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Alex Oberholzer Freaks oder ziemlich beste Freunde? Darstellung von Menschen mit Behinderung im Film

Zusammenfassung Wie wird Behinderung im Film aus historischer und aktueller Perspektive thematisiert? Welche Schicksale erleben Menschen mit Behinderung im Film und warum werden solche Rollen meist durch Menschen ohne Behinderung be­ setzt? Solchen Fragen wird in diesem Beitrag nachgegangen und aufgezeigt, dass Behinderung im Mainstream-Kino meist mit einer Verfälschung des Themas einhergeht. Wichtig ist jedoch, dass es auch Filme gibt, die nicht beschöni­ gen. Solche Filme werden beispielsweise jeweils am internationalen Kurzfilmfestival «look&roll» in Basel gezeigt. Ob realistische Darstellung oder nicht – insgesamt ist es zentral, dass Behinderung als Thema in den Filmen vorkommt. Zur Illustration werden die bekanntesten Filme über Behinderung in Kästen kurz vorgestellt und kommentiert.

Résumé Comment le handicap est-il thématisé au cinéma, d’un point de vue historique et à l’heure actuelle ? Quels destins les personnes avec un handicap connaissent-elles dans les films, et pourquoi de tels rôles sont-ils généralement joués par des personnes sans handicap ? Cet article se consacre à ces questions et montre que, dans le cinéma grand pu­ blic, la manière dont le handicap est présenté est généralement peu réaliste. Ce qui importe cependant, c’est qu’il y ait aussi des films qui n’enjolivent pas. De tels films sont par exemple régulièrement projetés dans le cadre du festival du court métrage « look&roll » de Bâle. Que la représentation soit réaliste ou non, dans l’ensemble, il est important que le thème du handicap soit présent au cinéma. Pour illustrer le propos, l’auteur présentera et commentera briève­ ment dans des encadrés les films les plus connus sur le handicap.

Permalink: www.szh-csps.ch/z2020-04-03

Einleitung schen den Film gesehen. Somit war er der Bei der diesjährigen Oscarverleihung am erfolgreichste Film des Jahres 2012 und der 9. Februar 2020 übergaben Shia LaBeouf und zweiterfolgreichste aller Zeiten, hinter «Ti- Zack Gottsagen den Preis für den besten tanic» und vor dem letzten James-Bond- Kurzfilm. Die beiden Hauptdarsteller des Abenteuer «Skyfall». Weltweit hat «Intou- Films «The Peanut Butter Falcon» (2019) hat- chables» fast eine halbe Milliarde US ­Dollar ten also ihren grossen Auftritt auf der bedeu- eingespielt. tendsten Bühne der internationalen Kinowelt. In Hollywood ist das Thema Behinde- Das ist darum erwähnenswert, weil Zack rung also in das Bewusstsein einer breiten Gottsagen der erste Schauspieler mit Triso- Öffentlichkeit gerückt. Von «Intouchables» mie 21 ist, der in der 92-jährigen Geschichte gibt es inzwischen auch bereits ein amerika- der Oscars einen Preis überreichen durfte. nisches Remake: «The Upside» (2017). Der Der Film «Intouchables – Ziemlich bes- Hollywoodschauspieler Kevin Hart spielt die te Freunde» hat Scharen von Zuschauerin- Hauptrolle des im Rollstuhl sitzenden Man- nen und Zuschauern in die Kinos gelockt, in nes mit Körperbehinderung. Die Haushälte- der Schweiz haben fast 1,5 Millionen Men- rin wird von Nicole Kidman dargestellt.

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Sowohl im kommerziellen als auch im alter- matische Schicksale, wovon Menschen mit nativen Kino spielen Menschen mit Behin- Behinderung einiges zu bieten haben. derung eine immer wichtigere Rolle, was al- Bezeichnend für das paradoxe Verhält- len zugutekommt, den Menschen mit Be- nis zwischen den Schauspielerinnen bezie- hinderung ebenso wie dem Publikum. Denn hungsweise den Schauspielern und den Fi- Menschen mit Behinderung und ihre Situa- guren mit Behinderung, welche sie darzu- tion werden dadurch in der Öffentlichkeit stellen haben, ist das Beispiel von Chris­ sichtbarer und das Publikum wird mit dem topher Reeve. In der Rolle als Superman Thema Behinderung in einer freiwillig ge- wurde Christopher Reeve zum Weltstar und wählten, angenehmen Umgebung einer dann erlitt er, der Weltstar und Superman, Filmvorführung und nicht in einem entfrem- auf dem Höhepunkt seiner Karriere einen denden Spital oder Rehabilitationszentrum Reitunfall. Reeve war von einem Moment konfrontiert. auf den andern vollständig gelähmt. Holly-

