SWP-Studie Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit

Asiem El Difraoui .de Jihadistische Online-Propaganda: Empfehlungen für Gegenmaßnahmen in Deutschland

S 5 Februar 2012 Berlin

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ISSN 1611-6372

Eine Studie im Rahmen des von der Gerda-Henkel-Stiftung geförderten Projekts »Jihadismus im Internet: Die Internationalisierung von Gewaltdiskursen im World Wide Web« Inhalt

5 Problemstellung und Empfehlungen 7 Vorbemerkung: Islamismus, Salafismus und Jihadismus 10 Entwicklung, Struktur und Inhalte des jihadistischen Internet 10 Vom Hindukusch nach Neukölln – die Geschichte 10 Phase 1: Die Vorgeschichte des Online-Jihad am Hindukusch (1979–1989) 11 Phase 2: Londonistan – Jihadismus im Herzen Europas (1990–2001) 11 Phase 3: Die Globalisierung des Cyberjihad (2001–2006) 13 Phase 4: Web 2.0 – Facebook- und YouTube-Jihad (seit 2006) 14 Struktur und Inhalte des jihadistischen Internet 14 Jihadistische Internetforen 14 Jihad und Märtyrertum – die zentralen Inhalte der Cyberpropaganda 15 Vom Internet ins Paradies – die Heilslehre des Jihadismus 17 Bestandsaufnahme und Erörterung aktueller Gegenmaßnahmen 18 Effektive Beobachtung und Infiltration 18 Infiltration 19 Maßnahmen zur Reduzierung des Angebots 20 Rechtsmittel gegen jihadistische Propaganda 21 Die Rolle der Internetindustrie 22 Cyberattacken 23 Maßnahmen zur Reduzierung der Nachfrage 23 Alternative Weltbilder gegen die jihadistische Deutungshoheit 24 Kommunikations- und Bildungsstrategien gegen den Jihadismus 27 Akteure für alternative Diskurse 31 Schlussfolgerungen und Empfehlungen 35 Abkürzungsverzeichnis

Dr. Asiem El Difraoui ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika

Problemstellung und Empfehlungen

jihad.de Jihadistische Online-Propaganda: Empfehlungen für Gegenmaßnahmen in Deutschland

Spätestens seit der Kosovo-Albaner Arid Uka Anfang März 2011 am Frankfurter Flughafen zwei US-Soldaten tötete und zwei weitere schwer verletzte, hat das Be- wusstsein für die Gefahren jihadistischer Internet- propaganda stark zugenommen. Der 21-Jährige erklär- te bereits kurz nach seiner Verhaftung, zu der Tat habe ihn ein Internetvideo bewogen, das angeblich die Vergewaltigung eines jungen afghanischen Mädchens durch GIs zeigt. Arid Uka surfte regelmäßig auf jiha- distischen und salafistischen Webseiten. Auch wenn al-Qaida durch Osama bin Ladens Tod geschwächt ist, lebt die Ideologie des Jihad weiter. Das Internet ist das wichtigste Verbreitungsinstrument dieser Ideologie. Webseiten, die extremistische Interpretationen des Islam propagieren, radikalisieren Muslime weltweit – verstärkt auch in Deutschland. Das Frankfurter Atten- tat steigert zudem die Besorgnis über den homegrown terrorism – Muslime, die in westlichen Gesellschaften radikalisiert werden und in kleinen Gruppen oder als »einsame Wölfe« Attentate begehen. Weiterhin erhöht das extremistische Internet als Instrument zur Radikalisierung, Mobilisierung und Rekrutierung junger Muslime die Gefahr, dass diese Anschluss an terroristische Organisationen finden und in deren Trainingslagern etwa in Afghanistan oder Pakistan ausgebildet werden. Diese Gruppen verfügen zum Teil nach wie vor über das notwendige Know-how und die Infrastruktur für Großanschläge. In den Jahren 2008 und 2009 haben sich mehr junge deutsche Muslime jihadistischen Organisationen am Hindukusch angeschlossen als je zuvor. Selbsternann- te islamische Glaubenskrieger aus Deutschland, wie die aus Bonn stammenden Brüder Mounir und Yassin Chouka, rufen über Internetvideos zum Jihad gegen die Bundesrepublik auf und werben Rekruten an. Das jihadistische Internet und speziell die dort abrufbaren Videos haben bei der Radikalisierung europäischer Muslime in jedem einzelnen Fall eine entscheidende Rolle gespielt, auch wenn sie nicht der alleinige Faktor waren. Eine Cyberbibliothek des Jihad birgt langfristig Zündstoff. Zum einen enthält sie konkrete Informatio- nen zur Planung und Ausführung von Terrorangrif- fen, zum anderen gebrauchsfertige pseudoreligiöse

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5 Problemstellung und Empfehlungen

Ideologien, nämlich die des Salafismus sowie die des langfristigen Maßnahmen, besteht in Deutschland globalen Jihad und des Märtyrertums. Salafisten und großer Handlungsbedarf. Jihadisten haben durch das Internet sogar zum Teil Bei dem hier vorgeschlagenen Konzept sollte die die Deutungshoheit über Schlüsselbegriffe des Islam Bundesregierung federführend in Kooperation mit errungen und ein geschlossenes Weltbild geschaffen. den Landesregierungen vielversprechende Initiativen Die zentrale Fragestellung dieser Studie lautet: identifizieren oder anregen, sie finanziell und logis- Wie soll man in Deutschland mit der jihadistischen, tisch fördern und lose, aber effizient koordinieren. aber auch der salafistischen Propaganda im Internet Um diesen schwierigen Balanceakt zu bewältigen, umgehen und ihrem radikalisierenden Einfluss ent- sollte für die nicht polizeilichen oder nachrichten- gegensteuern? Radikalisierende extremistische Propa- dienstlichen Maßnahmen eine unabhängige Struktur ganda völlig aus dem Internet zu entfernen ist un- geschaffen werden, etwa in Form einer Stiftung oder möglich. Ohnehin sollte eine gewisse Anzahl für den eines Instituts. Keinesfalls sollte die Bundesrepublik durchschnittlichen Internetnutzer schwer zugängli- dem Beispiel Großbritanniens folgen und in einer Art cher Webseiten toleriert werden, um hier relevante nationalem Aktionsplan Dutzende von Einzelprojek- Informationen über den Jihadismus und den Salafis- ten selbst ins Leben rufen, direkt ausführen und mus zu gewinnen. managen. Dies würde ihre Ressourcen übersteigen Trotzdem muss die Wirkung jihadistischer Propa- und die Glaubwürdigkeit mancher Initiativen unter- ganda stark verringert werden. Diese Cyberpropagan- graben. Da es in Deutschland in Sachen Islam weiter- da des Jihad ist ein komplexes und vielschichtiges hin an Kompetenz mangelt, liegt eine der größten Problem. Um ihr entgegenzuwirken, muss ein Katalog Herausforderungen darin, glaubwürdige, ganz unter- aus sehr unterschiedlichen und breit gefächerten schiedliche Akteure zu identifizieren, heranzubilden, Maßnahmen und Trägern entwickelt werden. Bisher gezielt einzusetzen und zu koordinieren, um die jiha- fehlt jedoch sowohl national als auch international distische Internetpropaganda zurückzudrängen. Hier- eine Bestandsaufnahme der bereits existierenden bei handelt es sich um islamische Gelehrte, weltlich Maßnahmen. Ein erster notwendiger Schritt ist des- orientierte Intellektuelle islamischen Ursprungs, aber halb eine systematische Erfassung und Erörterung auch um ehemalige Jihadisten und Vertreter des Pop- bestehender Initiativen und Projekte. Islam. Diese Maßnahmen lassen sich in drei Gruppen Jihadistische und salafistische Propaganda sind ein einteilen: erstens Beobachtung, zweitens Maßnahmen transnationales Phänomen, dessen Gefahren ohne zur Reduzierung des Angebots und drittens Maßnah- internationale Zusammenarbeit nicht Herr zu werden men zur Reduzierung der Nachfrage. Beobachtung be- ist. Die Bundesrepublik könnte sich in schon vorhan- deutet die systematische Überwachung zahlreicher denen Initiativen der EU und der Vereinten Nationen deutscher und ausländischer Webseiten, um operative deutlich aktiver engagieren, so ihren internationalen Erkenntnisse zu gewinnen und ideologische Entwick- Einfluss vergrößern und gleichzeitig wichtige Einsich- lungen zu verfolgen, und beinhaltet auch die Infiltra- ten über Maßnahmen gegen jihadistische Propaganda tion des jihadistischen Webs. Die angebotsreduzierenden in anderen Ländern bekommen. Maßnahmen wie Strafverfolgung und technische Mittel, Generell darf der jihadistischen Propaganda aber etwa die Löschung in Suchmaschinen oder Totalsper- nicht allein im Internet begegnet werden. Die Cyber- rungen, versuchen die jihadistische Webpräsenz zu- propaganda entfaltet ihre Wirkung in Deutschland in rückzudrängen. Die nachfragereduzierenden Maßnahmen einem gesellschaftlichen Rahmen, sie appelliert bei zielen darauf ab, den Wirkungskreis jihadistischer den jungen Muslimen an Gefühle sozialer Entfrem- Propaganda, vor allem mit Hilfe eines Gegenangebots, dung und gesellschaftlichen Ausschlusses. Sie kriti- zu verkleinern. Hier geht es darum, die jihadistischen siert den deutschen Militäreinsatz in Afghanistan und Gewaltdiskurse zu dekonstruieren, zu widerlegen und versucht Muslime zu überzeugen, dass Loyalität zu ihnen positive Weltbilder gegenüberzustellen. Ziel ist, ihren Glaubensbrüdern wichtiger ist als die zur angeb- durch Prävention eine Radikalisierung von vornherein lich islamfeindlichen Bundesrepublik Deutschland. zu verhindern. Muslime, die bereits Sympathien für Eine proaktive und entschlossene Politik gegen die den Jihad hegen, sollen deradikalisiert und davon ab- Propaganda im Netz kann vor allem durch gezielte gebracht werden, sich dem bewaffneten Kampf anzu- Aufklärung und Prävention eine weitere Radikalisie- schließen. Besonders in diesem dritten Bereich, den rung junger Muslime in Deutschland verhindern und zudem deren nachhaltige Integration fördern.

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6 Vorbemerkung: Islamismus, Salafismus und Jihadismus

Vorbemerkung: Islamismus, Salafismus und Jihadismus

Jihadismus und Salafismus werden oftmals unter dem schnellsten wachsende Ausprägung des sunnitischen Sammelbegriff Islamismus zusammengefasst. Als isla- Islam, sowohl im arabischen Raum als auch in Euro- mistisch werden allerdings auch andere, völlig unter- pa.4 Gleichzeitig mit dem jihadistischen Internet hat schiedliche Bewegungen bezeichnet, wie Recep Tayyip sich in Deutschland auch eine salafistische Präsenz im Erdogans islamisch-demokratische Partei AKP in der Netz entwickelt. Mit seinen Ölmilliarden hat Saudi- Türkei, die Muslimbrüder in Ägypten oder die schiiti- Arabien die salafistische Weltanschauung jahrzehnte- sche Hisbollah. Der Begriff Islamismus kennzeichnet lang über seine nahezu global präsenten islamischen somit alle Strömungen unter Muslimen, die Elemente Organisationen gefördert, etwa die Islamische Welt- des Islam als Kernbestandteile der politischen und liga.5 Das Königreich ist der Ursprung fast aller »sala- gesellschaftlichen Systeme und als Lösung für deren fistischen Strömungen im Nahen Osten genau wie in Probleme sehen. Diese Studie konzentriert sich ledig- der westlichen Welt«.6 lich auf einen Ausschnitt des breiten Spektrums, das Der Salafismus, als nicht organisierte Bewegung, heißt auf den Jihadismus und den Salafismus. existiert in zahlreichen Schattierungen. Auch in Der Salafismus wird häufig als gewaltfreie und Deutschland lassen sich drei Haupttendenzen unter- unpolitische Strömung beschrieben. Doch er vertritt scheiden:7 Die erste Gruppe, die puristischen Salafis- zumindest teilweise die gleichen extremistischen ten, isoliert sich so weit wie möglich und lehnt jedes Auffassungen wie der Jihadismus und kann die »Ein- politische Engagement ab. Nur gelegentlich betreiben stiegsdroge« zum Jihad sein. Im Verfassungsschutz- die Mitglieder dieser Gruppe in kleinen Kreisen Mis- bericht 2010 wird vor dem Salafismus als ideologi- sionsarbeit, die sogenannte dawa, den Ruf zum Islam. scher Grundlage des Jihadismus gewarnt.1 »Nicht Sie lassen sich deshalb nur schwer identifizieren. Die jeder Salafist ist ein Terrorist, aber fast alle Terro- zweite Gruppe, der Missions-Salafismus, wird oft als risten, die wir kennen, hatten Kontakt zu Salafisten Mainstream oder politischer Salafismus bezeichnet. oder sind Salafisten«,2 so Heinz Fromm, Präsident Sie stellt die Mehrheit der Salafisten und sieht ihre des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Aufgabe darin, die Gesellschaft, in der sie lebt, durch Der Salafismus geht auf den Begriff der »frommen großangelegte Missionsarbeit vom »wahren Glauben« Altvorderen« (salaf al-salih) aus der Frühzeit des Islam zu überzeugen. Anhänger des Missions-Salafismus zurück und ist eine pietistische Strömung des sunni- zeigen häufig gesellschaftliches Engagement oder tischen Islam, die den Koran und die Überlieferungen des Propheten als einzige Quellen des »wahren Glau- 4 Gegenüber dem Autor vertraten diese Meinung sowohl bens« betrachtet. Sie ist stark von der in Saudi-Arabien deutsche Nachrichtendienstler als auch Forscher wie der staatstragenden Doktrin des Wahhabismus beein- französische Politologe und Salafismusexperte Stéphane Lacroix. flusst.3 Der Salafismus gilt als die im Moment am 5 Viele europäische Salafisten suchen im Übrigen täglich direkten Kontakt mit saudi-arabischen »Gelehrten«, um Ant- 1 Vgl. Bundesministerium des Innern (Hg.), Verfassungsschutz- worten auf religiöse Fragen zu finden, nicht nur über das bericht 2010, Berlin 2010, S. 199. Internet: Per Telefon verbreiten die Saudis sogenannte Handy- 2 Zitiert in: Mark Kleber, »Verfassungsschutzbericht 2010 Fatwas. Im April 2007 konnte der Autor die SMS eines saudi- vorgestellt. Besonderes Augenmerk gilt den Salafisten«, in: schen »Scheichs« an einen französischen Salafisten einsehen. Tagesschau, 1.7.2011, (Zugriff am 28.7.2011). politique de l’islamisme en Arabie Saoudite (1954–2005), Paris 2007, 3 Der Wahhabismus ist eine von Mohammed Ibn Abd al- S. 173. Alle Übersetzungen aus dem Arabischen, Englischen Wahhab (1703–1792) begründete, extrem puristische sunniti- und Französischen stammen vom Autor, wenn nicht anders sche Ausprägung, die den Islam von korrumpierenden Neue- vermerkt. rungen reinigen möchte und den Koran und die Sunna als 7 Für die Dreiteilung der salafistischen Strömungen vgl. einzige Quellen des Glaubens sieht. In Wirklichkeit integrier- Quintan Wiktorowicz, »Anatomy of the Salafi Movement«, in: te Abd al-Wahhab zahlreiche lokale Traditionen, wie die Studies in Conflict and Terrorism, 29 (April–Mai 2006) 3, S. 207– Totalverschleierung der Frauen aus seiner Heimatregion, 239; Bernard Rougier u.a., Qu’est-ce que le salafisme?, Paris 2008, dem Najd, in die Ideologie. Sie ist bis heute Staatsdoktrin. S. 15–19.

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7 Vorbemerkung: Islamismus, Salafismus und Jihadismus

wollen politische Prozesse beeinflussen. Ein Vertreter muslimischen Glaubens und des islamischen Rechts, ist der ehemalige Boxer Pierre Vogel, der versucht, machen sich folglich der Götzenanbetung schuldig. sich als gemäßigt im Vergleich zu noch extremisti- Sie sind nicht nur keine wahren Muslime mehr, son- scheren Gruppen darzustellen.8 Zur dritten und letz- dern unterliegen einer Form von Exkommunikation, ten Gruppe, der des jihadistischen Salafismus, zählen dem takfir. Dieser Begriff aus dem Arabischen stammt die meisten, wohlgemerkt aber nicht alle Jihadisten. von der gleichen Wurzel wie das Wort , Ungläubi- Sie wollen die Rückkehr zum wahren Islam mit Hilfe ger. Der Jihad wiederum, im Sinne von bewaffnetem des bewaffneten Kampfes durchsetzen. Mitglieder Kampf, darf nur gegen Ungläubige geführt werden – dieser Strömung betrachten alle anderen Muslime, dann allerdings ist er Pflicht. Die Jihadisten rechtfer- selbst andere Salafisten, als Ungläubige. Zwischen tigen ihre Angriffe gegen andere Muslime oder gegen der Doktrin aller salafistischen Gruppen, auch der von Muslimen regierte Staaten mit der Behauptung, nicht gewaltbereiten, und dem Jihadismus besteht diese seien keine wirklichen Muslime, sondern kuffar, eine Schnittmenge extremistischer Interpretationen Ungläubige, deren Tötung legitim sei. Das Konzept islamischer Konzepte. Oft unterscheiden sich in des takfir ist eine der bedrohlichsten Schnittmengen Deutschland einfach zugängliche salafistische Web- zwischen Salafismus und Jihadismus. seiten, wie etwa Islambruederschaft.com,9 kaum noch Salafismus und Jihadismus unterscheiden sich von denen des Jihadismus. Hier wird Arid Uka, der hauptsächlich darin, dass Salafisten ihre radikalen Attentäter von Frankfurt, als Held verehrt. Aber auch Islaminterpretationen durch missionarisches Prediger- salafistische Internetseiten, die keine Gewalt befür- tum umzusetzen trachten, während die Jihadisten sie worten, wie Salafimedia.de10 oder Salaf.de,11 vertreten mit Waffengewalt verwirklichen wollen. zuhauf radikale Interpretationen, die sich auch im Jihadismus lässt sich als extremste Auslegung des Jihadismus wiederfinden. Diese extremistischen Aus- sunnitischen Islam definieren. Das Konzept des Jihad, legungen wurden zumeist von arabischen Autoren das im Islam vielfältige Bedeutungen hat, etwa die entwickelt, sind aber in fast alle europäischen Spra- einer inneren Glaubensanstrengung, wird hier allein chen übersetzt worden. auf den bewaffneten Kampf reduziert. Dieser wieder- Drei dieser Interpretationen sind besonders hervor- um gilt nicht nur als das wichtigste Instrument zur zuheben: al-walā’ wal-barā, taghut und takfir. Al-walā’ wal- Lösung der meisten Probleme der muslimischen Welt, barā’ bedeutet alleinige Loyalität zu und Freundschaft sondern auch als alleiniger Weg zur persönlichen Er- mit Muslimen sowie strikte Ablehnung von Nicht- lösung im Paradies. Im Falle al-Qaidas wird diese Erlö- Muslimen. Diese Ausgrenzung schafft automatisch sung durch den Jihad darüber hinaus mit vermeintli- ein Feindbild. Das Konzept des taghut, der Götzen- chem Märtyrertum durch Selbstmordattentate gleich- anbetung, weitet die klassische sunnitische Idee, dass gesetzt. neben Gott keine anderen Gottheiten oder Heilige Die Ideologie des Jihadismus hat sich seit ihren An- verehrt werden sollen, radikal aus. Als Götzenanbe- fängen, dem Krieg gegen die Sowjets in Afghanistan tung wird jedwede Akzeptanz von Prinzipien und (1979–1989), stark gewandelt. Zu Beginn wurde sie Verpflichtungen gesehen, die nicht ausdrücklich im hauptsächlich durch das Konzept des defensiven Jihad Koran und der sunna, den Überlieferungen des Prophe- geprägt – einem religiös motivierten Befreiungskampf ten, vorgeschrieben oder gutgeheißen werden. Demo- gegen nicht-muslimische Invasoren und »Besatzer« kratie und alle nicht im Islam verankerten Staats- islamischer Länder. Al-Qaida12 hingegen weitete das formen und Rechtssysteme gelten in dieser Weltsicht Konzept des Jihad seit ihrer Gründung 1988 erheblich als Götzen. Muslime, die weltliche Regierungen wie die der Bundesrepublik unterstützen und Verfassungs- 12 Al-Qaida gründete vor allem nach dem 11. September 2001 zahlreiche eigene Filialen, wie al-Qaida auf der Arabi- treue höher stellen als die salafistische Auslegung des schen Halbinsel im Jahre 2003. Ehemals autonome Organi- sationen gliederten sich unter dem weltweit verbreiteten 8 Vgl. Bundesministerium des Innern (Hg.), Verfassungsschutz- Markennamen al-Qaida als »Subunternehmen« der »Kern-al- bericht 2010 [wie Fn. 1], S. 197. Qaida« an, um an Bekanntheit zu gewinnen, so etwa al-Qaida 9 Islambruederschaft.com, (Zugriff am 3.5.2011). Die Seite existiert nicht mehr. heute unabhängige Organisationen der jihadistischen Bewe- 10 Salafimedia, (Zugriff gung verbündeten sich entweder mit al-Qaida oder übernah- am 4.5.2011). men die Ideologie und vor allem deren Hauptwaffe: Selbst- 11 Salaf, (Zugriff am mordattentate. Hierzu zählen die usbekische Islamische 2.5.2011). Jihad-Union und die somalische al-Shabab.

