DIE WARTE P E R S P E C T I V E S

Vue hebdomadaire sur les arts et les idées | Das Feuilleton am Donnerstag ❖ ❖ 31. Januar 2013 ❖ Nummer 4|2390

❖ GESCHICHTE Themenjahr „Zerstörte Vielfalt“ in Berlin „Die Silberkammer der Dynastie“ D'Haus Lëtzebuerg-Nassau an d'Geschicht vum Grand-Duché vum Jeff Baden ...... 2 Radikaler Aderlass Gefährliche Töne im „Frozen War“ Isoliertes Berg-Karabach blüht auf von Hans Haider ...... 4 der Kulturnation NS-Machtergreifung vor 80 Jahren Am 30. Januar 1933 demontierte sich Deutschland selbst Die Katastrophe wäre vermeidbar gewesen von Albert H.-V. Kraus ...... 6 „Algérie française“ gescheitert Luxemburger in Algerien und Mali von Bodo Bost ...... 13

❖ SCIENCES Nouvelles sciences Que reste-t-il du propre de l'homme? par P. Jean-Jacques Flammang ...... 12

❖ RELIGION In dankbarer Erinnerung Camille Fournelle (1909-2012) von Jean Malget ...... 10

❖ LITERATUR / LYRIK Pièce et nouvelles de E.-E. Schmitt Mystère des rencontres imprévues par Jean-Rémi Barland ...... 3 L'univers de la bande dessinée Ce n'est pas conter qui compte, c'est l'histoire par Ann Zabus ...... 16

❖ RUBRIKEN D'ailleurs Croire pour mieux vivre par Sirius ...... 3 Sub sensum La prière par Félix Molitor ...... 3 Rätselkolumne Wer ist gemeint? von Christian Schnitzler ...... 5 Hören statt lesen Zwei neue Hörbücher von Walter Gauer ...... 10

❖ IMPRESSUM Fackelzug durch das Brandenburger Tor am 30. Januar 1936: „Der Siegeszug durch das BT wie am 30. Jan. 1933“ Redaktion: Albert Lanners, lautete die Unterschrift zu diesem Bild im „Völkischen Beobachter“. Tatsächlich war jedoch der Fackelzug 1933 verantwortlicher Redakteur wesentlich kleiner und bescheidener ausgefallen, als diese Inszenierung glauben machen wollte. Adresse: Die Warte / Luxemburger Wort L-2988 Luxembourg, (© Stiftung Deutsches Historisches Museum) T. 49 93-569 SEITE 8 6 DIE WARTE Donnerstag, den 31. Januar 2013 ❖ Nummer 4|2390

Zweiter Weltkrieg Die Katastrophe wäre vermeidbar gewesen

Versagen der Demokraten und Pazifismus des Westens ermöglichten Hitlers Verbrechen