Behinderung im Film The Peanut Butter Falcon (2019) Bei Schauspielerinnen und Schauspielern Regie: Tyler Nilson und Michael Schwartz sind Rollen von Menschen mit Behinderung rundum beliebt, ja, sie streiten sich in Holly- Irgendwie gelingt es Zak, einem jungen Mann mit Down-Syn- wood gar darum. Was im realen Leben als drom, aus seinem Heim auszubrechen. Nur mit Unterhose be- Schicksalsschlag empfunden wird, gilt in der kleidet, macht er sich auf, seinen Traum Wirklichkeit werden Traumfabrik als Glücksfall. Denn als Person zu lassen: Zak will professioneller Wrestler werden. Auf dem mit Behinderung kann sich eine Schauspiele- Weg dahin trifft er den raubeinigen Fischer Tyler, dem nach rin oder ein Schauspieler profilieren und in einer Brandstiftung rachsüchtige Kollegen im Nacken sitzen. die Herzen des Publikums hineinspielen. Notgedrungen tun sich die beiden Looser zusammen – und Häufig gibt es oben drauf noch einen Oscar, werden gemeinsam zum Winning Team. Märchenhaftes wie die Dramen «My Left Foot – Mein linker Roadmovie und berührende Geschichte einer Freundschaft: Fuss» oder «Forrest Gump» beweisen. kurzweilig, witzig, mit viel Emotion und dem Traumpaar Za- Leonardo DiCaprios Performance im chary Gottsagen und Shia LaBeouf. Drama «What‘s Eating Gilbert Grape – Gil- bert Grape: Irgendwo in Iowa» erschütterte Intouchables – Ziemlich beste Freunde (2011) mich derart, dass ich überzeugt davon war, Regie: Eric Toledano und Olivier Nakache dass er die Behinderung nicht nur spielt, sondern, dass er wirklich eine Behinderung Die Story klingt verrückt, beruht aber auf einer wahren Bege- hat. Erst meine unmittelbar anschliessen- benheit: Ein schwarzer Sozialhilfeempfänger aus einem Pari- den Recherchen widerlegten meine Annah- ser Problemviertel bewirbt sich bei Phillippe um die Stelle ei- me. Der Film war somit nicht grundlos das nes Assistenten, bekommt sie – und bringt das Leben des Aris- Fundament für den heutigen Weltstar. tokraten mit Schwerbehinderung ganz schön in Schwung. Die Warum also liebt ausgerechnet Holly- beiden rasen im schwarzen Maserati durch Paris, rauchen Ma- wood Menschen mit Behinderung? Die Fra- rihuana und lassen sich von zwei Prostituierten die Ohrläpp- ge ist natürlich falsch gestellt. Hollywood chen massieren. Ein Film, der einem ans Herz geht, wegen sei- liebt nicht Menschen mit Behinderung, nes Witzes, seiner Lebensfreude und seines verwegenen doch Hollywood hat ein exzellentes Senso- Charmes. rium für interessante Geschichten und dra-

