Kaum jemand kennt heute noch die Tötungsanstalten der Euthanasie (). Längst vergessen sind auch die großen Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka (Aktion Reinhard).

Während bisher lediglich ein loser Zusammenhang zwischen diesen beiden Jahrtausendverbrechen der Hitler-Diktatur vermutet wurde, kann nun bewiesen werden, dass es einen direkten und unmittelbaren Zusammenhang gibt. Die Mordfabriken der Euthanasie, wo zehntausende unschuldige kranke Menschen entsorgt wurden wie Abfall, waren die Ausbildungs- stätten und Trainingslager für die zukünftigen SS-Männer in den drei großen Vernichtungslagern in Ostpolen. Man benötigte in Belzec, Sobibor und Treblinka kaum 18 Monate, um 1,8 Millionen Juden fab- rikmäßig vom Erdboden verschwinden zu lassen. Das unermessliche Leid der vom „Entsorgungsprozess“ betroffenen Menschen kann durch die erschütternden Berichte von jenen Überle- benden vermittelt werden, die dem Lager durch Zufall entkamen.

Nur 90 SS-Männer bewerkstelligten im Vernichtungslager Sobibor zwischen Mai 1942 und Oktober 1943 die „fließbandgesteuerte Men- schenentsorgung “ von 240 000 Juden. 88 dieser Männer waren vorher in den Tötungsanstalten der Euthanasie im Einsatz. Anhand ihrer de- taillierten Berufsbiografien und deren Auswertung lässt sich nachwei- sen, dass sie von Anfang an für die Mitarbeit bei der Judenvernichtung im großen Stil vorgesehen waren.

„Nur wer vergessen wird, ist tot. Wir müssen uns an die unschuldigen Opfer der Euthanasie und des Holocaust erinnern, denn indem wir dies tun, bestätigen und bestärken wir uns selbst erneut in unserer ei- genen Menschlichkeit und in unserer Fähigkeit zum Mitgefühl. Und so entsteh t die Hoffnung und die Kraft, dass wir auch heute aufstehen können gegen Ungerechtigkeit, Verletzung der grundlegenden Rechte von Menschen und jede Form der Diskriminierung.“ (Hubert Mitter)

ISBN 3-

Hubert Mitter

endlösung

increase - verlag

Hubert Mitter

Fließbandgesteuerte Menschenentsorgung Von den Tötungsanstalten der Euthanasie („Aktion T4“) zu den Vernichtungslagern des Holocaust („Aktion Reinhard“)

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1. Auflage 2021 © 2021 by increase - verlag (Gemeinnütziger Selbstverlag) PANDESMA – Verein zur Förderung der Verbundenheit von Mensch, Natur und Welt Radetzkystraße 78 2500 Baden bei Wien Austria E-Mail: [email protected] Tel: +43 650 3221898

Umschlag, Layout, Satz: Hubert Mitter Titelfoto: „Brausebad“ ISBN 978-3-200-

Druck: druck.at, Leobersdorf, Österreich

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden

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INHALT

Zum Geleit 1 1. Die Saat des Bösen 3 2. „Aktion T4“ – EUTHANASIE 9 3. „Aktion Reinhard“ – HOLOCAUST 33 Intro 36 Ein diabolischer Plan 41 Vernichtungslager Belzec 51 Der Zeuge 57 Vernichtungslager Sobibor 81 Der Täter Karl Frenzel 95 Vernichtungslager Treblinka 127 Spurensuche Wassilij Grossman 130 Die „Aktion Erntefest“ 4. Die 90 SS-Männer von SOBIBOR 157 Auswertung der Berufsbiografien 239 Zusammenfassung 249 Epilog 253 Zum Weiterlesen 257 T4-Reinhard-Netzwerk 261 Auswertungstabelle 265 Über den Autor 266 3

Mit dem Reinerlös des Buchverkaufs werden Flüchtlingsfamilien in Kara Tepe / Lesbos unterstützt

Ich widme dieses Buch meinem Bruder Andreas, meiner Schwester Melanie und meinem Vater Hubert

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Warnung an die Leser und Leserinnen: Dieses Buch enthält Textstellen und Passagen, die für feinfühlige Gemüter eine starke emotionale und mentale Überforderung darstellen können!

Bibliographische Nachweise und Bildquellen werden zu Gunsten einer bes- seren Lesbarkeit im Einzelnen nicht belegt, können aber beim Autor ange- fragt werden.

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„Es ist unendlich schwer, von diesen Schilderungen auch nur zu lesen. Aber es ist noch viel schwerer, darüber zu berichten. Vielleicht fragt sich irgend- wer, wozu ich schreibe und erinnere? Von einer furchtbaren Wahrheit zu berichten ist die Pflicht des Schriftstel- lers und die Bürgerpflicht des Lesers ist es, sie zu erfahren. Jeder, der sich abwendet, die Augen verschließt und vorübergeht, verletzt das Andenken der sinnlos Gemordeten.“

Wassilij Grossman (1944)

„Viele Menschen glauben nicht, dass sich das, was in Deutschland unter Hitler geschah, wiederholen könnte, vor allem nicht in ihrem eigenen Land. Doch es ist noch keine hundert Jahre her, dass es in Deutschland passierte, und auch damals hätte es niemand für möglich gehalten. Überall auf der Welt werden weiterhin Kriegsverbrechen begangen. Für mich bestand die größte Lehre in der Erkenntnis, dass der Krieg aus ei- gentlich anständigen Menschen Mörder macht.“

Benjamin Ferencz (2020) Ferencz war einer der Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen 1946 und feiert heuer seinen 100. Geburtstag

„Wer die ganze Wahrheit von damals nicht kennt, kann nicht verstehen, was gerade hier und heute auf der Welt geschieht.“

Hubert Mitter (2020)

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Zum Geleit Es ist leichter, einfach nicht mehr zurückzublicken auf die unermesslichen Leiden all dieser Kinder, Mütter und Väter und deren Eltern. Man kann das Leben insgesamt besser genießen, wenn man konsequent wegschaut. Es ist einfacher, sich von allem Beunruhigenden und Grauenhaften abzuwenden, als den Mut zu haben, sich gewahr zu werden, dass all diese bestialischen Taten von Mitgliedern unserer eigenen Spezies an uns selbst begangen wur- den und werden. Und schließlich müssen wir jene Empfindungen zulassen, die uns alptraumhaft als quälende und unerträgliche Beklemmungen umfan- gen. Aber nur durch diese schweißtreibende und bis an die Grenzen der Un- erträglichkeit reichende Erinnerungstätigkeit können wir den Opfern der Eu- thanasie und des Holocaust jenes minimale Quantum an Menschlichkeit zu- rückerstatten, das ihnen so unendlich brutal entrissen wurde. Millionen Men- schenleben wurden unter dem Banner einer wahnhaften Endlösungsideolo- gie ruiniert, verwüstet und auf immer zerstört. Erstmalig in der Geschichte der Menschheit wurden die Tatbestände des „Vorwurfes des Genozids“, des „Vorwurfes des Massenmordes“ und des „Vorwurfes der Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bei den Nürnberger Prozessen 1946 juristisch geltend gemacht. Das Ausmaß der Taten war so monströs, dass die Täter des be- wussten Verbrechens gegen die Menschlichkeit an sich angeklagt wurden. Aber jeder Akt der Erinnerung für die Opfer unsererseits, und sei er noch so klein, kann eine neue Verbindung schaffen zwischen den Toten und den Le- benden. Wirklich tot sein heißt vergessen sein. Wir, die wir am Leben sind, widmen unser Gedenken jenen, denen so unendlich grauenhaftes Leid wi- derfuhr und die millionenfach in einen so absolut sinnlosen Tod getrieben wurden. Wir müssen uns an sie erinnern, denn indem wir dies tun, bestätigen und bestärken wir uns selbst erneut in unserer eigenen Menschlichkeit und in un- serer Fähigkeit zum Mitgefühl. Und so können die Hoffnung und die Kraft erstehen, dass wir auch heute aufstehen gegen Ungerechtigkeit, Verletzung der grundlegenden Rechte von Menschen und jede Form der Diskriminie- rung. Verbrechen wie damals und ähnliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit heute müssen jetzt und auch zukünftig mit allen uns zur Verfügung stehen- den Mitteln aufgezeigt und verhindert werden. Der erste Schritt zu einem solchen Handeln ist das Wissen um die großen Zusammenhänge darüber, was vor nicht einmal einem Jahrhundert wie ein apokalyptischer Endzeit- tsunami über die ganze Menschheit hereingebrochen und wie ein Höllenfeuer über sie hinweggefegt ist: der „Zivilisationsbruch“ der fabrikmäßigen und in-

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dustriell organisierten Vernichtung von Menschen, nur weil sie gesundheit- lich Beeinträchtigte („Aktion T4“) oder abstammungsmäßig Juden („Aktion Reinhard“) waren. Die nun folgenden Ausführungen sollen aufzeigen und nachweisen, dass zwi- schen diesen beiden Vernichtungsaktionen und Ausrottungsprojekten des nationalsozialistischen Regimes in den Jahren 1939 bis 1943 ein direkter, aber umgekehrter Zusammenhang besteht: die „Aktion Reinhard“ könnte die Ur- sache gewesen sein und die „Aktion T4“ die Wirkung.

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1.

Die Saat des Bösen

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Ein ganzes Volk wird auf den Judenhass eingeschworen

Aus welcher Quelle speiste sich der größte Wunschtraum Adolf Hitlers, näm- lich ganz Europa zuerst zu erobern und dann bis auf den letzten Juden zu säubern? Weder in seiner Kindheit, Jugend oder im frühen Erwachsenenle- ben hatte er prägende negative Erfahrungen mit Vertretern des jüdischen Volkes gemacht. Wie bei allen komplexen Gegebenheiten lassen sich für den abgrundtiefen Judenhass Adolf Hitlers sowohl äußere als auch innere Auslöser feststellen.

Der wesentlichste äußere Auslöser dürfte wohl für Adolf Hitler der Kontakt mit dem Amerikaner Henry Ford gewesen sein, der schon sehr frühzeitig fi- nanziell dabei half, seine Wege zur Macht zu ebnen. Einer der größten und wichtigsten Finanziers des aufstrebenden Nationalso- zialismus unter Adolf Hitler in den 1920er-Jahren war dieser weltbekannte amerikanische Automobilhersteller, der gleichzeitig ein feurig bekennender Judenhasser und Antizionist war. „Henry Ford war auch der Herausgeber antisemitischer Hetzschriften wie der Publikation "Der internationale Jude – Ein Weltproblem", eine Zusam- menfassung von Artikeln, die 1920 bis 1922 in seiner Haus-Postille, dem "Dearborn Independent", veröffentlicht wurden.“ (Zdral) meinte dazu in einem Brief, den er 1924 schrieb: „Henry Ford ist einer unserer gewichtigsten, wertvollsten und geistreichsten Vor- kämpfer.“ Für eine Angelegenheit, die mit dem Tod von über sechs Millionen Juden enden sollte. Seine Publikationen wurden übrigens in späteren Jahren von Henry Ford selbst wieder verboten und aus dem Verkehr gezogen. Henry Ford überwies alljährlich ein Geburtstagsgeschenk in der Höhe von 50.000 Reichsmark auf das Privatkonto von Adolf Hitler, sein Bildnis hing in der Münchner Zentrale der NSDAP. Adolf Hitler hatte sich Henry Ford ge- genüber verpflichtet, die Sache mit der Bekämpfung des Judentums in Eu- ropa auf die Fahnen seiner nationalsozialistischen Bewegung zu heften. Was erhielt Henry Ford im Gegenzug dafür? Während des Zweiten Weltkrieges waren die Fordwerke zwar auch ein wichtiger Rüstungslieferant für die US- Streitkräfte, gleichzeitig brachte er es jedoch zustande, massenhaft Armee- fahrzeuge für Nazideutschland zu bauen und zu liefern. Besser konnten die Geschäfte nicht laufen. „Die Ford Motor Company war beteiligt am Aufbau der deutschen Streit- kräfte vor dem Zweiten Weltkrieg. 1938 wurde beispielsweise ein Fertigungs- werk in Berlin in Betrieb genommen, dessen einzige Aufgabe es war, LKWs für die deutsche Wehrmacht herzustellen. Ford produzierte insgesamt 78.000 LKW und 14.000 Kettenfahrzeuge für die Wehrmacht.“ (Zdral) 4

Das Einvernehmen mit Nazideutschland war so hervorragend, dass die Ford- werke in Köln die Hälfte ihrer Belegschaft als Zwangsarbeiter aus dem KZ- Buchenwald beziehen durften. Andererseits musste es bestens koordinierte Absprachen mit den US-Streitkräften geben. „Die Ford-Werke wurden bis Ende 1944 von der alliierten Bombardierung verschont und dann auch nur wenig beschädigt.“ (Zdral) Ford war zudem einer der ersten Autoproduzenten, der im zerbombten Nachkriegsdeutsch- land wieder wirtschaftlich tätig werden durfte. Henry Ford war schon in Nazideutschland ein beliebter Mann. Winifred Wagner erinnert sich: "Die Philosophie und Ideen Fords und Hit- lers waren sehr ähnlich. Er lässt durchblicken, dass Hitler jetzt Geld beson- ders dringend brauche. Ford lächelt und sagt, er sei immer noch bereit, je- manden wie Hitler zu unterstützen, der auf die Befreiung Deutschlands von den Juden hinarbeite.“ (Zdral) Zu seinem 75. Geburtstag am 30. Juli 1938 wurde Henry Ford zu Ehren eine Laudatio überreicht, die von Adolf Hitler persönlich unterfertigt war. Dabei wurde ihm das heiß begehrte Malteserkreuz, umrahmt von vier Hakenkreu- zen, an die Brust geheftet. Dies ist die höchste Auszeichnung, die Nazi- Deutschland an Ausländer zu vergeben hatte. Der gewiefte Kriegsgewinnler und Judenhasser starb am 7.4.1947 und wurde für sein teuflisches doppeltes Spiel nie kritisiert oder zur Verantwortung ge- zogen. Henry Ford war neben anderen bekannten und verdeckten Groß- sponsoren und Förderern aus der Industrie und dem Adel wesentlich daran beteiligt, Adolf Hitlers Aufstieg und diktatorische Alleinherrschaft über Na- zideutschland zu finanzieren und zu ermöglichen.

Die „inneren“ Auslöser für Adolf Hitlers „Mission“, das jüdische Volk mit jedem nur erdenklichen Mittel aus Europa zu vertreiben, waren esoterisch- spirituell und vernunftmäßig gleichermaßen begründet. Wer Adolf Hitlers Manifest „Mein Kampf“ aufmerksam gelesen hatte, der wusste von Anfang an, wie es dem jüdischen Volk ergehen würde, sobald und solange Adolf Hit- ler an den Schalthebeln der Macht stehen würde. Das Buch „Mein Kampf“ wurde zwischen 1925 und 1945 in 1122 Auflagen ungefähr 12 Millionen Mal unter das Volk gebracht, dazu kamen noch unzählige Exemplare der Über- setzungen in 17 Sprachen. Damit war „Mein Kampf“ unangefochten die Bi- bel des Nationalsozialismus. Adolf Hitler hatte erst in seiner Wiener Zeit einen ausgeprägten Antisemitis- mus und Antizionismus entwickelt. Im Jahr 1910, als Adolf Hitler als geschei- terter Kunstmaler gerade selbst in einem Obdachlosenasyl in Wien-Meidling lebte, schrieb er im zweiten Kapitel „Wiener Lehr- und Leidensjahre“ in „Mein Kampf“: „Dass es sich hier um keine Wasserliebhaber handelte, 5

konnte man ihnen ja schon am Äußeren ansehen, leider sehr oft sogar bei geschlossenem Auge. Mir wurde beim Geruche dieser Kaftanträger später manchmal übel. Dazu kam dann noch die unsaubere Kleidung. … Abgesto- ßen musste man aber auch werden, wenn man über die körperliche Unsau- berkeit hinweg plötzlich die moralischen Schmutzflecken des auserwählten Volkes entdeckte. … Gab es denn da einen Unrat, eine Schamlosigkeit in irgendeiner Form, vor allem des kulturellen Lebens, an der nicht wenigstens ein Jude beteiligt gewesen wäre? Sowie man nur vorsichtig in eine solche Ge- schwulst hineinschnitt, fand man, wie die Made im faulenden Leibe, oft ganz geblendet vom plötzlichen Lichte, ein Jüdlein.“ (S. 183 f.) Um 1910 hatte Wien knapp über zwei Millionen Einwohner, davon rund 175.000 Juden, also ungefähr 8,6% der Bevölkerung. Insbesondere die Ost- juden lebten in sehr ärmlichen, teilweise verwahrlosten Verhältnissen, was die antijüdischen Ressentiments innerhalb der Bevölkerung stark befeuerte. Adolf Hitler formulierte schon im September 1919 in einem Brief an Adolf Gemlich das nicht gefühlsmäßig begründete Postulat eines „Antisemitismus der Vernunft“. Adolf Hitler forderte darin die Bekämpfung der Judenprivile- gien und letztendlich die „Entfernung der Juden überhaupt“. In einem Inter- view im November 1923 sagte er: „In ganz Deutschland gibt es mehr als eine Million Juden. Was wollen Sie tun? Sie alle über Nacht umbringen? Das wäre natürlich die beste Lösung und wenn man das zuwege brächte, wäre Deutsch- land gerettet.“ Adolf Hitler bezweifelte damals noch, dass dies möglich wäre. Aber diese Worte und Überlegungen sollten sich noch als visionär erweisen. Schon sehr früh wurde propagiert, dass Juden keine Menschen seien. Theo- dor Fritsch schrieb im Jahr 1922: „So ist der Jude zum Anti-Menschen ge- worden, zu einer Umkehrung alles wahrhaft Menschlichen.“ Diese Dämoni- sierung des Juden als Nicht-Menschen machte es den Vollstreckern der SS bei der Vernichtung der Juden im industriellen Maßstab dann so leicht. Der ultra-radikale Antisemit Diedrich Bornemann bringt dies in seinem Buch „Gott und Satan“ im Jahr 1923 religiös und esoterisch auf den Punkt: „Die Gegensätze im göttlichen und satanischen Wirken sind am schärfsten ausge- prägt in der arischen, gleich göttlichen und der jüdischen Bastardrasse, gleich satanischen. … Ja, sie verkörpern geradezu Gott oder Teufel.“ Solcher philosophisch-weltanschaulichen Hetzschriften bedient sich Adolf Hitler dann argumentativ, wenn er schreibt (Volk und Rasse, I/II): „Und doch ist es so, dass im deutschen Volke die Personifikation des Teufels als Sinnbild alles Bösen die leibhaftige Gestalt des Juden angenommen hat.“ Da- mit wurde es den Katholiken einfacher gemacht an der Judenhatz und bei der Duldung des Holocaust mitzuwirken. Gleichzeitig konnte auch Papst Pius XII. nicht umhin, in vielerlei Belangen unterstützt durch die „Judaisten“ im

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Vatikanstaat bis zuletzt widerspruchslos der Ausrottung des Judentums ta- ten- und protestlos zuzusehen. An Information hatte es ihm nie gemangelt. Rolf Hochhuth hat dies in seinem Buch der „Stellvertreter“ in den frühen Sechzigerjahren sehr eindrucksvoll aufgerollt. Die jüdische „Rasse“ wurde von Adolf Hitler zur „Inkarnation des Bösen“ hochstilisiert. Damit machte er die Bekämpfung des Judentums zum quasi- religiösen „Kampf für das Gute“. Schon im Rückblick auf die Geschehnisse des 1. Weltkrieges machte Adolf Hitler geltend, dass man besser die Juden, „dieses Ungeziefer“, mit Giftgas vertilgen hätte sollen. Mit der „Ausrottung dieser Pestilenz“ hätte man Millionen ordentlicher, wertvoller Deutschen das Leben retten können. Noch deutlicher wird Adolf Hitler im August 1924 in seinem Zeitungsartikel „Hitlers Stellung zur Judenfrage“: „Ja, es ist richtig, dass ich meine Ansicht über die Kampfweise gegen das Judentum geändert habe. Ich habe erkannt, dass ich bisher viel zu milde war. … Ich bin zu der Erkenntnis gekommen, dass in Hinkunft die allerschärfsten Kampfmittel angewendet werden müs- sen.“ Er macht geltend, dass man – in einem biologistisch-darwinisten Ver- gleich – den „krankmachenden Bazillus ausrotten müsse, wenn man den Körper retten wolle“. Wenn es um das Sein oder Nichtsein des deutschen Volkes gehe, könne man nicht Halt machen vor dem Leben des feindlich gesinnten Judentums. Alles in allem, man darf die Radikalität, Brutalität und ideologisch begründete Unerbittlichkeit, mit der Adolf Hitler in „Mein Kampf“ gegen das Judentum hetzt, in keiner Weise relativieren oder kleinreden. Von Hitlers Manifest ei- nen direkten Pfad in die großen Vernichtungslager zu konstruieren wäre da- bei aber genauso naiv, wie jegliche Verbindung dazu abzustreiten. Adolf Hitler hatte noch vor dem Beginn seiner politischen Machtergreifung die vollständige Vernichtung des Judentums im Visier. Dass er so erfolgreich damit sein würde, hätte er wohl selbst in seinen kühnsten Träumen nicht ge- glaubt. Es sei hier die Hypothese vorgebracht, dass seine kriegerischen Inter- ventionen in alle Richtungen dem Ziel untergeordnet waren, Zugriff auf möglichst viele Juden und deren Leben zu erhalten. Er benutzte die Wirren des 2. Weltkriegs, um von der Weltöffentlichkeit beinahe unbemerkt oder zumindest geduldet die bei der Wannsee-Konferenz am 20. Jänner 1942 be- schlossene „Endlösung der Judenfrage“ konsequent umzusetzen. Der „End- sieg“ war dann nicht der Sieg über die Alliierten Mächte, sondern die gelun- gene Vernichtung von über 6 Millionen europäischer Juden. Oder wie es bei einem Zeitungsinterview in den 50er-Jahren in Argentinien, wo er nach seiner Flucht unter falschem Namen lebte, so treffend und nüchtern ausgedrückt hatte: „Das Einzige, was ich in meinem

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Leben wirklich bereue ist, dass ich halb gescheitert bin, indem ich von den 12 Millionen Juden in Europa nur rund die Hälfte beseitigen konnte.“

Die großen Vernichtungslager der „Aktion Reinhard“ in Belzec, Sobibor und Treblinka kann man nicht begreifen, wenn man nicht weiß, wie genau die „fließbandgesteuerte Menschenentsorgung“ in den sechs Tötungsanstalten der „Aktion T4“ verlief. Daher sollen im folgenden Kapitel die „Stationen der Strecke“ detailliert anhand eines konkreten Tötungsvorgangs in der ein- zigen österreichischen Tötungsanstalt Schloss Hartheim bei Linz aufgezeigt werden. Man begegnet dabei auch einer Vielzahl von T4-Mitarbeitern, die später in den Vernichtungslagern in Ostpolen noch eine tragende Rolle spie- len sollten.

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2.

„Aktion T4“ Euthanasie

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„Aktion T4“ – Euthanasie: Projekt Vorverlegung des Todeszeitpunkts

Die externen Tötungsanstalten 1940 bis 1945

Zwischen Januar 1940 und August 1941 wurden in insgesamt sechs strate- gisch im ganzen Dritten Reich verteilten externen Tötungsanstalten, wovon immer nur vier gleichzeitig im Betrieb waren, an die 70.000 wehrlose, kranke und physisch oder psychisch beeinträchtigte Menschen als „Ballastexisten- zen“ in Gaskammern, die als Duschbäder getarnt waren, „desinfiziert“ und hinterhältig ermordet. Weitere 130.000 Patienten in verschiedensten Heilan- stalten wurden zwischen September 1941 und Oktober 1945 im Rahmen von noch weitaus grausameren anstaltsinternen Patientenmordprogrammen be- seitigt und „entsorgt“. Die von den Nationalsozialisten installierte und von Adolf Hitler abgesegnete „Aktion T4“ war eine weltweit einzigartige und bis heute die größte akkor- dierte Vernichtungsaktion an behinderten und kranken Menschen. Da der „Euthanasieerlass“ Adolf Hitlers, getarnt als „Gnadentod“, nie gesetzlich wirksam wurde, ist bis heute jeder einzelne von diesen 200.000 Fällen recht- lich gesehen vom Tatbestand her gesehen ein Mord gewesen.

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Die Beschreibung der „Desinfektion“ des jugendlichen Euthanasieopfers Rosa Leeb, sie war an Epilepsie erkrankt und kam aus der Landesheilanstalt in Salzburg in die Tötungsanstalt Schloss Hartheim bei Linz, kann einen gu- ten Eindruck davon vermitteln, wie sich die „fließbandgesteuerte Men- schenentsorgung“ in der ersten Pionierphase dargestellt hatte: „Die Fahrt dauerte ungefähr dreißig Minuten. Plötzlich sah man in einer Ebene, wir waren gerade einen Hügel hinab gefahren, ein reizendes Renais- sanceschlösschen, das mit einem Schriftzug versehen war: „Erholungsheim“ stand da in großen Lettern. Waren wir etwa doch nicht dorthin gekommen, wo wir uns in unseren schlimmsten Befürchtungen schon gesehen hatten? Wir durften jedoch nicht beim Haupteingang des Schlosses aussteigen. Die Busse fuhren zur Westseite des Schlosses, wo ein großer überdachter Holz- schuppen genügend Platz bot, um mit dem ganzen Bus durch ein hohes Scheunentor hineinzufahren. Auf der anderen Seite konnte der Bus dann wie- der hinausfahren, nachdem wir ausgeladen worden waren. Auf diese Weise konnte niemand von den anliegenden Bewohnern aus Hartheim und Alko- ven beobachten, was wirklich geschah. Wir wurden von der Oberpflegerin und Transportbegleiterin Gertrude Blanke an die „Pflegerinnen“ Maria Ham- melsböck und Maria Lambert, der Ehefrau des Maurers , der sich auf den Bau von Gaskammern und Verbrennungsöfen spezialisiert hatte, übergeben. Die beiden Pflegekräfte waren von der Heil- und Pflegeanstalt Ybbs durch eine Notdienstverpflichtung zwangsversetzt worden und brauchten nicht lange, um ihr neues Aufgaben- feld zu begreifen. Die „Desinfektionsbehand- lung“ lief streng getrennt nach Geschlechtern ab. Nachdem wir im engen Schuppen ausgestie- gen waren, standen wir im Halbdunkel und wussten nicht, wie es weitergehen sollte. Durch die Ritzen der Holzplanken des Schuppens drangen Lichtstrahlen hindurch, in denen man Staubpartikel flirren sehen konnte. Wir mussten das Schloss einzeln durch einen kleinen Seiten- eingang an der Nordwestseite des Schlosses be- treten. Rechts führte der Stiegenaufgang zu den oberen Stockwerken, wo anscheinend auch das Personal wohnte. Wir wurden durch einen lan- gen Gang geführt, der durch einen hohen Bret- terverschlag eingesäumt war, sodass man den Die "Strecke" von Schloss Hartheim Schlosshof nicht sehen konnte. Die Pflegerinnen

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Maria Hammelsböck und Maria Lambert behandelten uns nicht wie Men- schen, sondern wie Abfall. Sie teilten uns lapidar mit, dass wir jetzt in einem Erholungsheim seien und dass zuallererst alle zwecks hygienischer Erforder- nisse den Duschraum aufsuchen müssten, bevor wir unsere Zimmer bezie- hen könnten. Zuvor sollten wir jedoch noch kurz ärztlich untersucht werden. Arglos tappten die meisten von uns in die Fangnetze der scheinheiligen Beschwichtigungen. So folgten wir Patientinnen ihnen ohne Widerstand in den Auskleideraum. Es gab nur spärliches Licht, das durch ein vergit- tertes Fenster hereinfiel. Der Raum hatte ein halbrundes Gewölbe und war weiß getüncht. Links und rechts "Duschgarderobe" an den Wänden standen aneinander- gereihte Garderobenbänke aus Holz. Wir wurden angewiesen, alle Kleider abzulegen, den meisten Patienten wurde von den Pflegerinnen dabei geholfen. Wir mussten unsere Kleider, Schuhe und sonstigen Habseligkeiten zu einem Bündel zusammenschnüren – damit nichts verlorengeht, wie man uns sagte – und ordentlich auf unseren Platz legen. Auch meinen Teddy und mein Buch musste ich im Auskleideraum zu- rücklassen. Die Kleiderbündel wurden später von den Pflegekräften einge- sammelt und in die Effektenkammer gebracht. Von dort wurden unsere Hab- seligkeiten irgendwann zur weiteren Verwendung abgeholt. Der Raum war ungeheizt und wir froren erbärmlich. Auf dem kalten Steinboden war ein Holzrost verlegt, auf dem wir einzeln oder zu zweit nackt in den Aufnahme- raum zur ärztlichen Untersuchung geführt wurden. Die anderen Patienten mussten in der Kälte ausharren, bis auch sie von den Pflegerinnen abgeholt wurden. Im Notfall wurden sie auf dem Weg dorthin gestützt oder getreten, 66 je nachdem, wie das Pflegepersonal gelaunt war. Man hatte schnell herausge- funden, dass es nackten Menschen in existenziellen Bedrohungsszenarien nicht gelingt, ihre menschliche Würde zu wahren. Das wiederum erleichtert es den Tätern und Massenmördern immens, mental ungestört ihrer Tötungs- arbeit nachzugehen und sich nicht von menschlichen Animositäten irritieren lassen zu müssen. Dies war später dann auch das Erfolgsrezept der millio- nenfach gelingenden Ausrottung von Juden, Roma und Sinti und Regime- gegnern in den Vernichtungs- und Konzentrationslagern des 3. Reiches. Am heutigen Tag war eine besondere Aufregung im Schloss zu verspüren. Hoher Besuch hatte sich angekündigt. Es kam immer wieder einmal vor, dass sich Ärzte und ranghohe NS-Funktionäre von der Effizienz der Desinfektions- maßnahmen mit eigenen Augen überzeugen wollten. Daher war das gesamte 12

Anstaltspersonal zur besonderen Sorgfalt angewiesen worden. Auch beide Anstaltsärzte, der Leiter Dr. Rudolf Lonauer, 34 Jahre alt - er hatte selbst einen epileptischen Bruder, und sein Stellvertreter Dr. Georg Renno, eben- falls 34 Jahre alt, waren anwesend. Renno entwickelte 1940 mit Prof. Nitsche das Luminal-Schema, eine recht effektive, kaum nachweisbare Tötungsme- thode für behinderte Kinder. Lonauer kümmerte sich an diesem Tag als Gast- geber um die besonderen Gäste. Es hatten sich der Gauleiter von Oberdo- nau, August Eigruber, auch er 34 Jahre alt, samt Ehefrau, Reichsinnenminis- ter Wilhelm Frick, 64 Jahre alt und Reichsärzteführer Leonardo Conti, 41 Jahre alt, angekündigt. Renno kümmerte sich um den Ablauf der Maßnahme und bediente die technischen Vorrichtun- gen. Bei der gemeinsamen Feier am Abend sollte der begeisterte Querflöten- spieler dann Stücke von Mozart und Bach zum Besten geben. Der Anlass des promi- nenten Besuchs war ein denkwürdiger. Es sollte gemeinsam die fünfzehntausendste erfolgreiche „Desinfektion“ gefeiert wer- den. Ich musste einige Zeit im nasskalten Auskleideraum warten, bis ich von der Pflegekraft Maria Lambert abgeholt wurde. Der Aufnahmeraum war groß und lag im südöstlichen Eck des Schlosses.

