Interterritoriale Politik Und Konfessionalisierung. Die Hessen-Kasseler Reaktionen Auf Die Rekatholisierung in Den Benachbarten Geistlichen Territorien*
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Interterritoriale Politik und Konfessionalisierung. Die Hessen-Kasseler Reaktionen auf die Rekatholisierung in den benachbarten geistlichen Territorien* Holger Th. Gräf Vorbemerkung Das seit Mitte der 1970er Jahre zunächst unabhängig voneinander von Wolfgang REINHARD und Heinz SCHILLING in sozialwissenschaftlicher Fortführung der ZEEDENschen „Konfessionsbildung“ entwickelte Paradigma der „Konfessionali- sierung“ gehört seit vielen Jahren zu einem der am intensivsten und in letzter Zeit auch sehr kontrovers diskutierten Forschungsansätze in der internationalen Frühneuzeitforschung.1 Ohne an dieser Stelle auf die Fragen nach dem angemes- senen Verhältnis von Mikro- und Makrohistorie, von Etatismus und Kommuna- lismus oder die paradox anmutenden Zusammenhänge zwischen Konfessionali- sierung sowie staatlich-gesellschaftlicher Modernisierung und Säkularisierung eingehen zu wollen, ist es zur wissenschaftlichen Standortbestimmung des vorliegenden Beitrages notwendig, zunächst zwei Feststellungen zu treffen: – Erstens wird im folgenden davon ausgegangen, dass die Konfessionalisie- rung nicht nur „eine mit beachtlicher Regelmäßigkeit durchlaufende Frühphase moderner europäischer Staatsbildung“2 war, sondern auch als konstitutiv und –––––––––– * Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um eine erheblich erweiterte und mit Anmerkungen versehene Version eines Vortrages, den ich am 21. Mai 1998 in Hildes- heim auf der von Prof. Dr. Barbara Bauer geleiteten Tagung über „Rekatholisierung und katholische Kultur“ gehalten habe. Die seither erschienene einschlägige Literatur wurde, soweit wie möglich, eingearbeitet. 1 Vgl. zuletzt etwa die von Heinrich Richard SCHMIDT und Heinz SCHILLING in: HZ 264, 1997, S. 639-682 und 265, 1997, S. 675-691 geführte Debatte. Als Beispiel für die Schär- fe der Auseinandersetzung verweise ich nur auf die Rezension von Wolfgang REINHARD zu Heinrich Richard SCHMIDT in: ZHF 22, 1995, S. 267-269 und Martin DINGES zu Heinz SCHILLING (Hg.): Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa, in: Ius Commune 22, 1995, S. 393-395. – Zum Spektrum der Forschung vgl. die Litera- turberichte von Heinz SCHILLING: „Konfessionsbildung“ und „Konfessionalisierung“, in: GWU 42, 1991, S. 441-463 und 779-794 und DERS.: Konfessionelles Zeitalter, in: GWU 48, 1997, S. 350-370 hier besonders S. 360-361, 618-627, 682-694 und 748-766; GWU 52, 2001, S. 346-371 sowie die drei Tagungsbände Heinz SCHILLING (Hg.): Die refor- mierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der „Zweiten Reformation“ (SVRG 195), Gütersloh 1986; Hans-Christoph RUBLACK (Hg.): Die lutherische Konfes- sionalisierung in Deutschland (SVRG 197), Gütersloh 1992 und Wolfgang REINHARD und Heinz SCHILLING (Hg.): Die katholische Konfessionalisierung (SVRG 198), Güters- loh 1995 und jetzt auch Anton SCHINDLING und Walter ZIEGLER (Hg.): Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Bd. 7: Bilanz – For- schungsperspektiven – Register, Münster 1997. 2 Wolfgang REINHARD: Zwang zur Konfessionalisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters, in: ZHF 10, 1983, S. 257-277, hier S. 257. Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte (ZHG) Band 107 (2002), S. 105-129 106 Holger Th. Gräf charakteristisch für das aus der zerfallenen res publica christiana sich herausbil- dende europäische Mächtesystem der Neuzeit zu gelten hat.3 In den Jahrzehnten zwischen dem Augsburger Religionsfrieden und dem Dreißigjährigen Krieg kam der Konfession im Bereich der Außenpolitik als propagandistischem Argumen- tionsarsenal wie als Faktor in der zeitgenössischen Wahrnehmung des Staaten- systems neben den dynastischen und eher säkularen machtpolitischen Interessen eine stilbildende Bedeutung zu.4 Mit Hilfe der Konfession erhoffte man neue Verbindlichkeiten in den auswärtigen Beziehungen und eine Berechenbarkeit des Verbündeten wie des politischen Gegners zu erreichen: Die Konfession stieg auf zum „härteste[n] vinculum ... stabiliendi foederis“, wie es der hessische Landgraf Wilhelm IV. (1532-1592, reg. ab 1567) 1578 formulierte.5 Zu einem dauerhaften Leitfaktor internationaler Politik konnte die Konfession indes nicht werden. Zum einen ließen sich die religiös-theologischen Absolutheitsansprüche der Konfessionalisten in der realen Politik nicht durchhalten; zum anderen war der Konfessionsstaat keine archaische Theokratie, sondern eine frühmoderne Staatsform, in die die Kirche samt ihrer Theologen strukturell und institutionell integriert war. Mit der Symbiose von Territorialmacht und kirchlicher Erneue- –––––––––– 3 Vgl. hierzu Heinz SCHILLING: Formung und Gestalt des internationalen Systems in der werdenden Neuzeit – Phasen und bewegende Kräfte, in: Peter KRÜGER (Hg.): Kontinuität und Wandel in der Staatenordnung der Neuzeit. Beiträge zur Geschichte des internationa- len Systems, Marburg 1991, S. 19-46; Holger Th. GRÄF: Konfession und internationales System. Die Außenpolitik Hessen-Kassels im konfessionellen Zeitalter (QFHG 94), Darmstadt und Marburg 1993, hier vor allem S. 27-36, 306-309 und 331-345 und künftig Heinz SCHILLING: Konfessionalisierung und Staatsinteressen. Internationale Beziehungen 1559-1659; erscheint als Band 2 des von Heinz DUCHHARDT und Franz KNIPPING heraus- gegebenen Handbuchs der internationalen Beziehungen. 