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Geschichtswissenschaft

BIOGRAPHIEN

10-1 Leben mit und in der Geschichte : deutsche Historiker Jahr- gang 1943 / Barbara Stambolis. - 1. Aufl. - Essen : Klartext- Verlag, 2010. - 439 S. : graph. Darst., Kt. ; 22 cm + 1 CD-ROM. - ISBN 978-3-89861-935-6 : EUR 34.00 [#0955]

Im Kriegsjahr 1943 wurden 1,24 Mio. Kinder im Deutschen Reich geboren. Vierundvierzig wurden später (westdeutsche) Geschichtsprofessoren (Uni- versitätshistoriker) mit unterschiedlichen Spezialisierungen, mehrheitlich in Neuerer und Neuester Geschichte, wozu man Sozial- und Wirtschaftsge- schichte hinzuzählen kann. "Interviews mit Historikern, in denen auch Le- bensgeschichtliches thematisiert wird, sind bei genauerem Hinsehen seit kurzem nun fast schon inflationär" (S. 37) - dennoch ist der Gedanke, die Vertreter eines einzigen Jahrgangs zu befragen, ungewöhnlich, da ihm ein starkes Zufallselement innewohnt. Was unterscheidet beispielsweise den Jahrgang 1943 von dem vorangehenden oder dem folgenden? Dennoch haben zwei "Betroffene", Christof Dipper und Heinz Duchhardt, im Anschluß an ihren 60. Geburtstag und im Hinblick auf den 65., der immer noch das Regelalter für die Pensionierung ist, den Plan zu dieser Interviewserie ge- faßt und ihn zusammen mit Jürgen Reulecke, einem ausgewiesenen Spe- zialisten der generationellen Geschichtsforschung (Jahrgang 1940), in die Tat umgesetzt. Die Hauptarbeit leistete jedoch Barbara Stambolis (Jahrgang 1952), Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Paderborn, die selber auf dem Gebiet der Jugend- und Generationenge- schichte ("Kindheit im Zweiten Weltkrieg") gearbeitet hat. Sie reiste zu den zu Interviewenden, führte die Befragungen durch und wertete sie aus. Die vollständigen autorisierten Interviews sind auf einer beiliegenden CD-ROM nachzulesen. Im Anschluß an die einzelnen Unterkapitel der drei Hauptteile II. Kindheit und Jugend der ‚43er’, III. Studium und berufliche Weichenstel- lungen bzw. IV. Die Jahrgangskohorte in der Geschichtswissenschaft sind sprechende Auszüge auf schattierten und somit schnell auffindbaren Seiten abgedruckt. Der Band ist umsichtig und sorgfältig gemacht, bietet eine doppelte Biblio- graphie: Festschriften, Sammelbände von Schülern, vielleicht auch Freun- desgaben, aber ohne Sammlungen eigener Aufsätze zum 65. Geburtstag der ‚43er’ (S. 402 - 402) sowie Literatur (S. 403 - 430, darin wichtige Hin- weise auf ähnliche Unternehmungen1), ein Abkürzungsverzeichnis (S. 431 - 432) sowie ein Namensverzeichnis (S. 433 - 438). Für einen kurzen Moment könnte man mutmaßen, es handele sich um einen Geburtstagsscherz, eine wissenschaftliche Parodie,2 wenn man z.B. das ausführliche, aber nicht be- sonders aussagekräftige Kartenmaterial im Anschluß an die Liste der Inter- viewpartner mit Geburtsdaten sichtet, das aus vier doppelseitigen Karten und mehreren Graphiken besteht: Karten mit Übersicht über die Geburtsor- te, die Orte des Aufwachsens, die Studienorte, die Wirkungsorte nach dem Studium, was durch Graphiken zu den einzelnen Karriereschritten, den Be- rufen der Ehefrauen / -partnerinnen, Herkunftsfamilien, Studienfächer außer Geschichte und der Berufsziele ergänzt wird. Doch dieser Gedanke ver- flüchtigt sich angesichts der Ernsthaftigkeit des Unternehmens sogleich wieder. Die Interviewauswertungen können unter einem doppelten Aspekt gelesen werden, einem allgemein-biographischen und einem wissenschaftsge- schichtlich-historischen. "Die ausnahmslos männlichen Interviewten schil- dern prägende Jahrzehnte bundesrepublikanischer Geschichte. Sie haben die Universitäten in einem Umbruchjahrzehnt betreten und verlassen diese zu einem Zeitpunkt tief greifender Umstrukturierungen. Während die um 1930 geborenen Historiker bereits ein recht klares Profil besitzen, muss die- ses für die Altersgruppe der um 1940 geborenen erst noch umrissen wer- den" (Rückentitel). Die ,43er' gehören, so der Befund, weder zur skepti- schen Generation der 1930 Geborenen, die noch eigene NS- und Kriegser- fahrungen hatten, noch zu den ,68ern', die mit ihren Vätern abrechneten. Sie waren Kriegs- und vor allem Nachkriegskinder, die, wie Bernd Faulen- bach treffend schreibt, "nicht auf der Welt waren, um zu genießen", sondern immer engagiert, arbeitend und kämpfend waren, nicht nur für sich selber (S. 266). Dipper meint allzu bescheiden (oder selbstironisch?) in seinem "Kommentar", dem Jahrgang 43 komme in der Geschichte der Bundesrepu- blik keine auffallende Bedeutung zu (S. 311). Es handele sich um eine "Brückengeneration", ein "Zwischenglied", und dem entspricht, daß an an- derer Stelle gesagt wird, fachlich habe diese Kohorte keine Schule gebildet oder besondere historische Leistungen erbracht. Doch die Liste der Inter- viewpartner mit Geburtsdaten (S. 331) dementiert dieses Understatement sogleich. Selbst dem interessierten Nicht-Historiker sind die Namen von Gerd Althoff, Christof Dipper, Heinz Duchhardt, Heinz-Gerhard Haupt, Die- ter Langewiesche, Horst Möller, Hagen Schulze oder Hans-Ulrich Thamer

