Britta Marzi (Hrsg.) Ein Bild von Karl Marx… entwerfen Kunst_historische Perspektiven

Dokumentation des Symposiums am 7. Mai 2016 im Karl-Marx-Haus in Trier

Ein Bild von Karl Marx… entwerfen Kunst_historische Perspektiven

Britta Marzi (Hrsg.) Ein Bild von Karl Marx… entwerfen Kunst_historische Perspektiven

Dokumentation des Symposiums am 7. Mai 2016 im Karl-Marx-Haus in Trier

Inhalt

Vorwort 7 Britta Marzi Leere Sockel, gesprühte Parolen, gelbe Pullover – vom Umgang mit Marx-Denkmälern im öffentlichen Raum | Zur Einführung 9 Anne Longuet Marx Geschichte und Politik im Werk von Karl-Jean Longuet (1904 – 1981) | Festrede anlässlich der Enthüllung seiner Marx-Büste am 6. Mai 2016 in Trier 19 Frank Matthias Kammel Köpfe für die Ewigkeit | Die Bildnisbüste: Stellvertreterin und Medium des Nachruhms 25 Ursel Berger Auf der Suche nach einem neuen Menschenbild | Politische Bildnisse der 1920er- bis 1950er-Jahre 41 Arie Hartog Das Kamel | Darstellungen von Karl Marx in der Bildhauerei der DDR 47 Eberhard Illner Der „chinesische Engels“ von Wuppertal | Türöffner für Wirtschaftsbeziehungen und Ort der Diskussion 53 Karl Schawelka Zwischen Ahnenkult, Affirmation und Revision | Marx im öffentlichen Raum 59 Abbildungen 65 Stanislav Holubec „Er spricht zu uns mit Gegenwart und Zukunft“ | Marx als Erinnerungsort in Karlsbad und Prag 81 Winfried Speitkamp Ehrung und Entehrung | Marx im öffentlichen Erinnerungsraum 89 Von Trier in die Welt. Karl Marx, seine Ideen und ihre Wirkung bis heute Die Dauerausstellung im Museum Karl-Marx-Haus 101 6 Vorwort

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

in diesem Jahr feiert die Friedrich-Ebert-Stiftung älteste Tochter Jenny heiratete 1872 den französi- weltweit den 200. Geburtstag des Universalge- schen Sozialisten und Journalisten Charles Longu- lehrten und Vordenkers der Sozialdemokratie Karl et. Ihr zweiter Sohn Jean Longuet, Politiker, Rechts- Marx. Im Museum Karl-Marx-Haus haben wir am anwalt und Journalist, hatte seinerseits zwei Söhne. 5. Mai 2018 die neue Dauerausstellung „Von Trier Der jüngere, Karl-Jean, wurde Bildhauer. Aus seiner in die Welt. Karl Marx, seine Ideen und ihre Wir- Ehe mit Simone Boisecq, Journalistin und eben- kung bis heute“ mit vielen Gästen aus dem In- und falls Bildhauerin, stammen die Töchter Frédérique Ausland eröffnet. Die Eröffnungsfeier war nur eine und Anne. Sie enthüllten im Mai 2016 Longuets der zahlreichen Veranstaltungen, die wir vom vi- Marx-Büste im Innenhof des Karl-Marx-Hauses. Es etnamesischen Buôn Ma Thuô. t bis London, von war nicht ihr erster Besuch: Bereits als Kinder waren Wuppertal bis Rostock zum Thema „#marx2018“ sie im Mai 1968 – zu Marx‘ 150. Geburtstag – ge- organisiert haben. meinsam mit ihren Eltern Ehrengäste bei der dama- Schon 729 Tage vor dem 200. Geburtstag haben wir ligen großen Feier im Karl-Marx-Haus. in Trier damit begonnen, den Countdown zum Ju- Auf die Enthüllung der Marx-Büste Longuets folg- biläum herunterzuzählen. Im Karl-Marx-Haus, das te am nächsten Tag das Symposium „Ein Bild von die Friedrich-Ebert-Stiftung seit 1968 betreut, fiel Karl Marx... entwerfen. Kunst_historische Perspek- am 6. Mai 2016 der Startschuss zu unserem Jubilä- tiven“. Expertinnen und Experten aus Kunstge- umsprogramm mit der Festveranstaltung „Ein Bild schichte und Geschichtswissenschaft diskutierten von Karl Marx... enthüllen“. Marx kam nach Hause, über Marx-Darstellungen im Besonderen und poli- und zwar in Form einer Bronzebüste, die sein Uren- tische Bildnisse allgemein, in der Kunst und in der kel Karl-Jean Longuet in den 1950er-Jahren in Erinnerungskultur, quer durch Jahrhunderte und geschaffen hatte. Hier, am Ort von Marx‘ Geburt, ist politische Systeme. Die Vorträge des Symposiums die Büste nun einem großen internationalen Publi- erscheinen hier nun in überarbeiteter Form als Sam- kum zugänglich – deshalb freuen wir uns sehr, dass melband. Bei der Lektüre wünsche ich viel Freude die beiden Töchter des Künstlers, Frédérique und und reiche Erkenntnisse! Anne Longuet Marx, sich von diesem besonderen Werk trennen konnten. Bonn, im Juni 2018 Anne Longuet Marx und ihre ältere Schwester Fré- Kurt Beck, Ministerpräsident a. D. dérique sind Ururenkelinnen von Karl Marx. Marx‘ Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung

7 8 Britta Marzi Leere Sockel, gesprühte Parolen, gelbe Pullover – vom Umgang mit Marx-Denkmälern im öffentlichen Raum

Zur Einführung

„Als die Bürger von Neuruppin Während die sie umgebenden Spring- heute früh aufwachten, da war brunnen aus den 1960er-Jahren vollstän- der Sockel leer. In der Einheits- dig entfernt wurden, gelangte Cremers nacht war Karl Marx abhanden Marx-Büste 1996 erst einmal ins Depot. gekommen, der jahrzehntelang Neuruppins Partnerstadt Bad Kreuz- von hier auf die Karl-Marx-Straße nach, in der Marx 1843 geheiratet hatte, geschaut hatte. […] Doch dann verschmähte das Angebot, die Büste zu fand er sich wieder. Ein Neurup- übernehmen. Im Jahr 2000 erhielt diese piner filmte mit, wie Karl Marx ge- dann einen neuen, weniger prominenten 1 Robin Lautenbach, Bericht in den borgen wurde aus dem Brunnen, Standort in Neuruppin selbst. Kritisch be- Tagesthemen vom in den ihn die Unbekannten in gleitet wurde die Wiedererrichtung durch 03.10.1990, http://berichte- 1 wiedervereinigung.live. der Nacht versenkt hatten.“ eine Flugblattaktion aus dem CDU-Um- tagesschau.de/classic_ feld; auf dem Denkmalsockel erschien ein space.html (letzter Zugriff: 07.10.2015). Die Marx-Büste, um die es hier geht, hat- Graffito mit der Aufschrift „K. MURX“.4 2 1953 hatte Cremer te (1906–1993), einer der be- Heute dient ein Abguss von Cremers Büs- bereits eine Marx-Maske geschaffen, vgl. Leonie kanntesten Bildhauer der DDR, 1954 ent- te im Garten des Trierer Karl-Marx-Hauses Beiersdorf, Die doppelte worfen.2 Am 6. Oktober 1959 war sie auf immer wieder als Kulisse für Gruppenfo- Krise. Ostdeutsche Erinnerungszeichen nach dem Neuruppiner Schulplatz eingeweiht tos und Selfies. 1989, 2015, worden. Marx‘ temporäres Abtauchen in S. 285, Anm. 145. den benachbarten Brunnen, von dem Ro- 3 Für die Aufstellung der Marx-Büste in Neuruppin bin Lautenbach fast genau 31 Jahre spä- Marx kommt nach Hause hatte 1959 ein Schinkel- Denkmal weichen müs- ter, im Oktober 1990, in den Tagesthemen – eine Büste, eine sen, vgl. Beiersdorf, berichtete, deutete an, was nicht nur der Enthüllung, ein Symposium Krise, S. 259. Neuruppiner Marx-Büste nach dem poli- und ein Sammelband 4 Zu Neuruppin und Cremers Büste vgl. Georg tischen Systemwechsel bevorstand: ent- Piltz, Kunstführer durch weder ein gänzliches Verschwinden oder Wie dieser Fall aus Neuruppin und aktu- die DDR, Bayreuth 1987, S. 131f., sowie S. 251–261. die Versetzung an einen anderen Ort.3 elle Debatten zeigen – zu diesen später

9 mehr –, ist das Thema „Marx und die Er- Warum die „Ikone Karl Marx“8 gerade innerungskultur“ ein hochbrisantes. Die seit der Finanzkrise in den Medien wie- Friedrich-Ebert-Stiftung, in deren Träger- der allgegenwärtig ist, während in den schaft sich das Museum Karl-Marx-Haus frühen 1990er-Jahren die realsozialisti- seit 1968 befindet, hat es 2016 bei einer schen Marx-Darstellungen oftmals aus Doppelveranstaltung aufgegriffen. Diese dem öffentlichen Bild verschwanden, bildete den Auftakt für das umfangrei- diskutierten am folgenden Tag Wis- che Jubiläumsprogramm, mit dem die senschaftlerinnen und Wissenschaftler FES weltweit an den 200. Geburtstag sowie zwei bildende Künstler bei dem des Universalgelehrten am 5. Mai 2018 Symposium „Ein Bild von Karl Marx… erinnert.5 Der vorliegende Band doku- entwerfen. Kunst_historische Perspek- mentiert die Veranstaltung, die einen tiven“.9 Die Vorträge des Symposiums sehr persönlichen Zugang zu Marx in der werden hier nun in überarbeiteter Form

Kunst mit einer wissenschaftlichen Aus- vorgelegt. Dabei verweisen die Abbil- 5 Die Ankündigung der einandersetzung verknüpfte. dungsnummerierungen im Text auf den Trierer Auftaktveranstal- tung ist im Geschichts- „Marx is coming home“ – unter die- gesonderten Bildteil. Als Herausgebe- portal H-Soz-u-Kult unter www.hsozkult.de/event/id/ sem Motto stand der Abend des 6. Mai rin bedanke ich mich herzlich bei den termine-30891 zu finden. 2016 im Museum Karl-Marx-Haus. Im Autorinnen und Autoren sowie Petra 6 Der Vorwärts berichtete Innenhof enthüllten in Anwesenheit Giertz, Stefan Müller, Thomas Oeller- von einer „Sozialistische[n] Sonderausstellung“, die des Vorstandsvorsitzenden der Fried- mann, Katja Ulanowski, Meik Woyke, einen „Ausschnitt aus dem rich-Ebert-Stiftung Kurt Beck, des Trierer dem Projektteam Marx 2018 und allen Marx-Museum“ zeigte, das „im nächsten Jahre“ Oberbürgermeisters Wolfram Leibe und Kolleginnen und Kollegen, die die He- in Trier eröffnet werden der damaligen SPD-Generalsekretärin rausgabe des Sammelbands unterstützt sollte. Der Artikel erwähnt Gemälde und eine Plastik, und Trierer Bundestagsabgeordneten haben. die Marx zeigen, nennt auch deren Urheber; Katarina Barley die Ururenkelinnen des Longuet wird aber nicht Philosophen, Anne und Frédérique Lon- namentlich genannt (Aus- schnitt aus dem Marx- guet Marx, ein ganz besonderes Kunst- Bildnisbüsten – „Köpfe Museum, in: Der Abend. werk: Eine Büste von Karl Marx, die Spätausgabe des für die Ewigkeit“ und „Vorwärts“, 09.12.1930). ihr Vater, der französische Bildhauer Spielbälle politischer 7 Kurzfilm „Marx is coming Karl-Jean Longuet (1904–1981), in den Konjunkturen home“, einzusehen unter https://www.youtube.com/ 1950er-Jahren gestaltet hat. Longuet watch?v=b3n2flUB7aQ. hatte bereits als junger Mann eine Bron- Bildnisbüsten sind zunächst als „Köp- 8 So der Titel einer zebüste seines berühmten Urgroßvaters fe für die Ewigkeit“ konzipiert, wie Sonderausstellung, die 2013 in Trier zu sehen geschaffen, die er dem Parteivorstand Frank Matthias Kammel in seinem Bei- war, vgl. Elisabeth Dühr der SPD 1930 für das in Trier geplante trag konstatiert. Doch der Umgang mit (Hrsg.), Ikone Karl Marx. Kultbilder und Bilderkult. Marx-Museum übergab und die vermut- politischen Bildnissen wandelt sich im Ausst.-Kat. Stadtmuseum Simeonstift Trier, Regens- lich in Berlin der Öffentlichkeit präsen- Laufe der Zeit, Ursel Berger untersucht burg 2013. 6 tiert wurde. Seit der Zeit des Nationalso- dies in ihrem Aufsatz exemplarisch für 9 Eugen Sonnenberg zialismus gilt diese Büste, die niemals in die 1920er- bis 1950er-Jahre. Wie Denk- hat einen Tagungsbericht zum Symposium verfasst, das Geburtshaus gelangte, als verschol- mäler zu Spielbällen politischer Kon- der unter www.hsozkult. len. Während ein Kurzfilm zeigt, wie junkturen werden, skizzierte schon vor de/conferencereport/id/ tagungsberichte-6779 Longuets später entworfene Marx-Büste einem halben Jahrhundert die Sängerin einsehbar ist. endlich den Trierer Bestimmungsort er- Hildegard Knef in ihrer Aufnahme „Pro- 10 Erstmals erschienen 10 auf der Langspielplatte reichte, und damit die Vorgeschichte der test eines Denkmals“. In dem in der „Halt mich fest“ des Veranstaltung als eine Art Trailer schil- Ich-Perspektive verfassten Liedtext be- Labels Decca im März 1967; Knef entwickelte 7 dert, gibt die vorliegende Publikation schwert sich ein unter freiem Himmel den Song gemeinsam Anne Longuet Marx‘ Festrede zur Ent- aufgestellter „Torso“ nicht nur über die mit dem österreichischen Komponisten Hans hüllung des Werks wieder. Witterung, der er ausgesetzt ist: Hammerschmid.

10 „Ich steh‘ hier seit hundert Jah- sich im Frühjahr 2017 – nach „längerer, 11 Zit. nach http://www. hildegardknef.de/Texte/ ren/ in der gleichen Position,/ teilweise heftig geführter Diskussion“ – protesteinesdenkmals. eine Mehrheit im Stadtrat dafür aus, die htm (letzter Zugriff: kenn‘ die Bänke und die Paare/ 18.06.2018). und die Denkmalskommission./ Büste „im Stadtbild von Jena“ – also nicht 12 Tom Strohschneider, Und was Tauben sich erlauben,/ zwingend vor der Hochschule – aufzustel- Kehrt Marx nach Jena 13 zurück?, https://marx200. das erwähnte ich ja schon.“ len. Die Stadtratsfraktion der Linken, org/blog/kehrt-marx- die die entsprechende Beschlussvorlage nach-jena-zurueck, 20.04.2017 (letzter Doch darüber hinaus entscheiden auch eingebracht hatte, argumentierte explizit Zugriff: 10.08.2017). historische Ereignisse über das Schicksal mit dem am 5. Mai 2018 bevorstehenden 13 http://www.die- linke-jena.de/fraktion/ des protestierenden Denkmals, was nur 200. Geburtstag des Universalgelehrten. anfragen_und_ angesichts der lästigen Vögel Trost bietet: Schlussendlich hat jedoch die Fried- beschlussvorlagen/ verschiedenes/ rich-Schiller-Universität als Besitzerin der beschlussvorlagen/ „Selten dümmlich sind die Krie- Büste über deren weiteres Schicksal zu (letzter Zugriff: 10.08.2017). ge,/ ob nun mit, ob ohne Siege,/ entscheiden. Ihr Senat allerdings erklärte 14 Vgl. ebd.; Stroh- denn ich komm‘ in eine Kiste,/ vor- im Juli 2017, das Werk solle weiter im De- schneider, Marx; http:// 14 www.mdr.de/thueringen/ her noch auf eine Liste./ Denk‘ an pot bleiben. Nachdem die Lokalpresse ost-thueringen/karl- Tauben, leb‘ im Glauben,/ dass ich im Kontext dieser Debatte „buchstäblich marx-bueste-jena-102. html, 18.04.2017; Karsten sie so überliste./ Ist die Stadt dann mit Leserbriefen und Kommentaren über- Jauch, Kunstpause: fast zerhackt,/ werd‘ ich wieder schüttet“ worden war, lud die Universität Thüringen ohne Karl 11 Marx, http://www. ausgepackt“. bei der „Langen Nacht der Wissenschaf- thueringer-allgemeine. ten“ im November 2017 zur Diskussion de/web/zgt/suche/ detail/-/specific/ Soll auch Marx wieder ausgepackt wer- ein – doch die Resonanz war gleich Null.15 Kunstpause-Thueringen- ohne-Karl-Marx-86100 den? Diese Frage erhitzt seit einiger Zeit Tatsächlich wurde die Büste dann zu 9150, 07.07.2017 (letzte die Gemüter in Jena. Aus Anlass des 70. Marx‘ 200. Geburtstag wieder ans Licht Zugriffe: 10.08.2017). Vor der Aula im Haupt- Todestags von Marx im Jahr 1953, „das geholt. Ausgerechnet im Imbissbereich gebäude der Universität die SED für allerlei Marx-Folklore nutz- eines Einkaufszentrums, also mitten in erinnert, unabhängig 12 von der Marx-Büste, eine te“, erhielt die Universität Jena, an der einem „kapitalistischen Konsumtempel“, Gedenktafel an Marx‘ Karl Marx 1841 in absentia promoviert wie der MDR titelte, war die Büste zu se- Erwerb der Doktorwürde in Jena, vgl. Thorsten worden war, eine Marx-Büste, die Will hen; den Standort hatte der Jenaer Künst- Büker, Marx-Büste: Nun entscheidet der Senat Lammert (1892–1957), ein Lehrer Fritz ler Sebastian Jung bewusst ausgewählt. der Uni, http://jena.otz. Cremers, geschaffen hatte. Lammerts Die Universität flankierte den Jahrestag de/web/jena/startseite/ detail/-/specific/Marx- Büste, mit der sich auch Arie Hartog in mit einem dreitägigen Marx-Symposium Bueste-Nun-entscheidet- diesem Band beschäftigt, wurde nach der und einer Ausstellung im Hauptgebäude der-Senat-der-Uni-1372 884820, 10. 06.2017 Wende entfernt, doch schon 1992 ent- der Hochschule. Anschließend wurde die (letzter Zugriff: 14.08.2017). stand die Initiative, das Werk vor dem Büste wieder ins Depot gebracht.16 15 Angelika Schimmel, Karl Marx in Jena ziem- Hauptgebäude der Universität wieder auf- Ein Schicksal, das sie vorerst mit der lich allein gelassen, zustellen. Stimmte 2008 noch der städti- 2,20 Meter hohen Marx-Statue des https://jena.otz.de/web/ jena/startseite/detail/-/ sche Kulturausschuss dagegen, so sprach Cremer-Meisterschülers Gerhard Thieme specific/Karl-Marx-in- (1928–2018) teilt. Thiemes Werk, mit dem Jena-ziemlich-allein- gelassen-2115479483, sich ebenfalls der Beitrag von Arie Hartog 27.11.2017 (letzter Zugriff: auseinandersetzt, stand ab 1969 auf dem 18.06.2018). 100.html (o. D. [Anfang staltete JenaKultur in Markt – zu dieser Zeit Karl-Marx-Platz – 16 https://twitter.com/ Mai 2018]); Doris Weilandt, Zusammenarbeit mit der mdr_th/status/9920 Jena holt Marx aus der Friedrich-Schiller-Univer- in Neubrandenburg. Die dortige Debatte 00564035817473, Kiste, https://www. sität Jena und weiteren 03.05.2018; siehe auch neues-deutschland.de/ Partnern, das Programm vollzog sich ähnlich wie in Jena, mit dem Zum 200. Geburtstag. artikel/1086594.marx- ist abrufbar unter https:// Unterschied, dass die Stadt in Mecklen- Marx-Büste im Jenaer geburtstag-jena-holt- www.jenakultur.de/ Konsumtempel, https:// marx-aus-der-kiste. fm/2316/Programm_ burg keinen Bezug zu Marx‘ Biografie hat. www.mdr.de/thueringen/ html, 27.04.2018 (letzte ausklappseiten_04_27. Die Bronzefigur wurde 1995, ironischer- ost-thueringen/jena/karl- Zugriffe: 18.06.2018). jpg (letzter Zugriff: marx-geburtstag-bueste- Das Symposium veran- 26.06.2018). weise wegen Bauarbeiten für ein Einkaufs-

11 zentrum, also auch einen „Konsumtem- durch Aufkleber und Säureverätzungen 18 Matthias Hufmann, Einer steht noch, https:// pel“, an einen anderen Standort versetzt an Lesbarkeit. Alexander Bauersfeld, www.zeit.de/2014/36/ und 2001, ironischerweise nach einer der zu DDR-Zeiten anderthalb Jahre in lenin-statue-schwerin, 28.08.2014 (letzter aufwändigen Restaurierung, eingelagert. Haft saß, weil er sich für kirchliche Frie- Zugriff: 26.06.2018). Im Oktober 2015 sprach sich der Stadtrat densarbeit engagiert hatte, setzte 2014 19 Vgl. ebd. sowie gegen die Wiederaufstellung aus, und ob- vor dem Landesverwaltungsgericht Quentin Lichtblau, Über- bleibsel aus der DDR: wohl nicht einmal die eigene Fraktion ge- gegen den Widerstand der Stadt durch, Deutschland, deine schlossen dafür gestimmt hatte, bemühte das Denkmal zum Jahrestag des Volks- Lenins, http://www.taz. de/!5008129/, 13.05.2015; sich die Linke auch sieben Monate spä- aufstands vom 17. Juni 1953 verhüllen https://de.wikipedia.org/ wiki/Schwerin (letzte ter noch darum, Marx im Rahmen einer zu dürfen. Auch in Schwerin debattier- Zugriffe: 14.08.2017). Das Neugestaltung der Innenstadt wieder in te der Stadtrat über das Denkmal. Es sächsische Riesa erhielt ein Lenin-Denkmal als Neubrandenburg aufstellen zu lassen. blieb. Doch ihm könnte ein ähnliches Geschenk aus dem Der parteilose Oberbürgermeister Silvio Schicksal wie dem Neubrandenburger ukrainischen Nikopol, die Statue wurde 1991 auf Witt brachte zwischenzeitlich den Vor- Marx-Denkmal bevorstehen: Es rostet einen russischen Ehren- schlag ins Spiel, das Kunstwerk liegend – und gelangt deshalb möglicherweise friedhof am Stadtrand verbracht. Hier wurde die in der Öffentlichkeit zu präsentieren, um ebenfalls ins Depot. Damit verschwän- Debatte um die Skulptur 2012 von der NPD ent- Marx eine „Denkpause“ zu verabreichen de das laut Wikipedia „westlichste noch facht, sie verlief jedoch und das Denkmal zu „entideologisieren“, bestehende Lenin-Standbild in Europa“ im Sande, insbesondere, 19 weil aufgrund des neuen wie es der kubanische Philosoph und – und das vorletzte in Deutschland. Standorts die russischen Grafiker Gilberto Pérez Villacampa aus- Zumindest was freistehende Denkmä- Behörden einem Abriss zustimmen müssten, vgl. drückte, der eine entsprechende Vorlage ler betrifft. In der sogenannten Kom- Lichtblau, Überbleibsel. erarbeitet hatte. Ein Plan, der wieder vom munistenkurve im Seepark Lünen, der Zum Umgang mit Lenin- Denkmälern vgl. auch die Tisch ist mangels Zustimmung Thiemes 1996 anlässlich der Landesgartenschau Bildstrecke „Good bye, beziehungsweise des Sohns des 2018 ver- auf einem ehemaligen Zechengelände Lenin?“ unter http://www. zeit.de/wissen/geschichte/ storbenen Künstlers. Und hinsichtlich entstand, ragt Lenin vom Bauchnabel 2014-01/fs-lenin-todestag- kult-agitprop, 21.01.2014. des künftigen Standorts für die Statue gibt aufwärts aus der Brache. Unweit des Zum Schweriner Lenin- es immer neue Entwicklungen – wenn- Denkmal vgl. Beiersdorf, Krise, S. 79–81. Dass es gleich das Stadtoberhaupt beteuert, das dort zum 100. Jahrestag Kunstwerk werde noch 2018 wieder zu der Oktoberrevolution überraschend ruhig blieb, 17 sehen sein. 17 Vgl. Reinhard Mohr, Schulz: Neue Entwicklung konstatiert Silke Hassel- Auch in Schwerin „tobt[e] ein Kampf“ „Marx ist nicht Murx“, im Denkmal-Streit. Karl Marx mann, Umstrittenes Denk- in: Welt am Sonntag, soll zur Kunstsammlung, mal. Warum Lenin noch um ein Denkmal, wie 2014 Zeit Online 25.10.2015; Linkspartei will https://www.nordkurier.de/ in Schwerin steht, http:// unter der Überschrift „Einer steht noch“ Karl-Marx-Denkmal neubrandenburg/ www.deutschlandfunk.de/ in Neubrandenburg, karl-marx-soll-zur- umstrittenes-denkmal- berichtete. Hier ging es um eine 3,50 https://www.nordkurier.de/ kunstsammlung-233 warum-lenin-noch-in- schwerin-steht.862.de. Meter hohe Darstellung Lenins des est- neubrandenburg/ 1583603.html, 23.03.2018; linkspartei-will-karl- Silke Hasselmann: Marx- html?dram:article_id= nischen Künstlers Jaak Soans (* 1943), marx-denkmal-in- Denkmal in Neubranden- 400283, 09.11.2017 (letzte neubrandenburg-09 burg. Der „Bronze-Kalle“ Zugriffe: 26.06.2018). aufgestellt im Jahr 1985, und der dar- 22435905.html, kommt zurück, http://www. Die Rosa-Luxemburg- um tobende „Kampf“ spielte sich fol- 09.05.2016; Liegendes deutschlandfunkkultur.de/ Stiftung stellt auf ihrer Comeback für Karl- marx-denkmal-in- Website das Findbuch gendermaßen ab: „Gegner bewerfen die Marx-Statue?, https:// neubrandenburg-der- zum Bestand „Bürger- Statue inzwischen regelmäßig mit Farb- www.ndr.de/nachrichten/ bronze-kalle-kommt. initiative Lenin-Denkmal“ mecklenburg-vorpommern/ 1001.de.html?dram:article_ (1991–2004) zur Verfü- beuteln, Sympathisanten pinseln ‚Le- Liegendes-Comeback- id=415378, 12.04.2018; gung, der die Diskussio- fuer-Karl-Marx-Statue-, Thomas Beigang: Debatte nen und Proteste rund nin bleibt!‘ in großen Lettern auf den karlmarx138.html, neu entfacht. Doch noch um die Demontage des davorliegenden Bürgersteig. An dem 23.02.2018; Karl-Marx- kein Platz für Neubranden- Berliner Lenin-Denkmals Denkmal wird öffentlich burger Marx-Denkmal, am heutigen Platz der einen Tag wird der Kommunistenführer ausgestellt, https://www. https://www.nordkurier.de/ Vereinten Nationen besudelt, am nächsten Tag gesäubert.“18 ndr.de/nachrichten/ neubrandenburg/doch- dokumentiert, vgl. https:// mecklenburg-vorpommern/ noch-kein-platz-fuer- www.rosalux.de/news/ Eine nachträglich aufgestellte Informa- Karl-Marx-Denkmal-wird- neubrandenburger-marx- id/39169/buergerinitiative- tionstafel, die auf Menschenrechtsver- oeffentlich-ausgestellt, denkmal-2332117605.html, lenin-denkmal-1991- karlmarx140.html, 23.05.2018 (letzte bis-2004/ (letzter Zugriff: letzungen unter Lenin verweist, verlor 23.03.2018; Susanne Zugriffe: 26.06.2018). 29.08.2018).

12 Datteln-Hamm-Kanals am nordöstli- 200. Geburtstag des deutschen Ökono- chen Rande des Ruhrgebiets ist er halb men und Philosophen am 5. Mai 2018 begraben – auf einem „ungewöhn- […] nicht unter Druck setzen“ lassen.22 20 Karsten-Thilo Raab, liche[n] Friedhof für die Büsten und Der Stadtrat debattierte die vorliegen- Der Zufalls-Friedhof der Sowjet-Helden: Skulpturen einiger ehemaliger Helden den Varianten, kam jedoch zu keiner Die Kommunistenkurve der Sowjetunion“, wie ein Reisemaga- Einigung und beschloss im März 2016, im Seepark Lünen, 20 23 http://www.mortimer- zin schreibt. Neun Büsten und Skulp- die Angelegenheit weiter zu beraten. reisemagazin.de/der- turen sind hier, mal bis zum Bauch, In Osterburg in Sachsen-Anhalt, wo in zufalls-friedhof-der- sowjet-helden-die- mal bis zur Brust, „eingebuddelt“ – un- der Nähe der gleichnamigen Sekundar- kommunistenkurve-im- seepark-luenen/, kommentiert, sodass es bei den Wer- schule ein Karl-Marx-Denkmal steht, 25.05.2016. Zum Seepark ken von weniger prominenten Vor- will niemand für „den ollen Marx“ ver- vgl. auch http://www. route-industriekultur.ruhr/ bildern schwer fällt zu erkennen, um antwortlich sein: Weder der Landkreis themenrouten/07- wen es sich handelt. Dieser Effekt wird noch der Bürgermeister weiß, wer zu- industriekultur-an-der- lippe/seepark-luenen. noch dadurch verstärkt, dass einige der ständig wäre für die Herrichtung des html (letzte Zugriffe: Kunstwerke bereits von Pflanzen über- „Gesicht[s] des kommunistischen Urva- 15.08.2017), interessanter- weise werden die Skulp- wuchert sind. Ursprünglich hatten die ters“, das gezeichnet ist „von Rost und turen hier nicht erwähnt. sowjetischen Skulpturen in Lünen ein- Farbe irgendwelcher Schmierfinken“.24 21 Vgl. Raab, Zufalls- Friedhof. geschmolzen werden sollen, doch dann 22 Jutta Abromeit, Disput entstand die Idee der Freiluftgalerie für um Karl-Marx-Platz in die Gartenschau.21 Ludwigsfelde. Die Mauer Nicht nur als Denkmal – wackelt, http://www. Marx im öffentlichen maz-online.de/Lokales/ Teltow-Flaeming/Die- Erinnerungsraum Mauer-wackelt, 17./20. Verrottende Monumente 02.2016 (letzter Zugriff: 15.08.2017). – künstlerisches Konzept Karl Marx findet sich im öffentlichen 23 Vgl. dies., Zoff um oder Herausforderung für Raum und in der Erinnerungskultur den Zickzackbunker, nicht nur in Denkmälern wieder. Von http://www.maz-online.de/ die Kommunen Lokales/Teltow-Flaeming/ 1949 bis 1990 hieß Neuhardenberg Zoff-um-den-Zickzack Während in Lünen das Verrotten der Marxwalde, Chemnitz wurde von 1953 bunker, 04./07.03.2016 (letzter Zugriff: 15.08.2017). Skulpturen zum Konzept gehört, setzt bis 1990 zu Karl-Marx-Stadt. Während 24 Marco Hertzfeld, es andernorts Stadtverwaltungen, Kom- der Name des Trierer Philosophen von Denkmal rottet vor sich hin: Keiner will den ollen munalparlamente und deren Ausschüs- diesen Ortseingangsschildern ver- Marx, https://www.az- se unter Entscheidungsdruck, wie sie schwand, schmückt er bis heute vie- online.de/altmark/ osterburg/denkmal-rottet- mit sanierungsbedürftigen Denkmälern lerorts Straßenbezeichnungen; ein As- sich-hin-keiner-will-ollen- politisch umstrittener Größen umge- pekt, mit dem sich auch der Beitrag marx-6435833.html, 27.05.2016 (letzter Zugriff: hen sollen. Im brandenburgischen Lud- von Winfried Speitkamp in diesem 15.08.2017). wigsfelde war die Mauer, an die zum Band befasst. Allerdings führt dies 25 Vgl. Agnieszka Hreczuk, Marx wird von 170. Geburtstag von Karl Marx eine Ge- ebenfalls zu Diskussionen. In Polen Polens Straßen verbannt, denktafel angebracht worden war, ma- überprüfen derzeit eigens eingerichte- http://www.lr-online.de/ nachrichten/Tagesthemen- rode geworden. Verschiedene Konzepte te Kommissionen Straßennamen auf Marx-wird-von-Polens- zur Neugestaltung des Platzes lagen vor, einen etwaigen „kommunistischen Zu- Strassen-verbannt;art30 7853,5998317, 20.05.2017. die unter anderem vorsahen, einen un- sammenhang“, betroffen sind davon Zur Entwicklung in der Ukraine vgl. Florian Hassel, terirdischen „Zickzackbunker“ aus der auch die letzten beiden nach Karl Marx Wie die Ukraine die NS-Zeit einzubeziehen und so auf dem benannten polnischen Straßen.25 Wie Revolution verräumt, http://www.sueddeutsche. Platz künftig „Zeugnis von zwei Ge- Marx in Karlsbad und Prag als Erinne- de/politik/jahre- schichtsepochen im 20. Jahrhundert“ rungsort präsent war und ist, beleuch- oktoberrevolution- wie-die-ukraine-die-r abzulegen. Der Bauausschuss wollte tet Stanislav Holubec in seinem Auf- evolution-verraeumt-1.373 sich bei der Diskussion über die Neu- satz. In Berlin und im erzgebirgischen 1016, 06.11.2017 (letzte Zugriffe: 18.06.2018). gestaltung des Karl-Marx-Platzes „vom Aue lieh Marx einer prominenten Al-