Dr. Albert H.V. Kraus Am Abend des 30. Januar 1933 – vor jetzt 80 Jahren – feierten Tausende Nationalsozialisten mit einem großen Fackelzug in Berlin die Ernennung ihres „Führers“ Adolf Hitler (1889- 1945) zum Reichskanzler. Vier Wochen später brannte der Reichstag. Es war der Auftakt zu Die perfekte Polit- einer rabiaten Verfolgungsjagd, show vom 21. die im ganzen Reich mehr als März 1933: Am „Tag von Pots- zehntausend Hitlergegner traf: dam“ verneigt Linkspolitiker, bürgerliche De- sich der seriös mokraten, dazu Schriftsteller wirkende Reichs- und Publizisten. Zugleich hob kanzler Hitler me- dienwirksam vor eine Notverordnung des Reichs- dem populären präsidenten „bis auf weiteres“ Reichspräsidenten die verfassungsmäßigen Grund- Hindenburg. rechte auf. Sie blieb bis Kriegs- (Commons.wikime- dia.org, Bundes- ende 1945 in Kraft. archiv Bild 183-S 38324, Foto: Theo ehn Jahre nach dem Reichstags- Eisenhart) brand protestierten in München ZStudenten der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ gegen die braune Dikta- teuren der Weimarer Republik Zwie- bevor sie der greise Reichspräsident kuläre Berliner Fackelzug von SA, SS tur. „Hitler ist ein Massenmörder“ pin- tracht gesät („Erfüllungspolitiker“) Hindenburg ihrem Todfeind Hitler und „Stahlhelm“ am Tag der Kanzlerer- selten sie an Häuserwände, „Nieder und die Beziehungen Deutschlands zu auslieferte. Unter Anwendung von Ter- nennung ließ den SBZ-Kommentator mit Hitler!“. Die Geschwister Hans seinen Nachbarn vergiftet. Den Repu- ror und Gewalt beseitigte Hitler den „eine starke Verwurzelung“ der Hitler- (*1918) und Sophie (*1921) Scholl blikfeinden rechts und links diente das Rechtsstaat und „zerriss“ – wie ein Regierung im Volke vermuten. (beide hingerichtet 1943) und ihre verhängnisvolle Paragraphenwerk als NSDAP-Plakat (1938) jubelte – „Zug Mitverschworenen, darunter der Medi- Aufhänger ihrer antidemokratischen um Zug“ das „Diktat von Versailles“. Braune Beruhigungspillen zinstudent Willi Graf (1918-1942) aus Gesinnung. Begleitet von schönfärberischen Saarbrücken, bezahlten ihren Protest Zu den außenpolitischen Belastun- Friedensreden setzte der braune Dikta- Das „Presse-Echo der Ernennung Hit- mit dem Leben. gen der Weimarer Demokratie (1919- tor seine imperialistischen Ziele um: lers“ verzeichnete in aller Fairness Er war nach Im Rückblick erkennen wir: Weder 1933) wegen umfänglicher Gebietsver- Wehrpflicht und Wiederaufrüstung unterschiedliche Urteile. Die „Deut- Paul Sethe „das die Kanzlerschaft Hitlers noch der luste, der Abtrennung des Saargebiets, 1935/36, Rheinland-Besetzung 1936, sche Allgemeine Zeitung“ sprach größte Verhäng- Zweite Weltkrieg (1939-1945) sind der Besetzung des Rheinlands und der Eingliederung Österreichs und des Su- skeptisch von einer „gewagten und nis der deut- schicksalhaft über Deutschland und ungeklärten Reparationshöhe gesellten detenlandes 1938. Und die westlichen kühnen Entscheidung“, die keinen schen Geschich- die Welt gekommen. Der Weg dahin sich nicht minder belastende innenpo- Demokratien in Paris und London? Sie „verantwortungsbewussten Politiker“ te“: Adolf Hitler, war gesäumt von menschlichen Schwä- litische Faktoren. Die meisten Deut- nahmen Hitlers Vertragsbrüche hin, jubeln lasse. Der sozialdemokratische der „Terrorist „Vorwärts“ verwies auf die offenkun- des Jahrhun- chen, politischen Fehlern, gravieren- schen trauerten dem Kaiserreich nach verharrten in pazifistischen Bekundun- den Fehleinschätzungen und Verbre- und verharrten in innerer Distanz zur gen, übten sich in Beschwichtigung dige Verfassungsfeindlichkeit der derts“. Hier die neuen Regierung (31.1.1933). Todesmeldung chen. Republik. und taten – nichts! des britischen Dies zeigte etwa die Direktwahl des Ausgangspunkt Versailles Saar- und Blieszeitung Dass mit dem Regierungswechsel „Daily Mirror“. populären Weltkriegsgenerals und zu Hitler ein Systemwechsel eingesetzt (Google-Bilder, Der Straffrieden von Versailles (1919) „Siegers von Tannenberg“ (1914), Paul „Kaltschnäuzig“, so der Historiker hatte, war für die Zeitungsleser noch Urheber unbe- hatte die Deutschen verbittert („Heer- von Hindenburg (1847-1934) zum Hans-Peter Schwarz, hätten London kannt) nicht zu erkennen. Der aus Alsenz in los! Wehrlos! Ehrlos!“), unter den Ak- Reichspräsidenten (Amtszeit: 1925- und Paris Hitlers Vertragsbrüche und der Pfalz stammende neue Innenmi- 1934). Hindenburg war ein glühender die Unterdrückung fremder Völker nister Dr. Wilhelm Frick (1877-1946, Monarchist. Tragisch auch das durch hingenommen, wenn nur der große hingerichtet) verabreichte bei einer „billiges Taktieren“ „dogmatischen Krieg vermieden wurde. So bestärkten Pressekonferenz laut SBZ (1. 2. 1933) Starrsinn“ und „Scheu vor Kompro- die Westmächte Hitlers Gewaltbereit- Beruhigungspillen: Die neue Regie- missen“ – so die liberale „Frankfurter schaft und begünstigten wider Willen rung lege Wert auf die freie Meinungs- Zeitung“ – verursachte Scheitern der den Marsch in den Weltkrieg. Das äußerung und beabsichtige nicht, Par- Großen Koalition unter Hermann Mül- Kalkül des Sowjetdiktators Josef Stalin teien zu verbieten oder mit Artikel 48 ler (SPD) am 27. März 1930. (1879-1953) beschleunigte den Weg zu regieren. ins Verderben. Proteste statt Taten Wie erlebten nun die Leser der in Drei Tage später meldete die SBZ Noch verfügten die demokratischen der Region Neunkirchen – St. Wendel bereits das Verbot des sozialdemokra- Parteien über 285 Mandate im Reichs- weitverbreiteten „Saar- und Blies-Zei- tischen „Vorwärts“ (für drei Tage) und tag gegenüber 66 der rechten und tung“ (SBZ) die Anfänge der national- einer SPD-Kundgebung in Berlin. In linken Extremisten. Die September- sozialistischen Herrschaft vor 80 Jah- der gleichen Ausgabe beteuerte Hitler wahl 1930 brachte den Schock: 107 ren? Dieses in der Hüttenstadt Neun- gegenüber angloamerikanischen Pres- Mandate für die Hitlerpartei statt vor- kirchen erscheinende Blatt rühmte sich severtretern seine auf Mäßigung und her 12! Das Parlament dankte nun ab, im Untertitel als die „aelteste und Harmonie angelegte Grundeinstel- außerstande, handlungsfähige Regie- gelesenste Zeitung des nordöstlichen lung: Er habe „niemals eine Brandre- rungen zu bilden. Fortan regierte der Saar-Industriegebietes“. de“ gegen fremde Staaten gehalten Reichspräsident mit Notverordnungen. Zwar war das Saargebiet seit 1920 und im übrigen liebe „niemand mehr Seit Juli 1932 verfügten Nationalso- von Deutschland abgetrennt und für Friede und Ruhe“ als er. Sein einziges zialisten (230 Sitze) und Kommunisten 15 Jahre einer Regierung des Völker- Ziel sei die deutsche Gleichberechti- (89 Sitze) über die absolute Mehrheit bundes unterstellt worden. Doch be- gung mit anderen Nationen (SBZ im Reichstag (608 Sitze). Die Wähler obachtete man das Geschehen „im 4.2.1933). Ein Wolf im Schafsfell hatten die Republik bereits abgewählt, Reich“ mit wachen Augen. Der spekta- hatte gesprochen. ̈ Donnerstag, den 31. Januar 2013 ❖ Nummer 4|2390 DIE WARTE 7