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8 Vorbemerkung: Islamismus, Salafismus und Jihadismus aus.13 Nun richtete er sich nicht mehr nur gegen nicht-muslimische Besatzer, sondern auch gegen die von al-Qaida als unislamisch betrachteten Autokraten und Monarchen in der muslimischen Welt, den so- genannten nahen Feind. Um ihn zu besiegen, sei es aber notwendig, den fernen Feind, also die Kräfte, die den Machterhalt dieser Despoten gewährleisten, zum Rückzug aus der islamischen Welt zu zwingen. Damit sind vor allem die Vereinigten Staaten von Amerika und ihre Alliierten einschließlich der Bundesrepublik gemeint.14 Sie alle gilt es überall auf der Welt anzu- greifen, deshalb wird al-Qaidas Jihadismus auch oft als globaler Jihad bezeichnet. Wichtigste asymmetrische Kriegswaffe al-Qaidas sind zur religiösen Pflicht er- klärte und von einem Märtyrerkult angetriebene Selbstmordattentate.

13 Vgl. Jean-Pierre Filiu, Les Neuf Vies d’al-Qaida, Paris 2009. 14 Vgl. Gilles Kepel (Hg.), Al-Qaida dans le texte. Ben Laden, Azzam, Zawahiri, Zarqawi: ce qu’ils ont vraiment dit et écrit, Paris 2008.

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9 Entwicklung, Struktur und Inhalte des jihadistischen Internet

Entwicklung, Struktur und Inhalte des jihadistischen Internet15

Vom Hindukusch nach Neukölln – Die Geschichte der jihadistischen Propaganda, ihrer die Geschichte strukturellen Entwicklung und Ausbreitung lässt sich in vier Phasen einteilen: erstens ihre Vorgeschichte im Die Bedeutung der neuen Medien ist der Führungs- Krieg gegen die UdSSR in Afghanistan (1979–1989), spitze von al-Qaida schon seit geraumer Zeit bewusst: zweitens die Ausweitung der Propagandaanstrengun- »Wir sind in einem Krieg, der zur Hälfte auf dem gen auf die westliche Welt und die Gründung der Schlachtfeld der Medien stattfindet […]. In diesem ersten Webseiten (1990–2001), drittens die Globalisie- Krieg geht es um die Herzen und Gedanken der mus- rung des jihadistischen Internet (2002–2006) und vier- limischen Gemeinschaft.«16 Diese Zeilen stammen aus tens die Nutzung der sozialen Netzwerke und neuen einem 2005 verfassten Brief von Aiman al-Zawahiri, Medien durch die Jihadisten (seit 2006). Osama bin Ladens Nachfolger als Anführer von al- Qaida. Mit Schlachtfeld der Medien ist in der Haupt- sache das Internet gemeint.17 Die Jihadisten beschäfti- Phase 1: Die Vorgeschichte des Online-Jihad gen sich schon seit Jahrzehnten, lange vor der massen- am Hindukusch (1979–1989) haften Nutzung des Internet, mit komplexen Propa- gandastrategien und haben dazu sogar eine eigene In dieser ersten Phase wurde jihadistische Propaganda Literatur entwickelt.18 vor allem über klassische Printmedien, Audio-Kasset- ten sowie die ersten noch sehr kostspieligen VHS- 15 Teile dieses Abschnitts basieren auf Asiem El Difraoui, Al Videos verbreitet. So warb Abdallah Azzam,19 oft als Qaida par l’image ou la prophétie du martyre. Une analyse politique ideologischer Vater des Jihadismus bezeichnet, in de la propagande audiovisuelle du jihad global, Arbeit zur Erlan- einer erfolgreichen Zeitschrift namens Jihad mit Nach- gung des Doktortitels des Institut d’Etudes Politiques Paris, 2010. richten über die glorreichen Taten der afghanischen 16 Brief von Aiman al-Zawahiri an Abu Musab al-Zarqawi, Mujaheddin und die Grausamkeiten der »Russen« um 9.7.2005, vgl. auch »English Translation of Ayman al-Zawa- Rekruten und Spenden. Seine Reden zur Rechtferti- hiri’s Letter to Abu Musab al-Zarqawi«, in: The Weekly Standard, gung des Jihad wurden auf Audio-Kassetten zehntau- 12.10.2005, (Zugriff am 24.5.2011). 17 Die wichtigen Zusammenhänge zwischen Terrorismus sich bis heute auf fast allen jihadistischen Webseiten. und Massenmedien sind bereits seit den achtziger Jahren Auch erste Videos über Märtyrer wurden produziert. des letzten Jahrhunderts Gegenstand der Sozialforschung; Dass der Propaganda schon damals entscheidende vgl. Bruce Hoffman, Inside Terrorism, New York 1998; Michel Bedeutung zugewiesen wurde, zeigt sich etwa daran, Wieviorka/Dominique Wolton, Terrorisme à la une, Paris 1987. dass gefallene jihadistische Kameramänner als den Die neuen Dimensionen des jihadistischen Internet als dem getöteten Kämpfern ebenbürtige Märtyrer verehrt vermutlich wichtigsten Propagandaphänomen der Jahrtau- 20 sendwende wurden jedoch bis zum 11. September 2001 igno- wurden. Im Nachhinein kritisierten einflussreiche 21 riert. Thesen wie diejenige, das Internet sei auf Grund seines Theoretiker des Jihad wie Abu Musab al-Suri diese anonymen Charakters und globalen Ausmaßes das perfekte Propagandaanstrengungen dennoch als unzurei- Propagandainstrument für Terroristen, wurden populärer; chend, da sie nur innerhalb jihadistischer Kreise wahr- vgl. Gabriel Weimann, Terror on the Internet. The New Arena, the New Challenges, Washington, D.C., 2006. Die deutschsprachige Forschung hinkte zumeist hinterher; Ausnahmen sind Yassin 19 Vgl. Kepel, Al-Qaida dans le texte [wie Fn. 14]. Musharbash, Die neue Al-Qaida. Innenansichten eines lernenden 20 Vgl. Zentrum für die Produktion Islamischer Information, Terrornetzwerks, Köln 2006; Rüdiger Lohlker (Hg.), New Approa- »Khost« [Episode], in: Opfer und Eroberung [fida’ wa fatah] [vier- ches to the Analysis of Jihadism, Göttingen 2011; ders., Dschihadis- teilige Filmserie], Peshawar, vermutlich 1990. mus: Materialien, Stuttgart 2009. 21 Vgl. Combating Terrorism Center (Hg.), Harmony Investiga- 18 Vgl. Hanna Rogan, Al-Qaeda’s Online Media Strategies: From tion – Abu Musab al-Suri, Lessons Learned from the Armed Jihad Abu Reuter to Irhabi 007, Oslo 2007; Anne Stenersen, »The Inter- Ordeal in Syria, West Point 2002, S. 16; Brynjar Lia, Architect of net: A Virtual Training-Camp?«, in: Terrorism and Political Global Jihad. The Life of Al-Qaida Strategist Abu Mus’ab al-Suri, New Violence, 20 (2008) 2, S. 215–233. York 2008.

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10 Vom Hindukusch nach Neukölln – die Geschichte

genommen würden, nicht aber von der umma, der Ge- Im Jahr 1996, kurz nach Ende des Bosnienkrieges, meinschaft der Muslime als Ganzes. entstand die erste jihadistische Webseite, Azzam.com,24 die bald darauf zum Prototyp avancierte. Sie wurde von einem 24-jährigen Informatikstudenten am Im- Phase 2: Londonistan – perial College in London gegründet, der sie sogar auf Jihadismus im Herzen Europas (1990–2001) dem Server des Instituts beherbergte.25 Hier fanden sich die Texte Abdallah Azzams, Märtyrerbiographien In der zweiten Phase wurden erstmals gezielte Über- zum Krieg in Afghanistan gegen die Sowjetunion, legungen zu einer jihadistischen Kommunikations- Videos aus Bosnien und Materialien aus dem ersten strategie angestellt. Die Propaganda wurde professio- Tschetschenienkrieg (1994–1996). Der Krieg im Kauka- neller und dehnte ihren Wirkungskreis auf Europa sus war für die Entwicklung des jihadistischen Web aus. Die ersten Webseiten wurden gegründet. Diese seinerseits von großer Bedeutung. Das vermutlich seit Entwicklungen begannen Anfang der 1990er Jahre im 1998 existierende mehrsprachige Internetportal sogenannten Londonistan. Ehemalige Afghanistan- Kavkazcenter.com26 bietet Jihadisten aus aller Welt bis Kämpfer, die in der britischen Hauptstadt Zuflucht heute ein Forum. gefunden hatten, nutzten die damals noch sehr weit- Al-Qaida selbst produzierte gleichzeitig in Afgha- reichende Presse- und Redefreiheit des Königreichs. nistan durch ihr »Medienkomitee« erste eigene Videos, Bin Laden gründete gar ein kleines Informationsbüro. etwa anlässlich der Gründung der Globalen islamischen Die ersten Strategiepapiere zur Propaganda des Jihad Front für den Jihad gegen die Juden und die Kreuzfahrer.27 erschienen. Der jihadistische Theoretiker und Vor- Nachdem im August 1998 bin Ladens Organisation denker Abu Musab al-Suri forderte eine diversifizierte durch die Anschläge gegen die US-Botschaften in und an verschiedene Zielgruppen angepasste Propa- Kenia und Tansania erstmals ins internationale Ram- gandastrategie. Unter dem Motto »System und keine penlicht geraten war, erwiesen sich die via Azzam.com Organisation« sprach sich der Syrer für eine dezentra- und Kavkazcenter.com28 verbreiteten Trainingsvideos als le Informationsstruktur aus, bei der sich organisato- effektives Rekrutierungsinstrument für die afghani- risch unabhängige Gruppen mit Hilfe modernster schen Camps der Terrorgruppe. Technologien einer jihadistischen Ideologie und Pro- paganda-Blaupause bedienen, aber ansonsten völlig autonom agieren.22 Phase 3: Die Globalisierung des Cyberjihad Die britische Hauptstadt bot den Jihadisten eine (2001–2006) einmalige Propagandaplattform, von der aus sie, vor allem nach Ausbruch des Krieges in Bosnien 1992, In der dritten Phase nach dem 11. September 2001, offen zum Jihad aufrufen konnten. Das Leiden der der darauffolgenden Intervention in Afghanistan bosnischen Muslime löste unter der muslimischen und erst recht nach Ausbruch des Irakkrieges 2003 Diaspora in Europa eine bis dato ungekannte Sympa- als »idealem« Casus Belli für die Jihadisten wurde der thiewelle aus, von der diese Propaganda profitierte. In E-Jihad zum globalen Phänomen. Vier bis heute wich- Bosnien selbst produzierte die »Mujaheddin-Brigade« tige Entwicklungen begünstigten diese Globalisierung. erstmals professionelle Kampf- und Märtyrervideos, Erstens wurde der Großteil der Propaganda nicht die zu einem der Hauptinhalte des jihadistischen Web mehr direkt von den streng hierarchischen jihadisti- wurden: »Wir haben die Amerikaner und ihre Holly- schen Organisationen und deren Medienkomitees ver- woodvisionen mit ihren eigenen Waffen geschlagen – teilt, sondern dezentral von sogenannten unabhängi- der Kamera«,23 so der in Berlin lebende Jihadist und gen Medienhäusern.29 Zweitens wurden klassische Bosnien-Veteran Reda Seyam.

24 Die Seite existiert nicht mehr. 22 Zu dieser »führerlosen« Form des Jihad vgl. auch Marc 25 Vgl. Musharbash, Die neue Al-Qaida [wie Fn. 17], S. 102. Sageman, Leaderless Jihad: Terror Networks in the Twenty-first 26 Kavkaz Center, (Zugriff Century, Philadelphia 2008. Zum Phänomen des »einsamen am 26.6.2011). Wolfes« vgl. Raffaello Pantucci, A Typology of Lone Wolves: 27 Vgl. Filiu, Les Neuf Vies d’al-Qaida [wie Fn. 13]. Preliminary Analysis of Lone Islamist Terrorists, London: The 28 Kavkaz Center [wie Fn. 26]. International Centre for the Study of Radicalisation and 29 Gespräch des Autors mit Hanna Rogan, Forschungsinsti- Political Violence (ICSR), März 2011. tut des norwegischen Verteidigungsministeriums (Forsvarets 23 Gespräch des Autors mit Reda Seyam, Berlin, November 2008. forskningsinstitutt, FFI), Oslo, März 2008.

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11 Entwicklung, Struktur und Inhalte des jihadistischen Internet

Webseiten, auf denen ein Austausch zwischen Pro- (GIMF). In der breiteren Öffentlichkeit wurde die GIMF duzenten und Konsumenten kaum möglich war, 2007 durch ein Drohvideo gegen die deutsche und die von dynamischen interaktiven Webforen abgelöst. österreichische Regierung bekannt.31 Drittens ermöglichten technische Neuerungen, wie Im Verlauf des Irakkrieges entstanden Dutzende, preiswerte digitale Kameras und Videoschnittpro- wenn nicht Hunderte interaktiver Foren mit immer gramme für Laptops, eine explosionsartige Vermeh- professionellerer Gestaltung wie Fallouja.com,32 be- rung der Videoproduktion. Viertens wurden die ersten nannt nach der irakischen Jihadistenhochburg Fal- Propagandaprodukte hergestellt, die sich gezielt an luja. Diese Austauschplattformen zeichneten sich eine von der globalen Popkultur beeinflusste Jugend insbesondere durch ein rasantes Anwachsen der in den muslimischen Ländern, aber auch in Europa Sprachvielfalt aus. Neben Arabisch, Türkisch, Urdu richteten. oder Bosnisch ist mittlerweile fast jede europäische Al-Qaida als Organisation musste zwar seit 2001 Sprache von Schwedisch bis Spanisch im World wegen der verstärkten Verfolgung durch die USA Wide Web des Jihad vertreten. Somit können die empfindliche Rückschläge hinnehmen. Dennoch ge- Medienarbeiter des Jihad lokale Belange und angeb- lang es der Terrorgruppe, ihren Propagandaapparat liche Diskriminierungen gegen Muslime gezielt in nicht nur wieder auf-, sondern auch weiter auszu- den jeweiligen Landessprachen vorbringen, wie die bauen. Dies belegt die Rekordzahl und die sich ständig Mohammed-Karikaturen in Dänemark, das Kopftuch- verbessernde Qualität ihrer Internetvideos.30 Die Mit- verbot in Frankreich oder die Truppenpräsenz ver- arbeiter von al-Qaidas eigener Medienproduktions- schiedener Staaten in Afghanistan oder im Irak. Mit firma as-Sahab, auf Deutsch »die Wolke«, erhielten ex- den Foren wandelt sich das jihadistische Internet zu klusiven Zugang zu Osama bin Laden und Aiman al- einem wenig hierarchischen und weitverzweigten Zawahiri. Die »Interviews« mit den al-Qaida-Führern Propagandanetzwerk. gingen im Internet und über den arabischen Nach- Gleichzeitig versuchten Propagandisten des Jihad richtensender al-Jazeera um die Welt. Der kaliforni- mit Hilfe von Medienprodukten, die sich an die globa- sche Konvertit Adam Gadahn, unter Jihadisten be- le Jugendkultur richteten, den Jihadismus als »trendy« kannt als »Azzam, der Amerikaner«, produzierte als und »cool« zu verkaufen: So entstanden der sogenann- westliches Aushängeschild der al-Qaida-Führung te al-Qaida-Rap, ein in London produziertes Musik- zahlreiche englischsprachige Videos. video mit dem Titel »Dreckige Ungläubige«,33 oder die Vor allem die US-Invasion des Irak im Jahre 2003 »Weltmeisterschaft der Mujaheddin«.34 Der fast ein- brachte den Jihadisten neue internationale Sympa- stündige Film wurde zeitgleich zur Fußballweltmeis- thien. So konnten »Freiwillige« auf der ganzen Welt terschaft 2006 hergestellt und sollte die Zuschauer die sogenannten jihadistischen Medienhäuser und die überzeugen, dass die wahren Weltmeister und Jugend- ersten wichtigen jihadistischen Foren schaffen. Diese idole nicht Fußballer oder Kandidaten bei Starshows Zusammenschlüsse »freier Mitarbeiter« des Medien- im Fernsehen seien, sondern Kämpfer, die spektakulä- jihad behaupteten, organisationsunabhängig und re Attentate gegen die »Kreuzfahrer« begehen. Auch »panjihadistisch« zu sein, um unter potentiellen Sym- wandte sich die Propaganda des Cyberjihad erstmals pathisanten als »objektiv« zu erscheinen und sich an eine bisher völlig vernachlässigte Zielgruppe: Das unter ihren jeweiligen »Markennamen« als vertrauens- erste jihadistische Onlinemagazin für Frauen entstand würdige Informationskanäle zu etablieren. Sie produ- 2004 in Saudi-Arabien.35 zierten eigene Propaganda, stellten aber überwiegend Material jihadistischer Organisationen zum weltwei- 31 Yassin Musharbash, »›Globale Islamische Medienfront‹: ten Vertrieb neu zusammen. Eines der bedeutendsten Neues Drohvideo gegen Deutschland und Österreich«, in: Spiegel Online, 20.11.2007, (Zugriff am 29.6.2011). gen Raum stark vertretene Globale Islamische Medienfront 32 Das Forum existiert nicht mehr. 33 Das Musikvideo Dirty Kuffar wurde vermutlich 2004 in 30 Allein im Jahr 2006 wurden über 200 jihadistische Videos Großbritannien hergestellt. produziert; vgl. Cecilie Finsnes, What Is Audio-visual Jihadi 34 Globale Islamische Medienfront, Weltmeisterschaft der Propaganda? An Overview of the Content of FFI’s Jihadi Video Data- Mujaheddin [ka’s al-’alam lil mujahidin], Videofilm, 2006. base, Oslo: Forschungsinstitut des norwegischen Verteidi- 35 Das Online-Magazin al-Khansa wurde nach einer islami- gungsministeriums (FFI), März 2010 (FFI-rapport 00960/2010), schen Dichterin aus frühislamischer Zeit benannt, die ihre S. 27, Kinder in den Jihad schickte; vgl. Sebstian Usher, »Jihad (Zugriff am 24.6.2011). Magazine for Women on Web«, in: BBC Online, 24.8.2004,

