mit unserer Zeit […]545

Wilhelms frühere Abneigung der Schwester gegenüber relativierte sich durch räumliche Distanz, „die Lotte ist mir zu Haus wie eins sich sträubende, widerspenstige Provinz; aber hier könnte ich unmöglich etwas gegen sie haben.“546 Lotte führte den Haushalt der Brüder vierzehn Jahre lang bis zu ihrer Eheschließung mit Hans Daniel Ludwig Friedrich Hassenpflug. Deshalb war eine Verheiratung von wenigstens einem der Brüder, unumgänglich, da sie jemanden brauchten, der ihren Haushalt besorgte. Wilhelm ehelichte drei Jahre nach dem Fortgang der Schwester Dorothea, genannt Dortchen, Wild.547 Sowohl für Jacob als auch für Wilhelm schien es selbstverständlich zu sein auch weiterhin den gemeinsamen Hausstand zu behalten. Dorothea Grimm wurde als selbstgenügsame, sich aufopfernde Frau beschrieben und folgte damit ganz der idealtypischen weiblichen Bestimmung, die ihre eigene Bedürfnisse stets hinten anstellte:548 “Dortchen hält sich aufrecht, ist aber doch angegriffen und pflegt alle anderen mehr als sich selbst.“549

4.2.2 Weibliche Freund- und Bekanntschaften

Wilhelm Schoof wertet die jahrzehntelange Freundschaft mit der selbstbewussten, fortschrittlich denkenden Bettina von Arnim als die wesentlichste Frauenbeziehung im Leben der beiden Brüder:

542 Schnack, Ingeborg/ Schoof, Wilhelm (Hrsg.): Briefe der Brüder Grimm an Savigny. Aus dem Savignyschen Nachlass. Berlin/Bielefeld: Schmidt, 1953. S.49 543 Grimm/Hinrichs, 2013, S.196 544 Vgl.Feustel, 2017, S.151. 545 Grimm/Hinrichs, 2017,S.197 546 Ebd. S.408 547 Vgl. Rölleke, 1985. S.74 548 Vgl. Feustel, 2017, S.151 u. S.161-164 549 Ippel, Eduard (Hrsg.): Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm, Friedrich Christoph Dahlmann und Georg Gottfried Gerevinus. 2 Bde. Berlin, 1885/86.Nachdruck.Vaduz: Sändig, 1986. Bd.1, S.492 113

In ihrer Wesensart grundverschieden, haben Jacob und Wilhelm Grimm, obwohl sie sich nicht immer verstanden, ja gelegentlich in offenem Gegensatz zu ihr traten […] zeitlebens die Treue gehalten und trotz verschiedener Denkungsart immer dankbar Bettinas Vorzüge und Verdienste anerkannt.550

Bettina galt als unkonventionell, klug, leidenschaftlich und emanzipiert. Persönlich trat sie nie als Frauenrechtlerin auf, setzte sich aber als sozialkritische Schriftstellerin für Pressefreiheit ein und engagierte sich für die Unterdrückten, Benachteiligten und Kranken.551 Jacob schildert sie als dominant und ruhelos, „sie hat […]den Trieb […]oft ganz fremden Menschen zu raten und beizustehen, zuweilen mit großem Erfolg […]“552. Die vierte Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen hatte Wilhelm mit einer persönlichen Anrede an Bettina versehen, die 5. Neuauflage widmeten sie ihr. Dennoch übte Jacob auch Kritik an ihr, da sie aus seiner Sicht das Vorantreiben das Projekt der Brüder die Sammlung der Kinder- und Hausmärchen fertigzustellen, „zu hitzig und unablässig [treibt] ihre pläne und absichten streifen ins heftige und abenteuerliche […]553. Der öffentliche Einsatz Bettinas entsprach anscheinend nicht dem Grimmschen Frauenbild. Bettina reagierte auf diese Kritik und erklärte ihre Bestrebungen, “[…] es ist in meiner Seele […] die mich mahnt ich soll der ganzen Welt gegenüber auftreten, und die Euch mit Bewußtsein verleugnen, oder die von anderen verführt sind zu irriger Ansicht, die soll ich belehren und zurechtweisen.“554. Jacob bekennt, dass er sich von ihrer umsichtigen Art zwar gerührt fühle, dennoch gestört, da sie, “ nach frauenart manches falsch angreift, hindert oder verkehrt.“555 Sinnierend schätze er Bettina trotz ihres „unweiblichen“ Verhaltens zeitlebens positiv ein: “ich […]bin stets von der […] tiefe ihres geistes lebhaft eingenommen gewesen.“556Bettina ihrerseits verspürte für Jacob eine tiefe Zuneigung:

Der liebe Jacob mit dem gut sein, es fällt mir jetzt ein, daß ich mich in ihn hätte verlieben sollen, denn was ist lodender als vom Blütenregen der Güte und Herzlichkeit überströmt zu sein […] und ich will gern der letzte sein, wenn er mich nur liebt. 557

Jacob hingegen verhielt sich ihr gegenüber ambivalent, er schwankte ständig zwischen Sympathie und Abwehr. Er betrachtete sie „nüchtern“558, beschwerte sich über sie:

Fast alle Abende […] kommt Bettina und stört durch ihr überschwängliches, endloses, wiewohl immer anziehendes Gespräch […] Ich hoffe nur zwar, diese Lebensart wird allmählch aufhören und alles in seine natürlichen Schranken zurücktreten […] allein es wird mir zugleich auch leid thun, Bettinens Freundschaft […] dann in geringerem Maße zu genießen […] Bettinens Gegenwart bringt mich eigentlich aus meinen Fugen […]559

550 Schoof, Wilhelm: Jacob Grimm: Aus seinem Leben. Berlin: Dümmler,1961.S.210. 551 Vgl. Seitz, 1985, S.40 552 Schoff, 1963, S.328 553Leitzmann, Albert: Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit Karl Lachmann. M. einer Einl. v. Konrad Burdach. 2 Bände. Jena: Frommann, 1927. S.685 554 Schultz, Hartwig (Hrsg.): Briefwechsel Bettine von Arnims mit den Brüdern Grimm.1838-1841. Leipzig: Insel, 1999, S.77. 555Leitzmann, 1927, S.703 556Gürtler,Hans/ Leitzmann, Albert: Briefe der Brüder Grimm.Ulan,2012. S.89 557Schultz, 1999. S.77 u. S.235 558 Seitz, 1985, S.44 559 Ippel, 1986, Bd.1, S.453 u. S. 349 114

Es ist anzunehmen, dass Bettina den spröden und introvertierten Jacob in emotionale Unruhe versetzte560 und es ihr gelang ihn etwas aus der Reserve zu locken. In einem Schreiben an Achim von Arnim gesteht er sehr offen seine Gründe für seinen zurückhaltenden Umgang mit dem anderen Geschlecht, „Ich habe […] wenig Erfahrung und sehe und spreche seit Jahren gar keine Frau, welche blos in unserer Lebensart seinen Grund hat […]“561 Er unterstreicht damit sein hohes Arbeitsethos und seine familiären und wissenschaftlichen Pflichten, die ihn menschenscheu und „mokant“ 562erscheinen lassen. Trotz aller Differenzen nahm Bettina eine einzigartige Position in Jacobs Leben ein, wenn er seine Wunsch bekundet, dass nichts ihr Verhältnis trüben würde, „über das mir fast nichts in anders in meinem Leben geht.“563 Obwohl auch der Grimm-Kenner Heinz Rölleke von Jacobs „isolierter Stellung“564 berichtet, zeugen doch etliche hinterlassene schriftliche Dokumente, dass er sehr wohl in regem Ausstauch mit Frauen stand und auch den wissenschaftlichen Diskurs mit ihnen wertschätzte.565 Dennoch blieb er lebenslang der rollenspezifischen Auffassung über die wesenseigenen Unterschiede der Geschlechter verhaftet. Diese teilte er brieflich von Arnim mit, er sprach den Frauen Urteilsvermögen ab und pflichtete der Naturphilosophie Lorenz Okens bei.566 Dieser sah die geschlechtlichen Unterschiede bereits von der Natur vorbestimmt:

[…] Der Mann steht um ganze Thierklassen höher, als das Weib. Schnecke, Fisch, Wassertier ist das Weib, Vögel, Säugethier ist der Mann […] In der Idee sollte jedes Kind ein Knab sein […] Die Natur will nur das Höchste, also den Mann erreichen […]Weiber werden nur geschaffen, damit Männer durch sie hervorgebracht werden können.567