Weg des Unheils ren war, machten sich unter den Verlie- erheben, um einem Angriff Hitlers Wi- Was von den Bekenntnissen führender rern düstere Vorahnungen breit. derstand zu leisten, antwortete Kommu- Nationalsozialisten zur Meinungsfrei- Der kommunistische Publizist Her- nistenführer Maurice Thorez (1900- heit zu halten war, demonstrierte ein mann Budzislawski (1901-1978) etwa 1964) unter dem Beifall seiner Partei: SBZ-Bericht vom 6.2.1933 aus Dessau. warnte vor der Illusion, die Expan- „Wir werden nicht zulassen, daß die Dort hatte der Polizeidezernent, sionslust des Dritten Reiches sei „ge- werktätigen Klassen in einen sogenann- NSDAP-Mitglied, missliebige Literatur rade nun“ geringer geworden: „Da die ten Verteidigungskrieg der Demokratie aus der Stadtbücherei entfernen las- Politik des Drucks, der Erpressung, der gegen den Faschismus hineingetrieben sen: Darunter sämtliche Werke Leo Gewalt eben erfolgreich gewesen ist, werden.“ Trotzkis (1879-1940), des Predigers wird sie trotz aller schönen Worte Die Vereinigten Staaten hielten sich der kommunistischen Weltrevolution, fortgesetzt werden.“ aus den Vorgängen heraus, wünschten – aber auch Anti-Kriegs-Schriften wie der Skrupelloser Rechtsbrecher wie Churchill in seinen Memoiren süffi- 1929 erschienene Bestseller-Roman sant bemerkt – jedermann nur Gutes „Im Westen nichts Neues“ von Erich Auch Leopold Schwarzschild (1891- und waren davon „überzeugt, daß sie Maria Remarque (1898-1970). 1950), der bürgerliche Publizist, ging sich nie wieder um diese Dinge würden mit den „Machthabern der Welt“ hart Ein Vorgeschmack auf die berüchtig- kümmern müssen.“ Die Regierungen in ins Gericht: „Jeder weiß, daß sie nichts Paris, London und Rom fühlten sich ten Bücherverbrennungen vom 10. Mai wollen als die Ruhe und den Frieden, 1933. Doch es sollte noch schlimmer jedoch verpflichtet, dem offenen Ver- und wer es nicht weiß oder bestreitet, ist tragsbruch Hitlers entgegenzutreten. kommen. Ganz nach dem Wort von ein Esel.“ Dabei geißelte er voller Empö- Heinrich Heine (1797-1856), dass, wo rung den undifferenzierten Pazifismus Wortreiche Tatenlosigkeit Bücher brennen, am Ende auch Men- der westlichen Demokratien: „Sie wol- Man traf sich im malerischen Kurort schen brennen. Das Unheil bahnte len Frieden, Frieden, nur Frieden, – sie sich ungestört seinen Weg. Zum Stresa am Lago Maggiore und einigte wollen ihn sogar, das ist ihr Fehler, ohne sich auf eine gemeinsame Erklärung Schluss brannte ganz Europa. Hätte Umweg, sie wollen ihn direkt.“ das Unheil abgewendet werden kön- (14. April 1935). Diese verurteilte die Willi Schlamm (1904-1978), damals deutsche Aufrüstung, betonte die Un- nen? noch linksstehend, prophezeite ganz in Das Erörtern hypothetischer Überle- abhängigkeit Österreichs und warnte diesem Sinne der „gewissensfaulen, frei- Hitler vor weiteren Schritten zur Revi- gungen läuft zwar dem Auftrag des heitsmüden Umwelt“ in Deutschland Historikers zuwider, da er nach Leo- sion von Versailles, besonders vor und Europa schlimme Konsequenzen: einer Besetzung des Rheinlandes. pold von Ranke (1795-1886) „bloß „Vom Saar-Erfolg besoffen“, werde das zeigen“ soll, „wie es eigentlich gewesen Dem schlossen sich im Genfer Völker- Literatur: Trotz Völker- NS-Regime nun über neue Grenzen grei- bund neunzehn Staaten an. – Als Hitler kam ... 50 Jahre nach dem 30. rechtswidrigkeit ist.“ Und dennoch lohnt es sich zu fen: „Vielleicht kommt sofort Österreich Das Ganze nannte sich trutzig Januar 1933. Erinnerungen prominenter vom Ausland fragen ob der skrupellose Diktator und an die Reihe, vielleicht wird eine Pause „Stresa-Front“. Die Gegenspieler des Augenzeugen (= Herderbücherei Bd. 978), geduldet: Die Massenmörder Adolf Hitler, nachdem mit Friedenslüge und Großmachtdiplo- Freiburg i. Br. 1982. rabiate Beseiti- vertragsbrüchigen NS-Regimes hatten er Reichskanzler geworden war, nicht matie ausgefüllt sein.“ Er lag mit seinen – Bedürftig, Friedemann: Als Hitler die gung der „Fes- protestiert. Taten? Fehlanzeige! Kom- auf seinem verhängnisvollen Weg hätte Voraussagen nicht falsch. Atombombe baute. Lügen und Irrtümer seln“ des Ver- mentar Churchills: „Wie vergeblich gestoppt werden können? Unser Blick Das Machtspiel begann schon bald. über das Dritte Reich, München sailler Vertrages war ihre Stimmabgabe, ohne die Be- wendet sich zurück in die 1930er- Hitler ballte die Faust und zeigte die 2003. steigerte Hitlers reitschaft einer einzigen Macht oder Ansehen enorm. Jahre, als die entscheidenden Wei- Muskeln. Am 9. März 1935 gab Berlin – Benz, Wolfgang (Hg.): Lügen, Legenden, Mächtegruppe, die Anwendung von Hier ein Plakat chenstellungen erfolgten. offiziell die Aufstellung einer deutschen Vorurteile. Ein Wörterbuch zur Zeitgeschich- Gewalt, wenn auch nur als letztes von 1938. Luftwaffe, am 16. März 1935 die Wie- te (= dtv Bd. 3295), 3. Auflage, München Mittel, in Erwägung zu ziehen!