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12 Vom Hindukusch nach Neukölln – die Geschichte

Phase 4: Web 2.0 – Jeder Facebook-Nutzer kann jihadistische Propa- Facebook- und YouTube-Jihad (seit 2006) ganda binnen Sekunden an andere »Freundeskreise« schicken. Hat ein YouTube-Mitglied unter einem Die bis heute andauernde vierte Phase des Cyberjihad, Pseudonym, wie etwa »wahrermuslim123«, einen Film die vom sogenannten Web 2.0 eingeleitet wurde und einmal hochgeladen, wird dieser zumeist direkt an sich teilweise mit der dritten überlappt, wird durch Hunderte anderer Nutzer weitergeleitet, welche die drei Hauptentwicklungen geprägt. Erstens begannen neuesten Inhalte von »wahrermuslim123« abonniert die Propagandisten des Jihad ihre Aktivitäten auf die haben, auch auf Handys. Inzwischen existieren Jiha- sozialen Netzwerke und sogar auf die Smartphones dismus-»Pakete«, die mit Hilfe der Bluetooth-Technik, auszudehnen. Auf diese Weise erreichte der »Jihad einer Übertragungsmethode über kurze Distanz, Cool«, der Jihad als Jugendsubkultur, auch Deutsch- direkt von Handy auf Handy übermittelt werden land. Zweitens versuchten die Jihadisten, beliebte können, ohne dabei ein Mobilfunknetz zu benutzen. Mainstreamforen in der islamischen Welt zu kapern. Durch die zumeist verschlüsselte Übertragung ist es Drittens verstärkten sie ihre Aktivitäten im sogenann- fast unmöglich, den Datenaustausch zu überwachen, ten deep web oder darknet, dem versteckten und gehei- selbst aus nächster Nähe.37 men Web. Gründe für diese Entwicklungen sind neben Durch das Web 2.0 erreicht der sogenannte Jihad dem technischen Fortschritt vermutlich die Abschal- Cool erstmals wirklich Deutschland. Jihadisten wie tung und das Verschwinden einiger der wichtigsten Mounir und Yassin Chouka rufen in auf dem Hindu- Webseiten und Foren um das Jahr 2008 herum.36 kusch produzierten Musikvideos zum Jihad auf – Über soziale Netzwerke wie Facebook und Video- auch gegen die Bundesrepublik. Die Schlachtgesänge portale wie YouTube wird mittlerweile ein Großteil sind eine Mischung aus Gangsterrap und klassischen der Propaganda transportiert. Auf YouTube etwa stellt anashid, islamischen A-cappellas. Im Text eines dieser der jemenitische Ableger von al-Qaida seine Videos Clips von Mounir Chouka heißt es: »Mutter, wenn ich online. Facebook ist der Verteiler für das englisch- auf dem Schlachtfeld falle, dann glaub nicht, ich sei sprachige Online-Hochglanzmagazin Inspire von al- tot, vielmehr bin ich lebendig an einem besseren Qaida. Facebook-»Freundesgruppen« wiederum ermög- Ort.«38 Das Musikvideo des ursprünglich aus Bonn lichen ihren Mitgliedern einen direkten interaktiven stammenden Mitglieds der Islamischen Bewegung Austausch und Diskussionen über neue jihadistische Usbekistans wurde tausendfach im Internet abgeru- Aktionen, Publikationen oder ideologische Entwick- fen, vorwiegend über YouTube. Der dem Salafisten lungen. Allgemein ist durch das »Jihadi Web 2.0« auf Pierre Vogel nahestehende Ex-Gangsterrapper Deso Facebook, Twitter und YouTube eine noch stärkere Dogg singt Texte wie: »Wandert aus, wandert aus, multimediale Vernetzung entstanden. Durch die stei- Usbekistan, Afghanistan, wir kämpfen in Khorassan.« gende Interaktivität verschwimmt der Unterschied Khorassan ist der historische arabische Name für zwischen Produzenten und Konsumenten immer Afghanistan. Auf seiner Facebook-Seite feiert Deso mehr, so dass man von »Prosumenten« sprechen kann. Dogg Osama bin Laden als Helden des Islam. Die Jihadisten versuchen zunehmend, sich der Mainstreamforen zu bemächtigen und die Mitglieder (Zugriff am 1.7.2011). zur jihadistischen Weltsicht zu konvertieren.39 Dazu 36 Warum Foren wie al-Ekhlaas, al-Boraq, al-Firdaws und Ansar al-Mujaheddin vom Netz gingen, ist bis heute nicht völlig nutzen sie trickreiche Strategien. So kündigen sie geklärt. Laut dem Forscher und Internetaktivisten Aaron im Internet romantische Szenen aus arabischen Spiel- Weisburd kopierte ein zentraler Systemverwalter alle Daten filmen an, doch beim Anklicken des Links stößt der und schloss anschließend die Webseiten. Es handelt sich Nutzer auf jihadistische Texte.40 entweder um einen Agenten oder einen Jihadisten, der zum V-Mann wurde. Das Forum al-Hesbah schloss wenig später, vermutlich wegen Glaubwürdigkeitsproblemen. Es war von 37 Vgl. Nico Prucha, »Jihad via Bluetooth: Al-Qa’ida’s Mobile Anfang an eine gemeinsame Operation von saudischen und Phone Campaign«, in: Lohlker (Hg.), New Approaches to the US-Geheimdiensten; vgl. auch Institute for Strategic Dialogue Analysis of Jihadism [wie Fn. 17], S. 183–202. (Hg.), The European Policy Planners’ Network on Countering Polarisa- 38 Claudia Dantschke, Religiöse Musik und Jugendidole als Mittel tion and Radicalisation (PPN). The Role of the Internet in Violent Radi- islamistischer Propaganda, Vortrag bei einem Hearing des Nie- calisation and Polarisation, Stockholm 2011 (unveröffentlichtes dersächsischen Verfassungsschutzes, Hannover, 23.5.2011. Hintergrundpapier). Das beliebteste Forum, das heute noch 39 Zum Beispiel Maktoob, (Zugriff am 25.7.2011). chives/007346.html> (Zugriff am 13.6.2011). 40 Vgl. »Heiße Kussszene zwischen Haifa Wehby und einer

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13 Entwicklung, Struktur und Inhalte des jihadistischen Internet

Das darknet wird auch immer häufiger für versteck- Jihadistische Internetforen te Botschaften eingesetzt. Hinter einem unschuldig wirkenden Bild oder Text erscheinen nach dem Ein- Die heute dominierenden jihadistischen Foren sind geben von Kennwörtern weitere neutral erscheinende zumeist nach einem ähnlichen Muster aufgebaut. Inhalte. Erst nach einer ganzen Reihe von Eingaben Auf der Homepage finden sich als Kopfzeile in einem werden die jihadistischen Botschaften sichtbar. Der sogenannten Banner die jüngsten offiziellen Bekannt- wegen Attentatsplänen gegen Passagierflugzeuge machungen und Erklärungen jihadistischer Gruppen. verurteilte IT-Experte und British-Airways-Mitarbeiter Die Mitglieder des Forums werden ermutigt, diese Rajib Karim41 kommunizierte über dieses System mit zentralen Botschaften im virtuellen Raum zu verbrei- dem US-jemenitischen Terrorimam Anwar al-Awlaki.42 ten. Das Inhaltsverzeichnis besteht zumeist aus fünf Bereichen. Der erste ist häufig ein Archiv offizieller Verlautbarungen der verschiedenen Gruppen und Struktur und Inhalte der Reden ihrer Führer. Ein zweiter multimedialer des jihadistischen Internet Bereich stellt jihadistische Videos und Audiodateien von Reden und jihadistischen Schlachtgesängen Die Stärke des jihadistischen Netzes liegt heute vor zum Herunterladen zur Verfügung. Ein dritter, all- allem darin, dass die »Medien-Mujaheddin« das Zu- gemeiner Teil enthält diverse Themenrubriken, die sammenspiel unterschiedlicher Medien äußerst ge- von jihadistischen Nachrichten und »Theologie« schickt zu nutzen wissen. Wenn beispielsweise al- über »islamische Geschichte« bis zum Ideal der »mus- Qaidas neuer Chef Aiman al-Zawahiri durch die Pro- limischen Familie« reichen. Dieser Bereich wird von duktionsfirma der Organisation as-Sahab ein neues Besuchern am häufigsten frequentiert, da hier ein Video aufnehmen lässt, wird es zunächst durch ver- reger Meinungsaustausch stattfindet. Ein fünfter trauenswürdige Kuriere von einem Internetcafé oder Sonderbereich mit Chatrooms ist gemeinhin durch einem sicheren Computer an beliebte jihadistische ein zusätzliches Passwort gesichert. Er lässt sich nur Foren wie Shumukh und gleichzeitig an arabische Satel- ansteuern, wenn andere Mitglieder für den Betreffen- litensender wie al-Jazeera übermittelt. Die jihadisti- den bürgen und der Administrator zustimmt. Hier schen Foren leiten das Propagandamaterial wiederum finden sich strategische Diskussionen zum Jihad an andere Webseiten und Foren weiter. Dort wird es genauso wie Anleitungen zum Bombenbau. Mailing- kommentiert und in die jeweiligen Landessprachen listen von Sympathisanten sowie Links zu anderen übersetzt. Einzelne Forenmitglieder informieren sich Webseiten, Foren oder jihadistischen Organisationen gegenseitig über das Video und stellen es auf YouTube sollen die Jihadisten global vernetzen.43 Mit den und Facebook. So gelangt die Propaganda in das deut- Foren wandelt sich das jihadistische Internet zu sche Web des Salafismus und des Jihadismus. einem wenig hierarchischen und weitverzweigten Auch wenn das Propagandamaterial keinen Neuig- Propagandanetzwerk. keitswert mehr hat, wie etwa eine bereits zurück- liegende Rede von Zawahiri, bedeutet dies nicht, dass es am Ende seiner Lebensdauer angekommen ist. Es Jihad und Märtyrertum – 44 wird archiviert und in neuen Texten, Videos oder die zentralen Inhalte der Cyberpropaganda Audioproduktionen noch jahrelang eingesetzt. Die jihadistische Propaganda bleibt so als dauerhafter Die ideologischen Inhalte des jihadistischen Internet Korpus des Jihad im Netz bestehen. reduzieren sich auf Jihad und Märtyrertum als die zentralen und immer wiederholten Botschaften, ob in Texten, Audios, A-cappella-Schlachtgesängen oder Videos. In der sogenannten strategischen Literatur des Jihad im Internet werden mögliche Angriffsziele amerikanischen Schauspielerin«, (Zugriff am 12.6.2011). 41 Vgl. »Terror Plot BA Man Rajib Karim Gets 30 Years«, in: BBC Online, 18.3.2011, (Zugriff am 26.3.2011). Jihadists Use Internet Discussion Forums, London 2010. 42 Gespräch des Autors mit einem britischen Antiterror- 44 Teile dieses Abschnitts basieren auf El Difraoui, Al Qaida experten, Stockholm, Juni 2011. par l’image [wie Fn. 15], S. 434–537.

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14 Struktur und Inhalte des jihadistischen Internet

diskussionen und Empfehlungen nehmen einen wich- von Muslimen mit »heroischen Taten« der »Glaubens- tigen Platz ein. Das wohl spektakulärste »Strategie- kämpfer«, Angriffen auf westliche Soldaten in Afgha- papier« im Netz empfahl im Jahre 2004, wenige Mona- nistan und im Irak sowie Selbstmordattentaten kon- te vor den Attentaten von Madrid, einen Anschlag in trastiert. So soll glaubwürdig gemacht werden, dass Spanien. Hiermit sollte das Land zum Truppenrück- die Jihadisten die einzig wahren, vorbildlichen Ver- zug aus dem Irak genötigt werden.45 In der Regel teidiger des Islam sind. Selbst Hinrichtungsvideos, finden sich im Web keine konkreten Angriffspläne, die die Weltöffentlichkeit durch ihre Grausamkeit da die Gefahr, überwacht zu werden, und damit das schockieren, werden von Sympathisanten des Jihad Sicherheitsrisiko sehr hoch ist. In einigen Fällen mit Stolz betrachtet. Sie vermitteln das Gefühl, »es werden aber Details wie Satellitenbilder von Google dem Westen endlich mal heimzahlen zu können«.49 Earth über potentielle Ziele ausgetauscht. Im Netz Mit Argumenten wie der angeblichen individuellen vermehren sich Anleitungen zur Herstellung von Verpflichtung jedes , am Jihad teilzunehmen, Bomben oder zum Umgang mit Waffen wie Panzer- versuchen die Vordenker des Jihad und vor allem al- fäusten oder Maschinengewehren. Die sogenannte Qaida, sowohl die Legitimität ihres Kampfes zu unter- Enzyklopädie des Jihad,46 ein mehr als tausendseitiges mauern als auch die selbst unter Jihadisten umstritte- Handbuch zur Kriegsführung, ist ohne große Schwie- nen Selbstmordanschläge zu rechtfertigen. Mit ihrem rigkeiten ebenfalls im Internet zu finden. Das von Märtyrerkult will al-Qaida junge Menschen für Selbst- bin Laden bereits im Afghanistankrieg gegen die Sow- mordattentate als Hauptwaffe asymmetrischer Kriegs- jets in Auftrag gegebene und seitdem immer wieder führung rekrutieren. aktualisierte Werk beinhaltet Informationen, die von der Gegenspionage über Kommunikationstechnik bis zum Bombenbau reichen. Die Jihadisten hoffen auf Vom Internet ins Paradies – diese Weise einen virtuellen Ersatz für den Verlust die Heilslehre des Jihadismus zahlreicher Trainingslager zu schaffen. Begründet werden Jihad und Selbstmordanschläge Die Verheißung des Paradieses als Belohnung für die mit Hunderten Variationen des immer gleichen Vor- vermeintlichen Glaubenskämpfer und die ewige Ver- wurfs der »Konspiration von Kreuzrittern und Zionis- dammnis aller Ungläubigen und Feinde des Islam in ten und ihren Alliierten« gegen die Muslime mit dem der Hölle ist das wichtigste und allgegenwärtige The- Ziel, den Islam auszulöschen.47 In der Tat unterstrei- ma der Propaganda und der »Großen Erzählung« des chen Sequenzen in fast allen Videos die Vergehen Jihad. Damit wollen die Jihadisten Urängste vieler gegen die muslimische Zivilbevölkerung. Sie zeigen Muslime schüren und für sich ausnutzen. Hölle und Bombenangriffe, Vergewaltigungen oder Misshand- Paradies sind Kernthemen der koranischen Offenba- lungen von gefangenen Irakern durch US-Soldaten rung, die sich durch fast alle Suren, also Abschnitte in Abu Ghraib. Diese Bilder verfehlen ihre Wirkung des Koran und Überlieferungen des Propheten Mo- nicht. Europäische Sympathisanten des Jihad sehen hammed ziehen. In den Videos wie auch der übrigen das jihadistische Internet oft als alternative Informa- Internetpropaganda wird unablässig betont, dass nur tionsquelle: »Die westlichen Medien lügen so oder so »wahre Muslime« ins Paradies gelangen und Erlösung nur und verleumden den Islam und die Muslime.«48 finden werden. Die einzig »wahren Muslime« seien In den Videos werden diese Szenen der Erniedrigung die Unterstützer des Jihad, aktive Kämpfer und ins- besondere Selbstmordattentäter. Alle anderen seien 45 Vgl. Brynjar Lia/Thomas Hegghammer, »Jihadi Strategic auf ewig zum Fegefeuer verdammt. Die jihadistischen Studies: The Alleged Al Qaida Policy Study Preceding the Märtyrer hingegen seien die Verkörperung des Guten Madrid Bombings«, in: Studies in Conflict and Terrorism, 27 schlechthin. Sie gelangten ab dem Moment ihres To- (September–Oktober 2004) 5, S. 355–375. 46 Für eine englischsprachige Übersetzung des Inhaltsver- des ins Paradies und müssten nicht wie normalsterb- zeichnisses vgl. »The Encyclopedia of Jihad«, in: The Washing- liche Muslime erst auf den Tag des Jüngsten Gerichts ton Post, 5.8.2005, (Zugriff In den Videos des Jihad wird der Garten Eden detail- am 2.4.2011). liert in einer für den sunnitischen Islam revolutionä- 47 Vgl. El Difraoui, Al Qaida par l’image [wie Fn. 15]. 48 Gespräch des Autors mit jugendlichen Anhängern des jihadistischen Predigers Omar Bakri, London, November 49 Gespräch des Autors mit einer Gruppe von Jihadisten, 2008. Tripoli (Libanon), 2006.