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wood drehte mit ihm ein Remake vom Thril- mit Behinderung – von seinem Fenster aus ler «Rear Window – Das Fenster zum Hof», im Nachbarhaus einen Mord beobachtet. in welchem ein immobiler Detektiv – weil Trotz des Superstars in der Hauptrolle war der Film ein totaler Flop. Menschen mit Be- hinderung im Film sind zwar erwünscht, My Left Foot – Mein linker Fuss (1989) doch nach dem Dreh sollen sie sich, bitte Regie: Jim Sheridan sehr, wieder normal benehmen. Schicksale von Menschen mit Behinderung für die Leinwand Ginge es tatsächlich um Menschen mit aufzubereiten, ist ein äusserst heikles Unterfangen. Regie, Ka- Behinderung selbst und nicht nur um deren mera und Schauspielerinnen und Schauspieler betonen meist Schicksale, dann könnten Figuren, welche ei- nur das Exotische der Abnormität. Ganz anders in diesem ne Behinderung haben, auch von Darstelle- Film. Jim Sheridan verzichtet in seinem Erstling auf jede Ef- rinnen und Darstellern mit Behinderung ge- fekthascherei und verbietet sich jeglichen Anflug von Voyeu- spielt werden, was aber praktisch nie ge- ristischem. In realistischen, unbeschönigenden Bildern zeich- schieht. Die wenigen Ausnahmen, wie Em- net er Stationen aus dem Leben von Christy Brown, der mit manuelle Laborit in «Stille Liebe» oder einer schweren Behinderung lebt. Dieser mit seiner Autobio- «Jenseits der Stille» und Marlee Matlin in grafie berühmt gewordene Spastiker bemerkte im Alter von «Children of a Lesser God – Gottes vergesse- sieben Jahren, dass er seinen linken Fuss kontrolliert bewegen ne Kinder», bestätigen hier nur die Regel. kann. Aufbauend auf diesem Erfolgserlebnis war es ihm mög- Besonders deutlich zeigt sich das, lich, mit Wille, Energie und der Pflege seiner Mutter sowie ei- wenn reale Biografien von einer Schauspie- ner engagierten Ärztin, ein selbstbestimmtes Leben zu füh- lerin oder einem Schauspieler interpretiert ren. Ein grosses, packendes Werk ohne Rührseligkeiten, mit werden, obwohl das reale Vorbild noch lebt. einem genialen Daniel Day­Lewis in der überaus anspruchsvol- Hätte im Film «My Left Foot» nicht Daniel len Hauptrolle, wofür er auch einen Oscar gewann. Day ­-Lewis den fast vollständig gelähmten Christy Brown gespielt, sondern dieser sich selber, hätte der Film nie den Erfolg gehabt, Forrest Gump (1994) den er schliesslich hatte. Regie: Robert Zemeckis Das breite Kinopublikum, und dafür «Forrest Gump» war ein absoluter Kinorenner, der mit sechs werden Hollywoodfilme letztlich produziert, Oscars veredelt worden ist. Tom Hanks spielt dabei Forrest will nämlich nicht Christy Brown selber sab- Gump, den sympathischen Kerl, der – mit leichter geistiger bern sehen und glucken hören. Tut dies aber Behinderung – mit einer stupenden Naivität gesegnet ist. Er ein Star, dann jubelt ihm das Publikum zu sitzt auf einer Bank an einer Bushaltestelle und erzählt aus sei- und Jurys zeichnen ihn aus, worüber das ak- nem Leben. Weil er keine Konventionen und Gefahren kennt, tuelle Beispiel «Intouchables» eindrücklich tapst er mit grossem Herz und unerschütterlicher Zuversicht Zeugnis ablegt. Der Riesenrenner basiert auf in jedes erdenkliche Abenteuer. Er wird Kriegsheld, Football- einer wahren Begebenheit, wobei die Perso- star und Liebhaber, er schüttelt Präsidentenhände, erfindet nen, welche sie erlebt haben, alle noch le- nebenbei den Apfel von Macintosh und so weiter und so fort. ben. Gespielt werden die Rollen dann aber Ein liebenswerter Tollpatsch auf der Reise durch das moderne von Schauspielerinnen und Schauspielern Amerika. Ein wunderschöner Film, der rührt, nachdenklich ohne Behinderung. Die Person mit Behinde- stimmt und von diesem feinen Humor getragen ist, der einen rung selbst, die die Geschichte real erlebt alles etwas klarer sehen lässt. und auch aufgeschrieben hat, erhält ledig- lich einen winzigen Auftritt im Abspann.