13 lee und einem zentralen Platz seinen Sockel eine Höhe von 6,30 Metern er- Namen – und folgte damit auf Stalin, reichen sollte, stand im Zentrum der als dieser nicht mehr opportun war. Kritik. Die im vorliegenden Band ab- Während die Karl-Marx-Allee in der gedruckten Aufsätze sind entstanden, 26 Vgl. Frank Nestler, Zeit- Hauptstadt weiter besteht, heißt die bevor diese Diskussion in Trier auf- geist: Geßner folgten Stalin große Fläche im Zentrum von Aue nun flammte, und berücksichtigen den Fall und Marx, https://www. freiepresse.de/LOKALES/ 26 29 Postplatz. Als „Sommerlochaufreger“ aus Marx‘ Geburtsstadt daher nicht. ERZGEBIRGE/AUE/Zeit- galt 2016 der Vorschlag eines CDU-Po- Eberhard Illner berichtet in seinem geist-Gessner-folgten- Stalin-und-Marx-artikel litikers aus dem Saale-Orla-Kreis, die Beitrag aus erster Hand, wie die En- 9627666.php#, 10.09.2016 dortigen nach Karl Marx und Fried- gels-Statue nach Wuppertal gelangte (letzter Zugriff: 15.08.2017). 27 Vgl. Forderung: Karl- rich Engels benannten Straßen um- und wie sie dort zur Auseinanderset- Marx- und Friedrich-Engels- zutaufen in Ludwig-Erhard-Straßen.27 zung mit Engels – und wohl auch mit Straßen sollen im Saale- Orla-Kreis umbenannt Auf den gemeinsamen Vorschlag der Marx – anregt. werden, http://schleiz.otz. entsprechenden Bezirksverbände von de/web/schleiz/startseite/ detail/-/specific/Forderung- Junger Union und Jungen Liberalen, Karl-Marx-und-Friedrich- im Rhein-Main-Gebiet alle Karl-Marx- Engels-Strassen-sollen- Nicht nur Souvenirs – im-Saale-Orla-Kreis-u-1135 Straßen in Helmut-Kohl-Straßen um- Marx-Aneignungen und 768166, 31.08.2016 (letzter Zugriff: 15.08.2017). zubenennen, reagierte die taz im Juni Marx-Verfremdungen 28 (krt), was fehlt… Die 2017 mit einem süffisanten „Ach, Jun- Helmut-Kohl-Straßen, ge Union. Ihr seid mehr DDR als ihr Andernorts gibt es statt Marx-Debatten http://www.taz.de/!542 4185/, 21.6.2017. Der Vor- 28 denkt.“ Marx-Aneignungen, oder, wie im Falle schlag ist zu finden unter Und was spielt sich bei der Neuerrich- von Chemnitz, der ehemaligen Karl- http://www.ju-rhein-main. de/aktuelles/ehre-wem- tung von Marx- oder Engels-Standbil- Marx-Stadt, auch beides. Das wuchtige ehre-gebuehrt-karl-marx- strassen-in-helmut-kohl- dern ab? Es sind durchaus Parallelen Marx-Monument von Lew Jefimowitsch strassen-umbe/, 19.06.2017 zu erkennen zwischen den aktuellen Kerbel (1917–2003), im Volksmund (letzte Zugriffe: 14.08.2017). Fällen in Wuppertal und Trier. Hier „Nischel“ (sächsisch für „Kopf“) ge- 29 Winfried Speitkamp nahm im März 2017 gegen- wie dort bot die chinesische Regierung nannt, dient inzwischen dem Stadtmar- über der Deutschen Welle der jeweiligen Stadt eine Engels- bzw. keting für touristische Zwecke, nicht zur Diskussion in Trier Stel- lung, vgl. Felix Schlagwein, Marx-Statue an, die ein renommierter nur in Form von Souvenirs.30 Zur Jahr- Marx-Denkmal: „Nicht ganz unproblematisch“, http:// Künstler aus der Volksrepublik als Auf- tausendwende zogen ihm zwei Bergstei- www.dw.com/de/marx- tragswerk anfertigte. Hier wie dort dis- ger eine Mütze über, damit ihm „über denkmal-nicht-ganz- unproblematisch/a-379370 kutierten Stadtrat und Öffentlichkeit – Silvester nicht zu kalt wird“, anläss- 18, 14.03.2017 (letzter Zu- mit teils überregionaler Resonanz –, ob lich der Fußballweltmeisterschaft der griff: 25.06.2018). In diesem Gespräch verwies Speit- die Kommune ein solches Geschenk Männer erschien der Nischel 2014 mit kamp darauf, dass wir uns annehmen dürfe: Die einen stießen schwarz-rot-goldener Schminke auf den „in einer Epoche [befinden], in der es sehr ungewöhn- sich am Gegenstand des Kunstwerks, Wangen und im Deutschland-Trikot, lich ist, neue Personen- denkmäler aufzustellen die anderen an den Schenkenden. das übrigens rasch entwendet wurde. – und dann auch noch ein Während der Aufstellungsort in Wup- Im Hintergrund war in drei Sprachen so monumentales.“ pertal in unmittelbarer Nähe zum En- zu lesen: „Fußballfans aller Länder, wir 30 Die Untere Denkmal- schutzbehörde führt die gels-Haus nicht infrage gestellt wurde, grüssen euch.“ Zwei Jahre später leg- Eigenschaft des Monu- polarisierte in Trier die Entscheidung, ten Anhänger des Chemnitzer FC dem ments als „touristische Hauptattraktion“ – neben vom ursprünglich anvisierten, dann Monument zum 50. Geburtstag ihres weiteren Punkten – als Begründung für seinen aber als zu klein erachteten Platz in Vereins einen Fan-Schal im Großfor- Verbleib im öffentlichen der Nähe des Geburtshauses auf den mat um. Rund um das inklusive Sockel Raum an, vgl. Beiersdorf, Krise, S. 76. Simeonstiftplatz auszuweichen, der mehr als 13 Meter hohe31 Wahrzeichen 31 Die Porträtbüste ist nach einem mit Trier eng verbundenen der Stadt fanden nicht nur wie ur- sieben Meter, der kubische Heiligen benannt ist. Auch die Größe sprünglich geplant politische Kundge- Sockel sechs Meter hoch, vgl. Beiersdorf, Krise, der neuen Skulptur, die zunächst mit bungen, sondern auch Musikfestivals, S. 73.

14 Skate-Events und Kunstaktionen statt.32 fige aus Bauzäunen, die er Kunstschaf- 32 Vgl. Frank Harnack, Alles Gute zum 45., lieber „Kapitalisierung und Banalisierung des fenden zur kreativen Nutzung überließ. Nischel!, https://www. originalen Monuments fanden bislang Mit Marx habe dies allerdings nichts zu tag24.de/nachrichten/ 35 alles-gute-zum-45-lieber- 2009 ihren Höhepunkt, als ein schwe- tun, räumte Huber ein. nischel-chemnitz-karl- discher Möbelkonzern mit Genehmi- Zur Debatte stand der Verbleib des marx-171198, 09.10.2016 (letzter Zugriff: 15.08.2017); gung des Stadtrats zu Werbezwecken für Marx-Monuments in den Jahren unmit- Jan Schmiedel, The vier Wochen einen acht mal fünf Me- telbar nach der Wende. Aufgrund der ‚Nischel‘ says: „Fußball- fans aller Länder, grüßt ter großen Verkaufskatalog Karl Marx „lateralen Bedeutungsverschiebung“, der euch!“ (at least it should), http://tucjournal.weebly. zur Lektüre vorlegen durfte“, urteilt die die Bronzeplastik unterlag und die Leo- com/chemnitz, 06.12.2014; Kunsthistorikerin Leonie Beiersdorf. nie Beiersdorf in ihrer Forschungsarbeit Florian Nussdorfer, Zum Geburtstag ein Schal für Die Einnahmen aus dieser Reklameak- über „Ostdeutsche Erinnerungszeichen Karl Marx, https://fanzeit. tion in Höhe von 25 000 Euro flossen nach 1989“ darstellt, sind derlei Diskus- de/zum-geburtstag-ein- schal-fuer-karl-marx/26914, in die Sanierung des Sockels.33 Künst- sionen im heutigen Chemnitz versiegt.36 16.01.2016; Jana Peters, lerisch wertvoller waren die Pläne, das Spannend ist daher nur noch die Frage, Warum Marx von Käfigen umgeben wird, https:// Monument zur Ausstellung „Skulptur was aus dem von einem Künstlerkollektiv www.freiepresse.de/ LOKALES/CHEMNITZ/ Projekte Münster“ in Westfalen zu zei- um die Chemnitzer Volker Beier (* 1943) Warum-Marx-von-Kaefigen- gen oder in einen Block aus Trübeisqua- und Heinz Schumann (* 1934) geschaf- umgeben-wird-artikel99 56736.php#, 21.07.2017 dern einzufrieren, die jedoch aus kon- fenen „Proletarier-aller-Länder“-Schrift- (letzte Zugriffe: 21.11.2017); servatorischen Überlegungen heraus feld wird, das sich im Hintergrund des Beiersdorf, Krise, S. 73-76. 33 Vgl. Beiersdorf, keine Realisierung erfuhren. Umgesetzt Denkmals befindet. Es ist angebracht an Krise, S. 76, 88, Anm. 189. wurde 2008 das Vorhaben, das Denk- einem Behördenhaus hinter dem Monu- 34 Den Transfer nach mal mit Stoff zu umhüllen. Im Rahmen ment, in dem einst die SED-Bezirkslei- Münster schlug der litauische Konzeptkünstler der Aktion „Temporary Museum of Mo- tung ihren Sitz hatte und dessen Abriss Deimantas Narkevičius dern Marx“ stellten Studierende aus die Chemnitzer Oberbürgermeisterin (* 1964) im Jahr 2007 vor, das Projekt „FROZEN- Schneeberg und Linz unter der Leitung Barbara Ludwig (SPD) im Sommer 2017 MARX“ entwickelte Andreas Bartsch (* 1958) des Direktors der Neuen Sächsischen vorschlug. Ihr Motiv: Das Marx-Denk- 2005. Vgl. Beiersdorf, Galerie Mathias Lindner um das Mo- mal soll besser zur Geltung kommen. Krise, S. 76-78, und https://report-barrierefrei. nument herum ein mit Stoff bespann- Doch zunächst war im Stadtrat erst ein- de/2018/08/22/temporary- tes Gerüst auf. Im Innern begegneten mal eine Aufwertung des Areals um den museum-of-modern-marx/ (letzter Zugriff: 29.08.2018). die Besucherinnen und Besucher über „Nischel“ durch die Neubepflanzung der 35 Vgl. Jana Peters, Treppen dem Bronze-Marx „auf Augen- Grünflächen Thema, schließlich standen Warum Marx von Käfigen 34 umgeben wird, https:// höhe“. Im Sommer 2017 installierte 2018 zwei Jubiläen bevor: An Marx‘ 200. www.freiepresse.de/ der Künstler Florian Huber (* 1985) als Geburtstag sprach die Bronzeskulptur LOKALES/CHEMNITZ/ Warum-Marx-von-Kaefigen- Auftakt zum Festival für urbane Kunst mittels einer Ton- und Lichtanimation, umgeben-wird-artikel99 „Ibug“ rund um Kerbels Monument Kä- für die das Stadtmarketing gesorgt hat- 56736.php#, 21.07.2017 (letzter Zugriff: 21.11.2017). te, zu über 500 Besucherinnen und Be- 36 Vgl. Beiersdorf, Krise, suchern, über „Klamotten“ aus Bangla- S. 75f.; Toni Jost, Bauen für die Ewigkeit. Das Ensem- desch und Fachkräftemangel in Sachsen. ble „Zentraler Platz“ von www.lvz.de/Region/ „Nischel“, https://www. Zur Feier des 875. Stadtjubiläums unter Chemnitz/Karl-Marx-Stadt, Mitteldeutschland/Haus- sz-online.de/sachsen/ in: archimaera, Dezember dem Motto „Chapeau Chemnitz“ lüftete hinter-dem-Chemnitzer- hunderte-feierten-am- 2011, S. 59-74, hier S. 71f. Nischel-soll-abgerissen- nischel-3931122.html, Marx am letzten Mai-Wochenende 2018 Jost ist gar der Auffas- werden, 18.07.2017; Tors- 06.05.2018; Marx trägt sung, das Denkmal und einen vier Meter hohen aufblasbaren Zy- ten Schilling, Blümchen Hut: Chemnitz feiert 875 sein Umfeld hätten sich „in für Karl Marx zum Stadt- Jahre mit „Hutfestival“, linder.37 den vergangenen jubiläum, https://www. https://www.freiepresse. zwei Jahrzehnten zu einer tag24.de/nachrichten/ de/NACHRICHTEN/ Derweil hat das Basketball-Team „Ni- ‚Heiligen Kuh‘ entwickelt, chemnitz-stadt-bluemchen- SACHSEN/Marx-traegt- über die man nicht de- ners Chemnitz“, das in der 2. Bundes- fuer-karl-marx-zum- Hut-Chemnitz-feiert- battiert.“ (ebd., S. 72). stadtjubilaeum-nischl-265 875-Jahre-mit-Hutfestival- liga (ProA) spielt, den Trierer Philoso- 37 Vgl. Haus hinter dem 347, 06.06.2017 (letzte artikel10213832.php, phen als Maskottchen „Karli“ für sich Chemnitzer „Nischel“ soll Zugriffe: 21.11.2017); 22.05.2018 (letzte abgerissen werden, http:// Hunderte feierten am Zugriffe: 18.06.2018). entdeckt: Seit 2016 begleitet eine 2,20

15 Meter große Stoffpuppe mit Rausche- „history“ und „memory“ und betonte: 39 Vgl. Katja Colmenares: PR-Gag? Hier wird Karl bart die Matches der Mannschaft vom „When you alter monuments, ‚you’re not Marx zu Charlie Brown, Spielfeldrand aus.38 changing history […] You’re changing https://www.bz-berlin.de/ berlin/mitte/pr-gag-hier- 42 In Berlin-Mitte erfuhr das Marx-En- how we remember history.‘“ Ian Buru- wird-karl-marx-zu-charlie- gels-Denkmal von Ludwig Engelhardt ma, Professor für Demokratie, Menschen- brown, 20.12.2015 (letzter Zugriff: 18.06.2018). Zu (1924–2001) einen Höhepunkt kommer- rechte und Journalismus am New Yorker weiteren Vereinnahmun- zieller Verfremdung – anders als in Chem- Bard College, schrieb im selben Kontext: gen von Karl Marx für Werbezwecke vgl. die nitz nicht mit Genehmigung städtischer zahlreichen Beispiele im Ausstellungskatalog Behörden, sondern als Guerilla-Marke- „Das Problem ist, dass Geschich- „Ikone Karl Marx“. ting-Aktion: Just zum Kinostart des „Pea- te nicht immer neutral ist. Sie 40 Die Konföderierten- nuts“-Films verwandelte sich im Dezem- kann noch immer Gift verströmen. Armee kämpfte während des Amerikanischen ber 2015 Charlie Marx in Charlie Brown Die Weise, wie wir Geschichten Bürgerkriegs für die Bei- – durch einen gelben Strickpullover mit behaltung der Sklaverei in unserer Vergangenheit erzählen den Südstaaten und Lee dem typischen schwarzen Zickzack-Mus- und Erinnerungen in kulturellen war ihr Oberbefehlshaber, vgl. Ian Buruma, Statuen ter, der der sitzenden Marx-Skulptur über- Artefakten am Leben erhalten, zu stürzen ist auch keine gestreift worden war.39 macht einen großen Teil unseres Lösung. Wie umgehen mit Denkmälern, die Schurken kollektiven Selbstverständnisses feiern?, http://www.ipg- aus. Dies verlangt ein gewisses journal.de/kommentar/ artikel/statuen-zu- Tödliche Brisanz – Streit Maß an Konsens, das häufig nicht stuerzen-ist-auch-keine- loesung-2279/, um Geschichtsbilder existiert, insbesondere nach ei- 07.09.2017 (letzter Zugriff: und Erinnerungskultur in nem Bürgerkrieg.“43 25.06.2018). Denkmalsform 41 Vgl. Hubert Wetzel, In Amerika tobt ein Geschichtsbilder und Erinnerungskultur Kulturkampf um Reiter- Doch das Spektrum des Umgangs mit wandeln sich mit der Zeit, sie überho- standbilder, http://www. sueddeutsche.de/politik/ Denkmälern im öffentlichen Raum reicht len sich, sie können sogar verschwin- gewalt-in-charlottesville- in-amerika-tobt-ein- von kommerziell motivierter Banalität den wie die Historikerinnen und His- kulturkampf-um- bis zu tödlichem Ernst. In der US-ame- toriker, die sie prägten. Ironisch-lapidar reiterstandbilder-1.362 6668, 13.08.2017; Oliver rikanischen Kleinstadt Charlottesville formulierte dies der Geschichtsphilo- Laughland, White natio- versammelten sich am 12. August 2017 soph Siegfried Kracauer (1889–1966), nalist Richard Spencer at rally over Confederate Hunderte Rechtsradikale, um gegen den als er den Protagonisten seines 1928 statue‘s removal, https:// Abbau eines Reiterstandbilds des Konfö- erschienenen Romans „Ginster“ die Re- www.theguardian.com/ world/2017/may/14/ derierten-Generals Robert Edward Lee40 volution von 1918/19 erleben ließ: „Ge- richard-spencer-white- nationalist-virginia- zu protestieren, den der Stadtrat im April wöhnlich starben allerdings die Histo- confederate-statue, 2017 beschlossen hatte. Als ein Fahrzeug riker weg und ließen die Geschichte in 14.05.2017; Sebastian 44 Gierke, Was in Charlottes- absichtlich in eine Gruppe von Gegen- Denkmalsform übrig.“ ville passiert ist, http:// demonstrantinnen und -demonstranten www.sueddeutsche.de/ politik/ausschreitungen- gesteuert wurde, starb eine Frau; im Laufe in-charlottesville-was- des Wochenendes wurden mindestens 35 in-charlottesville-passiert- ist-1.3627267, 13.08.2017 Menschen verletzt.41 Die blutigen Aus- (letzte Zugriffe: einandersetzungen zeigen, wie brisant 14.08.2017). 42 Zit. nach Jennifer der Umgang mit Statuen im öffentlichen 38 Vgl. Niners werben Schuessler, Historians Raum bis heute ist, und das weltweit – ein jetzt mit Karl Marx, in: Question Trump‘s Com- Chemnitzer Morgenpost, ments on Confederate Aspekt, den auch Winfried Speitkamp in 29.08.2016. In - Monuments, https:// Babelsberg ist das „KarLi“ seinem Beitrag thematisiert. Der Histori- nyti.ms/2vCapJo, Schauplatz der Spiele 15.08.2017 (letzter Zugriff: ker James R. Grossman von der American des Fußball-Erstligisten 18.06.2018). Turbine Potsdam und des 43 Buruma, Statuen. Historical Association verwies in Zusam- Regionalligisten SC Babels- menhang mit den Ereignissen von Char- berg 03, hier steht der 44 Siegfried Kracauer, Kosename allerdings für Ginster, Frankfurt am Main lottesville auf den Unterschied zwischen „Karl-Liebknecht-Stadion“. 2013 [zuerst 1928], S. 320.

16 ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. 45 Im Oktober 2017 lud Herunter vom Sockel – das Zentrum für Zeit- Denkmäler und Berühren Die Feministin und Aktivistin Caroline historische Forschung Criado-Perez stellte bei der Untersu- Potsdam gemeinsam mit im doppelten Sinne dem Brandenburgischen chung britischer Skulpturen fest: Landesamt für Denkmal- pflege und Archäologi- Wie also umgehen mit dem, was „in schen Landesmuseum Denkmalsform übrig“ bleibt? Eine Fra- „Out of the 925 statues I coun- zu einer Tagung mit dem Titel „Kommunismus ge, die sich auch an die Denkmalpflege ted in the Public Statues and unter Denkmalschutz? richtet und jüngst von Fachleuten aus Monuments Association data- Denkmalpflege als his- torische Aufklärung ein“, Denkmalschutz und Zeitgeschichte base, I found that 632 were of in deren Verlauf unter breit diskutiert wurde.45 Eine pragma- anderem Veränderungen men. Of those that were women, von Denkmälern und tische Antwort liefert die 2016 eröffne- the vast majority are allegorical ihren Bedeutungen, die aktuellen Entwicklun- te Dauerausstellung „Enthüllt. Berlin or figurative nudes – often the- gen in Polen und das und seine Denkmäler“ im Proviant- re as adoring muses positioned Schweriner Lenin-Denk- mal Thema waren. Der magazin der Zitadelle Spandau. Sie alongside historical men such as Tagungsbericht ist zu zeigt politische Denkmäler, die zu Zei- Shakespeare or Virgil. Only 25 finden unter https:// www.hsozkult.de/ ten des Kaiserreichs, des NS-Regimes (2.7 per cent) of Britain’s statues conferencereport/id/ und der DDR charakteristisch für die are of a non-royal woman who tagungsberichte- 7415 (letzter Zugriff: Metropole waren und später aus dem actually existed.” 19.06.2018). Stadtbild verschwanden, darunter der 46 http://www.zitadelle- berlin.de/museengalerien/ Kopf des Friedrichshainer Lenin-Denk- Criado-Perez beschloss, für eine Statue enthullt/ (letzter Zugriff: mals. Die Werke werden musealisiert, zu kämpfen, die die Anführerin der 21.06.2018). gelangen aus dem Stadtraum ins Stadt- Frauenwahlrechtsbewegung Millicent 47 Vgl. Megan McClus- key, Harvey Weinstein museum, aus dem Freien ins Geschlos- Garrett Fawcett zeigt und die am Lon- „Casting Couch“ Statue sene. Sie haben ihre unantastbare Aura doner Parliament Square aufgestellt Pops Up in Hollywood, http://time.com/5183007/ als Kunstobjekte verloren: „Was sonst wird, denn sie war „horrified (if not harvey-weinstein-casting- im Museum nicht möglich ist: Hier that shocked) to notice that out of the couch-statue/, 02.03.2018 (letzter ist Berühren in den meisten Fällen er- eleven statues scattered around it, not Zugriff: 25.06.2018). laubt“, heißt es auf der Website der Zi- a single one was of a woman.”48 48 Caroline Criado- 46 Perez, Why I campaigned tadelle. Wie das Beispiel der Weinstein-Skulp- for a feminist statue out- Provokant umgedreht hat dieses Prin- tur am Hollywood Boulevard oder der side Parliament. Women need to be seen – and zip das Duo Plastic Jesus und Joshua Berliner Marx im Peanuts-Pullover heard – in our public „Ginger“ Monroe. Die beiden Straßen- zeigen, sind bei der Auseinanderset- spaces, http://www.ips- journal.eu/opinion/article/ künstler errichteten 2018 wenige Tage zung mit Kunstwerken im öffentlichen show/why-i-campaigned- for-a-feminist-statue- vor der Oscar-Verleihung auf dem Holly- Raum die Übergänge zwischen Wis- outside-parliament-2413/, wood Walk of Fame in Los Angeles eine senschaft und Populärkultur fließend. 10.11.2017 (letzter Zugriff: 25.06.2018). lebensgroße, goldfarbene Skulptur des Karl Marx ist seit Langem in der Popu- 49 Auf der Vorderseite Filmproduzenten Harvey Weinstein, lärkultur angekommen, das zeigt auch mit dem Spruch „Wir die ihre linke Hand zur Berührung der Beitrag von Karl Schawelka in die- sind unschuldig“, auf der Rückseite mit der Zeile ausstreckt. Weinstein, dem sexuelle sem Band. Schawelka erwähnt darin „Beim nächsten Mal Übergriffe und Belästigungen in viel- Engelhardts Berliner Doppeldenkmal, wird alles besser“ in Großdruckbuchstaben, facher Zahl vorgeworfen werden, wird dessen Sockel nach der Wende gleich beide Seiten abgebildet 49 in Iring Fetscher, Karl im Bademantel mit freiem Oberkörper von zwei Seiten besprüht wurde. Marx, in: Etienne François/ auf einem Sofa sitzend dargestellt, das Und so sei zum Abschluss dieser Ein- Schulze (Hrsg.), 47 Deutsche Erinnerungs- Kunstwerk heißt „Casting Couch“. führung an eine weitere popkulturelle orte. Eine Auswahl Während hier implizit der Missbrauch Auseinandersetzung mit dem Thema (Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für von Frauen in Denkmalform angepran- erinnert. 2003 beschloss die Pop-Rock- politische Bildung), Bonn gert wird, gilt es andernorts, Leistun- Band „Wir sind Helden“, mit verein- 2005, S. 158 – 176, hier S. 175. gen von Frauen in Form von Statuen ten Kräften einem Denkmal zu Leibe

17 zu rücken, und spiegelte dabei gängige auf die rechtsgerichteten Demonstra- Umgangsformen mit Denkmälern im tionen und Ausschreitungen veranstal- öffentlichen Raum wider: teten. Schlussendlich fand das Konzert an einem anderen Ort in Chemnitz „Hol den Vorschlaghammer!/ Sie statt, doch vor dem „Nischel“ traten haben uns ein Denkmal gebaut/ DJs auf.52 Am Sockel und hinter dem Und jeder Vollidiot weiß, dass Marx-Monument erschienen Spruch- das die Liebe versaut/ Ich werd‘ bänder mit der Aufschrift „CHEMNITZ IST WEDER GRAU NOCH BRAUN“.53 50 Zit. nach https:// die schlechtesten Sprayer die- genius.com/Wir-sind- ser Stadt engagier’n/ Die soll‘n In Neubrandenburg haben sich derweil helden-denkmal-lyrics. Das Lied „Denkmal“ nachts noch die Trümmer mit Pa- Finanziers für die Wiederaufstellung erschien 2003 auf dem rolen beschmier‘n“.50 der Marx-Statue von Gerhard Thieme Album „Die Reklamation“ bei dem Label EMI Music gefunden, und das Stadtparlament hat und wurde am 19. Januar im September 2018 beschlossen, diese 2004 als Single ausge- koppelt, vgl. https://de. Postskriptum private Spende anzunehmen. Noch in wikipedia.org/wiki/ diesem Jahr soll die Skulptur außer- Die_Reklamation (letzte Zugriffe: 25.06.2018). Jetzt, im Herbst 2018 bei der Durch- halb des Stadtzentrums in der Nähe 51 Zit. nach Anne Hähnig sicht der Druckfahnen, lesen sich eini- des Friedrich-Engels-Rings aufgestellt u.a., Rechtsextreme 54 Gewalt in Chemnitz. ge Texte des vorliegenden Bands anders werden. Die Auseinandersetzung mit Regiert der Mob?, https:// als noch im Juni 2018, als dieses Manu- Marx-Denkmälern bleibt spannend, bri- www.zeit.de/2018/36/ rechtsextreme-gewalt- skript seinen Abschluss fand. Gerade- sant und hochaktuell. chemnitz-regierung- zu prophetisch formulierte Winfried mob-schock/seite-3, 29.08.2018 (letzter Speitkamp 2016 in seinem Beitrag: Zugriff: 25.10.2018). „Chemnitz zeigt, wie ein politisches 52 Vgl. #wirsindmehr in Chemnitz. 65.000 bei Zeichen der DDR zur lokalen Identität Dr. Britta Marzi erforschte in ihrer Konzert gegen Rechts, auch jenseits des Sozialismus beitragen Dissertation an der Freien Universi- https://www.tagesschau. de/inland/chemnitz- konnte.“ Irritierend und verstörend tät Berlin das Theater in der Provinz wirsindmehr-101.html, wirkten die rechtspopulistischen und vom Kaiserreich bis zum National- 03.09.2018 (letzter Zugriff: 25.10.2018). rechtsradikalen Demonstrationen und sozialismus. Parallel arbeitete sie am 53 Ein Foto davon ist Aufmärsche in Chemnitz nach dem Jüdischen Museum Berlin und bei der zu finden unter https:// de.wikipedia.org/wiki/ tödlichen Angriff auf einen Stadtfest- Architekturausstellung „MIES 1:1 Das Ausschreitungen_in_ besucher im August 2018, der mutmaß- Golfclub Projekt“ über Ludwig Mies Chemnitz_2018#/media/ File:Karl-Marx-Denkmal_- lich von Asylsuchenden unternommen van der Rohe. Seit 2015 ist sie im Ar- _Aktionsb%C3%BCndnis_ wurde. Eine rechtsradikale Fangrup- chiv der sozialen Demokratie der Fried- Chemnitz_ist_weder_ grau_noch_braun_(1).JPG pe des Chemnitzer FC forderte „ALLE rich-Ebert-Stiftung im Projekt „Marx (letzter Zugriff: 29.10.2018). Chemnitz Fans und Sympathisanten 2018“ tätig. 54 Comeback für Karl- Marx-Statue in Neubran- auf sich mit uns heute den 26.08.2018 denburg, https://www. um 16:30 vorm Nischel zu treffen!“ ndr.de/nachrichten/ mecklenburg-vorpommern/ 51 (sic). Damit diente das sozialistische Comeback-fuer-Karl-Marx- Denkmal als Treffpunkt von Rechtsex- Statue-in-Neubrandenburg, karlmarx158.html, tremen. Umso treffender klingt ein Zitat 06.09.2018; Neubran- denburg: Marx soll am aus Karl Schawelkas Beitrag: „Der Be- Schwanenteich stehen, darf an Kulissen, um bestimmte Aktio- https://www.ndr.de/ nachrichten/mecklenburg- nen bild- und denkwürdig zu machen, vorpommern/ ist ungebrochen.“ Nur wenig später Neubrandenburg- Marx-soll-am- sollte der „Nischel“ zur Kulisse für das Schwanenteich-stehen, Rockkonzert „#wirsindmehr“ werden, karlmarx160.html, 24.10.2018 (letzte das verschiedene Bands als Reaktion Zugriffe: 25.10.2018).

