Kultur

AUTOREN Falltüren in den Schrecken Hans Magnus Enzensberger über Schönheit und Gewalt der Natur, den Zeitgeist und seinen neuen Gedichtband

Enzensberger, 73, lebt in München und hat seit seinem Debüt „Verteidigung der Wölfe“ (1957) immer wieder als Lyriker und Essayist entscheidende, überra- schende, brillant formulierte Stichworte zur Zeit geliefert. Das gilt auch für den neuen Gedichtband „Die Geschichte der Wolken“, der jetzt erschienen ist. Er hul- digt den Wolken als den „flüchtigsten aller Meisterwerke“, als „fliegenden Bil- derrätseln“, majestätischen „Himmels- künstlern“ und Trostspendern bei „Mü- digkeit, Wut und Verzweiflung“. Das „sprachlose Schauspiel“ der Wolken wird auch gerühmt, weil es ohne „gut/böse“, „ohne Häuptlinge, ohne Schlachten“ und Schmerzen auskommt. Die Wolken und andere Naturbilder protestieren hier laut- los gegen das Menschengetöse, das die Gedichte auch sehr direkt attackieren.

SPIEGEL: Herr Enzensberger, Ihr Kollege Bertolt Brecht empörte sich 1939 in einem Gedicht: „Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Un- taten einschließt!“ Ihre neuen Gedichte handeln nicht nur, wie der Titel suggeriert, von den Wolken, sondern auch von Schriftsteller Enzensberger: „Poesie ist doch ein Schneeflocken, Blättern, Kühen und Ster- nen. Fast ein Verbrechen? Sartre – wie könnt ihr überhaupt Gedich- Enzensberger: Heute ist es umgekehrt: fast te schreiben, wenn in Afrika Kinder hun- ein Verbrechen, nicht über Bäume zu spre- gern? – ist mir immer schon seltsam er- chen. Wir wissen doch, dass die Biosphä- schienen. Nach diesem Prinzip müssten re nicht im besten Zustand ist, insofern ist wir die Kaufhäuser schließen. Angesichts die Verteidigung der Bäume – der Natur – des Elends in der Welt sind die mindestens auch eine Pflicht, wenn man überhaupt die so obszön wie Gedichte oder gar Gedich- Dichter zu irgendetwas verpflichten will. te über Wolken. Ich lasse mir von solchen Diskursen dar- SPIEGEL: Ist die Wolke für Sie ein Symbol- über, was Dichter alles sollen oder dürfen bild für das Gedicht? Wohnt der Dichter oder nicht dürfen sollen, ungern etwas vor- also doch im Wolkenkuckucksheim? schreiben. Enzensberger: Wir sind als Kinder alle SPIEGEL: „Die Geschichte der Wolken“ ist einmal auf dem Rücken in der Wiese ge- ein Zwischentitel, der über dem letzten legen und haben in die Wolken geblickt von sechs Kapiteln steht. Als Titel der und dabei ein Gefühl der Freiheit gehabt – ganzen Sammlung, die auch Texte über darin steckt ein Moment des Traumes, Mörder, Liebende, Naturwissenschaftler bei dem das Unbewusste mitredet. Dazu und Sterbende enthält, erweckt er den Ein- kommt die ungeheure Verwandlungsfähig- druck, die Natur sei Ihnen jetzt wichtiger als etwa die Politik… Enzensberger: … Wir sind fixiert auf die Hans Magnus Probleme des Tages, aber es gibt eben nicht Enzensberger nur die Geschichte der Menschen. Die Geschichte der Wolken – 99 Meditationen ist größer als das, was auf der ersten Seite Suhrkamp Verlag, der Zeitung steht. Man sollte sich die Frei- Frankfurt am Main; heit nehmen, die Dinge aus einem weniger 149 Seiten; 19,90 Euro beschränkten Gesichtswinkel zu sehen. Die moralisierende Rede eines Jean-Paul