“ 1992. (Google-Bilder, Friedenssüchtige Schwäche dereinführung der allgemeinen Wehr- – Blasius, Rainer: Sir Winstons Rückkehr. Urheber unbe- Vor der Volksabstimmung vom 13. pflicht bekannt. Dies waren keine gehei- Wie wenig die Parolen von Stresa kannt) wert waren, entlarvte schon das rund Sieg um jeden Preis – Wie Churchill die Januar 1935, so wird berichtet, sei men, es waren ganz offene Verstöße westliche Welt gegen Hitler mobilisierte, Hitler geneigt gewesen, die nationalso- gegen den Versailler Friedensvertrag, auf einen Monat später, am 18. Juni, geschlossene deutsch-britische Flot- in: FAZ vom 3. Dezember 2002. zialistische Agitation im Saargebiet auf dem der Völkerbund fußte. Und wie – Bracher, Karl Dietrich / Funke, Manfred / eine etwas mildere Tonart zu stimmen, reagierten die westlichen Demokratien? tenabkommen. Kernbestimmung Jacobsen, Hans-Adolf (Hg.): Deutschland um das Verhalten der Großmächte war, dass die (völkerrechtswidrig er- 1933–1945. Neue Studien zur nationalso- abzutasten. Doch hätten ihm die Gau- Fehlurteile im Westen richtete) deutsche Flotte nicht über zialistischen Herrschaft, Bonn 1992. leiter widersprochen: Es brauche keine Frankreich verlängerte die Dienstzeit ein Drittel der britischen Flotte hin- – Churchill, Winston: Der Zweite Weltkrieg, außenpolitische Rücksicht genommen seiner Soldaten von einem Jahr auf aus vergrößert werden dürfe: „Ein Bd. 1: Der Sturm zieht auf (1919-1939), zu werden. „Der Punkt, bis zu dem zwei Jahre. Keine leichte Aufgabe für Schlag für den Völkerbund“, empört Hamburg 1949. sich die friedenssüchtige Schwäche der Regierungschef Pierre Laval (1883- sich Churchill in seinen Erinne- – Fabry, Philipp W.: Mutmaßungen über Welt treiben lasse, sei noch lange nicht 1945), dem der britische Premier Ram- rungen. Hitler. Urteile von Zeitgenossen, 2. Auflage, erreicht.“ say Mac Donald (1866-1937) von der Düsseldorf 1980. Dies lesen wir in den unveröffentlich- Labour-Party noch ein Jahr zuvor drin- Fiasko der Beschwichtiger – Haffner, Sebastian: Anmerkungen zu Hitler, 20. Auflage, Berlin 1978. ten Erinnerungen des aus Saarlouis gend nahegelegt hatte, seine Armee zu Es fügte sich dann ganz logisch in die – – Haffner, Sebastian: Churchill. Eine stammenden Geschäftsführers des Cen- verringern! Kommunisten und Sozialis- so Michael Salewski – feige und irratio- nale Politik der Beschwichtigung (Ap- Biographie, Hamburg 2001. tral-Verbandes deutscher Staatsbürger ten stimmten gegen die Dienstzeitver- – Jäger, Lorenz: Friede, Friede, Friede. jüdischen Glaubens, Bruno Weil (1883- längerung. peasement) gegenüber dem skrupel- Eliots Europa: Versailles, Keynes und „The 1961). Als dann die Saar-Schlacht ge- Als Léon Blum (1872-1950) erklärte, losen Diktator Hitler, dass Frankreich Waste Land“, in: FAZ vom 4. Dezember schlagen und für die Hitlergegner verlo- die französischen Arbeiter würden sich und England am 7. März 1936 auch 2002. die illegale Besetzung des Rheinlandes – Knopp, Guido / Wiegmann, Bernd: durch Wehrmachtstruppen tatenlos Warum habt ihr Hitler nicht verhindert? „Sie versprachen Arbeit und Brot hinnahmen. Fragen an Mächtige und Ohnmächtige (= und brachten Knechtschaft und Weitere Vertragsbrüche Hitler- Fischer-Taschenbuch Bd. 3476), Frankfurt Not“: So kommentierte der bayeri- Kampf dem Gift der Nazis und a. M. 1983. sche SPD-Politiker Wilhelm Hoeg- deutschlands folgten, so der „An- Kommunisten: Der politische Ka- – Kraus, Albert H. V.: Erinnerungen an die ner (1887-1980) dieses Wahlver- schluss“ Österreichs im März 1938 tholizismus, hier die Bayerische Anfänge. Der 30. Januar 1933 – Fragen sprechen der Nazis. Volkspartei, wehrt sich vor den und die im Münchener Abkommen und Einsichten nach über 50 Jahren, in: (Google-Bilder, Urheber unbekannt) Reichstagswahlen von 1932. vom September 1938 erzwungene Ab- Saarbrücker Zeitung vom 15. Dezember tretung des Sudetenlandes durch die 1983. Tschechoslowakei. Salewski kommen- – Kraus, Albert H. V.: Saarland zwischen tiert das voller Enttäuschung: „Also Michel und Marianne. Die Volksabstimmun- nahm das Unglück seinen Lauf. ‚Null gen von 1935 und 1955, Saarbrücken Toleranz‘ hätte der Welt vielleicht den 2005. Zweiten Weltkrieg erspart.“ Zwölf – Salewski, Michael: Die böse Saat – Jahre nach der Ernennung Hitlers zum Entwaffnung und Militärkontrolle in Reichskanzler lagen Deutschland und Deutschland , in: FAZ vom 24. März 2003. Menschenleben waren zu beklagen, – Schickel, Alfred: Wie Zeitgenossen Hitler Trauer und Leid erfüllten die Herzen. sahen. Fehlurteile über den braunen Dikta- tor (= Rez. von Philipp W. Fabry, s.o.), in: Alfred Kantorowicz (1899-1979), FAZ vom 19. Oktober 1970. ein vom NS-Regime ins Exil getriebe- – Schmidt, Rainer F.: Die Außenpolitik des ner Hitlergegner, notierte damals in Dritten Reiches 1933-1939, Stuttgart 2002. New York: „Das also liegt hinter uns ... – Schock, Ralph (Hg.): Haltet die Saar, Zwölf Jahre, die die Verbrechen von Genossen! Antifaschistische Schriftsteller im tausend Jahren aufgehäuft haben ... Abstimmungskampf 1935, Berlin-Bonn Von irgendwoher wird Beethovens 1984. Fünfte gesendet. Die Hymne des – Schwarz, Hans-Peter: Das Gesicht des Sieges? Es gibt keinen Sieg. Es gibt am 20. Jahrhunderts. Monster, Retter und Ende dieses Krieges nur Besiegte.“ ࡯ Mediokritäten, Berlin 1998.