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15 Entwicklung, Struktur und Inhalte des jihadistischen Internet

ren Bildsprache dargestellt. Schilderungen des Para- dieses aus dem Koran werden in einem eklatanten Bruch mit der klassischen sunnitischen Doktrin in Bilder umgesetzt. Die Filme zeigen die vermeintlichen Märtyrer vor Wasserfällen, über Wolken schwebend oder in üppigen, luxuriösen Gärten. Neben den Videos finden sich im Internet Hunderte von Hagiographien, also Portraits, in denen die »vor- bildlichen« Lebensgeschichten und »heroischen Taten« der Märtyrer bis ins Kleinste ausgeschmückt werden. Die Schaffung eines Märtyrerkults ist vermutlich der besorgniserregendste »Erfolg« von über dreißig Jahren jihadistischer Propaganda, welche die Deutungshoheit über zahlreiche islamische Symbole und Vorstellun- gen errungen hat. Märtyrertum im Islam wird heute nicht nur von Jihadisten, sondern allzu oft auch von der breiten Öffentlichkeit mit Selbstmordattentaten gleichgesetzt. Dabei basiert das traditionelle Bild des Märtyrers zumindest im sunnitischen Islam darauf, dass dieser zumeist friedlich seinen Glauben bezeugt, während Selbstmord eine Todsünde ist.50

50 Vgl. Ignaz Goldziher, Muhammedanische Studien, 2. Teil, Halle 1890, S. 387; David Cook, Martyrdom in Islam, New York 2007, S. 19.

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16 Bestandsaufnahme und Erörterung aktueller Gegenmaßnahmen

Bestandsaufnahme und Erörterung aktueller Gegenmaßnahmen

Die Entwicklung von Maßnahmen gegen die jihadisti- tiativen der EU-Mitgliedstaaten55 sind jedoch bisher sche Internetpropaganda steckt noch in den Kinder- nicht systematisch erfasst, auch besteht noch kein schuhen.51 Auf globaler, regionaler und selbst auf na- geeignetes Forum zum Austausch. Eine positive Aus- tionaler Ebene, Deutschland eingeschlossen, herrscht nahme bildet das europäische Netzwerk European Policy verbreitet Unkenntnis darüber, welche Ansätze es gibt. Planners’ Network on Countering Polarisation and Radicali- Die Vereinten Nationen (VN) beschäftigen sich zwar sation (PPN).56 Daran beteiligen sich aber lediglich acht mit den Gefahren des Cyberjihad und haben eine Ar- Mitgliedstaaten. beitsgruppe zur »Bekämpfung der Nutzung des Inter- In Deutschland ist das Bild ähnlich: Auf Grund der net für terroristische Zwecke« gebildet.52 Ihre Arbeit föderalen Struktur sind kaum Projekte auf nationaler konzentriert sich allerdings bisher auf Experten- Ebene zu verzeichnen, abgesehen von der gezielten anhörungen, eine Bestandsaufnahme der aktuellen Beobachtung und Auswertung des jihadistischen Web Rechtslage und Initiativen in den VN-Mitgliedstaaten durch das Gemeinsame Internetzentrum (GIZ). Hier sowie vage generelle Empfehlungen,53 deren Umset- kooperieren Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfas- zung noch aussteht. Die EU leitete erste Schritte zur sungsschutz, des Bundeskriminalamtes, des Bundes- besseren Koordination der Bekämpfung jihadistischer nachrichtendienstes und des Militärischen Abschirm- Internetpropaganda ein.54 Die vielfältigen Einzelini- dienstes sowie der Generalbundesanwaltschaft.57 Auf Länder- und lokaler Ebene gibt es zwar Initiati- 51 Vgl. Center for Terroranalyse, »Youtube.com and Face- ven, die Prävention und Deradikalisierung fördern book.com – The New Radicalisation Tools?«, in: Institute for sowie den Einfluss des jihadistischen Internet ein- Strategic Dialogue (Hg.), The European Policy Planners’ Network dämmen wollen. Allerdings fehlt bisher ein Gesamt- [wie Fn. 36], S. 7. überblick. Erst vor kurzem hat die Deutsche Islam- 52 Die Arbeitsgruppe existiert im Rahmen der vom VN-Gene- ralsekretär eingesetzten Counter-Terrorism Implementation konferenz damit begonnen, die Landesregierungen Task Force (CTITF); vgl. UN Action to Counter Terrorism, schreiben, um zu erfassen, welche Projekte überhaupt (Zugriff am 25.7.2011). existieren. Ohne diese Bestandsaufnahme gestaltet 53 2009 unterbreitete die Gruppe fünf Kernvorschläge zur sich ein umfassendes Vorgehen gegen jihadistische Bekämpfung des Cyberjihad: (1) den Austausch über erfolg- reiche Projekte (best practice), (2) eine Datenbank mit dem Onlinepropaganda extrem schwierig. aktuellen Forschungsstand, (3) die Förderung weiterer For- Die Maßnahmen gegen den Einfluss der jihadisti- schung über Gegenmaßnahmen zu extremistischen Ideolo- schen, aber auch der salafistischen Propaganda lassen gien im Internet, (4) eine Untersuchung, ob neue internatio- sich grundsätzlich in drei Gruppen einteilen, die nale Rechtsmaßnahmen wirkungsvoll, erwünscht und durch- sich manchmal überschneiden: erstens Beobachtung, führbar sind, sowie (5) die Förderung von Partnerschaften die gewisse Infiltrationsmaßnahmen einschließt, zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren und den relevan- ten Akteuren in der Internetbranche. Diese Ansätze harren noch der Verwirklichung. Vgl. United Nations Counter- Counter Violent Extremism, Pressemitteilung, Brüssel, 9.9.2011, Terrorism Implementation Task Force (Hg.), Countering the Use (Zugriff am 13.2.2012). die beschriebene Projekt Check the Web, die Initiative Clean IT 55 Laut Übereinkommen zur Terrorismusprävention von sowie ein Forschungsprojekt für die Entwicklung neuer Tech- 2005 sollen Staaten nationale Maßnahmen gegen die Rekru- niken zur Erkennung radikaler Inhalte im Netz; vgl. Institute tierung von Terroristen treffen und koordinieren. for Strategic Dialogue (Hg.), »Radicalisation: The Role of the 56 Vgl. Institute for Strategic Dialogue, (Zugriff am [wie Fn. 36], S. 9. Außerdem wurde im September 2011 das 12.7.2011). Radicalisation Awareness Network gegründet. Es soll vielverspre- 57 Bundesministerium des Innern, Das Gemeinsame Internet- chende Initiativen gegen Radikalisierung identifizieren und zentrum (GIZ), (Zugriff am 12.7.2011).

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17 Bestandsaufnahme und Erörterung aktueller Gegenmaßnahmen

zweitens Maßnahmen zur Reduzierung des Angebots te.59 Infolge der Verhaftung in Österreich konnten und drittens Maßnahmen zur Reduzierung der Nach- acht in Deutschland lebende Mitglieder der GIMF frage. ausfindig gemacht werden.

Effektive Beobachtung und Infiltration Infiltration

Effektive Beobachtung ist die Voraussetzung für alle Das GIZ beobachtet jedoch nicht nur, sondern infil- anderen Maßnahmen, da es nur möglich ist, angebots- triert auch in gewissen Grenzen das Netz des Jihad. und nachfragereduzierende Maßnahmen zu ergreifen, Die Mitarbeiter des Zentrums diskutieren in Foren mit wenn Inhalte, Struktur und Verbreitung des jihadisti- einzelnen Teilnehmern und betreuen V-Leute im schen Netzes genau erfasst sind. Zur Überwachung Internet. Andere Staaten gehen noch weiter. Die saudi- und Auswertung jihadistischer Internetpropaganda arabische Regierung beispielsweise hat ein eigenes hat die europäische Polizeibehörde Europol 2007 Zentrum aufgebaut, um die Argumente der Jihadisten unter dem Namen Check the Web ein Informations- in den Webforen zu widerlegen und so der Radikali- portal gegründet.58 Es soll die Koordination zwischen sierung einzelner Teilnehmer vorzubeugen. Hinter Mitgliedstaaten fördern und soll verhindern, dass vermeintlich »ganz normalen Diskussionsteilneh- deren Ressourcen durch Doppelarbeit verschwendet mern« verbirgt sich ein Stab hochqualifizierter Reli- werden. Federführend bei diesem EU-Projekt war das gionsgelehrter. »Haben wir erst mal eine echte Dis- ebenfalls 2007 ins Leben gerufene und in Berlin an- kussion im Gang, gewinnen wir meist mit unseren gesiedelte GIZ. Dessen Experten beobachten die jiha- Argumenten«,60 lautet das optimistische Fazit eines distischen Internetseiten und leiten ihre Ergebnisse an leitenden Beamten der saudi-arabischen Institution. das Bundeskanzleramt, das Bundesinnenministerium Eine solche erfolgreiche Infiltration ist jedoch ein und das Verteidigungsministerium sowie die zustän- kompliziertes Unterfangen. Um im Web als jihadisti- digen Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern sche Autorität zu gelten, bedarf es nicht nur profun- weiter. der Kenntnis jihadistischer Konzepte und Rhetorik, Nicht nur werden Propaganda und Ideologieent- sondern auch einer hohen Anzahl und Frequenz von wicklung verfolgt, es können auch wichtige operative Beiträgen. Nur so können Glaubwürdigkeit und Ver- Erkenntnisse gewonnen werden. Die Internetvideos trauen im virtuellen Raum hergestellt werden. Gleich- etwa erlauben Rückschlüsse auf Bewaffnung, taktische zeitig sind diese Glaubwürdigkeit und das Vertrauen Fähigkeiten und Kommandostrukturen der Jihadisten. aber auch Schwachpunkte der Internetjihadisten.61 Auch lassen sich oftmals deren technische Kompetenz In kriminellen oder Untergrundorganisationen und und Bildungsgrad sowie andere persönliche Informa- auch bei aktiven al-Qaida-Zellen, in denen die Mit- tionen an ihren Beiträgen im Internet ablesen. Diese glieder physischen Kontakt miteinander haben, wird Erkenntnisse sind für die Erstellung von Profilen wich- Vertrauen häufig durch die Zahlung eines »Preises« tig. Quantität und Frequenz der Beiträge sowie deren erzeugt. Je höher dieser »Preis«, etwa die gemeinsame geographische Verbreitung können ebenfalls nütz- Beteiligung an einem Verbrechen, desto größer das liche Einsichten über die Sympathisanten des Jiha- Vertrauen. In der Cyberwelt der Jihadisten jedoch dismus und die Produzenten der Propaganda liefern. müssen Kompetenz, Zeitaufwand sowie Häufigkeit Manchmal werden sogar konkrete Resultate bei der und Qualität der Beiträge den direkten Kontakt er- Terrorismusbekämpfung erzielt. Da gut zwei Drittel setzen. Sind dieses Vertrauen und die nötige Glaub- aller Benutzer und häufig selbst die Betreiber jiha- würdigkeit aufgebaut, kann durch Desinformation distischer Webseiten ihre IP-Adressen nicht über so- Misstrauen gesät und die jihadistische Bewegung da-

genannte Proxy Server verschlüsseln, lassen sie sich oft lokalisieren oder identifizieren. So wurde 2007 59 Gespräch des Autors mit Nico Prucha (Forschungsgruppe Mohamed Mahmud, Hauptbetreiber der GIMF, in Jihadism Online), Wien, Februar 2011. Wien aufgespürt und verhaftet, weil er den Computer 60 Gespräche des Autors mit leitenden Beamten des saudi- in der elterlichen Wohnung unverschlüsselt benutz- arabischen Innenministeriums im Rahmen des vom Sciences Po Paris organisierten Forums »Eurogolfe«, Riad, März 2007. 61 Vgl. Thomas Hegghammer, »The Recruiter’s Dilemma: 58 Institute for Strategic Dialogue, »Radicalisation« [wie Signaling and Terrorist Recruitment Tactics«, in: Journal of Fn. 54], S. 9. Conflict Resolution (in Vorbereitung).

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18 Maßnahmen zur Reduzierung des Angebots

mit geschwächt oder gar gespalten werden.62 Allein gegründet. Selbst die deutschsprachige GIMF soll teil- der Verdacht der Infiltration verunsichert die Teilneh- weise vom FBI unterwandert und durch Hilfsangebote mer eines Forums. und die Vermittlung eines Servers gesteuert worden Auf Grund des Trennungsgebots zwischen Nach- sein.65 richtendiensten und Polizei sind Infiltrationen durch Geheimdienste haben versucht, Internetjihadisten das GIZ nicht unproblematisch.63 Im Gegensatz zu zu rekrutieren oder »umzudrehen«. Während dies bei den Nachrichtendiensten haben Angehörige des Bun- den Betreibern einiger im Milieu erfolgreicher Foren deskriminalamtes nicht das Recht, ohne Gerichts- funktionierte und so Insiderinformationen gewonnen beschluss in private Foren einzudringen, wenn die werden konnten,66 kam es in anderen Fällen zu Katas- Betreiber explizit erwähnen, dass Polizei unerwünscht trophen. Der jordanische Arzt und Internetjihadist ist. Die Mitarbeiter der Nachrichtendienste im GIZ Humam Khalil Abu-Mulal al-Balawi alias Abu Dujana können zwar Foren unterwandern, dürfen dies aber wurde vom jordanischen Geheimdienst und der CIA nicht im Beisein von Kriminalbeamten oder Vertre- zunächst im Netz identifiziert und dann angeworben. tern der Generalbundesanwaltschaft tun.64 Auch ist Der Mediziner sollte anschließend in der realen Welt das zur Infiltration oftmals notwendige, als sting opera- Kontakt zur Führungsspitze von al-Qaida herstellen. tions bezeichnete Verfahren in Deutschland ungesetz- Stattdessen tötete er bei einem spektakulären Selbst- lich. Bei diesen Operationen begehen Geheim- oder mordattentat in Afghanistan im Dezember 2009 Polizeidienste selbst illegale Aktionen oder stiften sie sieben CIA-Mitarbeiter, darunter auch hochrangige, zumindest an, um so Kriminelle oder Extremisten zu und seinen jordanischen Führungsoffizier.67 ködern, zu enttarnen und strafrechtlich zu verfolgen. Amerikanische oder arabische Geheimdienste gründe- ten hierzu eigene jihadistische Webseiten oder bieten Maßnahmen zur Reduzierung des Angebots auf bereits existierenden Seiten Jihadisten ihre Hilfe an. Einige der berühmtesten Webforen wie al-Hesbah Die angebotsreduzierenden Maßnahmen haben zum wurden von amerikanischen und saudischen Diensten Ziel, die Anzahl jihadistischer und salafistischer Web- seiten zu verringern und gleichzeitig den Zugriff auf

nicht schließbare Webseiten zu erschweren sowie 62 Zu Forschungsarbeiten über interne Spannungen inner- halb der jihadistischen Bewegung vgl. Combating Terrorism potentielle Propagandisten des Jihad abzuschrecken. Center (Hg.), Cracks in the Foundation: Leadership Schisms in al- Reduziert werden damit die Verbreitung jihadistischer Qa’ida from 1989–2006, West Point 2007; dass., Harmony and Inhalte im Netz und die Anzahl der Personen, die sich Disharmony: Exploiting al-Qa’ida’s Organizational Vulnerabilities, durch die Netzpropaganda radikalisieren könnten. West Point 2007. Außerdem können die Energien und Ressourcen ji- 63 Das Trennungsgebot besagt, dass Behörden nicht sowohl Polizeiarbeit leisten als auch Informationen über verfassungs- hadistischer Medienmacher gebunden werden. Sie feindliche oder staatsgefährdende Bestrebungen sammeln müssen teilweise neue Systeme programmieren und sollen. Polizei und Nachrichtendienste haben voneinander neue Administratoren finden. Weniger jihadistische getrennte Befugnisse. Der »Polizeibrief« von 1949, ein Schrei- Präsenz im Internet erlaubt wiederum effizientere ben der Militärgouverneure der westdeutschen Besatzungs- Beobachtung. Bei den angebotsorientierten Maßnah- zonen an den Parlamentarischen Rat, gilt als rechtlicher Ur- men sind Rechtsprechung und Strafverfolgung ein sprung des Trennungsgebots. Hier wurde der Bundesregie- rung gestattet, »eine Stelle zur Sammlung und Verbreitung erster wichtiger Bereich. von Auskünften über umstürzlerische, gegen die Bundes- regierung gerichtete Tätigkeiten einzurichten« (den späteren Verfassungsschutz), die jedoch keine Polizeibefugnisse haben sollte. Schreiben der Militärgouverneure zum Grundgesetz (»Polizei- 65 Vgl. Holger Schmidt, »Eklat im GIMF-Verfahren: Steuerte Brief«), 14.4.1949, Punkt 2, . §§2 Abs. 1 und 8 Abs. 3 des 9.9.2011, (Zugriff am 5.10.2011). rung an eine Polizeidienststelle. Nur wenn sich die Aufgaben- 66 Gespräch des Autors mit dem Internet-Aktivisten Aaron erfüllung überschneidet, dürfen Informationen übermittelt Weisburd (Internet Haganah), Berlin, Februar 2011. werden. Die Grenzen dieser Übermittlung sind jedoch nicht 67 Richard A. Oppel Jr./Mark Mazzetti/Souad Mekhennet, definiert. »Attacker in Afghanistan Was a Double Agent«, in: The New 64 Gespräch des Autors mit einem Mitarbeiter des Verfas- York Times, 4.1.2010, (Zugriff am 5.1.2010).