Untersuchungsraum Eine ebenmäßige Säule trug das harmoni- sche Renaissancegewölbe. Der Raum war nüchtern und karg ausgestattet. An zentra- ler Stelle stand ein mächtiger Schreibtisch. Dahinter saß ein junger Arzt, der mich nicht beachtete. Ich musste mich nackt vor dem Schreibtisch aufstellen und schämte mich sehr. Der Arzt hieß Dr. Georg Renno und beteuerte später, er sei nur zufällig und durch Zwang in diese ganze Sache hinein- gerutscht. Er meinte, da sei ein Stein ins Rollen gekommen, der nicht mehr abzu- stoppen gewesen wäre. Er verrichtete seine Arbeit aber überzeugt, integer und begeistert. An seiner linken Seite saß zur Feier des Tages die Leiterin der Bürohilfs- Tötungsarzt Dr. Georg Renno kräfte Helene Hintersteiner. Sie reichte Dr.

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Renno die jeweils benötigten Unterlagen wie die Transportpapiere, die Iden- titätsfeststellungsakte und den Meldebogen. Helene Hintersteiner gelang es angeblich durch ein erotisches Abenteuer mit Gauleiter Eigruber nach Hart- heim zu kommen. Sie war eine bis in die letzte Faser durchdrungene über- zeugte Nationalsozialistin und bekannte sich ganz offenherzig zu ihrer Mit- wirkung am „Projekt Hartheim“. Sie hatte in der Folge auch mit Dr. Renno, der verheiratet war und zwei entzückende Töchter hatte, eine Affäre, aus der ein gemeinsamer Sohn entstammte, für den die längste Zeit der Pfleger Karl Steubel die Verantwortung übernahm. Helene Hintersteiner wohnte bis Ende 1945 in Schloss Hartheim und bewegte sich in der Nachkriegszeit gut abge- sichert in den postfaschistischen braunen Netzwerken der Exnazis. Ihr Sohn konnte erst spät herausfinden, wer sein Vater wirklich war. Renno wollte aber absolut nichts mit ihm zu schaffen haben. Ansonsten gab es im Aufnahme- raum noch einen Paravent, hinter dem im Erker des Raumes ein Fotograf seine Arbeit verrichtete. Bestimmte Patienten wurden dort auf Anordnung von Dr. Renno fotografiert. Nun wurde ich untersucht. Dr. Renno befahl mir den Mund zu öffnen und die Zunge herauszustrecken. Margit Troller, eine Bürohilfskraft, musste mich an der rechten Schulter kennzeichnen. Trol- ler hatte über Mundpropaganda erfahren, dass die Gauleitung in Linz Perso- nal für eine auswärtige Stelle suchte. So hatte sie sich für die Stelle beworben und fand sich in Hartheim wieder. Dr. Renno befahl ihr, mir auch etwas auf die linke Schulter zu schreiben. Es fühlte sich wie ein Kreis an. Der Arzt hatte bei der ganzen Prozedur kein einziges Wort mit mir geredet. Er behandelte mich wie ein totes Stück Materie. Zum Schluss blickte er auf eine Liste und schrieb so etwas wie eine Diagnose in seine Unterlagen, die vor ihm lagen. Er unterzeichnete dann wie Dr. Lonauer mit dem Aliasnamen Dr. Wagner. Meine Untersuchung hatte knapp zwei Minuten gedauert, dann kam hinter mir schon die nächste Patientin an die Reihe. Ich wurde von Margit Troller zum Fotografen hinter den Paravent gebracht. Es war mir höchst zuwider, nackt fotografiert zu werden. Mein Fotograf hieß Bruno Bruckner. Er war 39 Jahre alt und stammte aus Linz. Sein Vorgänger war Franz Wagner aus Krumau, der aber abgelöst werden musste, da er den Gestank im Schloss nicht länger ertragen konnte. Es wurden ein Foto von vorne, eine Pro- filaufnahme sowie eine Ganzkörperaufnahme von mir angefertigt. Bruckner gab später an, er hätte täglich an die 30 Patienten auf Anordnung der Ärzte abgelichtet. Bruno Bruckner Wozu eigentlich?

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Bruno Bruckner wurde 1902 in Linz geboren und war Mitglied der SA. Auch er folgte Wirth und Stangl in die Vernichtungslager im Osten. Der Arzt Dr. Irmfried Eberle wurde im April 1942 mit dem Aufbau des Ver- nichtungslagers Treblinka betraut. Bruckner war zwischen August und Sep- tember 1942 in Treblinka bei verschiedenen Kommandos eingesetzt. Durch einen Grundsatzbefehl Heinrich Himmlers wurden die Deportati- onsgebiete so sehr erweitert, dass Treblinka in diesen Monaten von einer Transportwelle unvorstellbaren Ausmaßes heimgesucht wurde. In den Mo- naten August und September 1942 wurden dort insgesamt über 400.000 Menschen vergast und ermordet. Bruno Bruckner aber zog es vor, 1943 wieder als Soldat in der Wehrmacht unterzutauchen. Als Fotograf wurde er im Hartheim-Prozess freigesprochen. Was er in Treblinka gemacht hatte, konnte er mit viel Raffinesse verbergen. Er lebte nach dem Krieg sein Leben weiter, als ob nichts geschehen wäre. Es gelang ihm, seine Taten in Treblinka bis heute erfolgreich aus allen zugänglichen Informationsquellen zu eliminieren. Er ist einfach still und leise von der Bildfläche der Öffentlichkeit ver- schwunden. Die Krankenakten mit unseren Fotos wurden im Herbst 1944 bei den gro- ßen Säuberungsarbeiten zur Verwischung aller Spuren von Helene Hintersteiner und ihren Helfershelfern systematisch beseitigt, verbrannt und vernichtet. Karl Steubel Vor dem Paravent des „Fotografen“ wartete schon der Pfleger Karl Steubel auf mich, der mich mit festem Griff am Oberarm packte und zum Eingang des Brausebades zerrte.

Nach dieser ganzen entwürdigenden Tortur durfte ich endlich in den Duschraum. Ich wurde direkt vom Aufnahmeraum durch eine gut isolie- rende Stahltüre, die luftdicht ab- schloss, in einen Raum geführt, über Eingang Gaskammer

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dem die Aufschrift „Brausebad“ geschrieben stand. Man drückte mir ein kleines raues Handtuch und ein noch kleineres Stück Seife in die Hand.

Der Duschraum war fast quad- ratisch, ungefähr zwanzig Quadratmeter groß und vom Boden bis zur Decke weiß ver- fließt. An der Schlossaußen- seite gab es ein kleines ver- decktes Fenster mit einem Au- ßenventilator. An der Decke hing eine Feuchtraumleuchte und es gab drei Duschköpfe mit Armaturen. Zur Hofseite Duschattrappen des Schlosses hin ließ sich ein Guckloch ausmachen. Wahr- scheinlich um den Duschvorgang kontrollieren zu können. Als alle Patienten, die das Aufnahmeverfahren erfolgreich durchlaufen hat- ten, endgültig im Brausebad eingelangt waren und sich nach den Strapazen der letzten Tage schon auf eine erfrischende Dusche freuten, wurde uns mitgeteilt, dass der Duschraum aus Gründen der Desinfektion gut abge- schlossen werden müsste. Dann könnten wir nach Lust und Laune du- schen. Die massive Stahltür fiel mit einem dumpfen Klacken hinter uns in die Arretierung und wurde verriegelt. Die ersten Patienten wurden miss- trauisch und nervös. Auch ich konnte mir nicht vorstellen, wie vierunddrei- ßig Frauen in dem kleinen Duschraum befriedigend duschen können soll- ten. Die ersten Patienten versuchten, die Duscharmaturen aufzudrehen. Es passierte nichts; die Leitungen waren tot. Kein Tropfen Wasser kam heraus. Und es passierte auch weiter nichts. Im Duschraum war es zu diesem Zeit- punkt totenstill. Am schlimmsten war die völlige Ungewissheit, was weiter mit uns geschehen würde. Und die endlosen Minuten der sich steigernden Klaustrophobie. Und die Todesangst, die sich langsam breitmachte. Die ersten Patienten, die einfach nicht mehr stehen konnten, setzten sich resig- nierend auf den kalten Fliesenboden. Zunehmende Panik machte sich breit. Einzelne andere Patienten trommelten mit den Fäusten gegen die Stahltüre und flehten darum, wieder hinausgelassen zu werden. Nach Ewigkeiten sah ich endlich eine Bewegung am Guckloch zum Schlosshof. Ein Augenpaar erschien und stierte zu uns herein. Die Ehrengäste hatten sich verspätet. Und wir mussten über eine Stunde in der Dusche ausharren, um dann grauenvoll ermordet zu werden.

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Christian Wirth, 56 Jahre alt, hatte als Bürolei- ter und Personalchef von Schloss Hartheim zu einem kleinen Vormittagsimbiss mit Umtrunk in seine Büroräumlichkeiten geladen. Er war absolut gefühlskalt, unerbittlich und mordlüs- tern, auch seinem Personal gegenüber. Darum hieß er insgeheim der „wilde Christian“. Er war auch bei den ersten Probevergasungen in Bran- denburg beteiligt und war nun der mächtigste Mann im Schloss. Er kam ursprünglich als Kri- minalkommissar von der Kripo in Stuttgart und Büroleiter nach seiner Tätigkeit in Hartheim wurde er ab Dezember 1941 zum ersten Lagerkommandanten des Vernichtungslagers in Belzec. Christian Wirth war stolz auf die Gaskammern, die er dort er- richten ließ. Er führte sie auch Adolf Eichmann vor, der das Lager im Früh- jahr 1942 inspizierte. Ab August 1942 beförderte man ihn zum Inspekteur aller großen Vernichtungslager im Osten. So kann man ihm eine wesentli- che Verantwortung für die mörderische Effizienz der Mordfabriken von Belzec, Sobibor und Treblinka zuschreiben; dort wurden von März 1942 bis September 1943 an die 2,8 Millionen Menschen vergast, erschossen, vergraben oder verbrannt. Wirth spielte eine tragende Rolle in der Reorga- nisation des Vernichtungslagers Treblinka, nachdem Lagerkommandant Dr. Irmgard Eberle gescheitert war. In Treblinka gab es für die nackten Juden, die auf ihre Vergasung warteten, in ihrer Todespanik noch eine be- sondere Draufgabe. , einer der Lagerkommandanten, erschien mit seinem Bluthund „Bari“ vor dem Vergasungsgebäude. Sein Herr hatte ihn speziell dressiert: wenn er ihn losließ, stürzte er sich auf die männlichen Todeskandidaten, verbiss sich in ihre Geschlechtsorgane und riss sie ihnen bei lebendigem Leibe ab. Zum Gaudium der Täter und zum Horror der Opfer. Im Septem- ber 1943 wechselte Wirth dann als Leiter der „Sonderabteilung R“ ins Ad- riatische Küstenland. Er wurde am 26. Mai 1944 bei Triest von Partisanen erschossen. Das Augenpaar, das ich gesehen hatte, gehörte Dr. Georg Renno. Er über- zeugte sich von der Situation im Duschraum und nickte zufrieden. Dann öffnete er vom Schlosshof her die Tür zum neben dem Duschraum liegen- den Technikraum, wo sich die beiden Gasflaschen mit Kohlenmonoxid und der Gashahn befanden. Hinter den Kulissen wirkten prominente Chemiker als Fachleute bei diesem anspruchsvollen Desinfektionsprojekt mit. Albert Widmann, 29 Jahre alt,

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war für die pünktliche Lieferung der Gasflaschen von der I.G. Farben zu- ständig. August Becker, 41 Jahre alt, fungierte als Fachmann in konkreten Vergasungsfragen und half bei der Vernichtung von Geisteskranken aktiv mit. Er war bei Vergasungen anwesend, um die Vergasungsärzte auf die richtige Bedienung des Gashahnes einzuschulen und sie bei ihren techni- schen Fragen fachkundig zu beraten. Helmut Kallmeyer, 31 Jahre alt, galt als Experte auf dem Gebiet von Vergasungsfragen und fungierte als Fach- berater bei Schwierigkeiten. Er war auch später vor Ort, als in Belzec im Februar 1942 die Funktionsfähigkeit der Gaskammern an den Gefangenen im Lager sowie an jüdischen Einwohnern von Ortschaften aus der näheren Umgebung ausprobiert wurde. Er wurde direkt aus Berlin von der Kanzlei des Führers unter dem Decknamen „Dr. Blaurock“ geschickt, um die opti- male Giftgasmenge und die Qualität der Motorabgase für den effektivsten Mordvorgang zu messen und diesen zu optimieren. Es konnte ihm nach dem Krieg definitiv kein einziges Verbrechen nachgewiesen werden und er begründete eine neue Existenz in Kuba. An diesem besonderen Tag ließ es sich Dr. Georg Renno nicht nehmen, den Gashahn offiziell selbst umzulegen. Es gab zwar die eindeutige Weisung vom Führer, dass dies immer nur die Verga- sungsärzte tun dürften, in der Regel dele- gierte Renno diese Aufgabe aber an den Oberbrenner Josef Vallaster, 31 Jahre alt, um nicht im Nachhinein unnötig wegen Mordes belangt zu werden. Vallaster fühlte sich so zu Hause im Mordschloss, dass er dort sogar seine Hochzeit feierte. Seine Trauzeugin war Josef Vallaster Gertrude Blanke. Vallaster wechselte 86 nach seiner Vernichtungstätigkeit in Hart- heim im Jänner 1942 nach Belzec, wo er federführend am Aufbau der Ver- gasungsanlagen mitwirkte und bis April 1942 bei verschiedenen Komman- dos, die in diesen zwei Monaten den Vernichtungsprozess von ungefähr 100.000 Menschen organisierten, mitarbeitete. Er wechselte dann ins Ver- nichtungslager Sobibor, wo er von Mai 1942 bis Oktober 1943 im Lager III für die Vergasung, den Abtransport und die Beseitigung von 250.000 Er- mordeten zuständig war. Er fand am 14. Oktober 1943 bei einem Häft- lingsaufstand den Tod. Dr. Georg Renno beteuerte 1969 bei seinem Prozess, er sei ja nicht Arzt geworden, um einen Gashahn zu bedienen. Tatsächlich waren die Verga-

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sungsärzte wie Lonauer und Renno reine Techniker der organisierten Mas- senvernichtung von Behinderten und Kranken. Rennos wichtigste Aussage zur Selbstentlastung bestand darin, dass er glaubhaft machen konnte, sein Motiv für sein Wirken in Hartheim sei ausschließlich Mitleid mit diesen be- dauernswerten Kreaturen gewesen, für die es keine Hoffnung mehr auf eine lebenswerte Existenz gegeben hätte. Sein Anliegen sei gewesen, Leiden zu beenden, nicht Leiden zuzufügen. Er habe diesen Menschen durch den Tod in der Gaskammer ein unbemerktes, friedliches und sanftes Entschlafen ermöglicht und ihnen so den Gnadentod gewährt. Da er als verantwortli- cher Arzt den Auftrag hatte, in diesem Sinne zu handeln, könne er die Hand dafür ins Feuer legen, dass den Patienten kein Leid zugefügt worden sei. Auch habe er immer dafür Sorge getragen, dass die Patienten vom Personal nicht respektlos oder grob behandelt worden wären. Die Patienten seien bei der Einleitung des Gases in den Duschraum lang- sam zu Boden gesunken und ganz entspannt entschlafen. Friedrich Lorent, 36 Jahre alt, hartgesottener Hauptwirtschaftsleiter der T4, wickelte die Bestellung von Gas und Giften durch die Tötungsanstalten ab. Er hatte zweimal selbst Vergasungen durch ein Guckloch beobachtet. Was er gesehen hatte, hatte ihn psychisch so sehr irritiert, dass er monatelang unter Schlafstörungen und paranoiden Verfolgungsängsten litt. Lorent tauchte nach 1945 unter und arbeitete unbehelligt als Vertreter unter dem Namen Robert Lorent. Er wurde erst im Jahr 1970 aufgespürt und wegen Beihilfe zum Mord an 4300 KZ-Häftlingen zu sieben Jahren Haft verurteilt. Man hatte die Vergasungen auch mitgefilmt. Das Ergebnis war so unerträg- lich, dass die Filme vernichtet wurden, weil sie nicht hergezeigt werden konnten. Auch Dr. Renno hatte in seiner Karriere einmal bei einem solchen Machwerk mitgewirkt. Der Film hieß „Sichten und Vernichten“ und wurde nie öffentlich vorgeführt, sondern wegen seiner Abscheulichkeit selbst ver- nichtet. 88 Inzwischen war uns, die wir schon eine kleine Ewigkeit im Duschraum ein- gesperrt waren, klar, dass die Duschköpfe nur Attrappen waren. In Wirk- lichkeit waren im Boden und an den Wänden perforierte Rohre eingelassen, durch die das heimtückische Gas gut verteilt in den Raum einströmen konnte. Ich hörte ein leises, fast unmerkliches Zischen. Dr. Renno hatte den Gashahn aufgedreht. Die Luft war durch das lange Warten so vieler Patienten auf engstem Raum in dem hermetisch abgedichteten Raum schon von selbst sehr dünn gewor- den. Die Patienten, die am Boden saßen, merkten zuallerletzt die Wirkung des farb- und geruchlosen Gases, das leichter als Luft ist und nach oben stieg. Am schlimmsten waren aber nicht die aufkommenden Erstickungs-

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gefühle. Das Kohlenmonoxid bindet sich nämlich sofort stark an das Hä- moglobin, wodurch schnell die Fähigkeit des Blutes nachlässt, den Körper mit Sauerstoff zu versorgen. Dies führt in den meisten Fällen relativ rasch zu Ohnmacht, Bewusstlosigkeit und Tod. Das Schlimmste war die Massen- panik auf engstem Raum, als die ersten Patienten endgültig begriffen, dass es nun definitiv ans Sterben ging. Ich stellte mich mit meiner Freundin Anna Maria Wahl an die Wand, die gegenüber vom Guckloch lag. Ich nahm ihre Hand und hielt sie fest. Ich wollte nicht ganz allein in den Tod gehen. Mit versteinerter Miene stand Anna da wie ein Fels in der Brandung und blickte mutig dem Tod entgegen. Viele der anderen Patienten drängelten sich nun zur Stahltüre und schrien verzweifelt um Auslass und Hilfe. Dabei trampelten sie völlig von Sinnen jene, die schon am Boden saßen, nieder, wenn sie im Weg waren. Die To- despanik löste auch bei einigen jüngeren Frauen eine „Todesmenstruation“ aus. Überall war inzwischen Kot, Urin und Blut. Viele erbrachen unkon- trolliert das Wenige, das sie im Magen hatten. Die ersten Patienten brachen bewusstlos vor der Stahltür zusammen und starben einen elendiglichen, rö- chelnden Tod. Der Sauerstoffmangel verlieh ihren Gesichtern eine graue, zyanotische Hautfarbe. Sie bekamen livide Lippen und griffen sich verzwei- felt an Mund und Hals. Wer noch konnte, krabbelte jetzt in der letzten To- desverzweiflung auf den Leichenhaufen vor der Stahltür, im Irrglauben, weiter oben wäre mehr Sauerstoff zum Atmen. Anna neben mir war gefasst und ohne jede Todespanik niedergesunken. Auch bei mir hatte die Kohlen- monoxid-Intoxikation letztendlich den beabsichtigten Zweck erfüllt. Mein Ableben durch Hypoxie trat achtzehn Minuten nach Einleitung des Gases ein. Davor hatte ich am Guckloch immer wieder wechselnde Augen- paare ausgemacht. Die Ehrendelegation betrachtete sichtlich interessiert das einzigartige Schauspiel, das sich bot. Nur die Ehefrau von Gauleiter Eigruber war dem Geschehen nervlich nicht gewachsen. Sie musste sich unmittelbar, nachdem sie kurz durch das Guckloch geblickt hatte, zur Seite wenden und übergab sich krampfgeschüttelt. Da, wie Dr. Renno durch einen Kontrollblick durch das Guckloch feststel- len musste, nach fünfundzwanzig Minuten immer noch nicht alle Patienten vollständig tot waren, wurde den Ehrengästen im Schlosshof ein Schnäps- chen zur Beruhigung der Nerven gereicht. Für den Nachmittag war ein Ausflug in die Donauauen geplant. Dort gab es ein abgelegenes, geheimnis- umwittertes Ausflugsgasthaus, das bestens als gut vor der Öffentlichkeit verborgener Nazi-Treffpunkt geeignet war. Erst als Dr. Renno definitiv den Tod aller Patienten feststellen konnte, wurde das Gas durch den Außen- ventilator abgeleitet. Dies dauerte mehr als eine Stunde.

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Nun begann die schweißtreibende Arbeit der Brenner und ihrer Helfer. Sie mussten von der anderen Seite die Tür zum anschlie- ßenden Leichenraum öffnen und die Mord- opfer aus dem Duschraum abtransportie- ren. Der Brenner Vinzenz Nohel, 39 Jahre alt, beschrieb in seinem Prozess 1946, dass es anfangs sehr anstrengend war, die Lei- chen an den Beinen über den rauen Beton- boden zerren zu müssen. Später sei der Bo- Vinzenz Nohel den verfliest worden und man habe Wasser ausgeschüttet, wodurch der Abtransport we- sentlich erleichtert wurde. Er berichtete auch, dass beim Ausräumen der Gaskammer die Leichen im Haufen sich in ihrer Todesverzweiflung so sehr ineinander verkrallt hätten, dass er ihnen teilweise die Gliedmaßen brechen musste, um sie dann einzeln abtransportieren zu können. Vinzenz Nohel wurde die Anstellung in Hartheim durch seinen Bruder, einen einflussrei- chen Nationalsozialisten, vermittelt. Aufgrund der ausgesprochen guten Bezahlung lehnte er nicht ab. Außerdem wurde ihm für die zermürbende Arbeit eine zusätzliche Abgeltung von einem Viertelliter Schnaps täglich gewährt. Nohel blieb in Hartheim, bis die Mordanstalt im Dezember 1944 geschlos- sen wurde. Seine unverblümte Ehrlichkeit und weil er von den Amerika- nern für schuldig befunden wurde, im Rahmen der NS-Aktion 14f13 auch an der Ermordung von tausenden kranken und arbeitsunfähigen kriegsge- fangenen KZ-Häftlingen aus Mauthausen beteiligt gewesen zu sein, wurde er im Mauthausen-Hauptprozess am 13. Mai 1946 zum Tode verurteilt und am 27. Mai 1946 als einziger von allen am Massenmord in Hartheim Betei- ligten in Landsberg hingerichtet. Der zweite Brenner der heutigen Schicht war der 29-jährige Kurt Bolender. Er war ein fleißiger Leichenverbrenner und arbeitete nach dem offi- ziellen Vergasungsstopp in Hartheim in der Folge von April bis Oktober 1942 als Leiter des Vernichtungsteils (Lager III) in der Mordfabrik Sobibor. Allein in dieser Zeit wurden dort 150.000 Menschen ausgerottet und vergast. Bo- Kurt Bolender lender wirkte nachweislich auch an Probeverga- sungen mit und war einer der gefürchtetsten To-

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desbringer im Lager. Ende 1943 bis Kriegsende folgte er dann seinen Ka- meraden der T4, um im Adriatischen Küstenland weitere Gräueltaten zu vollbringen. Es gelang ihm, nach 1945 unterzutauchen. Er wurde für tot erklärt und arbeitete als Wilhelm Kurt Vahle im Hofbräuhaus in Hamburg. Er wurde in den 60er-Jahren ausfindig gemacht und im Rahmen der Hauptverhand- lung des Sobibor-Prozesses des Mordes in 360 Fällen angeklagt. Er been- dete am 10. Oktober 1966 während seiner Untersuchungshaft durch Er- hängen selbst sein Leben. Als die beiden Brenner des heutigen Tages, Vinzenz Nohel und Kurt Bo- lender, den Vergasungsraum öffneten, türmten sich wie immer die meisten Ermordeten auf einem großen Haufen vor der Stahltüre. Anna und ich la- gen etwas abseits. Wir wurden zuerst weggeschafft. Die beiden Brenner hatten eine kraftsparende Transportmethode für die Leichen entwickelt. Sie verwendeten breite Lederschlingen, die wie ein Lasso um ein Armgelenk der Mordopfer gezurrt wurde; der Vorteil war, dass es dadurch möglich war, jeglichen Körperkontakt zu vermeiden. Auf diese Art und Weise wurde ich also an der linken Hand in den Leichenraum geschleift. Eine Methode, die später im Sinne eines gelungenen Knowhow- Transfers in den großen Ver- nichtungslagern im Osten noch wertvolle Dienste leis- ten sollte. Im nächsten Schritt wurden von Bolender meine Markierungen auf dem Rü- cken inspiziert. „1 G“ auf der rechten Schulter bedeutete, dass ich einen Goldzahn hatte. Da sich im Todes- 96 krampf meine Kiefermuskeln

Leichenraum blockiert hatten, musste er mein Kiefer zuerst mit roher Gewalt zermalmen, um an meinen Goldzahn zu kommen. Mit einer groben Beißzange riss er ihn heraus und warf ihn blutverschmiert in einen Glasbe- hälter, der schon fast bis oben hin voll mit den gezogenen Goldzähnen an- derer Mordopfer war. Das Zahngold wurde als eine wichtige Finanzie- rungsquelle für die Aktion T4 verwendet. Neben mir wurde nun Anna Ma- ria Wahl von Vinzenz Nohel an der Lederschlinge in den Leichenraum ge- schleift. Er weigerte sich, Goldzähne zu ziehen, weil er laut eigener Aussage dazu zu ungeschickt sei.