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In ihrem aktuellen Film «Hors Normes» te Charlie Chaplin den Effekt mit dem blin- (2019), in welchem es um Menschen geht, den Blumenmädchen in «Limelight – Lich- die durch alle sozialen Maschen fallen, be- ter der Grossstadt», das sich in den Tramp, setzten die «Intouchables»-Autoren und Chaplins bekannteste Rolle, verliebt. Erst -Regisseure Eric Toledano und Oliver Naka- die Blindheit macht ihre Liebe zum Land- che die Hauptrollen wieder mit zwei Stars – streicher Charlie wahrhaftig, denn der Um- in Nebenrollen aber «spielen» Menschen stand, dass das Blumenmädchen Chaplin mit Behinderung sich selbst. nicht sehen kann, impliziert geradezu, dass Immer wieder steht die Frage im Raum, ihre Zuneigung aus allertiefster Überzeu- ob Schauspielerinnen und Schauspieler oh- gung kommen muss. Das geht ans Herz der ne Behinderung Menschen mit Behinderung Zuschauerinnen und Zuschauer, die die überhaupt verkörpern dürfen. Aus meiner Blindheit des Mädchens ja sehen – welch Sicht ist das durchaus legitim, denn es ist der ein raffinierter dramaturgischer Effekt! Das Sache dienlicher, wenn der durch einen Star Genie Chaplin erfand damit ein Modell, das verfremdete Christy Brown sein Schicksal in sich in späteren Jahren vor allem im Thriller «My Left Foot – mein linker Fuss» einem immer wieder bestens bewähren sollte. Au- Millionenpublikum präsentieren und es so drey Hepburn etwa zieht die Zuschauerin- mit einem Behinderungsthema konfrontie- nen und Zuschauer 1967 als Blinde in «Wait ren kann, als wenn dieser Film – zwar in ei- ner realen, lebensnahen Version – nur in Ar- chiven verstauben oder höchstens einem er- What‘s Eating Gilbert Grape – Gilbert Grape: Irgendwo in lowa (1993) weiterten Freundeskreis respektive einem Regie: Lasse Hallström Fachpublikum vorgestellt würde. So machen eben all die Stars, selbst in Dort, wo der amerikanische Mittelwesten besonders flach schlechten Filmen und schlechten Rollen, und langweilig ist, kümmert sich Gilbert (Johnny Depp) selbst- immer auch Werbung für die Anliegen von los um den Bruder Arnie mit geistiger Behinderung (Leonardo Menschen mit Behinderung und tragen da- DiCaprio) und die fettsüchtige Mutter. Erst als Becky (Juliette mit zur Bewusstseinserweiterung bei. Na- Lewis) auftaucht, entdeckt der Junge sein Recht auf Glück. Ein türlich wird in diesen Filmen manchmal Sprudelbad der Gefühle, traurig, witzig, rührend, mal voll übertrieben, wird Mitleid ausgewalzt und schriller Ironie, dann wieder sensibel und ernst. Exzellent be- werden Klischees gefeiert. Doch das gehört setzt – DiCaprios frühe Glanzleistung wurde für einen Oscar eben alles auch zum Kino, ob es sich um Fil- nominiert. me über Schwule, über Frauen oder über die Liebe handelt. Und letztlich fängt Diskrimi- Jenseits der Stille (1996) nierung immer dann an, wenn man als The- Regie: Caroline Link ma schlicht nicht mehr vorkommt. Dass sich eine Nonne in einen Kleinganoven verliebt, ist an Schicksale von Menschen mit sich schon eher aussergewöhnlich. Dass die beiden aber auch Behinderung im Film noch gehörlos sind, macht die Story schon fast exotisch. Der Menschen mit Behinderungen sind ideal, sich bedächtig entwickelnde Film besticht durch die gehörlo- um Emotionen zu verstärken und in be- se Schauspielerin Emmanuelle Laborit und den Zauber der Ge- stimmte Richtungen zu lenken, was das Ki- bärdensprache. no schon früh entdeckte. Schon 1931 nutz-