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19 Bestandsaufnahme und Erörterung aktueller Gegenmaßnahmen

Rechtsmittel gegen jihadistische Propaganda Ein generelles Verbot aller jihadistischen und vor allem salafistischen Texte, also auch derjenigen, die Forderungen nach neuen Gesetzen und härteren nicht direkt zur Gewalt aufrufen, könnte die Salafis- rechtlichen Schritten gegen die Propagandisten des ten und Jihadisten in ihrer Haltung bestärken, dass Jihad werden in der westlichen Welt lauter. So rief »die westliche Presse- und Meinungsfreiheit dann die Bundesanwaltschaft nach dem Anschlag am Frank- aufhört, wenn es um den Islam geht«.73 Ein solches furter Flughafen dazu auf, verstärkt strafrechtlich Verbot würde vermutlich lediglich die Besucherzahl gegen die Propaganda im Internet vorzugehen.68 Doch ausländischer Webseiten erhöhen und Neugier unter selbst amerikanische Politiker, die ein Totalverbot bisher nicht am jihadistischen Web Interessierten aller jihadistischen Materialien im Internet befürwor- wecken.74 ten, sind sich bewusst, dass dies gerade in den USA In Deutschland stehen nach Ansicht von Verfas- nicht durchsetzbar ist, da es gegen das Grundrecht sungsschützern,75 aber auch der Internetindustrie76 der freien Meinungsäußerung verstieße.69 Auch in genug Rechtsmittel zur Verfügung, um gegen Propa- Deutschland widerspräche eine solche Generalzensur ganda und Propagandisten des Internetjihad vor- dem Grundgesetz. Großbritannien, die einst wichtigs- zugehen. Werden im Web Aufrufe zu Straftaten all- te Medienplattform des Jihadismus, hat nach den An- gemein oder zu Anschlägen, konkrete Anschlagsziele schlägen auf die Londoner U-Bahn mit dem Terrorism oder Anleitungen zu deren Durchführung, etwa Act 2006 die härteste Gesetzgebung in der EU gegen zum Bombenbau, veröffentlicht, ist die Rechtslage jihadistische Propaganda geschaffen. Bereits der Besitz in Deutschland seit dem »Gesetz zur Verfolgung der jihadistischer Texte oder das Anschauen von Videos Vorbereitung schwerer staatsgefährdender Gewalt- steht unter schweren Strafen.70 Trotzdem ist das Kö- taten« (GVVG) von 2009 eindeutig.77 Auch das juristi- nigreich nach wie vor eine der Hochburgen des isla- sche Instrumentarium in Sachen Unterstützung einer mistischen Extremismus in Europa, in der auch die terroristischen Vereinigung sowohl in Deutschland78 Propaganda des Jihad weiter kursiert.71 Zahlreiche als auch im Ausland,79 bei Volksverhetzung,80 bei Webseiten sind zudem auf Servern in anderen Staaten Beschimpfungen von Bekenntnissen und Religions- beherbergt und entziehen sich daher deutscher Recht- gesellschaften81 oder Verstößen gegen den Jugend- sprechung.72 schutz82 reicht aus, um die Propagandisten des Jihad

73 Gespräch des Autors mit jugendlichen Anhängern des 68 Vgl. »Täter tötete Amerikaner durch Kopfschuss«, in: Frank- jihadistischen Predigers Omar Bakri, London, November furter Allgemeine Zeitung, 4.3.2011, (Zugriff am 25.5.2011). London 2009, S. 20. 69 Vgl. House of Representatives, U.S. Strategy for Countering 75 Gespräch des Autors mit einem Mitarbeiter des Verfas- Jihadist Websites, Hearing before the Subcommittee on Terror- sungsschutzes, März 2011. ism, Nonproliferation and Trade of the Committee on Foreign 76 Gespräch des Autors mit einer Vertreterin des Verbands Affairs, 29.9.2010, (Zugriff am 12.5.2011); Bruce Hoffman, 77 Kraft dieses Gesetzes wurden dem Strafgesetzbuch einige Internet Terror Recruitment and Tradecraft: How Can We Address an Paragraphen hinzugefügt. Strafbar sind danach die Vorberei- Evolving Tool while Protecting Free Speech?, Written Testimony tung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat (§89a Submitted to The House Committee on Homeland Security, StGB) sowie die Aufnahme von Beziehungen (§89b StGB) und Subcommittee on Intelligence, Information Sharing, and die Anleitung zur Begehung (§91 StGB) einer solchen Tat. Terrorism Risk Assessment, 26.5.2010, ristischen Vereinigung sind strafbar (§129a StGB). (Zugriff am 2.5.2011). 79 §129a StGB gilt auch für Vereinigungen im Ausland 70 Vgl. Terrorism Act 2006, (Zugriff am 16.7.2011). 80 Volksverhetzung bzw. Schriften dazu sind strafbar (§130 71 Gespräch des Autors mit einem Mitarbeiter des Office for StGB); vgl. auch EU-Richtlinie zur Bekämpfung von Rassismus Security and Counter-Terrorism (OSCT), Stockholm, Juni 2011. und Ausländerfeindlichkeit (2007), CNS/2001/0270. 72 Für weitergehende Diskussionen zu dieser Problematik 81 Das Beschimpfen von Bekenntnissen, Religionsgesellschaf- vgl. Raphael Perl, »Terrorist Use of the Internet. Threat, Issues, ten und Weltanschauungsvereinigungen ist strafbar (§166 and Options for International Co-operation«, Zweites Inter- StGB). nationales Forum über Informationssicherheit, Garmisch- 82 Angebote, also Rundfunksendungen und Inhalte in Tele- Partenkirchen, 7.–10.4.2008, medien, gelten laut §4 Abs. 1 des Jugendmedienschutz-Staats- (Zugriff am 13.1.2012). vertrages (JMStV) der Länder unter anderem dann als unzu-

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20 Maßnahmen zur Reduzierung des Angebots

strafrechtlich zu verfolgen, zu verurteilen und damit richt überwiegend strafmildernd, dass die Angeklag- potentielle Nachahmer abzuschrecken. So verhängte ten sich zwischenzeitlich von ihrer »radikal isla- das Amtsgericht Reutlingen im Januar 2011 wegen mischen« Einstellung und ihren Taten distanziert Volksverhetzung ein Jahr Haft auf Bewährung über hätten.86 Diese öffentliche Lossagung junger Men- einen 27-jährigen Mannheimer, der im internationa- schen vom Jihadismus kann als Erfolg der Strafverfol- len Vergleich relativ harmlose Internetbeiträge ver- gung gewertet werden. Der achte Verurteilte erhielt fasst hatte.83 Der aus Afghanistan stammende, aber in eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Mona- Deutschland aufgewachsene Informatikstudent hatte ten. Er hatte ein Video, das die Anschläge des 11. Sep- in seinem inzwischen geschlossenen Forum geschrie- tember 2001 glorifizierte, ins Netz gestellt und wollte ben: »Die Verbreitung des Islam wird mit dem Schwert zu einem Trainingslager al-Qaidas nach Afghanistan vollzogen, nicht mit dem Lesen von Büchern.«84 reisen. Als straferschwerend sah das Gericht die zahl- Außerdem hatte er Schriften von Abu Muhammad al- reichen Vorstrafen und seine mangelnde Bereitschaft Maqdisi, einem der renommiertesten Autoren des zu einer Stellungnahme.87 Diese Haftstrafe dürfte auf Jihadismus, ins Deutsche übersetzt und ins Internet Propagandisten des Jihad abschreckend wirken. gestellt. Diese Übersetzungen sind weiterhin im Netz erhältlich.85 Ebenfalls 2011 sprach das Oberlandesgericht Mün- Die Rolle der Internetindustrie chen acht Jihadisten von der Propagandaplattform GIMF schuldig, Mitglieder geworben beziehungsweise Die Internetindustrie88 kann theoretisch extremisti- islamistische terroristische Vereinigungen im Ausland sche Internetinhalte rasch identifizieren und im unterstützt zu haben. Sieben der Angeklagten erhiel- Rahmen der freiwilligen Selbstkontrolle vom Netz ten, teilweise unter Anwendung des Jugendstrafrechts, nehmen sowie bei Verdacht strafbarer Handlungen Strafen von einfachen Auflagen bis hin zu Haft auf die zuständigen Behörden informieren.89 Ihr kommt Bewährung. Bei der Strafzumessung wertete das Ge- bei den Maßnahmen zur Reduzierung des Angebots folglich eine bedeutende Rolle zu. Nach den Attenta- ten des Rechtsextremisten Anders Behring Breivik in lässig, wenn sie »Propagandamittel [...] darstellen, deren In- Norwegen mit 77 Toten im Juli 2011 wurden erneut halt gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet ist« Forderungen laut, einen »Alarmknopf« einzurichten, (Satz 1), »Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen mit dem Internetnutzer durch einen einzigen Klick [...] verwenden« (Satz 2), »zum Hass gegen Teile der Bevölke- extremistische Inhalte melden können.90 Dabei gibt es rung oder gegen eine nationale, rassische oder religiöse Gruppe aufstacheln, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordern oder die Menschenwürde anderer da- durch angreifen, dass Teile der Bevölkerung beschimpft, bös- 86 Vgl. Oberlandesgericht München, Urteile vom Juli, Sep- willig verächtlich gemacht oder verleumdet werden« (Satz 3), tember, Oktober und Dezember 2011, (Zugriff gegen Menschen in einer Art schildern, die eine Verherr- am 17.1.2012). lichung oder Verharmlosung solcher Gewalttätigkeiten 87 Vgl. Holger Schmidt, »GIMF: 3 Jahre und 6 Monate Haft ausdrückt oder die das Grausame oder Unmenschliche des für Bremer Renee Marc S.«, in: SWR Blog Terrorismus, 6.12.2011, Vorgangs in einer die Menschenwürde verletzenden Weise »als Anleitung zu einer in §126 Abs. 1 des Strafgesetzbuches (Zugriff am 28.12.2011). genannten rechtswidrigen Tat dienen« (Satz 6), »den Krieg 88 Mit Internetindustrie sind Unternehmen gemeint, die im verherrlichen« (Satz 7), »gegen die Menschenwürde versto- und mit dem Internet Erlöse erzielen. ßen, insbesondere durch die Darstellung von Menschen, die 89 Vgl. Verhaltenskodex Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia- sterben oder schweren körperlichen Leiden ausgesetzt sind Diensteanbieter (FSM), [...]« (Satz 8). (Zugriff am 21.7.2011); Nationale Infrastructuur ter bestrij- 83 Vgl. »Amtsgericht verurteilt 27-Jährigen wegen Volksver- ding van Cybercrime (NICC) (Hg.), Notice-and-Take-Down Code of hetzung zu Bewährungsstrafe«, in: Tagblatt, 21.1.2011, (Zugriff am gericht-verurteilt-27-Jaehrigen-wegen-Volksverhetzung-zu-Be 22.7.2011). waehrungsstrafe-_arid,123297.html> (Zugriff am 12.7.2011). 90 Dies fordert der Bund Deutscher Kriminalbeamter; vgl. 84 Vgl. ebd. Ole Reißmann, »Die Denkfehler der Scharfmacher«, in: Spiegel 85 Minbar of Tawhed and Jihad, (Zugriff am 20.6.2011). 0,1518,776872,00.html> (Zugriff am 28.7.2011).

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21 Bestandsaufnahme und Erörterung aktueller Gegenmaßnahmen

in Deutschland bereits einen solchen Knopf.91 Er kann Das Bundesamt für Verfassungsschutz bietet seiner- bei den beiden größten Internet-Browsern Firefox und seits die 24-Stunden-Hotline HATIF, auch auf Arabisch Internet Explorer kostenfrei heruntergeladen werden. und Türkisch.96 Dort kann ebenfalls auf jihadistische Ursprünglich war er entwickelt worden, um gegen Webseiten respektive deren verstärkte Nutzung durch Kinderpornographie im Internet vorzugehen. Mit Jugendliche aufmerksam gemacht werden, die das seiner Hilfe können aber auch andere rechtswidrige Anzeichen für eine mögliche Radikalisierung sein Seiten anonym gemeldet und dies dem Verband der könnte. Vor allem ist HATIF der Zugang zum einzigen deutschen Internetwirtschaft (eco) mitgeteilt werden. wirklichen Deradikalisierungsangebot in Deutsch- Laut den Sprechern der Internetindustrie fehlt es land.97 Aussteiger aus der salafistisch-jihadistischen diesen Alarmknöpfen aber noch an Sichtbarbarkeit Szene haben hier eine Anlaufstelle, um »Unterstüt- und Bekanntheit. zung bei Bedrohung, Vermittlung von schulischen Eco und die Freiwillige Selbstkontrolle der Multi- oder beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen, materi- media-Diensteanbieter (FSM) bieten bereits zwei elle Hilfe im Einzelfall bei zwingend erforderlichen Beschwerdestellen an, bei denen extremistische Maßnahmen und auf Wunsch auch externe Hilfs- und Inhalte direkt gemeldet werden können.92 Falls diese Unterstützungsangebote« zu erhalten.98 Über Erfolg von einer ausländischen Seite stammen, wird die oder Misserfolg von HATIF möchte das Bundesamt für Beschwerde an einen Partner innerhalb des inter- Verfassungsschutz allerdings keine Auskunft erteilen.99 nationalen Dachverbands der Beschwerdestellen weitergeleitet, der International Association of Internet Hotlines (INHOPE).93 Leider sind selbst europäische Cyberattacken Webbetreiber nicht immer zur Zusammenarbeit bereit. Dem lässt sich durch das sogenannte naming Selbsternannte Web-Polizisten (internet vigilantes) wie and shaming abhelfen, die öffentliche Nennung und Internet Haganah aus den USA,100 aber auch US-Geheim- moralische Verurteilung unkooperativer Firmen. dienste versuchen mit Cyberangriffen jihadistische Weiterhin ermöglicht es Jugendschutz.net, eine von Webseiten zu hacken und zu löschen oder deren den Jugendministerien der Länder gegründete Web- Server lahmzulegen. Doch selbst diese »Schlacht« im seite, potentiell gefährliche Inhalte zu einer Überprü- virtuellen Raum kann die jihadistische Präsenz im fung anzuzeigen.94 Auch in den wichtigsten sozialen Web nicht komplett beseitigen. Ein Großteil des Pro- Netzwerken können gefährliche Inhalte bereits mit pagandamaterials wird ohnehin in rasanter Geschwin- zwei oder drei Mausklicks publik gemacht werden. digkeit von Sympathisanten heruntergeladen und Auf YouTube etwa existiert ein sogenanntes Sicher- weitergeleitet. Auch erscheinen viele Internetseiten, heitszentrum95 mit eigenen Rubriken wie »Jugend- die gehackt oder vom Provider gesperrt wurden, nur schutz« und »Hasserfüllter Inhalt«. Stunden oder Tage später wieder. Die Anbieter sichern

96 Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz, Heraus aus Terroris- 91 Telemediendienst jetzt.löschen des Niedersächsischen Minis- mus und islamistischem Fanatismus – HATIF! hen.de> (Zugriff am 26.7.2011). (Zugriff am 5.11.2011). 92 Vgl. Internet-Beschwerdestellen des Verbands der deut- 97 Zur »Umerziehung« von Jihadisten betreiben Saudi-Ara- schen Internetwirtschaft (eco) und der Freiwilligen Selbst- bien und Singapur Zentren, in denen diese rund um die Uhr kontrolle Multimedia-Diensteanbieter (FSM), und (Zugriff jeweils am 21.7.2011). men; vgl. Peter Neumann, Prisons and Terrorism. Radicalisation 93 International Association of Internet Hotlines (INHOPE), (Zugriff am 24.7.2011). (Zugriff am 22.7.2011). Jugendschutz.net kooperiert ies.pdf> (Zugriff am 7.11.2011). mit dem International Network Against CyberHate (INACH); vgl. 98 Bundesamt für Verfassungsschutz, HATIF [wie Fn. 96]. INACH (Hg.), Report 2010, Amsterdam 2010, (Zugriff am 22.7.2011). spektiven – Positionen – Prävention« der Konrad-Adenauer- 95 Sicherheitszentrum von YouTube,

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22 Maßnahmen zur Reduzierung der Nachfrage

sämtliche Daten und Inhalte auf sogenannten Spiegel- bilder entgegengesetzt werden, sogenannte Gegen- Seiten, die auf neuen Servern oder unter einem leicht narrative. Zweitens sollen zweckmäßige Kommunika- veränderten Namen wieder hochgeladen werden. tions- und Bildungsstrategien und deren Träger identi- Cyberangriffe bergen auch unerwartete Risiken. fiziert und entwickelt werden, um diese Weltbilder zu So düpierten sich die USA bereits selbst mit einer verbreiten. Drittens sollen geeignete Akteure für diese Attacke. Das Verteidigungsministerium zerstörte ein Zwecke gefunden und eingebunden werden. jihadistisches Forum, weil es angeblich Informationen enthielt, die US-Soldaten gefährdeten. Dabei war die Webseite ein gemeinsames Projekt der CIA und der Alternative Weltbilder saudi-arabischen Geheimdienste zur Informations- gegen die jihadistische Deutungshoheit gewinnung.101 In Deutschland stellt sich grundsätzlich die Frage, Jihadistische und salafistische Webseiten sind im Ver- ob Cyberattacken legal sind. Es gibt jedoch rechtlich gleich zum tatsächlichen Gewicht dieser Strömungen weniger bedenkliche technische Maßnahmen, um die im Islam überproportional stark im Internet vertreten. Anzahl extremistischer Webseiten zu verringern und Wenn Religionsinteressierte in Deutschland und ande- den Zugriff auf nicht schließbare Seiten zu erschwe- ren europäischen Staaten islamische Begriffe, Konzep- ren. Hierbei spielt die Internetindustrie eine weitere te oder die Interpretation von Koransuren im Internet Schlüsselrolle. Durch eine als Hiding bezeichnete Tech- suchen, stoßen sie vorwiegend auf extremistische Aus- nik können Suchmaschinen so programmiert werden, legungen, selbst wenn sie nur Antworten auf harm- dass sie jihadistische Webseiten und Foren gar nicht lose Fragen haben möchten wie: »Welchen Vornamen oder nur noch auf den letzten Rängen zeigen.102 soll ich meiner Tochter, meinem Sohn geben?« Selbst Google etwa soll sich bereit erklärt haben, diese Me- bei der Eingabe des Suchbegriffs »Islam« erscheint bei thode bei jihadistischer und rassistischer Propaganda Google bereits an vierter Stelle die salafistische Web- anzuwenden.103 Solches Verstecken und die Verringe- seite Die Wahre Religion.104 So werden junge Muslime rung der Webseiten und Foren zwingen die Propagan- oft von Anfang an auf ein falsches Gleis gesetzt. Die disten des Jihad, verstärkt auf offene soziale Medien Deutungshoheit über diese Konzepte und Symbole wie YouTube und Facebook zurückzugreifen. Dort wiederzugewinnen ist heute eine der Prioritäten bei lassen sich die Medienprodukte des Jihad einfacher den Maßnahmen zur Bekämpfung jihadistischer Pro- beobachten und gegebenenfalls entfernen. paganda im Internet. Damit diese Maßnahmen wirk- sam werden können, muss zunächst der jihadistische Diskurs genauer in den Blick genommen werden. Maßnahmen zur Reduzierung der Nachfrage Einige der wichtigsten jihadistischen Propaganda- thesen, die mit Variationen tausendfach im Internet Bei ihren Versuchen, den radikalisierenden Einfluss wiederholt werden, beruhen zwar auf politischen des jihadistischen und des salafistischen Internet Tatsachen, etwa dem israelisch-palästinensischen zurückzudrängen, haben sich die meisten EU-Staaten Konflikt oder der westlichen Truppenpräsenz in Af- bisher vor allem auf die Beobachtung und mittelfristi- ghanistan. Die Faktizität dieser Konflikte lässt sich ge Maßnahmen zur Reduzierung des Angebots kon- nicht bestreiten, sehr wohl aber die Behauptungen zentriert. Nachfrageorientierte, ein Gegenangebot der Jihadisten, Konflikte ließen sich nur durch Jihad schaffende, präventive und deradikalisierende lang- und Selbstmordattentate lösen oder die westliche fristige Maßnahmen standen dabei bis vor kurzem im Truppenpräsenz in Afghanistan sei Teil einer Ver- Hintergrund. Dies ist im Begriff sich zu ändern. Die schwörung gegen den Islam. langfristigen Maßnahmen umfassen drei Bereiche: Alternative Weltbilder, mögliche Gegennarrative Erstens muss das jihadistische Weltbild analysiert und sowie deren Verbreitung und Effizienz zur Entkräf- sodann widerlegt werden, indem ihm positive Welt- tung der Ideologie des Jihadismus werden zurzeit intensiv unter Forschern und Terrorismusspezialisten 101 Vgl. House of Representatives, U.S. Strategy for Countering Jihadist Websites [wie Fn. 69]. 102 Gespräch des Autors mit einem britischen Antiterror- experten, Stockholm, Juni 2011. 104 Suchabfrage mit dem Begriff »Islam« bei Google, (Zugriff am 22.7.2011).