Jacob ist von einem traditionellen Wertebewusstsein geprägt, wissenschaftliche Bereiche wie Theologie, Medizin, Jura und auch die Poesie bezeichnet er als unweiblich, er bekundet: „die ganze Geschichte lehrt es uns so. durch öffentliches vortreten und lautwerden versehrt das weib seine angeborenen sitte und würde […]“568Auch in der Deutschen Grammatik definiert er klar den Unterschied zwischen weiblich als, “[…]das […] stillere, das leidende, empfangende“, männlich als, „[…] thätige, bewegliche, zeugende.“569 Jacob und Wilhelm huldigten einem Frauenideal, deren Bestimmung sich auf einwandfreie Haushaltsführung, Sittlichkeit und Wohlerzogenheit beschränkte. Bildung müsste den Grimms nach den Frauen nicht zuteilwerden. Jacobs Position ist durch eine Vielzahl von Textdokumenten erhalten, Wilhelms erklärt sich aus seinem Verhältnis zu Frauen.570 Bettina hinterließ bei dem 24- jährigem Wilhelm ein dermaßen eindrucksvolles Bild, dass sie ihm in einem seiner Träume in Gestalt des lieblichen, schutzbedürftigen Dornröschens begegnete:

Die Bettine war, wie von harten Eltern eingesperrt […] saß in einem dunklen Zimmer, altmodisch möbliert, doch reich […] hatte nichts zu essen; ich wollte […] etwas für sie

560 Vgl. Feustel, 2017, S. 169 561 Grimm, Hermann Friedrich/Steig, Reinhold (Hrsg.): Achim von Arnim und die ihm nahestanden: Bd. Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm Berlin: Nabu, 2011, S.141. 562 Rölleke, Lange (Hrsg.), 2004, S. 42 563 Schultz, 1999, S.141 564 Rölleke, 2004, S.78 565 Vgl.Feustel, 2017, S.170-171. 566Vgl. Grimm/Steig, 2011, S.141 567 Oken, Lorenz: Lehrbuch der Naturphilosphie. Jena: Frommann, 1809. S.112-114 568 Vgl. Feustel, 2017, S. 172 569 Vgl. ebd. S.173 570 Vgl. ebd. S.173-174 115

herbeischaffen und kroch durch niedrige Gewölbe in dicken Mauern, wobei ich immer Levkoyen, die darin gewachsen waren, niederdrücken mußte.571

Wilhelm war Bettina gegenüber ähnlich ambivalent eingestellt wie Jacob, er war einerseits fasziniert von „ihrem schillerndem und hilfsbereitem Wesen“572, andererseits kollidierte ihre unkonventionelle Haushalts- und Lebensführung mit seinem idealtypischen Frauenverständnis:

[…]die Bettine führt die Haushaltung selbst […] hat aber keine Lust an diesem Wesen, daher wird ihr alles sauer [Essen] und ist in […]Unordnung […]573

Wie auch Jacob führte er briefliche Korrespondenzen mit vielen Frauen. Darunter sind besonders die Schwestern von Droste zu Hülshoff zu beachten. Mit Jenny, eigentlich Maria- Anna, verband ihn eine jahrelange Brieffreundschaft, die nur während seiner unerwarteten Heirat mit Dortchen kurzfristig unterbrochen wurde, dann aber umso intensiver wieder aufgenommen wurde.574 Ihre Tagebucheinträge weisen darauf hin, dass eine unerfüllte Liebesbeziehung zwischen den beiden bestand.575 Eine Eheschließung kam vermutlich auch wegen der gesellschaftlichen Standesgrenzen nicht zustande, da Jenny adelig und katholisch, Wilhelm aber protestantisch und bürgerlich war. Ihr sehr gefühlvoller Briefverkehr endete der Schicklichkeit wegen explizit mit Jennys Eheschließung.576 Zu ihrer Schwester Anette, genannt Nette, gestaltete sich das Verhältnis wesentlich angespannter. Anette galt als geistreich, klug und emanzipiert, wenn auch zurückgezogen und, „erregte sich […] oft über die patriarchalischen Tendenzen der Grimm-Brüder […]“577. Sie beklagt sich über deren offensive Ablehnung und fühlte sich insbesondere von Wilhelm verhöhnt und missachtet.578 Ihre nicht dem Grimm´schen Frauenideal entsprechende Art ängstigte Wilhelm sogar soweit, dass sie ihn bis in seine Träume verfolgte:

Von [...] Nette hat mirs neulich recht […] ängstlich geträumt: sie war ganz in Purpurflamme gekleidet und zog sich einzelne Haare aus und warf sie […] nach mir; sie verwandelten sich in Pfeile und hätten mich leicht blind machen können […]579

4.2.3 Ansichten der Brüder zu Geschlechtlichkeit und Sexualität

Sie vertraten zwar die Ansicht, dass „derbe Texte“ des Volkes vor dem „zarten Geschlecht“ ferngehalten werden sollten, da sie auf diese schädlichen Einflüsse nehmen könnten.580 Trotzdem besaßen sie ein fortschrittliches Verständnis zur Geschlechtlichkeit und

571 Seitz, S.52. 1985. 572 Vgl. Feustel, 2017, S,175 573 Zitiert aus: Feustel, 2017, S. 174. 574 Vgl. Feustel 2017. S. 176-177 575 Vgl. Gates, Lisa: Biografie. Jenny von Droste-Hülshoff. In: Frauen Biographieforschung. URL: http://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/jenny-von-droste-huelshoff/ [letzter Aufruf am 31.03.2019] 576 Vgl. Feustel, 2017, S.178 577 Feustel, 2017, S.179 578 Vgl. Feustel, 2017, S. 179. 579 Zitiert aus: Feustel, 2017, S.179 580 Vgl. Rölleke, „Wünschen“, 1985, S. 223. 116

Sexualität.581 In dem gemeinsam verfassten Vorwort des „Deutschen Wörterbuchs“ schreiben sie darüber zwar sachlich, aber ungewöhnlich offen:582

Die natur hat den menschen geboten das geschäft der zeugung […] und die zu verrichtenden theile zu hüllen […]was man […] vor den augen der menge meidet, wird man auch […] nicht aussprechen. Das verbot ist kein absolutes, […] da jene verrichtungen selbst natürlich […] dürfen sie unter umständen auch öffentlich ausgesprochen werden583.

4.2.4 Resümierender Kommentar

Es sollte durchaus festgehalten sein, dass beide Brüder keineswegs misogyn eingestellt waren. Zwar waren sie, sowohl der menschenscheue Jacob, als auch der geselligere Wilhelm, den idealtypischen Vorstellungen ihrer Zeit verhaftet und erwarteten Demut, Anstand und Sittlichkeit von einer Frau, dennoch hatten sie zeitgemäße Ansichten, die im Folgenden dargestellt werden. Zeitlebens waren sie von emanzipierten, selbstbewussten und wehrhaften Frauen umgeben, die sich ihrer gesellschaftlich zugedachten Rolle entgegensetzten. Schon ihre Schwester Lotte konfrontierte sie mit dem „unbescheidenen“ Frauentyp, der die haushaltstechnischen Pflichten hintanstellte. Bettina von Arnim mischte sich öffentlich in literarische Diskurse ein und vernachlässigte die Erziehung ihrer Kinder584 und ebenfalls den Haushalt, womit sie weder dem stillen Wesen einer Frau noch dem mütterlichem, fürsorglichem Ideal entsprach. Die widerspenstige Dichterin Anette von Droste-Hülshoff, „die ein Leben lang gegen die Erwartungen ihres Standes kämpfte“585, war ihnen suspekt, da sie, „beständig brillieren“586 wollte und sich auch weigerte Märchentexte beizusteuern. Dennoch wurde sie von den Brüdern ernstgenommen und es kam zu einem brieflichen Austausch. Nicht zuletzt lebten ihnen auch ihre Mutter und ihre beiden Tanten, obwohl dem „schwachen Geschlecht und zartem Wesen“587 zugehörig, ein starkes Frauenbild vor. Die Brüder wurden von zwei Frauen, ihren Tanten, während ihrer gesamten Ausbildungszeit finanziell unterstützt und ihre Mutter bewältigte Haushalt und die Erziehung ihrer sechs Kinder bereits ab einem sehr frühen Zeitpunkt ohne einen „starken Mann“ an ihrer Seite. Im Kontrast zu ihren weiblichen „Freundschaften“ und ihrer Schwester verkörperten diese drei Frauen ihres familiären Umfeldes perfekt die hochgeschätzten biedermeierlichen Tugenden und Werte Jacobs und Wilhelms: Treue, Fürsorglichkeit, Bescheidenheit, Mütterlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Bescheidenheit und Anstand. Werden die überwiegend weiblichen Märchenzuträgerinnen, die vorrangig weiblichen Bezugspersonen des familiären Umfelds und ihre zeitlebens, beständigen Frauenfreundschaften in den Blick genommen, ist zu bemerken, dass,