18 Anne Longuet Marx Geschichte und Politik im Werk von Karl-Jean Longuet (1904 – 1981)

Festrede anlässlich der Enthüllung seiner Marx-Büste am 6. Mai 2016 in Trier

Bevor ich etwas zu dieser Büste sage, ende die Führung der minoritaires (Min- möchte ich zunächst ihren Schöpfer in derheitler), einer pazifistischen Strömung unserer Familiengeschichte einordnen, innerhalb der französischen sozialisti- und dann – nach einem kurzen bio- schen Bewegung. Jean Longuet ist außer- grafischen Abriss – zeigen, in welcher dem einer der wenigen Sozialisten, die Weise sich der Bildhauer mit der poli- seit dem Beginn des Jahrhunderts ein tischen Geschichte seines Jahrhunderts Gespür für die Frage der Kolonialisierung auseinandergesetzt hat.1 entwickeln. Schließlich macht er sich, seit Karl-Jean Longuet ist Nachkomme drei- 1933 Antifaschist und Minderheitler in er Generationen von Männern, die sich allen politischen Auseinandersetzungen, dem Denken und Handeln in Schrift zum Verteidiger der spanischen Republik und Wort verpflichtet hatten: von Karl gegenüber der Nichteinmischungspoli- Marx, von Charles Longuet, dem Jour- tik des Front Populaire (Volksfront) von nalisten und Mitglied der Pariser Kom- Léon Blum. Als Bürgermeister von Châ- mune, der als Geflüchteter in London tenay-Malabry bei Paris nimmt er Ge- Marx begegnet und dessen älteste Toch- flüchtete auf und wird zum Fürsprecher ter Jenny heiratet, schließlich von Jean von zahlreichen Sozialisten, die aus ganz Longuet, seinem Vater (Abb. 1.1). Europa kommen, und das bis zu seinem Letzterer ist Journalist, Gründer und Tod im Jahr 1938. Leiter der Tageszeitung Le Populaire, Minderheitler in allen politischen Aus- engagiert sich als Rechtsanwalt und einandersetzungen: Was heute noch Friedensaktivist an der Seite von Jean von den politischen Überzeugungen Jaurès, ist verantwortlich für die inter- des Jean Longuet Geltung behält, sind nationale Politik der Partei SFIO (der vermutlich seine freiheitliche Gesin- 1 Der Festvortrag wurde „Französischen Sektion der Arbeiter- nung, seine Unabhängigkeit, seine klare für den Abdruck an eini- Internationale“). Im Abgeordnetenhaus Sicht der Dinge, sein Mut und sein Fest- gen Stellen überarbeitet und ergänzt. übernimmt er von 1915 bis zum Kriegs- halten an einer bestimmten Vorstellung

19 von militanter Menschlichkeit. Und Ab 1914 besucht Karl-Jean das Lycée man muss zweifelsohne seinen geringen Lakanal. Die Familie war nach Châte- Einfluss von damals als analytische Kraft nay-Malabry gezogen, wo Jean Longuet von heute durchdenken. Sein Archiv und von 1925 bis zu seinem Tod 1938 Bür- seine Bibliothek – die kürzlich ins Na- germeister sein wird. Mit Kriegsbeginn tionalarchiv aufgenommen worden sind behandelt man Karl-Jean als „quart-de- – können nun von der jüngeren Genera- boche“ (abwertend etwa: Vierteldeut- tion der Historikerinnen und Historiker scher) – nicht nur wegen seines Ur- erforscht werden. Eine Ausstellung über großvaters, sondern vor allem, weil sein Jean Longuet war im Mai 2016 in der Vater als Abgeordneter des Seine-Depar- Bibliothek der Pariser Elitehochschule tements die pazifistische Position der Sciences Po (gebräuchlicher Name für das Minderheitler vertritt, die Position des Institut d‘études politiques de Paris) zu Kriegsgegners Jean Jaurès. sehen. Die Büchersammlung Jean Longu- Das familiäre Umfeld ist geprägt von ets wird in der Bibliothek von Sciences Po Intellektuellen, die sich aktiv engagie- in der Rue Saint-Guillaume aufbewahrt. ren (und in ständigem Gedankenaus- Jene freiheitliche Gesinnung und Un- tausch mit Deutschen, Österreichern abhängigkeit hat Karl-Jean ererbt und und Engländern stehen) und sich sehr sie haben ihn geformt. Mit dem bemer- für Kunst und Literatur interessieren. kenswerten Unterschied, dass er sich Man führt ein offenes Haus und emp- weder durch das Wort noch durch Ak- fängt neben Aktivisten aus ganz Europa tivismus in dieser Welt engagiert, son- unter anderem die Schriftsteller Anato- dern mit den Mitteln der Kunst, wobei le France, Romain Rolland und George er mit höchster Aufmerksamkeit auf die Bernard Shaw. ihn umgebende Welt reagiert und sich Für das Jahr 1926 bescheinigen Zeitungs- einzubringen weiß, wenn die Situation ausschnitte Karl-Jean Longuet einen kur- es erfordert. Wahrscheinlich musste zen Auftritt als Karikaturist. 1927 tritt er nach drei Generationen eine neue Art in die École des Arts décoratifs (Kunstge- der Einmischung in den Weltenlauf ge- werbeschule) ein, besucht dann ab 1929 funden werden. an der Akademie der Schönen Künste in Paris das Atelier von Jean Boucher. 1930 stellt er auf dem Salon des Indé- Kurzer Lebenslauf pendants (Salon der Unabhängigen) die Karl-Jean Longuets Büste des Rechtsanwaltes César Cam- pinchi aus, der als erster gegen die Karl-Jean Longuet wird am 10. November Todesstrafe auftritt. Karl-Jean Longu- 1904 in Paris geboren. Sein sehr kunst- et stellt daneben in anderen Galerien interessierter Vater schickt dem Sohn von eine ganze Reihe von Skulpturen und seinen politischen Konferenzen in den Büsten aus, darunter eine erste von Hauptstädten Europas Reproduktionen Marx (Abb. 1.2). 1935 modelliert er von Kunstwerken mit eigenen Erläute- eine vielbeachtete Büste des deutschen rungen zu. Dies ist ein erstes Zeugnis sei- Philosophen Bernard Groethuysen, der ner Methode, den Sohn für Kunst zu in- nach Frankreich geflüchtet war und teressieren. Rembrandt spielt dabei eine den Kongress der antifaschistischen wichtige Rolle. Des Weiteren sammelt er Intellektuellen in Paris organisiert hat- Werke von Malern und Radierern, von te. Im gleichen Jahr beginnt er mit der Honoré Daumier, Théophile-Alexandre Arbeit an einer zweiten und dritten Steinlen und von Zeitgenossen. Marx-Büste.

20 Er arbeitet weiter an Akt- und Porträt- gen, aus Algier nach Paris gekommenen studien (Abb. 1.3) mit einer Sensibili- AFP-Journalistin, deren künstlerisches tät, die der eines Aristide Maillol nahe Empfinden sehr weit von dem entfernt kommt, beginnt sich aber auch mit dem ist, was seine erste Schaffensphase ge- zu beschäftigen, was im Zentrum seines kennzeichnet hat. Tatsächlich wird sie Schaffens stehen sollte: dem Dialog mit angetrieben von einer Faszination für der Architektur. die damals sogenannte Primitive Kunst. 1938 stirbt sein Vater an den Folgen Diese Begegnung hat eine nicht un- eines Autounfalls. Im Jahr 1939 stellt er erhebliche Wirkung auf Longuet, der zusammen mit Ossip Zadkine auf dem seitdem seine eigene künstlerische Aus- ersten Salon des sculpteurs contemporains drucksweise entwickelt und entschieden aus, einer Ausstellung für zeitgenös- aus der klassischen Tradition ausbricht. sische Skulptur. Ab 1940 – nach einer Der Chefkonservator des National- Hausdurchsuchung bei seiner Mutter – museums für Moderne Kunst in Paris beginnt sich die französische Polizei für erkennt dies gleich, als er zwei bedeu- Karl-Jean Longuet zu interessieren. Mit tende Skulpturen dieser Periode (Frau, knapper Not entzieht er sich einer Ver- Granit, 1948 und Paar, Granit, 1952) haftung und reist nach Marseille. in sein Museum aufnimmt. In dieser 1942 kehrt Longuet nach Paris zurück Periode der allmählichen Hinwendung in sein Atelier. Der Untergrund-General- zur Abstraktion erschafft Karl-Jean Lon- stab der Widerstandsgruppe Französische guet auch die Büste, deren Aufnahme Streitkräfte im Inneren (Forces françaises ins Museum Karl-Marx-Haus wir heute de l’Intérieur – FFI) tagt in seinem Atelier Abend feierlich begehen (Abb. 1.4). oder in seiner Wohnung; die Losung Ab 1952 beginnt eine Zeit der intensi- lautet „terre cuite“ – „Terrakotta“. ven Zusammenarbeit mit Architekten, Karl-Jean Longuet beginnt, an einem die bis zu seinem Tod 1981 fortdauert. großen Flachrelief zu arbeiten. Dabei Seine künstlerische Ausdrucksweise kon- bemüht er sich um eine starke Verein- solidiert sich und orientiert sich hin zur fachung der Flächen, die eine neue Pe- abstrakten Form. Sein Gesamtwerk ist riode seines künstlerischen Ausdrucks nunmehr Teil der wichtigsten Samm- ankündigt. lungen moderner Kunst, und das Centre Wie für viele Künstler dieser Generation Pompidou plant, weitere Werke in sei- stellt die Nachkriegszeit eine entschei- ne Sammlungen aufzunehmen. Näher dende Wende auch in seinem Schaffen an Trier befinden sich einige wichtige dar. Sein Bezug zur Figürlichkeit ändert Werke im neuen Museum Unterlin- sich in dieser Zeit beträchtlich. 1946 den in Colmar, vor allem sein letztes, entdeckt er Constantin Brancusis Werk eine imposante Porte de la Nuit (Tür zur in dessen Atelier. Es sei „dessen Rück- Nacht) von drei Metern Höhe. kehr zur wesentlichen Form, zu den ursprünglichen Formen der Natur“, die ihn interessiere. Im Juli stellt er in der Kunst und Geschichte Galerie Roux-Hentschel die Marseillaise der Befreiung aus, gemeinsam mit Fernand Karl-Jean Longuet wählt einen ande- Léger, dem Surrealisten Oscar Dominguez ren Weg als sein Vater und seine Groß- und mit Francis Gruber. väter, um Zeugnis von der Geschichte Genauso entscheidend wie die Entde- und ihren Schlachten abzulegen. Und ckung Brâncuss is ist 1946 seine Begeg- vielleicht bedurfte es auch nach dem nung mit Simone Boisecq – einer jun- ausschließlichen Kampf mit Worten

21 einer anderen Art der Auseinanderset- Eine erste wird 1930 auf dem Salon des zung mit der Welt. Es ist weniger die Indépendants vorgestellt – sie ist noch stark schlichte Sohnestreue als vielmehr an Rodin angelehnt. Heute befindet sich eine tiefe humanistische Überzeugung, ein Gipsabguss im Musée des Beaux-Arts die diesen Mann prägt und einen Teil in Reims; das Musée de l‘Histoire vivante seines Schaffens nährt, auf eine stille, in Montreuil besitzt eine Version in pa- aber hartnäckige Art. Was man auch als tiniertem Gips. Eine andere Fassung aus wahre Treue zu dem bezeichnen kann, dem Jahr 1936, weniger romantisch, mit was seine Vorfahren bewegt hat. vereinfachten Flächen und einer Tief- Longuet engagiert sich sehr früh in den gründigkeit des Blicks, wird verkauft und politischen Bewegungen seiner Zeit: verschwindet während des Krieges. Es Man sieht ihn als Befürworter der Re- sind Fotografien davon erhalten. Schließ- publik gegenüber einer gewalttätigen lich gibt es eine letzte Version vom An- Fraktion der extremen Rechten, die die fang der 1950er-Jahre – wahrscheinlich Republik bedroht, im Jahr 1934. Man die gelungenste und intimste von allen – sieht ihn als Unterstützer der bedroh- und das ist diejenige, die heute in dieses ten spanischen Republik, als Wider- Museum kommt. standskämpfer der Résistance im Krieg. Diese Büste ist genauso wenig wie die Man sieht ihn, in der Nachkriegszeit, ersten im Geist einer Heiligenverehrung gemeinsam mit seiner Frau Simone gestaltet, der die meisten Büsten großer Boisecq, zuerst die Algerier und dann Persönlichkeiten der Menschheit kenn- die Vietnamesen in ihren Unabhängig- zeichnet, besonders bei Darstellungen keitsbestrebungen unterstützen, und von Marx, dessen Kult bis zum Äußers- das zusammen mit anderen Künstlern ten getrieben wurde. Die üblichen Merk- und Intellektuellen. male sind ein paar Fertigungsklischees, Dieses unspektakuläre, jedoch anhalten- eine extreme Vereinfachung der Vorstel- de Engagement drückt sich in Handlun- lung, die man sich von der Darstellung gen, aber auch in seinem künstlerischen eines Genies macht: hohe Stirn, roman- Werk in zwei unterschiedlichen Arten tische und quasi messianische Haar- aus, die mit der Entwicklung seines pracht, kalter Blick einer Intelligenz, die künstlerischen Ausdrucks zusammen- zur unnachgiebigen Autorität wird. hängen. Im Hinblick darauf muss man wohl zu- Tatsächlich entspricht seine erste Schaf- geben, dass die ungeheuerliche Büste, fensphase, noch unter dem Einfluss von die sich auf Marx‘ Grab befindet, ein Auguste Rodin und Jean Boucher, einer Gipfel der Karikatur zwischen Plump- ersten künstlerischen Ausdrucksweise: heit der Darstellung und Klischee ist, Er gestaltet Porträtbüsten von in seinen mit dieser Mischung aus Brutalität und Augen großen Männern seiner Zeit, unpersönlicher Massivität. Persönlichkeiten der sozialistischen Be- Es ist eindrucksvoll zu sehen, in wel- wegung der 1920er-Jahre wie auch Jean chem Ausmaß der ideologische Diskurs, Longuet. mit dem das Werk befrachtet ist, den Betrachter daran hindert, das Gesicht zu sehen, als sei es von Propagandare- Die Marx-Büste den verschleiert. Diese Büsten blicken einen nicht an: Als ob die Konfronta- Die Büste jedoch, die sein Leben durch- tion mit diesem imponierenden Block zieht und die er mehrfach neu interpre- (im Falle von Marx akzentuiert durch tiert, ist die von Karl Marx (Abb. 1.5, 1.6). die charakteristische Mähne als Symbol

22 eines entschiedenen Freiheitsdrangs) seum für Kunst und Kunstgewerbe sind nur dazu auffordern würde, sich in De- 15 Werke aus Karl-Jean Longuets erster mut zu verbeugen. Schaffensphase ausgestellt, darunter das Ganz anders in der Tat das Porträt von Original aus Gips von der nun in Trier Longuet: Es verehrt keineswegs einen gezeigten Marx-Büste und eine Büste, Heiligen, sondern ist gekennzeichnet die den französischen Sklavereigegner von einer Art geheimnisvoller und stil- Victor Schœlcher zeigt. ler Präsenz, und vor allem von einer Von den Hommagen möchte ich eine tiefen Menschlichkeit. weitere Skulptur vorstellen, die – und Die fast abstrahierende Art der Ausfüh- das ist wesentlich – keine Auftragsarbeit rung der Haarfülle führt zu einer grö- war. Genau so wenig – das möchte ich ßeren Prägnanz des Gesichts, dessen betonen – wie die Marx-Büste, die bis Blick die Glätte des Gesichts erhellt wie heute kaum gezeigt worden ist. ein Licht in einem dunklen Wald. Das Es handelt sich also keinesfalls um Auf- Gesicht ist gestaltet wie eine Reihe von tragsarbeiten – was einer Heiligenver- Volumina, die das Licht einfangen und ehrung entsprechen könnte –, sondern zurückhalten. viel eher um das Aufscheinen von Ge- Longuet sucht die Intensität einer Prä- schichte im Werk. Das tragische Ende senz fühlbar zu machen und schließt des chilenischen Präsidenten Salvador sich in keinem Klischee der Darstellung Allende im Palacio de la Moneda im ein. Es ist ein Gesicht und gleichzeitig September 1973 beispielsweise schlägt ein Volumen; der Bildhauer verzichtet sich nur wenige Wochen später in einer auf nichts, was ihm bei seiner plasti- ersten Holzarbeit nieder: Er erscheint schen Erforschung wichtig ist; ein emp- als eine Gestalt, die sich aufrecht, mit findsames Gleichgewicht jenseits der erhobenen Armen, in energischem Wi- Ähnlichkeit – und diese Freiheit lässt derstand aufrichtet. gleichzeitig eine Präsenz entstehen. Im Jahr 1974 greift Longuet die Hom- mage wieder auf, diesmal in Gips, in gleicher Größe. Dabei führt die Holz- Die Hommagen skulptur zu der Vorstellung vom Baum, der vom Blitz getroffen wird, aber auf- Die andere Ausdrucksweise, die Longu- recht stehen bleibt. Schließlich nimmt et ab den 1950er-Jahren wählt, um Ge- er eine drei Meter hohe Großversion schichte zu bezeugen, ist völlig anders in Angriff. Diese Arbeit wird nach sei- geartet und steht in Beziehung zu seiner nem Tod in Bronze ausgeführt und in künstlerischen Entwicklung: Er arbeitet einem Park in Châtenay-Malabry auf- nicht mehr an gegenständlichen Port- gestellt (Abb. 1.8). räts, sondern an quasi-abstrakten Hom- Darüber hinaus setzt Karl-Jean Longuet magen (Huldigungsskulpturen), welche für die staatliche französische Münzprä- jedoch stets in großer Schärfe Augen- geanstalt Monnaie de Paris eine Porträt- blicke politischer Geschichte in Erinne- serie um, darunter Darstellungen von rung rufen. So etwa die Hommage an die Victor Schœlcher, der Dichter Anna de Pariser Kommune (Ausführung in Holz Noailles und Paul Éluard, von Musi- 1961, Ausführung in Stein 1971, vgl. kern wie Heinrich Schütz und den Söh- Abb. 1.7), welche vor dem Museum La nen Bachs, Johann Christian und Carl Piscine im nordfranzösischen Roubaix Philipp Emanuel Bach, und von dem seit dessen Wiedereröffnung im Okto- Dramatiker und politischen Aktivisten ber 2018 zu sehen ist. In diesem Mu- George Bernard Shaw.

23 Statt eines Schlusswortes

Selbstverständlich ist es für uns, seine Kinder, ein sehr bewegender Augen- blick, dieses Werk endlich an einem Ort aufgestellt zu sehen, wo es besser als an jedem anderen dem Menschen, dem Denker und vielleicht auch insgeheim dem Vorfahren die Ehre erweisen kann – und wo dieses Werk ganz einfach in dem Dialog leben kann, in den von nun an – so hoffen wir – jeder Besucher und jede Besucherin mit ihm treten wird.

Anne Longuet Marx (* 1958) ist die Toch- ter des Bildhauers Karl-Jean Longuet, einem Urenkel von Karl Marx. Sie ist Maître de conférences an der Université Paris 13 Sorbonne Paris Cité und forscht zu Bildender Kunst, Literatur, Theater und Tanz. 2011 wirkte sie an der Aus- stellung und dem Begleitkatalog „Karl- Jean Longuet et Simone Boisecq. De la à la cité rêvée“ mit. 2018 pub- lizierte sie den Band „Simone Boisecq. La période sauvage (1946–1960)“.

24 Frank Matthias Kammel Köpfe für die Ewigkeit

Die Bildnisbüste: Stellvertreterin und Medium des Nachruhms

Auf der Münchner Jubiläums-Kunstaus- Küsse der dankbaren Liebe […] auf die stellung von 1888 präsentierte der jun- kalten Lippen“.2 ge Hermann Kaulbach (1846–1909), der Kaulbachs Schilderung eines römischen Sohn des bekannten Historienmalers Kolumbariums mit Denkmalen, Asche- Wilhelm von Kaulbach (1805–1874), kisten und Urnen versucht eine pathos- ein Gemälde mit dem weihevollen Ti- gesättigte Vorstellung von der Sepulkral- tel „Unsterblichkeit“ (Abb. 2.1). Das kultur im antiken Rom, darüber hinaus unmittelbar nach der Schau von der von der in der Antike praktizierten Ver- Königlich-bayerischen Gemäldesamm- ehrung überragender Persönlichkeiten lung angekaufte und in die Neue Pina- zu vermitteln und zugleich erotische kothek überführte Werk des akademi- Erwartungen des zeitgenössischen Pub- schen Realismus erlangte mittels einer likums subtil zu befriedigen. Während Photogravüre von Franz Hanfstaengl das idealisierte Ambiente tatsächlich (1804–1877) und des Abdrucks in der auf Kenntnissen antiker Grabgewölbe „Gartenlaube“,1 dem damals vielgelese- fußt, ist der geschilderte Akt des Toten- nen bürgerlichen Unterhaltungsblatt, kults fiktiv. Allerdings fokussiert das noch im Entstehungsjahr weithin Popu- Motiv wesentliche Eigentümlichkeiten larität: Eine verschleierte, mithin trau- der in den Mittelpunkt des gezeigten 1 Eberhard Hanfstaengl, ernde Schönheit eilte mit Lorbeer und Geschehens gestellten Porträtbüste, Meisterwerke der Neuen Blütenkorb zum Grab des von ihr be- nämlich die Genesis der Gattung in der Pinakothek, Staatsgalerie und Schackgalerie in wunderten Dichters Catull und drückt Antike, die ihr eigene Kraft der unmit- München, München 1922, S. 114, 327; Die Garten- der in einer übergiebelten Nische auf- telbaren, weil körperhaften Vergegen- laube, Nr. 47, 1888, gestellten Porträtbüste aus Bronze noch wärtigung des Abgebildeten, ihren Cha- S. 801. vor dem Schmuck mit den Vegetabilien, rakter der plastischen Würdeform und 2 Ludwig Pietsch, Die Malerei auf der Münche- wie der Berliner Feuilletonist Ludwig den damit verbundenen Anspruch der ner Jubiläums-Kunst- Pietsch (1824–1911) damals rezensier- Heroisierung des Porträtierten. Tatsäch- Ausstellung 1888, München 1888, S. 18. te, mit hinschmelzendem Blick „heisse lich gilt die von Kaulbach geschilderte

25 Huldigung dem unsterblichen Genius meint, „dem Abwesenden und sogar des von der Büste Repräsentierten, doch Abgeschiedenen ein Gesicht zu geben, wird der Akt zunächst dem Bildwerk zu- seinen Namen mit Anschauung aus- teil. Ohne das physische Brustbild ist zustatten“,3 eignet dieses Potenzial der also die von ihm vorgeführte Handlung Porträtbüste in ganz besonderer Weise. körperlicher und erotischer Verehrung Sie schenkt dem Abwesenden Anwesen- undenkbar. heit. Ob ihrer materiellen Dauerhaftig- keit vermag sie die zeitliche Begrenzt- heit des menschlichen Lebens nämlich Körperhafte Gegenwart geradezu körperlich zu bannen. Sie verleiht dem Dargestellten – sowohl Auf ausgefallene Weise bezeugt dieses seiner physischen und physiognomi- imposante Werk die Büste als dreidi- schen Erscheinung, vielfach außerdem mensionale Wiedergabe des markantes- seiner politischen Bedeutung oder ge- ten und edelsten Teils der menschlichen sellschaftlichen Position, gegebenen- Gestalt, das trotz ihrer Partikularität falls auch seinen Wesenszügen und die ganze Person, die Persönlichkeit charakterlichen Eigenschaften – in der meint. Schließlich markiert der Büs- körperhaften Präsenz eine dauerhafte tenabschnitt im Sinn der platonischen Gegenwart und somit einen die Realität Seelenlehre die Grenze zwischen dem überbietenden „Zuwachs an Sein“.4 Sitz der Verstandeskräfte bzw. der See- In seinen 1763 verfassten „Bemerkun- le, und dem eigentlichen Leib, dem Be- gen über die Skulptur und über Bouchar- reich des Stoffwechsels und der Triebe. don“ konstatierte der Pariser Philosoph Das künstlerisch – insbesondere das in Denis Diderot (1713–1784): „Ein Ge- Lebensgröße – gestaltete Brustbild ver- mälde betrachte ich; mit einer Skulptur gegenwärtigt die wiedergegebene Per- muss ich reden!“5 Mit einem Bildwerk sönlichkeit schon aufgrund der Plasti- zu reden, heißt mit ihm Umgang zu zität in besonders eindrücklicher, weil pflegen wie mit einem lebendigen Men- haptisch präsenter Weise. In seiner schen. Die plastische Gattung, gegen- Stofflichkeit und in der körperlichen über der solches Verhalten am nächsten Fragmentierung eignen ihm daneben liegt, ist zweifellos das lebensgroße Port- aber auch Elemente der Entfremdung rät, da es einen Ansprechpartner sugge- im Sinne der Überhöhung des leben- riert. Es führt dem Betrachter nicht nur digen und damit des dem Verfall preis- – wie etwa das gemalte Konterfei – ein gegebenen, sterblichen Körpers. Somit Individuum vor Augen, sondern das Ab- ist das plastische Porträt zugleich von bild des Porträtierten steht ihm greifbar einer Distanz zur Realität gekennzeich- gegenüber und lässt sich haptisch im 3 Gottfried Boehm, net, die es zum Ausdruck der Würdi- Raum erleben. Zudem ist es prinzipiell Repräsentation – Präsen- tation – Präsenz. Auf gung erklärt, zur Wiedergabe des wenn auf das physische Pendant reduziert und den Spuren des Homo nicht wie in der Antike ins Überirdische verzichtet im buchstäblichen Sinn auf pictor, in: Homo pictor (Colloquium Rauricum 7), heroisierten, so doch zumindest des jedes etwa in ein Gemälde fassbares und München/Leipzig 2001, aufgrund seiner sozialen Stellung, von erklärendes Beiwerk, im Allgemeinen so- S. 3–13, hier S. 4. 4 Boehm, Repräsen- Verdiensten oder außergewöhnlichen gar auf die Farbe. Vor allem befindet sich tation, S. 4. Charaktereigenschaften herausragen- die Büste – in Abweichung zum zwei- 5 Denis Diderot, Bemer- den Menschen. dimensionalen Abbild mit seinem eige- kungen über die Skulptur und über Bouchardon, Wenn die vorzüglichste Eigenschaft nen Hintergrund und seinem eigenen in: Ders., Ästhetische des Bildnisses bereits im Allgemeinen Bildraum – in derselben Sphäre wie ihr Schriften, Frankfurt am Main 1968, S. 485–492, darin besteht, wie Gottfried Boehm Betrachter. So kommt ihr in der Wieder- hier S. 486.

26 gabe des Individuums eine Qualität der Diese beliebigen Beispiele dokumentie- Unmittelbarkeit zu, die der zweidimen- ren den Höhepunkt einer Entwicklung, sionalen Darstellung fehlt. Im buch- die im 18. Jahrhundert, insbesondere stäblichen Sinn erfährt der Abgebildete mit der Aufklärung, einsetzte. Auf der in ihr eine zweite Verkörperung. Nur Grundlage der kunsttheoretischen For- angesichts der auf diesen Eigenschaften derung, die Ähnlichkeit des Dargestell- basierenden Leistungsstärke der Porträt- ten mit der Abbildung seines Wesens büste ist ein körperlicher Akt der Vereh- und Charakters zu verknüpfen, erfuhr rung, wie ihn Kaulbach in seinem Bild das Bildnis damals eine enorme Auf- reflektiert, überhaupt möglich. wertung innerhalb der Hierarchie der Nicht zuletzt rekurrierte der Maler da- künstlerischen Gattungen. Daher stand mit auf eine seinerzeit vielfältig prak- es auch mehr denn je im Spannungs- tizierte Sitte der Huldigung an „große feld zwischen Wirklichkeitstreue und 6 Die Cotta-Feier in Männer“ mit der ephemeren Dekora- Idealisierung, bloßer Nachahmung und Tharandt, in: Leipziger tion ihrer Denkmäler. Insbesondere die künstlerischer Widerspiegelung des real Illustrierte Zeitung, Nr. 1064, 1863, S. 367; Enthüllung von Büsten oder in ihrem Gegebenen.8 Das diesbezüglich breite Das Lessing-Fest zu Kamenz, in: ebd., Angesicht absolvierte Feierlichkeiten, formale Spektrum der Bildnisbüste in Nr. 1042, S. 419–420. etwa solcher für Dichter und Denker, den Jahrzehnten um 1800 spiegelt die 7 Christoph Schubert, gingen kaum ohne die am Bildwerk damit verbundene Entdeckung der Indi- Dichterkrönung, in: Albrecht Cordes/ selbst vorgenommene Bekränzung oder vidualität und die Auseinandersetzung Heiner Lück/Dieter anderweitige glorifizierende Dekora- um deren gültige künstlerische Wieder- Werkmüller u.a. (Hrsg.), Handwörterbuch zur tionen vonstatten. Öffentliche Zere- gabe auf eindrucksvolle Weise wider, zu- deutschen Rechts- geschichte, Bd. 1, Berlin monien, wie beispielsweise der alljähr- mal die Gattung gleichzeitig ihren ex- 22008, Sp. 1032–1034. liche Lorbeerschmuck der Büste des klusiven Status als Mittel der Memoria 8 Vgl. Bernhard Maaz, berühmten sächsischen Forstwissen- und der Repräsentation des Adels ein- Die Crux der Subjek- 9 tivität. Die Bildnisbüste schaftlers Heinrich Cotta (1763–1844) büßte. Neben der wirkungsvollen Ab- im Zeitalter der Popula- in Tharandt bei Dresden oder die von bildung des Regenten und anderer Ver- risierung, in: Bärbel Stephan/Antje Scherner/ Herbert König (1820–1876) in einer treter der gesellschaftlichen Elite diente Astrid Nielsen (Hrsg.), Zeichnung fixierte Einweihung der Ka- sie fortan auch dem aufstrebenden Bür- Hauptsache Köpfe. Plastische Porträts von menzer Lessing-Büste Hermann Knaurs gertum als legitime Form künstlerischer der Renaissance bis 6 zur Gegenwart aus der (1811–1872) 1863, schlossen solche Darstellung. Neben den traditionellen Skulpturensammlung. Rituale ebenso ein wie die individuel- kamen ihr neue Aufgaben zu, zu denen Ausst.-Kat. Staatliche Kunstsammlungen len Akte der Wertschätzung, die man vorrangig die Verkörperung tugendhaf- Dresden, Dresden 2001, seinerzeit verbreitet an bildhaften Stell- ter, verdienstvoller Menschen, gleich S. 26–32; Bernhard Maaz, Skulptur in vertretern verehrter Genies vornahm. welchem Stand sie angehörten, und die Deutschland zwischen Französischer Revolu- „Des Dichters Geburtstag“, ein in der Funktion des privaten wie des öffentli- tion und Erstem Welt- in Dresden und Leipzig ansässigen chen Denkmals zählten. Sie entwickelte krieg, Bd. 1, Berlin/Mün- chen 2010, S. 207–214; „Englischen Kunstanstalt Albert Hen- sich zu einem der bedeutendsten Medi- Frank Matthias Kammel, ry Payne“ um 1835/40 erschienener en der Verehrung zeitgenössischer Geis- Charakterköpfe. Die Bildnisbüste im Zeitalter Stahlstich, der eine junge Verehrerin tesgrößen. Somit gehörte das plastische der Aufklärung, Nürn- beim hingebungsvollen Schmuck einer Brustbild zum festen Bestandteil der Er- berg 2013, S. 54–62. Schiller-Büste zeigt, reflektiert diese innerungskultur. 9 Vgl. Kammel, Charakterköpfe, S. 8–16. Praxis in der Privatsphäre. Das Blatt Bibliotheken, fürstliche Gärten und Vgl. auch Andrea M. Kluxen, Das Ende des illustriert eine die Lorbeerkrönung des schließlich öffentliche Plätze avancier- Standesporträts. Die „poeta laureatus“ formal tradierende ten zu Präsentationsorten der Porträt- Bedeutung der eng- lischen Malerei für das Praxis und trug wie zahlreiche ähnli- büste. Waren Bildnisbüsten historischer deutsche Porträt von che zeitgenössische Darstellungen zur Persönlichkeiten bis dahin, wie bei- 1760 bis 1848, München 1989. Popularisierung dieser Sitte bei.7 spielsweise die zu Beginn des 18. Jahr-

27 hunderts erworbene Serie vermeintlich einem „Büstenzimmer“ untergebracht. antiker Herrscher- und Gelehrtenpor- Die Anzahl der Köpfe von Zeitgenossen träts in der Galerie des Schlossparks in dieser namhaften Büchersammlung von Herrenhausen bei Hannover,10 dem wuchs daraufhin zügig an. Der Wei- Herrscherlob gewidmet und hatten sol- marer Hof kaufte auf die Veranlassung che Werke in fürstlichen und Kloster- Goethes hin beispielsweise die berühm- bibliotheken des Barock vorrangig dazu te Schiller-Büste Johann Heinrich Dan- beizutragen, die bildhafte Ordnung der neckers (1758–1841), und 1799 erwarb Welt durch das dort gehortete Wissen zu man auf sein Anraten gestützt das Por- visualisieren, trat nun selbst in solchen trät des Architekten Friedrich Wilhelm Interieurs das plastische Brustbild der von Erdmannsdorff (1736–1800) vom zeitgenössischen Persönlichkeit hin- Dessauer Hofbildhauer Friedemann Hu- zu, deren Auswahl auf ihren besonde- nold (1773–1840). Mit dem auf diese ren intellektuellen oder künstlerischen Weise aufgebauten Ensemble plastischer Leistungen fußte. Bildnisse der herzoglichen Familie sowie 10 Vgl. Klaus Fittschen, In einem 1791 vor der Weimarer Freitags- dem mitteldeutschen Musenhof verbun- Die Bildnisgalerie in Herrenhausen bei gesellschaft gehaltenen Vortrag forderte dener Künstler und Dichter avancierte Hannover. Zur Rezep- tions- und Sammlungs- Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) der Rokokosaal des Bibliotheksgebäu- geschichte antiker Porträts, die Versammlung in diesem Sinn auf, des zu einem den Wissenshort, die Re- Göttingen 2006, S. 17-39. sämtliche vom dortigen Hofbildhauer präsentationsstätte fürstlicher Gelehr- 11 Zit. nach Walter Geese, Gottlieb Martin Martin Gottlieb Klauer (1742–1801) ge- samkeit und den Ort der Glorifizierung Klauer. Der Bildhauer arbeiteten Bildnisse von Geistesgrößen herausragender Zeitgenossen verbinden- Goethes, Leipzig 1935, S. 49. 12 an einem einzigen Ort zu vereinen, um den Interieur. Mit dieser Ehrengalerie 12 Vgl. Michael Knoche, den Nachkommen mit diesen Bildern berühmter Persönlichkeiten entstand Die Weimarer Bibliothek als Büchersammlung, das ideelle Potenzial der Epoche zu eine „imaginierte Gelehrtenrepublik“, die Museum und Erinnerungs- vermitteln. Er plädierte damit für die „als das Modell eines idealen ort, in: Hellmut Seemann (Hrsg.), Anna Amalia, Carl Übertragung dessen, was Besucher des Gemeinwesens“ verkörperte, das auf August und das Ereignis Klauerschen Ateliers damals zu Gesicht Philosophie und Kunst basiert.13 Weimar (Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar), bekamen, an einen repräsentativen öf- Vielerorts zogen nun Abbilder der über- Göttingen 2007, S. 231–243; Bettina fentlichen Ort. Sophie von La Roche ragenden Geister jener Zeit in solche Werche, Kräuters Skizze (1730–1807), die „Klauers Sammlung Räumlichkeiten ein. Für die zur „Gemei- des Rokokosaales der Großherzoglichen von Brustbildern und Bildsäulen“ 1799 nen Bürger-Bücherei“ umfunktionierten Bibliothek, in: ebd., besichtigte, meinte sich in „der merk- Wasserkirche von Zürich beispielsweise S. 244–271. würdigen Versammlung großer Männer stifteten Freunde und Verehrer die 1778 13 Reinhard Wegner, „Ein vollkommnes Athen der alten und neuen Zeit“ zu befinden, bei Valentin Sonnenschein (1749–1828) aus Weimar machen“. Weimarer Reaktionen „welche ehemals von der denkbaren Ver- in Auftrag gegebenen Büsten von Jo- auf Houdon in Gotha, in: ehrung Halbgötter, bei uns nun unge- hann Jakob Breitinger (1701–1776) und Werner Greiling/Andreas 11 Klinger/Christoph Köhler wöhnliche Genies genannt werden“. Johann Conrad Heidegger (1710–1778). (Hrsg.), Ernst II. von Sach- Für das Weimarer Schloss waren be- Die aus bronziertem Gips beziehungs- sen-Gotha-Altenburg. Ein Herrscher im Zeitalter der reits ab den 1770er-Jahren Büsten an- weise Bronze bestehenden Werke zeigen Aufklärung, Köln/Weimar/ geschafft, ab 1782 in der Bibliothek sowohl den Professor für Alte Sprachen, Wien 2005, S. 251–264, hier S. 257–258. aufgestellt worden. Als Goethe 1797 Logik und Rhetorik als auch den Bür- 14 Vgl. Marcel Fischer gemeinsam mit Christian Gottlob von germeister und Präsidenten des Biblio- u.a. (Bearb.), Zürcher 14 Bildnisse aus fünf Jahr- Voigt (1743–1819) die Aufsicht über die thekskonvents im Habitus der Antike. hunderten, Zürich 1953, Großherzogliche Bibliothek übernahm, Auch in der Bibliothek der Göttinger S. 100, 118–119; Gabriele Lutz, Valentin Sonnen- forcierte er diese Aktivitäten. Was nicht Universität, um ein weiteres Beispiel zu schein. Ein schwäbischer unmittelbar im großen Saal aufgestellt nennen, gelangten alsbald über die von Hofstukkateur in Zürcher Diensten 1774–1779, werden konnte, wurde vorübergehend in dem ab 1767 dort als Professor für Bered- Zürich 1992, S. 25.