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Until Dark – Warte, bis es dunkel ist» durch Was alle Figuren mit Behinderung im Film ihre Behinderung ohne Umweg sofort über gemeinsam haben, ist ihre Fähigkeit, über die Leinwand und mitten hinein in ihre Be- sich hinauszuwachsen, sei es als Blinde einträchtigung, wenn ihr Mörder in ihrer («Wait Until Dark»), als Gehörlose («Jenseits Wohnung erscheint. der Stille»), als Menschen im Autismus-Spek- trum («Rain Man»), als Kleinwüchsige («The Station Agent») oder als Menschen mit kog- Stille Liebe (2001) nitiver Beeinträchtigung («What‘s Eating Gil- Regie: Christoph Schaub bert Grape»). Sie leisten alle Aussergewöhn- Hauptfigur ist Lara, ein junges Mädchen, welches sich lang- liches, etwas, wozu Menschen ohne Behin- sam vom Elternhaus loslösen möchte. Doch dieser ohnehin derungen gar nicht fähig wären. Sie sind nicht einfache Schritt wird zusätzlich erschwert, denn Laras wahnsinnig genial als Mathematik­-Genie Eltern sind gehörlos. Sie brauchen ihre Tochter als Dolmet- («A Beautiful Mind – Genie und Wahnsinn»), scherin, als Ohr und Stimme zur Aussenwelt. Ohne Lara befreien den Indianer von der Knechtschaft schrillt das Telefon ins Leere, wartet der Postbote vergebens, («One Flew Over the Cuckoo‘s Nest – Einer ist der Bankbeamte aufgeschmissen. Lara vermittelt zwischen flog über das Kuckucksnest») oder öffnen Hörenden und Gehörlosen und bei Bedarf beschreibt sie ihren dem Gefühllosen die Augen über seine zwi- Eltern auch den Klang des Schnees. Erst eine geschenkte Kla- schenmenschliche Beschränktheit («Le hui- rinette und die damit verbundene Entdeckung der Wunder- tième jour – Am achten Tag»). welt Musik ermöglichen Lara den Abschied. Den Abschied Genau wie im französischen Film «Le vom Elternhaus und von der Kindheit. «Jenseits der Stille» ist huitième jour» (1996) ist es auch in der ak- ein unbeschreiblich feinfühliger Film, der die Tragik des The- tuellen Hollywood-Produktion «The Peanut mas in keiner Weise beschönigt. Ähnlich der Gebärdenspra- Butter Falcon» (2019) ein Mann mit Down- che strahlt er eine grosse Ruhe und Zärtlichkeit aus. Ein Ereig- Syndrom, welcher einem Mann ohne Behin- nis sind auch die Darstellerinnen und Darsteller, wie der ge- derung in einer schwierigen Situation wieder hörlose Howie Seago und die gehörlose Emmanuelle Laborit auf den rechten Weg hilft. So werden zwei als Eltern sowie die junge Sylvie Testud als Lara. Looser zusammen zum Winning Team. Die Figur mit Behinderung wächst in all diesen Filmen über sich hinaus und stemmt Children of a Lesser God – sich erfolgreich trotz vermeintlicher Defizite Gottes vergessene Kinder (1986) gegen alle auftauchenden Widerstände, Regie: Randa Haines welche auch Menschen ohne Behinderung Der Gehörlosenlehrer James () ist fasziniert von bedrücken – und beseitigt diese. Aus ver- der hochbegabten ehe­maligen Schülerin Sarah (Marlee Mat- meintlichen Defiziten erwachsen Kräfte, lin). Die gehörlose Frau hat sich zurückgezogen und arbeitet von denen Menschen ohne Behinderung jetzt als Putzfrau an seiner Schule. James versucht, Kontakt zu nur träumen. Ob das gut respektive mora- ihr aufzunehmen, um sie einzugliedern. Mit viel Einfühlungs- lisch wertvoll ist, bleibe hier dahingestellt, vermögen gelingt es ihm, die junge Frau aus ihrer selbst ge- denn das muss auch im jeweiligen Einzelfall wählten Isolation zu befreien – und prompt verliebt er sich in beurteilt werden. Realistisch ist es ganz be- sie. Die gehörlose Marlee Matlin erhielt für ihr Kinodebüt ei- stimmt nicht, wobei Kino aber auch nicht nen Oscar. diesen Anspruch hat. Auch im Krimibereich ist die Rolle mit Behinderung, positiv wie negativ besetzt,