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Im Leichenraum wurden alle Ermordeten in Reihen aufgestapelt, da immer nur je vier Leichen im danebenliegenden Krematoriumsraum, wo die zwei Brennöfen standen, eingeäschert werden konnten. Manchmal konnte es zwei, drei Tage dauern, bis alle Leichen eines Transports beseitigt waren. Laut Vinzenz Nohel brannten dicke Leichen besser als dünne und Frauen besser als Männer. Nachdem die Brenner mit dem Ausräumen des Duschraumes fertig waren, musste das Pflegepersonal diesen so gründlich reinigen, dass daraus für den nächsten Transport wieder ein akzeptables Brausebad wurde. Dies war bei Weitem die unbeliebteste und verhassteste Arbeit im Mordgeschäft. Bolen- der stellte nun fest, dass ich auch eine Markierung auf der linken Schulter hatte. Dies bedeutete, dass ich nicht gleich ins Krematorium musste, son- dern noch für die wissenschaftliche Erforschung der Epilepsie zur Verfü- gung gestellt wurde. Ich wurde in einen dem Leichenraum gegenüberliegenden Raum an der Westseite des Schlosses gebracht, der als Sezierraum diente. Dr. Georg Renno hatte mit Dr. Hans Bertha, 40 Jahre alt, vom Universitätsklinikum Graz die Übereinkunft getroffen, dass er ihm zu wissenschaftlichen Zwe- cken die Gehirne von Epileptikern überlassen würde. Da am heutigen Tag Lonauer und Renno anderweitig beschäftigt und unabkömmlich waren, musste der pathologische Assistent Hermann Wentzl meine Schädeldecke öffnen und das Gehirn entnehmen. Dieses wurde in der Folge in ein großes koni- sches Dreiliter-Glas mit Glasdeckel, das mit Formalin gefüllt war, eingelegt. Dann wurde es in der Vorratskammer neben der Anstaltsküche gelagert und wartete auf seine Abholung durch Dr. Bertha. Nachdem Schloss Hartheim als Mordanstalt im Jänner 1945 geschlossen worden war, plünder- ten die umliegenden Anwohner die Wirtschafts- Dr. Hans Bertha gebäude des Schlosses. Dort fand man laut Be- richt des Anwohners Rudolf H. hunderte große Glasbehälter. Diese wurden von den Bauern dann verwendet, um Marme- lade einzukochen, Essiggurken zu konservieren oder Eier einzulegen. Seit 1940 war Bertha als T4-Gutachter für die Aktion T4 tätig, wodurch Anstaltspatienten im Rahmen der „Euthanasie“ in Tötungsanstalten, wie der NS-Tötungsanstalt Hartheim, zugeführt und ermordet wurden. Bertha nutzte die Patientenmorde also auch für sein "wissenschaftliches" Fort- kommen. Dieser wurde 1942 zum Leiter der Kinder- und Jugendheilanstalt am Spiegelgrund in Wien bestellt, zu der auch die berühmt-berüchtigte 23

„Kinderfachabteilung“ gehörte. Besonders ab 1944, als Bertha Anstaltslei- ter am Steinhof war, wurden die Insassen und Patienten durch Todessprit- zen, toxische Medikamentationen und schlichtes Verhungernlassen im Rahmen der „dezentralen Anstaltstötungen“ um fast die Hälfte reduziert, das waren zwischen 1941 und 1945 insgesamt an die 3500 Patienten. Er hatte sich also in der Zeit des Nationalsozialismus maßgeblich an der Tö- tung von Patienten in den Heil- und Pflegeanstalten beteiligt. Bertha wurde dafür nie zur Rechenschaft gezogen, bei einem Volksgerichtsverfahren 1948 wurde er trotz belastender Beweise freigesprochen. Er konnte sich vollständig rehabilitieren, leitete von 1960 bis 1964 die Grazer Nervenkli- nik, wurde zum Universitätsprofessor ernannt und wurde wie Dr. Heinrich Gross ein hochangesehener Repräsentant der akademischen Neuro-Psychi- atrie in Österreich. Erst am nächsten Tag, dem 25. Mai 1941 wurde mein sezierter Leichnam zurück in den Leichenraum überstellt. Im Leichenraum hatte ich noch einen Pausentag und wartete auf meine Einäscherung. Am Morgen des 26. Mai 1941 wurde ich mit drei anderen weiblichen Mordopfern aus dem Leichenraum abgeholt und in den dane- benliegenden Krematoriumsraum gebracht. Man warf mich auf einen ausfahrbaren Rost. Dann stapelten die Brenner eine zweite, eine dritte und eine vierte Leiche auf mich. Wir wurden zu viert in die lodernden Flammen der linken Brennkammer geschoben. Der Verbrennungsofen musste mit Koks geheizt werden. Dies war der Aufgabenbereich des dreißigjährigen Hubert Gomerski, der keine schwereren Arbeiten verrichten konnte, da er sich zwei Jahre zuvor bei einem Autoun- fall eine Armverletzung zugezogen hatte. Gomerski wurde später in die Tötungsan- Hubert Gomerski stalt Hadamar versetzt, wo er als Brenner weiterarbeitete. Im April 1942 kam er über die Aktion Reinhard nach Sobibor, wo er im Lager III die Befüllung der Gaskammern und den Abtransport der Leichen zu beaufsichtigen hatte. Dort zeigte er sich oft als Arzt im weißen Kittel und täuschte so den Häft- lingen vor, sie seien in Sicherheit und kämen nur ins Brausebad. Gomerski war als äußerst brutaler und besonders gefährlicher SS-Mann gefürchtet, der zahlreiche Menschen wahllos erschoss oder durch grausame Handlun- gen ermordete. Als Kommandant des „Waldkommandos“ ermordete er

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zahlreiche Häft- linge durch Schläge mit einem mit spit- zen Nägeln ge- spicktem Stock. Nach Kriegsende kam Hubert Go- merski im Zuge strafrechtlicher Er- mittlungen gegen das ehemalige Per- sonal der Tötungs- Verbrennungsofen anstalt Hadamar im November 1946 in Untersuchungshaft. In dem anschließenden Prozess vor dem Landgericht Frankfurt am Main wurde er am 21. März 1947 aus Mangel an Beweisen vom Vorwurf der Beihilfe zum Mord freigesprochen. Danach arbeitete er als Kraftfahrer. Wenig später folgte ein weiteres Gerichtsverfahren gegen ihn, diesmal we- gen der in Sobibor begangenen Verbrechen, bei dem der Angeklagte jede direkte Tatbeteiligung hartnäckig abstritt. Am 25. August 1950 wurde er wegen Mordes in einer unbestimmten Anzahl von Fällen zu einer lebens- langen Gefängnisstrafe verurteilt. 1972 wurde er aus der Haft entlassen und der Prozess aufgrund eines Revisions- verfahrens wieder aufgenommen. Dadurch wurde das Urteil gegen Go- merski im Jahr 1977 auf 15 Jahre Haft reduziert. Eine erneute Wiederauf- nahme des Verfahrens wurde auf- grund von Verhandlungsunfähigkeit 1981 vorläufig und 1984 endgültig ab- gesagt. So blieb Gomerski in Freiheit und lebte bis zu seinem Tod am 28. Dezember 1999 noch 15 unbe- schwerte freie Jahre in Frankfurt am Main. Meine Metamorphose in ein kleines Häuflein Asche dauerte nur etwas mehr als zwei Stunden. Rauch über Schloss Hartheim Nachdem ich mit meinen drei Krema- toriumsgefährtinnen zu einem Haufen 25

Staub und unverbrennbaren Knochenresten zusammengeschmort war, ka- men diese Überreste auf einen großen Hügel neben dem Brennofen. Die Skelettteile wurden in eine elektrische Knochenmühle geschaufelt und von einem Brenner zu Knochenmehl zermahlen. Da- mit wurden in der Folge vom Anstaltsinstallateur Heinrich Barbl die Urnen beliebig vollgefüllt. Jede Urne fasste ungefähr zwei Liter. Barbl war 41 Jahre alt und stark dem Alkohol verfallen. Er war der „bunte Hund“ von Hartheim und handwerk- lich gesehen das Mädchen für alles. Er stanzte laut Vorgabe der Anstaltsleitung auch mein Blech- schild: Rosa Leeb; verstorben am 5. Juni 1941. Dieses befestigte er auf meiner Urne, die dann zur Heinrich Barbl Verwischung der Spuren an die Heil- und Pflege- anstalt Bernburg weitergeschickt wurde. Erst von dort aus wurden später meine Eltern in Salzburg von meinem „tragischen Ableben durch Krankheit“ in Kenntnis gesetzt. Heinrich Barbl wurde ab Jänner 1942 in den Vernichtungslagern der „Ak- tion Reinhard“ im Osten eingesetzt. Auch dort wechselte er je nach Bedarf zwischen den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka hin und her: er verlegte die Leitungen für die Gaskammern in Belzec und half da- nach bei der Einrichtung der Gaskammern in Sobibor mit. Er grub Brun- nen und machte Elektroinstallationen für die Beleuchtung der Gaskam- mern. Er stellte sich dumm, wurde vom Lagerkommandanten Christian Wirth oft schikaniert und zwischendurch sogar wegen seiner Alkoholex- zesse ins Lagergefängnis geworfen. Er war immer stolz darauf, dass er die Gaskammern so gut ausstattete, dass man wirklich glaubte, sich in einer komfortablen Dusche zu befinden. Auch er wechselte Ende 1943 mit sei- nen T4-Genossen, deren Nähe er immer suchte, ins Adriatische Küsten- land. Heinrich Barbl wurde nach Kriegsende zu seiner Tätigkeit in Schloss Hart- heim vernommen, konnte aber glaubhaft machen, dass er als Anstaltshand- werker nicht wissen konnte, was da wirklich vorging. Seine Zeit in den Ver- nichtungslagern im Osten konnte er erfolgreich unter den Tisch kehren. In den 60er-Jahren musste er noch einmal als Zeuge in einem Ermittlungs- verfahren gerichtlich aussagen, wurde aber nicht angeklagt und nicht weiter strafrechtlich belangt. Er lebte unbehelligt in Österreich und starb angeb- lich um 1965.

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Der verbleibende Aschehaufen musste von den Brennern in regelmäßigen Abständen in große Hanfsäcke zum Abtransport eingefüllt werden. Diese wurden von den Fahrern auf große Lastwägen geladen und mit einer Plane abgedeckt. Die Fahrer des heutigen Tages waren laut Tagesdienstbefehl Jo- hann Anzinger und Franz Hödl, der mich schon im Bus von Niedernhart nach Hartheim befördert hatte. Franz Hödl Er erhielt seine Arbeit als Fahrer aufgrund seiner Par- teitreue und sagte seinen Job zu, nachdem ihm der Bü- roleiter Christian Wirth, 56 Jahre alt und später Kommandant der Vernich- tungslager im Osten, mitgeteilt hatte, es handle sich bei Schloss Hartheim um eine „Ausrottungsfabrik für Geisteskranke“. Hödl war dann nach seiner Tätigkeit als Fahrer in Hartheim von Juni 1942 bis Ende 1943 in Sobibor im Lager III bei der Abwicklung der Organisation bei den Gaskammern eingesetzt. Über 200.00 Mordopfer geleitete er dabei in die Gaskammern. Von Ende 1943 bis Kriegsende war er wie viele andere T4-Schwerstverbre- cher im Adriatischen Küstenland, um Partisanen zu bekämpfen und Juden zu vernichten. Beim Hartheim-Prozess 1947 wurde er – nur wegen seiner Verbrechen in der Tötungsanstalt – als einer der Wenigen zu einer Gefäng- nisstrafe verurteilt, die aber mit drei Jahren höchst gering bemessen war. Der Weg der beiden Fahrer führte vom Schloss weg Richtung Bahnhof Alkoven, über die Gleisanlage und dann nach rechts auf die Reichsstraße. Kurze Zeit danach bogen sie nach links ab und fuhren bis zu dem kleinen Weiler Bergham. Dort ging es über eine Geländestufe nach unten in die eigentlichen Donauauen des Gstocket. Nach ein paar hundert Metern Fahrt durch Maisfelder mussten sie scharf nach rechts abbiegen und kamen durch eine kleine Geländesenke über einen Wassergraben. Dann erschien gleich links das Ausflugsgasthaus „Jausenstation Eder-Meinl“, später bekannt als 122 „Gelsendiele“. Daran vorbei führte ein sich verengender Schotterweg zwi- schen Feldern, Obstbäumen, von alten Weiden gesäumten Wassergräben und alten Eichen hinaus bis zum alten Innbach. An diesem entlang fuhren sie weiter durch die verwilderte Au bis an die Uferböschung der breiten Donau. Bei Stromkilometer 2.148,5 m wurden die Säcke mit unseren spär- lichen Überresten von den beiden Fahrern einfach in die Fluten der Donau geschüttet. So hatte man sich aller Spuren entledigt. Wo keine Leiche, da kein Mörder. Meine Asche verteilte sich nun mit der von hunderten Ande- ren im mächtigen Donaustrom und wälzte sich der Unendlichkeit des Schwarzen Meeres entgegen. An dieser Stelle wurde 2001 ein Gedenkstein errichtet. Darauf steht ge- schrieben: „Das Wasser löschte die Spuren, die das Gedächtnis bewahrt“. 27

Heute lässt sich diese Stelle nicht mehr auf diesem Weg erreichen, da durch die Errichtung des Kraftwerks Wilhering/Ottenstein in den frühen Siebzi- gerjahren massiv in das gesamte Gelände eingegriffen wurde. Die beiden Fahrer fuhren nun den Weg zurück und freuten sich schon darauf, in der Jausenstation einzukehren und sich nach der anstrengenden körperlichen Arbeit ein erfrischendes Bier im kleinen Gastgarten zu gönnen. Über dem Gasthaus im Obergeschoß des kleinen Bauernhauses wohnte im Gstocket Nr. 63 ein kleiner vierjähriger Junge, der sich nicht erklären konnte, warum ab und zu ein voll beladener Wehrmachtslastwagen direkt am Haus vorbei an die Donau fuhr. Und warum er nach zwei Stunden leer zurückkam. Auch heute hielt der Lastwagen wieder hinter dem Haus bei der Sickergrube. Was wurde da zur Donau gefahren? Erst viel später in seinem Leben sollte er die wahren Hintergründe erfahren.“

Rosa Leeb beschreibt in ihrer Schilderung des Vernichtungsvorganges die wesentlichen Stationen der „Strecke“, so wie sie sich sinnvollerweise in allen sechs Mordanstalten im Dritten Reich als effizient erwiesen hatten und später auf die Vernichtungslager des Holocaust übertragen wurden:

1 Konzentration der Mordopfer in Anstalten: so wird ein schneller und geordneter Zugriff auf das Vernichtungsmaterial gesichert

2 Desinfektion: unter Vorspiegelung falscher Tatsachen wird das Vernichtungsmaterial ohne große Aufregung und Aufwand in die Mordfalle der Gaskammern gelockt

3 Geordneter Abtransport: Freundliches Einladen des Vernichtungs- materials in die Transportmittel wie Busse bzw. Eisenbahnwaggons

4 Transportbegleiter sorgen durch Spritzen und sonstige Maßnahmen für die Beruhigung von panischen oder widerständigen Passagieren

5 Argloses Ausladen an der Rampe: Geordnetes Aussteigen des Vernichtungsmaterials aus den Transportmitteln; Trennung von Männern und Frauen

6 Den Strom des Vernichtungsmaterials in einem „Schlauch“ kanalisieren und im Gänsemarsch vereinzeln: so gibt es mit ganz wenig Bewachungsaufwand für niemand ein Entrinnen

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7 Ankündigen des Brausebads: aus hygienischen Gründen soll geduscht werden, das Vernichtungsmaterial wird dazu veranlasst, sich selbst und freiwillig der Kleider zu entledigen

8 Ablegen der Kleider in der „Umkleide“: Wertgegenstände werden „verwahrt“, die Kleider und Schuhe ordentlich zusammengelegt (und später zur weiteren Verwertung sortiert)

9 Das nackte Vernichtungsmaterial geht zum Brausebad: nackte Menschen sehen sich ihrer letzten Würde beraubt und können sich endgültig nicht mehr aus ihrer Opferrolle herausbegeben; für die Täter wird es leicht, nur Vernichtungsmaterial und keine Menschen mehr wahrzunehmen

10 Verfrachtung in die „Duschen“: mit und ohne Gewalt wird möglichst viel Vernichtungsmaterial in die Gaskammern gepresst

11 Mord durch Kohlenmonoxidgas: die schrecklichsten und schmerzhaftesten Tötungsmethoden werden zur Anwendung gebracht, um in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Vernichtungsmaterial abzuarbeiten. Gesamtbilanz der Aktion T4: 70.000 Menschen

12 Abtransport des Vernichtungsmaterials: die Mordopfer werden aus dem Vergasungsraum gezerrt bzw. geschleift; der Vergasungsraum wird gereinigt und für den nächsten Durchgang der Beseitigung von Vernichtungsmaterial vorbereitet

13 Entsorgung: Verschwindenlassen des Vernichtungsmaterials durch Verbrennen in anstaltsinternen Krematoriumsöfen

14 Spurenverwischung: nach Beseitigung des gesamten Vernichtungs- materials den Ursprungszustand der Vernichtungseinrichtung wieder- herstellen; Schloss Hartheim wurde im Jänner 1945 wieder ein Kinderheim.

Eine entscheidende Frage blieb aber vorerst noch ungeklärt: im Rahmen der „Aktion T4“ war es in einem Zeitraum von 2 Jahren lediglich gelungen durch die Strategie der „fließbandgesteuerten Menschenentsorgung“ 70.000 Menschen zu vernichten. Wie nur sollte dies mit 6 bis 12 Millionen Juden zu bewältigen sein? Man würde Lösungen für dieses Problem finden. Die Systematik des Ablaufs der fließbandgesteuerten Menschenentsorgung auf Basis der Logistik der „Strecke“ hat sich zwischen den Anfängen mit der Installation der zentralen Tötungsanstalten im Rahmen der 29

„Euthanasie“ (70.000 Mordopfer), den Massenerschießungen (1,5 Millionen Mordopfer), den großen Vernichtungslagern im Osten in Belzec, Sobibor und Treblinka (2.300.000 Mordopfer) und dem Konzentrations- und Arbeitslager Auschwitz-Birkenau (1.200.000 Mordopfer) kaum verändert. Diese Systematik blieb in ihren Arbeitsschritten bzw. der industriell organisierten Arbeitsteilung beim Vernichtungsprozess immer gleich, es gab höchstens umstandsbedingte Variationen. Man könnte fast meinen, es habe schon im Vorhinein ein Ausrottungs-Masterplan der Massenvernichtung von Millionen von unerwünschten Existenzen bestanden, der nur noch umgesetzt werden musste. Die Perfidie dieses Vernichtungsprozesses bestand im Gegensatz zu den Tötungsanstalten bei den Vernichtungslagern in Ostpolen darin, dass man die Opfer selbst unter der Vorspiegelung der Tatsache, sie könnten so überleben, zu Helfern und Tätern machte. Die bahnbrechende Weiterentwicklung des Mordvorganges im Gegensatz zu den Mordeinrichtungen der zentralen Anstaltstötung bestand in den Vernichtungslagern der „Aktion Reinhard“ darin, dass nun nicht mehr deutsche SS-Männer das Vernichtungsmaterial bewachen und in die Gaskammern treiben mussten. Dies erledigten die eigens dafür rekrutierten „Trawniki-Wachtruppen“. Die SS-Männer mussten auch nicht die zurückgebliebenen Kleider sortieren oder die Leichen der Mordopfer aus den Gaskammern zerren und vergraben oder verbrennen. Sie mussten diese Vorgänge lediglich überwachen, beaufsichtigen und je nach Lust und Laune mit ihren persönlichen sadistischen Grausamkeiten garnieren. Die sogenannten „Arbeitsjuden“ der Sonderkommandos wurden dann als Lohn für ihre Dienste anfangs jeden Abend, später alle paar Wochen, erschossen, da es keine Zeugen für die Gräueltaten geben durfte. Benötigte man in Schloss Hartheim noch etwas mehr als 100 Mitarbeiter, um in 15 Monaten 18.000 Menschen zu beseitigen so reichten in Treblinka 38 SS-Männer, um in derselben Zeit eine Vernichtungsmaterial von beinahe 1.800.000 Personen zu bewältigen, ohne selbst maßgeblich Hand anlegen zu müssen. Der wesentlichste Vorteil der industriellen Mordfabriken war sicherlich, dass jeder der am Vernichtungsprozess Beteiligten nur einen kleinen Teilschritt im Mordprozess zur Durchführung brachte, z.B. das Abholen des Vernichtungsmaterials oder das Verbrennen der Leichen im Krematoriumsofen. Wer hatte größere Schuld auf sich geladen, die IG Farben, die regelmäßig die bestellten Gasflaschen nach Hartheim lieferte, wohl wissend wofür sie bestimmt waren, oder einer der Brenner, der stellvertretend für Dr. Georg Renno den Gashahn bediente? Durch diese raffinierte Segmentierung eines Mordes in so kleine Teilschritte, dass es 30

keinen individuell Schuldigen mehr geben konnte, wurde erst möglich, was der gesunde Menschenverstand als nicht denkbar mit aller Vehemenz von sich weisen muss: dass Nazideutschland absichtlich und gezielt über 6 Millionen Menschen mit Wissen des Vatikans, der Alliierten und der Weltöffentlichkeit ausrotten durfte. Dieser Notstand, individuelle Schuld zu beweisen, war auch einer der wesentlichen Gründe, warum viele der Täter beinahe ohne Bestrafung davonkommen konnten und sich nach dem Krieg ein zweites unbescholtenes Leben aufbauten, als ob nichts geschehen wäre.

Eine detaillierte Darstellung dieses Themas befindet sich in dem Buch: „LINZEN – Begegnungen auf meinem Weg ins Gas“.

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3.

„Aktion Reinhard“ Holocaust

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„Aktion Reinhard“ – Die Vernichtungslager

Die großen Vernichtungslager in den besetzten polnischen Gebieten (Generalgouvernement)

„Die ´Aktion Reinhard´ war die größte Vernichtungsaktion im Rahmen des Holocaust mit insgesamt etwa 1,8 Millionen ermordeten Juden. Sobibor ist eine Entwicklungsstufe. Zuerst kam Belzec, aber das fand die SS zu klein. Sobibor war letztendlich zu groß, Treblinka hatte die perfekte Größe. Es ging ja darum, mit möglichst wenig Personal möglichst viele Menschen in mög- lichst kurzer Zeit zu ermorden.“ (Stephan Lehnstaedt, Interview 14.10.2018)

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Alle drei Vernichtungslager waren am Fluss Bug situiert.

Treblinka

Sobibor

Belzec

Karte Generalgouvernement 1941 Zwischen Belzec und Sobibor liegen 130 Kilometer, von Sobibor nach Treb- linka beträgt die Entfernung 170 Kilometer. Dies erleichterte den Austausch der SS-Männer zwischen den Vernichtungslagern immens, besonders weil alle drei Vernichtungslager direkt an gut ausgebauten Bahnstrecken lagen. Die Vernichtungslager wurden gezielt jeweils in unzugänglichen, verwilder- ten und weit von der Zivilisation abgelegenen Landstrichen errichtet.

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Intro

Dieses Kapitel beschäftigt sich mit dem großen Kontext des Holocaust. Kann es sein, dass die gezielte Ausmerzung des gesamten jüdischen Lebens vom europäischen Kontinent von gewissen Kräften nicht nur heiß ersehnt, sondern von Beginn an kaltblütig und systematisch geplant war und dement- sprechend hinterlistig vorangetrieben wurde? Immer noch werden wir ver- führt zu glauben, dass der Holocaust vielleicht gar nicht wirklich gewollt war und in seiner letzten Konsequenz leider als Nebeneffekt der Kriegstreiberei Adolf Hitlers „passiert“ sei. Unzählige Darstellungen und Auseinanderset- zungen über das Unaussprechliche, das damals der Welt zugefügt wurde, grei- fen schlicht zu kurz. Man kann den Holocaust auch als „Höhepunkt“ eines langen raffinierten „Vorspiels“ betrachten, das an Grauen nicht recht viel we- niger zu bieten hatte. Die Hitler-Bibel „Mein Kampf“, durch welche die halbe Welt ideologisch präpariert und gleichgeschaltet wurde. Die großen Finan- ziers des Antisemitismus. Die ersten wirklichen Konzentrationslager, um die Vernichtung von unangenehmen Zeitgenossen zu etablieren. Groß angelegte Sterilisationsaktionen durch die Gesundheitsbehörden, um minderwertiges Erbgut zu eliminieren. Zwangsabtreibungen, oft mit Todesfolgen für die be- troffenen Frauen. Die alte und doch neue Unterdrückung von Frauen als Ga- rantinnen des Aufblühens der arischen Rasse. Die stetig abnehmende Mög- lichkeit zur freien Meinungsäußerung, bis hin zu den geheimen Folterkellern der Gestapo. Die Installierung von speziellen Tötungsanstalten, um „unwer- tes Leben“ elegant, unauffällig und kostengünstig aus der Welt zu schaffen. Die zunehmende Entrechtung der Juden: Auswanderung, Enteignung und Vertreibung und die gewaltsame Unterstützung jeder Form der Aussiedelung. Die Reichskristallnacht als erstes fulminantes Intermezzo und Perspektiven- öffnung für das, was noch kommen sollte. Der Rest ist rasch erzählt. Die kriegerische Expansion Nazideutschlands lie- fert zusätzliche Millionen von Juden der uneingeschränkten Willkür eines Adolf Hitler und Heinrich Himmler aus. Die „Endlösung der Judenfrage“ ist längst ein vorrangiges Thema für die gesamte nationalsozialistische Mission. In einer gewissen Weise wurde das Schicksal von über 6 Millionen Juden bei der Konferenz von Evian am Genfer See im Juli 1938 entschieden. US-Prä- sident Roosevelt hatte Delegierte aus über 30 Nationen zusammengerufen, um ihnen seine Idee zu unterbreiten, dass doch alle demokratischen Staaten weltweit die zur Debatte stehenden Juden in Nazideutschland untereinander aufteilen und ihnen Asyl gewähren sollten. Es wurde zum Erschrecken aller offensichtlich, dass kein Staat, aus unterschiedlichsten Gründen, seine Hilfe anbieten wollte. Man erklärte moralische Unterstützung, tief empfundenes Mitleid, Besorgnis über das tragische Schicksal der jüdischen Flüchtlinge und 36

tiefstes Mitgefühl. Aber niemand war bereit, den Juden zu helfen. Der natio- nalsozialistische „Völkische Beobachter“ stellte mit Bosheit fest, man habe der Welt die Juden angeboten, aber niemand wollte sie haben. Jetzt könne man damit nach Gutdünken verfahren. Wer gerade daran denkt, wie Europa mit seinen Flüchtlingen umgeht, wird nicht zufällig mit Schrecken an diese Wiederholung von dramatischen Versäumnissen an Hilfestellung und Menschlichkeit erinnert. Gibt es zuerst also wenigstens noch internationale Konferenzen, wo von über 30 Staaten ergebnislos über die Kontingente für die Aufnahme von jü- dischen Flüchtlingen verhandelt wird, kann Adolf Hitler bald beruhigt, dass niemand auf der Welt, inklusive des Papstes der katholischen Kirche, Pius XII., das weitere Schicksal der Juden in Europa interessiert, schalten und wal- ten wie es ihm beliebt. Nun haben die Nationalsozialisten freie Hand. Wird zuerst noch versucht, die Juden möglichst weit in den Osten umzusiedeln, muss man bald feststellen, dass es besser wäre, sie alle gemeinsam gleich nach Madagaskar auszusiedeln. Dieser Plan – falls er jemals wirklich ernsthaft in Erwägung gezogen wurde - scheiterte daran, dass die Feindmacht Großbri- tannien den Suezkanal blockierte. Doch man näherte sich dem Endziel. Mil- lionen von Juden störten die Besiedelung des Ostens durch Deutsche, sind im Weg und müssen schlichtweg schnellstens weg. Die definitive physische Eliminierung der Juden soll sicherstellen, dass sie nie wieder das Weltgefüge stören können. Fünf große Mordzentren werden diese Herausforderung be- wältigen müssen. Auschwitz-Birkenau und Chelmno als KZ-Vernichtungsla- ger und die im Bewusstsein der Welt kaum noch vorhandenen „reinen“ Ver- nichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka. „Die Konzentrationslager dienten als Orte der Haft und der Folter, sie waren Zentren der Zwangsarbeit und waren auch dazu da, jene zu ermorden, von denen die Nazis dachten, sie seien subversive Elemente, was manchmal auch Juden betraf. Im Gegensatz dazu dienten die Vernichtungslager (Belzec, Sobibor und Treblinka) ausschließlich einem einzigen Zweck: der totalen Ausrottung der Juden, unabhängig von ihrem Alter oder ihrem Geschlecht; Menschen, deren einziges ´Verbrechen´ darin bestand, als Juden geboren zu sein oder jüdische Vorfahren zu haben. Die Meuchelmorde, Abscheulichkei- ten und Bestialitäten, die von den Nationalsozialisten begangen wurden, er- reichten ihre Hybris in diesen Vernichtungslagern.“ (Yitzhak Arad) Mindestens 1,6 Millionen Juden wurden in diesen Vernichtungslagern inner- halb von nicht einmal zwei Jahren fabrikmäßig am nie abreißenden Förder- band der Menschenentsorgung ausgeraubt, vergast, vergraben und später verbrannt. Die Vernichtungslager Belzec, Treblinka und Sobibor wurden bis Ende 1943 schnell wieder dem Erdboden gleichgemacht, so als hätte es sie

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nie gegeben. Es gab weit und breit einfach keine Juden mehr, die man ermor- den hätte können. 97% der ungefähr nur 130 SS-Männer, die in diesen Ver- nichtungslagern so überaus effizient ihrem Mordhandwerk nachgingen, wa- ren vorher in den Tötungsanstalten der „Aktion T4“ im Einsatz. Ein Zufall?