1Z.B. Versäumte Fragen : deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialis- mus / hrsg. von Rüdiger Hohls ... - ; München : Deutsche Verlags-Anstalt, 2000. - 528 S. : graph. Darst. - ISBN 3-421-05341-3. 2 Die bekannteste Parodie ist dem Bereich der Zoologie entnommen, in die Gerolf Steiner, ein namhafter Biologe, von Christian Morgensterns Gedicht Das Naso- bem angeregt, eine neue Säugetierordnung, die Rhinogradentia, eingeführt hat: Bau und Leben der Rhinogradentia / von Harald Stümpke ... Mit einem Nachw. von Gerolf Steiner. - 56. - 57. Tsd. - : Spektrum Akademischer Verlag, 2006. - 90 S. : Ill. - ISBN 978-3-8274-1840-1. Das Buch erfüllt ansonsten alle zünf- tigen Ansprüche. aufgrund ihrer Publikationen wie ihres Ansehens im Fach und in der Gelehr- tenrepublik durchaus geläufig, und die Auswahl der Namen ist subjektiv, von den Interessen des Rezensenten gesteuert und könnte daher auch an- ders lauten. In einem Gastbeitrag der Siegener Entwicklungspsychologin Insa Fooken (,Zu Besuch' bei den ,43ern' - Eine ,Collage' aus entwicklungspsychologi- scher Sicht, S. 273 - 297) werden die drei einzigen Männer aus dem sog. Jahrgangsbuch Wir vom Jahrgang 19433 genannt: Bundespräsident Horst Köhler, der RAF-Terrorist Andreas Baader und der Sänger Roy Black, drei Persönlichkeiten, die unterschiedlicher nicht sein könnten.4 Fooken kommt zu folgendem Urteil über die Historiker vom Jahrgang 43: "Es findet sich in dieser Gruppe ganz viel ,Horst Köhler', aber - je nach individuell ausgepräg- ter Biographie unterschiedlich gewichtet und gemischt - auch zumindest ein wenig ,Andreas Baader' und / oder ,Roy Black'. Insofern ließe sich tatsäch- lich [...] bei den hier Befragten eine Art ,Typus' männlicher Sozialisation identifizieren, der entscheidend in den deutschen Kriegs-, Nachkriegs- und Friedenszeiten des 20. beziehungsweise 21. Jahrhunderts geprägt wurde" (S. 297). Die Collage der drei Lebensläufe ergibt eine Mischung von drei Hauptelementen: "Bewahrung der Traditionen", "Auflehnung gegen verkru- stete Strukturen" und "leistungsbezogene Aufstiegsorientierung". Diese Mi- schung resultiert sicherlich aus den Verhältnissen, die während des Heran- wachsens der ,43er' geherrscht haben: Unsicherheit durch Kriegsfolgen wie Flucht, Vertreibung, Vaterlosigkeit, materielle Enge, Aufbau des Zerstörten statt Aufarbeitung des Gewesenen, wertkonservative und leistungsbezoge- ne Ausrichtung von Politik, Erziehung und Familienleben. Diese Andeutungen mögen genügen, um den Gewinn zu unterstreichen, den Generationsforscher aus diesen Interviews ziehen können, die als do- cuments humains auch den allgemein an Biographien und dem Biographi- schen Interessierten zu fesseln vermögen. An disziplinhistorischen Erkennt- nissen erfährt man, daß sich die Jahrgangsgruppe insbesondere auf For- schungsfeldern wie der Sozial-, Kultur-, Mentalitäts- und Generationenge- schichte betätigt habe, doch seien grundlegende und systematische Aussa- gen, die aus Interviews bezogen würden, nicht möglich (S. 217). Dennoch erfährt man interessante Details zum sog. Historikerstreit und seinen Prota- gonisten Ernst Nolte, Andreas Hillgruber, Michael Stürmer und Klaus Hilde- brand, zum Zeitschriftenwesen (Geschichte und Gesellschaft, Archiv für Sozialgeschichte, Journal für Geschichte usw.), zum Bonner Haus der Geschichte, zur Auslandstätigkeit in den Deutschen historischen Instituten und an ausländischen Universitäten oder zur Netzwerkbildung, wobei Tho-