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Themenjahr „Zerstörte Vielfalt“ in Berlin (Teil I) z Radikaler Aderlass der Kulturnation v

Am 30. Januar 1933 demontierte sich Deutschland selbst l Martina Jammers i

Mit der Machtübergabe an die S Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 begann in Deutschland die i Zerstörung aller kulturellen, politi- g schen und wirtschaftlichen Kräfte, welche der Ideologie des neuen Regimes widersprachen. Fünf V Jahre später brannten während der Novemberpogrome in ganz b Deutschland Synagogen. Jüdische k Geschäfte, Wohnungen und Friedhöfe wurden zerstört, sechs Millionen Juden ermordet. Unter g dem Titel „Zerstörte Vielfalt“ erin- w nert in Berlin das Themenjahr 2013 an die beiden Ereignisse vor z 80 bzw. 75 Jahren – das dun- g kelste Kapitel der deutschen Ge- S schichte.

ereits am 1. April 1933 rief das NS-Regime zum Boykott gegen jüdi- S Bsche Geschäfte, Anwaltskanzleien und Arztpraxen auf. Die Kampagne gilt als Dies gilt auch für ein anderes Doku- respondenz, Fotografien und natürlich erster Angriff gegen die wirtschaftliche Preußische Staatsbibliothek, wie sie Existenzgrundlage von Juden in Deutsch- ment vom gleichen Tag: In diesem auch private Tagebücher und Doku- 1936 beflaggt war anlässlich der k land. Nur selten kommt dabei in den Schreiben untersagt die Leitung einer mente – in ihren historischen Kontext Olympischen Spiele in Berlin. Blick, dass die durchgeführten Aktionen Klinik in Chemnitz dem Augenarzt Ernst und ordnet die persönlichen Zeugnisse (© bpk Bildarchiv Preußischer Kultur- von offener Gewalt begleitet waren. So Rosenthal für den 1. April 1933 jegliche in das politische Zeitgeschehen ein. besitz) v betritt an diesem Tag ein SA-Trupp unan- Ausübung seiner Tätigkeit und sogar das Stadtweit sind zahlreiche Institutio- l gekündigt das Krankenhaus Am Urban in Betreten des Krankenhauses. Ausdrück- nen, Museen und Gedenkstätten am z Berlin-Kreuzberg und verhaftet den dort lich ist aber vermerkt, dass das Verbot Themenjahr beteiligt und widmen sich je len, die jüdischen Schauspieler, Tänzer, j tätigen Professor Erich Simenauer und nur für dieses Datum gilt – und einer einem bestimmten Aspekt nationalsozia- Komponisten, Musiker und Sänger, die h verschleppt ihn in das „wilde KZ“ in der Wiederaufnahme der Arbeit am folgen- listischer Verfolgung. Im Deutschen Histo- Intendanten, Dirigenten, Dramaturgen – Kaserne Papestraße. Bewusst lässt man den Tag nichts im Wege steht. Tatsäch- rischen Museum (DHM) werden diese 40 kurz: alle jüdischen Mitarbeiter an Thea- Simenauer – wie auch die übrigen Gefan- lich kann Rosenthal nach dem Boykott- Projekte in einer zentralen Übersichtsaus- tern, Konzertbühnen und Opernhäu- genen – über sein weiteres Schicksal im Tag als Arzt weiterarbeiten. Erst 1936 stellung präsentiert. Berlin stand 1933 sern. „Erzwungenes Finale – Ende der Unklaren. Er erhält lediglich einen Lauf- wandert er in die USA aus. Diese beiden als politisches Zentrum und quirlige Kul- Vorstellung“ heißt die Ausstellung im zettel mit seinem Namen und seiner Häft- Schicksale verdeutlichen, wie unter- turmetropole mit über vier Millionen Berliner Willy-Brandt-Haus, die an rund n lingsnummer. schiedlich die Erfahrungen deutscher Ju- Einwohnern im Mittelpunkt der natio- 30 der einst populären Bühnenkünstler Unter den SA-Wachen in der Pape- den selbst innerhalb einer Berufsgruppe nalsozialistischen Machtergreifung. Mit erinnert, etwa an Schauspielerinnen wie straße befindet sich indes ein ehemaliger waren. Und wie willkürlich die braunen der Ernennung Hitlers zum Reichskanz- Elisabeth Bergner, Grete Mosheim und Patient Simenauers, der den Chirurgen Machthaber agierten. ler, als der er sich zunächst auf ein Marlene Dietrich, die Deutschland ver- und Psychoanalytiker erkennt. Der Wach- Auf einer Sonderwebseite wird das Bündnis von