Die „Aktion T4“ und die „Aktion Reinhard“ stehen nicht nur im Kontext einer zeitlichen Abfolge; sie sind untrennbar miteinander verbunden und be- dingen einander. Dies zu beweisen ist unter anderem ein Anliegen der weite- ren Ausführungen.

Wie aber lassen sich die Geschehnisse in den Vernichtungslagern belegen? Die oberste Prämisse für die SS-Männer in den Vernichtungslagern war ge- nau aus dem Grund einer möglichen Zeugenschaft, dass unter keinen Um- ständen irgendein Häftling das Lager lebend verlassen dürfe. Dennoch gelang es Einzelnen, das Unmögliche zu schaffen. Aus dem Vernichtungslager Bel- zec konnten zwei bis drei Häftlinge lebend entkommen. Aus dem Vernich- tungslager Sobibor gelang es ungefähr 150 Männern und Frauen beim Auf- stand am 14. Oktober 1943 lebend zu entkommen. Ungefähr ebenso viele Häftlinge konnten im August 1943 aus dem Vernichtungslager Treblinka ent- weichen. Die meisten haben dennoch nicht lange überlebt. Es ist höchst schwierig, zuverlässige Zeugen für die alles menschliche Den- ken bei Weitem übersteigenden Gräueltaten zu finden, so wie sie tatsächlich vor 80 Jahren stattgefunden haben. Der Zugang zu einer zuverlässigen Zeu- genschaft kann dabei höchst unterschiedlich sein. Mit Rudolf Reder, der im Vernichtungslager Belzec als Arbeitsjude in ver- schiedenen Lagerteilen gearbeitet hat, haben wir einen Augenzeugen für viel- fältige Vorkommnisse bis hin zum Verhalten namentlich bekannter SS-Män- ner. Er konnte mit viel Glück bei einer Transportmission entweichen und hat 1946 seinen Bericht der jüdischen Kommission vorgelegt. Es gibt diesen Be- richt nur in englischer und polnischer Sprache. Seine Schilderungen machen Gänsehaut. Thomas T. Blatt war als 14-Jähriger „Schuhputzjunge“ der SS-Männer im Vernichtungslager Sobibor eingeteilt. Einer seiner schlimmsten Peiniger war dort der SS-Mann Karl Frenzel. Das Besondere an dieser Zeugengeschichte ist, dass sich Thomas T. Blatt 40 Jahre später im Rahmen eines Interviews der Herausforderung einer Konfrontation mit dem Missetäter von damals stellt. Eine weitere Zugangsmöglichkeit zu einer unmittelbaren Zeugenschaft der immer noch jedes menschliche Denken bei weitem sprengenden Gescheh- nisse ermöglicht uns der sowjetische Journalist Wassilij Grossman. Er hat im

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Jahr 1944 das eingeebnete Vernichtungslager in Treblinka besucht und er- kundet. Dabei ist er auf vielfältige Spuren und eine Fülle von Aussagen von Zeit- und Augenzeugen gestoßen. Sein Bericht eröffnet ein erschütterndes Panorama dessen, was damals wirklich in Treblinka geschah. Die größte Authentizität vermitteln aber wohl die unfassbaren Aufzeichnun- gen von Salmen Gradowski. Er war zwar ein Häftling im „Sonderkom- mando“ von Auschwitz-Birkenau (nicht „Aktion Reinhard“), das heißt er musste in der Todeszone mithelfen, die vergasten Judenleichen zu entsorgen, er war aber auch der Einzige, der täglich Tagebuch darüber führte und diese Aufzeichnungen so geschickt verbergen konnte, dass sie erst nach der Befrei- ung des Lagers gefunden wurden. Seine Aufzeichnungen sind prototypisch für die Vernichtung der Juden insgesamt. Er sah sein Lebensziel in der To- deszone nur mehr darin, Zeugnis abzugeben für die Nachwelt, wohl wissend, dass er selbst das Lager nicht mehr lebend verlassen würde. Am 7. Oktober 1944 kam er als einer der Anführer des Aufstands des Sonderkommandos in Birkenau selbst ums Leben. Seine Geschichte kann aufgrund ihrer faktischen und künstlerischen Komplexität im Rahmen dieses Buches aber nicht detail- lierter dargestellt werden.

Der Beweis für die direkte Interdependenz zwischen den Tötungsanstalten der Euthanasie (Aktion T4) und den Vernichtungslagern des Holocaust (Ak- tion Reinhard) kann auf vierfache Weise erbracht werden: - Bei genauer exemplarischer Durchleuchtung der Lebensläufe und Berufsbi- ografien jener 90 SS-Männer, die in Sobibor an die 250.000 Juden jeden Alters fließbandgesteuert entsorgten, stellt sich ganz schnell heraus, dass 88 davon ihre „Lehre“ und ihr „Mordtraining“ in den Tötungsanstalten der „Aktion T4“ absolviert hatten. - Der Arbeitgeber, die geheime Abteilung und direkt dem Führerhauptquar- tier unterstellte Organisation „T4“ blieb sowohl während der Zeit der Eutha- nasie als auch während der Zeit in den Vernichtungslagern für diese SS-Män- ner immer gleich - Der in Minischritte aufgesplitterten Verlauf der „Strecke“ im Rahmen des Vernichtungsprozesses bei der Euthanasie wurde perfektioniert und dann auf die massenhafte fließbandgesteuerte Menschenentsorgung von Millionen Ju- den erfolgreich übertragen. Dies wäre ohne die Erfahrungswerte im Rahmen der Euthanasie unmöglich gewesen. - Unter den Männern der „Aktion T4“ wurden die abgebrühtesten, brutalsten und gefühlskältesten für die Mitarbeit in den Vernichtungslagern der „Aktion Reinhard“ ausgewählt und rekrutiert, so wie es die beabsichtigten Projekte verlangten. Frauen waren hierbei auf Täterseite keine zu finden.

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Zur Abrundung des Gesamtbildes gehören noch drei Schlüsselfiguren der Judenvernichtung im Rahmen der „Aktion Reinhard“: - als Prototyp einer SS-Karriere, die über die Mordanstalten der Euthanasie direkt in das Vernichtungslager Sobibor geführt hat. - Odilo Globocnik als Hitlers Manager des Todes, der als „Mann des Befehls“ zum blutigsten Einpeitscher der Judenvernichtung im Generalgouvernement wurde, ohne auch nur an einen einzigen Juden persönlich Hand anzulegen. - Hermann Höfle, der als Stabsführer von Odilo Globocnik den millionenfa- chen Massenmord im Rahmen der „Aktion Reinhard“ mitorganisiert hat. Nach dem Krieg beteuerte er, er habe nie einen einzigen Juden vernichtet. Die Berufsbiografien dieser drei SS-Männer werden aber im Rahmen der wei- teren Ausführungen nicht detailliert besprochen.

Die nun folgenden Ausführungen setzen sich in der Reihenfolge des Entste- hens detailliert mit den Vernichtungslagern der „Aktion Reinhard“ auseinan- der: Belzec März 1942, Sobibor Mai 1942 und Treblinka Juli 1942. Die Vorkommnisse und Geschehnisse in den Vernichtungslagern werden je- weils durch die Aussagen eines Zeitzeugen belegt und nachgewiesen.

In einem separaten Kapitel werden danach die Berufsbiografien aller an der „fließbandgesteuerten Menschenentsorgung“ beteiligten 90 SS-Männer des Vernichtungslagers Sobibor ausführlich dargestellt. Die Auswertung fördert aufschlussreiche Fakten und Details zu Tage und führt zu spannenden allge- meinen Schlussfolgerungen, die auch auf die SS-Männer der anderen zwei Vernichtungslager übertragen werden können.

Die Zusammenschau all dieser sonst losgelösten und aufgesplitterten Ein- zelinformationen zu einem großen Ganzen lassen vor unserem inneren Auge die Monstrosität des Gesamtgeschehens im „T4-Reinhard-Kosmos“ in all seiner Wucht erstehen. Dies ist kaum zu ertragen und nur auszuhalten, wenn wir es als ernsthafte Mahnung verstehen, ins Jetzt aufzuwachen und die heutigen kleinen und gro- ßen Vergehen gegen die unveräußerlichen Grundrechte der Menschlichkeit aufs Vehementeste anzuprangern und wo auch immer keinesfalls hinzuneh- men.

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Ein diabolischer Plan und seine Umsetzung

Als im Sommer 1937 ein Team von speziell ausgewählten Ärzten versuchte, die idealen Tötungsmethoden für „unwertes Leben“ an behinderten Klein- kindern auszutesten („Aushungern“ war zu langwierig, „Todesspritzen“ wa- ren zu teuer, „Vergasen“ erwies sich letztendlich als gut gangbarer Weg), konnte niemand Außenstehender ahnen, dass man sich eigentlich längst ge- danklich damit auseinander setzte, wie man einen praktikablen Weg finden könnte, um in möglichst kurzer Zeit möglichst ganz Europa möglichst schnell möglichst vollständig judenfrei zu machen. Nicht zufällig wurde der berüchtigte „Euthanasieerlass“ von Adolf Hitler, der nie Rechtsgültigkeit erlangte, willkürlich auf den 1. September 1939 zurück- datiert. Dieses Datum war der Tag, an dem Adolf Hitler Polen den Krieg erklärte. Zwei Tage später erklärten Frankreich und Großbritannien Deutschland den Krieg. Der Zweite Weltkrieg hatte begonnen. Adolf Hitler schloss ganz schnell einen Pakt und ein Stillhalteabkommen mit Russland: Deutschland erhielt den Westen und die Mitte Polens. Russland erhielt den die andere Hälfte. Beide Seiten führten mit den Juden nichts Gutes im Schilde. Damit erhielt Adolf Hitler zusätzlichen Zugriff auf das Leben und Schicksal von 2,4 Millionen polnischen Juden, was seine eigentliche Intention für den Angriff gegen Polen und später für den Russlandfeldzug gewesen sein dürfte. Nicht zufällig entstand nun eine ineinander verzahnte Parallelentwick- lung: während in den Tötungsanstalten der „Aktion T4“ mit wehrlosen be- einträchtigten Menschen die fließbandgesteuerte Menschenentsorgung im kleinen Maßstab ausgetestet und etabliert wurde, liefen im Osten die Vorbe- reitungsarbeiten für Phase 1 der längst zwischen Hitler, Himmler und Heyd- rich beschlossenen „Endlösung der Judenfrage“. Phase 2, die Endlösung selbst, wurde noch etwas aufgeschoben, bis man Klarheit darüber erlangt hatte, wie man dieses Ziel technisch und logistisch erreichen konnte. Vorerst wurden Juden aus Westeuropa und aus Polen selbst in sogenannten Ghettos zentriert. Wesentliches Kriterium war, dass diese Ghettos an wichtigen Ei- senbahnknoten liegen sollten, damit man im „Anlassfall“ einen unkompli- zierten und direkten Abtransport gewährleisten konnte. Dann wurde ein um- fassender Erlass verfügt, der Juden jeden Ortswechsel auf Todesstrafe hin verbot. Und zur Vervollständigung wurden alle Juden gezwungen, eine gut sichtbare Armbinde und einen Judenstern zu tragen, damit sofort zwischen Juden und Nichtjuden visuell unterschieden werden konnte. All dies passierte im Herbst 1939, während die Tötungsanstalten der „Aktion T4“ gerade erst für ihre zukünftigen Aufgaben baulich adaptiert und das Mordpersonal re- krutiert wurde. Aber man wusste, dass dort sehr rasch die Expertise entstehen würde für die Herausforderungen der später bevorstehenden industriellen 41

Vernichtung von Millionen von Juden. Alles war längst festgelegt und abge- stimmt. Ein Rädchen griff ins andere. Konnten die Experten der „Aktion T4“ ihre Lehrzeit und ihr Training als Judenmassakerprofis wohl rechtzeitig beenden? Die Zeit drängte. Wer heute einigermaßen vernünftig an die Dinge herangeht, muss feststellen, dass die „Aktion T4“ mit ihren sechs zentralen Tötungsanstalten in Bezug auf die Beseitigung der behinderten Patienten ei- gentlich keinen unmittelbaren Nutzen und Sinn ergab. Die Patientenmorde hätten im Rahmen der dezentralen Anstaltstötungen viel billiger und unauf- fälliger abgewickelt werden können, wie Tötungsärzte wie Siegfried Lonauer aus der Tötungsanstalt Schloss Hartheim selbst bestätigten. Also ging es in Wirklichkeit um etwas ganz Anderes. Es ging darum, professionelles Mord- personal auszubilden für die Endlösung der Judenfrage. Es ging darum, Er- fahrungen damit zu sammeln, wie die fabrikmäßige, fließbandgesteuerte Ent- sorgung von Millionen von Juden erfolgreich bewerkstelligt werden konnte. Und es ging um alle dafür begleitend notwendigen logistischen Maßnahmen. Die „Aktion T4“ war der erste Schritt für den Holocaust im Rahmen der „Aktion Reinhard“. Die SS-Männer der drei großen Vernichtungslager Bel- zec, Sobibor und Treblinka stammten zu über 95% aus den Tötungsanstalten der „Aktion T4“, wie in den weiteren Ausführungen am Beispiel des Ver- nichtungslagers Sobibor noch nachgewiesen werden soll. Sie wechselten nie den Arbeitgeber. Personell zuständig blieb immer die Hauptzentrale der „Ak- tion T4“, eine geheime Unterorganisation der KdF (Kanzlei des Führers) und war damit immer dem direkten Zugriff Adolf Hitlers unterstellt. Einfach weil die „Endlösung der Judenfrage“ das eigentliche „Herzensanliegen“ Adolf Hitlers war, oder sein paranoid-manisch gerittenes Steckenpferd. Während in den zentralen Tötungsanstalten der „Aktion T4“ im Frühjahr 1940 die ersten Gaskammern wie am Fließband täglich neu befüllt und wie- der entleert wurden, verfolgte man in den besetzten polnischen Gebieten in Bezug auf die Juden unterschiedliche, teils widersprüchliche Strategien. Da der von den Nazis eroberte Teil Polens möglichst schnell von Deutschen bewohnt und besiedelt werden sollte, musste dieser möglichst schnell juden- frei gemacht werden. So versuchte die Wehrmacht, die nicht erwünschten Juden über die Grenze nach Russland abzuschieben. Die Soldaten der Roten Armee akzeptierten diese aber nicht als Einwanderer und schickten sie um- gehend wieder an die Deutschen zurück. Bei diesem sinnlosen Hin und Her verloren wie nebenbei Tausende jüdische Menschen ihr Leben. Dann ging man dazu über, alle Juden, auch solche aus den anderen eroberten Gebieten Europas, im Bezirk Lublin zusammenzupferchen und in den großen Städten Polens in Ghettos zu sperren; ein österreichischer Politiker spricht in Bezug auf Asylsuchende heute wieder gerne von „konzentrierter Unterbringung“. Diese Maßnahme begründete man nach außen hin zur Ablenkung mit dem 42

Ansinnen, alle 4 Millionen Juden auf einmal nach Madagaskar auszusiedeln. Damit wollte man sich vor der Weltöffentlichkeit offiziell entlasten. Doch jeder Mensch mit gesundem Menschenverstand wird erkennen, dass es in Kriegszeiten unmöglich wäre, 10.000 Schiffladungen durch den Suezkanal unbeschadet nach Madagaskar zu bringen. Auch fehlten den Deutschen zu- dem einfach die Schiffe und die Zeit. Ganz abgesehen davon, dass 4 Millio- nen unversorgte Juden in Madagaskar innerhalb kürzester Zeit an Hunger, Krankheit und Seuchen zu Grunde gegangen wären – nur eben etwas lang- samer als in den Vernichtungslagern in Ostpolen. Nachdem der „Madagaskar-Plan“ zum Scheitern verurteilt war, einigte man sich für die Öffentlichkeit darauf, die überzähligen Juden in jene Gebiete im Osten auszusiedeln, die im Zuge des Russlandfeldzuges erobert werden wür- den. Man hatte dabei aber nicht berücksichtigt, dass es beim Vorstoß gegen Russland zu massiven Schwierigkeiten und Rückschlägen kommen würde. So konzentrierte man die Juden weiterhin in den Ghettos der größeren Städte des annektierten polnischen Generalgouvernements. Hinter den Kulissen – die Mordgesellen der „Aktion T4“ absolvierten in den Tötungsanstalten des Dritten Reiches gerade ihr Praxisjahr – experimentierte man aber auch in Po- len längst damit, brauchbare Methoden und Strategien für den Massenmord am jüdischen Volk auszutesten, zu verfeinern und zu etablieren. Zuerst ver- suchte man der Lage durch systematische Massenerschießungen Herr zu wer- den. Aber selbst am Höhepunkt dieser Mordinterventionen, beim Massaker vom 28. bis 30. September 1941 in Babij Jar konnte man unter Einsatz von hunderten Soldaten der deutschen Wehrmacht, die teilweise bei dieser Maß- nahme ihre psychische Gesundheit für immer einbüßten, „nur“ 33.000 Juden ermorden. Eine Strategie, die sich als unbrauchbar erwies für die Ermordung von Millionen Juden, vor allem auch, weil diese von der Öffentlichkeit unbe- merkt geschehen sollte. Am Massaker von Babij Jar hatten hunderte von Schaulustigen aus den Nachbardörfern am Mordgeschehen als Zaungäste teilgenommen. So blieben Massenerschießungen auch weiterhin nur eine „Begleiterscheinung“ des Holocaust. Es wurden auch sogenannte „Gas- busse“ serienreif gemacht. Dabei wurden die Abgase der Busse in die luft- dicht abgeriegelte Fahrgastzelle eingeleitet, während der Bus die ahnungslo- sen Passagiere zu ihrem Bestimmungsort transportierte: große Gruben, in denen die jämmerlich erstickten Fahrgäste dann unkompliziert entsorgt wer- den konnten. Man versuchte diese Mordmethode zuerst mit psychisch be- hinderten Menschen, später dann mit „Testjuden“. Der Mordvorgang verlief erfolgreich, hatte aber einen wesentlichen Nachteil: es konnten auf diese Art und Weise nur marginale Mordquoten erzielt werden. Der große Vorteil be- stand aber langfristig darin, dass man eine praktikable Methode für Massen-

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vergasungen gefunden hatte. Die Vergasung durch Motorenabgase war tech- nisch nicht aufwändig, leicht umsetzbar und theoretisch auch auf eine grö- ßere Anzahl von Delinquenten übertragbar. Es gab dann noch Versuche, wo Juden in Bunker gesperrt wurden, die mit Sprengstoff in die Luft gejagt wur- den. Eigentlich wusste man eine Zeit lang nicht wirklich, wie man das ge- samte jüdische Volk in kurzer Zeit ausrotten können sollte. Aber die Erfah- rungen aus den Tötungsanstalten der „Aktion T4“ sollten die Ideen bald be- flügeln. Während auch in den Tötungsanstalten die „Mordquote“ für die Übertragung auf die „Endlösung der Judenfrage“ weitaus zu gering war (6 Tötungsanstalten schafften in 18 Monaten mit ungefähr 500 Mordarbeitern „nur“ 70.000 Desinfektionen), hatte man im Laufe der Monate vom Ablauf her ein gut funktionierendes Förderband des Massenmords (= „die Strecke“) entwickeln können, das alle wichtigen Stationen von der Anlieferung des Menschenmaterials bis zu seiner dauerhaften Entsorgung beinhaltete: die fließbandgesteuerte Menschenentsorgung hatte sich etabliert. Man brauchte am Schluss nur die gesammelten Erfahrungen zu evaluieren, die Abläufe zu optimieren und die Mordkapazitäten zu potenzieren. Und fertig war das Konzept für die Vernichtungsmaschinerie. Man darf sich jetzt aber nicht vor- stellen, dass dieser Vorgang sachlich durchdacht und logisch überlegt verlief. Man verließ sich darauf, dass die Mordprofis der „Aktion T4“ durch ihr ge- sammeltes Knowhow von selbst darauf verfallen würden, optimale Lösungen vor Ort zu entwickeln. Man gab ihnen ein Höchstmaß an Freiheit, schuf möglichst flache Hierarchien, verlieh ihnen SS-Ränge in höheren Positionen und bezahlte sie überdurchschnittlich gut. Man wählte aus den Tötungsan- stalten der „Aktion T4“ jene Männer aus, die sich durch Brutalität, Unverfro- renheit, Gefühlskälte und Loyalität ausgezeichnet hatten und bot ihnen die Mitarbeit in den Vernichtungslagern im Rahmen der „Aktion Reinhard“ an. Man griff auf genau jenes Personal zurück, das man in den Tötungsanstalten so wirkungsvoll abgestumpft und abgebrüht hatte, damit es mit Freude am Aufbau und an der Verwirklichung der Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka mitwirken wollte. Kaum jemand von „Außen“ kam zu dieser verschworenen Gemeinschaft des Massenmordes noch hinzu. Genau zu dem Zeitpunkt, als abzusehen war, dass die Mitarbeiter der „Ak- tion T4“ für die Vernichtungslager im Osten dringend gebraucht werden würden, ließ sich Adolf Hitler im August 1941 gnadenhalber dazu überreden, die „Euthanasie“ in den zentralen Tötungsanstalten einzustellen und über mündliche Anweisung öffentlichkeitswirksam zu beenden. Man ging dann inoffiziell einfach zu anstaltsinternen Patientenmorden über, die bis 1945 weiteren 120.000 Menschen das Leben kosten sollten. Ein Zufall? Das war genau die Zeit, in der man im Generalgouvernement und später in den eroberten sowjetischen Gebieten systematisch mit der „Endlösung der 44

Judenfrage“ dadurch begonnen hat, dass man überall Juden in Horden zu- sammentrieb und unter den Augen der Öffentlichkeit im Rahmen von groß angelegten Massenerschießungen liquidierte. Bei diesen Massakern, teils auch durch Soldaten der Wehrmacht („Einsatzgruppen“) begangen, wurden oft zehntausende Juden innerhalb von nur zwei oder drei Tagen beseitigt und vor großen vorher von Juden selbst ausgehobenen Gruben erschossen. Als Reichsführer-SS Heinrich Himmler einmal bei einer solchen Aktion selbst zugegen war, musste er feststellen, dass es den jungen und wertvollen deut- schen Soldaten nicht weiter zumutbar wäre, ihre geistige Gesundheit dadurch zu gefährden, indem sie auf verzweifelte Mütter schießen mussten, die ihnen flehentlich ihre Kleinkinder entgegenhielten. Sie hatten die Anweisung, aus Gründen des Anstands immer vorher die Mütter und dann erst die Kinder zu erschießen. Es musste dringend eine bessere Möglichkeit für die Beseiti- gung der Juden im Generalgouvernement in Polen gefunden werden. So wurde Reinhard Heydrich (er ist der Namensgeber für die „Aktion Rein- hard“) Ende Juli 1941 von Reichsmarschall Hermann Göring dahingehend instruiert, alle notwendigen Vorbereitungsarbeiten in organisatorischer, fi- nanzieller und praktischer Hinsicht voranzutreiben, um eine Endlösung für die Judenfrage in ganz Europa zu gewährleisten. Es sollten alle miteinbezo- gen werden, die SS, die Nazipartei, die Ministerien, die Verwaltungsbehörden, die Wehrmacht und alle Polizeieinheiten. Am 12. Dezember 1941 hielt Adolf Hitler vor den Anführern der Nationalsozialistischen Partei eine Rede, in der er prophezeite, dass die internationale Verschwörung des Weltjudentums den zweiten Weltkrieg ausgelöst hätte und dass es von ihm nachhaltig dafür zer- stört werden würde. Am 7. Dezember 1941 hatte Japan Amerika angegriffen, am 11. Dezember 1941 erklärte Adolf Hitler den USA den Krieg. Damit war sein Krieg weltumspannend geworden. Schon am 20. Jänner 1942 fand die Wannsee-Konferenz statt, bei der die „Endlösung der Judenfrage“ auf allen Ebenen durchdiskutiert, grundsätzlich beschlossen und die ersten konkreten Schritte eingeleitet wurden. Es war Josef Bühler, der Staatssekretär des Ge- neralgouvernements in Polen, der sich dafür stark machte, in seinem Verant- wortungsbereich konkret mit der Ausrottung der Juden zu beginnen. Seine Juden seien nämlich eine Seuchengefahr, würden durch den Schwarzmarkt die Wirtschaft gefährden und seien sowieso für keine Form von Arbeit ein- setzbar. Sie seien im Weg, müssten Platz frei machen für Deutsche und müss- ten einfach weg. Das Wort „Vernichtung“ kam natürlich in den offiziellen Konferenzprotokollen nicht vor, aber die beteiligte Führungsriege des Drit- ten Reiches wusste ganz genau, wovon die Rede war. Die systematischen Vorbereitungsarbeiten für die definitive Vernichtung der Juden Europas hatte aber schon Monate vorher im Juli 1941 begonnen, als

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Reichsführer-SS Heinrich Himmler den ehemaligen, zwi- schendurch in Ungnade gefalle- nen und später von ihm selbst rehabilitierten Odilo Globocnik als SS- und Polizeiführer im Be- zirk Lublin installierte. Globocnik war als ehemaliger Gauleiter von Wien bestens ver- netzt und aufgrund der Ge- schehnisse Himmler gegenüber loyal bis in den Tod. Lublin war nicht irgendein beliebiger Dis- trikt des Generalgouverne- Odilo Globocnik, Gauleiter von Wien ments, sondern es war das in- dustrielle Zentrum der SS als Wirtschaftsmacht im Dritten Reich. Globocnik war in der ersten Zeit vorrangig für die Besiedelung seines Einflussbereiches durch deutsche Siedler zuständig. Als sich aufgrund der Rückschläge im Krieg gegen Russland zeigte, dass die Juden aus dem Distrikt Lublin nicht weiter nach Osten ausgesiedelt und vertrieben werden konnten, beschlossen Himmler und Globocnik sie im großen Stil zu vernichten. war in diesem teuflischen Bund der dritte Eingeweihte. Man wusste durch die Mas- senliquidationen von Juden in den eroberten russischen Gebieten, dass es nicht unmöglich ist, die Juden insgesamt zu eliminieren. Nur die Methode der Erschießung schien auf Dauer eher ungeeignet. Und man besann sich auf das, was man in den Tötungsanstalten der „Aktion T4“ zusammen mit den Experimenten mit den Gasbussen an Expertise angesammelt hatte. Das Pro- gramm der „Aktion T4“ wurde am 24. August 1941 von Adolf Hitler offiziell für beendet er- klärt. Die „Experten der Vernichtung“, die sich in den Tötungsanstalten der „Aktion T4“ profi- liert hatten, wurden mit ihrer ganzen „Verga- sungsexpertise“ innerhalb weniger Wochen in das Generealgouvernement im Osten versetzt. Dort begaben sie sich unmittelbar unter das Kommando von Odilo Globocnik. Die „Aktion Reinhard“ war geboren. Das erste reine Ver- nichtungslager, Belzec, das ausschließlich der Ausrottung des jüdischen Volkes diente, wurde SS-Mann Odilo Globocnik im November 1941, noch vor der Wannsee- Konferenz, etabliert. Sobibor und Treblinka sollten folgen. Und es hatte sich 46

erwiesen, dass die „Aktion T4“ nur der erste, systematisch geplante vorberei- tende Schritt auf dem Weg zum Holocaust gewesen war. Noch bevor die ersten konkreten Schritte zur Installation der Vernichtungs- lager der „Aktion Reinhard“ getan waren, wurden weiter im Osten in der zweiten Hälfte des Jahres 1941 in den eroberten sowjetischen Gebieten zehn- tausende Juden bei Pogromen und systematischen Massenexekutionen brutal liquidiert. Nicht besser erging es den Juden im Warthegau in Westpolen, wo zehntausende Juden in Chelmno, dem ersten funktionierenden reinen Ver- nichtungslager mit der „Gaswagenmethode“ desinfiziert und ins Jenseits be- fördert wurden. Die „Aktion Reinhard“ war nicht die Wirkung einer Reihe von eskalierenden Entscheidungen im Prozess hin zur Ausrottung des Juden- tums, sondern die Ursache für alles, was davor geschehen musste. Und das war zuallererst die „Aktion T4“ mit ihren sechs Tötungsanstalten. Die „Ak- tion Reinhard“ konnte sich nun aus den Startlöchern er- heben, die personelle Beset- zung war schon abgesichert und die Inbetriebnahme der Vernichtungslager konnte Anfang 1942 endgültig begin- nen.