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23 Bestandsaufnahme und Erörterung aktueller Gegenmaßnahmen

diskutiert.105 In diesen Gegennarrativen wird zum namens Andi entwickelt, der sich speziell an Jugend- Beispiel betont, dass der Islam nicht durch den Jihad liche wendet und sich im Internet abrufen lässt.108 zur Weltreligion wurde, sondern durch seine Toleranz Anhand der Geschichte eines Jugendlichen, der sich und den Respekt gegenüber anderen Völkern und zu radikalisieren droht, tritt Andi salafistischen und Kulturen. Zahlreiche konkrete Beispiele werden jihadistischen Islaminterpretationen entgegen. Der genannt – etwa, dass die Eroberung Ägyptens fast ansprechende Band geht gezielt auf die jihadistische ohne Blutvergießen stattfand, da die ägyptischen Internetpropaganda ein und betont die Stimmenviel- Christen sich mit den Muslimen verbündeten, um falt innerhalb des Islam. Leider ist die Glaubwürdig- das byzantinische Joch abzuschütteln, oder dass Anda- keit der Arbeit von Verfassungsschützern unter Mus- lusien nur besetzt werden konnte, weil die muslimi- limen eher gering. Davon zeugen Erfahrungen aus schen Heerführer Allianzen mit den spanischen Juden Großbritannien.109 schmiedeten. Das Leben des Propheten selbst kann als Beispiel dafür interpretiert werden, dass die Erlösung im Islam nicht durch vermeintliches Märtyrertum Kommunikations- und Bildungsstrategien erreicht werden kann, sondern durch die Nachah- gegen den Jihadismus mung von Mohammeds tiefem Glauben und seiner großzügigen Nächstenliebe. Zudem hat der Prophet Um jihadistische Interpretationen zu widerlegen und Mohammed, den die Jihadisten als ihr Vorbild verein- Gegennarrative zu verbreiten, wird derzeit verstärkt nahmen, nie den Märtyrertod gesucht.106 Die Stern- nach geeigneten Kommunikationswegen und Platt- stunden islamischer Kultur und die Errungenschaften formen gesucht.110 Hauptziel ist es, Jugendliche wirk- arabischer Wissenschaft werden in den Vordergrund lich zu erreichen. Es wird versucht, der jihadistischen gestellt. Sie machen deutlich, dass diese Hochkultur und salafistischen Propaganda im Internet überzeu- nur geschaffen werden konnte, weil der Islam offen gende kreative, multimediale und interaktive Alter- für Einflüsse von Andersgläubigen wie Juden, Christen nativen entgegenzustellen. Eine Studie aus Groß- oder Zoroastriern war. britannien zeigt, dass junge Muslime neue Webseiten Zur Widerlegung jihadistischer Auslegungen sind begrüßen, auf denen ein Dialog mit der Regierung in Deutschland bereits vereinzelte Initiativen gestartet stattfindet, vorausgesetzt diese enthalten eine Frage- worden. Dazu zählt eine Broschüre des Berliner Senats rubrik, einen Webchat und vor allem Diskussions- mit dem Titel »Zerrbilder von Islam und Demokra- foren, in denen sie die Themen bestimmen können. tie«.107 Darin werden salafistische und jihadistische Statische Verlautbarungsseiten der Behörden und Ideen und Kernkonzepte mit Hilfe von Zitaten islami- der Regierung stießen auf kein Interesse.111 scher, aber auch eher weltlich gesinnter arabischer Autoren entkräftet, beispielsweise die Thesen, Chris- Der Cyberpropaganda kreativ im Internet begegnen ten und Juden seien Ungläubige und Demokratie sei Vereinzelt wird dem negativen jihadistischen Weltbild mit Götzenanbetung gleichzusetzen. Eine Arbeits- schon mit positiven Narrativen im Internet begegnet. gruppe aus Vertretern mehrerer Verfassungsschutz- Mit Webseiten und Portalen wird der interkulturelle ämter versucht diesen Ansatz auszuweiten und ji- Dialog gefördert und es werden Gemeinsamkeiten hadistische Diskurse in einem größeren Umfang zu zwischen den Kulturen herausgearbeitet. Hier wird dekonstruieren. Auch hat das Landesamt für Verfas- insbesondere der Frontenbildung entgegengewirkt, sungsschutz in Nordrhein-Westfalen einen Comic dem »Wir gegen den Rest der Welt« des jihadistischen

108 Vgl. Ministerium für Inneres und Kommunales des 105 Vgl. Pauline Hope Cheong/Jeffry Halverson, »Youths in Landes Nordrhein-Westfalen, Comic für Demokratie und gegen Violent Extremist Discourse: Mediated Identifications and Extremismus 2 – Andi, (Zugriff am Interventions«, in: Studies in Conflict and Terrorism, 33 (2010) 12, 20.11.2011). Die Ausgabe über Islamismus ist Teil einer drei- S. 1104–1123. teiligen Serie, in der auch Links- und Rechtsextremismus 106 Vgl. ebd. behandelt werden. 107 Berliner Senat für Inneres und Sport, Abteilung Verfas- 109 Vgl. Research, Information and Communications Unit sungsschutz (Hg.), Zerrbilder von Islam und Demokratie. Argumente (RICU) (Hg.), Young British Muslims Online, London 2010, S. 27–29. gegen extremistische Interpretationen von Islam und Demokratie, 110 Wie beispielsweise beim 9. Treffen des Policy Planners’ Berlin 2011, (Zugriff am 23.5.2011). S. 28.

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24 Maßnahmen zur Reduzierung der Nachfrage

Narrativs im Netz. Das unter anderem von der Deut- täten hin- und hergerissen sind. Die marokkanischen schen Welle und dem Goethe-Institut betriebene Por- Foren erfreuen sich großer Beliebtheit.117 tal zum »Dialog mit der islamischen Welt«, Qantara,112 Wie kreative Verbreitung von Gegennarrativen in hebt politische, kulturelle und künstlerische Initiati- den sozialen Netzwerken funktioniert, lässt sich an- ven junger Araber hervor. Zu nennen ist weiterhin das hand zweier Onlinespiele beobachten. Das britische mehrsprachige Online-Kulturmagazin Babelmed mit Pilotprojekt Gift Street Challenge testete, ob Jugend- Sitz in Rom.113 Es präsentiert und organisiert verbin- lichen mit Hilfe interaktiver Spiele im Internet posi- dende Kunst- und Kulturprojekte rings um das Mittel- tive Botschaften über das Leben der Muslime über- meer. Hauptsächlich versucht Babelmed über aktuelle mittelt werden können, um auf diese Weise al-Qaidas gesellschaftliche und politische Entwicklungen Narrativ zu schwächen.118 Für das fünfminütige Spiel zu berichten, ohne dabei Stereotypen zu bedienen, wurde vorwiegend in den sozialen Medien wie Face- und so der Polarisierung entgegenzuwirken. Der in book und Twitter geworben. Mit fast 2000 Spielern in Washington angesiedelte Internetnachrichtendienst nur drei Monaten Probelaufzeit war das Spiel relativ Common Ground News Service114 bietet ein weltweites erfolgreich. Deshalb soll nun ein Online-Rollenspiel Forum für Ideen und Initiativen zum sozialen und mit mehreren Spielern für ein älteres Publikum ent- gesellschaftlichen Wandel im Nahen Osten und zur wickelt werden. Ebenfalls für Facebook entwarf ein Völkerverständigung, und zwar nicht nur im Internet: jordanischer Ingenieur in Eigeninitiative ein Spiel mit Die Veröffentlichungen des auch von der EU indirekt arabischen Superhelden. Damit will er positive Rollen- geförderten Projekts werden von Hunderten Tageszei- modelle vermitteln, um extremistischen Vorbildern tungen weltweit nachgedruckt. Besonders viel Raum entgegenzuwirken. Schon nach einer Woche hatte erhalten die in westlichen Ländern lebenden Muslime Happy Oasis über 50 000 Mitspieler.119 sowie Graswurzelprojekte. Neben den eher klassischen Webseiten gibt es inter- Videos und Filme gegen den Jihad der Bilder aktive Portale und Foren, die gezielt islamische Gegen- Auch dafür, wie man dem Einfluss der Internetvideos narrative zum Jihadismus und Salafismus verbreiten. als einem der effizientesten Propagandamittel der Solche Portale finden sich beispielsweise in Singa- Jihadisten entgegenwirken kann, gibt es Beispiele. pur115 und vor allem in Marokko,116 wo teilweise mit Dabei wird versucht, die Videos des Jihad als mani- staatlicher Hilfe moderne islamische Webforen betrie- pulierende, realitätsfremde Inszenierungen zu ent- ben werden, in denen der Koran zeitgemäß ausgelegt larven und damit den Mythos um al-Qaida und ihre wird. Sie geben Jugendlichen die Möglichkeit, sich zu Anführer zu zerstören. So veröffentlichte die US- vernetzen und ihre islamische Identität zu finden, Regierung beschlagnahmtes Filmmaterial, das bin ohne dabei auf jihadistische Diskurse zu stoßen. In Laden als alten Mann mit grauem Bart zeigt, in sich einem Portal aus Singapur werden jihadistische Argu- zusammengesunken und eingehüllt in eine Woll- mentationen detailliert widerlegt und es wird unter- decke, sich selbst im Fernseher betrachtend. Aus strichen, dass der Islam eine Religion des Friedens und diesen Bildern ist deutlich herauszulesen, dass bin der Toleranz sei. In marokkanischen Foren werden Laden sich für seine Auftritte als »Ikone« des Jihad auch Alltagsthemen wie Sport, islamischer Pop oder in den al-Qaida-Videos den Bart schwarz färbte und Literatur diskutiert, da jihadistische Internetpropa- sich je nach Anlass mit traditioneller arabischer ganda zunehmend Jugendliche muslimischen Ur- Tracht oder Militärjacke kostümierte. sprungs rekrutieren will, die von der globalen Jugend- kultur beeinflusst und zwischen verschiedenen Identi-

117 2008 hatte Yabiladi bereits über 250 000 Nutzer und 1,2 Millionen monatliche Besucher, die täglich mehr als 2000 112 Qantara, (Zugriff am 12.7.2011). Beiträge verfassten; vgl. Yabiladi, (Zugriff am forum/statistique-yabiladi-83-2521053.html> (Zugriff am 12.7.2011). 17.12.2011). 114 Common Ground News Service, (Zugriff am 12.7.2011). Information and Communication Unit (RICU) als Teil der 115 Vgl. Religious Rehabilitation Group, (Zugriff am 9.2.2011). 119 Vgl. »TEDGlobal 2011: Social Media Game Aims to End 116 Vgl. Yabiladi, (Zugriff am Extremism«, in: BBC Online, 14.7.2011, (Zugriff am 15.7.2011).

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25 Bestandsaufnahme und Erörterung aktueller Gegenmaßnahmen

Spontane private Initiativen gegen die Internet- »Ich lebe nur für Allah« des Zentrums für Demokrati- videos des Jihad können jedoch effizienter sein als sche Kultur, klärt über Anziehungskraft und Argu- staatliche. Auf YouTube kursieren mittlerweile zahl- mente des Salafismus auf, auch über dessen Internet- reiche, hunderttausendfach abgerufene, zum Teil aus propaganda. Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat in al-Qaida-Videos zusammengeschnittene Persiflagen Zusammenarbeit mit Ufuq.de ebenfalls eine Broschüre oder Rapclips, die sich über die Terrororganisation mit Antworten auf die wichtigsten Fragen zu religiö- und ihre Führer lustig machen.120 Humor ist ein nicht ser Radikalisierung bei Jugendlichen erstellt.122 zu unterschätzendes Mittel, um den Jihadismus zu Der Verein Ufuq.de, was auf Arabisch und Türkisch entmystifizieren. »Horizont« bedeutet, versucht nach eigenem Bekun- In Deutschland wurde kürzlich unter dem Titel den, »jenseits von islamistischer Propaganda auf der »Islam, Islamismus und Demokratie« erstmals eine einen und Warnungen vor einer Islamisierung des dreiteilige Kurzfilmreihe für die pädagogische Arbeit Abendlandes auf der anderen Seite [...] in Medien, mit Jugendlichen hergestellt. Herausgeberin ist die Wissenschaft und Bildungsarbeit dazu bei[zu]tragen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW dass der Islam und die über drei Millionen Muslime Hamburg) mit dem »Verein Ufuq.de – Jugendkultur, in Deutschland zu einer Selbstverständlichkeit wer- Medien und politische Bildung in der Einwanderungs- den.« Ufuq.de bietet nicht nur Materialien an, sondern gesellschaft«.121 Die Videos wurden im Rahmen des veranstaltet auch Workshops mit Jugendlichen in Projekts »Filme zur Integrations- und Präventions- Schulen und Jugendeinrichtungen über Themen wie arbeit mit jungen Muslimen« (FIP) gedreht, das vom Islam und Menschenrechte, die Bedeutung von Reli- Bundesministerium des Innern und vom Bundes- gion im Alltag oder religiös begründete Gewalt und ministerium für Familie, Senioren Frauen und Jugend leistet auf diese Weise sinnvolle Präventionsarbeit. Das gefördert wird. Die Filme sollen die Vielfalt innerhalb baden-württembergische Modellprojekt »Team meX. des Islam vermitteln und salafistischen und jihadisti- Mit Zivilcourage gegen islamistischen Extremismus« schen Islamauslegungen entgegenwirken. Die Begleit- verfolgt einen ähnlichen Ansatz in Bezug auf klassi- materialien dazu eignen sich besonders zur Verwen- sche Bildungsträger. Team meX stellt auf Anfrage dung in Schulen. Noch ist es zwar zu früh, um zu qualifizierte Referenten, um etwa Lehrer und Mit- bewerten, ob diese Filme Wirkung zeigen. Dennoch arbeiter von Jugendeinrichtungen als Multiplikatoren scheint der Ansatz vielversprechend zu sein. vor Ort weiterzubilden. Dabei geht es um Radikalisie- rung, jihadistische Propaganda, Anwerbung von Klassische Bildungsträger Jugendlichen durch extremistische Organisationen, zur Verbreitung von Gegennarrativen aber auch generelle Fragen zum Islam und zur mus- Auch klassische Bildungsträger können helfen, junge limischen Jugendkultur in Deutschland. Gearbeitet Muslime in Deutschland gegen die radikalisierende wird mit Originaltexten, Fotos, Musikbeispielen und Internetpropaganda zu immunisieren. Jüngst wurde Videos.123 Diese Ansätze sind sehr zu begrüßen, aber eine Reihe von Materialien für Pädagogen in Deutsch- bisher noch nicht bundesweit umgesetzt. land entwickelt. So hat die Bundeskoordination des Schulnetzwerks »Schule ohne Rassismus – Schule mit 122 Jochen Müller u.a., Jugendkulturen zwischen Islam und Isla- mismus, Berlin: Bundeskoordination Schule ohne Rassismus – Courage« das Themenheft »Jugendkulturen zwischen Schule mit Courage, 2011; Claudia Dantschke u.a., »Ich lebe Islam und Islamismus« herausgegeben. Behandelt nur für Allah«. Argumente und Anziehungskraft des Salafismus, Ber- wird das ganze Spektrum muslimischer Jugendkultur lin: Zentrum Demokratische Kultur, 2011; Michael Borchard/ in Deutschland. Positive Rollenmodelle werden vor- Katharina Senge (Hg.), Islamismus!? Eine Handreichung für Päda- gestellt und es wird über Salafismus und Jihadismus goginnen und Pädagogen, Sankt Augustin: Konrad-Adenauer- Stiftung, November 2011. informiert. Eine weitere Publikation, das Handbuch 123 Das Projekt wird von der Baden-Württemberg Stiftung GmbH gefördert. Die Landeszentrale für politische Bildung 120 Vgl. »Osama bin Laden Funny Video«. Das Video wurde Baden-Württemberg leitet die Initiative, das Landesamt für bis zum Zugriffsdatum 340 362 Mal angeklickt, (Zugriff am 20.10.2011). ner; vgl. Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württem- 121 Autorin und Regisseurin der fünfteiligen Reihe ist Deniz berg, Modellprojekt »Team meX. Mit Zivilcourage gegen islamisti- Ünlü. Autor der Begleithefte und Co-Autor der Filme ist Dr. schen Extremismus« geht in Baden-Württemberg an den Start, (Zugriff &view=article&id=1015:modellprojekt-team-mex-mit-zivilcou am 12.11.2011). rage-gegen-islamistischen-extremismusq-geht-in-baden-wuertt

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26 Maßnahmen zur Reduzierung der Nachfrage