581 Vgl.Feustel, 2017, S. 178 582 Vgl. Feustel, 2017, S.180-181 583 Zitiert aus: Feustel, 2017, S. 181. 584 Vgl. Feustel, S. 174: „Die Kinder werde fast wie Bauernkinder aufgezogen u. laufen in Kittel, deren Zeug die Bettine selbst gewebt.“ 585 Horsley,Joey: Annette von Droste-Hülshoff. In: Frauen Biographieforschung. URL: http://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/annette-von-droste-huelshoff/ [letzter Aufruf am 30.03.2019] 586 Grimm/ Hinrichs, 2013, S.221. 587 Rölleke, „Wünschen“, 1985, S.223 117

das Zustandekommen der Grimmschen Märchen und vor allem ihre weltweite Rezeption […] in höchstem Maße von und durch Frauen bestimmt [ist].“588

Es ist davon auszugehen, dass die Ausgestaltung der Grimm´schen weiblichen Märchenfiguren wesentlich von den der damaligen geschlechtsstereotypen Praxis der Rollenzuweisung beeinflusst war, da die Frau in den Märchen aus einer männlichen Perspektive, „vom Standpunkt des Mannes aus betrachtet“ [wurde] - auch für den Fall, daß die Beiträgerinnen weiblichen Geschlechts waren.“589 Gemäß dieser Ansicht haben die Brüder die positiven rollentypischen Eigenschaften der guten Heldinnen verstärkt, diese sind sanft, still, lieblich, schön, golden, gut, bescheiden, demütig, fleißig, fromm, rein und gehorsam. Wilhelm betont ihre weibliche Schwäche noch zusätzlich, indem er ihnen das mitleiderregende Epitheton „arm“ verliehen hat.590 Ihre negativen weiblichen Figuren charakterisieren sie als, faul, stolz, neidisch, böse, garstig, hässlich, gierig, unbarmherzig, schwarz von Herzen, höhnisch, schlecht, boshaft und falsch. Dennoch, obwohl sich die traditionell guten Heldinnen als still und sanftmütig auszeichnen, werden sie dann aktiv, wenn ihre Nöte am größten sind: Gretel weint erst bitterlich, dann macht sie von ihrem Verstand Gebrauch, überwindet die Hexe mit einer List und stößt sie mutig in den Ofen. Damit erlöst sie ihren Bruder, sich selbst und auch ihren Vater von seiner Armut.591 Ebenso vergießt Aschenputtel (KHM 21) bittere Tränen bevor sie ihre Schwestern aussticht und den Königssohn für sich gewinnt.592 Rapunzel (KHM 12) ist erfinderisch, angelt sich den Königssohn, und selbst als ihr die böse Frau Gothel dazwischenfunkt, ist sie es, die am Ende ihren Liebsten erlöst und für ihr beider Glück sorgt.593 Auch das passive Dornröschen (KHM 50) ist wissbegierig und bildungswillig und wehrt indirekt einige ihrer Bewerber ab, bis sie den Richtigen erwählt.594 Die Königstochter im Froschkönig (KHM1) ermordet ihren Bräutigam595, Rotkäppchen (KHM 26) weicht vom rechten Weg ab596. Angesichts dessen sind die Grimm´schen Märchenheldinnen „aufmüpfiger als sie auf den ersten Blick erscheinen“597. Demnach ist anzunehmen, dass jene Frauen mit denen die Brüder verkehrten, die ebenfalls nicht dem biedermeierlichen Weiblichkeitsideal entsprachen, die sie aber ihres Verstandes wegen schätzten, ihre Spuren in den Kinder- und Hausmärchen hinterlassen haben. 4.3 Die Stellung der Frau in der Romantik

Die Entstehung der Kinder- und Hausmärchen fällt in einen Zeitraum, der in Blick auf Position und Situation der Frau einen sowohl bewegte wie auch widersprüchlichen darstellte. Auch nach der Französischen Revolution, die Gleichberechtigung und Gleichheit forderte, schlossen diese die Frau weitgehend nicht mit ein. Auf politischem und gesellschaftlich- öffentlichem Gebiet blieb die Frau ausgeschlossen. Die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts

588 Rölleke, 1985, S.77 589 Gobrecht, Barbara: Märchen von der starken und der schwachen Frauen. Freiburg: Herder, 1990. S.13 590 Vgl. Gobrecht, Barbara: Von schönen Prinzessinnen, klugen Mädchen und bösen Hexen. Frauengestalten im Märchen. URL: https://www.br-online.de/jugend/izi/deutsch/publikation/televizion/29_2016_1/Gobrecht- Von_schoenen_Prinzessinnen_klugen_Maerchen.pdf [letzter Aufruf am 30.03.3019] 591 Vgl. Grimm, 2000: Hänsel und Gretel (KHM 15) S.100-108 592 Vgl. ebd. S.137-144 593 Vgl. ebd.S.87-91 594 Vgl. ebd. S.257-260 595 Vgl. ebd. S.29-33 596 Vgl. ebd. S. 156-160 597 Rölleke, 2004, S.49 118 war nach wie vor patriarchalisch organisiert. Frauen wurden weder als selbstständig noch als mündig betrachtet. Ihre Rolle blieb auf die der liebenden Ehefrau, der fürsorglichen Mutter und der umsichtigen Hausfrau beschränkt.598

In allen sozialen Schichten lebten die Frauen weniger als individuelle Personen als vielmehr in eingeübten und tradierten Beziehungssystemen zu Eltern, Ehemann, Familie und Kindern. Ihre passiv-kindliche Abhängigkeit vom Vater und später vom Gatten, dann ihr mütterliches Verhalten in der Familie bestimmten ihre Qualität als Frau. Entschieden unterstützte die Kirche diese Strukturen.599

4.3.1 Der Einfluss des Rousseau`schen Geschlechterkonzepts

Die Rolle, Bildung und Erziehung der Frau wurden ganz wesentlich von Jacques Rousseaus (1712-1778) Geschlechterphilosophie beeinflusst, da er zwei Erziehungskonzepte entwarf, nämlich eines für Mädchen und eines für Jungen.600 Rousseau schreibt, dass für die Erziehung der Mädchen andere Maßstäbe zu gelten hätten als für die der Knaben, da Mann und Frau in Charakter und Temperament weder gleich geartet sind noch sein sollen601. Daraus schlussfolgert er, „dass sie auch nicht die gleiche Erziehung erhalten dürfen. [...]“602 Sein grundlegendes Prinzip, dass die Erziehung das Eigenrecht des Kindes zu akzeptieren habe, galt nicht für die Erziehung der Mädchen. Deren Maxime sei gänzlich dem Mann gewidmet und ausgerichtet auf dessen Bedürfnisse, Wünsche und Erwartungen:603

Die ganze Erziehung der Frauen muss sich also auf die Männer beziehen. Ihnen gefallen, ihnen nützlich sein, sich von ihnen lieben und ehren lassen, sie aufziehen, solange sie jung sind, sie umsorgen, wenn sie groß sind, ihnen raten, sie trösten, ihnen das Leben angenehm und süß machen, das sind die Pflichten der Frauen zu allen Zeiten, und das muss man sie von ihrer Kindheit an lehren.604

Weiter hält er fest, dass die Mädchen schon möglichst früh an „Zwang gewöhnt werden [müssen]nämlich dem der Wohlanständigkeit“605. Sie müssten von Anfang an darin unterwiesen werden, „alle Launen zu bezähmen, um sie dem Willen anderer zu unterwerfen“606. Nicht die Erziehung zu Selbständigkeit und Mündigkeit (wie bei den Jungen) steht im Vordergrund, sondern zur Folgsamkeit und Sanftmut.607 Nach Rousseau besitzt die Frau keinen Eigenwert, sondern habe lediglich eine „Appendixfunktion“608. Silvia Bovenschen konstatiert, dass das rousseua`sche Konzept weniger ein pädagogischer Entwurf als ein