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 4 / 2020 BEHINDERUNG IN DEN MEDIEN 27 ein beliebtes dramaturgisches Mittel. In Bil- Visualisierung der Wahrnehmungs­ ly Wilders «Witness for the Prosecution – welten von Menschen mit Zeugin der Anklage» übernimmt der arro- Behinderung gante Anwalt Charles Laughton die Man- Inzwischen versucht man, vor allem im eu- dantin Marlene Dietrich erst, nachdem er ropäischen Film, den Menschen mit Behin- sie seiner scharfen Prüfung unterzogen hat. derung vernünftig und ohne dramaturgisch­ Die Beeinträchtigung des Anwalts dient hier emotionalen Kick in die Handlung einzuglie- der Einschüchterung der Mandantin, um dern. In den deutschen Endlosserien «Ma- den Anwalt gleichzeitig als psychologisch rienhof» und «Lindenstrasse» etwa ist das und intellektuell überlegen zu charakteri- Down ­-Syndrom präsent, wie auch in «Üsi sieren. Eine ähnliche Funktion nimmt der Polizist und Sonderermittler in der TV-­Serie Hors Normes – Alles ausser gewöhnlich (2019) «Ironside – Der Chef» ein. Die Hilfsmittel, Regie: Eric Toledano und Olivier Nakache meist Rollstühle, signalisieren hier: Je schlimmer die körperliche Versehrtheit, Seit 20 Jahren leben Bruno und Malik in einer eigenen Welt – desto gigantischer die intellektuellen Fähig- zusammen mit autistischen Kindern und Jugendlichen. Als keiten. Ganz im Sinne von: Da erbringt einer Verantwortliche zweier gemeinnütziger Organisationen bil- Höchstleistungen, und dies trotz seiner Be- den sie junge Menschen aus benachteiligten Verhältnissen zu einträchtigung. Betreuerinnen und Betreuern aus. Denn sie wollen denjenigen Der Gelähmte kann aber auch als Kont- helfen, die als Härtefälle durch sämtliche soziale Maschen fal- rast zum Bösen eingesetzt werden, um den len und von allen Institutionen abgelehnt werden. Zwischen Bad Guy als extremen Bösewicht zu charak- den aussergewöhnlichen Menschen entstehen wunderbare terisieren. Berühmt dafür ist der Gangster- Beziehungen ausserhalb von traditionellen Normen. Doch film «Kiss of Death – Der Todeskuss» aus weil Geld und Platz fehlen, ist alles bedroht. Wie der Vorgän- dem Jahre 1947. Richard Widmark stösst in ger «Intouchables» erneut ein zärtlicher Film voller Respekt, diesem Film mit sadistischem Lachen eine der die ungewöhnliche Geschichte zweier Männer mit gros- auf den Rollstuhl angewiesene ältere Dame sem Herzen erzählt. Mit Vincent Cassel und Reda Kateb. eine steile Treppe hinunter und schickt gleich noch ein schmutziges Lachen hinterher. In Rain Man (1988) weniger als einer Minute erreichte Widmark Regie: Barry Levinson damit in seiner Gangsterrolle einen ähnli- chen Dämonenstatus wie später Anthony Zwei Brüder, wie sie verschiedener nicht sein könnten: Ein am- Hopkins, der aber dafür als Hannibal Lecter bitionierter Yuppie (Tom Cruise) der eine, ein in sich gekehr- gar Menschen fressen musste. ter Autist (Dustin Hoffman) der andere. Und eigentlich haben Es gab natürlich auch Versuche, das sie auch gar nichts miteinander zu schaffen. Dies ändert sich Abweichende einigermassen realistisch ein- schlagartig, als der Vater der beiden stirbt und der Yuppie er- zufangen, wie Tod Brownings legendärer fährt, dass sein Bruder drei Millionen Dollar erben soll. Eine Film «Freaks» aus dem Jahre 1932, in dem ungewöhnliche, feinfühlig geschilderte Entwicklungsge- Menschen mit körperlichen und kognitiven schichte setzt an, in der Dustin Hoffman, ebenso wie Tom Beeinträchtigungen die Hauptrollen spielen Cruise, mit allen Feinheiten ihrer Kunst brillieren. Dieses vier- und eine positive Solidargemeinschaft bil- fach oscarprämierte Roadmovie brachte das Thema Autismus den, während die Menschen ohne Behinde- in die Öffentlichkeit. rung im Film ziemlich verlogen erscheinen.