Am 13. Oktober 1941 er- nannte Reichsführer-SS Globocnik erklärt die Lagerplanung Heinrich Himmler seinen Freund Odilo Globocnik zum Leiter der „Aktion Reinhard“. Himmler ver- mied jeglichen schriftlichen Befehl zur Vernichtung der Juden, seine Befehle erfolgten allesamt nur mündlich. Der gebürtige Salzburger SS-Hauptsturm- führer Hermann Höfle wurde als Stabsführer dazu berufen, die gesamte „Ak- tion Reinhard“ organisatorisch zu leiten. Zu seiner „Arbeitsplatzbeschrei- bung“ gehörten folgende Aufgabengebiete: Die Gesamtplanung der Depor- tationen und die Vernichtungsaktivitäten für die gesamte Operation. Die Or- ganisation des Personaleinsatzes. Der Aufbau der Vernichtungslager. Die Koordination der Deportationen der Juden aus verschiedenen Distrikten in die Vernichtungslager. Die Beraubung der Gefangenen und die Weitergabe von Wertgegenständen an die zuständigen übergeordneten Stellen. Der in- dustrielle Mord an den Juden in den Lagern. Die Transporte der Juden und deren Bewachung von überall aus Europa ge- hörten nicht zu den Aufgaben der „Aktion Reinhard“.

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Das „Personal“ für die „Aktion Reinhard“ bestand aus SS-Männern, die un- ter Globocniks Kommando standen, aus weiteren SS-Männern aus dem Ge- neralgouvernement und hauptsächlich aus den „Vergasungsexperten“ der „Aktion T4“, die nach wie vor der Kanzlei des Führers direkt unterstellt blie- ben. Diese brachten das Wissen und die Erfahrung mit, um die „fließband- gesteuerte Menschenentsorgung“ durch Vergasung professionell und effi- zient zu organisieren. Sie nahmen die Schlüsselpositionen ein in Bezug auf die Vernichtungsmethoden, die Planung des Massenmords und den Bau und die Konstruktion der Vernichtungslager. Somit übernahmen sie in der Folge auch das Kommando über die Vernichtungslager, zuerst Belzec, dann Sobi- bor und zum Schluss Treblinka. Die Männer der „Aktion T4“ wurden direkt bei den Leitern Bouhler und Brack angefordert und daraufhin zu Odilo Globocnik nach Lublin versetzt. Die erste Gruppe kam Ende Dezember 1941 dort an, weitere Gruppen folgten auf Globocniks Drängen hin im Som- mer 1942. Der Personalbedarf war groß, der Massenmord an Hunderttausen- den von Juden war schon in vollem Gange. Die Männer die aus der „Aktion T4“ in die Vernichtungslager kamen, erhielten SS-Uniformen und SS-Rang- abzeichen. Die Mehrheit dieser Männer war zwischen 1905 und 1915 gebo- ren und somit um die dreißig Jahre alt, als sie ihre Mordtätigkeit in den Ver- nichtungslagern aufnahmen. Sie mussten allesamt bei Höfle ein strengstes „Geheimhalteabkommen“ unterschreiben, das besagte, dass sie nie in ihrem Leben über ihre Tätigkeit in den Lagern sprechen dürfen. Auch ein absolutes Fotografierverbot war in dieser Vereinbarung inkludiert. Neben den deutschen und österreichischen SS-Männern aus der „Aktion T4“ gab es in den Vernichtungslagern noch ukrainische Wachmannschaften, die sogenannten „Trawniki-Männer“, die teils Kriegsgefangene waren und zu dieser Tätigkeit gezwungen wurden, teilweise aber auch angeworben wurden und freiwillig als Wachen dienten. Ab Sommer 1940 wurden in dem kleinen polnischen Ort Trawniki südöstlich der Stadt Lublin tausende Wachmänner ausgebildet. Hauptziel des Trainings dieser Wachmannschaften des SS- und Polzeiführers Odilo Globocnik war die möglichst rücksichtslose und brutale Bewachung und Behandlung von deportierten Juden. Sie kamen vorzugs- weise in den drei Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka zum Einsatz. Dort dienten sie offiziell als SS-Wachmänner und unterstanden so- mit der SS- und Polizeigerichtsbarkeit. Teilweise wurden sie kaum besser als die gefangenen Juden behandelt, sie wurden bei Ungehorsam mit einem Och- senziemer ausgepeitscht. Wer einen Fluchtversuch unternahm, wurde er- schossen. Die Aufgabengebiete der Trawniki-Wachmannschaften in den Vernichtungslagern umfassten die Außenbewachung, den Wachturmdienst und die Begleitung und Unterstützung des gesamten Vernichtungsprozesses.

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Sie trieben die Juden erbarmungslos mit Tritten, Stockschlägen, Peitschen- hieben und Gewehrkolben durch den Schlauch in die Gaskammern und hal- fen teilweise bei der Entsorgung der Leichen. Die Kontaktaufnahme mit den Juden war in jeglicher Form strengstens verboten und wurde hart bestraft. Die Grausamkeit der Trawniki-Männer den Juden gegenüber war teilweise größer als jene der SS-Männer. Sie tauchten ein in die wahnsinnsbeladene Athmosphäre der schrankenlosen Bestialität und genossen den Machtrausch der Willkür, über Leben und Tod der Juden mitzubestimmen. Ohne die Wachtätigkeit der Trawniki-Männer wäre es nicht möglich gewesen, ein Ver- nichtungslager, in dem täglich tausende Juden ins Gas geschickt wurden, durch nur 40 SS-Männer organisieren und kommandieren zu lassen. Als dritte Gruppe, die mittelbar am Mord der Juden beteiligt war, gab es noch die „Arbeitsjuden“ selbst. Diese wurden beim Aussteigen aus den Viehwag- gons zwangsselektiert und für ganz bestimmte Arbeiten eingeteilt. Dies konnte auch das Ausräumen der Leichen aus den Gaskammern und deren Transport auf Schubkarren in die Leichengruben sein. So mancher Arbeits- jude hat dabei Freunde oder sogar Mitglieder seiner eigenen Familie wieder- gefunden. Arbeitsjuden blieben in der Regel so lange am Leben, bis sie „ver- braucht“ waren und durch frische Arbeitsjuden ersetzt werden konnten. Da- von gab es eine Überfülle. Man brauchte nur den nächsten Transport abzu- warten. Außerdem mussten sie als direkte Zeugen des Massenmords aus- nahmslos beseitigt werden.

Lokalaugenschein mit Globocnik beim Vernichtungslager Sobibor 1942

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Für die Standortauswahl der Vernichtungslager gab es einige Rahmenbedin- gungen. Die Lager sollten nahe an jenen Orten, wo Juden im Generalgouver- nement konzentriert untergebracht waren (Ghettos), liegen. Sie sollten nahe an Eisenbahnlinien positioniert sein, um den unauffälligen Transport zu er- leichtern. Sie sollten möglichst weit weg von bewohnten Gebieten liegen, um die Geheimhaltung zu gewährleisten. Und sie sollten möglichst weit im Osten der besetzten Gebiete des Generalgouvernements liegen, damit man die Öf- fentlichkeit dahingehend besser täuschen konnte, die Juden seien nur umge- siedelt worden.

Als man beschlossen hatte, Vernichtungslager zu errichten, die ausschließlich das Ziel hatten, in möglichst kurzer Zeit mit möglichst geringem Aufwand möglichst viele Juden auszurotten, stand man vor einer Aufgabe, die völliges Neuland war. Nirgends auf der Welt und nirgends im Einflussbereich der Nationalsozialisten gab es Erfahrungen mit solchen „Mordfabriken“. Immer, wenn Neuland betreten wird, ist Pioniergeist gefragt: Kreativität, die Lust an ungewöhnlichen Herausforderungen und die Freude daran, lösungsorientiert zu handeln. All diese Herausforderungen wurden an die „Pioniere der fließ- bandgesteuerten Menschenentsorgung“ gestellt und sie ergriffen sie mit größter Begeisterung. Insbesondere das für militärische Zusammenhänge au- ßergewöhnliche Faktum, als „Gleicher unter Gleichen“ zu gelten und die fast unbeschränkte Freiheit bei der Umsetzung von konstruktiven Ideen seitens der Ausführenden schufen einen großen Kameradschaftsgeist, der auch emo- tionale Tragfähigkeit bewies. Sachlich und inhaltlich stimmte man innerhalb der Mitarbeiter der ehemaligen „Aktion T4“ überein. Wer schon bisher keine Skrupel gehabt hatte, behinderte Menschen, die als „Minusvarianten“ nur Geld kosteten, systematisch im Rahmen seines Tagwerks zu ermorden, der hatte erst recht keine Bedenken, die Juden als Repräsentanten des Bösen schlichtweg dorthin zu schicken, wo sie hingehörten: über den Jordan und ab in ihre angestammte Heimat, die Hölle. So wie es sich der Führer Adolf Hitler wünschte und ausgemalt hatte.

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Die Errichtung des Vernichtungslagers Belzec

Bahnhof von Belzec 1942 Belzec war als erstes Vernichtungslager eigentlich ein „Experimentierlager“. Hier wurden die Methoden der fließbandgesteuerten Menschenentsorgung von den Experten der „Aktion T4“ erstmals im großen Maßstab entworfen, ausprobiert und etabliert. Damit sollte eine Art „Schablone“ für die Repro- duktion weiterer Vernichtungslager geschaffen werden. Man wusste damals ja noch nicht, wie viele solcher Lager man eigentlich benötigen würde. Der erste Lagerkommandant war Christian Wirth, ursprünglich Büroleiter in den Tötungsanstalten Bernburg und Hartheim und später Inspekteur aller sechs Tötungsanstalten im Dritten Reich. Er war es auch, der die Idee der perma- nenten Gaskammern („Aktion T4“) mit der Vergasung durch die Abgase be- weglicher Panzermotoren (Gasbusse) kreativ kombinierte und so eine gang- bare Methode für billige, autonome und von Zulieferungen teuren Kohlen- monoxidgases unabhängige Massenvergasungen erfand. Die systematischen Rahmenbedingungen bestimmten die Ausgestaltung des Lagers in seiner inneren Struktur stark mit. Eine grundlegende Voraussetzung für das Funktionieren des industriellen Massenmordes in den Gaskammern war, dass die als Opfer in den Zügen und Viehwaggons herbeigeschafften Juden nicht voraussehen konnten, was man mit ihnen wirklich vorhatte. Man gab sich anfangs große Mühe, die Ju- den beim Aussteigen auf der „Rampe“ in Sicherheit zu wiegen und ihnen vorzumachen, dass sie sich nur für einen Tag in einem Durchgangslager be- fänden und dann weiter in den Osten in ihre neue Heimat fahren würden. Aus Gründen der Seuchenprophylaxe wäre es nötig, zu duschen, was vielen Juden nach tagelanger Fahrt durchaus willkommen war. Man versicherte Ihnen, dass sie ihre Kleider und Wertgegenstände nach dem „Brausebad“ wieder verlässlich zurückerstattet bekämen. Viele der Juden waren erleichtert, auch weil die Baracken des Lagers einen durchaus friedlichen und arglosen

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Eindruck vermittelten. Die Deportierten wurden über ihre Vernichtung so lange getäuscht, bis sie sich unentrinnbar im „Schlauch“ und daraufhin in den Gaskammern eingeschlossen wiederfanden.

Lagerplan Belzec

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LEGENDE:

Lager I: Empfangs- und Administrationsbereich 1) Eingangstor 2) Wachzentrale 3) Unterkunft der Trawniki-Wachsoldaten 4) Friseur, Krankenstation und Zahnarzt für die SS-Männer und Trawniki- Wachsoldaten 5) Küche für die Trawniki-Wachsoldaten 6) Die „Rampe“ 7) Garage für KfZ und LKW 8) Schneider- und Schusterwerkstatt für die SS-Männer und die Trawniki- Wachsoldaten 9) Baracken für die „Arbeitsjuden“ 10) Küche und Waschküche für die „Arbeitsjuden“ 11) Lagerräume für die den Juden abgenommenen Habseligkeiten 12) Öffentlicher Galgen für ungehorsame „Arbeitsjuden“ 13) Auskleideplatz und Auskleidebaracke 14) Haarschneidebaracke für die Frauen 15) Platz mit Stacheldraht als Eingang zum „Schlauch“

Lager II: Vernichtungsbereich 16) Gaskammern 17) Vergasungsmotorraum 18) Leichengruben 19) Panzergraben als Leichengrube benützt 20) Roste zur Leichenverbrennung 21) Baracken für die „Arbeitsjuden“ im Todeslager 22) Küche für die „Arbeitsjuden“ im Todeslager

Außerhalb des Lagers: 23) Unterkünfte der SS-Männer und Büros des Kommandanten 24) Ehemaliger Lokschuppen: Lagerbereich für die wertvollen Gegenstände, die den Juden geraubt wurden

Ein weiteres Prinzip des Vernichtungsvorganges war das Tempo. Alles sollte unheimlich schnell ablaufen. So schnell, dass die ankommenden Juden weder Widerstand leisten noch flüchten konnten, da sie nicht verstehen konnten, was da eigentlich in Wirklichkeit mit ihnen geschah. Also durften die „Wege“ nicht weit sein. Belzec maß nur 275 mal 265 Meter, das sind etwas mehr als 70.000 Quadratmeter. Auf dieser kleinen Fläche wurden über 400 000 Juden 53

vernichtet. Diese Beschleunigung des Vernichtungsprozesses hatte nebenbei noch einen weiteren großen Vorteil: sie vergrößerte die Vernichtungskapazi- täten ganz eminent. Da man in den Tötungsanstalten der „Aktion T4“ feststellen musste, dass der eigentliche Mord- und Beseitigungsprozess den deutschen SS-Männern psy- chisch nicht zuzumuten war (insbesondere die Arbeit der „Brenner“), ging der Lagerkommandant Christian Wirth in Belzec dazu über, die Juden dazu zu zwingen, die manuelle Arbeit, die mit dem Vernichtungsvorgang einher- ging, selbst zu bewerkstelligen. Sie mussten die entstellten und ineinander verkrampften Körper der erstickten Mordopfer aus den Gaskammern zerren, mit Schubkarren und großen Leiterwagen zu riesigen Leichengruben karren, die Toten hineinwerfen und schichtweise mit Erde zudecken. Diese „Arbeits- juden“ im Sonderkommando wurden immer nur für ein paar Tage eingesetzt, bis sie selbst ermordet wurden. Sie hatten im Vernichtungsareal eine eigene Baracke als Unterkunft und wurden vom Rest des Lagers aus Geheimhal- tungsgründen strengstens isoliert. Neben diesen systemischen Gestaltungsbedingungen gibt es auch die äuße- ren Bedingungen der Abläufe, die nötig sind, um einen effizienten Vernich- tungsprozess reibungslos abwickeln zu können. Ein architektonisches Grundgesetz besagt: Form folgt Funktion. Das bedeutet, dass die Ausgestal- tung eines guten Vernichtungslagers den vorgesehenen Abläufen möglichst ideal entsprechen soll. In den Tötungsanstalten der „Aktion T4“ hatte man schon erfolgreich einen reproduzierbaren „Stationenbetrieb“ der fließband- gesteuerten Menschenentsorgung etablieren können. Durch den Personal- transfer von der „Aktion T4“ zur „Aktion Reinhard“ wurde diese Expertise beinahe ohne Reibungsverluste erfahrungsgetragen direkt weitertranspor- tiert. Daraus ergeben sich in der Adaption für die Erfordernisse eines Ver- nichtungslagers folgende Stationen auf der „Strecke der industriellen Ver- nichtung von Menschen“: 1) Selektion der Mordopfer – Konzentration von Juden aus dem Generalgouvernement, spä- ter aus ganz Europa, in Ghettos; 2) Anlieferung des Menschenma- terials – Rampe; 3) Täuschung der Mordopfer – Ansprache; 4) Aus- wahl von Arbeits- und Hofjuden; 5) Abgabe von Kleidung und Wertsachen – Entindividualisie- Verladung in Viehwaggons rung der Mordopfer; 6) Hetze

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durch den Schlauch – Brechen jeden Widerstands; 7) Einschluss im „Brause- bad“ – grausamster Erstickungstod durch Vergasung; 8) Entleeren der Gas- kammern – Abtransport der Mordopfer; 9) Entsorgung der Mordopfer – Vergraben in riesigen Leichengruben, später Verbrennen auf überdimensionierten Rosten; 10) Ende der Vernichtungsaktion – Beseiti- gung aller Spuren. Damit konnte in den Grundzügen die industri- elle Massenvernichtung von Menschen zur Anwendung gebracht werden. Schon in den Tötungsanstalten der „Aktion T4“ hatte man den „arbeitsteiligen Mordprozess“ zu seiner höchsten Blüte gebracht, indem man den Mordvorgang in lauter kleine Schritte aufsplit- terte, die zahnradmäßig wie auf einem „För- Massengrab mit vergasten Juden derband des Todes“ reibungslos ineinander- griffen. Auf einer solchen „Fertigungsstraße des Massenmordes“ passierte etwas beinahe Übersinnliches: es gab plötzlich keinen einzelnen Mörder mehr. Nicht die Soldaten in den Ghettos, die die Juden zusammentrieben waren Mörder. Nicht die Polizeitruppen, die das Verladen der Juden überwachten. Nicht die Lokführer, die die Viehwaggons in die Vernichtungslager brachten, waren Mörder. Nicht das Bahnhofsperso- nal, das die ankommenden Züge koordinierte. Nicht die SS-Männer und Ar- beitsjuden, die die ankommenden Juden aus den Waggons herausholten. Nicht die SS-Männer, die beschwichtigende und irreführende Ansprachen hielten, waren die Mörder. Nicht, die Trawniki-Männer, die den gesamten Ablauf auf der „Strecke“ zu bewachen hatten. Nicht die Hofjuden, die die SS-Männer versorgen und bedienen mussten. Nicht die SS-Männer, die das Auskleiden und das Haareschneiden der Juden organisierten und überwach- ten. Nicht jene, die gegen Quittung von den Juden ihre Wertsachen entge- gennahmen. Nicht die Arbeitsjuden, die in den Sortierbaracken die Kleidung und das persönliches Hab und Gut der inzwischen nackten Juden sortieren mussten. Nicht das Wachpersonal, das die Juden durch den „Schlauch“ von der Entkleidungsbaracke direkt zu den Eingängen der Gaskammern trieb. Auch diejenigen, die die Juden in die Räume der „Brausebäder“ hineindräng- ten, waren keine Mörder. Und nicht die SS-Männer, die diese Räume luftdicht verriegelten. Auch jemand, der einen Panzermotor anwirft und zum Laufen bringt ist kein Mörder. Die Arbeitsjuden, die nach einer halben Stunde die nur von außen zu öffnenden Entladerampen öffneten, waren erst recht keine Mörder. Die Juden, die die Leichen abtransportieren mussten, waren keine Mörder und auch nicht die, die diese Leichen in riesigen Gruben vergraben 55

mussten. Bei einem Geschehen, bei dem wie von Gespensterhand innerhalb kürzester Zeit tausende Juden als Mordopfer „hergestellt“ wurden, gab es plötzlich niemand mehr, der persönlich einen Mord begangen hatte. Die „Aufsplitterung“ des Mordvorganges in ganz kleine „Arbeitssequenzen“ führte dazu, dass es im eigentlichen Sinne keine Mörder mehr gab, da jeder Beteiligte wie ein Rädchen in einem teuflischen Getriebe nur einen ganz klei- nen, überschaubaren Bereich des Gesamtprozesses abzudecken hatte. Diese diabolische Qualität des Holocaust, die auf den Erfahrungen der „NS-Eutha- nasie“ beruhte, führte zu einem historisch noch nie dagewesenen Phänomen: plötzlich gab es einen Genozid, aber keine Mörder dazu. Dies ist auch einer der Gründe, warum sowohl die Verantwortlichen der „Aktion T4“ als auch der „Aktion Reinhard“ meist mit keinen, höchst gering bemessenen oder viel zu spät erfolgten Strafen davonkamen.

Betrachtet man die Lagepläne der Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka, so lässt sich zwar eine gewisse Varianz feststellen, grundsätzlich stimmen sie aber schablonenhaft überein. Ohne die Erfahrungen und das Wissen der Tätigkeiten in den Mordanstalten der „Aktion T4“ wäre es un- möglich gewesen, in nur drei Vernichtungslagern in nicht einmal 2 Jahren beinahe 2 Millionen Juden industriell zu ermorden. Diese Erfolgsbilanz bleibt bis heute einzigartig in der Menschheitsgeschichte.

Nach der Aufbau- und Entwicklungsphase zwischen Dezember 1941 und Februar 1942 wurde in Belzec im März 1943 mit der regulären Judenvernich- tung begonnen. Bis Dezember 1942 wurden an diesem Ort des Grauens un- gefähr 400.000 Juden im Rahmen des industriellen Massenmords systema- tisch vernichtet. Dann wurde dieses Vernichtungslager aufgelassen und so überzeugend dem Erdboden gleichgemacht, dass man über Jahrzehnte hin keine Spuren mehr auffinden konnte. Nicht zuletzt, weil nur zwei Juden die- sem Lager lebendig entkamen. Eine Gefangene weigerte sich Zeit ihres Le- bens, öffentlich darüber zu berichten, was ihr dort widerfahren war. Der zweite Überlebende, Rudolf Reder, berichtete einer Kommission in Krakau 1946, nachzulesen in dem Buch „Wie ich ein geheimes Vernichtungslager der Nazis überlebte“ (nur als E-Book in Englisch erhältlich), über den Horror des industriell organisierten Massenmordes an den Juden und auch darüber, wie ihm auf mysteriösen Wegen die Flucht gelang.

Dies ist der einzige Augenzeugenbericht eines Überlebenden aus dem Ver- nichtungslager Belzec.

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Rudolf Reder – Die einzige Zeugenaussage eines überlebenden Ge- fangenen aus dem Vernichtungslager Belzec

Zur Person: Rudolf Reder wurde am 4. April 1881 in Dębica/Polen geboren. Die meiste Zeit seines Lebens verbrachte er in Lemberg/Lviv. Bis 1910 betrieb er dort eine Seifenfabrik. Er wurde im August 1942 mit seiner Familie aus Lemberg in das Vernichtungslager Belzec deportiert – seine Frau, sein Sohn und eine Tochter wurden am gleichen Tag vergast, seine ältere Tochter überlebte den Krieg. Reder war zu der Zeit im Lager, als massenhaft Menschen ermordet wurden. Im November 1942 floh er und versteckte sich bei seiner ehemaligen Vermieterin, die er später heiratete. Er änderte 1949 seinen Namen in Roman Robak und verließ 1950 zusammen mit seiner zweiten Frau Polen (Krakau). Sie lebten einige Monate in Israel und wanderten dann nach Kanada aus. Ro- bak starb in den 1970er Jahren. Er war der einzige Zeuge, der bei den Münch- ner Belzec-Prozessen 1963/64 in dieser Sache aussagte. Die zweite Überle- bende Sara Ritterbrand, die eine schriftliche Aussage gemacht hatte, reiste nicht an. Bis auf Josef Oberhauser, den Mitarbeiter des Lagerkommandanten Wirth, wurden alle Angeklagten, wegen des sogenannten „Befehlsnotstands“ bzw. „Putativnotstands“ freigesprochen. (https://de.wikipedia.org/Belzec-Prozess) (http://www.deathcamps.org/belzec/belzectrials.html)

Die Aussage von Rudolf Reder vor der Jüdischen Historiker-Kommission 1946 in Krakau/Polen:

„Im August 1942 hatten wir noch kein separates Ghetto in Lemberg. Einige Straßen waren aber ausschließlich Juden vorbehalten. Sie stellten einen jüdi- schen Bezirk dar, der aus einigen Straßen im dritten Lemberger Bezirk be- stand. Wir lebten dort in Angst und litten unter ständigen Qualen. Zwei Wo- chen vor der Deportation redeten die Menschen schon hinter vorgehaltener Hand über das kommende Unglück. Wir waren verzweifelt. Wir wussten schon, was das Wort „Umsiedelung“ bedeutete. Man erzählte sich, dass es einer der Arbeiter geschafft hatte, aus dem Zwangsarbeiterkommando in Bel- zec zu entkommen. Er war einer von jenen, die die Kammern für das Todes- lager gebaut hatten. Er sprach über ein „Badehaus“, das in Wirklichkeit ein Gebäude mit Gaskammern war. Er sagte voraus, dass von denjenigen, die man mit Gewalt dorthin deportierte hatte, niemand je zurückkommen würde. Man erzählte sich auch, dass einer der Ukrainer, der dort mit dem Ermorden von Juden beauftragt war, seiner Freundin berichtet hatte, was in Belzec vor

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sich ging. Seine entsetzte Freundin hielt es für ihre Pflicht, das Gesagte wei- terzuverbreiten und die Juden zu warnen. So kam die Nachricht über Belzec schon vorher zu uns. Viele Tage vor dem Tag der Deportation liefen Menschen in Panik in den Straßen des jüdischen Bezirks umher und fragten sich gegenseitig: „Was kön- nen wir tun? Was können wir tun?“ Dann kam der 10. August 1942. Am frühen Morgen sperrten Wachmänner alle Straßen, die aus dem Bezirk herausführten, ab. Wenige Schritte vonei- nander entfernt patrouillierten Gestapo, SS und die Einsatztruppen der Wehrmacht zu fünft oder zu sechst im jüdischen Viertel. Die ukrainische Mi- liz half ihnen bereitwillig dabei. Nur einige wenige „Glückliche“ konnten auf offiziellem Weg mit Ausreisegenehmigungen entrinnen. Die Mehrheit suchte in ihrer Todesangst nach irgendeiner anderen Form der Rettung, nach irgend- einem Versteck oder einer Möglichkeit zur Flucht. In der Zwischenzeit hat- ten Patrouillen tagelang Haus um Haus durchsucht, jeden Schlupfwinkel, je- des Versteck kontrolliert. Einige Gestapo-Männer erkannten die Stempel für ein Bleiberecht an, andere aber nicht; jene, die keine Stempel hatten, und jene, deren Stempel nicht anerkannt wurden, wurden mit Gewalt aus ihren Häu- sern getrieben – man erlaubte ihnen nicht einmal die nötige Kleidung oder etwas Proviant mitzunehmen. Im nächsten Schritt sperrte die Gestapo Mas- sen von Menschen zusammen. Wer Widerstand leistete wurde liquidiert. Ich war in meinem Betrieb und arbeitete, aber ich hatte keinen Stempel – daher schloss ich die Tür ab und machte sie nicht auf, obwohl ich hörte, wie man Menschen erschoss. Die Gestapo trat die Tür ein, fand mich in irgendeinem Versteck, schlug mir mit einer Peitsche auf den Kopf und nahm mich fest. Sie quetschten uns alle so eng auf offenen Lastwagen zusammen, dass wir uns weder bewegen noch atmen konnten und brachten uns so zum Lager Janowska. Es war schon Abend. Man versammelte uns in einem engen Kreis auf einer großen Wiese – wir waren ungefähr 6.000 Juden. Wir mussten uns hinsetzen, und es war verboten zu stehen, sich zu bewegen oder auch nur einen Fuß oder einen Arm zu rühren. Ein Scheinwerfer war von einem Wach- turm aus auf uns gerichtet. Es war tag- hell. Wir waren von bewaffneten SS- Männern umgeben und saßen unglaub- lich dicht beieinander, alle zusammen, Junge und Alte, Frauen und Kinder un- terschiedlichsten Alters. Immer wieder fielen Schüsse, wenn irgendwer einfach aufgestanden war. Vielleicht wollte er Nachtlager sich auch absichtlich erschießen lassen.