28 samkeit und Bibliothekar tätigen Alter- des Witwers, denn sie zielte darauf, den tumswissenschaftler Christian Gottlob erlittenen Verlust mit der bildhaften Heyne (1729–1812) erworbenen Abgüs- Vergegenwärtigung der Verstorbenen se römischer Kaiserbüsten hinaus solche zu kompensieren. Im Zeitalter der Emp- zeitgenössischer Gelehrter der hanno- findsamkeit, in dem man Porträts, wie verischen Alma Mater zur Aufstellung.15 zahlreiche Quellen bezeugen, gerade- Der Mathematiker Abraham Gotthelf zu als Dialogpartner, als ansprechbare Kästner (1719–1800), dessen von Fried- Stellvertreter des Porträtierten behan- rich Wilhelm Doell (1750–1816) ge- delte, erfuhr die Bildnisbüste aufgrund schaffenes Brustbild die Kollektion um der von ihr geforderten und ihr zugleich 1801/02 bereichern sollte, riet in seinem zugeschriebenen Vergegenwärtigungs- kurz vor seinem Tod verfassten Sinn- kraft der Physiognomie, darüber hinaus gedicht „Auf einer Schreibtafel in der auch des Charakters und des Wesens des Hand meines Bildes“ seinen Kollegen Konterfeiten eine bis dahin unbekannte diesbezüglich ebenso zweckdienlich wie Wertigkeit. So appellierte Goethe 1780 spritzig: „Sorgt ja, dass auch von euren an Johann Caspar Lavater (1741–1801), Zügen/ Ein gutes Bild der Nachwelt üb- auf sein von Herzog Carl August (1775– rig ist:/ So sieht sie euch, Autoren, mit 1828) nach Zürich gesandtes plasti- 15 Vgl. Hartmut Döhl, Bücher, Büsten und Vergnügen,/ Wenn sie euch lange nicht sches Bildnis Bezug nehmend: „Spre- Skulpturen. Beobach- mehr lies’t.“16 che manchmal einen Segen auf meine tungen zur Ausstattung 18 der Göttinger Universi- Doch auch das private Gedenken an Büste, dass ich das genieße.“ Der in tätsbibliothek im 18. und den nahestehenden Menschen verband Mönchaltdorf nahe Zürich amtierende 19. Jahrhundert, in: Bibliothek und Wissen- man jetzt zunehmend mit der Bildnis- Geistliche Johann Georg Schultheiss schaft 35, 2002, S. 19–51, hier S. 28–35. büste. 1804 wurde Goethe von dem in (1758–1802) bat Johann Wilhelm Lud- 16 Abraham Gotthelf Ziegenberg in der Wetterau residieren- wig Gleim (1719–1803) in einem Brief Kästner, Zum Theil den Aristokraten Wilhelm Christoph vom 14. August 1789, seinem Bildnis noch ungedruckte Sinn- gedichte und Einfälle. von Diede (1732–1807) um Rat gefragt. einen Blick zu widmen, der ihm selber Erste Sammlung, Frank- Der Witwer, der seine damals verstor- gelten solle, und in einem Schreiben furt am Main/Leipzig 1800, S. 57. bene Gattin betrauerte, erkundigte sich vom 14. Februar 1787 legte Lavater 17 Zit. nach Erik nach einem angemessenen und zeitge- Gleim ans Herz, seinem Bilde neben Forsmann, Goethezeit. Über die Entstehung des mäßen Denkmal, das er seiner geliebten dem gelegentlichen Blick auch „eine bürgerlichen Kunstver- Frau setzen lassen wollte. Die gebetene Zähre“ zu gönnen.19 Als Goethe am 12. ständnisses, München/ Berlin 1999, S. 167–168. Autorität verfasste ein „Gehorsamstes November 1784 an den Münchner Ju- 18 Zit. nach Geese, Promemoria“ und gab dort ihrer Ableh- risten Friedrich Heinrich Jacobi (1743– Klauer, S. 59. nung der damals üblicherweise sowohl 1819) schrieb, versicherte er ihn eines 19 Zit. nach Horst Scholke, Der Freundschaftstempel für Grabmale als auch Saalmonumente lebendigen Andenkens, denn, so der im Gleimhaus zu Halber- verwendeten Typen, wie „abgestumpf- Dichter: „[...] wir haben uns gestern mit stadt. Porträts des 18. Jahr- hunderts. Bestandskatalog, te Säulen, Vasen, Altäre, Obelisken und deiner Büste unterhalten die recht gut Leipzig 2000, S. 137, 169. was dergleichen bildlose allgemeine gerathen ist, und wovon ich nun einen 20 Zit. nach Gabriele Formen sind“ deutlichen Ausdruck. Abguß besitze“. Als Repräsentant eines Oswald, „Wir haben uns neulich mit deiner Büste „Das beste Monument des Menschen“, „Abwesenden“ sei doch so ein Brustbild unterhalten“. Sehen und meinte der Weimarer Geheimrat, „ist stets „sehr viel werth“.20 Desgleichen gesehen werden – die Porträtplastik, in: Antlitz der Mensch. Eine gute Büste in Marmor wurde Jacobi kurz vor Weihnachten je- des Schönen. Klassizis- tische Bildhauerkunst im ist mehr wert als alles Architektonische, nes Jahres von Herder garantiert, dass Umkreis Goethes. Ausst.- was man jemand zu Ehren und Anden- er mit seiner Gattin und Goethe vor Kat. Thüringer Landes- 17 museum Heidecksburg ken aufstellen kann“. der Büste „als einem Denkmale Deiner Rudolstadt, Rudolstadt Zweifellos basierte diese Empfehlung Gegenwart [...] voll treuer Liebe“ ge- 2003, S. 91–118, hier S. 103. auch auf der Einfühlung in die Psyche dacht habe.21 Die Vergegenwärtigungs-

29 leistung des plastischen Porträts und und Christoph Martin Wieland (1733– der seinerzeit an sie gestellte Verleben- 1813) in einem Hain am Ufer der Ilm digungsanspruch hätten treffender und ließ ihren Hofmeister Karl Ludwig nicht artikuliert werden können. von Knebel (1744–1834) im März jenes Während zahlreiche Werke der bilden- Jahres wissen, sie habe „unseren drei den Kunst eben diese Vergegenwärti- Genien ihre Büsten in dem Lohhölz- gungsleistung, dem Abwesenden Virili- chen aufgestellt“.24 Eine Büste des am tät zu verleihen, und den darauf basie- Dessauer Hof hochgeschätzten Lavater renden kommunikativen Gebrauch von beispielsweise wurde zwei Jahre später plastischen Brustbildern enthusiastisch anlässlich dessen 43. Geburtstags in ei- reflektierten,22 kommentierte der Zürcher ner profanen Prozession durch den Park Zeichner Johann Heinrich Lips (1758– von Wörlitz getragen, dort in einer da- 1817) das damals virulente Phänomen für errichteten Ädikula „inthronisiert“ mit subtiler Ironie.23 Sein diesbezügli- und mit Blütenlaub bekränzt.25 cher Gedankenscherz, der 1776 als eine Über die Platzierung von Porträtbüsten von Johann Rudolf Schellenberg (1740– in den verschiedensten Interieurs, in 1806) ausgeführte Kupferstichvignette privaten Parks und Gärten hinaus plä- Eingang in Lavaters bekannte „Physiog- dierten damals mehrere Stimmen für nomische Fragmente“ fand, zeigt einen die Ehrung verdienstvoller Persönlich- jungen Mann in Hausrock und Haus- keiten mit der Aufstellung im öffentli- mütze, der auf die Lehne eines Stuhls chen Außenraum. Schon 1775 hatte der gestützt melancholisch in den Anblick Kieler Philosoph und Gartentheoretiker einer vor ihm stehenden Büste versinkt. Christian Cay Lorenz Hirschfeld (1742– Obwohl das Brustbild den verliebten Bie- 1792) an die Bildhauer appelliert, deren dermann offenbar ohne tiefere Zunei- Kunst fähig wäre „jede Vollkommenheit gung aus den Augenwinkeln anschielt, des Geistes, jede Tugend des Herzens schwelgt er angesichts des scheinbar ver- sichtbar zu machen“, durch Bildnisse lebendigten Kopfs der jungen Dame in der „verdienten Männer“ der Wissen- leidenschaftlicher Träumerei. schaft und der Nation, gleich ob Fürst, Prinz oder patriotischer Bürger, deren

Andenken zu bewahren und zugleich 21 Zit. nach Oswald, Verehrung und den „Menschen [zu] unterrichten und Büste, S. 104. Gesinnungsbildung ihn [zu] bessern“.26 Als Aufstellungsort 22 Vgl. Kammel, Charakter- köpfe, S. 186–194. solcher die Physiognomie und den Geist 23 Vgl. Kammel, Charakter- Goethe artikulierte mit seinem Rat- prominenter Gestalten gleichermaßen köpfe, S. 44. schlag an Diede 1804, der verstorbenen zur Anschauung bringender Monu- 24 Karl Ludwig von Knebels literarischer Gattin eine Büste zu widmen, eine zu mente favorisierte er den Landschafts- Nachlaß und Brief- Beginn des 19. Jahrhunderts also be- garten, während Johann Georg Sulzer wechsel. Hrsg. von Karl August von Ense, Bd. 1, reits weithin verbreitete Anschauung (1720–1779) nur kurze Zeit später kaum Leipzig 1840, S. 100. und daher vielfältig geübte Praxis. So noch eine lokale Beschränkung dafür 25 Roland Kanz, Dichter hatte die Weimarer Herzogin Anna zulassen wollte. „Verdienstvolle Bür- und Denker im Porträt. Spurengänge zur deut- Amalia (1739–1807) 1782 im Park ihrer ger“ sollten der Meinung des Berliner schen Porträtkultur des 18. Jahrhunderts, Sommerresidenz Schloss Tiefurt Bild- Philosophen nach an den „öffentlichen München 1993, nisse der von ihr verehrten und daher Plätzen“ jeder Stadt gewürdigt werden S. 124–126; Kammel, Charakterköpfe, S. 182 f. an ihren Hof gezogenen Dichter aufge- und „in den nächsten Gegenden um die 26 Christian Cay Lorenz richtet. Sie platzierte die vollplastischen Stadt herum“. Suggestiv fragte er daher Hirschfeld, Von der Porträts von Johann Wolfgang Goethe, seine Leser: „Was wäre leichter, als alle moralischen Einwirkung der bildenden Künste, Johann Gottfried Herder (1744–1803) Spaziergänge durch Denkmäler nicht Frankfurt 1775, S. 8.

30 blos zu verschönern, sondern zu Schu- gument der unzureichenden Bekannt- len der Tugend, und der großen patrio- heit der auf diese Weise zu vergegen- tischen Gesinnungen zu machen?“27 wärtigenden Persönlichkeiten ins Feld Zu den Orten, an denen diese Art der führten, allerdings nicht. Im Gegensatz Denkmalsetzung früh erfolgte, gehört Zü- dazu wurde ein Leibniz gewidmetes rich. 1777 beauftragte die dortige Phy- Projekt in Hannover mit einem 1787 sikalische Gesellschaft Valentin Sonnen- bis 1790 errichteten, als „Leibniz-Tem- schein, ein Monument für den berühm- pel“ bekannten Monopteros realisiert. ten Arzt, Naturforscher und Altphilo- Das Zentrum dieses dem „Genio Leib- logen Conrad Gesner (1516–1565) zu nitii“ geweihten Rundbaus bildet das errichten, der hier im 16. Jahrhundert von dem irischen, damals in Rom tä- gelebt und segensreich gewirkt hatte. tigen Bildhauer Christopher Hewetson Mit einer bronzierten Bleibüste für den (um 1739–1798) 1788 geschaffene Mo- Botanischen Garten schuf der Bildhau- numentalbildnis des berühmten Uni- er das erste öffentliche Monument der versalgelehrten und einstigen Bürgers Stadt und zugleich eines der ältesten im der Stadt.30 „Es sollte ein öffentliches öffentlichen Raum aufgestellten Gelehr- Werk seyn“ und Aufstellung auf „einem tendenkmäler überhaupt.28 Während freyen Platze“ finden, hieß es 1789 im der Schlacht um Zürich 1799 wurde vierten Band der Allgemeinen Literatur- dieses aufgesockelte Bildwerk, das den zeitung in der Ankündigung der Vollen- prominenten Forscher in antiker Tracht dung des Monuments, denn die Kirche, wiedergab, bedauerlicherweise von den wo Verblichene mit Epitaphen geehrt französischen Truppen konfisziert und würden „ist kein schicklicher Ort für eingeschmolzen. ein schönes und großes Werk“. Im Sinne Hirschfelds zielte man an Diesem ersten öffentlichen, unbe- diesem und bald auch an weiteren Or- schränkt zugänglichen Monument einer ten darauf, jenen Männern öffentliche nicht dem Adelsstand angehörenden Ehrung zuteilwerden zu lassen, „denen Persönlichkeit in Deutschland folgte wir Aufklärung, Freyheit, Wohlstand, kaum ein Jahrzehnt später die Büste des Vergnügen verdanken“. Denn „der Nach- Astronomen Johannes Kepler (1571– komme verweilt vielleicht vor dem Bild- 1630) in den Regensburger Wallanla- 27 Johann Georg(e) Sulzer, Allgemeine nisse, überdenkt vielleicht eine ganze gen. Der namhafte Gothaer Bildhauer Theorie der Schönen Reihe von edlen und großen Thaten Friedrich Wilhelm Doell stellte dem Be- Künste, Biel 1777, S. 410. oder Bestrebungen, wird gerührt, zur trachter damit einen selbstbewussten 28 Vgl. Johann Caspar Hirzel, Denkrede auf Nacheiferung hingerissen, vergießt wohl Gelehrten vor Augen, der im Gegen- Johannes Geßner, Zürich selbst eine Thräne, die den aufkeimen- satz zur ahistorischen, aber zeitlosen 1790, S. 132–133. 29 29 Christian Cay Lorenz den Entschluss befruchtet“. Aus ähnli- Toga der Hannoveraner Leibnizbüste Hirschfeld, Theorie der chen Gründen wurden auch an anderen ausdrücklich als Persönlichkeit im alt- Gartenkunst, Bd. 3, 31 Leipzig 1780, S. 131–132. Orten entsprechende Ideen ventiliert. deutschen Kostüm erscheint. Mit die- 30 Vgl. Ingrid Weibe- So leitete man 1780 in Berlin eine Spen- sem bewussten Historismus folgte der zahn, Das Leibnizdenk- denaktion zur Errichtung eines Denk- Bildhauer den Intentionen der Urheber mal in Hannover, in: Niederdeutsche Beiträge mals für die Philosophen Gottfried des Denkmalprojekts. Bei der Einwei- zur Kunstgeschichte 11, 1972, S. 191–248, hier Wilhelm Leibniz (1646–1716), Johann hung am 27. Dezember 1808, Keplers S. 199–222. Heinrich Lambert (1728–1777) und Jo- Geburtstag, intonierte man eine extra 31 Vgl. Petra Rau, hann Georg Sulzer ein. Verwirklichung für diesen Anlass komponierte Kantate Friedrich Wilhelm Doell (1750–1816). Leben und fand das Vorhaben, dessen Gegner und „Keplers Weihe“, einen Lobgesang auf Werk, Diss. Frankfurt, Kritiker die Höhe der Unkosten, den zu den „Unsterblichen“. „Acht Männer in Cluj-Napoca 2003, S. 181–183. erwartenden Vandalismus und das Ar- altdeutscher Tracht trugen die Büste“

31 von Militär eskortiert sowie unter leb- lektuellen Potenzials und kulturellen hafter Beteiligung der Regensburger Niveaus eines ganzen Volkes. Über Bürgerschaft und hochrangiger Aristo- den erwähnten Vorschlag Goethes von kraten in den Rundtempel im parkarti- 1791 hinaus verkörpert das tempel- gen Gelände vor der Stadt.32 Im Gegen- artige, mit Porträtbüsten der bedeu- satz zur seelenvollen Zwiesprache, die tendsten Deutschen gefüllte Gebäude jenen Büsten zuteil werden sollte, die das architektonisch-künstlerische Mit- in den nach den Regeln der Empfind- tel der Sinnstiftung einer Kulturnation. samkeit angelegten, nur eingeschränkt Sämtlich sind die inzwischen 130 von zugänglichen Gärten aufgestellt wor- verschiedenen Künstlern geschaffe- den waren, war der visuelle Dialog hier nen Skulpturen – wie vom bayerischen jedermann möglich und im Rezeptions- Regenten seinerzeit bestimmt – nach konzept des Kepler-Porträts ebenso vor- einem vorbildhaften Muster gearbei- gesehen wie angesichts der kultbild- tet: „Alle diese Busten [sind] im anti- ähnlichen Aufstellung des Brustbilds ken Stile, mit Weglassung alles neuen von Leibniz in Hannover. Allerdings Costums u[nd] Haarputzes“ herzustel- war die Regensburger Büste selbst wie len, das heißt als unbekleidete Hermen auch die Inszenierung ihrer Präsenta- aus weißem Marmor, der der Antike tion schon ganz von der Mentalität der entlehnten Abbreviatur des Weisen 32 Johann Filipp Ostertag, Einweihung 34 frühen Romantik geformt, einer auf (Abb. 2.2). des Keplerschen Denk- die große vaterländische Vergangen- Einen bemerkenswerten Vorläufer die- mals in Regensburg, in: Ders., Auswahl aus den heit, ihre fruchtbare Wiederentdeckung ses Ensembles bildet eine Galerie, die kleinen Schriften. Zweite und Funktionalisierung im Zuge der sich Katharina II. von Russland (1729– Sammlung, Sulzbach 1810, S. 567–588, hier Nationalbewegung gerichteten Gesin- 1796) zwischen 1784 und 1787 im Park S. 571. nung. In ihrer stilistischen Erscheinung von Zarskoje Selo (Puschkin) errichten 33 Hermann Beenken, Das Neunzehnte Jahr- weist das Bildwerk ebenso wie die Feier ließ. Der namhafte schottische Architekt hundert in der deutschen in ihrem Gepräge bereits charakteristi- Charles Cameron (1745–1812) schuf mit Kunst. Aufgaben und Gehalte. Versuch einer sche Züge des ästhetischen Empfindens einer einem tempelartigen Gebäude an- Rechenschaft, München und Gebarens auf, das die damals an- gefügten Kolonnade ein ebenso pathe- 1944, S. 479. 34 Ludwig I. an Johann gebrochene, hinsichtlich der Bildhauer- tisches wie luftiges Gehäuse für einhun- Gottfried Schadow, kunst später als das große Säkulum der dert schwarz patinierte Bronzebüsten 10. Januar 1807. Zit. nach Joseph Anton Pangkofer, Porträtbüste und als „das Jahrhundert der größten Geisteshelden, die seit der Walhalla und Stauf an der Denkmäler“ bezeichnete Epoche Antike gelebt hatten.35 In einer Art phi- der Donau, Regensburg 1852, S. 29; Walhalla’s 33 weitgehend bestimmen sollte. losophischer Promenade konnte sich Genossen, geschildert die Zarin dort die bedeutendsten euro- durch König Ludwig den Ersten von Bayern, päischen Weisen in ihrer physisch-phy- den Gründer Walhalla’s, München 1847; Simone Säkulare Heiligtümer siognomischen Erscheinung vergegen- Steger, Die Bildnisbüsten wärtigen und sich so mit ihnen und der Walhalla bei Donau- stauf. Von der Konzep- Mit der 1807 vom bayerischen Kö- ihrem Denken auseinandersetzen. Im tion durch Ludwig I. von nig Ludwig I. (1786–1868) begonne- Gegensatz dazu bildeten die Walhalla Bayern zur Ausführung (1807–1842), Diss., nen Planung zu einem schließlich und auch die 1853 vollendete Münch- München 2011. von 1830 bis 1842 bei Regensburg er- ner Ruhmeshalle keine elitären Refugi- 35 Vgl. Reinhardt Hootz 36 (Bearb.), Kunstdenkmäler richteten und als Walhalla bekann- en mehr, sondern öffentliche Stätten, in der Sowjetunion: ten „Pantheon der Deutschen“ erfuhr mit denen Ludwig I. den Gedanken des Leningrad und Umge- bung, München/Berlin diese mithilfe der Büste angestrengte säkularen Nationalheiligtums realisier- 1982, S. 454. Strategie der Visualisierung und Glori- te. Doch wie unterschiedlich die Inten- 36 Vgl. Manfred F. fizierung von Genies die Ausweitung tion und ursprüngliche Rezeption die- Fischer/Sabine Heym, Ruhmeshalle und Bavaria, auf die Veranschaulichung des intel- ser Arrangements in Russland und in München 1997.

32 Bayern auch gewesen sein mögen, des Hirschfelds oder Sulzers entsprochen Potenzials der Porträtbüste als Würde- worden zu sein scheint. Zu den bekann- formel, ihrer Funktion der Sicherung testen europäischen Beispielen zählt immerwährenden Ruhms, ja der Ver- der auf einer Anregung des italieni- leihung eines – wie Kaulbach 1888 mit schen Revolutionärs Giuseppe Mazzini seinem Gemälde suggerierte – Ruchs (1805–1872) basierende Büstenhain auf von Unsterblichkeit bedienen sie sich dem römischen Monte Pincio mit sei- gleichermaßen. Schon die Zeitgenossen nen über 220 Porträts berühmter Ita- sprachen von einem „Tempel der Un- liener von Tacitus (54–117) bis zu Giu- sterblichkeit“.37 seppe Garibaldi (1807–1882).38 Schon Auch zahlreiche Büsten-Ensembles, die unmittelbar nach seiner Gründung seitdem entstanden, besitzen mit der wurde dieser „nationale Erinnerungs- Gruppierung von Köpfen herausragen- park“ aus weißen Marmorhermen von der Vertreter von Nationen oder Pro- deutschen Reisenden als vorbildhaftes fessionen das Ziel, die Vorstellung un- Projekt gepriesen, weil auf diese Weise vergänglicher ethnischer oder sozialer „jedem Vorübereilenden ein Memento Körper zu inszenieren. In der „Hall of ins Gedächtnis“ gerufen werde: „Das Heroes“ des 1869 eingeweihten Natio- Anschauen großer Männer erweckt nal Wallace Monument, dem schotti- Nacheiferung und Pietät, weshalb die- schen Nationaldenkmal nahe Stirling ser Schmuck in seiner Bedeutung und zum Beispiel, reihen sich die Brustbil- seinem Erfolg“ nicht hoch genug ge- der der bedeutendsten Schotten des 19. schätzt werden könne.39 und 20. Jahrhunderts zu einem perso- Inzwischen existieren solche „Freilicht- nalisierten Abbild dieser Nation. Auch galerien“ bedeutender Köpfe weithin. die 1900 als Teil der New York Univer- Zu den nennenswerten jüngeren An- sity gegründete und heute zum Bronx lagen gehören beispielsweise der Park Community College gehörende „Hall vor der Moskauer Lomonossow-Uni- of Fame of Great Americans“ vereint versität, in dem berühmte russische 98 Bronzebüsten großer Amerikaner Wissenschaftler geehrt werden, die Pal- von Missionaren und Geistlichen über menallee von Sotschi am Schwarzen Politiker und Militärs bis zu Künstlern Meer, die die Büsten berühmter rus- und Philanthropen unter dem Gesichts- sischer Schriftsteller des 19. Jahrhun-

37 Pangkofer, Walhalla, punkt des Patriotismus. Und sogar 303 derts aufreiht oder die 1959 begonne- S. 40. Köpfe birgt die 1963 eröffnete „Pro ne Steirische Ehrengalerie im zweiten 38 Vgl. Theodor Football Hall of Fame“ in Canton, Ohio, Hof der Grazer Burg.40 Erst im letzten Gsell-Fels, Rom und Mittel-Italien, Hildburg- die mit den Stars des American Football Drittel des 20. Jahrhunderts entstan- hausen 1872, Sp. 568; Eduard Fischer von eine eigentümliche Facette der nord- den der Memorial Sculpture Garden Röslerstamm, Die Büsten amerikanischen Nation zu repräsentie- in Key West, Florida, mit 36 Büsten auf dem Monte Pincio, in: Mitteilungen für Auto- ren versucht. Selbst aus unserer vielfach prominenter Einwohner der Stadt von graphensammler 10, denkmalskritischen Gegenwart ist die Ernest Hemingway (1899–1961) bis zu 1893, S. 1–5, 43–44. Porträtbüste also kaum wegzudenken. Harry Truman (1884–1972), das Ron- 39 Kunst und Künstler zu Rom im Jahre Gelegentlich wird sogar die Reihe der dell mit den „Helden der Apartheid“, 1853–1854 (II), in: Deut- sches Kunstblatt 5, deutschen Genies und Größen in der das vor den Toren der südafrikanischen 1854, S. 450–451. Walhalla ergänzt. Buren-Hochburg Orania die ehernen 40 Vgl. Andreas Stern- Vielerorts entstanden seit dem 19. Jahr- Büsten Paul Krugers (1825–1904), feldt, Sotschi. Russische Schwarzmeerküste und hundert außerdem Ensembles von Por- J. B. M. Hertzogs (1866–1942), Daniel Kaukasus, Berlin 2014, trätbüsten unter freiem Himmel, mit Malans (1874–1959), Johannes Ger- S. 74; Dehio Steiermark, Wien 21979, S. 48. denen den erwähnten Forderungen hard Strydoms (1893–1958) und Hen-

33 drik Frensch Verwoerds (1901–1966) Zelebritäten anderer Nationen, wie die vereint, oder die Gruppe vergoldeter des aserbaidschanischen Komponisten Brustbilder berühmter Tadschiken im Üzeyir Hacibeyov (1885–1948). Stadtpark von Chorugh am Pamirge- Weit über die auch von zweidimensio- birge.41 Auf dem Panoramarundweg nalen Medien – dem Gemälde oder der um den Berg Isel bei Innsbruck trifft Fotografie – getragene Memoria hinaus man auf die Bronzebüsten verdien- verbinden plastische Brustbilder histo- ter Tiroler Landeshauptleute, und auf rischer wie zeitgenössischer Persönlich- dem Bergl von Imst auf einen kleinen keiten in nahezu sämtlichen dieser Fälle Büstenpark des Grinser Bildhauers die Erinnerung mit der Würdigung von Christian Moschen. Mit den Köpfen Verdiensten und Leistungen sowie die der schwedischen Kinderbuchauto- Bekundung sozialer Bedeutung mit dem rin Astrid Lindgren (1907–2002), des Anspruch der Vorbildhaftigkeit. Bis in polnischen Pädagogen Janusz Korczak die Gegenwart finden Büsten somit ne- (1878–1942) und Hermann Gmeiners ben umfangreicheren Akkumulationen (1919–1968), der in diesem Ort das ers- und der Platzierung im privaten Inte- te SOS-Kinderdorf gründete, begegnet rieur an nahezu allen denkbaren Orten man dort bekannten Verfechtern des vom öffentlichen und halböffentlichen Kindeswohls. Gebäude der Kultur und der Bildung, der Eine ironisch gebrochene, auf jeden Fall staatlichen, kommunalen und indus- merkwürdige Heldenverehrung stellt da- triellen Verwaltung bis hin zu urbanen gegen die „Kommunistenkurve“ des 1996 Plätzen und öffentlichen Parkanlagen im Zuge einer Landesgartenschau ange- Aufstellung. Stets dienen sie dabei als legten Seeparks im westfälischen Lünen Medium der Repräsentation, der Vereh- dar, die neun Bronzebüsten oder bis zur rungs- und Erinnerungskultur, gleich ob Brust im Boden vergrabene Denkmalsfi- das Denkmal das individuelle, ein kol- guren sowjetischer Herkunft vereint. Erst lektives oder das gesamtgesellschaftliche 2006 errichtete man inmitten Ottawas Gedächtnis aktivieren helfen soll. das Valiants Memorial, das neun Büsten Eine bemerkenswerte Durchdringung und fünf Standbilder der Bildhauer Mar- von privater und öffentlicher Memo- lene Hilton Moore und John McEwen in rialkultur kennzeichnet ein Projekt, das ein urbanes Ambiente eingliedert. Die der texanische Bildhauer David Adickes ehernen Brustbilder bedeutender Mili- vor wenigen Jahren verwirklichte. Der tärs verkörpern pars pro toto die in oder als Presidential Park vom Künstler selbst von Kanada geführten Kriege vom fran- inszenierte Parcours aus Monumental- zösischen Regime bis zum Zweiten Welt- büsten der amerikanischen Präsidenten krieg und visualisieren auf diese Weise ist vom bekannten Mount Rushmore kanadische Geschichte in einem perso- National Memorial in den Black Hills nalen Narrativ (Abb. 2.3). Und im Wie- von South Dakota inspiriert. Zwischen ner Donaupark finden seit Beginn des 1917 und 1941 wurde dort eine bizarre 21. Jahrhunderts vor allem von „Exilge- Felsformation von John Gutzon de la meinden“ initiierte Büsten prominenter Mothe Borglum (1867–1941) in die vier Ausländer Aufstellung, so jene von latein- jeweils etwa 18 Meter hohen Büsten der amerikanischen Unabhängigkeitskämp- symbolträchtigen Staatslenker George fern, Revolutionären und Künstlern wie Washington (1732–1799), Thomas Jef- José de San Martin (1778–1850), Che ferson (1743–1828), Theodore Roose- 41 Vgl. Thomas Scheen, Guevera (1928–1967) und Salvador All- velt (1846–1919) und Abraham Lincoln In der Wagenburg, in: Frankfurter Allgemeine ende (1908–1973), aber auch solche von (1809–1865) verwandelt. 2004 arrangier- Zeitung, 01.06.2013, S. 3.