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Badi», einer Doku-­Soap des Schweizer Fern- huitième jour – Am achten Tag».1 In beiden sehens. Bei diesem fast inflationären Ein- Filmen spielen Menschen mit Behinderung satz von jungen Menschen mit Trisomie 21 einen Menschen mit Behinderung, was eine wird man den Verdacht nicht los, die Film- Ausnahme darstellt. Und so werden in bei- schaffenden wollen zwar die Normalität den Filmen endlich die Wahrnehmungswel- von Menschen mit Behinderung in unserer ten dieser Menschen visualisiert und damit Gesellschaft zeigen, beschränken sich dann in den Handlungskonflikt aktiv einbezogen. aber doch lieber auf jene, die als besonders In allen hier erwähnten Filmen, welche «putzig» und «lieb» gelten und ohnehin für ein grosses Publikum gedreht worden keine negativen öffentlichen Reaktionen sind, sind alle Figuren mit Behinderung mehr auslösen. meist auffallend hübsch, zumindest aber an- Einen Schritt in die richtige Richtung sehnlich. Menschen mit Schwerstbehinde- gingen dann schon eher Caroline Link mit rung, mit entstellten Gesichtern, verzerrten der Gehörlosenstudie «Jenseits der Stille» Stimmen und zuckender Gestik kommen in (mit der gehörlosen Emanuelle Laborit) diesem Kino nicht vor, denn sie gelten bei oder der Belgier mit «Le den Filmproduzentinnen und Filmproduzen- ten als nicht vermittelbar, ja man spricht von ihnen gar von Kassengift. The Station Agent – Station Agent (1988) Behinderung im Mainstream­-Kino geht Regie: Thomas McCarthy also meist einher mit einer Verfälschung, Fin (Peter Dinklage) ist kleinwüchsig, hat es satt, immer ange- sprich Verschönerung des Problems. Da starrt zu werden und zieht sich deshalb zurück. In einer ver- werden Kanten geschliffen, da wird mal am lassenen Bahnstation in New Jersey richtet er sich ein und Kitsch geschrammt, da wird auch abgeblen- hofft auf ein ruhiges, ungestörtes Leben. Doch zwischen Glei- det, wenn es unangenehm wird, wenn zum sen, Häusern und Coffee­ Shops gibt es noch andere Existen- Beispiel die Schmerzen kommen – oder zen und zusammen realisieren sie, dass Einsamkeit gemein- wenn die Blase drückt. Bei «Intouchables» sam besser zu ertragen ist. Bittersüsse Komödie voller Zärt- beispielsweise gibt es ein Blind Date mit ei- lichkeit und Humor. ner schönen Frau und dem Helden im Roll- stuhl in einem teuren Restaurant. Die Frau erblickt den Mann, lächelt ihn an, setzt sich A Beautiful Mind – Genie und Wahnsinn (2001) zu ihm. Musik erklingt. Abspann. Wie die Regie: Ron Howard Frau ihn füttert, ob sie ihm das Röhrli ins Inspiriert von der Lebensgeschichte des Nobelpreisträgers Weinglas stellt, ob sie ihn auf die Toilette John Forbes Nash Jr. spielt Oscar­-Preisträger Russell Crowe begleitet – all das findet auf der Leinwand den genialen Mathematiker, der mit 21 Jahren eine bis heute nicht statt. Und auch wenn es dies vorher gültige Wahrscheinlichkeitstheorie aufstellte, dann aber an ei- im Film mit dem witzigen Assistenten sehr ner paranoiden Schizophrenie erkrankte. Ein ebenso rühren- wohl zu sehen gab, mit der eleganten Dame des wie ergreifendes Drama, angesiedelt zwischen Genie und ist diese Ebene inexistent und wird ausge- Wahnsinn, ausgezeichnet mit vier Oscars.

1 Pascal Duquenne, ein Schauspieler mit geistiger Behinderung, erhielt für seine Darbietung den Darstellerpreis der Internationalen Filmfestspiele von Cannes.