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So verharrten wir reglos wir die ganze Nacht. Es herrschte Totenstille. Weder die Kinder noch die Frauen weinten. Um sechs Uhr morgens befahl man uns, aus dem feuchten Gras aufzustehen und Vierergruppen zu bilden. Die langen Reihen der Gefangenen gingen zum Bahnhof Kleparów. Gestapo und Ukra- iner umschlossen uns in dichten Reihen. Niemand konnte entkommen. Sie drängten uns auf die Rampe des Bahnhofs. Ein langer Güterzug wartete dort schon auf uns. Es waren fünfzig Waggons. Sie begannen uns zu verladen. Die Türen der Güterwaggons waren geöffnet worden. Die Gestapoleute standen an beiden Seiten der Türen – zwei an jeder Seite mit Peitschen in den Händen – und schlugen jeden, der einstieg, ins Gesicht und auf den Kopf. Die Gesta- poleute schlugen ohne Ausnahme auf die Leute ein. Wir hatten alle Striemen im Gesicht und Beulen auf dem Kopf. Die Frauen schluchzten, die Kinder weinten und drückten sich an ihre Mütter. Unter uns waren auch Frauen mit Säuglingen. Als wir von den brutal zuschlagenden Gestapomännern zur Eile angetrieben wurden, stolperten wir übereinander. Der Einstieg war hoch, und die Menschen mussten hinaufklettern und stießen sich gegenseitig weg – wir waren selbst in Eile, wir wollten alles möglichst rasch hinter uns bringen. Ein Gestapo-Mann mit einem Maschinengewehr saß auf dem Dach eines jeden Waggons. Die Gestapo schlug die Leute und zwang jeweils Hundert in einen Waggon einzusteigen. Es ging alles so schnell, dass es nicht länger als eine Stunde dauerte, um einige tausend Menschen zu verladen. In unserem Transport waren viele Männer, eingeschlossen Angestellte mit verschiedenen Arbeitsbescheinigungen, die angeblich „sicher“ gewesen wa- ren, aber auch kleine und größere Kinder, Mädchen und Frauen. Schließlich versiegelten sie die Waggons. Eingezwängt in eine Masse zittern- der Menschen standen wir eng aneinander gedrückt praktisch aufeinander. Es war stickig und heiß – wir wurden fast verrückt, weil wir kaum Luft beka- men. Kein einziger Tropfen Wasser, kein Krümel Brot. Der Zug setzte sich um acht Uhr morgens in Bewegung. Ich hatte gesehen, dass der Heizer und der Ingenieur in der Lokomotive Deutsche waren. Der Zug fuhr schnell, aber uns kam es sehr langsam vor. Er hielt dreimal: in Kulików, Żółkiew und Rawa Ruska. Die Haltestationen waren vielleicht nötig, um den Zugverkehr zu re- geln. Während der Zug hielt, kam die Gestapo von den Dächern und verhin- derte, dass sich Anwohner, die uns helfen wollten, dem Zug näherten. Sie gestatteten uns keinen einzigen Tropfen von dem Wasser, das Menschen in den Bahnhöfen aus Barmherzigkeit durch das kleine vergitterte Fenster den- jenigen reichen wollten, die vor Durst fast bewusstlos waren. Der Zug fuhr weiter. Keiner sagte ein Wort. Wir ahnten, dass wir in den Tod gingen, dass uns nichts mehr retten konnte; wir waren apathisch, nicht einmal ein Stöhnen war zu hören. Wir dachten alle nur an das Eine: an eine Flucht- möglichkeit. Aber es gab keine. Der Güterwaggon, in dem wir fuhren, war 59

neu, das Fenster so eng, dass ich mich nicht durchzwängen hätte können. Es war anscheinend möglich, die Türen anderer Waggons aufzustemmen, da wir Schüsse hörten, die alle paar Minuten auf Flüchtende abgegeben wurden. Niemand sagte irgendetwas zu irgendjemandem, niemand tröstete die jam- mernden Frauen, niemand hinderte die Kinder am Schluchzen und Weinen. Wir wussten es alle: Wir gingen in den sicheren und in einen schrecklichen Tod. Wir wünschten, es sei schon vorbei. Vielleicht gelang es jemandem zu flüchten. Ich weiß es nicht… Eine Flucht war höchstens noch aus dem Zug heraus möglich. Gegen Mittag erreichte der Zug den Bahnhof von Belzec. Es war ein kleiner Bahnhof. Um ihn herum standen einige Häuschen. Die SS-Männer wohnten in die- sen kleinen Häusern. Belzec lag auf der Linie Lublin-Tomaszów, fünfzehn Kilometer von Rawa Ruska entfernt. Im Bahnhof Bel- Endstation Belzec zec bog der Zug von der Hauptli- nie auf ein Gleis ab, das noch einen weiteren Kilometer weiter verlief und direkt durch ein Tor auf das Gelände des Vernichtungslagers führte. Ukrai- nische Bahnarbeiter lebten auch in der Nähe des Bahnhofs Belzec; dazu gab es ein kleines Postamt. Ein alter Deutscher mit einem dichten schwarzen Schnauzbart stieg in Belzec in die Lokomotive – ich weiß nicht, wie er hieß, aber ich würde ihn sofort wiedererkennen, denn er sah wie ein Henker aus. Er übernahm den Zug und fuhr ihn direkt in das Lager. Es dauerte zwei Mi- nuten, um in das Lager zu kommen. Ganze vier Monate lang würde ich im- mer den gleichen Verbrecher vor meinem inneren Auge sehen. Das Gleis verlief durch Felder. Zu beiden Seiten waren freie Flächen, kein einziges Gebäude stand dort. Das ganze Gebiet zwischen Belzec und dem Lager war von der SS übernommen worden. Es war niemandem gestattet, sich dort aufzuhalten. Zivilpersonen, die versehentlich dorthin gelangten, wurden einfach erschossen. Der Zug war auf einen Platz gefahren, der unge- fähr einen Quadratkilometer betrug, und von zwei Meter hohen Eisenzäunen mit Stacheldraht umgeben war. Der Draht stand nicht unter Strom. Man fuhr durch ein weites stacheldrahtbewehrtes Holztor auf den Platz. Neben dem Tor war eine Baracke, in der sich ein Wachposten mit einem Telefon befand. Vor der Baracke standen mehrere SS-Männer mit Hunden. Wenn ein Zug durch das Tor gefahren war, dann machte es der Wachmann zu und ging in die Baracke. Und dann fand der „Empfang des Zuges“ statt. Einige Dutzend

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SS-Männer öffneten die Waggons und schrien „Los!“. Sie trieben die Men- schen mit Peitschen und Gewehrkolben aus den Zügen. Die Türen der Wag- gons waren einen Meter über dem Boden, und alle, die hinausgetrieben wur- den, Junge und Alte gleichermaßen, mussten herunter auf den Boden sprin- gen. Dabei brachen sie sich manchmal ihre Arme oder Beine. Die Kinder taten sich weh, alle fielen, waren schmutzig, erschöpft und panisch. Zusätz- lich zur SS waren die sogenannten „Kapos“ im Dienst. Das waren die Auf- seher des bestehenden jüdischen Todeskommandos im Lager. Sie waren nor- mal gekleidet und hatten keine Lager-Abzeichen. Die Kranken, die Alten und die kleinen Kinder sowie alle anderen, die nicht ohne Hilfe gehen konnten, wurden auf Bahren gelegt und am Rand von riesigen Gräbern abgestellt. Der SS-Mann Fritz Jirmann erschoss sie dort und stieß sie dann mit dem Gewehr- kolben in das Grab. Jirmann war ein Spezialist, wenn es darum ging, alte Menschen und kleine Kinder zu töten – er war ein großer Gestapo-Mann, dunkelhaarig und gutaussehend, mit einem normalen Gesichtsausdruck. Er lebte wie die anderen in Belzec am Bahnhof, in einem kleinen Haus, ganz allein und wie die anderen ohne Familie oder Frau. Er tauchte früh am Morgen im Lager auf, verbrachte den ganzen Tag dort und kümmerte sich um die Todestransporte. Sobald die Menschen ausgela- den waren, wurden sie auf dem Platz versammelt – eingekreist von bewaff- neten ukrainischen Trawniki-Wachsoldaten und Jirmann hielt die immer glei- che Rede. Es herrschte Totenstille. Er stand nahe bei der Menge von ange- lieferten Juden. Jeder wollte zuhören; plötzlich keimte Hoffnung in uns auf: „Wenn sie zu uns sprechen, dann werden wir vielleicht weiterleben, vielleicht wird es irgendeine Arbeit geben, vielleicht…“ Jirmann sprach sehr laut und deutlich: „Ihr geht’s jetzt baden, nachher werdet ihr zur Arbeit geschickt“. Das war alles. Jeder fasste sich und war zufrieden, dass man nun doch arbeiten sollte. Man klatschte. Ich erinnere mich an seine Worte, die er tagein, tagaus wiederholte, gewöhnlich drei Mal am Tag; er wie- derholte sie die vier Monate über, in denen ich da war, immer gleich und immer wieder. Es war ein Moment der Hoffnung und der Täuschung. Für einen Moment atmeten die Menschen auf. Es herrschte betretene Stille. Die ganze Menschenmenge ging schweigend weiter, die Männer direkt über den Platz mit einem Wegweiser zu einem Gebäude, auf dem in großen Buchsta- ben geschrieben stand: „Bade- und Inhalationsräume“. Die Frauen gingen einige zwanzig Meter weiter zu einer großen Baracke (30×15 Meter). Den Frauen und Mädchen wurde in diesen Baracken das Haar geschoren. Sie gingen hinein, ohne zu wissen, warum man sie hineinge- führt hatte. Die Ruhe und die Stille dauerten noch eine Weile an. Nachträg- lich sah ich, dass ihnen nur einige Minuten später schlagartig alles klar wurde – als man ihnen Holzschemel gab und sie in den Baracken aufreihte, als man 61

ihnen befahl, sich zu setzen und acht jüdische Friseure (Roboter, schweigend wie ein Grab) zu ihnen kamen, um ihr Haar bis zum Schädel abzurasieren. Keine von ihnen und keiner der Männer, die auf ihrem Weg zu den Kammern waren, konnten noch irgendwelche Zweifel haben.

Der Weg in den "Schlauch" Sie gingen alle ins Gas – bis auf einige wenige Männer, die man als notwen- dige Facharbeiter ausgewählt und zur Seite genommen hatte. Alle von ihnen gingen in den sicheren Tod. Kleine Mädchen mit langen Haaren wurden zum Rasieren getrieben, während die kleinsten Mädchen, die kaum Haare hatten, direkt zusammen mit den Männern in die Gaskammern getrieben wurden. Plötzlich – ohne ein Zwischenstadium zwischen der Hoffnung und der ab- soluten Verzweiflung – hörte man Jammern und Kreischen. Viele Frauen wurden vom Wahnsinn gepackt. Aber viele andere Frauen gingen ruhig in den Tod, vor allem die jungen Mädchen. In unserem Transport waren tau- sende Intellektuelle und Büroangestellte, viele junge Männer; aber die Mehr- heit war – wie in allen weiteren Transporten – weiblich. Ich trat auf dem Platz etwas zur Seite, zusammen mit der Gruppe, die man ausgewählt hatte, Gräber auszuheben, und ich sah wie meine Brüder, Schwes- tern, Bekannten und Freunde in den Tod getrieben wurden. Während man die Frauen vorwärtstrieb, und sie nackt und rasiert wie Vieh zum Schlachter peitschte, ohne sie zu zählen, schneller, schneller – waren die Männer schon in den Kammern gestorben. Man brauchte etwa zwei Stunden, um die Frauen zu rasieren und genauso lange brauchte man, um den Mord vorzubereiten und durchzuführen. Einige Dutzend SS-Männer benutzten Peitschen und scharfe Bajonette, um die Frauen zu den Gebäuden mit den Kammern und die drei Stufen zu dem Korridor hoch zu treiben, in dem Trawniki-Männer 750 Menschen für jede Kammer abzählten. Frauen, die sich sträubten hineinzugehen, wurde mit dem Bajonett in den Körper gestochen, das Blut floss, und so wurden sie in den Höllenort getrieben. Ich hörte, wie sich die Türen schlossen, hörte das 62

Stöhnen und die Schreie; ich hörte die verzweifelten Schreie auf Polnisch und Jiddisch, das herzzerreißende Wehklagen der Kinder und der Frauen und dann einen einzigen verzweifelten Schrei…. Das dauerte fünfzehn Minuten. Das Dieselaggregat lief zwanzig Minuten, und nach zwanzig Minuten war es plötzlich sehr ruhig. Die Trawnki-Männer öffneten die Türen von außen, und ich – zusammen mit anderen Arbeitern, die wie ich aus früheren Transporten herausgenommen worden waren, ohne Tätowierungen oder Abzeichen – wir gingen nun an die uns zugeteilte Arbeit. Wir zogen die Körper der Menschen, die vor kurzer Zeit noch am Leben gewesen waren aus den Gaskammern; wir gebrauchten Lederriemen, um sie zu den riesigen, wartenden Massengräbern zu ziehen, und das Orchester spielte währenddessen. Es spielte von morgens bis abends. Nach einer Weile kannte ich mich überall auf dem Gebiet gut aus. Das Gebiet lag in der Mitte eines jungen Kiefernwaldes. Der Wald war dicht – um den Lichteinfall noch weiter zu reduzieren, wurde ein Baum mit einem anderen festgebunden; so wurde die Dichte des Grüns um den Ort der Kammern erhöht. Hinter ihnen war die sandige Straße, worauf die Leichen gezogen wurden. Die Deutschen hatten ein Dach aus Draht darüber ausgebreitet, wo- rauf Laub gelegt wurde. Man wollte so das Gebiet vor Beobachtungen von Flugzeugen aus schützen. Der Teil des Lagers unter dem Blattdach lag im Dunkeln. Vom Tor aus betrat man einen großen Platz. Die großen Baracken, in denen das Haar der Frauen abrasiert wurde, standen auf dem Platz. Neben diesen Baracken war ein kleiner Platz, der von einem eng genagelten Bretter- zaun umgeben wurde – er hatte keine einzige Ritze und war drei Meter hoch. Dieser aus grauen Brettern gemachte Zaun war direkt vor den Kammern. So konnte niemand sehen, was auf der anderen Seite des Zauns geschah. Das Gebäude, das die Kammern beinhaltete, war niedrig, lang und breit, aus grauem Beton, mit einem Flachdach, abgedeckt mit Dachpappe, darüber war ein weiteres Dach – ein Netz aus Laub. Von dem Platz gingen drei einen Meter breite Stufen ohne Gelände zu diesem Gebäude. Eine große Vase vol- ler verschiedenfarbiger Blumen stand vor dem Gebäude. Auf der Wand stand deutlich lesbar geschrieben: „Bade- und Inhalationsräume“. Die Stufen führ- ten zu einem dunklen Korridor, eineinhalb Meter breit und sehr lang. Er war völlig leer und bestand aus vier Betonwänden. Die Türen zu den Kammern öffneten sich nach links und rechts. Die Türen waren aus Holz und einen Meter breit, und man öffnete sie mit einem Holzgriff. Die Kammern waren völlig dunkel, hatten keine Fenster, und sie waren völlig leer. In jeder Kam- mer konnte man eine kreisrunde Öffnung von der Größe einer Steckdose sehen. Durch diese wurden die Motorenabgase eingeleitet. Die Wände und der Boden der Kammern waren aus Beton. Der Korridor und die Kammern waren niedriger als ein normales Zimmer, nicht mehr als zwei Meter hoch. 63

An der entgegengesetzten Wand jeder Kammer waren auch Klapptüren, zwei Meter breit. Nach der Vergasung wurden die Leichen der Menschen dort herausgeworfen. Draußen am Gebäude war ein kleiner Schuppen, vielleicht zwei Quadratmeter groß, wo die „Maschine“ war: Es war ein mit Diesel be- triebener Motor. Die Kammern waren eineinhalb Meter über dem Boden, und auf der gleichen Ebene der Kammern war eine Rampe an den Türen, von der die Körper auf den Boden geworfen wurden. Im Lager waren zwei Baracken für das Todeskommando, eine für gewöhnli- che Arbeiter und eine weitere für die sogenannten qualifizierten Arbeiter. In jeder Baracke waren 250 Arbeiter untergebracht. Die Schlafkojen waren zweistöckig. Beide Baracken sahen gleich aus. Die Schlafkojen bestanden nur aus Brettern mit einer geneigten Holzplatte für den Kopf. Nicht weit entfernt von den Baracken war die Küche und etwas weiter weg das Lagerhaus, die Verwaltung, Wäscherei, die Nähwerkstatt und schließlich die herausgeputz- ten und komfortablen Unterkünfte der Trawniki-Männer. Zu beiden Seiten des Gebäudes mit den Gaskammern waren Gräber – leere oder volle. Ich sah Reihen von Gräbern, die schon aufgefüllt und hoch mit Sand aufgeschüttet waren. Sie brauchten eine Weile, bis sie absanken. Immer musste ein offenes Grab als Reserve bereit stehen…

Massengräber mit Vergasungsopfern

Ich war von August bis November 1942 im Todeslager. In dieser Zeit wurden ungefähr 440.000 Juden vernichtet. Das war der Zeitraum der Massenverga- sung der Juden. Einige meiner Leidensgenossen, die wenigen, die es geschafft hatten, länger am Leben zu bleiben, sagten mir, dass die meisten Todestrans- porte in diesem Zeitraum waren. Sie kamen jeden Tag, ohne einen Tag Pause, meistens drei Mal täglich – jeder Zug bestand aus fünfzig Waggons, und jeder

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Waggon enthielt 100 Menschen. Wenn ein Transport nachts ankam, dann warteten die Opfer von Belzec in den verschlossenen Waggons bis um sechs Uhr morgens. Durchschnittlich wurden 10.000 Menschen pro Tag getötet. Manchmal waren die Transporte noch größer und noch häufiger. Die Juden kamen von überall her – nur Juden. Es gab nie einen anderen Transport. Belzec war nur dazu da, Juden auszurotten. Die Juden wurden von den SS- Männern, den Trawniki-Männern und den „Kapos“ aus den Güterwaggons geladen; einige Schritte weiter, auf dem Platz, waren jüdische Arbeiter für die Entkleidung anwesend, und sie fragten mit Flüsterstimme: „Von wo seid ihr?“ Man antwortete ihnen flüsternd: aus Lemberg, Krakau, Zamość, Wie- liczka, Jasło, Tarnów und so weiter. Ich sah das jeden Tag, zweimal, dreimal täglich. Jeder Transport wurde genauso behandelt wie meiner. Man befahl den ange- lieferten Juden, sich auszuziehen, die Sachen wurden auf dem Platz gelassen, Jirmann hielt immer seine hinterlistige Rede – immer dieselbe. Die Stimmung der Menschen besserte sich. Ich sah den gleichen Hoffnungsschimmer in ih- ren Augen. Die Hoffnung, dass sie arbeiten würden. Aber einen Moment später wurden die Kleinen von ihren Müttern weggerissen, die Alten und Kranken auf Bahren geworfen, Männer und kleine Mädchen mit Gewehrkol- ben weitergetrieben, weiter entlang des eingezäunten Wegs durch den Schlauch, der direkt in die Kammern führte; und die nackten Frauen wurden genauso brutal zu den weiteren Baracken gesteuert, wo ihr Haar abrasiert wurde. Ich konnte schon im Vorhinein genau sagen, ab wann jeder realisierte, was ihn erwartete, und wann sich der Schrecken, die Verzweiflung, die Schreie und das schreckliche Jammern mit den Klängen des Orchesters ver- mischten. Die Männer wurden zuerst mit Bajonetten vorangetrieben, man stach auf sie ein, während sie zu den Gaskammern rannten. Manchmal wur- den auch Bluthunde auf sie gehetzt. Die Trawniki-Männer steckten automa- tenhaft und ohne Erbarmen 750 Juden in jede Kammer. Bis alle sechs Kam- mer gefüllt waren, hatten die Menschen in der ersten schon zwei Stunden lang gelitten. Erst wenn alle sechs Kammern so dicht mit Menschen vollge- packt waren, dass man die Türen kaum schließen konnte, wurde der Motor angeworfen. Die „Maschine“ war eineinhalb mal einen Meter groß – sie bestand aus einem Motor mit einem Schwungrad. Der Motor dröhnte in längeren Intervallen. Er lief recht schnell, so schnell, dass man die Radspeichen nicht auseinander- halten konnte. Die Maschine lief genau zwanzig Minuten. Sie stellten sie nach zwanzig Minuten ab. Gleich danach wurden die Kammertüren, die auf die Rampe führten, von außen geöffnet, und die Leichen wurden auf den Boden geworfen, und aus ihnen bildete sich ein mehrere Meter hoher Haufen. Die

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Trawniki-Männer trafen keine Vorsichtsmaßnahmen, wenn sie die Türen öff- neten; wir rochen kein gefährliches Gas. Ich sah nie Gasbehälter oder dass man etwas zusetzte. Ich sah nur Dieselkanister. Man brauchte achtzig bis 100 Liter Treibstoff pro Tag. Zwei bestimmte Trawniki-Männer bedienten die Maschine. Wir vermuteten, dass die Todesmaschine entweder einen Über- druck oder ein Vakuum erzeugte oder dass durch das Verbrennen des Treib- stoffs Kohlenmonoxid produziert wurde, das die Menschen tötete. Die Hil- ferufe, die Schreie, das verzweifelte Heulen der in den Kammern eingeschlos- senen und erstickenden Menschen dauerte zehn bis fünfzehn Minuten – es war schrecklich laut; später wurde das Stöhnen leiser und schließlich war alles ruhig. Ich hörte die verzweifelten Schreie und Rufe in verschiedenen Spra- chen. Es waren nicht nur polnische Juden, es gab auch Transporte ausländi- scher Juden. Von den ausländischen Transporten waren die meisten franzö- sische Juden; da waren auch Niederländer, Griechen und sogar Norweger. Ich kann mich an keine deutschen Juden erinnern. Jedoch gab es tschechische Juden. Sie kamen in Güterwaggons genauso wie die polnischen Judentrans- porte, aber mit Gepäck, gut ausgestattet und versorgt. Unsere Transporte wa- ren voller Frauen und Kinder. Die Transporte mit ausländischen Juden waren zum Großteil männlich, und es waren wenige Kinder unter ihnen. Die Eltern waren offensichtlich in der Lage gewesen, sie der Obhut ihrer Landsleute zu überlassen, und sie vor einem schrecklichen Schicksal zu bewahren. Die Ju- den aus dem Ausland kamen total ahnungslos in Belzec an und waren davon überzeugt, dass Arbeit auf sie warte. Sie waren wie feine Leute gekleidet und sehr sorgfältig für die Reise ausgestattet. Das Verhalten der deutschen Ver- brecher diesen Leuten gegenüber war genau dasselbe wie gegenüber den Ju- den aus anderen Transporten, und das Mordsystem war auch dasselbe. Sie starben genauso grausam und verzweifelt. Zu meiner Zeit im Lager waren es vielleicht 100.000 ausländische Juden, und sie wurden alle vergast. Wenn die Trawniki-Männer die verschlossenen Türen nach dem zwanzig- minütigen Erstickungsprozess öffneten, standen die Leichen aufrecht, die Gesichter waren wie schlafend, sie waren verzerrt und blau angelaufen – hier und da war Blut von den Bajonettstichen der Trawniki-Männer – die Münder standen leicht offen, die Hände waren verkrampft und oftmals gegen die Lunge gepresst. Jene, die näher am Ausgang standen, fielen wie Schaufens- terpuppen aus den weit geöffneten Türen heraus. Alle Frauen wurden rasiert, bevor sie getötet wurden. Sie wurden in die Ba- racken getrieben, und der Rest wartete draußen, bis er an die Reihe kam – nackt und barfuß, sogar im Winter und im Schnee. Die Frauen fingen an zu weinen und Verzweiflung ergriff sie. Dann begann das Schreien und das Jam- mern. Die Mütter drückten ihre Kinder an sich, und sie waren kurz davor, den Verstand zu verlieren. Mein Herz brach jedes Mal – ich konnte das nicht 66

mit ansehen. Die Gruppe der rasierten Frauen wurde weitergetrieben, und die nächsten liefen über das verschiedenfarbige Haar, das den gesamten Bo- den der Baracken wie ein weicher, dichter Teppich bedeckte. Wenn man alle Frauen aus dem Transport rasiert hatte, nahmen vier Arbeiter Besen aus Lin- denzweigen und fegten das Haar zu einem großen mehrfarbigen Haufen zu- sammen, der fast die Hälfte des Raums einnahm. Sie packten das Haar mit ihren Händen in Jutesäcke und lieferten es an das Lagerhaus. Das Lagerhaus für das Haar, die Unterwäsche und die Kleidung der Gaskam- meropfer war eine kleine separate Baracke, vielleicht sieben auf acht Meter. Die Habseligkeiten und das Haar wurden hier zehn Tage lang gesammelt, und nach diesen zehn Tagen wurden die Haar- und Kleidungssäcke getrennt abgepackt. Dann kam ein Güterzug und fuhr dieses Raubgut weg. Leute, die im Büro arbeiteten, sagten, dass das Haar nach Budapest gefahren werde. Vor allem ein Jude aus dem Sudetenland, ein im Büro arbeitender Anwalt namens Schreiber, gab diese Information weiter. Er war ein anständiger Mensch. Jir- mann hatte ihm versprochen, ihn in seinen Urlaub mitzunehmen. Einmal brach Jirmann zu einer kurzen Ferienreise auf. Ich hörte, wie Schreiber ihn fragte: „Nehmen sie mich mit?“ Aber Jirmann antwortete: „Noch nicht“. Er täuschte ihn auf diese Weise, und Schreiber starb bestimmt wie wir anderen. Er sagte mir persönlich, dass ein ganzer Güterzug voller Haarsäcke alle paar Tage nach Budapest abging. Zusätzlich zu den Haaren versandten die Deut- schen körbeweise die gezogenen Goldzähne der Mordopfer. Auf dem Weg von den Gaskammern zu den Gräbern – also auf einer Strecke von einigen hundert Metern – standen mehrere „Dentisten“ mit Zangen. Sie hielten jeden Arbeiter an, der Leichen schleppte, öffneten den Mund des Er- mordeten, schauten hinein, zogen das Gold heraus und warfen es dann in einen Korb. Es gab acht Zahnärzte. Die meisten waren jung – sie waren aus den Transporten geholt worden, um diese Arbeit zu verrichten. Einen von ihnen lernte ich besser kennen. Sein Name war Zucker, und er kam aus Rzes- zów. Die Zahnärzte hatten ihre eigene kleine Baracke, zusammen mit dem Arzt und dem Apotheker. Bei Sonnenuntergang trugen sie die Körbe voller Goldzähne zu ihrer Baracke, wo sie das Gold herausnahmen und zu Barren einschmolzen. Ein SS-Mann, Schmidt, bewachte sie und schlug sie, wenn die Arbeit zu langsam voranging. Jeder Transport musste in zwei Stunden abge- fertigt sein. Die Zähne wurden zu Barren geschmolzen, die einen Zentimeter dick, einen halben Zentimeter breit und zwanzig Zentimeter lang waren. Wertsachen, Geld und Dollars wurden jeden Tag aus dem Lagerhaus abtrans- portiert. Die SS-Männer sammelten die Sachen selber ein und packten sie in Koffer, die Arbeiter zum Hauptquartier trugen. Ein Gestapo-Mann ging vo- ran, die jüdischen Arbeiter trugen die Koffer. Es war nicht weit, es war nur