186 12/2003 keit der Wolken. Die Wolken sind eine verhilft uns zu wunderbaren Gläsern, rätselhafte, selbst von der Physik noch aber zugleich ist es ein tödliches Gift; der nicht endgültig erklärte, verlockende Er- Stern von Betlehem leuchtet, aber dann scheinung – abgesehen davon, dass die hat man ihn den Juden an den Mantel Menschheit ihnen das Wasser, das Feuer geheftet. und die Elektrizität verdankt. Davon SPIEGEL: Einmal polemisieren Sie gegen dürfen eigentlich nur Dichter und Wissen- den Mobilitätswahn und finden es „unter schaftler sprechen. In der Zeitung kön- dem Birnbaum zu Hause“ am gemütlichs- nen Sie ja keinen Aufmacher über die Wol- ten. Eine biedermeierliche Anwandlung – ken drucken. ein auf die Welt „mit dem Rücken zur SPIEGEL: Der einst so bissige Gegenwart“, wie es anderswo heißt? Enzensberger hat den eher Enzensberger: Ein wenig Distanz zu den milden Beruf des Naturlyri- Dingen und zum eigenen Selbst kann doch kers ergriffen? nicht schaden! Ich war früher ein ziemlich Enzensberger: Die Einteilung lauter, auch schriller Dichter, in meinem der Dichter in Naturlyriker, Alter hat man andere Kräfte und Einsich- Liebeslyriker und Gesell- ten. Ich finde jemanden, der älter als 60 ist schaftskritiker kommt mir und immer noch in Blue Jeans und Turn- komisch vor – die Poesie ist schuhen herumläuft, leicht lächerlich. Ich doch ein Allesfresser, alles, bin gern ein wenig asynchron. Wer sich was man erfährt oder wahr- ganz und gar dem Zeitgeist verschreibt, ist nimmt, kann ihr zum Thema ein armer Tropf. Die Innovationssucht der werden. In meinem Buch fin- ewigen Avantgarde hat etwas Kastrieren- den Sie Gedichte über Theo- des. Dieser Gestus gehörte schon 1958 ins logie und über Fischmesser, Museum. über Knöpfe und über Ter- SPIEGEL: Trotzdem galten Sie immer wieder roristen. Auch ein Gedicht als Vorhut des allerneuesten Zeitgeists. über meine Frau ist dabei. Enzensberger: So eine Rolle fällt einem eine SPIEGEL: Auch eines über lang zu und dann wieder von einem ab. Kartoffel. Zu Ihrer Frau lesen SPIEGEL: Sind Ihre Wolkengedichte auch wir: „Es wundert mich, dass eine versteckte Polemik gegen das Zeit- sie hier, wo ich zufällig bin, geistgerede im Zusammenhang mit der meistens da ist.“ Ein Stau- aktuellen Kriegsgefahr? nen, das uns verwundert. Enzensberger: Vielleicht insofern, als ich Enzensberger: Wieso? Es ist sage: was in der Zeitung steht, ist nicht die doch eine Methode, ein legi- ganze Wirklichkeit. Plötzlich ist es weiß timer poetischer Trick, dass und man friert – das kommt in der Zeitung man sich wundert. Man muss nicht vor, höchstens wenn der Schnee eine

ANNA WEISE die Dinge nicht hinnehmen Katastrophe verursacht. Gesundheitsre- Allesfresser“ wie ein Journalist, der das form, Rentenreform, Ladenschluss, der nimmt, was gerade aus dem ganze Zirkus in Berlin, Bush und Saddam Ticker kommt. Ich staune im Übrigen nicht Hussein – das kann doch nicht alles gewe- nur über schöne Dinge wie die Wolken, sen sein. sondern auch über merkwürdige Scheuß- SPIEGEL: Und morgen schreiben Sie dann lichkeiten wie den Terrorismus. doch wieder einen politischen Essay über SPIEGEL: Ein Gedicht träumt davon, dass Saddam, den Sie 1991 mit Hitler verglichen „dem Tyrannen das ewige Foltern zum haben. Hals“ heraushängt und er „fortan lieber Enzensberger: Ich sehe aus zwei Gründen Rübchen“ züchtet. Kann ein intensives davon ab, direkt an der Kriegsdebatte Verhältnis zur Natur, und sei es die Rüben- teilzunehmen. Der eine: Alle erkennbaren zucht, den Menschen friedlicher machen? Lösungen des Problems sind schlecht. Der Oder ihn wenigstens trösten, wenn er un- zweite: Wenn ich mir nicht sicher bin, hal- ter der Gewalt der Geschichte leidet? te ich lieber den Mund. Die glatten Ja- oder Enzensberger: Trost kann man nicht liefern Nein-Positionen kommen mir ziemlich wie ein Seifenspender. Ich will die Natur simpel vor. Ich weiß auch zu wenig über nicht idyllisieren. In einem meiner Ge- die irakische Gesellschaft. Ich fürchte nur, dichte sehen ruandische Mörder einen dass die Amerikaner ebenso ahnungslos doppelten Regenbogen und lassen für ei- sind. Nein, diesmal höre ich zu, was die nen Moment die Messer sinken – danach anderen sagen. töten sie weiter. Gerade auf das Tückische, SPIEGEL: Und schauen lieber in den Himmel. Widersprüchliche unserer Erfahrungen Enzensberger: Na ja, immerhin lädt mein kommt es mir an. Immerhin aber relati- Buch dazu ein, über den Alltag, über den viert die Natur die menschliche Gewalt – Kontoauszug hinauszuschauen. Der Blick die Wolken werden den Menschen um zum Himmel lehrt uns Gelassenheit und Jahrmillionen überleben. Tröstlich ist das Bescheidenheit. Wir sind alle geneigt, uns nicht unbedingt. Die von den Grünen zu wichtig zu nehmen. Auch deshalb gibt verehrte Mutter Natur kann sehr grausam es Kriege. Wichtigkeit, Prominenz, Ruhm sein. Die Schönheit der Natur ist oft – darauf möchte ich nicht hereinfallen. eine Falltür in den Schrecken. Das Blei Interview: Mathias Schreiber

der spiegel 12/2003 187