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 4 / 2020 BEHINDERUNG IN DEN MEDIEN 29 blendet, denn so funktioniert Kino. Man sik, Schüsse, Telefonklingeln, Autohupen, kann das sehr wohl kritisieren, doch für Vogelgezwitscher und anderes mehr einbe- mich steht die Tatsache weit mehr im Zent- ziehen. Für Blinde und Menschen mit Sehbe- rum, dass mit solchen Filmen Menschen mit hinderung wird eine sogenannte Audiode- Behinderung überhaupt erst auf die Lein- skription zur Verfügung gestellt. Dies ist eine wand und damit ins Bewusstsein eines Handlungsbeschreibung, die in den Dialog- grossen Publikums geraten. pausen des Films erklärt, was zu sehen ist, Umso wichtiger ist es daher auch, dass wie beispielsweise, dass ein rotes Auto von es zusätzlich noch eine ganz andere Art Filme rechts ins Bild fährt oder dass eine Person mit Menschen mit Behinderung gibt, nämlich all jene, die nicht in erster Linie ein grosses, dafür jedoch interessiertes Publikum anspre- One Flew Over the Cuckoo‘s Nest – Einer flog über das Kuckucksnest (1975) chen wollen. In diesen Filmen, die meist kür- Regie: Milos Forman zer sind und nur mit einem kleinen Budget gedreht werden, wird nichts beschönigt. Im Um dem Zuchthaus zu entgehen, lässt sich der mehrfach vor- Gegenteil, da wird gezeigt, was Sache ist, bestrafte McMurphy () in die Nervenheilanstalt mal schonungslos realistisch, mal satirisch einweisen. Natürlich hegt er Fluchtgedanken, doch die Psy­ überhöht oder romantisch verklärt, immer chiatrie wird für den Simulanten bald zur Hölle. Die mit Medi- aber mit dem Anliegen, alle Menschen mit kamenten ruhiggestellten Patienten stehen unter der Fuchtel Behinderung ernst zu nehmen und ihre Situ- von Schwester Ratched. Mit unbändiger Vitalität stemmt sich ation in der Gesellschaft auszuhorchen. Doch McMurphy gegen die menschenunwürdige Institution, wird diese Filme kommen nicht ins grosse, regulä- zur Gefahr – und darum auf brutale Art und Weise angepasst. re Kino, sondern benötigen vorerst noch ei- Das System schlägt gnadenlos zurück. Eine ebenso düstere gene Abspielorte, wie Festivals, Kurzfilmtage Parabel wie ein Plädoyer für die Mündigkeit des Individuums oder Spezialveranstaltungen. und die Vielfalt des Lebens. Ein Beispiel dafür ist das internationale Kurzfilmfestival «look&roll», das alle zwei Le huitième jour – Am achten Tag (1996) Jahre in Basel stattfindet, nächstes Mal im Regie: Jaco Van Dormael September 2020, und dessen Thema das Le- ben mit Einschränkungen ist. Die dort ge- Was für ein Paar: Da ist Harry (), ein Roboter des zeigten Filme sollen Augen und Ohren öff- Alltags, eingepfercht in die Pflichten von Geschäft und Fami- nen, mit Neuem konfrontieren und überra- lie. Und da ist Georges (Pascal Duquenne), «moi, mongol», ein schen, Werte in Frage stellen und an Normen junger Mann mit Trisomie 21, der ausschliesslich für den Mo- rütteln; damit ein Platz für neue Einsichten ment lebt, mit offenem Herzen und ohne Kalkül. Harry trifft oder allenfalls neues Verhalten geschaffen Georges – und wird ihn nicht mehr los. Die Konfrontation die- wird. Alle am Festival gezeigten Filme wer- ser beiden unterschiedlichen Menschen beschert uns einen den behinderungsgerecht aufgearbeitet. der schönsten und liebenswertesten Filme. Ordnung und Cha- Konkret heisst das zum Beispiel, dass für Ge- os, Vernunft und Verrücktheit lösen ihre Begrenzungen auf. hörlose und Menschen mit Hörbehinderung Gegensätze gehen aufeinander zu, optimieren sich wechsel- spezielle Untertitel geschrieben werden, die seitig und ermöglichen so erst ein menschenwürdiges Leben sich nicht auf die reinen Dialoge beschrän- für Harry und für Georges. Der Film pulverisiert dabei den Be- ken, sondern auch anderes, für die Handlung griff der Normalität. Wichtiges, wie Hintergrundgeräusche, Mu-

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hämisch lächelt. Zudem werden bei fremd- nen im Kino betrachten können. Tatsache sprachigen Filmen die Untertitel in deutscher ist: Menschen mit Behinderung und ihre Sprache vorgelesen. Schicksale gehören ins Kino und ins Fernse- hen. Denn Filme, ganz unabhängig von ihrer SchIussbemerkungen Qualität, spiegeln die Gesellschaft wider, in Filme setzen Bewusstseinsprozesse in Gang, welcher sie entstehen. Und Menschen mit rütteln auf, betören. Umso wichtiger ist es, Behinderung sind Teil dieser Gesellschaft, in behinderungsspezifische Anliegen in den Hollywood und überall. Zudem haben Figu- Film hineinzubringen, und zwar nicht als De- ren mit Behinderung im Kino und im Fern- kor, exotische Effekthascherei oder Tränen- sehen immer auch Modellfunktion für Men- treiber, sondern als ein ungeschminkt und schen mit Behinderung, was wiederum de- realistisch dargestelltes Thema, mit seiner ren Selbstbewusstsein steigert. Menschen aufrüttelnden Dramatik, mit seiner komple- mit Behinderung braucht es also, sowohl in xen Emotionalität, aber auch mit seiner oft Haupt ­- als auch in Nebenrollen. unfreiwilligen Komik. Und dabei spielt es eigentlich gar keine Rolle, ob wir grosse, teilweise auch manipu- Es ist dies ein überarbeiteter und ak- lative, schlimmstenfalls gar verlogene Mil- tualisierter Text. Er basiert auf einem lionenproduktionen oder aber ehrliche, rea- Artikel, der im Jahr 2015 im Buch listisch inszenierte, kleine Insiderproduktio- «Mediale Welt inklusive! Sichtbar- keit und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in den Medien» im Seismo Verlag erschienen ist.

Alex Oberholzer, M. A. ZELJKO GATARIC

© Filmredaktor bei Radio24 Präsident des Internationalen Festivals «Look & Roll – Behinderung im Kurzfilm» Lebt seit Geburt mit einer Behinderung [email protected]

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