34 te Adickes seine in vierjähriger Arbeit ge- Gebrauch der Porträtbüste einer erstaun- fertigten, zwischen fünf und sechs Meter lichen, seit Jahrhunderten währenden hohen Betonbüsten der 43 Präsidenten Kontinuität. Nach wie vor besitzt das der Vereinigten Staaten von George Wa- plastische Brustbild grundsätzlich den shington bis George W. Bush auf einem Status besonderer Würde, sodass Aus- etwa 40.000 Quadratmeter großen, ge- einandersetzungen vielfach von der pachteten Gelände in Williamsburg in historischen Bedeutung oder gegenwär- Virginia (Abb. 2.4). Die Anlage, die die tigen Beurteilung der abgebildeten Per- um 1800 einsetzende Entwicklung, Per- sönlichkeiten ausgehen. Darüber hinaus sonaldenkmale in Grünzonen am Stadt- bilden oftmals formale Qualitäten oder rand zu platzieren, auf beinahe kuriose die Art der physiognomischen Wieder- Weise fortschreibt und den Memorial- gabe Auslöser öffentlicher Debatten. Im mit dem Vergnügungspark kombiniert, Zuge der Planung des erwähnten Leib- musste wenige Jahre später, obgleich niz-Denkmals in Hannover 1787/90 hat- durch ein Porträt Barack Obamas aktu- te man darum gerungen, ob der Gelehr- alisiert, aus wirtschaftlichen Gründen te mit dem verbürgten kahlen Schädel schließen. Auch ein gleichartiges von samt einer Beule oder mit seiner Perü- Adickes in Lead, South Dakota, instal- cke gezeigt werden sollte; die Ausfüh- liertes Arrangement ging, wiewohl zu- rung erfolgte schließlich mit römischem nächst ebenfalls Touristenattraktion, in- Kurzhaarschnitt.42 2014 provozierte das zwischen in Konkurs. Während einzelne im Vorfeld gar nicht diskutierte Beetho- Bildwerke von dort verkauft und somit ven-Denkmal für den Bonner Stadtgar- vereinzelt in privatem Kontext, vor Ho- ten von Markus Lüpertz, das eine über- tels oder anderen Gebäuden als attrakti- lebensgroße Büste mit einer den Genius ve Blickfänger positioniert wurden, ver- des Komponisten darstellenden Sitzfi- rottet der Williamsburger Bestand auf gur kombiniert, einen heftigen Konflikt. einem Lagerplatz. Die von den Einwohnern ebenso wie in Das Beispiel dieser riesigen Hohlkörper Leipzig, wo ein Jahr später ein zweiter verdeutlicht nicht zuletzt die schwin- Guss vor dem Museum der bildenden dende Halbwertszeit von Ewigkeitsan- Künste platziert wurde, rasch als „Kneet- sprüchen schon hinsichtlich der materi- hoven“ titulierte „Hommage an Beetho- ellen Haltbarkeit. Andere der erwähnten ven“ wurde von zahlreichen Stimmen Ensembles verdeutlichen eher die Prob- nicht zuletzt angesichts des blauen Ant- lematik der zunehmenden Kurzfristig- litzes und der wilden roten Mähne der keit der Verortung von Denkmälern in Büste als „beklemmend quälerisch“ und einer schnelllebigen, wesentlich von öko- „Inbegriff brütender Melancholie“ be- nomischen Zwängen bestimmten Ge- zeichnet, die der Würdigung des Genies sellschaft. Die Büste wird Bestandteil widerspreche.43 42 Vgl. Kammel, Charak- einer postmodernen Event- und Ver- Zudem entstehen Konflikte zuneh- terköpfe, S. 206–212. gnügungskultur, der Gewürdigte ein mend aufgrund der nicht allseits geteil- 43 Beethoven-Denkmal von Lüpertz in Bonn ent- Held auf Zeit. ten Überzeugung der Übereinstimmung hüllt, http://www.focus. de/regional/bonn/kunst- zwischen der Bedeutung des Gewürdig- beethoven-denkmal-von- ten und der Platzierung des Bildwerks. luepertz-in-bonn-enthuellt_ id_3730697.html (letzter Kontinuität der Diskurse Im Jahr 2000 beispielsweise musste aus Zugriff 08.08.2017); diesem Grund die bekannte Marx-Büste Enthüllt: Markus Lüpertz‘ Beethoven vor dem Neben solchen der populären Kultur Fritz Cremers (1906–1993) den zentra- Leipziger Bildermuseum, entlehnten Aspekten unterliegen zeit- len Schulplatz von Neuruppin verlas- in: Leipziger Volkszeitung, 18.12.2015, S. 22. genössisches Verständnis und aktueller sen und in den Rosengarten am Rande

35 der Altstadt überwechseln.44 Auch in- der Hinrichtung Ludwigs XVI. (1754– dem die Münchner Künstler Wolfram P. 1793) hielt, befahl er unter anderem Kastner, Friedo Niepmann und Martin die Zerstörung einer Büste des damals Stiefel im Sommer 2014 in Dietrams- bereits toten Philosophen Claude Hel- zell eine Büste Paul von Hindenburgs vétius (1715–1771), die seit Jahren ne- (1847–1934) von Josef Thorak (1889– ben der von Rousseau (1712–1778) im 1952) demontierten, wurde die dar- Pariser Jakobiner-Club gestanden hatte. gestellte Persönlichkeit neu beurteilt. Helvétius, ein exponierter Vertreter des Unter dem Motto „Kein Platz für Hin- Materialismus, wurde – weil Robespi- denburg“ translozierte man sie aus dem erre den Atheismus ebenso wenig dul- Ortszentrum auf ein Privatgrundstück, den wollte wie die Monarchie – neben auf dem der Militär und Reichspräsi- dem König zu einem der schlimmsten dent ein Jahrzehnt lang seine Sommer- Feinde der Revolution erklärt. Reale ferien verbracht haben soll. Der bildhaf- und symbolische Hinrichtung erfolgten te Stellvertreter des „Steigbügelhalters in einem Atemzug, zwischen lebenden Hitlers“ verließ den öffentlichen Raum. Personen und Stellvertretern in Gestalt Zu den jüngsten Beispielen solcher Dif- der Porträtbüste wurde hier kaum un- ferenzen gehört der im Herbst 2016 terschieden. ausgetragene Disput um den Standplatz Das Potenzial der physischen Repräsen- der neuen Büste des früheren Tiroler tanz und die Bedeutung als Würdefor- Landeshauptmanns Eduard Wallnöfer mel erklären die Büste selbst bis heute (1913–1989). Vorgesehen war der Land- vielfach zum Ziel ikonoklastischer An- hausplatz in Innsbruck. Das Bildwerk griffe. Dazu zählen die verbreiteten Atta- von Rudi Wach, das den Politiker in cken auf die Gesichter missliebiger oder rhetorischer Gestik zeigt, erregte eine verachteter Persönlichkeiten, die meist so hitzige Debatte zwischen den poli- auch die Ablehnung der mit ihnen ver- tischen Parteien, dass die Familie des bundenen Vorstellungen und Haltungen zu Würdigenden die Tiroler Landes- einschließt. Verstümmelte Nasen, wie regierung bat, angesichts berechtigter das 1993 abgeschlagene Gesichtsteil der Bedenken um den gesellschaftlichen großen Eisenacher Thälmann-Büste,46 Konsens und um die Beschädigung bezeugen den Zielpunkt, dem diese Art der Würde des Dargestellten durch die der Aggression neben den Augen meis- prognostizierte materielle Beeinträch- tens gilt. Dazu kommen inzwischen viel- tigung des Kunstwerks dessen Aufstel- fach Anschläge mit Farbe, so etwa auf die lung an einem weniger zentralen Ort 2007 vom Surberger Bildhauer Johann vorzunehmen.45 Brunner geschaffene Bronzebüste Papst Weil die Büste tatsächlich zweifach als Benedikts XVI. vor der Traunsteiner Stellvertreterin erscheint, als Repräsen- Stadtpfarrkirche St. Oswald. Rot war tantin der Persönlichkeit und als jene die Plastik schon kurze Zeit nach ihrer ihres Denkens, ihrer politischen oder Enthüllung verfärbt worden. Der dem 44 Vgl. Leonie Beiers- ideologischen Haltung, kamen ihr im Sockel zugleich applizierte Schriftzug dorf, Die doppelte Krise. Lauf der Geschichte wie auch Stand- „Gott ist an allem schuld“ wurde als Ostdeutsche Erinnerungs- zeichen nach 1989, bildern im Sinne des körperlichen Re- Ausdruck einer allgemeinen Kritik an Berlin 2015, S. 259–261. präsentanten vielfach stellvertreten- der Religion gedeutet, die der Täter of- 45 Vgl. Aufregung um geplante Büste für de Maßnahmen der Missbilligung, ja fensichtlich im Papst repräsentiert sah. Wallnöfer, in: Tiroler der Misshandlung zu. Als Robespierre Als Initiatoren eines zweiten Überfalls Tageszeitung, 31.10.2016, S. 2. (1758–1794) am 5. Dezember 1792 sei- mit rosaroter Farbe im Frühjahr 2016 46 Vgl. Beiersdorf, Krise, ne berühmte Rede mit der Forderung vermutete man Aktivisten der Schwu- S. 60–63.

36 lenbewegung, die die Morallehre der rö- weltmeisterschaft eine schwarz-rot-gol- misch-katholischen Kirche attackierten, dene Fanbemalung auftragen. Seinen indem sie dem Abbild deren Oberhaupts Sockel bekleidete man an allen Spielta- die Würde zu rauben versuchten. gen der deutschen Nationalmannschaft Heute geht kaum ein politischer Sys- mit einem Imitat des deutschen Trikots. temwechsel ohne den Sturz von Stand- Die Stadtväter kreierten auf diese Wei- bildern und die Zertrümmerung oder se den „größten Deutschlandfan“ und zumindest Abräumung von Büsten versprachen sich davon internationale vonstatten, wie etwa der Umgang mit Aufmerksamkeit. Nachdem das „Trikot“ Denkmälern nach dem Ende der Dikta- bereits in der ersten Woche gestohlen turen in Osteuropa oder in der DDR in worden war, ersetzten es die Initiato- großem Maßstab zeigte. Zerstörungen ren rasch durch ein neues Exemplar. wie bei dem kurz nach dem Zusammen- Was sowohl die Diebe – abgesehen vom bruch des „deutschen Arbeiter- und Eigentumsdelikt – als auch die Verfech- Bauernstaats“ in den Keller des Kultur- ter der Einkleidung tatsächlich bewusst hauses von Mestlin, dem einstigen so- oder unbewusst verfolgten, war para- zialistischen Musterdorf bei Parchim doxerweise beiderseits die Rettung der in Mecklenburg, verbrachten und erst plastischen Würdeformel mit einem 2008 von der Metallbildhauerin Takwe geradezu religiöser Inbrust vergleich- Kaenders restaurierten Porträtkopf von baren Impetus. Suchten die einen den Karl Marx (1818–1883) belegen eine plastischen Stellvertreter des großen anthropologische Konstante (Abb. 2.5). Denkers von den verwerflichen „Sün- Die Demolierung lebensgroßer, plasti- den“ der gegenwärtigen Eventkultur zu scher Köpfe bildet einen mittelbaren „reinigen“, betrachteten die anderen Gewaltakt am Dargestellten und stellt die erneute Einkleidung als Wiedergut- einen greifbaren Ausdruck der Rache machung eines verwerflichen Frevels. dar, die an ihm für seine Ideen und die Beide Vorgehensweisen aktualisieren tatsächlich oder vermeintlich daraus er- offenkundig alte, aus dem Umgang mit wachsenen sozialen Konstellationen ge- Kultbildern bekannte Praktiken. nommen wurde. Selbst der Kostümstreit der Zeit um Erstaunlicherweise wird sogar die Praxis 1800, die Frage nach der dem Helden des ephemeren Schmucks von Porträt- angemessenen Bekleidung mit dem büsten heute wieder gepflegt. Anlässlich antiken Gewand der Zeitlosigkeit oder von Jubiläen der Dargestellten behängt dem seiner eigenen Epoche, erfährt in man beispielsweise das Brustbild Sal- der Gegenwart Aktualität. Kontrovers vador Allendes von Jaime Carvajal im wurde sie jüngst im Zuge der Konzep- Wiener Donaupark mit der Präsidenten- tion einer überlebensgroßen Büste des schärpe oder jenes des Dalai Lama von russischen Staatspräsidenten Wladimir Peter Hohberger vor Schloss Nörvenich Putin behandelt. Auftraggeber der Plas- bei Düren mit einem weißen Khata, tik des Petersburger Künstlers Pawel dem tibetischen Begrüßungsschal. Dem Gretschnikow, die 2015 in einem Hain monumentalen, 1971 im Zentrum von in Kassimowo bei St. Petersburg auf- Chemnitz aufgestellten Karl-Marx-Kopf gestellt wurde, war die Kosakengesell- Lew Kerbels (1917–2003), der bis 1989 schaft der russischen Metropole. Streng die Kulisse für politische Umzüge und frontal zeigt sie den nur scheinbar aus Massenveranstaltungen bildete, ließ die der seit jeher in besonderer Weise so- dortige Stadtverwaltung während der zialen Eliten vorbehaltenen Bronze, in 2014 in Brasilien ausgetragenen Fußball- der Tat aber aus Kunststoff geformten

37 Staatschef im Habitus des antiken Impe- addierten, die im amerikanischen Un- rators. Andrej Poljakow, der Vorsitzende abhängigkeitskrieg für freiheitliche der Kosakengesellschaft, hatte eine Dar- Ideale starben, erfuhr die von ihm ver- stellung mit barem Haupt sowie Brust- gegenwärtigte Persönlichkeit eine Wür- harnisch mit Toga durchgesetzt. Die digung als Held und Opfer, deren Tat Entscheidung fiel damit sowohl gegen in vergleichbarer Weise ewigen Ruhm die aktuelle Uniform des russischen Mi- beansprucht. Obwohl nur ephemer, litärs als auch das historische Kostüm schreibt die körperhafte Abbreviatur mit der sogenannten Kappe des Mono- der exilierten Galionsfigur zivilen Un- mach, einer der in der Schatzkammer gehorsams in Form ihres in 3-D-Druck des Moskauer Kremls aufbewahrten entstandenen Porträts die Funktion des Krönungsinsignien der Großfürsten Büstendenkmals der Aufklärung fort, und Zaren, die als Symbol gottgegebe- die auf den Ruhm des Tugendhelden ner Herrschaft und der russischen Auto- und dessen Vorbildwirkung in der Ge- kratie gilt. Die Gültigkeit des russischen sinnungsbildung zielte. Machtanspruchs, den Putin derzeit wie Bildgebender Verfahren und damit ver- keine zweite Persönlichkeit repräsen- bundener Technologien der Büsten- tiert, schien sich den Auftraggebern also produktion bedienen sich, wie diese am deutlichsten in der zeitlosen Herr- Beispiele zeigen, sowohl politisch kon- scher- und Heroenikonografie der Anti- forme als auch subversive gesellschaft- ke veranschaulichen zu lassen. liche Gruppierungen. Darüber hinaus In zeitgenössischer Kleidung erscheint greift selbst das Establishment zu den dagegen Edward Snowden in einer gleichen Mitteln, wie vor wenigen Jah- mit 120 Zentimetern Höhe mehrfach ren Barack Obama. Seit Gilbert Stuart überlebensgroßen Porträtbüste, die am (1755–1828) George Washington im 6. April 2015 auf der Säule des Prison Jahr 1797 auf einer Leinwand konter- Ship Martyr’s Monument im Fort Green feite, waren die offiziellen Porträts Park von Brooklyn, New York, unerlaubt der amerikanischen Präsidenten sämt- installiert wurde. Ihre beiden Schöpfer lich Ölgemälde. Obama brach in zei- Andrew Tider und Jeff Greenspan wür- chenhafter Weise mit dieser Tradition digten mit ihr den Whistleblower und und ließ sich dafür schon bei seinem in den USA zum Staatsfeind erklärten Amtsantritt 2009 rundum von digita- ehemaligen Mitarbeiter mehrerer dor- len Kameras ablichten. Anhand dieses tiger Geheimdienste als Symbolfigur Datenmaterials entstand 2014 eine im transparenter Politik und wahrer De- Smithsonian Digitization Program Of- mokratie. Sowohl diese Plastik selbst als fice in Washington geschaffene Büs- auch ihre aufgrund der rasch erfolgten te. Günter Waibel, der Leiter dieses Verhüllung und späteren Abräumung Smithsonian-Instituts, sieht in dem durch staatliche Ordnungskräfte nur Verfahren ähnlich wie in den von den kurzzeitige Präsenz verdeutlichen den Gesichtern Lebender oder Toter abge- subversiven Charakter, der mit dem Ge- nommenen Gipsmasken, die seit dem brauch der plastischen Würdeformel späten 18. Jahrhundert vielfach als verbunden sein kann, wenn sie einer wichtiges Medium im Schöpfungspro- politisch oder sozial gebrandmarkten zess plastischer Bildnisse dienten, den Persönlichkeit gilt. Mit dem ebenfalls Garanten für die authentische Erfah- Bronze imitierenden Kunststoffbild- rung der abgebildeten Persönlichkeit. werk, das die beiden New Yorker Gra- Obama ist somit der erste Präsident fiker der Gedenkstätte für Soldaten der Vereinigten Staaten, der sich sein

38 in die Ahnenreihe der amerikanischen Sockelformen vom Besteller, weil mehr- Demokratie einzufügendes Denkmal fach kombinierbar, ebenso frei zu nicht als gemaltes Porträt, sondern wählen sind wie die materielle Ober- als Büste, dazu vom 3-D-Drucker und flächenerscheinung der Plastik. Dar- ohne die unmittelbare Mitwirkung ei- über hinaus empfiehlt das in Weimar nes bildenden Künstlers, setzen ließ: in ansässige „Atelier für stilvolle Bildhau- authentischer Physis, aber ohne einen erarbeiten“ Büsten zur Nobilitierung interpretativen Duktus. der eigenen Begräbnisstätte, die in Auch die Verewigung in preiswertem der gleichen Methode nach fotografi- Kunststoff stellte für ihn offenbar kein schen Vorlagen entstehen. Die thürin- Problem dar. Den Initiatoren der Bildnis- gische Firma rekurriert dabei ebenso se Putins und Snowdens reichte die Imi- wie „Ego3D“ mit dem Versprechen, tation des ehernen Bildes ebenfalls aus. „ein lebensgroßes Bildnis“ mache auch Der der bildenden Kunst nicht unbe- heute noch „unvergänglich“, auf den kannte, für die Gattung der Porträtbüste der Gattung prinzipiell immanenten aber bisher kaum eingesetzte Werkstoff Ewigkeitsanspruch. erweitert das Spektrum der dafür übli- Tider und Greenspan stellten die Daten- chen Materialien ähnlich der im Zuge sätze ihrer Snowden-Büste nach deren technischer Reproduktionsverfahren im Abräumung in Brooklyn sofort ins digi- letzten Drittel des 18. Jahrhunderts er- tale Netz, sodass sich damit jedermann folgten Sanktionierung von Gips, Terra- ein Exemplar der Plastik herstellen kotta, Papiermasse oder Gusseisen.47 konnte. Die prominenteste Replik fand Die mittels billiger Materialien ermög- im Januar 2016 kurzzeitig Aufstellung lichte serielle Kopie befriedigte damals vor dem Wiener Parlamentsgebäude. die bis in kleinbürgerliche Kreise hinein Unter dem Motto „Mehr Kontrolle den wachsende Nachfrage nach plastischen Kontrollierenden“ beabsichtigten die Bildnissen und forcierte die Populari- Initiatoren der Aktion, die liberalen ös- sierung von Gesichtern herausragen- terreichischen NEOS, sowohl die Wür- der und weithin geschätzter Persön- digung Snowdens als auch die öffent- lichkeiten.48 Der konsumtive Prozess, lichkeitswirksame Aufrichtung eines den eine technisch noch einfachere „Symbols gegen den Überwachungs- und ökonomisch enorm preiswerte staat“. Die die Lebensgröße überstei- 47 Vgl. Kammel, Charak- terköpfe, S. 142–162; Herstellung plastischer Brustbilder heu- gende Monumentalität der Plastik ver- Frank Matthias Kammel, te anzustoßen beginnt, beinhaltet den leiht dem Abgebildeten das Image des Der Vorstellungskraft Flügel verleihen. Von Trend zur eigenen Porträtbüste für je- „großen Mannes“, des Helden. Mit der Macht physischer Modelle, in: Ders. (Hrsg.), den. Nicht zuletzt ist dieser Egalisie- ihrer Vergoldung orientierten sich die Leibniz und die Leichtig- rung die Gefahr implizit, die Gattung Urheber an einem alten, über kulturel- keit des Denkens. His- torische Modelle: Kunst- ihres Charakters als Würdeformel zu- le Grenzen hinaus verbreiteten Zeichen werke, Medien, Visionen. mindest teilweise zu entkleiden. Schon höchster Wertschätzung und Verehrung Ausst.-Kat. Germanisches Nationalmuseum, heute bieten im Internet agierende Fir- und charakterisierten die gezeigte Per- Nürnberg 2016, S. 8–41, men wie „Ego3D“ neben Brustbildern sönlichkeit auf diese Weise nicht zuletzt hier 36–38. zahlreicher prominenter Persönlich- als einen „Erleuchteten“ und als einen 48 Vgl. Kammel, Charakter­köpfe, S. 142– keiten der Vergangenheit und der Ge- „Erleuchter“ dunkler Machenschaften 162; Ders., Prominente Gesichter. Werkstattab- genwart auch individuelle Stücke an. zugleich. güsse von Bildnisbüsten, Anhand von „drei Fotos der Person“ Auch dieses der Legalität entbehrende in: KulturGut. Aus der Forschung des Germa- verspricht das Unternehmen „eine Denkmal musste kurze Zeit später schon nischen National­ hochwertige, einzigartige Porträtbüste“ weichen. Seine Verfechter begannen da- museums, H. 38, 2013, S. 9–11. zu modellieren, deren Abschnitt- und her, einen „Snowden-Platz“ zu suchen,

39 das heißt den Eigentümer eines Grund- Dr. Frank Matthias Kammel (* 1961) stücks, das dem Monument eine öffent- widmete sich bereits in seiner Dissertati- liche oder zumindest halböffentliche on dem Thema Skulptur. Nach mehrjäh- Wirkung zu sichern vermag. Unter dem riger Tätigkeit als Wissenschaftlicher An- Verdrängungsdruck der herrschenden gestellter an der Skulpturensammlung Ordnung erfuhr die bereits vom Beginn der Staatlichen Museen zu Berlin wech- der Entwicklung des Büstendenkmals selte er ans Germanische Nationalmu- her bekannte Praxis der Aufstellung an seum in Nürnberg, wo er 23 Jahre lang halböffentlichen Orten somit eine un- die Skulpturensammlung leitete und als vermutete Renaissance.49 Stellvertreter des Generaldirektors fun- Als körperhafter Stellvertreter einer gierte. Seit 2018 ist er Generaldirektor Person, die sich vor dem Zugriff der des Bayerischen Nationalmuseums in US-amerikanischen Staatsmacht ver- München. bergen muss und daher für die meisten Menschen seit Jahren nur in Gestalt zweidimensionaler Medien existiert, entfaltet das plastische Brustbild sein Potenzial der Vergegenwärtigung auf besonders eindrucksvolle Weise. Den meisten Zeitgenossen erscheint Snow- den – gleich dem verehrungswürdigen Toten – allein in der Büste als haptisch erlebbarer Körper. Zugleich zeigt sie sich als Garantin für Würde und Vor- bildhaftigkeit, als Beweis für die un- umstößliche Rechtschaffenheit des von ihr Repräsentierten, in dessen An- gesicht – wie Hirschfeld einst formu- lierte – dem Betrachter der Gedanke an dessen große Verdienste aufkeimt und er sich „zur Nacheiferung hinge- rissen“ fühlt; vorausgesetzt, dem Bild- werk wird eine allgemein zugängliche Platzierung zuteil. Einen würdigen und bleibenden Platz für die „Goldbüste“ Snowdens zu finden, um sie als glori- fizierte Stellvertreterin seiner Memoria zur erwünschten Wirkung zu bringen, scheint eine nicht problemlose, auf jeden Fall bleibende Aufgabe zu sein. „Unsterblichkeit“ ist, wie bereits Fried- rich Gottlieb Klopstock (1724–1803) in seiner Ballade „Der Zürchersee“ 1750 dichtete, gewiss „ein großer Gedanke und des Schweisses der Edlen werth“, 49 Vgl. Roland Kanz, Dichterporträts an doch sie nachhaltig zu arrangieren – Gartendenkmälern auch das bezeugt dieses Exempel – kos- der Empfindsamkeit, in: Die Gartenkunst 5, tet nicht weniger Mühe. 1993, S. 126–134.

40 Ursel Berger Auf der Suche nach einem neuen Menschenbild

Politische Bildnisse der 1920er- bis 1950er-Jahre

Im folgenden Beitrag können nur ein Zur Verdeutlichung ein kurzer Blick paar Beispiele aus einer vielfältigen Ent- auf die vergleichbare Entwicklung wicklung vorgestellt werden. Ich wer- der Denkmäler: In der Regierungszeit de mich auf ein paar charakteristische Kaiser Wilhelms II. wurden 400 Denk- Porträts beschränken. Dabei geht es in mäler für seinen Großvater, Wilhelm I., erster Linie um Friedrich Ebert, Adolf ausgeführt. Die royalistischen Zeiten Hitler und Ernst Reuter. waren von dynastischer Kontinuität Schon die erste Etappe des betrachte- geprägt. Mit dem Ende des Ersten Welt- ten Zeitraums, die Weimarer Republik, kriegs jedoch gab es einen Bruch. Na- war eine sehr bewegte Phase, denn die türlich wurden keine weiteren Kaiser- Gesellschaft und mit ihr die Künstler denkmäler oder Kaiserbüsten mehr versuchten sich neu zu positionie- aufgestellt – im Gegenteil. In der revo- ren. Dabei stellte man sich gegen die lutionären Künstlergruppe „Arbeitsrat vorangegangene Epoche, die relativ für Kunst“ plädierte man auch für die lange, relativ friedliche Wilhelmini- „Beseitigung künstlerisch wertloser sche Zeit. Während dieser ersten de- Denkmäler“. Vor allem Bronzen sind mokratischen Phase in der Geschichte in Umbruchszeiten gefährdet, denn Deutschlands suchte man unter ande- das Material ist wertvoll und wieder- rem nach einem neuen Menschenbild verwendbar. Selbst für Gips interes- und das betraf auch das Porträt – auch sierte man sich: In der Inflationszeit das offizielle Porträt. In Zeiten der Mo- verarbeitete man, wegen akuten Krei- narchie war es klar, welche Personen demangels in den Schulen, die dort öffentlich mit Büsten präsentiert wur- zahlreich vorhandenen Büsten der den: neben einigen Kriegs- und „Geis- Hohenzollern. Sicherlich wurden vie- teshelden“, so der Begriff jener Zeit, le Porträtbüsten vergangener Zeiten waren das natürlich in erster Linie die ohne viel Federlesens weggeräumt, et- Vertreter des regierenden Adelshauses. liche auch zerstört.

41 Stattdessen gab es hochfliegende Plä- Lederers Initiative hatte Erfolg: Am 23. ne, von denen wegen der Turbulenzen Juli 1925 lehnte der Ausschmückungs- nach dem Ersten Weltkrieg und vor al- ausschuss die Aufstellung der Büste im lem wegen der Geldentwertung durch Reichstag ab. Kolbe hatte keine natura- die Inflation nur ganz wenige realisiert listische Büste geschaffen. Er übersetzte wurden. Das änderte sich erst in der die straffen Züge Eberts, der ja nur 54 Mitte der 1920er-Jahre. Der plötzliche Jahre alt geworden war, in seine neue, Tod des Reichspräsidenten Friedrich aufgelockerte, skizzenhafte Formen- Ebert im Februar 1925 führte dazu, dass sprache, die unter Berliner Bildhauern der Wunsch aufkam, ein monumenta- damals gerade aktuell geworden war. les Bildnis von ihm im Reichstag aufzu- Hugo Lederer war einer der führenden stellen. Bildhauer der Wilhelminischen Zeit ge- Der Bildhauer Georg Kolbe, der schon wesen; er behielt seinen Vorkriegsstil die Totenmaske abgenommen hatte, bei. „Professor Lederer ist Klassizist, ich erhielt vom Präsidenten des Reichsta- suche nach neuen Wegen“, war Kolbes ges, Paul Löbe, den Auftrag zur Ausfüh- Kommentar.2 rung einer Ebert-Büste. Das Gipsmodell Dass solch ein neoimpressionisti- von Kolbes Büste wurde dem Aus- scher Stil damals Verwunderung her- schmückungsausschuss des Reichstages vorrief, belegt der Kommentar eines mehrfach zur Begutachtung vorgeführt „Modells“, von Paul von Hindenburg, (Abb. 3.1). Dabei wurden durchaus dem Nachfolger Eberts als Reichsprä- auch Einwände geäußert. Der Bildhau- sident. 1928 wurde er von dem Bild- er Hugo Lederer, der als (nicht stimm- hauer Ernesto de Fiori porträtiert, der berechtigter) Sachverständiger dem darüber einen Artikel veröffentlichte. Ausschmückungsausschuss angehörte, Demnach beklagte sich der Reichsprä- erstellte – ohne Auftrag – ein Gutach- sident: „Diese Bildhauer modellieren ten, das an die Öffentlichkeit gelangte; jetzt alle so flockig rau. Die Haut ist daraus einige Zitate: doch glatt! Da war kürzlich einer da, der hat einen richtigen Schneemann „Die Ebertbüste des Herrn Pro- aus mir gemacht.“3 fessor Kolbe trägt den Stempel Zurück zur Ebert-Büste von Kolbe: Die der Oberflächlichkeit, die gerade- Presse stürzte sich auf den sogenannten zu beleidigend ist für den Zweck, „Fall Lederer – Kolbe“, Hunderte von dem sie geweiht sein soll, für das Zeitungsberichten beschäftigten sich ganze Volk. Das ist nicht genial, damit – eine große Zahl ist im Archiv das ist gepferzt!!! Das ist auch des Georg-Kolbe-Museums erhalten. 1 Archiv Georg-Kolbe- Museum, vgl. Ursel nicht gekonnt – das ist mangel- Die Veröffentlichungen ergriffen fast Berger, Georg Kolbe. haft!!! Einen anderen Ausdruck einstimmig für Kolbe Partei, auch dann, Leben und Werk mit dem Katalog der Plastiken im finde ich dafür leider nicht. wenn sie die Ebert-Büste nicht für ein Georg-Kolbe-Museum Mit Bedauern muß ich hören, daß besonders gelungenes Werk hielten. Stu- Berlin, Berlin 1990, S. 77–80. denten der Vereinigten Staatsschulen der Herr Reichskunstwart die 2 Ebd. Büste empfohlen hat – hier liegt schickten eine Sympathieadresse; sech- 3 Ernesto de Fiori, Ich Fachunkenntnis vor, die bedeu- zehn Museumsdirektoren veröffentlich- modelliere Hindenburg, in: Berliner Illustrirte tungsvoll ist. Ernste Betrachtun- ten einen offenen Brief; der Künstler- Zeitung, 04.11.1928 gen sind in diesem Fall nötig [...]. bund wandte sich an den Reichstag; die (Nachdruck in: Beatrice Vierneisel, Ernesto de Wo sollen wir hinkommen, wenn Preußische Akademie der Künste berief Fiori. Das plastische Werk für den 31. Juli 1925 eine Sondersitzung 1911 – 1936. Ausst.-Kat. Leute im Rufe des Herrn Kolbe Georg-Kolbe-Museum, derartige Aufträge so behandeln!“1 ein; die Berliner Nationalgalerie stellte Berlin 1992, S. 160–161).