NSDAP und Konservativen ließ und in Hollywood eine Weltkarriere r mann kritzelt auf die Rückseite des Lauf- Jüdische Museum vom 31. Januar 2013 stützte, begann am 30. Januar 1933 die startete, noch bevor die Nazis an die zettels den Vermerk „Nicht misshandeln“ an ein Kalendarium historischer Zeug- Zerstörung der Demokratie. Dabei kann Macht kamen. Es wird erinnert an Schau- Gefangenen- von systematischem Vorgehen kaum eine spieler wie Ernst Deutsch, Peter Lorre, u Laufzettel für den – ein deutlicher Hinweis, dass derartige nisse präsentieren, die sich jeweils auf Arzt Erich Sime- Übergriffe gängige Mittel der SA zur Er- einen spezifischen Tag 80 Jahre zuvor Rede sein. Dennoch vollzog sich diese Hans Otto und Otto Wallburg, an Sänger p nauer. Auf der niedrigung ihrer wehrlosen Opfer waren, beziehen. Nach und nach entsteht so ein angemaßte Machteroberung in rasantem wie Ernst Busch und Richard Tauber, an S Rückseite sieht wie es auch spätere Zeugenaussagen bele- Bild des Alltags deutscher Juden, der Tempo innerhalb von fünf Monaten. Theaterregisseure wie Fritz Kortner, man die nach- gen. Simenauer bleibt ohne Gerichtsbe- zunehmend nicht nur von Restriktionen Diese erste Phase war geprägt durch Wolfgang Langhoff und Max Reinhardt. u trägliche Bemer- schluss vier Wochen lang in Haft. Als er und Schikanen geprägt war, sondern im zügellosen Terror gegen die politischen Lorre, der 1931 durch seine Titelrolle in l kung „Nicht miß- entlassen wird, entschließt er sich sofort privaten Umfeld auch von der Ausgren- Gegner und entsprechende Aktionen ge- Fritz Langs „M – Eine Stadt sucht einen r handeln“ vom 1. zur Flucht aus Deutschland und emigriert zung durch Nachbarn, Kollegen und gen die jüdische Bevölkerung. Mörder“ zu Weltruhm gelangte, ging z April 1933. nach Zypern. Der erwähnte Laufzettel mit Bekannten. Die Online-Präsentation 1933 endgültig ins Exil mit der lakoni- (© Foto: JMB, der rettenden Notiz befindet sich heute im setzt die sehr unterschiedlichen Quellen Todernste Kleinkunst schen Begründung: „„Für zwei Mörder Jens Ziehe) Archiv des Jüdischen Museums Berlin. – offizielle Anschreiben, berufliche Kor- Enorm war der Aderlass an hervorragen- wie Hitler und mich ist in Deutschland den Kräften. Das Deutsche Reich entle- kein Platz.“ l digte sich eines Großteils seiner Eliten – scheinbar auf der Basis von Gesetzen, Luxemburger Exilprogramm Erlassen und Verordnungen. So wurde Auch für Kabarett, Satire und Zeitkritik u gleich im April 1933 das „Gesetz zur war im „Dritten Reich“ keiner mehr da. Wiederherstellung des Berufsbeamten- So wurde selbst die heitere Kleinkunst tums“ erlassen. Damit wurden alle soge- plötzlich zur todernsten Sache. Die nannten Nichtarier vom Staatsdienst aus- Mehrzahl der Pointenmacher floh außer w geschlossen. Schon in den ersten Monaten Landes in eine ungewisse Zukunft. Aus- nach der Machtübernahme verloren zahl- gebürgert von ihren Landsleuten, die das reiche deutsch-jüdische Erfinder und In- Deutschtum plötzlich für sich reklamier- genieure ihre teils bedeutenden Positio- ten, fanden sie sich bald, sprach- und T nen, wie eine Schau im Technischen Mu- heimatlos geworden, staatenlos im Nir- seum dokumentiert. Nicht alle konnten gendwo. Ein prominentes Beispiel ist i sich ins Ausland absetzen wie etwa der etwa Erika Manns Kabarett „Pfeffermüh- v Rundfunkindustrielle Siegmund Loewe le“, das noch bis 1935 tapfer ein Exilpro- v (1885-1962) in die USA oder der Lokomo- gramm durchzog – und damit auch in tivfabrikant Alfred Orenstein (1885- Luxemburg Station machte, wo die letz- l 1969), der nach Südafrika auswanderte. ten Gastspiele geboten wurden1. Mann Sofort entlassen wurden sämtliche jü- wurde als „geistiger Urheberin“ des Pro- A dischen Professoren an den Hochschu- gramms, das dezidiert die Misere des g Donnerstag, den 31. Januar 2013 ❖ Nummer 4|2390 DIE WARTE 9