Auch auf Schulbücher spezialisierte Institutionen mühen sich zwar, die Schulung muslimischer Reli- beginnen sich des Problems anzunehmen. Das Georg- gionspädagogen und von Imamen voranzutreiben, die Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung ein zeitgenössisches und mit der freiheitlichen demo- in Braunschweig hat mittlerweile mit dem Projekt kratischen Grundordnung harmonierendes Islambild »1001 Idee für den Unterricht über muslimische Kul- haben. In Osnabrück werden schon seit 2002 mit turen und Geschichte(n)« einen Schwerpunkt auf den Unterstützung muslimischer Verbände und des Lan- Islam gelegt. Das Forschungsinstitut bietet auf seiner des Niedersachsen Religionspädagogen ausgebildet.126 Webseite Unterrichtseinheiten an, die sich mit mus- Osnabrück ist mit Münster und Tübingen auch einer limischen Mehrheitsgesellschaften und muslimischen der ersten Standorte in Deutschland, an denen ab Minderheiten in Westeuropa beschäftigen. Die auch 2012 angehende Imame studieren können. Bis es nach Klassenstufen sortierten Materialien behandeln genügend deutsche islamische Religionsgelehrte gibt, diverse Themen wie Entfremdung und Radikalisie- wird jedoch noch einige Zeit vergehen. Immerhin rung, das Zusammenleben von Christen und Mus- besteht schon jetzt die Möglichkeit, die Zusammen- limen, deutsch-türkischer Hiphop oder Frauenfußball arbeit mit unabhängigen muslimischen Religions- in Europa und Nahost. Die vom Institut konzipierten wissenschaftlern und Gelehrten, Historikern und Lehrerfortbildungen zu islamrelevanten Themen im Sozialwissenschaftlern und sogar Vertretern des so- Unterricht finden in Deutschland in Kooperation mit genannten Pop-Islam aus Deutschland und anderen den jeweiligen Landesinstituten für Lehrerfortbildung Herkunftsländern auszubauen. Selbst religiöse Autori- statt.124 Das Institut verfolgt die richtige Stoßrichtung. täten, die keine Verfechter der freiheitlichen demo- kratischen Grundordnung, dafür aber auch bei den Jihadisten anerkannt sind, werden in den USA oder in Akteure für alternative Diskurse Großbritannien zur Widerlegung der Ideologie des Terrors genutzt. Dort wurden die Diskurse radikaler Die Widerlegung des ideologischen Korpus der Jihadis- Gegner bin Ladens, die jedoch unter Jihadisten beacht- ten gestaltet sich in Deutschland generell schwierig, liche Glaubwürdigkeit besitzen, bereits ins Englische da bisher kaum qualifizierte und glaubwürdige Ge- übersetzt.127 lehrte und islamische Autoritäten zur Verfügung stehen.125 Die Bundesregierung und die Länder be- Salafistische und jihadistische Kritiker al-Qaidas Die sogenannten Revisionisten wie der Ägypter Sayyid emberg-an-den start&catid=201:meldung&Itemid=327> (Zugriff Imam al-Sharif alias Dr. Fadl sind der deutschen am 3.1.2012). Öffentlichkeit kaum bekannt – den Jihadisten dafür 124 1001 Idee für den Unterricht über muslimische Kulturen und umso mehr. Als Ideologen des Jihad haben die Revi- Geschichte(n), (Zugriff am 4.1.2012). 125 Zwar wurde auf Anregung der Islamkonferenz des sionisten nur mit Einschränkungen dem bewaffneten Bundesinnenministeriums 2007 der Koordinierungsrat der Kampf abgeschworen. Sie verurteilen nicht den Jihad Muslime (KRM) geschaffen, der insbesondere für deutsche per se, sondern al-Qaidas Gewaltexzesse, und genießen Bundes- und Landesinstitutionen Ansprechpartner sein soll. deshalb in der jihadistischen Bewegung noch einiges Ihm gehören auch die vier größten muslimischen Dachver- Ansehen. Dr. Fadl, Veteran des Afghanistankrieges bände DITIB, IRD, VIKZ und ZMD an. Diese sind jedoch zu- gegen die Sowjets und berühmter Theoretiker des Ji- meist über religiöse Fragen uneins und kaum repräsentativ für die Mehrheit der Muslime in Deutschland. Ihre Mitglied- had, forderte etwa, die al-Qaida-Führung vor ein isla- schaft wird vor allem durch verschiedene Herkunftsländer und Glaubensrichtungen bestimmt: Die Türkisch-Islamische der Verbände an. Außerdem sind junge Muslime so gut wie Union der Anstalt für Religion (Diyanet Isleri Türk Islam nicht vertreten. Birligi, DITIB) besteht überwiegend aus türkischen Mitglie- 126 Vgl. »Neuer Studiengang in Osnabrück. Universität Osna- dern und steht dem türkischen Staat nahe. Größte Mitglieds- brück bekommt Islam-Institut«, in: Neue Osnabrücker Zeitung, organisation des Islamrats für die Bundesrepublik Deutsch- o.D., ; Ralf Wiegand, »Imam-Aus- beobachtete Milli Görüş. Der Verband der islamischen Kultur- bildung an deutscher Uni. Brückenbauer im Hörsaal«, in: Süd- zentren (VIKZ) wird von türkischen Sufis dominiert und der deutsche Zeitung, 11.10.2010, (Zugriff jeweils am 15.10.2011). der Muslimbruderschaft. Hinzu kommt die Alevitische 127 Vgl. Jarret M. Brachman, »Waging Trans-epistemological Gemeinschaft, die die türkischen Aleviten in Deutschland Warfare«, in: Eric D. Patterson/John Gallagher (Hg.), Debating vertritt. Die meisten der deutschen Muslime gehören keinem the War of Ideas, New York 2009, S. 195–208.

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27 Bestandsaufnahme und Erörterung aktueller Gegenmaßnahmen

misches Gericht zu stellen. Seiner Ansicht nach hätten haben sie aber dem Jihad abgeschworen und sich dem die wichtigsten Anführer die Todesstrafe verdient, politischen Islam zugewandt. Zu dieser Gruppe gehört weil sie unschuldige Zivilisten auf dem Gewissen der in Großbritannien lebende ehemalige Mujahed haben.128 Noman Benotman. Er war Chef der Libyschen Islamischen Der in London lebende Syrer Abu Basir at-Tartusi, Kampftruppe, die er vom Gewaltverzicht überzeugte, eine andere eminente Persönlichkeit des globalen und ist heute Forscher bei der Quilliam Foundation.132 Jihad, erließ 2005 nach den Anschlägen auf die Lon- Bei dem renommierten britischen Think-Tank, der doner U-Bahn sogar eine fatwa, ein islamisches Rechts- sich vorwiegend mit Deradikalisierung befasst, ist gutachten, gegen die Selbstmordanschläge al-Qaidas Benotman Experte für strategische Kommunikation. und besonders gegen Angriffe auf Mitglieder anderer Er kennt zahlreiche al-Qaida-Führer und europäische Religionen. Nach Ansicht der Revisionisten hat al- Hassprediger persönlich. Benotman beherrscht vor Qaida mit ihrer Propaganda junge Muslime manipu- allem auch deren Diskurse und Propagandaargumente liert und zu Selbstmordattentaten getrieben, die und widerlegt sie Punkt für Punkt etwa bei Veranstal- Abertausende Unschuldige das Leben kosteten, und tungen mit britischen Jugendlichen. Benotmans sich deshalb einer Verletzung der elementarsten Arbeit ist als effektiv einzuschätzen, da er unter poten- Regeln islamischen Rechts schuldig gemacht. tiellen Sympathisanten des Jihad hohe Glaubwürdig- Auch Yusuf al-Qaradawi, einer der nicht zuletzt keit besitzt. dank al-Jazeera einflussreichsten islamischen Prediger, verurteilt in seinem 2009 erschienenen Buch »Juris- Europäische Vordenker des Islam gegen den Jihadismus prudenz des Jihad«129 al-Qaida aufs Schärfste. In sei- Unter europäischen Muslimen respektierte Vordenker nem Hauptwerk »Erlaubtes und Verbotenes im Islam« des Islam wie Tarek Ramadan können ebenfalls zur spricht sich Qaradawi prinzipiell gegen Gewalt aus Widerlegung des jihadistischen Weltbildes beitragen. und befürwortet das Zusammenleben mit Anders- Der Enkel des Gründers der Muslimbruderschaft und gläubigen.130 Der ägyptische Salafist verteidigt jedoch Professor für Islamwissenschaft in Oxford bemüht sich den Jihad gegen ausländische Besatzer etwa in Afgha- seit Jahren, jihadistische Propaganda zu entkräften nistan oder im Irak und den Kampf von Hamas und und alternative islamische Anschauungen zu fördern. Hisbollah gegen Israel.131 Trotzdem können seine Tex- Im laizistischen Frankreich hat Ramadan mit seinen te helfen, die Propaganda des globalen Jihad zurück- Thesen zu Schaffung und Akzeptanz einer spezifisch zudrängen, wenn sie vorsichtig und selektiv eingesetzt europäischen muslimischen Identität zwar hitzige werden. Kontroversen ausgelöst – er ist aber ein beharrlicher Eine weniger problematische Gruppe von Akteuren Verfechter des demokratischen Rechtsstaats und unter gegen die jihadistische Propaganda sind ehemalige jungen Muslimen in Europa eine Art Superstar. Jihadisten, die zusammen mit Osama bin Laden einst Der progressive ehemalige Großmufti von Mar- im Afghanistankrieg gegen die Sowjets kämpften und seille, Soheib Bencheikh, ist ein entschiedener Gegner folglich große historische Legitimität besitzen. Seither von Salafisten und Jihadisten. Der promovierte Reli- gionswissenschaftler leitet in Marseille ein Institut, in dem solide Grundkenntnisse über alle Aspekte des 128 Vgl. Lawrence Wright, »The Rebellion within. An Al Islam und seine Geschichte vermittelt werden.133 Für Qaeda Mastermind Questions Terrorism«, in: The New Yorker, 2.6.2008, (Zugriff am 1.7.2011); Camille Tawil, Widerspruch: Nur wenn der Islam auf der Höhe seiner »Selon le Dr. Fadl, ben Laden et Al-Zawahiri devraient compa- Zeit sei und sich gesellschaftlichen Entwicklungen raître devant la justice islamique«, in: Al-Shrfa, 24.2.2010. anpasse, könne er überhaupt eine Rolle als lebendige 129 Vgl. Marc Lynch, »Qaradawi’s Revisions«, in: Foreign Policy, Religion spielen.134 9.7.2009, ; Ewan Stein, »Yusuf Qaradawi’s Jihad«, in: The Guardian, 17.8.2009, (Zugriff jeweils am 4.5.2011). 130 Yusuf al-Qaradawi, »Bin ich ein Radikaler?«, in: Du – Die 132 Quilliam Foundation, Zeitschrift der Kultur, (1994) 7–8, S. 180. (Zugriff am 2.3.2011). 131 Janet Kursawe, »Yusuf Abdallah al-Qaradawi«, in: Orient – 133 L’Institut Supérieur des Sciences Islamiques. Deutsche Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur des Orients, 44 134 Soheib Bencheikh, »L’islam face à la laïcité française«, in: (2003) 4, S. 529. Confluences Méditerranée, 32 (Winter 1999–2000), S. 73–82.

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28 Maßnahmen zur Reduzierung der Nachfrage

Weltlich orientierte Intellektuelle Die Rolle der Forschung bei der Widerlegung arabischen Ursprungs des jihadistischen Weltbildes In einigen unserer europäischen Nachbarländer, Auch unabhängige Forschungseinrichtungen können besonders in Frankreich, prägen weltlich orientierte in Deutschland eine wichtige Rolle spielen, wenn es Intellektuelle muslimischen Ursprungs, die den Jiha- darum geht, dem jihadistischen Weltbild etwas ent- dismus und Salafismus für unislamischen Irrglauben gegenzusetzen. »Corpus Coranicum« etwa, ein Projekt halten, bereits heute Diskurse, mit denen sie den Jiha- der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissen- disten im Kampf um Herzen und Köpfe der Muslime schaften, erforscht den historischen Kontext der den Rang ablaufen. Niederschriften des Koran und dessen Begrifflich- Der französische Sprachwissenschaftler, Dichter keit.137 Koransuren, die Jihadisten als Legitimation für und Universitätsprofessor Abdelwahab Meddeb135 ihre Gewalt anführen, können auch völlig anders etwa ist einer der großen Kenner arabisch-islamischer interpretiert werden. Arabisch aus der Zeit der Nieder- Geschichte und Kultur. Ihm gelingt es überzeugend, schrift des Korans ist so komplex und hat sich über extremistische Auslegungen des Islam historisch und Jahrhunderte derart stark verändert, dass selbst arabi- sprachwissenschaftlich zu widerlegen. Der ebenso sche Sprachgelehrte gewisse Schlüsselbegriffe gegen- renommierte algerische Religionsanthropologe, Philo- sätzlich auslegen. Manche Worte lassen sich kaum ins soph und Politologe Malek Chebel wiederum ist der Deutsche übersetzen. Das Potsdamer Forschungspro- Auffassung, dass die »Mehrheit der europäischen Mus- jekt steht in Kontakt mit Islamgelehrten aus zahlrei- lime sich eingezwängt fühlt zwischen einer Minder- chen muslimischen Ländern und scheint dort hohe heit von gewalttätigen Gruppen und der großen Mehr- Akzeptanz zu finden. Wenn seine Ergebnisse auch heit der Europäer, die keinerlei Kenntnisse über den für Laien verständlich gemacht werden, könnte ein Islam besitzen«.136 Er plädiert für eine großangelegte deutschsprachiges koranisches Referenzwerk erstellt Aufklärungskampagne und einen »Islam des Lichts«. werden, das die kontextlosen jihadistischen und sala- Hiermit meint der Professor der Pariser Sorbonne fistischen Auslegungen entkräftet. einen Islam der Weltoffenheit und Toleranz, wie er es zu Beginn der arabisch-islamischen Hochkultur war. Idole des Pop-Islam Chebel, ehemaliges Mitglied des EU-Weisenrates für und Ikonen des Arabischen Frühlings die Beziehungen zwischen den Mittelmeer-Anrainer- Progressive Stars aus dem sogenannten Pop-Islam staaten, hebt in seinem umfangreichen Gesamtwerk liefern positive Rollenmodelle. Der Begriff bezeichnet nicht nur die von Extremisten oftmals ignorierten eine Strömung unter jungen Muslimen, die Religiosi- Errungenschaften der islamischen Wissenschaft, etwa tät mit modernem Lebensstil verknüpft. Der Brite in der Medizin oder in der Mathematik, hervor. Er Sami Yusuf füllt bereits in Großbritannien, aber auch macht vor allem auf Lehren aufmerksam, die von den in Frankreich Konzerthallen mit Tausenden von Men- Salafisten und Jihadisten bewusst unterschlagen wer- schen. In einem Lied des Sängers aserbaidschanischer den, wie die platonischem Gedankengut entsprungene Herkunft heißt es: »Jeden Tag sehe ich dieselben Head- islamische Philosophie oder die große Tradition eroti- lines, Verbrechen im Namen des Herrn. Menschen scher Poesie und Literatur im Islam. Gerade solche begehen Grausamkeiten in seinem Namen. Sie mor- Elemente der muslimischen Zivilisation, die zunächst den und entführen, ohne sich zu schämen. Aber hat nicht in Bezug zur jihadistischen Propaganda zu er uns Hass, Gewalt und Blutvergießen gelehrt? Nein – stehen scheinen, sind in Wahrheit entscheidend, um oh nein! Er hat uns Brüderlichkeit gelehrt. Gegen die extremistische Denkweise zu bekämpfen. Dem Vorurteile hat er sich gewehrt […]«.138 Auch der in primitiven puritanischen Weltbild der Jihadisten und Äthiopien geborene und in Deutschland zum Islam Salafisten werden der Reichtum und die Vielfalt einer konvertierte Ammar114139 singt über einen Islam Hochkultur entgegengestellt. des Friedens. Die Stars des Pop-Islam können helfen, eine progressive islamische Jugendkultur in Europa zu

137 Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, (Zugriff 135 Vgl. Abdelwahab Meddeb, Die Krankheit des Islam, Heidel- am 3.1.2012). berg 2002. 138 Julia Gerlach, Zwischen Pop und Dschihad. Muslimische 136 Malek Chebel, Manifeste pour un islam des lumières. Jugendliche in Deutschland, Berlin 2006, S. 15. 27 propositions pour réformer l’islam, Paris 2004. 139 Ammar114, (Zugriff am 3.1.2012).

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29 Bestandsaufnahme und Erörterung aktueller Gegenmaßnahmen

schaffen. Sie bieten eine klare Orientierung und die Identifikation mit einer Gemeinschaft von Gleich- gesinnten. Ihre Beliebtheit unter Muslimen sollte genutzt werden, um der muslimischen Jugend gewalt- ablehnende, nachahmenswerte Vorbilder als Alter- native zu salafistischen und jihadistischen Identifika- tionsfiguren zu bieten.140 Einige europäische Länder versuchen, berühmte tunesische oder ägyptische Internetaktivisten, die maßgeblich an den Umbrüchen im Nahen Osten beteiligt waren, für ihre Bemühun- gen zu gewinnen. Diese sollen Muslimen im Netz erklären, dass Salafismus und Jihadismus keine Wege zum gesellschaftlichen Wandel sind. Dazu zählt der tunesische Rapper El Général, dessen Lied »Präsident der Republik« eine Art Hymne des Aufstands war.141

140 Vgl. Dantschke, Religiöse Musik [wie Fn. 38]. 141 Gespräche des Autors mit Vertretern des Policy Planners’ Network (PPN), Stockholm, 14.–15.6.2011.

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30 Schlussfolgerungen und Empfehlungen

Schlussfolgerungen und Empfehlungen

Auf globaler, europäischer und nationaler Ebene exis- sche Landessprache, beherrschen. Es ist unabdinglich, tieren zwar einzelne Maßnahmen gegen die Cyber- solche Fachkräfte einzustellen, gerade in Anbetracht propaganda, es fehlt jedoch bisher jeglicher Überblick. der Gefährdung der Bundeswehr am Hindukusch. Die Bevor neue Initiativen entwickelt und Akteure identi- EU-Kommission finanziert zurzeit ein Forschungspro- fiziert werden, sollte bundesweit eine systematische jekt, das Software zur schnelleren Identifizierung Erfassung existierender Maßnahmen gegen jihadisti- radikaler Inhalte entwickeln soll.143 Es wäre zu prüfen, sche und salafistische Propaganda vorangetrieben ob diese Technik bei der Beobachtung des jihadisti- werden, etwa durch bereits bestehende Arbeitsgrup- schen Netzes in Sprachen, bei denen es in Deutsch- pen der Islamkonferenz. Auf diese Weise können land an Experten mangelt, helfen kann. Zudem darf vielversprechende Ansätze erkannt und somit eine die Beobachtung des jihadistischen Internet oder Doppelarbeit bei begrenzten Ressourcen vermieden salafistischer Medien sich nicht auf Nachrichtendiens- werden. Auch könnte die Bundesregierung sich in der te und Polizeibehörden beschränken; sie sollte auch Arbeitsgruppe »Bekämpfung der Nutzung des Inter- von unabhängigen Forschungseinrichtungen und nets für terroristische Zwecke« der Vereinten Nationen Universitäten betrieben werden. Gerade diese haben engagieren. In der EU sollte Deutschland schon vor- die Fähigkeiten, den enormen extremistischen Korpus handene Initiativen oder Netzwerke gegen die Inter- genau zu analysieren und Gegenargumente zu ent- netpropaganda142 ausbauen, um so die nötige Koordi- wickeln. Insbesondere sollten hierbei die jihadisti- nation zwischen Mitgliedsländern zu gewährleisten schen Argumente und Konzepte identifiziert werden, und gleichzeitig von andernorts gemachten Erfahrun- die bei Muslimen in Deutschland Resonanz finden. gen bei der Bekämpfung des Cyberjihad zu profitieren. Wünschenswert ist eine intensivere Infiltration von Jihadistische und salafistische Propaganda lässt sich Webseiten, die das Vertrauen der Sympathisanten des zwar auch in Deutschland nicht völlig aus dem Inter- Jihad untereinander zerstört und damit den Online- net verdrängen, weil sie Ländergrenzen überschreitet Jihadismus von innen schwächt. Allerdings ist dies in und global vernetzt ist. Dennoch gilt es, die extremis- Deutschland schwierig, weil es zu wenig Fachleute tische Präsenz im Cyberspace zu verringern und ihre gibt, die arabische, türkische oder pakistanische Web- Wirkung abzuschwächen. Folgender aus drei Gruppen seiten lesen können. Bei deutschsprachigen Webseiten von Einzelmaßnahmen bestehender Katalog sollte ist es hingegen möglich, eine solche Infiltration zu umgesetzt werden: erstens Beobachtung und Infiltration, forcieren. Dazu sollte aber die Rechtsgrundlage der zweitens angebotsreduzierende Maßnahmen und drittens Tätigkeit des Gemeinsamen Internetzentrums eindeu- nachfragereduzierende Maßnahmen, die vor allem ein tig sein. Geklärt werden sollte, ob eine umfangreiche Gegenangebot zu radikalisierender Internetpropa- und weitreichende Infiltration nicht das Trennungs- ganda schaffen. gebot zwischen Nachrichtendiensten und Polizei- Die Beobachtung der Cyberpropaganda ist notwen- behörden verletzt. dig, um ideologische Entwicklungen zu verfolgen, Unter den angebotsreduzierenden Maßnahmen scheinen aber auch operative Erkenntnisse zu gewinnen. Zu die Rechtsmittel der Bundesrepublik durchaus geeig- diesem Zweck sollte sogar eine gewisse Anzahl jiha- net zu sein, um wirksam gegen die Propagandisten distischer Webseiten und Foren toleriert werden. Als des Cyberjihad vorzugehen. Gerichtsurteile in Reut- europaweit führendes Projekt bei der Beobachtung lingen und München gegen Cyberjihadisten zeigen, gilt das Gemeinsame Internetzentrum (GIZ) des Bun- dass man diese schon bei relativ geringfügigen Ver- deskriminalamtes und des Bundesamtes für Verfas- gehen bestrafen kann. Das Bundesjustizministerium sungsschutz. Trotzdem fehlt es noch an Kapazitäten, und die Länderjustizministerien könnten jedoch etwa an Spezialisten, die Paschtu, die wichtigste anregen, mehr Verfahren einzuleiten, und die Staats- Sprache der Taliban, oder auch Urdu, die pakistani- anwälte gezielt auf die rechtlichen Möglichkeiten