42 die Büste aus; die Galerie Cassirer veran- ner Versuch, eine alte Würdeform mit staltete auf die Schnelle eine Kolbe-Aus- neueren Stilen zu verbinden. stellung. Der reaktionäre Kritiker Willy Die Kontroverse „Kolbe – Lederer“ war Pastor schrieb dazu: nicht nur eine Auseinandersetzung zwi- schen Künstlern verschiedener Stilrich- „Georg Kolbe hat bei Cassirer tungen; es ging auch um Politik. Lede- ausgestellt. Genauer gesagt: der rer stand politisch ziemlich weit rechts, Fall Lederer – Kolbe gab Cassi- 1933 trat er in die NSDAP ein. Sein Sohn rer Anlaß zu einer Vorführung Heinz Lederer wurde zu einer wichtigen Kolbescher Werke, so daß we- Figur in der Reichskulturkammer. Seine niger eine Kolbe- als vielmehr Kunstkritik war insofern unterschwellig eine Trutz-Lederer-Ausstellung politisch motiviert – und wurde auch so zustande kam. Die Ebertbüste ist verstanden. Kolbe war seitdem in der der beherrschende Mittelpunkt. rechten Presse der Bildhauer der Sozial- Rechts und links von ihr schließt demokraten. Als er kurze Zeit später den sich eine kleine Siegesallee Kol- preußischen Innenminister Carl Seve- bescher Werke an.“4 ring porträtierte, auch er ein Sozialde- mokrat, kommentierte die einschlägige Kolbes Ebert-Büste wurde nie im Reichs- Presse: tag aufgestellt, stattdessen erhielt sie auf Veranlassung der sozialdemokratischen „Dank der Gewissenlosigkeit Fraktion im Oktober 1925 einen Platz bürgerlicher Landtagsmitglieder, im Preußischen Landtag. die ihre Abgeordnetenpflicht mit Von heute aus gesehen verwundert es, Füßen treten, ist es dem sozial- dass Kolbes Büste die Gemüter erregte, demokratischen Abgeordneten sie war doch alles andere als ein revolu- Severing geglückt, sechs Jah- tionäres Werk. re preußischer Innenminister zu Am Beginn der Weimarer Republik hatte sein. Dieser Tag muß gefeiert man durchaus versucht, ganz neuartige werden, und zwar monumen- Porträts zu schaffen. Vor allem Rudolf talerweise in Erz… Zu diesem Belling ist hier zu nennen, der damals Zwecke hat die sozialistische einer von – sehr wenigen – Bildhauern Fraktion des Landtages bei dem in Deutschland war, die sich bis zur Abs- Ebert-Verewiger Kolbe eine Büs- traktion vorwagten. Belling hat vor al- te des Obergenossen bestellt, lem für Gewerkschaften gearbeitet und die im Landtage Aufstellung fin- 1927 auch ein Ebert-Bildnis geschaffen. den soll. Wie erklärt wird, soll sich Im Berliner Rathaus schmückte es den Kolbe auch schon auf die Schaf- Eingang des Sitzungssaales der sozialde- fung von Büsten anderer Genos- mokratischen Fraktion (Abb. 3.2). Von sen vorbereitet haben, damit er den Formexperimenten der frühen gegebenenfalls auf das schnells- 1920er-Jahre findet man hier nur noch te zur Hand sein kann.“5 wenig. Wenn auch die Porträtmaske im Verhältnis zum Kolbe-Bildnis stilisierter Dass die Ebert-Bildnisse von den Na- erscheint – beziehungsweise auf andere tionalsozialisten als politisch eingestuft Art stilisiert. Übrigens soll sowohl das wurden, zeigte sich daran, dass sie zer- erste Exemplar der Kolbe-Büste als auch stört wurden. Sowohl Kolbes Bronzebüs- 4 Wie Anm. 1. der Belling-Maske vergoldet gewesen te als auch die Maske von Belling – die 5 Berger, Kolbe, S. 80. sein – beide Male ein etwas unbeholfe- es dreifach gab – haben die NS-Zeit nicht

43 überlebt. Während das Gipsmodell von gleich wie hässlich und bunt für Bellings Werk im Krieg verloren ging, einen geläuterten Geschmack, blieb die Vorlage für Kolbes Büste erhal- überhaupt in der Arbeiter- und ten und das Bildnis konnte deshalb spä- Bauernstube hängt? Machen wir ter „Auferstehung“ feiern – etliche Städte uns doch von der lächerlichen waren daran interessiert. Idee frei, dass es unsere Pflicht Die Nationalsozialisten verfolgten nicht sei, das Volk zum hohen Kunst- nur Menschen, sondern auch die Bild- verständnis zu erziehen. […] nisse derer, die sie zu Feinden erklärt Durch nichts könnten die Küns- hatten. Bilderstürme hat es in der lan- te mehr gefördert werden als – gen Kulturgeschichte der Menschheit wenn das möglich wäre – durch immer wieder gegeben. Die Gattung der ein Verbot des Wortes Kunst für Porträtplastik war eigentlich immer ge- 10 Jahre.“6 fährdet. Aus politischen Gründen sind immer wieder Bildnisse zerstört oder Das war damals die Meinung des Direk- bestenfalls magaziniert worden. Ab tors einer der bekanntesten deutschen 1933 erhielt die Beseitigung von Port- Kunsthochschulen! Vor allem Klein- räts eine neue Dimension. büsten wurden in großer Zahl massen- Was in der NS-Zeit an neuen Bildnissen haft hergestellt; es sind übrigens – trotz entstand, war dagegen von der künstle- der massenhaften Vernichtung nach rischen Bedeutung her sehr wenig, von Kriegsende – nicht wenige solcher dun- der Masse her aber besonders viel. kel gefassten Terrakottaköpfe erhalten Eine Fotografie aus dieser Zeit zeigt, geblieben, im Internet werden sie zum wie massenweise kleine Hitler-Büsten Erwerb angeboten. hergestellt werden (Abb. 3.3). Dazu Auch großformatige Hitler-Büsten gab passt eine Aussage von Max Kutsch- es natürlich viele. Die überwiegende mann, der 1933 zum Direktor der Zahl davon ist nach Kriegsende ver- Berliner Kunsthochschule (Vereinig- schwunden. Bronze konnte man ein- te Staatsschulen für freie und ange- schmelzen und somit wiederverwen- wandte Kunst) ernannt worden war: den; was aber machte man mit Mar- morbüsten? Man kann sie vergraben, „Ist es denn der Würde oder Ehre dann besteht allerdings die Gefahr, dass Friedrichs des Großen abträg- sie Jahrzehnte später wieder zum Vor- lich gewesen, dass sein Bildnis schein kommen, wie zum Beispiel bei auf ungezählten Schnupftabaks- Bauarbeiten in Gda´nsk (Danzig). Ende dosen oder Porzellantassen an- 2015 wurde neben dem dortigen Na- gebracht wurde? Tausende und tionalmuseum eine Hitler-Büste aus- Abertausende wurden aber auf gegraben. Die Signatur weist sie als ein diese Weise an ihn erinnert. […] Werk von Joseph Thorak aus, einem Ist es wirklich Hitler und seiner der „Lieblingsbildhauer“ Hitlers. Zwar Idee abträglich, wenn er mit sei- war Hitler vermutlich die am meisten nen SA-Leuten als Zinnfiguren in porträtierte Person in Deutschland im die Hände Tausender von spie- 20. Jahrhundert. Bekannt ist aber, dass lenden Kindern gerät? Muß ein er keine Porträtsitzungen gewährte. Hitler-Bild wirklich immer allen Somit spiegeln all diese Bildnisse kei- 6 Zit. nach Joseph Wulf, hochgespannten künstlerischen ne Auseinandersetzung zwischen dem Die bildenden Künste Künstler mit seinem Gegenüber wider, im Dritten Reich. Eine Anforderungen genügen? Ist es Dokumentation, Güters- nicht viel wichtiger, dass es, ganz sondern sie sind alle Idealvorstellungen loh 1963, S. 25.

44 vom „Führer“ – also stilisierte Wunsch- schuf im gleichen Jahr ein Reuter-Porträt, bilder. Was Thorak ausdrücken wollte, das am 29. Juli 1954, dem 65. Geburtstag will man gar nicht wissen. Ernst Reuters, im sogenannten Ernst- Sogenannte Nazikunst war in den letz- Reuter-Haus aufgestellt wurde. Scheibe ten Jahrzehnten geradezu ein Modethe- hatte schon die Totenmaske abgenom- ma in der Kunstgeschichte. Meines Er- men. Seine Büste ist sicherlich der tat- achtens ist zu wenig beachtet worden, sächlichen Physis Reuters sehr nahe, dass es einen NS-Stil in der Kunst gar trifft aber das Bild, das wir von ihm ha- nicht gab, und für die Porträtaufgabe ben, weniger als Heiliger. Zu sehr schien erst recht nicht. Erst in der nächsten Scheibe von der friedlichen Wirkung Etappe – der Nachkriegszeit – haben der Totenmaske ausgegangen zu sein. einige Künstler noch einmal eine neue Er modellierte übrigens auch eine große Auseinandersetzung mit dem plasti- Relieftafel und die Ernst-Reuter-Medaille, schen Porträt initiiert. die Ehrenmedaille der Stadt Berlin, die Überraschenderweise gab es nach Kriegs- bis heute vergeben wird. ende zuerst einmal kaum eine Diskus- Die Konkurrenz um das offizielle Bild- sion über NS-Kunst. Anfangs dominier- nis der Stadt Berlin hatte jedoch der ten die Künstler der Weimarer Republik, Neuerer unter den Berliner Bildhau- die sich in der NS-Zeit zurückgesetzt ern gewonnen: Bernhard Heiliger. fühlten. Die jungen Neuerer hatten zu Seine Büste wurde am 29. September kämpfen. Bernhard Heiliger zum Beispiel 1954, dem ersten Todestag Ernst Reu- beklagte sich 1947: ters, im Schöneberger Rathaus einge- weiht. Heiliger hatte zuvor schon mit „Im übrigen gibt es noch immer einigen neuartigen Porträts Aufmerk- viel Tendenzen zu den überleb- samkeit erregt, die keine realistischen ten Kunstrichtungen vor 33. Des- Bildnisse waren, aber dennoch von den to schwerer haben es diejenigen, Zeitgenossen als „ähnlich“ empfun- die sich, wie ich, über jede Rich- den wurden. Ein zeitgenössischer Kri- tung um das wahre, echte und tiker bezeichnete das Bildnis des Ma- große in der Kunst bemühen.“7 lers Carl Hofer als „fast erschreckend ähnlich“. Als Beispiel für die Porträtaufgabe in die- Für die posthume Reuter-Büste orien- ser Zeit habe ich Heiligers Bildnis von tierte sich Heiliger an Fotografien, aber Ernst Reuter ausgewählt (Abb. 3.4). Er auch an Filmen, und erreichte dadurch war der Regierende Bürgermeister von eine sehr lebendige Darstellung. Das Berlin – zuletzt nur von West-Berlin. Als kann man heutzutage gut nachempfin- er 1953 plötzlich verstarb, schrieb der den, denn Bilder und Filme und dazu Senat von Berlin einen Wettbewerb für auch die Stimme Reuters kann man eine Reuter-Büste aus, die im Schöne- im Internet leicht abrufen: „Schaut berger Rathaus aufgestellt werden soll- auf diese Stadt!“ Heiligers Reuter-Bild- te. Die Folge war, dass etliche Berliner nis verkörpert den Überlebenswillen Bildhauer 1954 Reuter-Porträts schufen. der Stadt Berlin. Ganz bewusst wollte er Zwei weitere wurden öffentlich aufge- nicht eine getreue Abbildung schaffen. stellt: eine Büste von Fritz J. Reuter im Er betonte: „Wir alle müssen wesent- Roten Rathaus, eine von Harald Haa- lich werden und neue Symbole für eine 7 Zit. nach Marc Well- cke auf einem Gedenkstein in Berlin- neue Zeit ersinnen.” Diese Aussage hat- mann (Hrsg.), Bernhard Gesundbrunnen. Auch der Senior der te er im Hinblick auf sein Max-Planck- Heiliger. Die Köpfe, Köln 2000, S. 46. Berliner Bildhauer, Richard Scheibe, Denkmal gemacht, das er 1948 für die

45 Berliner Universität (Humboldt-Univer- sität) geschaffen hatte. Am vorgesehen Platz wurde es übrigens erst 2006 auf- gestellt! Bernhard Heiliger hat eine Reihe be- deutender – nicht alle gleich bedeu- tender – Porträtbüsten geschaffen. Die- se Werkreihe brach er jedoch in den 1960er-Jahren ab. Schließlich distan- zierte er sich so auch von seinen eige- nen Meisterbildnissen. Seit Mitte der 1950er-Jahre gingen die Wege in der Entwicklung der Skulptur auseinander. Die figürliche Plastik und vor allem die Porträtaufgabe wurden nun von vielen als ein nebensächliches Thema ganz am Rande der Kunstentwicklung einge- schätzt. Die meisten aufgeklärten Zeit- genossen kamen zu der Überzeugung, dass die Zeit dafür vorbei war. Am deutlichsten kann man das viel- leicht am Werk Bernhard Heiligers ab- lesen. „Symbole für eine neue Zeit“ suchte er nun in der Abstraktion. 1962/63 schuf Heiliger sein Denkmal für Ernst Reuter als abstrahierte Flam- me, aufgestellt ist es am Berliner Ernst- Reuter-Platz.

Die Kunsthistorikerin Dr. Ursel Berger (* 1947) leitete von 1978 bis 2012 das Georg-Kolbe-Museum in Berlin. Zu ih- ren Arbeitsschwerpunkten gehört die Bildhauerei des 20. Jahrhunderts. Berger war an über 120 Ausstellungen und den dazugehörigen Publikationen beteiligt.

46 Arie Hartog Das Kamel

Darstellungen von Karl Marx in der Bildhauerei der DDR1

Es ist auffällig, wie wenig Karl Marx in burg. Mindestens so interessant war der Bildhauerei der DDR zu finden ist. die Tatsache, dass in der Diskussion nie Konnten die Bildhauer Marx nicht dar- ein Künstler genannt wurde. Gerhard stellen, wollten sie es nicht oder gab es Thieme (1928–2018), ein Berliner Bild- einen so starken (unterschwelligen) po- hauer und ehemaliger Meisterschüler litischen Druck, dass die Möglichkeit, von Fritz Cremer (1906–1993), hatte ins Symbolische auszuweichen, gerne das Werk 1968/69 geschaffen, auf der genutzt wurde? Wikipedia-Seite zum Bildhauer wird es aber nicht genannt. Der Künstler habe nur kleine Reliefs mit sozialistischen Marx in Neubrandenburg Themen geschaffen (dazu später mehr). Auch eine Google-Recherche im Früh- Im Oktober 2015 diskutierte man in jahr 2016 mit den Stichwörtern „Ger- Neubrandenburg über eine Karl-Marx- hard Thieme, Denkmal, Neubranden- Figur (Abb. 4.1). Die Partei Die Linke burg“ ergab keinen einzigen Treffer. hatte sich für die Wiederaufstellung „Karl Marx, Denkmal, Neubranden- eines 1995 umgesetzten und ab 2001 burg“ dagegen brachte eine Unzahl an eingelagerten Denkmals stark gemacht, aufgeregten Texten zur Provinzposse, scheiterte aber mit diesem Vorhaben. bei der es um Marx und nie um Thieme, In diesem Zusammenhang tauchte in um das Symbol und nie um das Kunst- der Zeitung Die Welt die Bemerkung werk ging. Da das Internet ein guter In- 1 Ein Kamel ist bekannt- lich ein Pferd, das von auf, dass es in der DDR Marx-Denk- dikator für selektive kollektive Erinne- einer Kommission ent- mäler „ohne Zahl“ gegeben habe.2 Es rung ist, sollte man das ernst nehmen. worfen wurde. gab in fast jeder Stadt eine Karl-Marx- Dieser unreflektierte, höchst selektive 2 Reinhard Mohr, Linke hat die Absicht, Straße, aber Denkmäler? Und wo sind Umgang mit Kunst aus der DDR in der ein Marx-Denkmal zu sie geblieben? In diesem besonderen Öffentlichkeit wird noch deutlicher, errichten, in: Die Welt, 27.10.2015. Fall bei den Stadtwerken Neubranden- wenn man bedenkt, dass in derselben

47 Zeit entschieden wurde, dass das 1972 beiden Fällen ist der Kontext wichtig. gebaute Hotel „Vier Tore“, das Vorzeige- Golubkina wurde 1966 als Repräsen- objekt für die Modernisierung Neubran- tantin einer widersprüchlichen histo- denburgs zu DDR-Zeiten, abgerissen rischen Umbruchphase präsentiert: In werden sollte und sich sofort in der Öf- der Spannung im Werk kündige sich die fentlichkeit die Frage stellte, was denn erwachende Revolution an, wobei die mit den von Gerd Werner (1944–2006) Bildhauerin bei aller Expressivität nie für das Hotel geschaffenen Reliefs ge- die realistische Gestalt zerstört habe. schehen sollte. Hier war der Name des Mehr Impressionismus und Anerken- Künstlers sofort Teil der Debatte. Schon nung war 1966, während in anderen sind wir mitten in einer Diskussion über Teilen der Zeitschrift noch der „Bitter- den öffentlichen und kunsthistorischen felder Weg“ nachhallte, nicht möglich Umgang mit Kunst, die in der DDR ent- und wahrscheinlich auch nur weil der stand. Die „Kunstfrage“ wurde ja im Fall Autor Russe war und der Auftrag für der Figur von Thieme nie gestellt. Of- den Kopf von der russischen SDAPR fensichtlich spielte in der politisierten, stammte. 1983 präsentierte die Zeit- von der Linken angestoßenen Diskus- schrift den Entwurf Heinrich Drakes für sion die Tatsache, dass es sich dabei um ein Marx-Engels-Denkmal in Halle und eine spezifische Auslegung von Marx als dadurch, dass der Autor schrieb, dass Motiv handelte, überhaupt keine Rolle. dieses Werk der Diskussion um eine neue Denkmalskunst starke Anregun- gen hätte bieten können, ging es auch Marx ohne Zahl? darum, dass inzwischen in der DDR ein Klima entstanden war, in dem nicht Wir wissen von einigen verloren gegan- nur über Entscheidungen, sondern auch genen Marx-Büsten aus den 1950er- und über Alternativen gesprochen wurde.4 1960er-Jahren und von der eigentüm- Innerhalb des Auf und Ab der kunstpo- lichen Umwidmung eines Bismarck- litischen Linie waren ziemlich unter- Steins zu Marx‘ Ehren in Fürstenwalde, schiedliche Wertungen möglich. Daraus aber so viel Marx, wie Die Welt suggerier- folgt im nächsten Schritt die Erkennt- te, gab es nicht.3 Die berühmte kolos- nis, dass bei den Werken, die in die sale Marx-Skulptur aus Karl-Marx-Stadt Öffentlichkeit drangen, Macht eine schien medial omnipräsent, aber ande- wichtige Rolle spielte. Die komplizierte re Werke bekamen weniger, kaum oder Gemengelage, aus der in unterschiedli- 3 Einen vorläufigen Überblick bieten: Leonie nie Öffentlichkeit. Thiemes „Marx“ chen lokalen Situationen unter den sich Beiersdorf, Die doppelte Krise. Ostdeutsche zum Beispiel tauchte nie in der Zeit- wandelnden Bedingungen der Diktatur Erinnerungszeichen nach schrift „Bildende Kunst“ auf: Das Werk eine „Vielfalt“ in einem sich im Um- 1989, Berlin 2015 und die wachsende Webseite existierte, galt aber offensichtlich nicht fang ändernden Korsett entstand, ge- www.kunst-am-wege.de als vorbildhaft. hört zu den wichtigen Erkenntnissen (letzter Zugriff: 01.12.2016). In beiden Fällen fehlt Mindestens so interessant wie die Fra- der Forschung zur Kunst in der DDR. übrigens das Werk von ge, wann Werke entstanden, ist die Fra- Gerhard Thieme in Neu- brandenburg. ge, wann und wie sie in der offiziellen 4 Derselbe Entwurf war Kunstzeitschrift der DDR auftauchen. Die Debatte von 1953 1973, in einer Phase re- lativer künstlerischer Frei- Anna Golubkinas (1864–1927) Marx heit, in der Monografie zu (Abb. 4.2) von 1905 wurde 1966 publi- 1953 jährte sich der Geburtstag von Heinrich Drake in seinem Zusammenspiel von ziert und Heinrich Drakes (1903–1994) Karl Marx zum 135. Mal. An sich kein Architektur und Skulptur Entwurf für ein Marx-Engels-Denkmal besonders feierlicher Tag, aber das ers- als vorbildhaft für die sozialistische Denkmals- in Halle von 1945/46 erst 1983. In te Jubiläum, dass der junge Staat feiern kunst präsentiert worden.

48 konnte, sodass sich in diesem Jahr die die Idee des Historischen. Der Vor- ersten Auseinandersetzungen um die wurf, dass Cremers Kopf „sozialdemo- Darstellung des Philosophen finden. kratisch“ sei, betraf genau dieses Prob- Obskur blieb das Denkmal von Otto lem. Explizit gelobt wurde dagegen die Rost (1887–1970) auf dem Platz der Ein- Marx-Büste von Will Lammert (1892– heit in Dresden (Abb. 4.3), das relativ 1957), die folglich Anfang 1953 promi- schnell, nachdem es aufgestellt worden nent in der Zeitschrift „Bildende Kunst“ war, sang- und klanglos verschwand. zu sehen war (Abb. 4.4). Hier zeigte sich Die „Hier in diesem Buch steht es ein deutlicher Bruch. Es gab nun ein doch“-Ikonografie und stärker noch die vorbildhaftes Werk, an dem sich die an- naturalistische Darstellung entsprachen deren orientierten. Drake schuf einen keineswegs den offiziellen Ansprüchen neuen Kopf, der an Lammert orientiert der Dresdner Stadtregierung. Berühmt war, und auch Cremer versuchte sich dagegen ist die Auseinandersetzung um zu verbessern. Seine zweite Fassung – vier Porträts aus den Jahren 1952 und heute im Garten des Karl-Marx-Hauses 1953. Die Formalismusdebatte hatte in Trier zu sehen – ist direkt durch Ein- durch den XIX. Parteitag der russischen flussnahme der Kunstkommission ent- Kommunistischen Partei vom Oktober standen. Das nannte man im Westen 1952 neuen Stoff bekommen. Der soge- Akademismus: Der Künstler wird von nannte Formalismus wurde abgelehnt, den Auftraggebern korrigiert und dankt aber bewusste Übertreibung und Zuspit- artig dafür. In einem berühmten Zei- zung gehörten nun offiziell zum Arsenal tungsartikel über seinen zweiten Kopf des sozialistisch-realistischen Künstlers, beschrieb Cremer den oben genannten ein Paradox, das von Fall zu Fall letzt- Widerspruch: Er wolle nicht in Natura- endlich nur von Machthabern gelöst lismus verfallen, gleichzeitig aber der werden konnte. Im Neuen Deutschland Kommission mit ihren Wünschen nach wurde Fritz Cremers „Marx“ von 1952 historischer Wahrheit nachgeben.5 Mo- wegen dessen Zuspitzung kritisiert. Der derne Bildhauerei in der DDR war eine Bildhauer habe die historische Einma- Gratwanderung. ligkeit des Dargestellten verfehlt. Das Se- kretariat des SED-Zentralkomitees ließ sich daraufhin Anfang 1953 ein Gut- Von Berlin nach Chemnitz achten über Marx-Porträts schreiben. Fritz Koelles (1895–1953) Marx sei zu Im Hintergrund lief hier bereits seit subjektiv und entspreche nicht der Be- 1950 die Planung für ein Marx-Engels- deutung und Größe von Marx. Cremers Denkmal in Berlin. Das heißt, dass die Marx besitze gar eine „sozialdemokra- Debatte über die Köpfe letztendlich die tische Tendenz“ und auch Heinrich zentrale Repräsentation des Staates be- Drakes Granitkopf, eine Darstellung des stimmen sollte. 1951 hatte eine Kom- jungen Marx, wurde abgelehnt. Da die- mission bereits das Format (3,60 Meter) 5 Zu Cremer vgl. Gerd se Debatte zum Teil öffentlich verlief, und auch die Ikonografie festgelegt: Brüne, Pathos und Sozialismus. Studien zum hatte sie große Folgen für die Geschich- Marx links, Engels rechts, Hände auf plastischen Werk Fritz 5 Cremers (1906–1993) te der Bildhauerei in der DDR. das „Kommunistische Manifest“. Das (Schriften der Guernica- Bemerkenswert an der Diskussion von erklärt nebenbei auch ein zentrales Pro- Gesellschaft 15), Weimar 2005. 1953 sind die unauflösbaren Widersprü- blem mit dem Dresdner Denkmal von 6 Fritz Cremer, Um das che: Vor allem die Frage des Typischen Otto Rost. Hier war es ein dickes Buch realistische Porträt. Ein (nebenbei ein Grundmotiv der damals („Das Kapital“). Als Vorbild wurde den Beitrag zur Diskussion, in: Sonntag, 02.11.1953. dominierenden Berliner Schule) gegen Bildhauern Ernst Rietschels (1804–1861)

49 „Goethe-Schiller-Denkmal“ in Weimar da spielte die historische Person Marx empfohlen. Wahrscheinlich wurden letztendlich kaum eine Rolle. Umge- mehr Bildhauer eingeladen, als dann kehrt kannten die Bildhauer die Diskus- am Ende einen Entwurf lieferten: Die sion um Cremer und die daraus resultie- Berliner Professoren Fritz Cremer, Wal- rende Erstarrung. demar Grzimek (1918–1984), Gustav Dabei ist Howards Werk, wenn man es Seitz (1906–1969) und einer ihrer Schü- sich in Chemnitz ansieht (es steht in- ler, Walter Howard (1910–2005). zwischen an einem anderen Ort) ein Howard gewann. Aber zwischen Vergabe interessanter Versuch, die Berliner Tra- und Ausführung lag die bereits genann- dition mit Vorstellungen vom Sozialis- te Diskussion um die Köpfe und somit mus zu verbinden. Es verkörpert vor ein erzwungenes Ausloten zwischen der allem nicht das, was sich die Macht- typischen Form und der historischen. Es haber als staatliche Repräsentation ist überliefert, dass Otto Grotewohl, der dachten. Nicht umsonst hatten sie alle Ministerpräsident, regelmäßig den Bild- Bildhauer, die sie 1952 für das Marx- hauer besuchte. Bemerkenswert ist das Engels-Denkmal einplanten, nach Russ- „napoleonische“ Motiv bei der Haltung land geschickt. der rechten Hand von Karl Marx, das in Howards ursprünglichem Entwurf kei- ne Rolle spielte und welches er direkt Zwei Traditionen von seinen Lehrern Seitz und Cremer kopiert hatte. Ohnehin hielt sich keiner 1961 war in Moskau Lew Kerbels der Bildhauer an die Vorgabe mit den (1917–2003) großes Marx-Denkmal ein- Händen auf dem Buch. geweiht worden und die Diskrepanz Das Denkmal von Howard (Abb. 4.5) zwischen der deutschen und russischen wurde, obwohl sich die Idee der Neu- Tradition wurde wohl nie deutlicher. gestaltung inzwischen in eine Während sich die Machthaber 1952 andere Richtung entwickelt hatte, nach noch dazu entschieden hatten, das ge- der Fürsprache von Cremer in Bronze plante Berliner Denkmal von deutschen gegossen und dann 1957 in Karl-Marx- Bildhauern entwerfen zu lassen, führte Stadt aufgestellt. Für Berlin dachte man Walter Ulbricht bereits 1961 Gesprä- inzwischen viel größer. Dass das Denk- che mit Kerbel über den Auftrag für ein mal auf Berliner Planungen zurückging, neues Denkmal für Karl-Marx-Stadt. wurde in Karl-Marx-Stadt nicht kom- Viel deutlicher konnte die Ablehnung muniziert. Howard habe halt ein Denk- der Berliner Tradition nicht sein. Kurz mal geschaffen. Ikonografisch hatte es darauf wurde das Denkmal von Howard nichts mehr mit Goethe und Schiller, aus dem Zentrum entfernt und 1971 wohl eher über das Schrittmotiv mit weihte Erich Honecker das neue Denk- den „Tyrannentötern“ zu tun. Nach mal ein. Damit wurde deutlich, was ab dieser kurzen Phase der intensiven Aus- dann auch Praxis sein sollte. Für die einandersetzung mit Karl Marx haben monumentale Repräsentation waren die Bildhauer kaum noch nach neuen russische Bildhauer zuständig. Wohl bildhauerischen Lösungen gesucht. Das kaum ein anderes Werk hat die Wahr- Thema war passé. Gerade unter den nehmung der DDR so sehr bestimmt Bedingungen des „Bitterfelder Wegs“ wie dieses, aber es sollte daran erinnert um 1960 war eine Bejahung der sozia- werden, dass es, obwohl es den Reprä- listischen Realität in Bezug auf die Le- sentationswünschen der Machthaber benswelt der DDR-Bürger gefragt und entsprach, im engeren Sinne keine

50 DDR-Bildhauerei war. Diese Diskrepanz der, die gefragt waren, zu liefern, und ist bekannt, verdient es aber, weiter un- sich dennoch durchsetzen konnte. tersucht zu werden. Genau vor diesem Hintergrund ist der kleine, nur 2,20 Meter hohe Marx für Schlussbemerkung Neubrandenburg umso interessanter, da Gerhard Thieme eine einfache stehende Abschließend eine kurze Bemerkung. Figur in bester Berliner Tradition ge- Eine neue Generation von Bildhau- schaffen hatte (Abb. 4.1). Sie wurde am ern entwickelte in den 1970er-Jahren, gleichen Tag eingeweiht wie der Sockel inspiriert von der osteuropäischen, für das Werk von Kerbel (am 20. Jah- vor allem polnischen und russischen restag der Gründung der DDR).7 Wenn Bildhauerei, eine stärker symbolisch Marx nur ein Symbol ist, dann gibt es orientierte Bildhauerei, in der Marx keinen Unterschied zwischen beiden; als historischer Inspirator eines anders wenn man aus der Geschichte der Bild- dargestellten Heute auftrat. Damit war hauerei heraus denkt, dann liegen Wel- das grundsätzliche Problem seit 1953 ten dazwischen. gelöst. Deutlich wurde das 1983, als es Sobald das berühmteste Werk von Ger- endlich ein ‚ordentliches‘ Jubiläum gab. hard Thieme, der „Bauarbeiter“ zum In Berlin, , Karl-Marx-Stadt Vergleich zu Rate gezogen wird, ver- und Leipzig wurde die Ausstellung „Karl schiebt sich die Perspektive. Dieser Bild- Marx. Künstler-Bekenntnisse“ gezeigt. hauer wusste sozialistisches Pathos dar- Ausgestellt wurden alte Denkmalsent- zustellen, tat dies aber im Fall von Marx würfe als freie Arbeiten und neue sym- gerade nicht. In einem Zeitungsbericht bolische Figuren, für die die Gedanken- taucht das Werk 1968 als Nebenprodukt welt des großen Philosophen Pate ge- eines großen Reliefs zu den Lebenssta- standen haben sollte. So konnte man tionen und Leistungen des Philosophen auf Marx verweisen und sich viele Dis- auf, das Thieme im Auftrag des Berliner kussionen sparen. Magistrats anfertigte. Das Werk diene, so der Künstler, in diesem Werkkontext zur Klärung der Persönlichkeit.8 Damit spielte Thieme das ideologische Ge- Dr. Arie Hartog (* 1963) studierte an wicht effektiv herunter. Diese scheinbar der Katholischen Universität Nijmegen anspruchslose und darum so interessan- Kunstgeschichte und wurde ebenda mit te Darstellung von Marx wurde dann dem Thema „Moderne deutsche figür- aber aus noch ungeklärten Gründen in liche Bildhauerei“ promoviert. Nach Neubrandenburg aufgestellt. Das heißt, Lehrtätigkeiten zur Architekturgeschich- man kann die Figur als ein Symbol eines te und Museumskunde wechselte Hartog Staates, aber man sollte sie auch als Ver- 1996 als Kustos an das Gerhard-Marcks- dichtung einer Diskussion lesen. Die Haus in Bremen, dessen Direktion er nächste Stufe wäre eine gezielte Quel- 2009 übernahm. lenforschung. Dabei geht es nicht nur

7 Vgl. Denkmäler für Karl um Partei- und lokale Politik (auch hier Marx und Karl Liebknecht, ging es um Planungen für Berlin, die in in: Neues Deutschland, 05.10.1969. der Provinz landeten), sondern auch 8 Vgl. Sybille Pawel, um eine bildhauerische Tradition, die Auf der Suche nach Karl sich – obwohl die Künstler überzeugte Marx, in: Berliner Zeitung, 01.12.1968. Sozialisten waren – schwer tat, die Bil-

51 52 Eberhard Illner Der „chinesische Engels“ von Wuppertal

Türöffner für Wirtschaftsbeziehungen und Ort der Diskussion

Wer Geschichte für eine rein akademi- im Stadtmuseum Simeonstift Trier, ha- sche und deshalb langweilige Ange- ben sich dieses spannenden Themas legenheit hält, ist nicht nur schlecht angenommen. Vor diesem Hintergrund informiert, sondern dem entgeht auch kann auch sein Partner Engels nicht die konkrete und praktische Deutungs- zurückstehen, dessen Nachbildung als wirkung von Historie in Politik und Ge- Bronzeguss im Frühjahr 2014 von Bei- sellschaft – sozusagen die Würze und jing über Moskau nach Barmen heim- mitunter auch die Schärfe von Kontro- reiste. Über Anlass und Umstände die- versen um Rezeptionsgeschichte in der ser translatio gilt es zu berichten. Gegenwart. Wie nur wenige historische Datumsgenau zum 190. Geburtstag Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts von Friedrich Engels am 28. November unterlagen Marx und Engels einer wirk- 2010 stattete Herr Ma Kai, damals Vor- mächtigen Rezeptionsgeschichte im sitzender des chinesischen Staatsrats, 20. Jahrhundert, die bis in die heutige danach Generalsekretär des Zentralrats Zeit reicht. Das spiegelt sich gerade in des Volkskongresses und Vizeminis- deren Abbild und Konterfei in Form terpräsident der Volksrepublik China, von Skulpturen oder anderen Emble- dem Friedrich-Engels-Haus in Wupper- mata wider. In den meisten Fällen tre- tal-Barmen einen Besuch ab. Nach ei- ten uns Statuen oder Halbstücke der nem ausführlichen Rundgang durch das beiden Heroen des Sozialismus nur sehr Museum für Frühindustrialisierung und eingeschränkt als freie „künstlerische durch das historische Engels-Haus gab Interpretationen“ gegenüber. Dagegen es bei Tee und Gebäck einen regen Aus- ist deren politische Aufladung in der tausch über die historische und auch jeweiligen Entstehungsphase nicht zu die aktuelle Bedeutung von Marx und übersehen. Mehrere Ausstellungen, zu- Engels. Bereits am folgenden Tag beauf- letzt die Ausstellung „Ikone Karl Marx. tragte Ma Kai seinen Kulturattaché da- Kultbilder und Bilderkult“ im Jahr 2013 mit, der Stadt Wuppertal seinen Wunsch