4 Vgl. zum Überblick Holger Th. GRÄF: Bündnissysteme der Neuzeit – Strukturelle Bedingungen der Außenpolitik von der italienischen bis zur europäischen Pentarchie, in: Historicum, Winter 1996/97, S. 22-26; oder, als Fallbeispiel, DERS.: Gestaltende Kräfte und gegenläufige Entwicklungen im Staatensystem des 17. und 18. Jahrhunderts: Die Republik der Vereinigten Niederlande als Macht des Übergangs, in: Peter KRÜGER (Hg.): Das europäische Staatensystem im Wandel (Schriften des Historischen Kollegs, Kollo- quien 35), München 1995, S. 11-25. – Den Zusammenhängen zwischen Konfessionalisie- rung und der Herausbildung einer frühneuzeitlichen professionalisierten diplomatischen Elite bin ich in einigen kleineren Fallstudien nachgegangen. Vgl. Holger Th. GRÄF: The Collegium Mauritianum in Hesse-Kassel and the Making of Calvinist Diplomacy, in: Sixteenth Century Journal 28, 1997, S. 1167-1180; DERS.: Die Kasseler Hofschule als Schnittstelle zwischen Gelehrtenrepublik und internationalem Calvinismus. Ein Beitrag zu den institutionen- und sozialgeschichtlichen Grundlagen frühneuzeitlicher Diplomatie, in: ZHG 105, 2000, S. 17-32 und vergleichend DERS.: Das Europäische Mächtesystem, in: Olaf MÖRKE und Michael NORTH (Hg.): Die Entstehung des modernen Europa. Lang- fristige Entwicklungen in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft, 1600-1900 (Wirtschafts- und sozialhistorische Studien 7), Köln u. a. 1998, S. 11-24 sowie DERS.: Funktionsweisen und Träger internationaler Politik in der Frühen Neuzeit, in: Klaus SCHLICHTE und Jens SIEGELBERG (Hg.), Strukturwandel internationaler Beziehungen. Zum Verhältnis von Staat und internationalem System seit dem Westfälischen Frieden, Festschrift für Klaus Jürgen Gantzel, Wiesbaden 2000, S. 105-123. 5 Guillaume GROEN VAN PRINSTERER (Hg.): Archives au correspondance inédite de la maison d’Orange-Nassau, 13 Bde., Leiden 1835-1860, hier Serie I, Bd. VI, S. 427, Land- graf Wilhelm, Brief an de Traos, Friedewald 31. Juli 1578. Die Hessen-Kasseler Reaktionen auf die Rekatholisierung 107 rung seit der Reformation wurden Religion und Kirche in gewisser Weise – im Hegel’schen Sinne – in der Sphäre des modernen Staates „aufgehoben“.6 – Zweitens muss betont werden, dass im folgenden – vom Thema vorgege- ben – in erster Linie „etatistisch“ argumentiert wird. Wenngleich es weniger um originär diplomatie- und politikgeschichtliche Fragen geht, sondern eher um die strukturgeschichtlichen Bedingungen und Voraussetzungen von Außenpolitik im konfessionellen Zeitalter, ist darauf zu verweisen, dass Konfessionalisierung auch in diesem – auf den ersten Blick staatlich-politischen – Bereich „mikrohis- torisch“ untersucht werden kann und muss. Eine Frage, die hier im Vordergrund stehen sollte, zielt etwa auf die konfessionelle Perzeption von internationaler Politik auf der Ebene des Reiches oder Europas durch die damaligen Zeitgenos- sen allgemein wie des politisch-militärischen Konkurrenten oder Partners im besonderen.7 Die politische ‚Großwetterlage‘ Nach dem Augsburger Religionsfrieden war das Einvernehmen und das Vertrauen zwischen katholischen und protestantischen Reichsständen nie groß genug, als dass man frei von Angst vor gegenseitiger militärisch-gewalttätiger Bedrohung gelebt hätte.8 Das Treffen zwischen dem französischen König Karl IX. (1550- 1574, reg. ab 1560) und seiner Mutter Katharina de Medici (1519-1589) mit der spanischen Königin Elisabeth (1545-1568) in Bayonne im Jahre 1565 sowie die Vorgänge in Frankreich und in den Niederlanden – Hugenottenkriege und Schre- ckensregiment des Herzogs von Alba – hielten diese Angst wach und ließen auch die Optimisten und erklärten Anhänger der Augsburger Friedensidee aufmerken.9 Als ab den frühen 1570er Jahren aus der Sicht der protestantischen Reichs- stände die gegenreformatorischen „Kräfte“ besonders in den geistlichen Territo- rien als Folge des Tridentinums zur Offensive übergingen, schienen sich ihre –––––––––– 6 Vgl. zu den damit angesprochenen langfristigen Entwicklungslinien immer noch Ernst- Wolfgang BÖCKENFÖRDE: Die Entstehung des modernen Staates als Vorgang der Säkula- risation, in: Säkularisation und Utopie, Ebracher Studien, Ernst Forsthoff zum 65. Ge- burtstag, Stuttgart 1967, S. 75-94 und, am konkreten Beispiel,