598 Vgl. Feustel, 2017, S.78 599 Glaser, Hermann: Frauenleben im 19. Jahrhundert. In: Die Zeit (02.12.1983). URL: https://www.zeit.de/1983/49/frauenleben-im-19-jahrhundert [letzter Aufruf am 06.04.2019] 600 Vgl. Schmid, Pia: Rousseau Revisted. Geschlecht als Kategorie in der Geschichte der Erziehung. S.840. In: Zeitschrift für Pädagogik 38. 1992. S.839-854. URL: ZfPaed_1992_6_Schmid_Rousseau_Revisited.pdf (letzter Aufruf am 03.03.2019] 601 Vgl. Rousseau, Jean Jaques: Emile oder Über die Erziehung. 13. Aufl. Stuttgart: UTB, 2003. S.474 602 Ebd. 603 Vgl. Schmid, 1992, S.841 604 Rousseau, 1992, S.477 605 Ebd. S. 483 606 Ebd. 607 Vgl. Schmid, 1992, S.842 608 Bovenschen, Silvia: Die imaginierte Weiblichkeit: Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. 9. Aufl. Berlin: Suhrkamp, 1979 S.165 119

Domestikationsprogramm sei.609Demnach sei bereits durch das Geschlecht die Rolle der Frau definiert. Schon in ihren Anlagen ist die Frau als Zierat für die gesellschaftliche und individuelle Existenz des Mannes bestimmt.610Rousseau schrieb der Frau, abgeleitet aus der weiblichen Gebärfähigkeit, „die Eigenschaften Mütterlichkeit, Häuslichkeit und Gattenliebe als ihre wahre Natur“ 611zu. In ihrer Funktion als Erzieherin der Kinder und angenehmer Gesellschafterin des Ehemannes gestand er ihr zwar einen gewissen Rahmen an Bildung zu, doch grenzte sich explizit von der engagierten, gelehrten Frau, die am öffentlichen Leben teilhat ab.612 Johann Heinrich Campe (1746-1818) wies die Mädchen und junge Frauen in seinem „Väterlicher Rath für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron, der erwachsenen weiblichen Jugend gewidmet“ von 1789 - ähnlich wie auch Rousseau – zur Affektkontrolle und Selbstverleugnung an. Er lehnte auch die ästhetische Erziehung der Frau und das Erlernen von Sprachen ab, da sich die Frau einzig auf die Trias Gatte, Kinder und Haushalt zu beschränken habe und so in Abhängigkeit gehalten werden könne. Er begründete dies ebenfalls mit der weiblichen Reproduktionsfähigkeit und gottgewollten Hierarchie.613

4.3.2 Beginnende Umstrukturierungen im Denken

Die Betonung der weiblichen Häuslichkeit implizierte gleichzeitig eine Ablehnung alternativer Möglichkeiten des weiblichen Wirkungsgrades. Friedrich Schiller verlieh 1799 im „Lied von der Glocke“ das klar definierte Rollenverhältnis eine lyrische Form614:

Der Mann muß hinaus/ Ins feindliche Leben, / Muß wirken und streben/[…] Und drinnen waltet/ Die züchtige Hausfrau/ Die Mutter der Kinder, /Und herrschet weise/ Im häuslichen Kreise […] 615

Ein Brief von Caroline Schlegel- Schilling (1763-1809), einer Zeitgenossin Schillers, an ihre 14- jährige Tochter beweist, dass die männlichen Entwürfe für die Frauen, in der Realität dann dennoch sehr stark abwichen.616 Sie schreibt über die Verse Schillers: „Über ein Gedicht von Schiller, das Lied von der Glocke, sind wir gestern Mittag fast von den Stühlen gefallen vor Lachen.“ 617Diese Zeilen sind exemplarisch für eine allmähliche Umstrukturierung im Denken. Auch waren durch die Aufklärung bereits die Samen gesät für eine aktivere Teilnahme der privilegierteren Frauen des Bürgertums am kulturellen beziehungsweise gesellschaftlichen Leben. Sie konnten mehr Einfluss auf die Wahl ihres Ehepartners nehmen und spielten zunehmend auch eine aktive Rolle im gesellschaftlichen Leben. Diese Tendenzen waren vor allem in der Frühromantik spürbar. Gebildete Frauen, wie Bettina von Arnim (1785-1859), Dorothea Veith-Schlegel (1763-1839) oder Karoline von Gründerode (1780-1806) strebten nach individuellen Entfaltungsmöglichkeiten und wurden schriftstellerisch tätig. Damit überschritten sie die Grenze der bis dahin beanspruchten

609 Ebd. S.176 610 Vgl ebd. S.177 611 Vgl. Feustel, 2017, S. 90 612 Vgl. ebd. 613 Vgl. Blinn, Hansjürgen: „Das Weib wie es sein sollte“. Der weibliche Bildungs- und Entwicklungsroman um 1800. S.81-91 In: Gnüg, Hiltrud/Möhrmann, Renate (Hrsg.): Frauen Literatur Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. 2.Aufl. Stuttgart: Metzler, 1998 614 Vgl. Feustel,2017,S.87 615 Schiller, Friedrich: Gedichte. Eine Auswahl. Hrsg. v. Gerhard Fricke.Ditzingen:Reclam,2001.S.88 616 Vgl.Feustel, 2017,S.89 617 Zitiert aus: Feustel, 2017, S.87 120 männlichen Zone.618Aufgrund mangelnder Toleranz gegenüber weiblichen Schriftstellerinnen, veröffentlichten viele Autorinnen unter dem Namen ihres Ehemannes. Darunter auch die fortschrittlich denkende Caroline Schlegel-Schilling, die dennoch resigniert feststellte: „Man schätzt ein Frauenzimmer doch immer nur nach dem, was es als Frauenzimmer ist“619, als Ehe- und Hausfrau und Mutter. Wie so viele Frauen, die „hinter den Herd gedrängt wurden, empfindet sich als „elendes Geschöpf, das mit Gleichgültigkeit das Morgenlicht durch die Vorhänge schimmern sieht und ohne Satisfaction sich niederlegt“.620Der Philosoph Gottlieb Fichte (1762-1814) hält die weibliche literarische Produktion ohnehin nicht für ebenbürtig und fürchtet zudem, dass eine verheiratet Frau, “ […]durch ihren schriftstellerischen Ruhm eine von ihrem Gatten unabhängige Selbstständigkeit [erhält], die das eheliche Verhältnis nothwendig entkräftet und zu lösen droht.“621Jacob Grimm teilte diese Ansicht und sah in der weiblichen Aktivität die,

bedeutende[n] zahl unglücklicher, gestörter und geschiedener ehen, welche die […]lebensgeschichten deutscher dichterinnen ergeben[…]die frau, welche einmal aus dem kreise natürlicher Bestimmung weicht, geräth mit sich selbst in zwiespalt, sie kann nicht mehr leisten und ertragen, was ihr gebührt.622

Offensichtlich spricht hier die Angst vor der Auflösung des bürgerlich-konformen Rollenverhaltens. Carl Wilhelm Otto August von Schindel (1776-1830) vertrat eine völlig konträre Position. Für ihn stellte die weibliche Autorenschaft kein Problem oder gar Affront dar, er stellte fest, dass, „ Das Geschlecht […]hier keinen Unterschied machen [kann]“623. Er veröffentlichte zwischen 1823 und 1825 gar das Lexikon“ Die deutschen Schriftstellerinnen des neunzehnten Jahrhunderts“. Ein weiterer Mitstreiter, der sich für die Rechte und Gleichstellung der Frauen einsetzte war Theodor Gottlieb von Hippel (1741-1796). Seine Werke „Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber“ von 1792, als auch „Über die Ehe“ von 1793 machen ihn zu einem bedeutenden Wegbereiter der Frauenemanzipation. Darin kritisiert er klar die selbsternannte, übergeordnete Position der Männer:

Und Männer, ihr wollt glauben, eine halbe Welt wäre zu eurem bon plaisir, zu eurem eigentlichen Willen, das ist verdolmetschet: zu euren Eigenwillen da? Tiere wirken; Menschen handeln. – Warum soll das Weib nicht Ich aussprechen können?624

618 Vgl.Feustel, 2017, S.80 619 Sichtermann, Barbara: Die Frau, die einzig war. In: Die Zeit, Nr.35, 2009. URL: https://www.zeit.de/2009/35/A-Caroline [letzter Aufruf am 30.03.2019] 620 Ebd. 621 Fichte, Johann Gottlieb: Werke. Immanuel Hermann Fichte Hrsg. Bd.3. Zur Rechtslehre und Sittenlehre I. Berlin: De Gruyter, 1971. S. 352 622 Zitiert aus: Feustel, 2017, S.81-82 623 Schindel, Carl Wilhelm von: das Lexikon Die deutschen Schriftstellerinnen des neunzehnten Jahrhunderts. Erster Theil: A- L: Leipzig: Brockhaus, 1883.S.XIV. 624 Weber-Kellermann, Ingeborg: Frauenleben im 19. Jahrhundert. München: C.H.Beck, 1983. S.23 121