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ein zwanzigminütiger Fußmarsch zu der Belzec-Bahnstation. Das Lager Bel- zec, das heißt die Folterkammer in Belzec, wurde von dort kommandiert. Juden, die in der Verwaltung arbeiteten, sagten, dass die ganze aus Gold, Wertsachen und Geld bestehende Lieferung nach Lublin geschickt wurde; dort war das übergeordnete Hauptquartier, das auch über Belzec bestimmte. Die zerrissenen Kleider der unglücklichen jüdischen Opfer wurden von Ar- beitern eingesammelt und zum Lagerhaus getragen. Dort befanden sich zehn Arbeiter, die jedes Kleidungsstück sorgsam auftrennen mussten – unter Auf- sicht von Peitschen und der SS, die das gefundene Geld unter sich aufteilte. Man nahm ausgewählte SS-Männer zur Bewachung; es waren immer diesel- ben. Die jüdischen Arbeiter, die die Kleidung sortierten und auftrennten, konnten nichts widerrechtlich an sich nehmen – und wollten es auch nicht. Was nützten uns Geld und Wertsachen? Wir konnten nichts kaufen, und wir hatten keine Hoffnung, am Leben zu bleiben. Keiner von uns glaubte an ein Wunder. Jeder Arbeiter wurde sehr genau durchsucht, aber wir liefen häufig auf am Boden verstreuten Dollars herum, die man nicht bemerkt hatte. Wir bückten uns nicht einmal nach ihnen. Es war sinnlos und zu unserem Nach- teil. Einmal hatte ein Schuhmacher absichtlich und offensichtlich fünf Dollar eingesteckt. Er und sein Sohn wurden zusammen erschossen. Er ging glück- lich in den Tod – er hatte es nur noch zu Ende bringen wollen. Der Tod war sicher, warum sollte man also weiter leiden? Die Dollars in Belzec halfen uns dabei, einfacher zu sterben. Ich gehörte zum „ständigen Todeskommando“. Wir waren zusammen 500 Leute. Nur 250 davon waren „qualifizierte Arbeiter“, aber von diesen waren 200 mit Aufgaben beschäftigt, für die sie keine Spezialisten sein mussten: Sie gruben Gräber und schleppten Leichen. Wir hoben die Gruben aus – die riesigen Massengräber – und schleppten die Leichen. Zusätzlich zu ihrer Ar- beit mussten die qualifizierten Arbeiter sich auch daran beteiligen. Wir gru- ben mit Schaufeln, und es gab auch eine Maschine, die Sand aushob. Diese Maschine warf den Sand neben das Grab. Ein Sandhügel entstand, der dazu verwendet wurde, die Gräber zu bedecken, wenn sie mit Leichen gefüllt wa- ren. Ungefähr 450 Leute waren immer mit den Gräbern beschäftigt. Wir brauchten eine Woche, um ein Grab auszuheben. Das Schrecklichste für mich war, dass sie uns befahlen, die Leichen einen Meter über ein bereits volles Grab zu legen und noch mehr Sand aufzuladen – dann strömte dickes schwarzes Blut aus den Gräbern und bedeckte den ganzen Boden wie ein Meer. Wir mussten von einem Rand des Grabes zu dem nächsten laufen, um zu einem anderen Grab zu gelangen. Unsere Füße versanken dabei jedes Mal im Blut unserer Brüder, wir trampelten auf den Leichenhügeln herum – das war schrecklich, das Allerschlimmste…

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Während der ganzen Arbeitszeit wurden wir von einem Verbrecher namens Schmidt beaufsichtigt, der uns schlug und trat. Wenn jemand – seiner Mei- nung nach – zu langsam arbeitete, dann befahl er ihm, sich hinzulegen und verpasste ihm 25 Hiebe mit seiner Peitsche. Er befahl ihm, zu zählen, und falls er sich verzählte, dann gab er ihm 50 anstatt 25. Fünfzig Schläge waren zu viel, als dass sie ein gequälter Mensch aushalten konnte. Das Opfer schleppte sich normalerweise zu den Baracken und starb am nächsten Mor- gen. Das passierte mehrmals am Tag. Dazu wurden jeden Tag 30 bis 40 Arbeiter erschossen. Der Arzt legte nor- malerweise eine Liste der Erschöpften vor, oder der sogenannte „Oberkapo“, der oberste Vorarbeiter der Gefangenen, erstellte eine Liste mit „Missetä- tern“, so dass 30 bis 40 jeden Tag liquidiert wurden. Zur Mittagszeit wurden sie zu einem Grab geführt und erschossen. Der Bestand wurde aber jeden Tag aufgefüllt – die gleiche Anzahl von Leuten wurde aus den zahlreichen täglichen neuen Transporten herausgenommen. Die Verwaltung hatte den Überblick über alte und neue Arbeiter und zählte sie, so dass die Häftlings- zahl immer 500 ergab. Zahlen zu den Opfern der Transporte erhob man nicht. Wir wussten zum Beispiel, dass Juden das Lager gebaut und die Todesma- schinerie in Betrieb gesetzt hatten. Aber aus dieser Brigade war niemand üb- rig. Es war ein Wunder, wenn jemand aus der Belegschaft ein Monat oder länger in Belzec überlebte. Die Maschine wurde von zwei Trawniki-Männern betrieben, das waren im- mer dieselben Meuchelmörder: Sie waren da, als ich ankam, und sie waren da, als ich wegging. Die jüdischen Arbeiter hatten keinen Kontakt mit ihnen – und auch nicht mit anderen Trawniki-Männern. Wenn Menschen aus dem Transport um einen Schluck Wasser bettelten, erschossen die Trawniki-Män- ner jeden jüdischen Arbeiter, der ihnen welches geben wollte. Zusätzlich zum Ausheben der Gräber war es die Aufgabe des Todeskom- mandos, die Leichen aus den Gaskammern zu ziehen, sie auf einen großen Haufen zu werfen und sie dann den ganzen Weg zu den Gräbern zu schlep- pen. Der Boden war sandig. Zwei Arbeiter waren nötig, um eine Leiche zu ziehen. Wir hatten Lederriemen mit Schnallen. Wir legten die Schnallen um die Arme der Leichen und zogen. Die Köpfe verfingen sich oft im Sand. Man befahl uns, die Leichen kleiner Kinder über unsere Schultern zu werfen – zwei auf einmal – und sie so wegzutragen. Wenn wir Leichen schleppten, dann hoben wir keine Gräber aus. Während wir Gräber aushoben, wussten wir, dass tausende unserer Brüder in den Kammern erstickten. Auf diese Weise mussten wir vom frühen Morgen bis zur Abenddämmerung arbeiten. Die Abenddämmerung beendete den Arbeitstag, da die „Arbeit“ nur bei Ta- geslicht getan wurde. 69

Um 3.30 Uhr morgens hämmerte der Trawniki-Wachmann, der in der Nacht um die Baracken ging, schon an der Tür und schrie: „Tagwache!“. Noch be- vor wir überhaupt aufstehen konnten, stürzte der Verbrecher Schmidt herein und jagte uns mit seiner Reitgerte aus den Baracken. Wir rannten mit einem Schuh in der Hand oder barfuß heraus. Normalerweise zogen wir uns nicht aus (und wir schliefen sogar mit unseren Schuhen), da wir es nicht geschafft hätten, uns am Morgen schnell genug anzuziehen. Als sie uns am Morgen weckten, war es noch dunkel; Licht war nicht erlaubt. Schmidt rannte durch die Baracke und schlug nach links und rechts. Wenn wir aufwachten, dann war uns genauso elend zumute, und wir waren genauso erschöpft wie am Abend, wenn wir zu Bett gingen. Jeder von uns bekam nur eine dünne Decke, und man konnte sich entweder damit zudecken oder sie als Unterlage benutzten. Sie gaben uns alte, abgetragene Fetzen aus dem La- gerhaus – und wenn jemand auch nur aufseufzte, wenn er seinen bekam, dann bekam er einen Schlag ins Gesicht. Am Abend brannte das Licht eine halbe Stunde lang. Dann wurde es ausge- macht. Der „Oberkapo“ schlich durch die Baracke mit einer Peitsche und erlaubte nicht, dass die Menschen miteinander sprachen. Daher flüsterten wir mit unseren Pritschennachbarn. Die Belegschaft bestand zum Großteil aus Personen, deren Frauen, Kinder und Eltern vergast worden waren. Viele hatten es geschafft, sich aus dem Lagerhaus einen Gebetsschal und Gebetsriemen zu besorgen, und wenn die Baracke für die Nacht abgeschlossen wurde, dann hörten wir in den Schlaf- kojen, wie der Kaddisch gemurmelt wurde. Wir beteten für die Toten. Dann war es ruhig. Wir beschwerten uns nicht; wir hatten uns komplett aufgegeben. Vielleicht hatten die fünfzehn „Kapos“ noch Illusionen – wir hatten keine. Wir bewegten uns wie Menschen, die keinen Willen mehr hatten. Wir waren eine Masse. Ich kannte ein paar Namen, aber nicht viele. Es war vollkommen egal, wer jemand war und wie er hieß. Ich wusste, dass der Doktor ein junger Arzt aus der Nähe von Przemyśl war und Jakubowicz hieß. Ich traf auch einen Händler aus Krakau – Schlüssel – und seinen Sohn sowie einen tsche- chischen Juden namens Ellenbogen, von dem man sagte, dass er mit Fahrrä- dern gehandelt hatte; dazu einen bekannten Koch – Goldschmidt – aus dem Restaurant der Brüder Hanička in Karlsbad. Niemand interessierte sich für die anderen. Wir machten mechanisch die erforderlichen Verrichtungen für dieses schreckliche Leben in der Hölle. Um zwölf Uhr mittags bekamen wir zu essen. Wir gingen in einer Reihe an zwei kleinen Fenstern vorbei. Beim ersten bekamen wir einen Becher, beim zweiten einen halben Liter Gerstensuppe – besser gesagt Wasser – manchmal mit einer Kartoffel darin. Vor dem Mittagessen mussten wir Lieder singen; wir mussten auch vor dem Kaffee am Abend singen. Gleichzeitig hörte man 70

das Heulen der Menschen, die in den Kammern vergast wurden, es spielte das Orchester und es stand der Galgenturm gegenüber der Küche… Das Leben der SS-Männer in der Stadt Belzec und direkt am Ort des Bösen fand ohne Frauen statt. Sogar die SS-Trinkgelage waren rein männlich. Die Arbeit wurde ausschließlich von Männern gemacht. So war es bis Oktober. Im Oktober kam ein Transport tschechisch-jüdischer Frauen aus Zamość. Unter ihnen waren einige Dutzend Frauen, deren Männer im Todeskom- mando arbeiteten. Man entschied, dass man einige Dutzend Frauen aus die- sem letzten Transport behalten würde. Man kommandierte 40 dazu ab, in der Küche, in der Wäscherei und in der Nähwerkstatt zu arbeiten. Man erlaubte ihnen keinen Kontakt zu ihren Ehemännern. In der Küche schälten sie Kar- toffeln, wuschen Töpfe und holten Wasser. Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. Sie teilten sicher das Schicksal der anderen. Sie waren alles ge- bildete Frauen. Sie waren mit Gepäck gekommen. Einige hatten Butterpäck- chen bei sich. Sie gaben uns alles, was sie hatten. Und sie halfen jedem, der in der Küche oder in ihrer Nähe arbeitete. Sie wohnten in einer kleinen ab- getrennten Baracke und hatten einen weiblichen „Kapo“ über sich. Während der Arbeit (ich hielt überall die Öfen instand und lief daher durch das ganze Lager) sah ich, wie diese Frauen miteinander sprachen. Sie wurden nicht so sehr misshandelt wie wir. Ihre Arbeit endete bei Abenddämmerung, und sie reihten sich zu zweit auf, um Suppe und Kaffee zu bekommen. Man hatte ihnen weder ihre Kleidung weggenommen noch hatten sie gestreifte Unifor- men bekommen. Es lohnte sich nicht, für so einen kurzen Zeitraum Unifor- men einzuführen. Die Frauen wurden direkt aus den Güterwaggons in ihren Kleidern und mit unrasierten Köpfen zu den Werkstätten und in die Küche geschickt. Aus den Fenstern der Küche und der Nähwerkstatt konnten sie jeden Tag sehen, wie die Todestransporte ankamen… Das Todeslager produzierte Massenmorde am laufenden Band – jeden Tag von Neuem. An diesen Tagen herrschte allgemeine Massentodesangst und es fand ein Massensterben statt. Dazu kamen Vorfälle mit individuellen, per- sönlichen Qualen. Ich erlebte das auch und wurde Zeuge davon. In Belzec gab es nie eine Versammlung auf dem Platz. Das war nicht nötig. Das Hor- ror-Schauspiel fand ohne Gruppenankündigungen statt. Ich muss von dem Transport aus Zamość erzählen. Es war um den 15. No- vember 1942, als es schon kalt geworden war und Schnee und Schlamm den Boden bedeckten. Ein grosser Transport aus Zamość kam an – wie viele an- dere – inmitten eines heftigen Schneesturms. Im Transport war der gesamte Judenrat. Alle standen nackt da. Wie bei einem normalen Ablauf wurden die Männer zu den Kammern getrieben und die Frauen zu der Baracke, wo das Haar abrasiert wurde. Aber dem Vorsteher des Judenrates wurde befohlen, 71

auf dem Platz zu bleiben. Als die Trawniki-Männer den Transport in den Tod drängten, stand ein Aufgebot von SS-Männern um den Vorsteher des Juden- rates. Ich kenne seinen Namen nicht. Ich sah einen Mann mittleren Alters, der so weiß im Gesicht wie eine Leiche war, aber vollkommen ruhig. Dem Orchester wurden von den SS-Männern befohlen, auf den Platz zu kommen und Befehle abzuwarten. Das Orchester, das aus sechs Musikern bestand, spielte gewöhnlich auf der Fläche zwischen den Gaskammern und den Gräbern. Sie spielten ohne Pause auf Instrumenten, die sie den Ermor- deten weggenommen hatten. Ich machte gerade Maurerarbeiten und sah sie alle. Die SS-Männer befahlen, dem Orchester Melodien zu spielen: „Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei“ und „Drei Lilien, kommt ein Reiter gefah- ren, bricht die Lilien.“ Sie spielten auf Geigen, Flöten und auf einem Akkor- deon. Das dauerte eine Weile. Dann stellten sie den Vorsteher des Zamość- Judenrates an eine Wand und schlugen ihn mit den bleibeschlagenen Spitzen von Spazierstöcken, vor allem auf den Kopf und über das Gesicht, bis Blut floss. Jirmann, der fette SS-Mann Schwarz, Schmidt und einige Trawnikis führten die Folterung durch. Sie befahlen ihrem Opfer zu tanzen und zu ih- ren Hieben und zu der Musik herum zu springen. Nach einigen Stunden brachten sie ihm einen viertel Brotlaib und zwangen ihn unter Schlägen, das Brot zu essen. Er stand da, das Blut floss an ihm herunter, gleichgültig, ernst – ich hörte keinen einzigen Laut. Die Qual dieses Mannes dauerte sieben Stunden. Die SS-Männer standen da und lachten: „Das ist eine höhere Per- son, Präsident des Judenrates“, riefen sie laut und mit einer gemeinen Wich- tigtuerei. Erst um sechs Uhr abends stieß ihn der SS-Mann Schmidt an den Rand eines Grabens, schoss ihm in den Kopf und trat ihn auf den Haufen der vergasten Judenleichen. Da waren weitere einzelne Vorfälle. Nicht lange, nachdem ich in Belzec an- gekommen war, wurde ein junger Bursche zusammen mit einigen anderen aus einem Transport herausgenommen – ich weiß nicht, aus welcher Stadt (wir wussten nicht immer, von wo die Transporte kamen). Er war das Ideal- bild von Gesundheit, Kraft und Jugend. Wir staunten über seine gute Laune. Er schaute sich um und fragte fast fröhlich: „Und hat es schon jemand ge- schafft, hier herauszukommen?“ Mehr brauchte es nicht. Einer der Deut- schen hatte es gehört, und sie folterten ihn zu Tode. Er war fast noch ein Kind. Sie zogen ihn aus und hängten ihn verkehrt herum an den Galgen. Er hing drei Stunden da. Er war stark und lebte noch. Sie schnitten ihn ab, streckten ihn auf dem Sand aus und stießen ihm mit Stöcken Sand in seinen Rachen. Er starb unter Höllenqualen. Manchmal geschah es, dass ein größerer Transport als üblich ankam. Es kam vor, dass anstatt 50 Waggons, 60 oder mehr ankamen. Nicht lange vor meiner Flucht im November mussten 100 Leute – sie waren schon nackt – aus so 72

einem überfüllten Transport herausgenommen werden, um Leichen zu be- graben, da die Gestapo berechnet hatte, dass das bestehende Kommando nicht damit fertig werden würde, so viele erstickte Leute in die Gräber zu legen. Sie wählten nur junge Burschen aus. Den ganzen Tag schleppten sie Leichen zu den Gräbern; sie wurden geschlagen, man gab ihnen keinen Trop- fen Wasser zu trinken, und sie waren nackt im Schnee und in der Kälte. Am Abend führte sie der Verbrecher Schmidt zum Rand eines Grabes und er- schoss sie mit seiner Browning-Pistole. Die Munition ging ihm aus, als noch mehr als ein Dutzend übrig waren – so tötete er einen nach dem anderen mit einer Spitzhacke, bis keiner mehr am Leben war. Ich hörte das Stöhnen nicht. Ich sah nur, wie diese hilflosen Elendsgestalten versuchten, sich in der To- desreihe zu überholen. Das ganze Lager war unter ständiger Bewachung von Trawniki-Postenketten und mehreren Dutzend SS-Männern. Aber die Aktiven waren wenige. Einige von ihnen stachen durch ihre besondere und ständige Grausamkeit hervor. Das waren Monster – mit dem Unterschied, dass einige kaltblütig schlugen und töteten und andere Lust am Morden hatten. Sie lächelten, und ich konnte sehen, wie glücklich sie waren beim Anblick nackter und von Bajonetten durchstochener Menschen, die in die Kammern gejagt wurden. Sie hatten Freude daran, die verzweifelten, niedergeschlagenen Schatten der meist jungen Menschen anzuschauen. Wir wussten, dass der Hauptkomman- dant des Lagers in dem schönsten der Häuser neben der Belzec-Bahnstation wohnte. Es war der Obersturmführer Christian Wirth. Er tauchte nur selten im Lager auf; er kam nur in Zusammenhang mit irgendeinem wichtigen Er- eignis. Das war ein hochgewachsener Verbrecher, kräftig, über vierzig Jahre alt, mit einem vulgären Gesichtsausdruck – so musste ein wirklicher Schwerstverbrecher aussehen. Er war ein echter Dreckskerl. Einmal ging die Mordmaschine kaputt. Wirth wurde unterrichtet und kam auf seinem Pferd angeritten. Er befahl, dass die Maschine repariert werden solle und ließ die Menschen nicht aus den luftleeren Kammern. Er ließ sie ersticken und einige Stunden länger als sonst qualvoll sterben. Er kauerte sich wütend hin, schrie und zitterte dabei am ganzen Körper. Obwohl er selten auftauchte, war er der Schrecken der SS-Männer. Er lebte alleine mit einem Trawniki-Adjutanten, der ihn bediente. Dieser überbrachte ihm jeden Tag die Lagerberichte. Der Hauptkommandant und viele der SS-Leute hatten keinen direkten Kontakt mit dem Todeslager. Sie hatten ihre eigene Kantine und einen Koch aus Deutschland, der für alle Deutschen kochte. Nie kam jemand aus ihrer Familie, keiner lebte mit einer Frau. Sie zogen ganze Gänse- und Entenscharen auf. Die Leute sagten, dass man ihnen im Frühling körbeweise Kirschen schickte. Kisten voller Wodka und Wein wurden täglich angeliefert.

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Ich brachte die Öfen dort in Ordnung. Sie hielten sich da zwei junge jüdische Mädchen, um die Gänse zu rupfen – sie warfen mir eine Zwiebel und eine Art Rübe zu. Ich sah auch ein Dorfmädchen, das dort arbeitete, neben der deutschen Hilfskraft. Jeden Sonntagabend ver- sammelten sie das Lager- orchester und veranstal- teten ein Trinkgelage. Nur die SS-Männer tra- fen sich, sie fraßen sich voll und tranken. Von den Essensresten warfen sie etwas den Musikern vor.

Freizeitvergnügungen der SS-Männer Wenn der Kommandant für einige Minuten im Lager auftauchte, sah ich, wie die SS-Männer und die Trawniki-Wachmannschaften vor Furcht erzitterten. Abgesehen von ihm kümmerten sich SS-Leute – vier weitere Psychopathen – um das Tagesgeschäft: Sie beaufsichtigten und leiteten das ganze Schlacht- haus. Schwierig, sich schlimmere Teufel vorzustellen. Einer von ihnen war Fritz Jirmann, ein Mann um die dreißig, ein Stabsscharführer, der Quartier- meister des Lagers, und ein Experte, wenn es darum ging, Kinder und alte Leute zu erschießen. Er beging jede Grausamkeit mit stoischer Ruhe, er war undurchschaubar und schweigsam – jeden Tag sagte er den Verdammten, dass sie baden und dann arbeiten gehen würden. Ein gewissenhafter Krimi- neller. SS-Oberscharführer Reinhold Feix, der die ukrainische Mannschaft befeh- ligte, war auf eine andere Art grausam. Man sagte, dass er aus Gablonz an der Neisse komme, verheiratet und der Vater von zwei Kindern sei. Er sprach wie ein gebildeter Mensch. Er redete schnell. Wenn jemand ihn nicht gleich verstand, dann schlug er ihn und tobte schreiend herum. Einmal befahl er, die Küche zu streichen; ein jüdischer Doktor der Chemie führte den Befehl aus und stand ganz oben auf der Leiter unter der Decke. Er musste alle paar Minuten zu Feix herunterzukommen, der ihn dann mit seiner Reitgerte über das Gesicht schlug, so dass das Gesicht des Mannes anschwoll und voller Blut war. Auf diese Art musste er seine Arbeit ausführen. Feix erschien abar- tig. Er spielte Geige. Er befahl dem Orchester, solange das polnische Lied „Góralu, czyci nie żal?“ zu spielen, bis sie umfielen. Auf seine Anordnung mussten die Menschen singen und tanzen, und er benutzte sie als sein Spiel- zeug und folterte sie. Er war eine blindwütig rasende Bestie. 74

Und ich weiß nicht, wer teuflischer und grausamer war: Feix oder dieser fette, untersetzte, schwarzhaarige Mörder Gottfried Schwarz, der tief aus dem Deutschen Reich kam. Er kontrollierte, ob die Trawniki-Männer auch aus- reichend brutal zu uns waren und uns genug folterten. Er überwachte uns beim Ausheben der Gräber – das heißt, dass er uns nie einen Moment Atem- pause gönnte. Unter Schreien, mit der Peitsche und mit erbarmungslosem Zwang jagte er uns von den Gräbern zu den Kammern, wo die Leichenberge auf ihre Reise in die tiefen Gräber warteten. Er trieb uns dorthin und rannte zurück zu den Gräbern. Direkt am Rand der Gräber warteten sie und starrten stumpfsinnig in die Tiefe, mit einem verrückten Blick: die Kinder, die alten Menschen, die Kranken. Sie warteten auf den Tod. Sie konnten die Leichen und das Blut so lange anschauen, wie sie wollten und den Verwesungsgeruch einatmen, bis der blutrünstige Jirmann sie mit Gewehrschüssen beseitigte. Schwarz fuhr währenddessen fort, alle zu schlagen. Es war verboten, das Ge- sicht vor den Schlägen zu schützen – „Hände runter!“ brüllte er und drosch mit Lust auf sie ein. Der junge Volksdeutsche Fritz Schmidt fand sogar noch mehr Vergnügen an seiner bestialischen Mission. Er war vielleicht ein Lette – er sprach ein komi- sches Deutsch und sagte „t“ anstatt „s“ („wat“ anstatt „was“). Mit den Traw- niki-Männern sprach er Russisch. Er mochte es nicht, auch nur einen Tag außerhalb des Lagers zu verbringen. Flink, schnell auf den Beinen, dünn, mit einem Lumpengesicht, immer betrunken, rannte er von vier Uhr morgens bis zum Abend durch das Lager, verursachte Schmerzen, blickte starr und ver- sunken auf das Leiden der Opfer und ergötzte sich daran. „Von allen Ver- brechern ist er der schlimmste“, flüsterten die Häftlinge und fügten sofort hinzu, „Sie sind alle die Allerschlimmsten“. Wo immer die Menschen am meisten Qualen litten, war er der Erste, der auftauchte. Er war immer da, um die unglücklichen Opfer auf dem Weg zu den Kammern anzutreiben, er lauschte andächtig den schrillen, gellenden Schreien der Frauen, die in die Kammern getrieben wurden. Er war der „Dämon“ des Lagers – am meisten degeneriert, am monströsesten, am blutrünstigsten. Er blickte mit Vergnügen in die stumpfen Gesichter der Arbeiter, die nachts zu den Baracken zurück- kehrten, grenzenlos erschöpft. Er konnte sich nicht zurückhalten und schlug jedem aus voller Kraft mit seiner Peitsche auf den Kopf. Wenn einer von uns es schaffte auszuweichen, dann jagte er ihm nach und ließ ihn zusätzlich lei- den. Diese SS-Leute und andere, die weniger hervorstachen, waren eine Art Monster. Keiner von ihnen war auch nur für einen Moment auch nur ansatz- weise menschenähnlich. Von sieben Uhr morgens bis zur Abenddämmerung folterten sie tausende Menschen auf verschiedenste Arten. Als es dunkel war, gingen sie zu ihren Häusern am Bahnhof zurück. Trawniki-Wachsoldaten hielten Nachtwache 75

bei den Maschinengewehren. Am Morgen empfingen die SS-Männer die nächsten Todestransporte. Das größte Ereignis für die Verbrecher war der Besuch von Reichsführer-SS Heinrich Himmler. Das war Mitte Oktober 1942. Wir konnten sehen, dass die SS-Kriminellen vom frühen Morgen an dienstbeflissen herumliefen. Die ganze Routine, tausende Menschen zu ermorden, ging an diesem Tag schnel- ler. Alles wurde in Eile gemacht. Jirmann verkündete: „Es kommt eine hö- here Person, es muss absolute Ordnung herrschen“. Sie sagten nicht, wer er war; aber jeder wusste es, da die Trawniki-Männer untereinander darüber tu- schelten. Himmler kam gegen drei Uhr nachmittags mit Generalmajor Katzmann, dem Chefmörder von Lemberg und des ganzen Distrikts; er wurde von einem Adjutanten und von zehn SS-Männern begleitet. Jirmann und die anderen führten die Gäste zu den Gaskammern, wo gerade Leichen herausfielen; von dort wurden sie an eine Stelle geworfen, an der ein schrecklicher Haufen jun- ger und sehr kleiner Kinderkörper in den Himmel wuchs. Häftlinge schlepp- ten die Leichen weg. Himmler sah zu –eine halbe Stunde - und fuhr dann davon. Ich sah die Freude und die Hochstimmung der SS-Männer, ich sah, wie zufrieden sie waren, wie sie lachten. Ich hörte, wie sie über Beförderun- gen spekulierten. Ich weiß nicht, wie ich die Stimmung beschreiben soll, in der wir – die ver- dammten Arbeitsjuden der Todeszone – lebten, oder was wir fühlten, wenn wir das entsetzliche Flehen der Menschen, die jeden Tag vergast wurden, und die Schreie der Kinder hörten. Dreimal am Tag sahen wir tausende Men- schen, die kurz davor waren, den Verstand zu verlieren. Und wir waren auch täglich dem Wahnsinn nahe. Wir lebten von einem Tag auf den anderen, ohne zu wissen wie. Nicht einen Moment gaben wir uns einer Illusion hin. Jeden Tag starben wir ein wenig mit den ganzen Menschentransporten, die sich noch einmal für einen kurzen Moment einer quälenden Illusion hingaben. Apathisch und resigniert fühlten wir nicht einmal den Hunger und die Kälte. Jeder wartete, bis die Reihe an ihn kam und wusste, dass er auch sterben und unmenschlich leiden musste. Wenn ich aber hörte, wie die Kinder aus den Gaskammern heraus aufschrien „Mama! Aber ich war doch brav! Es ist dun- kel! Ich habe so Angst!“ – dann zerriss es uns das Herz. Aber gleich darauf kehrten wir zu unserer abgestumpften Gefühlslosigkeit zurück. Ende November 1942 neigte sich der vierte Monat meines unglaublichen Horroraufenthaltes in Belzec dem Ende zu. Der Verbrecher Jirmann sagte mir eines Morgens, dass das Lager Metallblech brauche, sehr viel Metallblech. Ich war zu dem Zeitpunkt ganz angeschwollen und zerschlagen, und Eiter floss aus meinen Wunden. Der SS-Mann Schmidt hatte mit einem Stock