Deutschen Reichs parodierte, die deut- natz (1983-34) ein drittes Standbein hat- sche Staatsbürgerschaft entzogen. Bis te? Seine Gemälde im Stil der Neuen zur letzten Aufführung am 14. August Sachlichkeit wie des Surrealismus ver- 1936 gab die „Pfeffermühle“ eindrucks- schafften ihm durchaus Anerkennung, volle 1 034 Vorstellungen in Europa. und verdient hat er damit auch. Die „Sie machen zehnmal mehr gegen die renommierte Galerie Flechtheim gewährte Barbarei als wir alle Schriftsteller zusam- ihm eine Einzelausstellung. Doch gleich men“, schrieb Joseph Roth im Frühjahr nach dem folgenschweren 30. Januar 1935 an Erika Mann. Als diese schließ- 1933 erteilten ihm die Nazis Auftrittsver- lich Anfang 1937 mit der „Peppermill“ bot, verbrannten seine Bücher auf dem in New York Fuß zu fassen suchte, heutigen Bebelplatz am 10. Mai 1933 bei misslang dies aber trotz ihrer guten der Aktion „Wider den undeutschen Sprachkenntnisse gründlich. Fortan zog Geist“ und entfernten seine Werke aus sie mit Vorträgen durch die USA, um öffentlichen Sammlungen. Seine dadurch ihre Zuhörer zu warnen vor der Gefahr, erwirkte Mittellosigkeit verschlimmerte die von Nazideutschland Nation aus- seine Tuberkulose, denn: Ärzterechnun- gehe. gen konnte er nicht mehr begleichen. Selbst ein Spendenaufruf seiner Freunde Erinnerungskultur konnte nicht mehr verhindern, dass er Vieles war in den Jahren vor 1933 bei vollkommen verarmt 1934 starb. Propaganda-Veranstaltungen der NSDAP eines Mahls wieder. Im Berlin der zwanzi- bereits verkündet worden, aber erst jetzt Die in der Nacht vom 9. auf den ger Jahre zählte sie zu den erfolgreichsten Offensichtliches Geheimnis konnten scheinbar „egal“ noch die ab- 10. November 1938 zerstörte Sy- Vertreterinnen der Neuen Sachlichkeit. Zur 50. Wiederkehr des 30. Januar im surdesten Vorstellungen von einer an nagoge in der Fasanenstraße in Mit dem Machtantritt der Nazis vor 80 Jahre 1983 hatte die Berlinische Galerie „deutschen Werten“ orientierten Volks- Berlin-Charlottenburg. Jahren wurde ihre vielversprechende Kar- bereits eine verwandte Ausstellung aufge- (© bpk / Bayerische Staatsbibliothek / gemeinschaft in die Tat umgesetzt wer- Heinrich Hoffmann) riere jäh unterbrochen. Sukzessive zogen boten: „Aus Berlin emigriert“ hieß die den. Wie dies im Einzelnen passierte, sich die Schlingen um ihre Aktivitäten wie Schau damals, die von Jussuf Abbo bis welche Orte der Stadt besonders typisch auch die ihres jüdischen Mannes Nikolaus Gert H. Wollheim aus den Magazinen die für bestimmte Aktionen waren – das unterschiedlichen Gründen durch die Braun (1900-1950), der neben seinen Schätze hob und vor allem die abgerisse- zeigen elf weitere Open-Air-Ausstellun- Machtübernahme der Nationalsozialisten Bildern hervorgetreten war durch seine nen Biographien ihrer Schöpfer zu rekon- gen an markanten Plätzen im ganzen in ihrer Arbeit eingeschränkt wurden oder inspirierende, mit Artur Segal verfasste struieren suchte. Eberhard Roters, der Stadtgebiet. So werden zum Beispiel auf deren Leib und Leben gar bedroht waren. Schrift „Lichtprobleme in der Bildenden Doyen des Museums, setzte damals im dem Platz der Republik zwischen Reichs- Als Hauptwerke – und daher meist promi- Kunst“. Am Ende blieben dem Paar nur Jahre 1983 prononciert das Wort „Wieder- tag und dem Gelände der ehemaligen nent in der Sammlungspräsentation ver- mehr wenige Nischen, um wirken zu entdeckung“ in Anführungsstriche, „weil Kroll-Oper die Zentren und die einzelnen treten – sind etwa Arbeiten von Max können. In der größten Not schickten sie es sich ja nicht um die Ausgrabung ver- Stationen der „Machtergreifung“ präsen- Beckmann, , , ihr 1930 geborenes Söhnchen Andreas mit steckter Dinge handelt, sondern um ein tiert. Naum Gabo, Raoul Haussmann, Hannah einem Kindertransport nach England. Vor offensichtliches Geheimnis. Die Kunst Am Wittenbergplatz in der Nähe des Höch, Jeanne Mammen, , ihrer eigenen Emigration verbrannten die liegt uns nämlich vor der Nase; wir sehen KaDeWe ist die Ausstellung „Vom Boy- Felix Nussbaum, Erich Salomon oder beiden Maler ihre großformatigen Gemäl- sie nur nicht, und das ist der eigentlich kott zum Pogrom“ zu sehen und am Erich Mendelssohn zu sehen. Doch neben de, die sie nicht mitnehmen und ebenso interessante Aspekt im Hinblick auf das ehemaligen Flughafen Tempelhof wird un- diesen Stars gibt es eine Reihe von Künst- wenig in Berlin lagern konnten. Thema ‚nationale Verdrängung‘“. Emi- ter dem Titel „Feiern und Vernichten“ der lern und Künstlerinnen, die mit Berufsver- Heute sagen die Namen Anne Rat- griert ist Ringelnatz zwar nicht, hätte dazu verräterische Umgang der Nationalsozia- bot belegt, verfolgt, ins Exil getrieben oder kowski und Nikolaus Braun selbst In- auch weder das Vermögen gehabt noch die listen mit den Gewerkschaften nachge- gar umgebracht worden sind. Dank der sidern nichts mehr. Ihre sehr deutliche Kraft. Aber seine Gemälde gehören kaum zeichnet. „Erreichen wollen wir vor allem „Kulturpolitik“ der Nationalsozialisten ge- Präsenz in der deutschen Hauptstadt zum kollektiven Gedächtnis. Da hat die junge Menschen, die Berlins neue Vielfalt rieten sie in Vergessenheit, konnten an wurde 1933 brutal gekappt. Ihre Spuren „Säuberung“ der öffentlichen Kunsthallen heute so wundervoll selbstverständlich ihre vielversprechenden Erfolge in den nachhaltig gelöscht. Dies