4.3.3 Erste feministische Tendenzen aus den Reihen der bürgerlichen Frauen

Frauen, die die künstlerische, schriftstellerische Laufbahn wählten entstammten überwiegend dem Bürgertum. 625Das weibliche Dasein war also trotz einer rigiden Regelkonformität nicht vollständig erstarrt. Ab den 1830er Jahren begannen auch die Frauen selbst verstärkt für Rechte einzutreten. Louise Mühlbach (1814-1873), Fanny Lewald (1811- 1889), Ida Hahn-Hahn (1805-1880), Louise Otto Peters (1819–1895) wandten sich öffentlich an ihr weibliches Publikum um gegen Diskriminierungen am Arbeitsplatz und gegen fehlende Bildungsmöglichkeiten aufzutreten. 1839 forderte Ida Hahn-Hahn: „Schickt die Mädchen auf die Universitäten und die Knaben in die Nähschule und Küche: nach drei Generationen werdet ihr Wissen, […] was es heißt, die Unterdrückten zu sein.“626 Die Gründe für die Benachteiligung und Rückständigkeit im Bildungswesen sah Henriette Herz (1764-1847) in der starren Werte- und Traditionsstruktur der christlich geprägten Familien627:

[…] wenn [die Frauen] geistigen Interessen irgend Raum in sich gegönnt hätten, […] wäre deren Gegenwart bei den gelehrten Gesprächen ihrer Ehegatten diesen eine Störung geworden, hätte sie ihnen nicht gar eine Profanation ihres Heiligtums der Wissenschaft geschienen.628

Selbst für bürgerliche und adelige Töchter gab es um 1800 noch kaum Bildungseinrichtungen oder Schulen für Mädchen.629 Die Bildung der Mädchen blieb vordergründig Privatangelegenheit und wurde im Interesse der Familie geregelt. Louise Otto-Peters gründete 1849 die erste Frauen-Zeitung und proklamierte, dass es die Pflicht der Frau sei an den Interessen des Staates teilzunehmen.630Fanny Lewald, Zeitzeugin, benennt die Gründe, wieso sich feministisches Gedankengut gerade im Bürgertum entwickeln konnte, da

zu irgendeinem nicht auf den Haushalt und die Familie bezüglichen Gedanken blieb denjenigen, die wie wir bei allem selbst Hand anlegen mußten, wenn ihr Sinn nicht entschieden auf Höheres gerichtet war, kaum […] Zeit übrig.631

Das Modell der Selbstbestimmung der Frau konnte sich zu aller erst in der bürgerlichen Gesellschaft etablieren und verbreiten. Die Damen der Aristokratie und die Frauen der unteren Gesellschaftsschicht blieben davon ausgeschlossen. Adelige Damen folgten aus dynastischen Gründen einem anderen Rollenverständnis als bürgerliche Frauen. Sozial unterprivilegierte Frauen, wie Arbeiterinnen oder Landfrauen mussten neben dem Versorgen ihrer Kinder ihre Arbeitsleistung, „gleich der des Mannes zum Einsatz bringen[…] Ihnen fehlte der Luxus, sich durch Arbeitsentlastung einen persönlichen Freiraum zu

625 Vgl. Feustel, 2017, S.111 626 Klingenstein, Eva: „Die Frauen müssen ganz andere Worte hören“: Die Anfänge der engagierten Frauenpresse in Österreich und Deutschland. S.117-128.In: Gnüg, Hiltrud/Möhrmann, Renate (Hrsg.): Frauen Literatur Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. 2.Aufl. Stuttgart: Metzler, 1998 627 Vgl. Feustel, 2017. S.98 628 Herz, 1984, S.49 629 Vgl. Lange, Sigrid: Ob die Weiber Menschen sind. Leipzig: Reclam, 1997. S.430 630 Vgl. Rückert, 2019. 631 Zitiert aus: Feustel, 2017, S.83 122 schaffen.“632. Erste Tendenzen das weibliche Rollenbild zu verändern gehen auf die Zeit der bürgerlichen Revolution zurück. Mit den politischen Aufständen und Umwälzungen – Märzrevolution 1848 – wurden die weiblichen Proteste lauter.633Die Forderungen der Frauen nach mehr Bildungsmöglichkeiten, Gewerbefreiheit, Mündigkeit und soziales Engagement für verarmte Frauen wurden immer lauter. Bildungsbürgerinnen wie die oben genannte Louise Otto-Peters, Mathilde Franziska Anneke (1817–1884) und Auguste Schmidt (1833– 1902) gründeten 1865 den ersten deutschen Frauenverein.634Der Philosoph Ludwig Feuerbach unterstützte diese Entwicklung nachdrücklich:

[…] die Emanzipation des Weibes ist eine Sache und Frage der allgemeinen Gerechtigkeit und Gleichheit, die jetzt die Menschheit anstrebt, eine Bestrebung, deren sie sich rühmt, aber vergeblich, wenn sie davon das Weib ausschließt.635

Der enge, eigene Handlungsspielraum wurde von den Frauen im frühen 19. Jahrhundert verstärkt wahrgenommen und reflektiert. In den Diskussionen wird immer stärker die Definition der „Frau als Mensch“636 aufgegriffen. Die Möglichkeiten der Entfaltung blieben dennoch beschränkt. Soziales Elend und Massenarbeitslosigkeit unterstütze karitative Einrichtungen, was den Frauen den Ausbruch von Heim und Herd ermöglichte. Dadurch veränderte sich ihr Selbstwertgefühl und ihre Wahrnehmung der Welt nachhaltig, ihre außerhäuslichen sozialen Kompetenzen wurden zudem anerkannt.637 Basierend auf der fürsorgliche Tätigkeit für die sozial Schwächeren,

[…]ließen die vielfältigen Kontakte mit anderen Frauen […] Solidaritätsgefühle aufkommen […] Geschlechtsbewusstsein entstand, das […] zum Vorläufer für feministisches Bewusstsein wurde.638

Anne Higonnet stellte fest, dass das 19. Jahrhundert

[…] zahllose Frauenbilder [hervorbrachte] – viele waren konsistent, einige widersprüchlich […] aber, alle beeinflussten wirkungsvoll die immer wieder geänderte Definition dessen, was es bedeutet eine Frau zu sein.639

4.3.4 Die Kinder- und Hausmärchen im Kontext des 19.Jahrhunderts

Analog zur Entwicklung der Frauenemanzipation erscheinen die Kinder und- Hausmärchen der Brüder Grimm. Deren Werk erweist sich auch, “ in jeder Hinsicht als vom Bürgerstand geprägt.“ 640Beide Brüder wurden gemäß den traditionellen bürgerlichen Konventionen

632 Feustel, 2017, S.83 633 Vgl.Feustel, 2017,S.113 634 Faderl, Florian: Die Rolle der Frau vom 19. Jahrhundert bis heute. Infoblatt. Sozialgeschichte. Hrsg. Stiftung Jugend und Bildung in Zusammenarbeit mit dem BMAS. Berlin, 2012. URL: https://www.sozialpolitik.com/public- files/Infoblatt_Sozialgeschichte_Frauen.pdf [letzter Aufruf am 06.04.2019] 635 Zitiert aus: Feustel, 2017, S.114. 636 Vgl. ebd. S.84 637 Vgl.Feustel, 2017, S.111 638 Ebd. 639 Higgonet, Anne: Bilder - Schein und Erscheinung, Muße und Subsistenz. S. 283-311.In: Fraisse, Geneviève/Perrot,Michelle (Hrsg.):Geschichte der Frauen. Frankfurt/ New York: Campus, 1994. S. 283 u. 284 640 Feustel, 2017, S.83 123 erzogen. Ihr Frauenbild bildete sich durch die Frauen ihrer Familie und ihres Freundes- und Bekanntenkreises heraus, da sie privat, beruflich und in brieflich fast ausschließlich Kontakt mit Personen aus dem Bürgertum pflegten. Auch ihre Märchenzuträgerinnen entstammten, bis auf wenige Ausnahmen, der bürgerlichen Gesellschaftsschicht.641Die Brüder Grimm veröffentlichten und überarbeiteten ihre Auflagen der Sammlung, „in einer Epoche, die politisch, soziologisch und gerade für die Stellung der Frau essentielle Veränderungen mit sich brachte […]“642Diese wirkten auf das Leben und Schaffen der Brüder ein, „da die Grimmschen Märchen große Bereiche […] historischer Wirklichkeiten abspiegeln.“643 Die Brüder waren Zeitgenossen, “ des Wandels der allgemeinen und weiblichen Lebenswelt“644In der Auflage von 1819 schreiben sie in ihrer Vorrede: „Es war vielleicht gerade Zeit, diese Märchen festzuhalten, da diejenigen, die sie bewahren sollen, immer seltener werden.“645 Es ist anzunehmen, dass ihr Denken und Handeln von den Ereignissen der Zeit beeinflusst war. Nicht zuletzt durch die von ihnen bewunderte, progressive Bettina von Arnim, die sich künstlerisch, politisch, sozial und karitativ engagierte:

Bettina [vereinigte] die Entwicklungsspanne fast eines halben Jahrhunderts in ihrer Person […] von den progressiven Tendenzen der klassisch-romantischen Zeit über die Emanzipationsbestrebungen des Vormärz bis zum revolutionären Demokratismus des Jahres 1848. Der Weg, den sie wies, […] war utopisch […] sie setzte […] den Schlußstein einer ganzen Epoche deutscher Frauen-Publizistik und fortschrittlicher Frauenliteratur. 646

4.3.5 Kritische Betrachtung der Grimm´schen Frauenentwürfe als Ideal für weibliche Verhaltensmodelle

Elke Feustel geht davon aus, „dass zwischen den literarischen und visuellen Spiegelungen von Weiblichkeit und dem Selbstverständnis der Frauen“647 wie eine Frau zu sein hatte, eine gegenseitige Beeinflussung ausging. Den Frauen wurden damit auch Verhaltensmodelle mitgeliefert. Sivia Bovenschen spricht hier von einer „imaginierten Weiblichkeit […] einer Phantasie über eine ideale Frau“.648Dennoch betrachtet sie, „Texte [als] mächtig wie jede Form der Ideologieproduktion. Frauen nehmen die […] entworfenen Bilder als eigene an, versuchen sich daran auszurichten […]“649

4.4. Forschungsfrage: Verkörpern Grimms Heldinnen Aschenputtel und Dornröschen das zeittypische Frauenideal des Biedermeier beziehungsweise wirken diese Vorstellungen nachhaltig weiter?

Weicht man von den märchenkritischen, gängigen Interpretationen und jenen der, vor allem in den USA engagierten MärchengegnerInnen ab, die nicht zwischen den Perrault´schen, den Grimm´schen und den verkitschten Frauenstereotypen Disney´s

641 Ebd. 642 Feustel, 2017, S114 643 Rölleke, 1985, S.88 644 Feustel, 2017, S.114 645 Grimm, 2018, Bd.1.S.15 646 Zitiert aus: Feustel, 2017, S.115 647 Feustel, 2017, S.85. 648 Bovenschen, 1979, S. 173 649 Ebd. S. 179. 124 differenzieren, ergibt sich ein völlig anderes Bild. Zu Beginn der Handlung erscheinen beide Mädchen noch als Idealtyp der romantischen Frau beziehungsweise Mädchens. Aschenputtel ist fromm, fleißig und verspricht der Mutter noch am Sterbebett immer gut zu bleiben. Die Mutter stellt ihr dafür beständige Fürsorge in Aussicht. Eine Ausnahme stellt Basiles Lukretia da, die sich bereits zu Beginn eines Mordes schuldig macht. Dornröschen wird als junges Kind von allen Seiten geliebt, beschenkt und verwöhnt. Mit fortwährender Reife verlieren die Eltern zunehmend das Interesse an ihrer selbstständig werdenden Tochter, der sie ,symbolisch im Spinnverbot dargestellt, zu ihrem Schaden jede Ausbildung verweigern, während die Eltern, beziehungsweise der Vater, die Tochter nachdem sie in den komatösen Zustand gefallen ist, in den Vorläufer-Fassungen vernachlässigen. Da das Märchen zunehmend auf den pädagogischen Zweck abzielte fand die Motivverschiebung, die Vergewaltigung in den Kinderwunsch der Eltern zu verlegen, statt. Das Grimm´sche Dornröschen, ganz in biedermeierlichem Gewand, stellte weibliche Gelehrtheit als abschreckende Vorstellung für die Männer dar. Bildung war nur insofern erwünscht, als sie den gesellschaftlichen Zwecken diente:650

[…]die Töchter des Hauses wurden in dem verweichlichendsten Luxus erzogen, aber von Bildung war nur die äußerste Firnis angestrebt.651

Es waren durchaus auch Gegenstimmen zu vernehmen. Zum Beispiel setze sich Theodor von Hippel (1741-1796) für eine Angleichung der rechtlichen und sozialen Möglichkeiten von Frauen ein.652 Amelie Holst (1758 – 1829)dachte seine Forderungen konsequent weiter:

[…]Sollte je das weibliche Geschlecht zu der Ansicht gelangen, daß es die Ausbildung seiner Anlagen und Kräfte als Geschäft und Pflicht betreibe, so würde die gesamte Menschheit einen großen, nicht zu berechnenden Vorteil, daraus ziehen.653

Dornröschen, die bis zu ihrer beginnenden Reife vor allen durch biedermeierliche Tugenden wie äußere Wohlgestalt und gesellschaftliches, sprich „angepasstes “Wohlverhalten auffiel, entwickelt sich zu einer wissensdurstigen und aktiven, ihre Intelligenz und Anlagen nützenden jungen Frau. Mit dem Ziel sich Wissen anzueignen, symbolisiert durch das Öffnen der Türen, überschreitet sie die von den Eltern gesetzten Grenzen, welche die biedermeierlichen Normen versinnbildlichen, die zunehmend zurückgedrängt werden und verstummen, symbolisiert durch das Schlafen (ihrer Eltern), weil sie für ihre Entwicklung ihrer nicht weiter von Belang sind. Parallel zum Ablauf ihrer körperlichen Reife vollzieht sich ihre innere, emotionale Reife. Vordergründig „tugendhaft und sittsam“ verstrickt sie all jene, die in der Dornenhecke „hängen“ bleiben und verschmäht zahlreiche Verehrer, bis sie ihren wunschgemäßen Partner gefunden hat und gnädig empfängt. Zustimmend „blickte [sie] ihn ganz freundlich an“654. Damit präsentieren die Grimms einen ausgesprochen virulenten Frauencharakter655, der sich den Bestimmungen der Eltern widersetzt, autonom bildet und ihre Reize zur Verführung des

650 Vgl. Feustel, 2017, S. 99 651 Herz, Henriette: Berliner Salon - Erinnerungen und Portraits. Hrsg. v. Janetzki Ulrich. Frankfurt/Berlin: Ullstein, 1984. S.50 652 Vgl. Feustel. 2017, S. 99-100 653 Zitat aus: Lange, Sigrid (Hrsg.): Ob die Weiber Menschen sind: Geschlechterdebatten um 1800. Leipzig: Reclam, 1992.S. 77-85 654 Grimm, 2000, S. 655 Feustel. 2017, S.357 125 einsetzt, wodurch sie die Anzahl ihrer Bewerber vervielfacht.656 Sie ist es, die den Ehegatten aussucht und in die Ehe einwilligt. In der Literatur der frühen deutschen Romantik wurde die Zuneigung als Fundament für die Ehe am stärksten betont. Nicht rationale Überlegungen galten als Motiv für eine Eheschließung, sondern die bedingungslose leidenschaftliche Liebe stand im Vordergrund.657 Beide Märchenheldinnen vermögen bei ihrem Wunschpartner erst einmal leidenschaftliches Begehren auszulösen. Aschenputtel verhält sich in der Partnerwahl ähnlich wie Dornröschen, obwohl sie anders agiert. Erst weckt sie die Begierden des Prinzen durch ihre absichtsvoll berauschende Erscheinung. Durch den Tanz fesselt sie den Königssohn. Er macht erstmals Besitzansprüche geltend und „vergißt schlagartig alle Regierungsgeschäfte und kennt nur noch Eins - die Suche nach der geliebten Frau“658. Aschenputtel weckt auf einmal Assoziationen an die tanzende Salome (!), die im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zum Symbol der morbiden Erotik wurde. Als Femme fatale gewann sie durch ihren Tanz tödliche Macht über das anderer Geschlecht: Herodes verfällt Salome als er sie tanzen sieht und begehrt sie so stark, dass er ihr jeden Wunsch zu erfüllen verspricht.659Aschenputtel gibt sich ihrem Verehrer jedoch nicht zu erkennen, sie flieht und fordert ihn zu einem regelrechten Balzritual heraus. Lutz Röhrich versieht Aschenputtels Verhalten mit einem Begriff aus der Volkskunde, als „rituelles Sträuben“660. Sie spielt ein wirres Spiel mit ihm, obschon im Bewusstsein, dass er ihr ergeben ist. Damit hält sie sein Interesse wach und steigert sein Begehren. Theodor Fontanes Frauengestalt in Schach von Wuthenow (1878-1882) Lisette rät ihrer Freundin Victoire von Carayon in einem Brief:

Es ist nur eines, um dessentwillen Frauen leben, wir leben um uns ein Herz zu gewinnen, aber wodurch wir es gewinnen ist gleichgültig.661

Sie treibt ihr manipulatives Spiel auch mit den Schwestern und ihrem Vater weiter. Erst als der Königssohn mit dem Schuh in der Hand vor allen jungen Frauen niederkniet662 und zuletzt vor ihr und ihr damit buchstäblich zu Füßen liegt, beendet sie ihre Maskerade und gibt sich zu erkennen. Aschenputtel übt nun – sprichwörtlich gesprochen – blutige Rache. Den einstigen Spott ihrer Schwestern vergilt sie ihnen mit grausamer Rache, in dem sie sogar Selbstverstümmelung zulässt, obwohl sie einst gelobte fromm und gut zu sein und täglich ihr Gebet sprach. Somit stellt sie eine äußerst doppeldeutige Figur dar. Die ehemals Gedemütigte steigt in die höchsten Kreise auf, weil sie gelernt hat klug und kaltblütig zu sein. Raffiniert lässt Aschenputtel dem Königssohn die Retterrolle übernehmen, obwohl ganz klar sie die Fäden in der Hand behält. Dennoch mimt sie die Hilflose. Es ist naheliegend zu behaupten, dass Aschenputtel in ihrer Rolle als schwache, unterdrückte Frau das Ideal des schwachen Geschlechts im 19. Jahrhundert perfekt verkörperte, wenn auch nur gespielt. Sie ist die kluge Frau die den Mann in der Hand hat. Offene Entschlossenheit und Durchsetzungskraft war den Männern der Romantik beziehungsweise des viktorianischen Zeitalters nicht geheuer. George Gissings Protagonist Barfoot kann in seinem Roman „The Odd Woman“ (1893), obwohl verliebt, seine angebetete Rhoda

656 Vgl. ebd. 657 Vgl. S.101 658 Wehse, Rainer: Die Frau im Märchen. Hrsg. v. Rainer Wehse und Sigrid Früh. Kassel: Röth, 1985. S.5 659 Vgl. Wilde, Oscar: Salome. Stuttgart: Reclam. 1990. S.22 660 Röhrich, Lutz: Märchen und Wirklichkeit.5. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 2001. S.111. 661 Fontane, Theodor: Schach von Wuthenow. Dokumente und Erläuterungen. Hrsg. v. Walter Wagner. Stuttgart: Reclam, 1980. S. 79 662 Vgl. Wehse, 1985. S.5 126 erst dann ehelichen, wenn er sie leidend gesehen hat, damit er als Erlöser und Retter fungieren kann:

The keener her suffering the sooner her submission […]the submission should be perfect![…] He had seen her in many moods,but not yet in the anguish of broken pride. She must shed tears before him, declare her spirit worn and subjugated by a torrent of jealousy and fear. Then he would raise her, and seat her in the place of honour, and fall down at her feet, and fill her soul with rapture. 663

Spielend reihen sich in diese Tradition Vivian Ward und Anastasia Steele ein. Grimms Aschenputtel widersetzte sich entschlossen und strategisch ihren widrigen Umständen, blieb dabei aber ganz in ihrer Rolle als Frau der Romantik, schwach und liebreizend. Ihren beiden Stiefschwestern, die den Befehlen der Mutter blind folgen, werden nicht nur die Augen ausgehackt, sie werden auch ihr Leben lang humpeln und nie wieder „schöne“ Schuhe, das erotische Symbol schlechthin, tragen können. Sie werden für ihren blinden Gehorsam bestraft. Schließlich haben sie für ihr Leben nicht selber Verantwortung übernommen, nun müssen sie für den Rest ihres Daseins anderen „blind“ gehorchen.664 Aschenputtel folgt wie schon Dornröschen den immer lauter werdenden Forderungen der Feministinnen des 19.Jahrhunderts. Louise Otto Peters (1819-1895)- Mitbegründerin der Frauenbewegung und Herausgeberin der erste Frauenzeitschrift, war überzeugt, dass die

Frauen […] selbst ihre Rechte fordern [müssten], sonst würden sie vergessen665: […] Wir wollen auch unseren Theil fordern und verdienen an der großen Welt - Erlösung, welche der ganzen Menschheit, deren eine Hälfte wir sind, endlich werden muß 666[...]Das Recht der freien Selbstbestimmung ist das heiligste und unveräußerlichste jedes vernunftbegabten Wesen […] wer freiwillig darauf verzichtet, der versündigt sich an seiner eigenen Menschenwürde, und es bewahrt sie nur, wer freudig seine Kraft einsetzt, jenes Recht zu bewahren oder sich zu erringen, wo man es ihm noch nicht gegeben oder wo man es ihm genommen hat.667

Allem Anschein nach hat Aschenputtel den Ruf nach Eigenverantwortung ernst genommen und umgesetzt. Anders als ihre Stiefschwestern, die den verstaubten Ansichten der Mutter folgten. Es wird weder von den Gefühlen Aschenputtels noch Dornröschens berichtet. Beide befreiten sich aus einer unbefriedigenden Situation, in dem sie Eigeninitiative ergriffen ohne auf die Macht des Schicksals zu vertrauen oder sich diesem zu fügen. Aschenputtel beschreibt zudem einen „modernen Traum“, da sie mühelos Standesunterschiede überwunden hat, immerhin wurden bis Mitte des 20. Jahrhunderts morganatische668

663 Gissing, George: The Odd Woman. Peterborough: Broadview Press, 1998. S.282 664 Vgl. Wittmann, S.68 665 Rückert, Ulrike: Vor 200 Jahren geboren. Frauenrechtlerin Louise Otto-Peters. In: Deutschlandfunk (26.03.2019). URL: https://www.deutschlandfunk.de/vor-200-jahren-geboren-frauenrechtlerin-louise-otto- peters.871.de.html?dram:article_id=444518 [letzter Aufruf am 27.03.2019] 666 Otto-Peters, Louise: Aufsätze aus der „Frauen Zeitung“.Hrsg. v. Karl-Maria Guth. Erstdruck 1849 u. 1850. Berlin: Hofenberg, 2015. S.4 667 Zitiert aus: Vahsen, Mechthild: Louise Otto-Peters. In: Bundeszentrale für politische Bildung. (13.01.2009). URL: https://www.bpb.de/gesellschaft/gender/frauenbewegung/35309/louise-otto-peters?p=all [letzter Aufruf am 03.03.2019] 668 Duden: morganatisch. URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/morganatisch[letzter Aufruf am 03.03.2019] 127

Eheschließungen von der Hocharistokratie kaum bis gar nicht geduldet wurden und eine Beschränkung im Erbrecht des „nicht standesgemäßen“ Familienmitglieds war die Folge.

4.4.1„Some Day my Prince will come“669 –Endstation Ehe?

Für Aschenputtel wie für Dornröschen endet ihre unterdrückte, beziehungsweise schicksalshafte Passivität damit, dass der Königssohn kommt und „das Aschenputtel aufs Pferd [nahm]und […]mit ihm fort [ritt] […] die Hochzeit mit dem Königssohn sollte gehalten werden 670 […]da wurde die Hochzeit des Königssohns mit dem Dornröschen in aller Pracht gefeiert, und sie […] vergnügt bis an ihr Ende [lebten].“671 Die passiven, untertänigen, wartenden Heldinnen, deren Belohnung für eben dieses Verhalten ein Prinz und die Ehe ist, stehen im Fokus der feministischen Literaturkritik. Marcia Liebermann lehnt das Argument, dass Märchen archetypisches weibliches Verhalten widerspiegele ab, zweifelt an den dadurch übermittelten Werten und Normen und sieht die kulturellen Muster von Geschlechterrollen in den Märchen als gefährlich für die Erziehung von jungen Menschen an.672 Betrachtet man nun Aschenputtel und Dornröschen als Töchter des Biedermeier, haben wir zum einen eine junge Frau vor uns, die Spott ertragen und schwere Arbeit leisten muss. Der zweiten Heldin wird jede Bildung untersagt, ihr Leben ist geprägt von Langeweile. Beide müssen sich an die Gebote der Eltern halten. Aschenputtel hat ihrer Mutter ein Versprechen gegeben. Dornröschen ist es untersagt, irgendwelchen Tätigkeiten nachzugehen. Das Gefühl des Ausgestossenseins und der Langeweile erfährt auch Jane Eyre (1847) in dem Roman von Charlotte Bronte:

It seeems that a „lone woman“ can be happy, as well as cherished wives and proud mothers – I am glad of that – I speculate much om the existence of unmarried and never- to-be-married woman nowadays, and I have already got to the point of considering that there is no more respectable charakter on this earth than an unmarried woman who makes her own way through life quietly, perseveringly – without support of husband or brother.673

Aschenputtel und Dornröschen entziehen sich diesem schweren Schicksal, indem beide alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen um sich an der Seite eines Königssohnes dieser Einsamkeit, Tristesse und der damaligen Verachtung gegenüber unverheirateten Frauen zu entziehen. Beide setzen ihre weiblichen Reize und ihre Schönheit dazu ein, Dornröschen lasziv, Aschenputtel hinterlistig.