53 zu übermitteln, ein Denkmal für Fried- Chenggang aus Beijing das Engels-Haus rich Engels vor dem Engels-Haus zu und machte sich mit der Parkanlage stiften. Chinesische Besucher sollten, sowie mit dem vorhandenen Denkmal wenn sie nach Wuppertal kommen, „Die starke Linke“ von Alfred Hrdlicka eine Attraktion und eine Versinnbild- (1981) vertraut. In Zusammenarbeit mit lichung des großen Vordenkers des So- dem zuständigen Gartenamt wurden zialismus vorfinden. Die Statue solle in unter dem Aspekt der Sichtbeziehun- China durch einen chinesischen Künst- gen, des Einflusses des Verkehrslärms ler gefertigt und als Geschenk der Volks- der angrenzenden Bundesstraße 7 und republik an exponierter Stelle errichtet der unter Naturschutz stehenden gro- werden. Auch kam die Idee einer wei- ßen Rotbuchen drei potenzielle Stand- teren lebensgroßen Statue im Eingangs- orte ausgewählt. Für die chinesische Sei- foyer des Engels-Hauses auf. An einem te war klar, dass die zu schaffende neue Kulturaustausch mit Wuppertal sei man Statue nicht kleiner als das Denkmal ebenso interessiert wie an einer Koope- Hrdlickas (3,80 Meter) werden konnte. ration zwischen dem Engels-Haus und Am Ende wurde einvernehmlich ein dem im Aufbau befindlichen Marx-Mu- Standort nahe dem Standort des im seum in Beijing. Zweiten Weltkrieg zerstörten Geburts- In den folgenden Monaten intensivier- haus von Friedrich Engels gefunden, so- te sich die Zusammenarbeit mit dem dass die Proportionen der fast vier Meter chinesischen Generalkonsulat in Frank- hohen Statue vor der hoch gewachse- furt. Eine erste Städtepartnerschaft mit nen Rotbuchengruppe – zumindest im Xinxiang (Provinz Henan) wurde durch Sommer und Herbst – ganz wesentlich Entsendung und Empfang von Delegati- „schrumpften“ und somit fast wieder onen initiiert. Schnell weiteten sich die „menschliches Maß“ annahmen. Aktivitäten auf Kooperationen zwischen Professor Zeng ist Direktor des chine- Unternehmen, Berufsschulen und Kul- sischen Skulptureninstituts und einer tureinrichtungen aus. Die Wirtschafts- der führenden Bildhauer in China. Bei förderung Wuppertal erkannte bald, einem Besuch in seinem Atelier circa dass man mit dem Bezug zu Friedrich 50 Kilometer nordöstlich von Beijing Engels, dessen Name in China wohlbe- im April 2012 zeigte er verschiedene kannt ist, einen kaum zu überschätzen- Entwürfe, die er in Abstimmung mit den Standortvorteil gegenüber anderen Generalsekretär Ma Kai durchgearbeitet Wirtschaftsregionen in Deutschland hatte: Engels als „weiser Lehrer“, so wie hatte. Immerhin sorgte dieser Trumpf die offizielle Lesart in China von Marx regelmäßig für wohlwollende Zustim- und Engels eben lautet (Abb. 5.1 und mung bei Parteikadern, die bei grund- 5.2). Allgemein ist diese Vorstellung in legenden Investitionsentscheidungen die chinesische Kulturtradition einge- chinesischer Unternehmen stets einzu- bettet. In China ist Weisheit immer mit beziehen sind. Aber auch der Besuch Alter konnotiert, man denke nur an chinesischer Delegationen unterschied- Konfuzius, Lao-Tse oder an Tan Daoji. lichster Zusammensetzung, von Ärzten, Im Rahmen einer längeren Diskussion Künstlern, Juristen, Ökonomen oder wurde vonseiten der Beschenkten er- Lehrern bis hin zu Parteikadern, nahm läutert, dass in Deutschland Kunst- in den Sommer- und Herbstmonaten werke Beachtung finden, die die freie 2011 stark zu. Kreativität eines Künstlers zur Geltung Im Oktober 2011 besuchte der von Ma bringen. Dies gelte umso mehr, wenn Kai beauftragte Künstler Professor Zeng ein solches Kunstwerk im öffentli-

54 chen Stadtraum dauerhaft für lange – neben der Natur, die ihr den Zeit errichtet wird. Es sei wichtig, die Stoff liefert, den sie in Reichthum Zeitgenossenschaft der chinesischen verwandelt. Aber sie ist noch Kunst auszudrücken. Zeng, der mit unendlich mehr als dies. Sie ist Ausstellungen in den USA und Europa die erste Grundbedingung alles hervorgetreten ist, verfügt über inter- menschlichen Lebens, und zwar nationales Niveau. Er verbindet die in einem solchen Grade, dass wir großen Traditionen der chinesischen in gewissem Sinn sagen müssen: Kultur- und Geistesgeschichte mit der sie hat den Menschen selbst ge- aktuellen chinesischen Kunstszene, schaffen.“ (Friedrich Engels, Dia- die sich mehr und mehr im globalen lektik der Natur, 1876). Austausch befindet. Augenfällig zeugt das Werk Professor Zengs von einer Der Text auf der Rückseite des Sockels Symbiose traditioneller chinesischer lautet: Skulpturenkunst und skulpturalen Aus- drucksformen der Gegenwart in freier, „Geschenk der Volksrepublik reflektiert-kreativer Interpretation und China aus Anlass des Besuchs in hoher Qualität der Realisierung. des stellvertretenden Minister- Im weiteren Verlauf kristallisierte sich präsidenten, des chinesischen ein Entwurf heraus, der Friedrich En- Staatsrats Ma Kai, im Engels-Haus gels zurückgenommen und in natürli- am 28. November 2010. Ein Werk cher Haltung und Dimensionierung in des Präsidenten des Chinesi- fortgeschrittenem Alter, als sinnieren- schen Instituts für Bildhauer- den Philosophen darstellt. Der Entwurf kunst, Professor Zeng Cheng- unterschied sich durchaus von den be- gang, errichtet von der Botschaft kannten Darstellungen im Stile des so- der Volksrepublik China in Berlin zialistischen Realismus und stellte eine am 11. Juni 2014.“ Synthese von figuraler Darstellung und künstlerischer Interpretation dar. Die Das Engels-Zitat ist entnommen aus der Bronzeguss-Skulptur (868 Kilogramm) Marx-Engels-Gesamtausgabe, Band I/26, hat die Maße 3,85 Meter (Höhe) mal S. 540, Zeile 1–12. Auch die Rechtschrei- 1,18 Meter (Breite) mal 1,12 Meter (Tie- bung folgt diesem Text. Die Dauerhaftig- fe) und steht auf einem 40 Zentimeter keit des Denkmales legte dies nahe. hohen, konisch zulaufenden Eisen- Der formelle Beschluss im Rat der Stadt sockel (2,40 mal 2,42 Meter), der aus Wuppertal unter dem Titel „Schenkung Gründen der Standsicherheit notwen- einer Engels-Skulptur durch die VR Chi- dig wurde. na, VO/1011/13“ am 18. November 2013 Im Sommer 2012 wurden die zustän- kam dank umfassender Information über dige Bezirksvertretung Barmen und die den Zweck, den Standort und die künst- Ratsfraktionen unterrichtet und ge- lerische Gestaltung der Statue glatt und meinsam mit den chinesischen Stellen ohne größere Widerstände zustande. der folgende Inschriftentext für den So- Die Vertretung der Bürgerschaft stimm- ckel auf Deutsch und Mandarin gefun- te der Annahme der Schenkung durch den. Auf der Vorderseite heißt es: die Volksrepublik China ohne Änderung und bei einer Gegenstimme (NPD) und „Die Arbeit ist die Quelle alles zwei Enthaltungen (je eine Stadtverord- Reichthums, sagen die politi- nete der SPD und der Wählergemein- schen Oekonomen. Sie ist dies schaft für Wuppertal, WfW) zu.

55 Am Abend des 7. Mai 2014 startete eine die politischen, ökonomischen und so- russische Transportmaschine mit der zialen Verhältnisse des 19. Jahrhunderts Statue an Bord von Beijing aus nach scheint vom Künstler aufgenommen Frankfurt. Dem Trackingsystem konnte worden zu sein. Jedenfalls haben wir man entnehmen, dass Engels in Mos- es nicht mehr mit blankpolierten oder kau am nächsten Morgen eine Zwi- zeitgemäß „gelifteten“ Ahnherren zu schenlandung einlegte, pünktlich zu tun (Abb. 5.4). den dortigen Militärparaden anlässlich Am 11. Juni 2014, einem für das als der Jahresfeiern der Kapitulation Hitler- regenreich bekannte Wuppertal außer- deutschlands. Noch am selben Tag ging gewöhnlich sonnigen Frühsommertag, es mit Destination Frankfurt weiter, wo fand die feierliche Übergabezeremonie die Einfuhr des Sozialisten vom Zollamt statt, zu der mehrere hundert Gäste und Frankfurt-Flughafen als Staatsgeschenk ein großes internationales Presseaufge- zollfrei deklariert wurde. Im Zwischen- bot erschienen waren. Posaunen kün- lager der Spedition in Leverkusen konn- digten die Reden des Oberbürgermeis- ten kurz darauf erstmals die Kisten ge- ters Peter Jung und des Botschafters öffnet werden. „Es ist kein Lenin!“, war Shi Mingde an. Beide hielten sich nicht die erste Reaktion beim Anheben des lange mit der Skulptur auf, sondern be- Deckels und eine gewisse Erleichterung schrieben ausführlich den zunehmend des Vertreters des Engels-Hauses war engen wirtschaftlichen Austausch zwi- nicht zu leugnen. Stattdessen fiel die schen Deutschland und insbesondere auf den vorab versandten Fotoanimati- Nordrhein-Westfalen und der Volks- onen nicht direkt erkennbare, amorphe republik China. Auch wenn der Bild- Oberfläche der Skulptur auf, die sich im hauer Professor Zeng Chenggang sowie Nachhinein als ein interessantes und Professor Xie Weihe, Vizedirektor der subtiles Gestaltungselement entpuppte Tsinghua Universität, künstlerische (Abb. 5.3). und historische Akzente setzten, so war Ein ausführliches Gespräch mit Profes- doch allen Anwesenden klar, dass diese sor Zeng, der zur offiziellen Übergabe eher Schleierkraut für prachtvoll in Blü- angereist war, ergab, dass er sich dabei te stehende rote Pfingstrosen im Ein- einer Technik bedient hatte, die unter gangsfoyer der chinesischen Handels- anderem der italienische Bildhauer partner waren. Giacomo Manzù (1908–1991) genutzt Das Presseecho war erwartungsgemäß hatte. Eine raue Oberfläche sollte durch groß. Neben den deutschen Print- und die sich dort mit der Zeit ablagernden Fernsehmedien waren es zahlreiche chi- Schwebestoffe der Luft zusammen mit nesische Sender, allen voran der offiziel- dem sich bildenden Grünspan für den le Kanal CCTV, die ausführlich vom Ort Eindruck einer Verwitterung und be- des Geschehens berichteten. wussten Alterung sorgen. Diese Anmu- Schnell war der Pulverdampf verraucht tung sollte die Botschaft „Historizität“ und es stellt sich nun nach über zwei unterstreichen. Anders ausgedrückt: Jahren die Frage nach der Langzeitwir- man tritt einem gewollt „in die Jahre kung des „chinesischen Engels‘“ auf Be- gekommenen“ Engels gegenüber, des- sucher und Passanten. Erwartetes und sen Rolle eher in der Vergangenheit als Unerwartetes gibt es zu berichten. in der Gegenwart zu verorten ist. Die Erwartungsgemäß hat der Alterungs- von deutscher Seite angemahnte Not- prozess eingesetzt. Die grüne Farbpig- wendigkeit einer Kontextualisierung mentierung weitet sich mehr und mehr der beiden Heroen des Sozialismus in aus, ebenso wie die amorphe Oberflä-

56 chenstruktur den Umweltstaubpartikeln werben kann. Aber irgendwann wird ja zur dauerhaften Heimat wird. Positiv ge- auch der „chinesische Engels“ vollstän- wendet könnte man sagen: Engels setzt dig von Grünspan überzogen sein. Patina an. Auffallend ist auch, dass es bis- lang keinerlei Anlass gab, zur Beseitigung von Sprayattacken, von Filzstiftbemalung oder von Resten des Bewurfs mit Eiern Dr. Eberhard Illner (* 1954) leitete von oder Hundekot einen Spezialreinigungs- 2008 bis 2018 das Historische Zentrum dienst zu bemühen. Dies ist nämlich im in Wuppertal, zu dem das Engels-Haus Falle der benachbarten Skulptur „Die star- gehört. Zuvor war er im Historischen Ar- ke Linke“ von Hrdlicka mit vierteljährli- chiv der Stadt Köln und im Bundesarchiv cher Regelmäßigkeit notwendig. Beide tätig. Forschungsschwerpunkte des His- Kunstwerke befinden sich in einer Park- torikers sind die moderne Technik- und anlage, die häufig von Menschen mit un- Sozialgeschichte sowie Marx und Engels. begrenzter Tagesfreizeit sowie ausufern- der Nachtaktivität aufgesucht wird, deren Zeitvertreib im Leeren und Zerschlagen von Wodkaflaschen und dem Nagen von Sonnenblumenkernen besteht. Offen- sichtlich scheint die figurative Darstel- lung des „chinesischen Engels‘“ im Kont- rast zu den abstrakten Formgebungen der „starken Linken“ zu einer gewissen Zu- rückhaltung im Hinblick auf persönliche Statements in Form jener Hinzufügungen zu führen. Dies bedeutet auf der anderen Seite allerdings nicht, dass es dem „chi- nesischen Engels“ an persönlichen Positi- onsbekundungen mangelt. Immer wieder sind Besuchergruppen zu beobachten, die die Betrachtung der Figur und auch die Lektüre der Inschrift dergestalt zu Diskussionen anregt, sodass schon von weitem deren Intensität augenfällig wird. So bleibt es nicht nur beim obligaten Sel- fie (zumeist europäischer Besucher) oder dem Großgruppenpanorama (beliebt bei chinesischen Gruppen), so wie es die ur- sprüngliche Absicht des Staatsrates Ma Kai gewesen war. Der „chinesische En- gels“ scheint mehr und mehr zu einem Ort der Diskussion um und über Engels (und auch Marx) und die uns heute nach wie vor wichtigen Fragen von Arbeit und Ökonomie zu werden. Die einzige Stö- rung geht dabei vom Regen aus, der dafür sorgt, dass das Stadtmarketing Wuppertal überzeugend als „Stadt im Grünen“ be-

57 58 Karl Schawelka Zwischen Ahnenkult, Affirmation und Revision

Marx im öffentlichen Raum

Die Zeit bis zum Ausbruch Fast noch wichtiger scheint mir, des Ersten Weltkriegs was ich als Marx-Matrix bezeichnen möchte, nämlich den Kranz von wei- Warum wurde gerade Marx zur Ikone ßen Haaren und Vollbart. Mit diesem der deutschen Arbeiterbewegung? Es Alleinstellungsmerkmal ist er unter gibt von ihm keine spektakulären Ta- all den Köpfen der einzige, der sofort ten zu berichten, er lebte weit ab vom erkannt wird. Durch die helle Mäh- Schuss in England, war kein mitreißen- ne wirkt er löwenhaft. Unverkennbar der Redner und erlitt keinen gewaltsa- die Nähe zur Herrscherikonografie men Tod. Von der äußeren Erscheinung etwa Jupiters (bzw. Zeus‘) (Abb. 6.2). her war er nicht sonderlich attraktiv Als donnernder Patriarch, als gesetz- und von Krankheiten gezeichnet. Sein gebender Moses wurde er dann auch im Sinne einer bürgerlichen Wohlan- gern ins Bild gesetzt. Wegen des hellen ständigkeit geführtes Leben als Privat- Haarkranzes mag man auch an einen gelehrter gibt nicht viel her. In der Tat Nimbus denken. Marx selbst, auch wurde er zunächst in den Memorabilia seine Familie und Engels, haben die der sozialistischen Bewegung nicht son- Fotos von ihm streng kontrolliert. Das derlich herausgehoben und lediglich als Urbild, von dem fast alle anderen ab- einer von vielen Arbeiterführern gezeigt geleitet sind, stammt von John Mayall (Abb. 6.1). Aber: Ihm gelangen eine Fül- jun. aus dem Jahr 1875. Es sei daran le griffiger und sarkastischer Formulie- erinnert, dass die Fotografie seinerzeit rungen, mit denen man jede Diskussi- noch ein junges Medium war und bei- on gewinnen konnte. Es existiert kaum spielsweise die Übertragung von Fotos eine Darstellung von ihm ohne Zitat. auf Porzellan erst in den 1880er-Jah- Wie Horaz hat er mit seinen Schrif- ren bewältigt wurde. Diese beiden ten ein Monument dauerhafter als Erz Faktoren – Slogans und ikonenhaftes errichtet. Bild – haben meines Erachtens dazu

59 geführt, dass sein Bild, wie wir heute Weimarer Republik sagen würden, viral geworden ist, und vor allem dazu, dass er der Arbeiter- Warum aber gab es in der Weimarer bewegung ein Gesicht gegeben hat. Republik so gut wie keine öffentlichen Schon damals gehörte es zum Erfolg, Denkmäler für Marx, nachdem die wenn Name und Bild in ganz verschie- Republik ausgerufen war und die SPD denen Sphären gleichzeitig gehandelt bis 1925 den Reichspräsidenten stell- werden. te und häufig mitregierte? Die Macht An ein Denkmal für Marx im öffent- dazu war möglicherweise vorhanden, lichen Raum war in der Zeit bis zum doch hatte man andere Sorgen. Es gab Ersten Weltkrieg nicht zu denken. Man Wirtschaftskrisen, Arbeitslosigkeit und muss nur die Denkmäler für Wilhelm I. bürgerkriegsähnliche Zustände. Wenn wie das am Deutschen Eck heranzie- überhaupt Erinnerungsorte geschaffen hen, um zu sehen, wo seinerzeit die wurden, so kreierte man neue Formen reale Macht lag. Denkmäler sind ihrem im Denkmalskult. Typisch dafür die Wesen nach affirmativ, da nur, wer die Wahl preiswerter Materialien wie Be- Macht und die Mittel dazu hat, sie er- ton bei Walter Gropius und Mauerwerk richten kann. Bezeichnenderweise sind bei Ludwig Mies van der Rohe oder um 1900 die von Auguste Rodin oder symbolische Leere bei Heinrich Tesse- Jules Dalou geplanten Arbeiterdenk- now. Die Denkmäler für Wilhelm I. wa- mäler an der Finanzierung gescheitert. ren nach dem verlorenen Krieg lächer- Andererseits gab es ab 1890 bereits lich geworden und kamen nicht mehr eine Kritik an Denkmälern. Die Kunst in Betracht. Porträtähnlichkeit wur- für den Kunstbetrieb feierte andere de gleichfalls als obsolet angesehen. Werte, als es der Kunst im öffentlichen Beispielsweise verzichtete das – eher Raum möglich war. Die Arbeiterbewe- missglückte – Denkmal für Friedrich gung war eine Bewegung von unten. Ebert an der Frankfurter Paulskirche Sie wirkte über Massenbewegungen, auf eine Porträtbüste und beschränkte über Aufmärsche, Versammlungen und sich auf einen nichtssagenden nackten Kundgebungen, die bottom up ins Le- Epheben, der nur durch einen schrift- ben traten. Interessanterweise hat lichen Kommentar spezifiziert wurde sich in ihr so etwas wie ein Ahnenkult (Abb. 6.3). herausgebildet, der über Stickbilder, Auch war seinerzeit Marx als Theoreti- Porzellankrüge, Erinnerungsschalen, ker keineswegs sakrosankt oder gar als Drucke, Postkarten und so weiter ver- Klassiker anerkannt. Die Sozialdemo- breitet wurde. Wir befinden uns bereits kraten wollten es sich nicht mit der bür- im Zeitalter der Reproduzierbarkeit. gerlichen Mitte verscherzen und nicht Die Arbeiterbewegung wurde in nicht in die Nähe der Bolschewisten geraten. geringem Maße durch die Erinnerung Marx wurde daher von der kommunisti- an gemeinsame Taten zusammenge- schen Seite vereinnahmt, die in der Op- halten. Mit ihrer Verehrung wurden position verblieb. Angesichts der neu- die Werte und Maßstäbe deutlich ge- en Massenmedien wie Rundfunk, Film macht, die in ihr gelten sollen. Natür- und auch der Presse galt der Versuch, lich wurden ihre Ausdrucksformen, die über skulpturale Denkmäler Politik zu manchmal die spätere Pop-Art vorweg machen, als überholt. Der eigentliche zu nehmen scheinen, von der Bour- Ort für Marx während der Weimarer geoisie als schlechter Geschmack des- Republik war nicht im Denkmalswe- avouiert. sen, sondern innerhalb der politischen

60 Agitation, das heißt in Flugblättern und ging es eigentlich nicht um einen Marx- im politischen Plakat. Wieder verblieb kult, sondern um einen Lenin- bzw. spä- er in der Gegenkultur. ter Stalinkult, der durch pseudoreligiöse Elemente Transzendenzbezug erhielt. Unter Stalin kam dieser Herrscherkult Russland/UdSSR unter mit Marx als einem Garanten der Un- Lenin und Stalin fehlbarkeit des lebenden Generalsekre- tärs und Generalissimus erst richtig in Die Situation nach der Oktoberevolu- Schwung. Die Denkmäler wurden wie- tion in Russland war davon gänzlich der in Bronze oder Marmor gefertigt und verschieden. Hier kam es geradezu zu ei- standen für Stabilität, was angesichts nem Musterbeispiel der Erfindung einer des radikalen Wandels einem sozial- Tradition. Der Sieger musste sich seinen psychologischen Bedürfnis entsprach. Mythos erst erschaffen. Lenin als Usur- Aber: Auch hier wirkten sie nicht für pator konnte nicht gut an die feudalen sich allein. Sie dienten als Kulissen für Formen des Zarenreiches anknüpfen Aufmärsche und andere Politspekta- und musste sich auch von den Mitteln kel, die jedoch top down organisiert wa- der religiösen Propaganda absetzen. Der ren. Ohne die massenhafte Verbreitung in Russland wenig bekannte Denkmals- durch Fotos, Film und Printmedien kult in Mittel- und Westeuropa bedeute- wären sie wenig wirksam gewesen. Auf- te eine gangbare Option. Stilistisch ori- fällig bleibt das Fehlen einer weiblichen entierte man sich am 19. Jahrhundert, Komponente. Selbstverständlich gehör- aber für die Bevölkerung bedeutete dies ten die Denkmäler nicht mehr zu einer eine Würdigungsform, die zur Sichtbar- Gegenkultur, sondern dienten dazu, die machung von Autorität taugte. Wie so Hegemonie der Partei sichtbar zu machen oft sollten Monumente Ursprung und und Dauerhaftigkeit zu suggerieren. Kontinuität suggerieren, die es so nie ge- geben hatte. Lenin gebrauchte, wenn er sich als geistiger Erbe von Marx darstell- Bundesrepublik te, fast religiöse Begriffe wie Allmacht nach 1945 und Wahrheit: „Die Lehre von Karl Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist.“ Dieser Gleich nach dem Ende des Nationalso- Satz wurde geradezu zum Mantra. Die zialismus wurden in Westdeutschland Hoffnungen der Konstruktivisten, dass etwa zwei Dutzend Straßen nach Marx politische und künstlerische Avantgar- benannt. Die KPD war ja bis 1953 in vie- de Hand in Hand operieren würden, len Länderparlamenten vertreten und haben sich bekanntlich rasch zerschla- wurde erst 1956 verboten. Dann jedoch gen. Es ging Lenin um massenwirksame kam es im Zeichen des Kalten Krieges Kunst und genau genommen um Kunst zu einem gewissen Antagonismus zwi- im Dienste der Staatspropaganda. Marx schen Kapitalismus und Kommunis- (und Engels) wurden als Patriarchen und mus. Im sogenannten freien Westen Propheten behandelt, die Lenin samt wurden Staatsspektakel à la Faschis- siegreicher Revolution vorhergesagt und mus, aber auch sowjetischer Machart den Weg bereitet hatten. Insbesondere geächtet. Anstelle der Staatspropaganda wurde Marx zu einer Art Gesetzgeber er- mit monumentalen Bauten und Skulp- klärt, wofür er sich wegen der Marx-Ma- turen, wie sie der Nationalsozialismus trix gut eignet. Sein „Kapital“ wurde zu praktiziert hatte, wurden Leichtigkeit einer Art Heiliger Schrift. Trotz allem und Transparenz propagiert. Es kam zu

61 einer Entpolitisierung des öffentlichen den Umgang mit Marx während jener Raums. Die halbabstrakten Skulpturen Jahre. Mithilfe von zwei Assistenten aus von Henry Moore ohne erkennbare po- der ‚Dritten Welt‘ säuberte er den Ort litische Botschaft genügten als Ausweis, der Feier zum 1. Mai unmittelbar nach dass man es mit einem öffentlichen Ge- der Veranstaltung. Das symbolische bäude zu tun hatte. Die Kunstsphäre Ausfegen, das bei aller sozialistischen wurde zu einem Bereich sui generis, der Rhetorik wieder von den wahren sub- mit elitärem Anspruch transzendental alternen Dienstkräften erledigt werden überhöht wurde. In ihren Tempeln hat- musste, ist natürlich Beuys’ Kommen- te Politik nichts verloren. tar zum politischen System. Immerhin 1968 änderte sich dies. Schon um zu haben die Achtundsechziger dafür ge- provozieren, griffen die Studenten auf sorgt, dass neue Formen von Kunst im linke, marxistische Parolen und Bildwel- öffentlichen Raum eingeführt wurden. ten zurück. Sie orientierten sich jedoch Statt triumphierender Denkmäler wur- vorwiegend am von Frankreich beein- den Mahnmale gefordert. flussten westlichen Marxismus sowie an Populärer und zwar weltweit war in je- der Frankfurter Schule. Die Frühschriften nen Jahren aber der Kult um Che Gue- von Marx wurden gegen den „real exis- vara. Er verkörperte den jugendlichen tierenden Sozialismus“ ausgespielt, was Idealismus eines aus Leidenschaft rebel- von den orthodoxen Marxisten-Leninis- lierenden Intellektuellen, der sein Le- ten als Revision verurteilt wurde. Marx ben für die Unterdrückten und Armen war nicht sakrosankt, sondern man ver- opfert, und erzeugte Enthusiasmus bei suchte ihn fortzuführen, um sich mit den durch den Vietnamkrieg politi- gegenwärtigen Themen wie der Waren- sierten Studenten und Intellektuellen. ästhetik zu befassen. Wieder stand Marx Nicht nur sein gewaltsamer Tod, vor für die Gegenkultur, aber es handelte sich allem das ikonische Plakat von Jim Fitz- nicht um die Gegenkultur des ausgebeu- patrick von 1968 machten ihn zu einer teten Proletariats, sondern um die von pseudoreligiösen Ikone. Che taugte weit Intellektuellen, Künstlern und Studen- mehr als der bärtige Patriarch aus dem ten gegenüber der Herrschaft des Mark- 19. Jahrhundert dazu, die Sehnsucht tes bzw. des Establishments. Die sozialen nach Utopien und den Wunsch, das Lebensbedingungen der Studenten und System umzudrehen, zu verkörpern. Intellektuellen sorgten dafür, dass ihre Ausdrucksformen rasch zum Mainstream werden konnten. Die bisherigen Formen DDR. Bis zur Wende von Distinktionserwerb wurden als hoff- nungslos veraltet abgetan. Mit Witz und Die Situation in den mitteleuropäi- Ironie wurde umfunktioniert. schen Satellitenstaaten der UdSSR An Denkmälern hatten die Achtund- war anders als im Mutterland. Die ge- sechziger kein Interesse. Der Anspruch, nannten Länder hatten nicht nur den etwas für die Ewigkeit zu erschaffen, Denkmalskult des 19. Jahrhunderts und galt ihnen als grotesker Anachronis- sein Abebben gekannt, sie verfügten mus. Temporäre Aktionen mit Happe- auch über die Tradition eines Kunstbe- ningcharakter entsprachen eher dem triebs, der die Freiheit der Kunst gegen- Zeitgeist. Die Aktion von Joseph Beuys über ihrer Indienstnahme verteidigte. mit dem Titel „AUSFEGEN 1972“, die Aus Sicht der Partei musste der elitäre auf dem Karl-Marx-Platz in Berlin Neu- Kunstbetrieb abgeschafft werden, ehe kölln stattfand, ist vielleicht typisch für der sozialistische Realismus samt Erfor-

62 dernis der Parteilichkeit wirklich greifen Wendezeit konnte. Für die Künstler bedeutete dies häufig eine Art kognitiver Dissonanz. Die Wende selbst wurde durch Besetzung Zwar wurden in der DDR wie auch in des öffentlichen Raums in bottom-up-Ma- der Tschechoslowakei, in Ungarn, Polen nier herbeigeführt. Dies brachte die Herr- und so weiter die Mittel der sowjeti- schenden in die peinliche Lage, zum schen Staatspropaganda importiert bzw. Erhalt ihrer Macht Erscheinungen be- den dort schaffenden Künstlern aufokt- kämpfen zu müssen, die laut offizieller royiert, zwar wurden weiterhin top down Lesart eigentlich gefeiert werden sollten. Aufmärsche und andere Politspektakel Die friedliche Revolution musste sich organisiert sowie Denkmäler als Kulis- nicht von Marx und der Tradition der sen für Rituale erstellt, zwar galten Wis- Arbeiterbewegung absetzen und konnte senschaftlichkeit und Unfehlbarkeit des ihn sogar für sich vereinnahmen. Marxismus-Leninismus als unbezwei- Nach der Wende kam es zu einer Art felbar, aber allmählich kam es zu einer von recht maßvollem Bildersturz in der schleichenden Erosion. Nach dem Ende DDR, der aber rasch beendet wurde und des Stalinismus hatte man auch vom im Übrigen fast ausschließlich von den Herrscherkult Abstand genommen. Ostdeutschen selbst ausging. Es gab Um- Trotz des Festhaltens am Format öf- benennungen in größerem Ausmaß und fentliche Skulpturen in Stein oder Erz einige der ungeliebten Denkmäler wur- in mehr oder weniger realistischen For- den auch abgebaut. Inzwischen, nach men als Kunst für alle gab es gar nicht der Enttäuschung über den Verlauf der so viele Denkmäler für Marx in der DDR Wende, kam es jedoch zu einer gewissen und monumental war eigentlich nur „Ostalgie“. Die sozialistischen Denkmä- dasjenige von Lew Kerbel in Karl-Marx- ler werden nun als identitätsstiftend be- Stadt, das als Geschenk der UdSSR zu wahrt bzw. wiedererrichtet. Ihre Bedeu- betrachten ist (Abb. 6.4). Die von Staats tung hat sich erneut verschoben. Neben wegen ausgeübte Kontrolle über die Ampelmännchen dient ein Marxkopf als Bilder stieß aber durch die Verbreitung eine Art folkloristischer Chauvinismus. des Fernsehens, was Westfernsehen er- In Karl-Marx-Stadt/Chemnitz ist der „Ni- laubte, an ihre Grenzen. Es kam notge- schel“, wie Kerbels Denkmal im Volks- drungen zu einer gewissen Kenntnis des mund genannt wird, inzwischen sogar zu Klassenfeindes, was die Anstrengungen einer Touristenattraktion avanciert. Vom der Partei zur politischen Erziehung Westen wird diese Vergangenheitsverklä- relativierte. Letztere wurden mit Iro- rung durchaus toleriert und im Allgemei- nie bedacht, nicht offen kritisiert, aber nen nicht einmal eine kommentierende auch nur halbherzig als Pflichtübung Uminterpretation für nötig gehalten. Die nachvollzogen und manchmal gegen „repressive Toleranz“ Herbert Marcuses den Strich gedeutet. Zur Ironie gehör- als eine Toleranz, welche die bereits eta- te, dass man Marx und Engels durch- blierte Maschinerie der Diskriminierung aus einen Weltverbesserungsbonus zu- schützt, bietet sich zur Analyse an. gestand, aber die Verwirklichung ihrer Ideen durch Bürokratie, Staat und Partei anzweifelte. Die Beschriftung des Berli- Gegenwart ner Marx-Engels-Denkmals von Ludwig Engelhardt 1990 mit der Zeile „Wir sind Nach dem Zusammenbruch der sowjeti- unschuldig“ bringt diese Haltung dann schen Herrschaft und dem megakapita- zum Ausdruck (Abb. 6.5). listischen Markt, den die chinesischen

63 Kommunisten entfesselt haben, wirkt zu sorgen, sind natürlich schon allein das Bild von Marx erneut anders. Ein wegen der neuen Kommunikations- wenig Radikalität, ein wenig Ironie ja, mittel andere geworden. Wieder haben aber insgesamt wird der Bezug auf ihn wir eine mediale Revolution, die dafür kaum noch als heiß und aufrührerisch sorgt, dass die Herrschaft über die Bil- empfunden. Mittlerweile scheint das der nicht mehr von wenigen Sendern Reibungspotenzial der Ikone Marx ge- an unzählige Empfänger geht, sondern zähmt. Als politisches Statement ist ein die Empfänger gleichzeitig auch Sender Denkmal von Marx inzwischen sogar sind. im öffentlichen Raum kapitalistischer Wir haben dafür das Problem eines Über- Länder nicht mehr brisant. Die Instal- angebots, dessen Verlässlichkeit schwer lation von Ottmar Hörl mit 500 Plastik- zu kontrollieren ist, und vor allem das figuren von Karl Marx in vier Rottönen der Aufmerksamkeitsökonomie. Was vor der Porta Nigra in Trier aus dem nicht online ist, existiert nicht. Welche Jahr 2013 wurde vom Spiegel sogar der Bilder werden beachtet, wirken und set- „Vergartenzwergung“ des Philosophen zen sich durch? Das Aushandeln von geziehen. Gehör kann auch heutzutage nur über Okwui Enwezor hat als Kurator der Bi- Dissens und Streit erfolgen. Dazu bedarf ennale in Venedig 2015 zwar eine Pro- es weiterhin des Zusammenspiels von vokation versucht, indem er im zentra- medialen Bildern und von realen Men- len Pavillon einen „Arena“ genannten schenmassen an symbolischen öffentli- Raum einrichten ließ, in dem als eine Art chen Orten, deren Denkmäler nur noch Oratorium die drei Bände des marxschen als unspezifische Pathosformel genutzt „Kapitals“ von wechselnden Sprechern werden. Der Bedarf an Kulissen, um be- gelesen wurden, aber das hat weder die stimmte Aktionen bild- und denkwür- in ihren luxuriösen Jachten angereiste dig zu machen, ist ungebrochen. Kunstschickeria noch das allgemeine Pu- Der Abbau der Denkmäler von Cecil blikum erschreckt. Eher wirkten die Tex- Rhodes 2015 in Südafrika oder die Aus- te einschläfernd wie scholastische Spitz- einandersetzungen 2007 wegen des findigkeiten aus vergangenen Zeiten. Umgangs mit dem russischen Bronze- Man hat Enwezor vonseiten der Street soldaten von Tallinn zeigen allerdings, Art den Gefallen getan, ihn für diese ver- dass öffentliche Denkmäler weiterhin meintliche Vereinnahmung von Marx nicht als Kunstwerke oder Geschichts- zu kritisieren. dokumente, sondern als politische Solange der Kapitalismus herrscht, ist Machtdemonstrationen angesehen wer- Kritik an ihm nötig, aber der Rückgriff den und entsprechend als Katalysator auf Marx scheint nach 150 Jahren nur für symbolische Reinigungsakte dienen noch wenig tauglich. Die Occupy-Be- können. wegung kommt ohne ein Gesicht aus, das die Bewegung repräsentiert. In der Street-Art-Szene kommt Marx zwar ge- legentlich vor, hat aber einen schweren Prof. em. Dr. Karl Schawelka (* 1944) ver- Stand gegenüber anderen Ikonen. Die trat bis 2010 an der Fakultät Gestaltung Mittel der Gegenkultur und die des Kul- der Bauhaus-Universität Weimar das Ge- turbetriebs stimmen mehr oder weniger biet „Geschichte und Theorie der Kunst“. überein. Die Verfahren, aus Frustration Zu seinen wissenschaftlichen Schwer- und Zorn die Energie für Aktionismus punkten gehören Gegenwartskunst und zu finden, für Reibung und Irritation Kunst im öffentlichen Raum.