3 Wir vom Jahrgang 1943 / Konrad Harmelink. - 2. Aufl. - Gudensberg-Gleichen : Wartberg-Verlag, 2006. - 63 S. : zahlr. Ill. ; 24 cm. - ISBN: 3-8313-1543-4. - Noch interessanter ist die umfassendere Ausgabe: Wir vom Jahrgang 1940, 1941, 1942, 1943, 1944 : endlich erwachsen!; das Album Rainer Behrendt - 1. Aufl. - Gudensberg-Gleichen : Wartberg-Verlag, 2007. - 63 S. : zahlr. Ill. ; 33 cm. - ISBN 978-3-8313-1652-6. 4 Warum der "Prominente" Oskar Lafontaine in diesem Band fehlt, ist unverständ- lich. mas Nipperdey, Hans und Wolfgang Mommsen, Reinhart Koselleck, Werner Conze und Jürgen Habermas besonders häufig als anregende Lehrer ge- nannt werden. Animositäten werden deutlich benannt. Getreu Nietzsches Dictum, daß im Lobe mehr Zudringlichkeit ist als im Ta- del (Werke III, Jenseits von Gut und Böse), seien dem Rezensenten, der selber ein ,43er' ist, Geschichte studiert und ein Jahr (1970/1971) als Mittel- alterhistoriker in Bielefeld gearbeitet hat, bevor er zur Romanistik zurück- kehrte, einige kritische Bemerkungen erlaubt. Sie betreffen vor allem die Auswahl der Interviewpartner, denn die Gruppe ist keineswegs so homo- gen, wie man glauben soll. Sie enthält nicht nur deutsche Historiker (Lam- mers ist Däne, Rebas Este), sondern auch einen Byzantinisten (Günter Prinzing), einen Rechtshistoriker (Diethelm Klippel), dazu Archivare und Lei- ter von wissenschaftlichen Einrichtungen. Zwar können diese als Lehrbeauf- tragte oder Honorarprofessoren im weiteren Sinne der Universität zuge- rechnet werden und verbreitern mit ihren Interviews die Materialbasis der Untersuchung. Aber wenn die Auswahlkriterien ohnehin nicht so streng ge- handhabt werden, hätte man auch Vertreter anderer historischer Disziplinen (Rechts-, Technik-, Kirchen-, Medizingeschichte) oder als wirkmächtige Journalisten und Redakteure wirkende Historiker5 einbeziehen können, die mit vergleichbaren Methoden vergleichbare Fragestellungen behandeln. Statt dessen ist ein eigenartiger "Kirchturmblick" zu konstatieren, denn auf die Einbeziehung von DDR-Historikern oder österreichischen Historikern6 wurde verzichtet, obwohl diese, wenn 1943 geboren, zur "deutschen" Al- terskohorte durchaus oder irgendwie hinzugehören. Der Hinweis (S. 14 Anm. 12), unter den DDR-Historikern von 1943 gebe es keine vergleichs- weisen Karrieren, und die meisten seien in erster Linie Parteifunktionäre gewesen, ist allzu pauschal. Und selbst wenn er zuträfe, wäre diese Alterität besonders aussagekräftig. Das hier zitierte Standardwerk von Lothar Mer- tens nennt immerhin acht ,43er'.7 Diese Ergänzungen sind nicht in erbsenzählender Absicht gemacht, doch der Reiz, nur einen Jahrgang von Historikern (und nicht etwa alle im Krieg geborenen Historiker der Jahrgänge 1939 - 1945) zu befragen, liegt in einer