Sicher spricht Charlotte Bronte für viele Frauen des 19. Jahrhunderts. In ihren „Gedanken“ macht sie auch deutlich, dass sie unverheirateten Frauen großen Respekt entgegenbringt.

Das Aschenputtel oder Dornröschen- Märchen – ungeachtet der zeitgemäßen gesellschaftlichen Bedingungen – als Muster für weibliche Passivität zu verdammen, ist mit Sicherheit zu einseitig gedacht. Sowohl Aschenputtel wie auch Dornröschen übernehmen Verantwortung für ihr eigenes Leben und hinterfragen ihr Verlangen die Wünsche anderen

669 Zipes, 1985,S. 179 670 Grimm, 2000, S. 144 671 Ebd, S.260 672 Zipes, 1985, S.179 673 Bronte, Charlotte: Jane Eyre. UK: Penguin, 2012, S.77 128 zu erledigen beziehungsweise deren Gebote zu befolgen. Beide ringen- wie auch Brontes Jane Eyre – um Selbstbestimmung und sind damit ebenso unkonventionell wie diese.

Ausblick

Die Untersuchung hat gezeigt, dass sowohl der Aschenputtel als auch der Dornröschen-Stoff aktueller und beliebter denn je sind. Ganz offensichtlich haben es die populär gewordenen modernen Aschenputtel-Figuren wie Pretty Woman, Bella Swan und Anastasie Stelle es nicht geschafft sich zu emanzipieren, dennoch böten gerade das traditionelle Aschenputtel wie Dornröschen Vorlagen für die Konstruktion eines selbstbestimmten weiblichen Charakters. Im Kontrast zu Vivian Ward oder Anastasia Stelle stellt das Aschenputtel der Brüder Grimm eine Frau dar, die ihr Leben selbst in die Hand genommen hat. In Pretty Woman, Twilight oder Shades of Grey wird dagegen ein Frauenideal geschaffen, dessen Grundzüge einzig darauf ausgerichtet sind dem geliebten und dominanten Mann zu gefallen und das eigene Leben auf ihn abzustimmen. Trotz der permanent und ständig beschworenen Selbstbestimmung definieren sie sich einzig über den Mann. Wie es Luce Irigaray dargelegt hat, haben diese Frauen nicht gelernt ihre eigene Identität zu bestimmen. Die Dornröschen-Bearbeitungen greifen den Märchenstoff und das implizierte „Frau kann nur von einem Mann gerettet werden“ – Motiv wesentlich kritischer auf, wie die Adaptionen von Almadovar, Yolen oder den Kings zeigen. Dornröschen wie Aschenputtel und alle ihre zahlreichen Doppelgängerinnen, vor und nach ihrer Zeit, stellen „den Abglanz der versunkenen Göttinnen“ 674dar. Jede dieser vielfältigen Versionen beschreibt ihre Heldin als leuchtende, glanzvolle, goldenen und aufsehenerregende Erscheinung. Das Grimm`sche Aschenputtel trägt goldene Kleider und ist umschwirrt von Tauben, wie die Liebesgöttin Aphrodite. Dornröschen bringt schlafend eine üppige Rosenvegetation um sich hervor und erblüht buchstäblich, „wie die Erdgöttin zur Zeit der Heiligen Hochzeit […]“675. Auch James verweist auf Anas „Innere Göttin“, die ihr intuitiv die richtigen Anweisungen gibt. Mit diesem Zitat aus „Shades of Grey“ soll darauf hingewiesen werden, welche Funktionen Literatur, Film und Fernsehen erfüllen beziehungsweise wie das Lese- oder Kinopublikum davon Gebrauch macht. Irrelevant ist dabei, ob es sich um „schlechte“ („Populärkultur“) oder „anspruchsvolle“ („Hochliteratur“) Bearbeitungen handelt676. Der Kunstphilosoph Arthur C. Danton meint, dass,

„[uns] jedes literarische Werk […] eine Seite von uns [zeigt], von der wir ohne die Hilfe dieses Spiegels gar nicht wüssten, dass wir sie haben: Jedes Werk enthüllt eine ungeahnte Dimension des Selbst. Ein Spiegel ist es weniger darin, dass es passiv ein Bild zurückwirft, als darin, dass es das Selbstbewusstsein des Lesers verwandelt, der über die Identifikation mit dem Bild sich selbst erkennt. In diesem Sinne wirkt Literatur verklärend, auf eine Weise, die die Unterscheidung zwischen Fiktion und Wahrheit kreuzt.“677

674 Ebd. S.188 675 Ebd. S.192 676 Vgl.Illouz, 2013. S. 77 677 Danto, Arthur C.: Die philosophische Entmündigung der Kunst. München: Fink, 1993. Übers. v. Karen Lauer. S. 186. 129

Am Ende der vorliegenden Untersuchung steht für mich die Schlussfolgerung fest, dass die zeitgenössischen Adaptionen des Aschenputtels und Dornröschens die Unsicherheiten der modernen Frau abbilden, die dem Wertekanon ihrer Zeit entsprechen möchte und daher übersehen, dass ihre traditionellen Schwestern bereits Ansätze zur Selbstbestimmung und Emanzipation vorgelebt haben.

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Literaturverzeichnis

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KundInnenrezessionen

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Abbildungsverzeichnis

Abb.1: https://www.google.com/search?q=Disney+Cinderella&source=lnms&tbm=isch&sa=X&ved=0ahUKEwjs1b70r_f gAhVmp4sKHVVNBEUQ_AUIDigB&biw=1366&bih=657#imgrc=OyKsxIxLQCZaiM: [letzter Aufruf am 03.03.2019] Abb.2: https://www.google.com/search?q=Ludwig+Emil+Grimm+Aschenputtel&source=lnms&tbm=isch&sa=X&ved=0 ahUKEwjRmv_OrvfgAhXQmIsKHe4bBgkQ_AUIDigB&cshid=1552213705394704&biw=1366&bih=657#imgrc=4pj 8Qs1hBJfWLM: [letzter Aufruf am 03.03.2019] Abb.3: https://www.google.com/search?q=Emil+Grimm+Dornr%C3%B6schen&source=lnms&tbm=isch&sa=X&ved=0a hUKEwi7osHj1JvhAhVGuqQKHXHUBTUQ_AUIDigB&biw=1366&bih=657#imgrc=Ka7TxiQGHFjDNM: [letzter Aufruf am 10.03.2019] Abb.4: https://www.google.com/search?q=Disney+Sleeping+beauty+filmplakat&tbm=isch&source=iu&ictx=1&fir=LRn aYO1QqOSzzM%253A%252CKRFKHfYPKVS9VM%252C_&vet=1&usg=AI4_-kTUnXvB2huXOEX- rmcoDwP3QdthEQ&sa=X&ved=2ahUKEwjzrMif05vhAhVQDuwKHcFlAKcQ9QEwAHoECAkQBA&biw=1366&bih= 657#imgrc=LRnaYO1QqOSzzM: [letzter Aufruf am 10.03.2019] Abb.5: Entnommen aus: Feustel, 2017, S.356

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Eidesstaatliche Erklärung:

Ich erkläre hiermit, dass ich die Diplomarbeit selbstständig verfasst, keine andere als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt und mich auch sonst keiner unerlaubten Hilfen bedient habe, dass die Diplomarbeit weder im In- noch Ausland (einer Beurteilerin/ einem Beurteiler zur Beurteilung) in irgendeiner Form als Prüfungsarbeit vorgelegt wurde, dass dieses Exemplar mit der beurteilten Arbeit übereinstimmt.

Wien,

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