142 Wie das Policy Planners’ Network (PPN) in Stockholm. 143 Check the Web [siehe Fn. 54].

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31 Schlussfolgerungen und Empfehlungen

hinweisen. So wäre es zumindest wert zu überprüfen, kurzem gibt es in der Bundesrepublik Initiativen und ob positive Äußerungen im Netz über die Mordtat von Publikationen zu Identifikation, Analyse und Wider- Arid Uka am Frankfurter Flughafen strafbar sind. legung jihadistischer Diskurse und zur gleichzeitigen Verfassungsschützer und Internetindustrie beklagen, Verbreitung toleranter Auslegungen des Islam und dass Staatsanwaltschaften Verfahren zu oft wegen positiver Weltbilder. Diese Initiativen und ihre Träger Geringfügigkeit einstellen oder gar nicht erst eröff- sind nicht bundesweit erfasst, geschweige denn koor- nen. Die vom Bundesinnenminister geforderte Auf- diniert. Unkenntnis herrscht auch darüber, welche Ak- hebung der Internet-Anonymität scheint überflüssig. teure wirkungsvoll gegen jihadistische Diskurse argu- Besteht der Verdacht strafbaren Verhaltens im Netz, mentieren und Gegennarrative vermitteln könnten. kann nämlich die wahre Identität eines Teilnehmers In einem ersten Schritt sollte eine unabhängige oder der benutzte Computer zumeist bereits jetzt Struktur rasch die bereits existierenden Initiativen, legal ermittelt werden. ihre Träger sowie potentielle Akteure gegen den Ji- Die deutsche Internetindustrie sollte sich energi- hadismus identifizieren. In einem zweiten Schritt scher an Bemühungen beteiligen, die Zahl jihadisti- sollte diese Struktur die Arbeit der Träger koordinie- scher Webseiten zu verringern. Es gibt zwar Beschwer- rend begleiten, etwa der politischen Stiftungen, For- destellen und sogenannte Alarmknöpfe, um extremis- schungseinrichtungen, der Bundeszentrale für poli- tische Inhalte zu melden, damit die Seiten geschlossen tische Bildung, aber auch von Graswurzelinitiativen. werden können. Diese Möglichkeiten sind jedoch Damit ließen sich Doppelarbeit vermeiden und Res- kaum bekannt. Sie müssen durch gezielte Öffentlich- sourcen effizient einsetzen. In einem dritten Schritt keitsarbeit wesentlich besser sichtbar gemacht wer- gilt es, neue Initiativen und Maßnahmen sowie Ver- den. Geprüft werden muss, ob es sinnvoll ist, dass die breitungsmethoden zu entwickeln und umzusetzen. Industrie in einer möglichen Partnerschaft mit den Die hier geforderte unabhängige Struktur könnte die Sicherheitsbehörden eine Webseite einrichtet, auf der Form einer Stiftung oder eines Instituts gegen Radika- ausschließlich Extremismus und damit auch Jihadis- lisierung und für multikulturellen Dialog erhalten. mus im Internet angezeigt werden. Auch können die Aufgebaut werden könnte dabei auf Institutionen Internetindustrie und besonders Suchmaschinenbe- wie den Verein Ufuq.de und seine Erfahrungen mit treiber es durch legale technische Mittel erschweren Präventions-, Integrations- und Aufklärungsarbeit. und sogar verhindern, dass Nutzer jihadistische und Die Bundesregierung sollte jedoch darauf verzichten, salafistische Webseiten finden. Hier könnte die Politik Dutzende von Einzelprojekten selbst zu initiieren und die Internetindustrie ebenfalls zu mehr Engagement zu managen oder einen rigiden bundesweiten Aktions- bewegen. Die von ausländischen Staaten und Diensten plan aufzustellen. Dies würde zu viele Ressourcen praktizierten Cyberangriffe gegen jihadistische Web- erfordern und durch eine zu direkte Intervention der seiten dagegen sind in Deutschland rechtlich frag- Regierung die Glaubwürdigkeit der Projekte unter- würdig und nicht zu empfehlen. graben. Von den wenigen bereits existierenden Initia- Bei der Hotline HATIF des Verfassungsschutzes sollte tiven zur Prävention, etwa die Broschüre »Zerrbilder klargestellt werden, was das Bundesamt für Verfas- von Islam und Demokratie«, der »Comic für Demokra- sungsschutz unternimmt, wenn jihadistische Web- tie und gegen Extremismus 2 – Andi« und das Modell- seiten gemeldet werden, und vor allem, welche genau- projekt »Team meX«, werden derzeit zu viele von Ver- en Hilfeleistungen die Behörden Aussteigern aus dem fassungsschutzämtern oder den Polizeibehörden um- Cyberjihad bieten. Bisher hüllt sich der Verfassungs- gesetzt oder unterstützt.145 schutz darüber in Schweigen, was er mit HATIF gegen In Deutschland ist das Kompetenz- und Glaubwür- den Jihadismus und seine Cyberpropaganda bewirken digkeitsniveau in Sachen Islam generell eher niedrig. konnte und ob es Aussteiger gab.144 Der Bundestag Es fehlt sowohl an weltlich orientierten Intellektuel- könnte dazu eine klare Stellungnahme verlangen. len mit fundierten Islamkenntnissen als auch an Dringender Handlungsbedarf besteht bei den nach- unter deutschen Muslimen respektierten Persönlich- fragereduzierenden Maßnahmen, speziell den präventiven keiten mit religiöser Autorität. Mit Angeboten einer und deradikalisierenden. Nur vereinzelt und erst seit

145 Vgl. Berliner Senat für Inneres und Sport, Abteilung 144 Gespräch des Autors mit Teilnehmern der Veranstaltung Verfassungsschutz (Hg.), Zerrbilder von Islam und Demokratie »Islamismus: Perspektiven – Positionen – Prävention« der [wie Fn. 107]; Ministerium für Inneres und Kommunales des Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin, 22.11.2011. Landes Nordrhein-Westfalen, Andi [wie Fn. 108].

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32 Schlussfolgerungen und Empfehlungen

erweiterten systematischen Kooperation aus muslimi- arbeit mit Internetradios oder multikulturelle Pro- schen Ländern, wie beispielsweise der Türkei, muss gramme der öffentlich-rechtlichen Sender an. behutsam umgegangen werden, um zu verhindern, Vordringlich ist weiterhin, kreative und effiziente dass Staaten den Islam in Deutschland prägen, deren Kommunikationsstrategien und Methoden zur Ent- religionspolitische Vorstellungen nicht mit denen kräftung des jihadistischen Weltbildes und zur Ver- Deutschlands übereinstimmen. Deshalb muss die breitung glaubwürdiger Gegennarrative zu entwerfen. hiesige Ausbildung qualifizierter islamischer Reli- Es gilt, den virtuellen Raum möglichst flächendeckend gionspädagogen und Imame schnell und entschieden zu besetzen. Internetseiten wie Qantara oder Babel- vorangetrieben werden. med147 sollten ausgeweitet und international immer Schon jetzt steht jedoch vorwiegend im Ausland ein dichter mit ähnlichen Initiativen vernetzt werden. Vor Spektrum unabhängiger Akteure zur Verfügung, die allem sollte aber in Deutschland ein wirklich kreatives jihadistische und salafistische Diskurse widerlegen multimediales Internetportal, das über den Islam auf- und positive Gegennarrative schaffen können. Sie soll- klärt, geschaffen werden. Auch hier sollte ein geeig- ten hierzu in mannigfaltigen Formen eingebunden neter unabhängiger Träger wie ein gemeinnütziger werden. Jihadistische Kritiker al-Qaidas können hel- Verein oder eine Stiftung identifiziert werden, etwa fen, die Bewegung zu spalten. Ihre Schriften sollten durch eine öffentliche Ausschreibung.148 Um aus dem Arabischen übersetzt werden und könnten vielschichtige Diskussionen zu fördern, muss das mit der notwendigen Einordnung durch bereits be- Portal auch ein Forum haben. Das Portal sollte nicht stehende Webseiten wie Qantara146 oder die Bundes- auf den Islam reduziert sein, sondern sich vorrangig zentrale für politische Bildung im deutschen Internet mit Alltagsbelangen von Jugendlichen beschäftigen, veröffentlicht und kritisch diskutiert werden. Politi- wie Job, Freizeit, Musik, Jugendkultur und Liebe. sche Stiftungen, aber auch Islamverbände sollten ver- Sicherlich wird die Schaffung eines deutschsprachigen suchen, ehemalige Jihadisten, die sich vom bewaff- Islamportals Kritik und Kontroversen bei verschiede- neten Kampf losgesagt haben und sich zum Teil schon nen islamischen Verbänden und Gruppierungen in unseren EU-Nachbarländern in Deradikalisierungs- hervorrufen. Doch genau solche Debatten sind und Präventionsprogrammen engagieren, zu Vorträ- wünschenswert, weil sie deutlich machen, dass es gen und Diskussionen mit Muslimen in Deutschland keine allgemeingültige und exklusive Islaminterpreta- zu gewinnen. Auf diese Weise sollten auch europäi- tion geben kann. sche Vordenker des Islam und angesehene weltliche Gleichzeitig sollten nicht nur auf dem Islamportal, Geisteswissenschaftler und Intellektuelle, die profun- sondern auch auf anderen Webseiten Grundkonzepte de Kenntnisse über den Islam besitzen, bekannt ge- und -begriffe des muslimischen Glaubens als eine Art macht werden, speziell unter deutschen Muslimen, Nachschlagewerk ins Netz gestellt werden, und zwar aber auch in der deutschen Öffentlichkeit. in deutscher Sprache und vereinfachter Form, aber Es ist nicht ratsam, Islamverbände bei Prävention ebenfalls ohne Kontroversen auszulassen. Vorzugs- und Deradikalisierung außen vor zu lassen. Statt- weise sollten Konzepte behandelt werden, auf die sich dessen sollte man ihre »Türöffnerfunktion« nutzen, Jihadisten und Salafisten berufen und die sie für sich um ihre Mitglieder zu erreichen. Man darf aber keines- beanspruchen. Unverzichtbar dafür ist die Grund- falls zulassen, dass die Verbände, die oft eine eigene lagenforschung über koranische Begrifflichkeiten Agenda verfolgen, den Diskurs über den Islam und und ihren historischen Kontext, wie sie im erwähnten den Dialog mit den Muslimen dominieren. Auch die Projekt »Corpus Coranicum« der Berlin-Brandenbur- Islamkonferenz des Bundesinnenministeriums sollte gischen Akademie der Wissenschaften betrieben wird. nachdrücklicher für Prävention und Deradikalisie- Das Nachschlagewerk könnte mit Hilfe der Internet- rung mobilisiert werden und hierfür neue Mittel be- technologie des sogenannten page ranking an erster reitstellen. Moderne und moderate Jugendidole des Stelle auftauchen, wenn ein bestimmter islamischer Pop-Islam aus Europa, aber auch die Ikonen des Arabi- Begriff in eine Suchmaschine eingegeben wird. Google schen Frühlings könnten entschlossener als positive hat schon signalisiert, im angelsächsischen Raum Rollenmodelle in den deutschen Kulturbetrieb ein- Gegennarrative und Webseiten von Deradikalisie- gebunden werden. Dazu böten sich die Zusammen-

147 Qantara [wie Fn. 112]; Babelmed [wie Fn. 113]. 148 Beispiele dafür gibt es bereits in Singapur und Marokko, 146 Qantara [wie Fn. 112]; Team meX [wie Fn. 123]. vgl. Fn. 115; 116.

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rungsprogrammen in seiner Suchmaschine als erste Mit Zivilcourage gegen islamistischen Extremismus« Treffer erscheinen zu lassen und kostenlose Anzeigen dienen: Referenten bilden Lehrer und Mitarbeiter von für Webseiten zur Deradikalisierung und Prävention Jugendeinrichtungen fort, indem sie ihnen Wissen zu schalten. Facebook soll dazu ebenfalls bereit sein.149 über Radikalisierung, aber auch über generelle Fragen Auch hier sollte Deutschland die Internetindustrie zum Islam und muslimische Jugendkultur in Deutsch- stärker in die Pflicht nehmen. land vermitteln. Gleiches gilt für die Arbeit des Berli- Besonders die sozialen Netzwerke im Internet, die ner Vereins Ufuq.de, der sich mit Workshops und Mate- »social media«, eignen sich als kostengünstige und rialien direkt an Schüler und Jugendliche wendet und effiziente Distributionskanäle für neue kreative An- wertvolle Präventionsarbeit leistet. Die Reichweite sol- sätze und durch Ausschreibung geförderte Graswur- cher Initiativen sollte auf das gesamte Bundesgebiet zelinitiativen gegen Online-Jihadismus. Als erfolgreich ausgedehnt werden.150 Gefragt sind hier entschiedenes in diesem Sinne haben sich Onlinespiele erwiesen, die Engagement und bessere Koordination der Landeszen- in Großbritannien getestet wurden. Integrative Spiele tralen für politische Bildung, der Regierungen aller sowie Online-Wettbewerbe etwa über die »Helden« Bundesländer, aber auch der Bundeskultusminister- der multiethnischen Gesellschaft müssen auch in konferenz. Manche Ansätze sind schon bundesweit Deutschland entwickelt werden. Durch »Gefällt mir«- bekannt, so die Unterrichtsmaterialien und Lehrer- Knöpfe wie bei Facebook entsteht eine Art virtuelle fortbildungen des Projekts »1001 Idee für den Unter- Mundpropaganda, mit der Spiele und Wettbewerbe in richt über muslimische Kulturen und Geschichte(n)« kurzer Zeit einen hohen Bekanntheitsgrad erlangen. des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schul- Facebook und YouTube können auch dabei helfen, buchforschung in Braunschweig. Diese sollten eben- eine der stärksten Propagandawaffen der Jihadisten falls vermehrt eingesetzt werden,151 und Schulbuch- gegen sie zu verwenden – die Videos. Zum Ersten soll- verlage könnten ähnliche Lehrmaterialien erstellen. ten intensiv weitere aufklärende Filme gedreht wer- Vielversprechend wäre ferner, mit Hilfe der Bundes- den, in denen jihadistische und salafistische Diskurse zentrale für politische Bildung einen bundesweiten und ihre Schlüsselkonzepte analysiert und widerlegt Islamwettbewerb im Internet zu starten, der Neu- werden. Zum Zweiten sollte eine ganze Reihe hoch- gierde erregt, Vorurteile über die Religion abbaut wertiger audiovisueller Produktionen, in denen die und gleichzeitig Stolz bei Muslimen weckt. Mögliche Sternstunden der islamischen, arabischen und türki- Themen wären die Errungenschaften der islamischen schen Geschichte und Kultur erläutert werden, den Wissenschaft, etwa in Geographie, Alchemie oder Videos des Jihad entgegengestellt werden. Im Übrigen Medizin, die nach Europa exportiert wurden. haben Satiren über jihadistische Propaganda, die Jahrelange Anstrengungen sind nötig, um der allzu einzelne Mitglieder in sozialen Netzwerken platzier- weit fortgeschrittenen Radikalisierung von Muslimen ten, überraschend große Resonanz erzeugt. durch die jihadistische, aber auch die salafistische Die nachfragereduzierenden präventiven Maßnah- Propaganda Einhalt zu gebieten. Gerade deshalb muss men dürfen sich jedoch nicht auf den virtuellen Raum zügig gehandelt werden. Eine wohlüberlegte Kombi- beschränken. Ausschlaggebend für eine wirksame nation der vorgeschlagenen Maßnahmen kann nicht Immunisierung gegen Online-Jihadismus sind ins- nur der Radikalisierung durch Internetpropaganda besondere vorbeugende Bildungsmaßnahmen. Die entgegensteuern. Präventionsmaßnahmen schaffen Grundlagen des Islam und gleichzeitig der arabischen auch neue Chancen: Sie können Muslimen helfen, oder der türkischen Kultur sollten an den Schulen dauerhaft ihren Platz in der deutschen Gesellschaft zu erklärt werden. Die Gemeinsamkeiten und oftmals finden und eine Identität zu schaffen, die mit den verwandten historischen Wurzeln der drei mono- Grundwerten der Bundesrepublik im Einklang steht. theistischen Weltreligionen müssen hervorgehoben werden, um der von Salafisten und Jihadisten betrie- benen Polarisierung und Spaltung massiv entgegen- zuwirken. Als Vorbild in der Bildungsarbeit kann das baden-württembergische Modellprojekt »Team meX.

149 Gespräch des Autors mit einem britischen Antiterror- 150 Vgl. Fn. 123. experten, der direkt mit Facebook darüber verhandelt hat, 151 1001 Idee für den Unterricht über muslimische Kulturen und Stockholm, Juni 2011. Geschichte(n) [wie Fn. 124].

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Abkürzungsverzeichnis

AKP Adalet ve Kalkınma Partisi (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei; Türkei) CIA Central Intelligence Agency CTITF Counter-Terrorism Implementation Task Force DITIB Diyanet Isleri Türk Islam Birligi (Türkisch- Islamische Union der Anstalt für Religion) EU Europäische Union FBI Federal Bureau of Investigation FFI Forsvarets forskningsinstitutt (Forschungsinstitut des norwegischen Verteidigungsministeriums) FIP Filme zur Integrations- und Präventionsarbeit mit jungen Muslimen FSM Freiwillige Selbstkontrolle der Multimedia- Diensteanbieter GIMF Globale Islamische Medienfront GIZ Gemeinsames Internetzentrum GVVG Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten HATIF Heraus aus Terrorismus und islamistischem Fanatismus IRD Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland KRM Koordinierungsrat der Muslime OSCT Office for Security and Counter-Terrorism PPN European Policy Planners’ Network on Countering Polarisation and Radicalisation StGB Strafgesetzbuch USA United States of America VIKZ Verband der islamischen Kulturzentren VN Vereinte Nationen ZMD Zentralrat der Muslime in Deutschland

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