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beide Seiten meines Gesichts zerschlagen. Jirmann informierte mich mit ei- nem boshaften Lächeln, dass man mich nach Lemberg eskortieren würde, um das Blechmaterial zu bekommen, und er sagte „Sollst ja nicht glauben, dass du flüchten kannst!“. Ich fuhr in einem Lastwagen mit vier SS-Leuten und einem Trawniki-Wach- mann dorthin. In Lemberg – nach einem ganzen Tag Aufladen von Metall- blech – ließ man mich alleine in dem Lastwagen mit einem SS-Strolch zurück, der mich bewachte. Der Rest ging weg, um sich etwas zu amüsieren. Ich saß einige Stunden da, ohne zu denken oder mich zu bewegen. Dann bemerkte ich plötzlich, dass meine Wache eingenickt war und schnarchte. Reflexartig, ohne einen Moment nachzudenken, schlüpfte ich aus dem Lastwagen – der Gangster schlief immer noch. Ich stand auf dem Gehsteig, eine Weile noch tat ich so, als ob ich mich an etwas bei dem Metallblech zu schaffen machte, und dann ging ich langsam weg. Auf der Legionów-Straße war viel los. Ich zog meine Mütze ins Gesicht. Es war dunkel, und niemand sah mich. Ich erinnerte mich daran, wo meine Vermieterin wohnte, eine Polin, und ich machte mich auf den Weg dorthin. Sie versteckte mich. Ich brauchte 20 Mo- nate, bis all meine Wunden einigermaßen geheilt waren. Nicht nur die Wun- den. Bilder der Schrecken, die ich durchlebt hatte, peinigten mich alptraum- haft. Egal, ob ich wach war oder schlief – ich hörte das Wehgeschrei der gefolterten Opfer. Und die Schreie der Kinder. Und das Röhren des Motors. Ich konnte die kriminellen Gesichter der SS-Männer nicht aus meinem Ge- dächtnis verbannen. Aber ich hielt bis zum Moment der Befreiung durch. Als die Rote Armee die deutschen Monster aus Lemberg vertrieb, konnte ich in Gottes Welt zurückkehren. Ich konnte mich ohne Angst umsehen, frische Luft einatmen und das erste Mal seit der deutschen Gefangenschaft im Ver- nichtungslager Belzec etwas denken und fühlen, und ich hatte das Verlangen danach, den Ort zu sehen, an dem hunderttausende Menschen vergast wor- den waren – Menschen, die leben wollten, leben so wie ich lebte. Bald machte ich mich auf den Weg. Ich sprach mit den Leuten, die in der Umgebung wohnten. Sie sagten mir, dass 1943 immer weniger Transporte gekommen waren und dass man die Judenvernichtung hauptsächlich in die Gaskammern von Auschwitz verlegt hatte. Anfang 1944 öffnete man die Gruben, schüttete Benzin über die Leichen und verbrannte sie. Dichter schwarzer Rauch verbreitete sich dutzende Kilometer um die riesigen Schei- terhaufen herum. Der Wind wehte den Gestank, der den Atem verschlug, lange Zeit über weite Entfernungen hinweg in die umliegenden Dörfer – viele Tage und Nächte, viele Wochen lang. Und später, so sagten mir die Einheimischen, wurden die Knochen zermah- len und der Wind verstreute den Staub über die Felder und Wälder. Ein Häft- ling namens Spilke, den man zu diesem Zweck aus dem Lager Janowska nach 77

Belzec gebracht hatte, errichtete eine Maschine zum Zermahlen von Men- schenknochen. Er sagte mir, dass er dort nur Knochenhaufen vorgefunden hätte und dass alle Gebäude verschwunden waren. Später gelang es ihm zu flüchten und sein Leben zu retten. Jetzt ist er in Ungarn. Er berichtete mir das, direkt nach der Befreiung von Lemberg durch die Rote Armee. Als die Erzeugung „künstlichen Düngers“ aus Millionen menschlicher Kno- chen beendet war, wurden die aufgebrochenen Gräber zugeschüttet, und die Oberfläche des blutgetränkten Bodens wurde ordentlich und sorgfältig ein- geebnet. Die kriminellen deutschen Monster sorgten für üppige Vegetation über dem jüdischen Millionengrab von Belzec. Ich verabschiedete mich von meinen Informanten und ging den bekannten Weg den „Bahngleisen“ entlang. Sie waren zugewachsen. Auf dem Feld kam ich zu einem schön gedeihenden, wohlriechenden Kiefernwald. Jetzt war es sehr ruhig hier. In der Mitte des Waldes befand sich eine riesige, leuchtende Blumenwiese.“

Übersetzt aus dem Englischen: Reder, Rudolf (1997): Belzec. Fundacja Judaica. Państwowe Muzezm Oświęcim-Brzezinka. Kraków: Drukarnia Uniwersytetu Jagiellońskiego (ent- hält Reders Bericht auf Polnisch und Englisch).

Der Augenzeugenbericht von Rudolf Reder ist ein zeitgeschichtliches Origi- naldokument von überragender Bedeutung. Erstmalig und umfassend be- schreibt ein Todgeweihter aus einem Vernichtungslager der Nazis mit seinem bewundernswerten Beobachtungs- und Erinnerungsvermögen den gesamten Prozess der fließbandgesteuerten Menschenentsorgung des jüdischen Vol- kes. Ein Bericht, der auch heute noch keinen größeren Bekanntheitsgrad er- langt hat, so wie heute auch fast niemand mehr das Vernichtungslager Belzec kennt. Ein Ort des Verbrechens an der Menschheit, wo in nur 9 Monaten im Jahr 1942 über 400.000 Juden in die Gaskammern getrieben und bestialisch er- mordet wurden, müsste zum Wissensbestand des Weltgewissens gehören. Aber man ist aus unterschiedlichen Beweggründen auch heute noch erfolg- reich in den Bemühungen zu verschleiern, was damals wirklich geschah.

Rudolf Reder erinnert sich namentlich an sechs Bestien in Menschengestalt. Reichsführer-SS Heinrich Himmler ist der Einzige, der seine fundierte Aus- bildung nicht in den Tötungsanstalten der „Aktion T4“ erhalten hat. Die an- deren fünf sind Fritz Jirmann als Brenner, Fritz Schmidt als Pfleger, Reinhold Feix nicht genauer nachweisbar, Gottfried Schwarz als Brenner und Christian Wirth als Generalinspekteur der „Aktion T4“. 78

Dies gibt einen stichhaltigen Hinweis auf zwei wesentliche Zusammenhänge zwischen der „Aktion T4“ und der „Aktion Reinhard“. Die SS-Männer, die im Rahmen der „Aktion Reinhard“ die Vernichtung des jüdischen Volkes vorantrieben, wurden zuvor in den Tötungsanstalten der „Aktion T4“ syste- matisch jeglicher mitmenschlicher Empathie beraubt und durch ihre Arbeit in den Tötungsanstalten zu gefühllosen oder sadistischen Mordrobotern kon- ditioniert. Nur die bösartigsten und bestialischsten unter ihnen wurden für die Arbeit in den Vernichtungslagern der „Aktion Reinhard“ von Odilo Globocnik ausgewählt und angefordert. Der zweite wesentliche direkte Zu- sammenhang zwischen den beiden „Aktionen“ ist die Expertise für die mik- rosequentielle Aufsplitterung des Mordprozesses in kleinste Einheiten, so dass es keine direkten Mörder mehr geben konnte. Diese Strategie, die die Mörder der „Aktion T4“ transferiert hatten, entsprach im Großen und Gan- zen der „Schablone“ die man schon in den Tötungsanstalten der „Aktion T4“ entwickelt hatte. Ein Ablauf, der sich grundsätzlich als gangbarer Weg zum Massenmord bewährt hatte, musste nur noch von täglichen Mordquoten von ungefähr 100 beeinträchtigten Menschen auf den Massenmord von täg- lich 5.000 oder 10.000 Juden aufgebläht werden, während man dafür gleich- zeitig nur mehr ein Drittel des Personals zum Einsatz bringen wollte. Die Brutalität der Trawniki-Wachtruppen und die Arbeitsjuden, die gezwungen wurden, ihr eigenes Grab und das ihres Volkes zu schaufeln, waren die geni- ale Lösung für die erfolgreiche Umsetzung dieser logistischen Aufgaben. Lasst die Juden doch sich selbst vernichten!

Die gelungene Flucht von Rudolf Reder er- scheint wie ein Wunder und es ist eine ganz besondere Liebes- und Lebensgeschichte, dass die Frau, die ihn monatelang unter Ein- satz ihres Lebens versteckt hatte, später seine zweite Ehepartnerin wurde und mit ihm in ein sicheres Leben nach Kanada auswan- derte. Ein versöhnliches Ende, wenn auch angenommen werden darf, dass Rudolf Re- der die alptraumhaften Schreckensbilder sei- ner Zeit im Vernichtungslager Belzec sein Leben lang nicht mehr ganz loswerden Rudolf Reder konnte.

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Epilog:

Auch heute gibt es noch Lebende, die die Ignoranz und Unverschämtheit besitzen, das, was passiert ist, zu leugnen. Unlängst hat eine 92-jährige deut- sche Pensionistin in ihrer Gerichtsverhandlung wegen Wiederbetätigung vor dem Gericht damit argumentiert, dass ja niemand wirklich sagen kann, wo eigentlich diese 6 Millionen Juden umgebracht worden wären. Die Richter und Staatsanwälte konnten dem nichts entgegenhalten, weil sie selbst keine Informationen hatten, dass es Vernichtungslager wie Belzec, Sobibor und Treblinka überhaupt gab. Was für ein schändliches Eingeständnis der völlig arglosen und zeitgeschichtlich ungebildeten deutschen Justiz. Aber diese Uninformiertheit hat System. Wir kommen zurück auf Wassilij Grossman. Er rechnet schonungslos mit den Machenschaften der SS-Männer in den Vernichtungslagern ab. Alle Be- teuerungen bei diversen Gerichtsverfahren in den 1960er-Jahren werden da- mit Lügen gestraft: „Hier ist zu bemerken, dass diese Subjekte keinesfalls mechanisch einen fremden, höheren Willen vollstreckten. Alle neigten dazu, vor den todge- weihten Juden bei der Ankunft Reden abzuhalten, vor ihnen zu prahlen, sie zu belehren und ihnen auseinanderzusetzen, welchen überragenden Sinn und welche Bedeutung für die Zukunft der Menschheit das habe, was in Treblinka geschah. Sie waren alle aufrichtig und zutiefst überzeugt, dass sie ein berech- tigtes, notwendiges Werk vollbringen. Ausführlich erklärten sie den reglos wartenden Juden die Überlegenheit ihrer Rasse über alle anderen, ergingen sich in Tiraden über das deutsche Blut, den überragenden deutschen Charak- ter und die deutsche Mission für die Welt. Ihr Glaubensbekenntnis war in den Büchern von Adolf Hitler und Rosenberg und in den Broschüren und Artikeln von Göbbels niedergelegt. Nachdem die Henker auf die schon be- schriebene Art ihre Arbeit getan und sich dabei amüsiert hatten, schliefen sie den von keinem Traumbild, keinem Alpdruck gestörten Schlaf der Gerech- ten. Nie wurden sie von Gewissensbissen gequält, schon darum nicht, weil keiner von ihnen ein Gewissen hatte.“ Grossman hatte damit das Wesen von bösgesteuerten (ponerogenen) Men- schen auf den Punkt gebracht: „Wenn sie Heimaturlaub hatten, gingen sie mit ihren blonden Frauen ins Kino, lachten laut und stellten ihre eisenbeschlagenen Stiefel zur Schau. Nie- mand wusste, was sie in Wirklichkeit in Polen taten, sie unterlagen dem strengsten Geheimhalteverbot. Aber im umfassenden Sinne waren sie in Wirklichkeit keine Menschen, sondern Bestien, SS-Bestien.“

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Ein Raubtier tötet aus dem Instinkt heraus, eine Bestie tötet aus Lust am Leid seiner Opfer. „Und als jener kurze, aber schreckliche Abschnitt der Geschichte begann, in dem die Bestie über den Menschen triumphierte, bewahrte der von der Bestie gemeuchelte Mensch bis zum letzten Atemzug seine Seelenstärke, die Klar- heit des Denkens und die Glut der Liebe. Das ist das Vermächtnis der er- mordeten Juden an uns alle, die nachgeborenen Generationen. Die trium- phierende Bestie, die den Menschen vernichtete, blieb aber nach wie vor die Bestie. Die Bestie und ihre Philosophen (Adolf Hitler, Adolf Eichmann und Heinrich Himmler) prophezeiten den Untergang des Judentums in Europa und in der ganzen Welt, aber die Menschen blieben Menschen, sie erkannten die Moral und die Gesetze der faschistischen Zerstörungskraft nicht an, sie wehrten sich mit allen Mitteln dagegen und kämpften noch in ihrem millio- nenfachen Sterben in den Vernichtungslagern dagegen an. Sie starben oft still und in Würde.“

Die bestialischen Taten der SS-Männer in den Vernichtungslagern des Holo- caust werden von Wassilij Grossman als charaktermäßige Missgeburten der eigenen seelischen Verkrüppelung zugeschrieben. Das Grunddilemma wird aber anderswo geortet:

„Entsetzlicher aber ist, dass solche Entartete (die SS-Männer), die isoliert und wissenschaftlich zur Erforschung von Geisteskrankheiten als Phänomene studiert werden müssten, in der nationalsozialistischen Diktatur staatstra- gende, aktive und handelnde Mitglieder der Gesellschaft geworden sind. Ihre perversen Wahnvorstellungen, ihr zutiefst pathologisches Wesen, ihre ab- scheulichen Verbrechen sind unverzichtbare Elemente der Welt von Adolf Hitler. Tausende, Zehntausende, Hunderttausende solcher Kreaturen wur- den zum Grundpfeiler des deutschen totalitären Regimes. Sie waren zwölf Jahre hindurch die Stützen und das Fundament Hitlerdeutschlands: unifor- miert, bewaffnet und mit den höchsten Orden ausgezeichnet. Sie wurden zu den befugten Herrschern über Leben und Tod der Völker Europas.

Nicht über die Existenz von bestialischen Kreaturen sollte man sich entset- zen, vielmehr über einen Staat, der sie aus den dunklen Ritzen und geheimen Winkeln hervorlockte und ihnen eine Aufgabe gab, sie zu etwas Notwendi- gem, Nützlichen und Unersetzlichen machte: in Treblinka, in Maidanek, in Belzec, in Sobibor, in Oswienzim, in Babij Jar, in Domanewka, in Bogdanowka, in Trostanjez, in Ponari, in den Tötungsanstalten der Euthana-

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sie, in Dutzenden und Hunderten von Gestapo-Foltergefängnissen, in Ar- beits- und Straflagern, in Konzentrationslagern und in allen anderen Einrich- tungen zur Zerstörung des Lebens und der Menschlichkeit.“

Und Wassilij Grossman hinterlässt im Jahr 1946 den ewiggültigen Aufruf zur Wachsamkeit:

„Heute muss man über die Verantwortung aller Völker und jeden Bürgers der Welt für die Zukunft sprechen. Jeder Mensch ist seit Treblinka, Sobibor und Belzec vor seinem Gewissen verpflichtet, mit der ganzen Kraft seiner Seele und Vernunft zu ergründen, was den menschheitszerstörenden Rassen- wahn hervorgebracht hat und was geschehen muss, damit der Nationalsozi- alismus und der Faschismus nie mehr wieder, weder auf dieser, noch auf der anderen Seite des Ozeans, wiedererstehen kann, nie wieder, bis in alle Ewig- keit.“

Die imperialistische und neoliberale Idee der nationalen, rassemäßigen, wirt- schaftlichen oder sonst irgendeiner Überlegenheit und Vormachtstellung führt unweigerlich zur Errichtung von Einrichtungen und Institutionen zur Abschaffung der Menschlichkeit. Geistig-kulturelle Freiheit, rechtlich-egali- täre Gleichheit und wirtschaftlich-solidarische Gemeinschaftlichkeit bleiben ewig die Grundpfeiler einer Kultur des Humanismus und der Menschlichkeit. Und das Ziel der positiven Weiterentwicklung der gesamten Menschheit.

„Die besten Eigenschaften, die ein Mensch haben kann sind Redlichkeit, Warmherzigkeit und Toleranz.“ Benjamin Ferencz (2020)

Doch wir leben heute in einer Zeit, wo „Nie wieder!“ gerade wieder passiert. Es ist einmal geschehen, es geschieht schon wieder …

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ANHANG I

Literatur zum Weiterlesen

Aly, G. (2014). Die Belasteten. „Euthanasie“ 1939-1945. Eine Gesell- schaftsgeschichte. Frankfurt am Main: Fischer Verlag. Arad, Y. (2018). The Death Camps. Belzec, Sobi- bor, Treblinka. Bloomington, Indiana (USA): Indiana University Press Berger, S. (2013). Experten der Vernichtung. Das-T4-Reinhard-Netz- werk in den Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka. Hamburg: Hambur- ger Edition HIS Verlag. Bildungswerk Stanislaw Hantz (Hrsg.) (2020). Fotos aus Sobibor. Die Niemann-Sammlung zu Holocaust und Nationalsozialismus. Berlin: Metropol Verlag. Czech, H., Neugebauer, W. & Schwarz, P. (2018). Der Krieg gegen die „Minderwertigen“. Zur Geschichte der NS-Medizin in Wien. Wien: Dokumentationszentrum des österreichischen Widerstands. Diner, D. (Hrsg.) (1988). Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch. Friedländer, H. (2001). Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung. München: Wilhelm Heyne Verlag. Feingold, M. M. (2012). Wer einmal gestorben ist, dem tut nichts mehr weh. Eine Überlebensgeschichte. Salzburg-Wien: Otto Müller Verlag. Ferencz, B. (2020). „Sag immer deine Wahrheit“. Was mich 100 Jahre Leben gelehrt haben. München: Heyne Verlag. Gadensätter, L. & Gollackner E. (2018). Schluss mit Schuld. Unsere Reise zum Holocaust und zurück. Wien: Seifert Verlag. Geier, P. (2017). Meine Erlebnisse im Konzentrationslager Mauthau- sen. Norderstedt: Edition Egersis. Gitschtaler, B. (2016). Geerbtes Schweigen. Die Folgen der NS-„Eu- thanasie“. Salzburg-Wien: Otto Müller Verlag. Gradowski, S. (2019). Die Zertrennung. Aufzeichnungen eines Mit- glieds des Sonderkommandos. Berlin: Suhrkamp Verlag – Jüdischer Verlag. b

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ANHANG II

Das „Aktion T4 – Aktion Reinhard – Netzwerk“

Das „SS-Personal“ in den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka (nach Vornamen geordnet)

SS Adolf Karl Muller: Sobibor. SS Albert Forker: Sobibor und Treblinka. SS Albert Widemann: Belzec. SS Alexander Pflanzer: Sobibor. SS Alfons Lindenmuller: Treblinka. SS Alfred Loffler: Majdanek und Treblinka. SS Anton Getzinger: Sobibor. SS Arthur Dachsel: Belzec und Sobibor. SS Arthur Walther: Sobibor. SS August Hengst: Treblinka. SS August Miete: Treblinka. SS Bernard Wallerang: Sobibor. SS Lothar Boelitz: Treblinka. SS Bruno Weiss: Sobibor. SS Christian Wirth: Belzec. SS Emil Hackel: Sobibor. SS Erich Dietze: Sobibor. SS : Belzec, Sobibor und Treblinka. SS : Sobibor. SS Erich Schulz: Sobibor und Treblinka. SS Erich Sporleder: Belzec und Sobibor. SS Ernst Bauch: Sobibor. SS Ernst Gentz: Sobibor und Treblinka. SS Ernst Schemmel: Sobibor und Treblinka. SS Ernst Zierke: Belzec und Sobibor. SS Erwin Fichtner: Belzec. SS Erwin Kainer: Treblinka. SS Erwin Lambert: Sobibor und Treblinka. SS Erwin Stengelin: Sobibor und Treblinka. SS Ferdinand Gromer: Sobibor. SS Franz Hodl: Sobibor. SS : Sobibor. SS Franz Albert Rum: Sobibor und Treblinka. SS : Sobibor und Treblinka. f

SS Franz Suchomel: Sobibor und Treblinka. SS Franz Sydow: Sobibor und Treblinka. SS Franz Wolf: Sobibor. SS Friedrich Tauscher: Belzec. SS Fritz Hirche: Belzec. SS Fritz Jirmann: Belzec. SS Fritz Konrad: Sobibor. SS Fritz Kraschewski: Belzec. SS Fritz Schmidt: Treblinka. SS Fritz Tauscher: Belzec. SS Fritz Zaspel: Sobibor. SS Georg Michalsen: Sobibor. SS Gerhardt Borner: Sobibor. SS Gottfried Schwarz: Belzec. SS Gottlieb Hering: Belzec. SS Gustav Franz Wagner: Sobibor. SS Gustav Munzberger: Treblinka. SS Hans Girtzig: Belzec und Sobibor. SS Hans Zanker: Belzec und Treblinka. SS Hans-Heinz Schutt: Sobibor. SS Heinrich Barbel: Belzec und Sobibor. SS Heinrich Gley: Belzec. SS Heinrich Matthes: Sobibor und Treblinka. SS Heinrich Szpilny: Sobibor. SS Heinrich Unverhau: Belzec und Sobibor. SS Helmut Bootz: Sobibor und Treblinka. SS : Belzec, Sobibor und Treblinka. SS Herbert Gomerski: Sobibor. SS Herbert Scharfe: Sobibor. SS Hermann : Sobibor. SS Hermann Felfe: Treblinka. SS : Sobibor. SS : Sobibor und Treblinka. SS Jakob Ittner: Sobibor. SS Johann Klier: Sobibor. SS Johann Niemann: Belzec und Sobibor. SS Johannes Eisold: Treblinka. SS Johannes Klahn: Sobibor und Treblinka. SS Josef Oberhauser: Belzec. SS Josef Hirtreiter: Sobibor und Treblinka. SS Josef Vallaster: Belzec und Sobibor. g

SS Josef Wolf: Sobibor. SS Karl Frenzel: Sobibor. SS Karl-Heinz Plikat: Treblinka. SS Karl Emil Ludwig: Sobibor und Treblinka. SS Karl Potzinger: Sobibor und Treblinka. SS Karl Richter: Sobibor und Treblinka. SS Karl Schiffner: Belzec, Sobibor und Treblinka. SS Karl Schluch: Belzec. SS Karl Steubel: Sobibor. SS Klaus Schreiber: Sobibor. SS Kurt Arndt: Treblinka. SS Kurt Blaurock: Sobibor. SS Kurt Boelitz: Belzec. SS Kurt Bolender: Lublin und Sobibor. SS Kurt Hubert Franz: Belzec, Sobibor und Treblinka. SS Kurt Kuttner: Treblinka. SS Kurt Meidkur: Treblinka. SS Kurt Seidel: Treblinka. SS Kurt Vey: Belzec und Sobibor. SS Kurt Werner: Belzec. SS Lorenz Hackenholt: Belzec, Sobibor und Treblinka. SS Max Baumann: Belzec. SS Max Beulich: Sobibor. SS Max Biala: Treblinka. SS Max Bree: Sobibor und Treblinka. SS Max Gringers: Belzec. SS Max Moller: Treblinka. SS Otto Chelminski: Belzec. SS Otto Horn: Sobibor und Treblinka. SS Otto Stadie: Treblinka. SS Otto Weiss: Sobibor. SS Paul Bredow: Sobibor und Treblinka. SS Paul Groth: Belzec und Sobibor. SS Paul Rost: Sobibor und Treblinka. SS Philipp Post: Sobibor und Treblinka. SS Reinhold Feix: Belzec. SS Richard Hiller: Sobibor und Treblinka. SS Richard Schuh: Lublin. SS Richard Thomalla: Belzec, Sobibor und Treblinka. SS Robert Juhrs: Belzec und Sobibor. SS Rudolf Bar: Belzec und Treblinka. h

SS : Sobibor. SS Rudolf Kamm: Belzec und Sobibor. SS Siegfried Graetschus: Sobibor und Treblinka. SS Thomas Steffl: Sobibor. SS Walther Anton Nowak: Sobibor. SS Walter Kloss: Belzec. SS Wenzel Ryba: Sobibor. SS Werner Becher: Sobibor. SS Werner Borowski: Belzec und Treblinka. SS Werner Dubois: Belzec und Sobibor. SS Willi Wendland: Sobibor. SS Willi Grossmann: Treblinka. SS Willi Hausler: Lublin. SS Willy Matzig: Sobibor und Treblinka. SS Willi Mentz: Sobibor und Treblinka.

130 SS Männer befahlen, organisierten und bewachten den Mord an 2,6 Mil- lionen Juden; die meisten von ihnen waren in mindesten zwei der Vernich- tungslager der „Aktion Reinhard“ im Einsatz.

Quelle: http://www.elholocausto.net/parte01/0116.htm

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ANHANG III Die 90 SS-Männer von Sobibor – Statistische Auswertung der Berufsbiografien

Die gesamte Exeldatei kann unter folgender Mailadresse vom Autor ange- fordert werden: [email protected]

DANKSAGUNG Ich danke meiner Frau Sonja, die es auf sich genommen hat, sich von mir in unzähligen Gesprächen mit dieser so erschütternden Thematik konfrontie- ren zu lassen. Ich danke ihr ebenfalls für die Mithilfe bei der Endredaktion. Ich danke meinem Freund Herbert Huber sowie meiner Frau Sonja für das Korrekturlesen des Textes. Ich danke all meinen eigenen leidvollen Erfahrungen, die mich dazu befä- higt haben, das Leid anderer Menschen mitzuerleben und nachzuvollziehen. Ich danke allen guten Mächten, dass sie mir die Kraft gegeben haben, die Konfrontation mit dem Unsagbaren zu ertragen und auszuhalten.

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Foto: Herbert Huber

HUBERT MITTER, geboren am 6. Mai 1960 in Salzburg, lehrte bis September 2019 an der Pädagogischen Hochschule Salzburg - Stefan Zweig am Institut für Gesellschaftliches Ler- nen und Politische Bildung. Zuletzt veröffentlichte er den dokumentarischen Historienkrimi „Ein Teufel als Bischof – Maximilian Gandolf Graf zu Kuen- burg und die großen Bettlerbubenpogrome von 1677 – 1679 in Salzburg“ (2018), den fiktiv-autobiografischen Roman „LIN- ZEN – Begegnungen auf meinem Weg ins Gas“ (2019) und die Aufdeckergeschichte „Lisa und Languste – Die Geheimsache Hinterbrühl 1944-1945“ (2020). Alle Bücher können direkt unter [email protected] beim increase-verlag bestellt werden.

Der Autor lebt als freier Schriftsteller mit seiner Frau und sei- nem Hund „Flocke“ in Baden bei Wien.

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