ist umso bedau- durch die Nazis ganze Arbeit geleistet. ࡯ als Teil ihres Lebensgefühls und Lebens- 1920er-Jahren oftmals nie wieder anknüp- erlicher, als Ratkowski im belgischen Un- entwurfs angenommen haben“, resü- fen. Daran zerbrachen nicht wenige Exis- tergrund überlebte und anschließend (Fortsetzung folgt) miert André Schmitz, Kulturstaatssekre- tenzen. nach ihrer Emigration nach New York tär des Landes Berlin. „Nur wer sich weiter malte. Nicht einmal die von der erinnert, hat eine Zukunft“, davon ist Mehr als nur Lichtprobleme Berlinischen Galerie 1996 arrangierte 1 Auftritte und Presseecho der Pfeffermühle in nicht allein Schmitz fest überzeugt. Vier Heringe liegen kurz vor ihrer Entlei- Schau über die Künstlerin vermochte es, Luxemburg hat ausführlich untersucht: Mars bung auf dem Holzbrettchen. Das Glit- ihren Namen wieder geläufig zu machen. Klein, Literarisches Engagement wider die Schisma und Schicksalstag schigkalte ihrer silbernen Bäuchlein Im Grunde passte den braunen Machtha- totalitäre Dummheit. Erika Mann’s Kabarett Der Schicksalstag der Deutschen ist der 9. kriecht einem förmlich unter die Haut. Die bern die gesamte in den 1920er/30er-Jah- „Die Pfeffermühle“ 1935 und 1936 in November: An diesem Tag im Jahre 1918 metallische Farbe wird vom rundlichen ren entstandene Kunstproduktion der Luxemburg. In: Galerie 3 (1985), No 4, S. riefen der SPD-Politiker Philipp Scheide- Kochtopf dahinter aufgegriffen, den zwei Avantgarde nicht, die wir heute in der 543-579. mann und der Führer des kommunisti- grüne Weinflaschen und einer Porzellan- Berlinischen Galerie so bewundern. Ge- schen Spartakusbundes, Karl Liebknecht, schale mit Eiern flankieren. Mit messer- messen an den Literaten und Bühnen- unabhängig voneinander die deutsche Re- scharfem Blick gibt die Malerin Anne künstlern stand den Malern und Fotogra- publik aus und zementierten damit das Ratkowski (1903-96) die Vorbereitungen fen immerhin die universelle Sprache der Schisma der deutschen Arbeiterbewegung. bildenden Kunst zu Gebote. Dennoch Eine Auswahl des Jahresthemas Fünf Jahre später putschte ein weitgehend lassen sich gewachsene Netzwerke nicht „Zerstörte Vielfalt“ unbekannter Gefreiter namens Adolf Hit- Plakat zur Olympiade im Jahr so ohne Weiteres in der Fremde aus dem ler in München gegen die gewählte Regie- 1936. Hut zaubern. ■ Jüdisches Museum: „1933 – Der Anfang vom Ende rung. Der Putsch scheiterte. Hitler wurde (© bpk Bildarchiv Preußischer des deutschen Judentums“ bis 31.12.2013. zu Festungshaft verurteilt und schrieb dort Kulturbesitz) Rilke-Freundin ■ Deutsches Historisches Museum: „Zerstörte Vielfalt. sein Machwerk „Mein Kampf“. Auf Augenhöhe mit Otto Dix und Hannah Berlin 1933-38. Die Portalausstellung“ bis 10. Nov. Am 9. November 1938 brennen in ganz Höch sind nun „vergessene“ Kollegen zu 2013 Deutschland Synagogen. Das NS-Regime entdecken wie Lou Albert-Lazard (1885- ■ Topographie des Terrors: „Der Weg in die Diktatur“ lässt die Masken fallen, beginnt ein Jahr 1969) oder Rudolf Jacobi (1889-1972). bis 9. Nov. 2013 später mit dem Zweiten Weltkrieg und Die in Metz geborene Albert-Lazard ist den ■ Berlinische Galerie: „Verfemt. Verfolgt. Verboten. organisiert von Berlin aus den größten, meisten heute vornehmlich als Rilkes sen- Kunst in Berlin 1933-1938“ bis 12. August 2013 unfassbaren Massenmord in der Ge- sible Porträtistin und Lebensgefährtin be- ■ Willy-Brandt-Haus: „Erzwungenes schichte der Menschheit. Und genau an kannt. Im Jahre 1914 verliebte sie sich in Finale – Ende der Vorstellung. Über die aus Deutsch- einem solchen 9. November im Jahr 1989 den Dichter, mit dem sie 1916 schließlich land vertriebenen und ermordeten Bühnenkünstler“, fällt in Berlin die Mauer. Eine Mauer, die in Wien und München zusammen wohn- weit mehr war als eine gewöhnliche te. Dabei nahm sie in den 1910er-Jahren 5. Feb. – 3. März 2013 ■ Deutsches Technikmuseum: „Orenstein & Loewe. 20 Grenzlinie im Kalten Krieg, weil die durch hochaktiv an Künstlerkreisen teil, die sich sie betonierte Spaltung der Stadt immer um Romain Rolland, Stefan Zweig, Paul deutsch-jüdische Ingenieure, Erfinder und Fotografen auch auf die verbrecherische Ursache der Klee und bewegten. In 1933-1945“, 20. Februar - 31. Dezember 2013. Teilung Deutschlands verwiesen hat. den Golden Twenties faszinierten die Ma- ■ Rundgänge über „Vergessene jüdische Architekten“ Die Berlinische Galerie in Kreuzberg lerin Milieus wie Varieté, Zirkus oder der durch Mitte, Kreuzberg und Charlottenburg unter: integriert unter dem Titel „Kunst in Berlin Vergnügungsort „Lunapark“ am Ende des www.juedische-architekten.de von 1933-38. Verfemt. Verfolgt. Verboten“ Kurfürstendamms – seinerzeit der größte vergessene Maler und Fotografen aus den seiner Art in Europa. Die spezielle Lichtre- Einen Überblick über das umfangreiche Gesamt- eigenen Beständen in ihre Dauerausstel- gie und die grellen Farben stellten für die programm bietet die Plattform: lung. Seit ihrer Gründung sieht es das Malerin eine besondere Herausforderung http://www.kulturprojekte-berlin.de/unsere- Museum als eines seiner vornehmsten dar, die sie virtuos parierte. veranstaltungen/themenjahr-2013-zerstoerte- Aufgaben an, Werke jener Künstler, Foto- Wer weiß zum Beispiel, dass der launige vielfalt.html grafen und Architekten zu sichern, die aus Lyriker und Kabarettist Joachim Ringel-