5 So ist der bei Fritz Fischer () promovierte Volker Ullrich (Jg. 1943) seit 1990 Leiter der Redaktion ,Politisches Buch' bei der Wochenzeitung Die Zeit und hat selber einschlägig publiziert. 6 ,43er' Historiker aus Östereich sind Heribert Aigner, Hans Hautmann, Alfred Koh- ler, Meinrad Pizzinini und Helmut Reinalter; an deutschen Historikern wäre noch der Aachener Althistoriker Karl Leo Noethlichs nachzutragen. 7 Lexikon der DDR-Historiker : Biographien und Bibliographien zu den Ge- schichtswissenschaftlern aus der Deutschen Demokratischen Republik / Lothar Mertens. - München : Saur, 2006. - 675 S. ; 25 cm. - ISBN 978-3-598-11673-5 - ISBN 3-598-11673-X : EUR 180.00 [8906]. - Rez.: IFB 06-2-339 http://swbplus.bsz-bw.de/bsz252450531rez.pdf - ,43er' sind (in alphabetischer Reihenfolge) Horst Dietzel (S. 174); Jörg Peter Findeisen (S. 211 - 212); Peter Haferstroh (S. 259); Jürgen Hofmann (S. 298 - 299); Joachim Lehmann (S. 389); Bernd Meister (S. 419 - 420); Roswitha Mende (S. 421); Günther Wartenberg (S. 622 - 623). gewissen Vollständigkeit oder Breite, um zu möglichst aussagekräftigen Be- funden zu gelangen, die die ganze Breite der Möglichkeiten abbilden. Dabei wäre die Frage interessant, warum so viele ,43er' Historiker wurden (als Ar- gumente werden "Spurensuche" nach vermißten Verwandten, gute Karrie- rechancen aufgrund des Hochschulausbaus Mitte der 60er Jahre und ein offener Blick auf und für Europa genannt). Aber gelten diese nicht auch für alle ,Kriegskinder' und selbst für Historiker anderer Länder8 und Vertreter anderer Disziplinen? Im Bereich des engeren Fachs des Rezensenten, der Romanistik, können (nur? immerhin?) dreizehn ,43er' benannt werden, die sich habilitiert haben, darunter zwei Frauen. Bei den Historikern, läßt man die DDR-Kohorte beiseite, gibt es keine Frau. Barbara Stambolis hat dies dankenswerterweise ausführlich kommentiert (S. 185) und erklärt dies vor allem mit dem damals vorherrschenden konservativen Rollenverständnis. Das scheint als Begründung jedoch nicht zu genügen. Die Geschichtswis- senschaft erweist sich, verglichen mit anderen Disziplinen, als stärker männlich dominiert. In den Neuphilologen gab es bereits vor 1950 eine ge- wisse Tradition weiblicher Habilitationen, sogar im Dritten Reich, auch wenn die Zahlen klein waren. Verwunderlich ist weiterhin, daß die interviewten Historiker zwar den Unter- gang der Reformuniversität zum Zeitpunkt ihrer Pensionierung zur Kenntnis nehmen, aber deren Beginn um 1968, ein Datum, das wegen seiner politi- schen Dimension durchaus kommentiert wird, kaum würdigen. Dabei waren die Veränderungen, die um 1965 Platz griffen, keinesfalls auf die Einführung der Gruppenuniversität, eine bis heute andauernde Steigerung der Studen- tenzahlen, bessere Fördermöglichkeiten und die Aufarbeitung der NS- Vergangenheit beschränkt. Zu denken ist beispielsweise an den Fortfall der Bedarfsfrage bei Habilitationen (was den Zugang zur Habilitation erleichter- te), die Einführung des Magisterabschlusses (der neben Staatsexamen und Promotion eine interessante Alternative öffnete), die Entschlackung der Prü- fungsordnungen mit dem Ziel vielfältiger Fächerkombinationen, die Schaf- fung von Beamtenstellen für die akademische Lehre mit Habilitationsrecht (Akademische Räte), den Ausbau der Universitäts- und Seminarbibliothe- ken, um nur wichtige Punkte zu nennen, die das Studium und die Berufs- möglichkeiten erheblich veränderten und verbesserten.9 Frank-Rutger Hausmann

QUELLE Informationsmittel (IFB) : digitales Rezensionsorgan für Bibliothek und Wissenschaft http://ifb.bsz-bw.de/ifb2/

8 ,43er' sind Ian Kershaw (Sheffield) und Georg Kreis (Basel), deren Namen neben dem des hier (S. 299 - 304) sozusagen als "Kontrollperson" zu Wort kommenden Moshe Zimmermann (Jerusalem) genannt seien. 9 Der Geist der Unruhe : 1968 im Vergleich ; Wissenschaft - Literatur - Medien / hrsg. von Rainer Rosenberg ... - : Akademie-Verlag, 2000. - XIV, 351 S.; (LiteraturForschung). - ISBN 3-05-003480-7.