64 Abbildung 1.1 Karl-Jean Longuet, Porträtbüste Jean Longuet, 1931, Gipsmodell, Musée de l’Histoire vivante, Montreuil.

Abbildung 1.2 Karl-Jean Longuet mit seiner ersten Karl-Marx- Büste, 1930. Ein Exemplar dieser Büste aus patiniertem Gips befindet sich im Musée de l’Histoire vivante, Montreuil.

1.1 Privatsammlung

1.2 Archives Longuet-Boisecq

65 1.3 1.4 Archives Longuet-Boisecq AdsD/Bernd Raschke

Abbildung 1.3 Karl-Jean Longuet in seinem Atelier bei der Arbeit an der Jules-Guesde-Büste (Gips, Höhe zwei Meter) für die Weltfachausstellung in Paris 1937.

Abbildung 1.4 Karl-Jean Longuet, Porträtbüste Karl Marx, Anfang der 1950er-Jahre, Bronze, seit 2016 im Innenhof des Museums Karl-Marx-Haus, Trier.

Abbildung 1.5 Karl-Jean Longuet mit seiner Marx-Büste von 1930, um 1946.

1.5 Archives Longuet-Boisecq

66 1.6 Archives Longuet-Boisecq

Abbildung 1.6 Karl-Jean Longuet, Maske Karl Marx, 1930, Bronze. 1.7 Musée des Beaux-Arts de la Ville de Reims, C. Devleeschauwer Musée des Beaux-Arts de la Ville Reims,

Abbildung 1.7 Karl-Jean Longuet, Die Nacht oder Hommage an die Pariser Kommune, 1971, Stein. Heute vor dem La Piscine Musée d’Art et d’Industrie André Diligent in Roubaix.

Abbildung 1.8 Karl-Jean Longuet, Hommage an Allende, 1981, Bronze. Heute im Parc Léonard de Vinci in Châtenay-Malabry bei Paris, aufgenommen 2010.

1.8 Musée des Beaux-Arts de la Ville de Reims, C. Devleeschauwer Musée des Beaux-Arts de la Ville Reims,

67 Abbildung 2.1 Franz Hanfstaengl, Unsterblichkeit, Photogravüre nach dem Gemälde von Hermann Kaulbach, München, 1888.

Abbildung 2.2 Porträtbüsten Nr. 6 bis 14 von Heinrich dem Löwen über Mozart bis Justus Möser in der Walhalla bei Regensburg.

Abbildung 2.3 Marlene Hilton Moore und John McEwen, Valiants Memorial mit Büsten kanadischer Militärs, 2006 in Ottawa enthüllt.

Abbildung 2.4 David Adickes, Büsten der amerikanischen Präsidenten aus dem 2004 eröffneten Presidents Park in Williamsburg (Virginia), abgestellt auf einem Lagerplatz, aufgenommen 2016.

2.1 Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg

2.2 CC BY 3.0 Halle5.jpg Zirbes ( Mijozi ) lizenziert unter CC BY Walhalla von Michael J.

68 2.3 CC BY-SA 3.0 memorial west.jpg von Canadiana lizenziert unter CC BY-SA Valiants

2.4 Alamy

69 2.5 picture alliance

Abbildung 2.5 Karl-Marx-Büste des Kulturhauses Mestlin nach der 2008 als Kunstprojekt realisierten Restaurierung von Takwe Kaenders in der Ausstellung „LückenStücke“ im Kulturhaus Mestlin 2009.

Abbildung 3.1 Georg Kolbe, Büste Friedrich Ebert, 1925, Gipsmodell.

Abbildung 3.2 Rudolf Belling, Maske Friedrich Ebert, 1927, Bronze vergoldet, nicht erhalten.

Abbildung 3.3 Produktion von Hitler-Büsten.

3.1 Archiv Georg-Kolbe-Museum, Berlin Archiv Georg-Kolbe-Museum,

70 3.2 ullstein bild

3.3 ullstein bild

71 3.4 Bernhard-Heiliger-Stiftung / Foto: Edmund Kesting Bernhard-Heiliger-Stiftung / Foto:

Abbildung 3.4 Bernhard Heiliger, Büste Ernst Reuter, 1954, Steinguss.

Abbildung 4.1 Gerhard Thieme, Denkmal Karl Marx, Neubrandenburg, 1969, Bronze. Die Skulptur hält am 20. Januar 1990 während einer Demonstration der Bauern der Region eine Fahne der Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB) in der Hand.

Abbildung 4.2 Anna Golubkina, Porträtbüste Karl Marx, 1905, Bronze.

Abbildung 4.3 Otto Rost, Denkmal Karl Marx, Dresden, 1953, Stein.

Abbildung 4.4 Will Lammert, Porträtbüste Karl Marx, Berlin und Jena, 1952, Bronze, aufgenommen in Berlin am Strausberger Platz 2012.

Abbildung 4.5 Walter Howard, Denkmal Marx und Engels, Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz), 1957, Bronze, aufgenommen 1967.

4.1 picture alliance

72 4.2 4.3 picture alliance Erich Pohl Bild 183-18816-0002, Fotografen Erich Höhne, Bundesarchiv,

4.4 4.5 picture alliance Alamy

73 5.1 Quelle: Büro Prof. Zeng Quelle: Büro Prof.

Abbildung 5.1 Atelierbesuch bei Zeng Chenggang (links) nahe Beijing im April 2012.

Abbildung 5.2 Entwurf der Engels-Statue von Zeng Chenggang im Atelier des Künstlers.

Abbildung 5.3 Raue Oberflächenstruktur der Wuppertaler Engels-Statue als subtiles Gestaltungselement.

Abbildung 5.4 Engels-Statue von Zeng Chenggang nach ihrer Aufstellung nahe dem ehemaligen Standort von Engels‘ Geburtshaus.

5.2 Eberhard Illner

74 5.3 Stadt Wuppertal | Medienzentrum Wuppertal Stadt

5.4 Stadt Wuppertal | Medienzentrum Wuppertal Stadt

75 Abbildung 6.1 Die Befreier des Proletariats, Postkarte aus Anlass des 50. Jahrestags der Gründung des ADAV, 1913.

Abbildung 6.2 Zeus-Büste im Lesesaal des British Museums London aus der Hadriansvilla bei Tivoli, 2. Jahrhundert n. Chr.

Abbildung 6.3 Richard Scheibe, Denkmal für Friedrich Ebert, Paulskirche Frankfurt, 1926, wiedererrichtet 1950, aufgenommen 2008.

Abbildung 6.4 Lew Jefimowitsch Kerbel, Monument Karl Marx, Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz), 1971, Bronze. Im Hintergrund ist die Schriftwand zu sehen, die ein sächsisches Künstlerkollektiv unter Beteiligung von Volker Beier und Heinz Schumann schuf.

Abbildung 6.5 Graffito auf dem Marx-Engels-Denkmal von Ludwig Engelhardt vor dem Palast der 6.1 Republik, Berlin, Oktober 1990. AdsD

6.2 6.3 Alamy 3.0 Paulskirche-ffm016.jpg von Dontworry lizenziert unter CC BY-SA

76 6.4 picture alliance

6.5 ullstein bild

77 7.1 Stanislav Holubec Stanislav

7.2 Muzeum Karlovy Vary Muzeum Karlovy

78 Abbildung 7.1 Gedenktafel für Karl Marx in Karlsbad, Zámecký vrch 41, 1946 enthüllt und bis heute zu sehen. Das einstige Kurhaus Germania wechselte mehrfach den Namen, von 1949 bis 1990 hieß es Kurhaus Karl Marx, heute heißt es Olympic Palace Luxury Spa Hotel.

Abbildung 7.2 Karl-Marx-Museum, Karlsbad, Lázeňská 3, 1960 – 1990.

Abbildung 7.3 Karel Kuneš, Denkmal Karl Marx, 1986, Bronze, Karlsbad, Petra Velikého, Standort 1988 bis heute.

Abbildung 7.4 Karl-Marx-Gedenktafel aus der Prager Truhlářská-Straße, dort von 1953 bis 1990 angebracht. Heute als Tischplatte im Restaurant Hostinec za vodou, Sázava (Sasau), Klášterní 152.

7.3 Stanislav Holubec Stanislav

7.4 Stanislav Holubec Stanislav

79 Enthüllung der Marx-Büste von Karl-Jean Longuet am 6. Mai 2016 im Innenhof des Trierer Karl-Marx-Hauses AdsD/Anne Nickels AdsD/Anne Nickels AdsD/Anne Nickels AdsD/Anne Nickels

oben links: Katarina Barley, Frédérique Longuet Marx, Anne Longuet Marx, Kurt Beck, Wolfram Leibe und Elisabeth Neu mit der verhüllten Büste im Hintergrund. oben rechts: Publikum und Presse warten gespannt auf die Enthüllung der Büste. unten links: Frédérique Longuet Marx enthüllt die Marx-Büste ihres Vaters Karl-Jean Longuet. unten rechts: Die Ehrengäste freuen sich über die Büste an ihrem neuen Aufstellungsort im Innenhof des Karl-Marx-Hauses.

80 Stanislav Holubec „Er spricht zu uns mit Gegenwart und Zukunft“

Marx als Erinnerungsort in Karlsbad und Prag

„Im Kurhaus ohne Dachrinne Mit diesen Worten begrüßte der Dich- und Blitzableiter/ in der höchs- ter Konstantin Biebl (1898–1951) die ten Mansarde, ungeschützt von Enthüllung der Gedenktafel für Karl außen,/ hoch über der Stadt,/ Marx in Karlsbad im Jahre 1946. Es schrieb Karl Marx die ganze war kurz nach Kriegsende. Karlsbad 1 Konstantin Biebl, Karel Marx v Karlových Varech, Nacht./ Als er morgens auf den war bereits von fast allen ehemaligen in: Lázeňský časopis deutschen Bewohnern verlassen wor- Karlovarska, 25.02.1950, Balkon kam,/ der Balkon, der S. 2. Im tschechischen heute mit Rosen geschmückt den, und Tausende Tschechen hatten Original: „V lázeňském domě, bez okapu a ist,/ schaute er über die Dächer sich hier schon angesiedelt. Karls- hromosvodu v nejvyšší der Häuser,/ schaute auf den bad war vor dem Krieg neben Liberec mansardě nechráněné zvenčí vysoko nad steilen Abhang./ Damals gab (Reichenberg) ein Zentrum des deut- městem Karel Marx es noch kein/ fließendes und schen Nationalismus in Böhmen ge- celou noc psal. Když bylo ráno vyšel na balkon, warmes Wasser im Hause./ Aus wesen. Da tschechische Traditionen ten balkon dodnes růže hier kaum existierten, wurde nicht nur věnčí, přes střechy domů dem dampfenden Krug/ gießt do příkré stráně se das Zimmermädchen das heiße versucht, die Stadt von den „schlech- zadíval. Nebyla tenkrát ještě teplá a tekoucí Wasser in die Wanne./ Während- ten“ deutschnationalen Traditionen voda v domě, z kouřících dessen kehrt Karl Marx/ zurück zu reinigen, sondern auch neue lokale džbánů naplněných vřídlem lije pokojská zu seinem Schreibtisch,/ denkt „fortschrittliche“ Traditionen zu ent- horkou vodu do vany. an die kalte Brause,/ die er den decken und entwickeln. Es war wahr- Zatímco Karel Marx, vrací se s balkonu ke svému Herren bereitet,/ im Haus ohne scheinlich eine Gruppe von deutschen psacímu stolu, mysle na und jüdischen Antifaschisten, die eine studenou sprchu, kterou Blitzableiter, Dachrinne und chystá na pány. V domě Schutzdach,/ im alten Kurhaus, Gedenktafel am Kurhaus Germania in- bez hromosvodu okapu a ochranné střížky, v wo es keinen Aufzug gibt,/ steigt itiierte, dem Ort, an dem früher das starém lázeňském domě, und steigt es in solche Höhe,/ Haus stand, in dem Marx während sei- ve kterém není zdviž, stoupá a stoupá do takové dass du, Kolonnade der Kaiser ner Kuraufenthalte untergebracht war. obrovské výšky, že ho und Maharadschas, es nicht se- Eine wichtige Rolle spielte dabei Egon ty kolonádo císařů a 1 maharadžů ani nevidíš.“ hen kannst.“ Erwin Kisch (1885–1948), ein Journa-

81 list und Kommunist deutsch-jüdischer auch später in der Tschechoslowakei Abstammung, der über das Thema der Zwischenkriegszeit konnte sich kein geforscht hatte. Er konnte sein Buch großer Kult um Marx außerhalb der „Karl Marx in Karlsbad“ wegen gesund- Sozialdemokratie und später des kom- heitlicher Probleme nicht beenden munistischen Lagers durchsetzen.5 Nur und es wurde erst nach seinem Tod pu- einige Schriften von Marx wurden im bliziert.2 Das Kurhaus Germania wurde späten 19. Jahrhundert ins Tschechi- in Kurhaus Karl Marx umbenannt und sche übersetzt, so etwa „Lohnarbeit und die Tafel wurde am 24. September 1946 Kapital“ (1895) und das „Kommunisti- in Anwesenheit mehrerer Regierungs- sche Manifest“ (1898); der erste Band mitglieder enthüllt.3 Auch Gäste aus des „Kapital“ allerdings erst 1913. dem Ausland waren zugegen, darunter Die Situation veränderte sich nach Edgar Longuet (1879–1950), ein fran- 1918: Marx‘ wichtigste Werke wurden zösischer Kommunist und Enkel von übersetzt und publiziert, die Sozialde- 2 Egon Erwin Kisch, Karl Marx. Bemerkenswerterweise wur- mokratie war wiederholt Teil der Regie- Karel Marx v Karlových de kein deutscher Vertreter eingeladen. rungskoalition, eine starke kommunis- Varech, Praha 1949. Deutsche Übersetzung: Der kommunistische Minister und His- tische Partei entstand, und vor allem Ders., Karl Marx in Karls- toriker Zdenevk Nejedlý (1878–1962) deren Verlage veröffentlichten Schrif- bad, Berlin/Weimar 1953. 3 Vgl. Karel Marx stellte in seiner Rede das Karlsbad der ten von und über Marx. Erstmals wur- budovatelem dneška Vergangenheit, symbolisiert durch Karl den nach dem Ersten Weltkrieg Kom- i zítřka, in: Pravda, deník Komunistické Hermann Frank (1898–1946), dem von munen von Sozialdemokraten regiert strany Československa, hier stammenden Führer der sudeten- und hier die ersten Straßen nach Marx 23.09.1946, S. 1. deutschen Nationalsozialisten, und das benannt, besonders in den Kommunen 4 Vgl. Marxovy oslavy v Karlových Varech, in: Karlsbad der Zukunft, das an progres- mit deutscher Mehrheit. Es gibt Belege, Rudé právo, 24.09.1946, S. 1. sive Traditionen wie Marx‘ Aufenthalt wie umstritten sein Name damals war: v 5 Den Kult um Marx in anknüpfen konnte, einander gegen- Zum Beispiel wurde in Ceská Lípa, einer der österreichischen über (Abb. 7.1).4 nordböhmischen Stadt mit deutscher Sozialdemokratie veran- schaulicht die Beschrei- Der folgende Beitrag skizziert die Ge- Mehrheit, 1923 eine Straße nach Marx bung der Dekoration des schichte von Marx in Karlsbad und die benannt, als die Sozialdemokraten die Parteitags im Jahr 1903: Auf der Tribüne befand dortigen Erinnerungsorte; der Schwer- Mehrheit in der Stadtverwaltung hat- sich die Freiheitsstatue mit Büsten von Marx und punkt liegt hierbei auf dem Staatsso- ten; zwei Jahre später jedoch, als die Engels auf den Seiten zialismus. Vor allem das Karl-Marx-Mu- Linke die Mehrheit verloren hatte, (vgl. Společný sjezd strany naší, in: Nová doba, seum wird berücksichtigt, aber auch wurde die Straße von den rechten Par- 11.11.1903, Nr. 90, S. 3). weitere Erinnerungsorte mit Marx-Be- teien umbenannt.6 In der nordmäh- In eigenen Karikaturen über den Wahlkampf, die v zug in Karlsbad und Prag und deren rischen Stadt Nový Jicín existierte die 1911 in der Parteizeitung Schicksal im Postsozialismus. Marx-Straße bis 1938 und wurde nach Právo Lidu publiziert wurden, wurde die Sozial- Karlsbad, damals einer der bekanntes- dem Wahlsieg der Sudetendeutschen demokratie durch einen 7 Arbeiter mit schwarzem ten Kurorte Europas, besuchte Marx Partei umbenannt. In Pilsen, einer Hut, der unter dem Arm dreimal: in den Jahren 1874, 1875 und Großstadt mit tschechischer Mehrheit, ein Exemplar von „Das Kapital“ trug, personifi- 1876, und zwar auf Empfehlung eines setzte sich der Vorschlag aus dem Jahr ziert (vgl. Právo lidu, seiner Bewunderer aus Deutschland, des 1933, eine Straße nach Marx zu benen- Nedělní příloha Dělnická besídka, 11.06.1911, S. 1). Arztes Luis Kugelmann (1828–1902). nen, nicht durch, obwohl die Stadt von 6 Vgl. Lidové noviny Marx‘ Aufenthalt in Karlsbad war zwar Sozialdemokraten regiert wurde.8 In 15.01.1925, S. 5. bekannt, aber bis zum Zweiten Welt- der Zwischenkriegszeit wurde sogar das 7 Vgl. Lidové noviny, 02.09.1938, S. 3. krieg wurde in der Stadt, die einen erste Marx-Denkmal in der Tschecho- 8 Vgl. Ivan Martinovský überwiegend bürgerlichen Charakter slowakei gebaut, und zwar 1933 in Háj u. a., Dějiny Plzně v datech, aufwies, nicht daran erinnert. Sowohl u Duchcova, einem von Deutschen be- Praha, Nakladatelství Lidové noviny, 2004, in der österreichischen Monarchie als siedelten Bergbauerndorf in Nordböh- S. 276.

82 men. Es handelte sich um einen Stein denkstätten in Moskau und Berlin.11 mit einem bronzenen Relief. Es wurde Die Ausstellung versuchte selbstver- später von den Nationalsozialisten zer- ständlich, Marx sehr ideologisch zu stört und in den 1980er-Jahren wieder- Gunsten des Staatssozialismus zu inter- errichtet. pretieren. Im Eingangsraum konnte In Karlsbad, wo die Sozialdemokratie man nicht nur Zitate von Marx, son- generell schwach war, kam eine Stra- dern auch von Lenin lesen.12 Beim Ein- ßenbenennung nach Marx nicht infra- gang befand sich eine Plastik, die eine ge, aber sein Aufenthalt war in linken Personifizierung des Revolutionärs dar- Kreisen bekannt und die Organisation stellte, und am Ende der Ausstellung der dort ansässigen Sozialdemokraten eine Plastik, die den Kosmonauten ver- publizierte dazu 1933 eine Gedenk- körperte.13 Die Ausstellung befand sich schrift.9 in drei Sälen, aber nur die ersten beiden Nach der kommunistischen Macht- waren dem Leben von Marx und sei- übernahme wurde Marx zusammen nem Aufenthalt in Karlsbad gewidmet. mit Friedrich Engels zu einem der Die Ausstellung stellte ihn als vorbild- wichtigsten Symbole der neuen Zeit, lichen Denker und Revolutionär dar. allerdings im Schatten von Lenin und Im Vordergrund standen seine hiesige Stalin und in der Tschechoslowakei in fleißige Arbeit am „Kapital“ und sein viel geringerem Maße als in der DDR. Besuch in einer Porzellanfabrik in der Beispielsweise sind Dutzende Denkmä- Nähe; in geringerem Maße kamen seine ler von Lenin entstanden (besonders in Kontakte zu bürgerlich-jüdischen Krei- den 1970er-Jahren) und nur zwei von sen während des Aufenthaltes zur Spra- Marx – und keins davon außerhalb von che.14 Die Briefe, die Marx während und 9 Deutsche Sozialde- mokratische Arbeiter- Karlsbad. Nach Angaben der tschechi- nach dem Aufenthalt geschrieben hat, partei in der Tschecho- schen National-Bibliothek in Prag wur- zeigen, dass er in Karlsbad viel weniger slowakischen Republik (Hrsg.), Zum Gedächtnis den von Marx und über Marx zwischen arbeitete als in London, und sein Leben Karl Marx, gest. 14. März 1948 und 1989 ungefähr 200 Bücher war auch nicht spartanisch. In einem 1883: 1. Mai 1933, Karls- bad 1933. publiziert, über und von Lenin jedoch späteren Brief aus London nach Prag an 10 Vgl. Václav František mehr als 800. seinen Freund Max Oppenheimer frag- Žanda, Karlovy Vary, průvodce městem, Praha In Karlsbad war dies jedoch anders. Hier te Marx, ob dieser ihm 200 Zigarrenspit- 1964, S. 91. Anfang der war Marx präsenter als Lenin. Zu seiner zen, die man in London nicht kaufen 1970er-Jahre wurde sie als Folge der architekto- schon erwähnten Gedenktafel traten könne und die er in Karlsbad sehr ge- nischen Neugestaltung 1957 die erste Büste an der Vrvídelní-Ko- nossen habe, besorgen und nach Lon- der Kolonnade in den 10 Stadtpark versetzt. lonnade (Sprudelkolonnade), 1960 das don schicken könne. Er bedankt sich 11 Vgl. Anna Linhartová, Marx-Museum (Abb. 7.2) und 1988 eine im selben Brief für die Fasanen- und Památce zakladatele vědeckého socialismu, Statue im Stadtpark (Abb. 7.3) hinzu. Gänseleber, die ihm Oppenheimer aus in: Karlovarský lázeňský Das Museum ist von all diesen Erinne- Prag nach London gesandt hatte. Als časopis, 5/1960, S. 2. rungsorten der interessanteste. Seine Er- Belohnung versprach Marx ihm ein Ex- 12 Vgl. Dům u zlatého klíče, 1960, S. 5. öffnung wurde in besonders großem Stil emplar der französischen Version des 15 13 Vgl. Reinstalace gefeiert. Dagegen war die Enthüllung „Kapital“. Muzea Karla Marxe, in: der Statue ein Jahr vor der Wende ein Der dritte Saal beschäftigte sich mit der Karlovarský lázeňský časopis, 2/1963, S. 4. viel kleineres Event, ohne Partizipation sozialistischen und kommunistischen 14 Vgl. Muzeum Karla der großen Namen und ohne großes Bewegung nach Marx. Obwohl keine Marxe, Flugblatt, un- datiert, Sammlung des Echo in den Medien. Bei der Eröffnung Fotos aus der Ausstellung überliefert Museums Karlovy Vary. wurde betont, dass es sich um das erste sind, gibt es eine Beschreibung dieses 15 Vgl. Připomínaná Karl-Marx-Museum in der Welt hande- Saales: Er begann mit der großen Ok- výročí, in: Lázeňský časopis, 22/1968, S. 22. le, neben den schon existierenden Ge- toberrevolution, behandelte die Ent-

83 stehung des sozialistischen Lagers und den Ton verfasst sind. Nur ein Ausländer nationale Befreiungsbewegungen und beklagte sich, dass ein Marx-Museum endete mit dem Revanchismus in der ohne Marx einen seltsamen Eindruck Bundesrepublik.16 Am Ende der Ausstel- hinterlasse.19 lung befand sich eine große Weltkarte, 1969 berichtete die Lokalzeitung, man die das sozialistische und das kapitalis- habe die Ambition, die neue Ausstellung tische Lager zeigte, begleitet von Wor- stärker lokalgeschichtlich zu konzipie- ten Nikita Chruschtschows: „Wenn das ren in dem Sinne, Karl Marx als Teil der sowjetische Volk im Kommunismus le- Geschichte Karlsbads zu verstehen.20 Der ben wird, sagen sich weitere Hunderte neostalinistische Kurswechsel nach dem Millionen in der Welt: Wir sind für den Einmarsch des Warschauer Paktes führte Kommunismus.“17 Eine Lokalzeitung jedoch zur Rückkehr der alten leninisti- charakterisierte diesen Saal mit folgen- schen Konzeption, allerdings wurde das den Worten: globale Thema im dritten Saal durch die Geschichte der lokalen Arbeiterbewe- „Er spricht zu uns mit Gegen- gung ersetzt. Im Gebäude wurde neben wart und Zukunft. Er zeigt an dem Museum auch das Haus der Sowje- Beispielen, dass die Lehre von tischen Kultur platziert. Hier wurden seit Marx in den Flammen des Klas- 1971 einige regimetreue Wechselaus- senkampfes und den gewaltigen stellungen organisiert, thematisch fast Erschütterungen der Epoche des ausschließlich über die Sowjetunion Imperialismus die entscheidende oder den Aufbau des Sozialismus in der historische Prüfung bestanden Tschechoslowakei wie zum Beispiel „Die hat und dass ihr die Zukunft ge- sowjetische Ukraine“, „50 Jahre des so- hört.“18 wjetischen Usbekistans“, „Lenin, ein Freund der Arbeiter aus der ganzen Welt“ Zur Geschichte des Museums im späte- oder „Dokumente über die Tätigkeit der ren Verlauf der 1960er-Jahre liegen nur rechtsopportunistischen, antisozialisti- wenige Informationen vor. Die Ausstel- schen und konterrevolutionären Kräfte lung wurde 1966 mit dem Vorhaben, der Jahre 1968–69“.21 den Inhalt zu verändern, geschlossen. Da eine Dokumentation aus dem Muse- Was die Motivation hierfür war, ist nicht um fehlt, bietet es sich an, die Besucher- bekannt, aber die Schließung dauerte bücher als Quelle heranzuziehen. Sie mehrere Jahre und in der Zwischenzeit sind zwar nur aus einigen Jahren über- gab es nur Wechselausstellungen. Man- liefert, aber trotzdem geben sie einen che hatten mit Marx und Sozialismus guten Eindruck von der Ausstellung 16 Vgl. Reinstalace Muzea, 1963, S. 4. nichts zu tun, waren aber recht erfolg- und ihren Besuchern. Da Gäste aus vie- 17 Ebd. reich, etwa eine Ausstellung über die len Ländern nach Karlsbad kamen, gibt 18 Reportáž z Muzea gotische Kunst der Karlsbader Region im es in den Büchern Einträge in vielen Karla Marxe v Karlových Varech, in: Karlovarský Jahr 1967. Ein Besucherbuch aus dieser Sprachen, die meisten auf Tschechisch lázeňský časopis, Ausstellung ist erhalten, voll von lo- und Russisch, gefolgt von Deutsch und 6/1960, S. 5. benden Kommentaren und Klagen, wie anderen europäischen Sprachen. 19 Návštěvní kniha Muzea Karla Marxe, 1967, schlecht die mittelalterliche Architektur Die Einträge der tschechoslowakischen Muzeum Karlovy Vary. und Kunst in den letzten 20 Jahren be- Besucher aus dieser Zeit lassen sich 20 Květoslav Kroča, Pacient z Londýna, in: handelt wurde. Die Kommentare kon- in zwei Gruppen teilen: Mehrheitlich Pravda, Příloha Pravdy, trastieren mit den Kommentaren über handelt es sich um formelle Aussagen 06.09.1969, S. 4. die Marx-Ausstellung aus den späteren von organisierten Gruppen, zum Bei- 21 Vgl. Návštěvní kniha Muzea Karla Marxe, 1970, Jahren, die in einem rein formal loben- spiel Pioniere oder Arbeitskollektive, Muzeum Karlovy Vary.

84 die die Ausstellung mit sehr formali- Da meine Russisch-Kenntnisse begrenzt sierten Worte loben; in geringerer An- sind, war im ersten Fall keine tiefere 22 „Zwar sind die Theorien von Karl Marx zahl gibt es Einträge von Stalinisten, Analyse möglich, jedoch war mein Ein- heute veraltet und daher nicht mehr zu praktizie- oft mit der Warnung gegen rechte Re- druck, dass bei den sowjetischen Gästen ren, aber es ist trotzdem visionisten und Opportunisten und die Einträge rein formell und voll von interessant, dem Leben von Karl Marx Nachfor- mit dem Hinweis, dass man das Mu- Lob waren. Bei den deutschen Besu- schungen anzustellen. seum auch unter Jugendlichen mehr chern waren die Einträge auch oft sehr Seine Ideen veränderten die Welt und sollten dem propagieren müsse. Kein tschechischer formell, offensichtlich handelte es sich Volk dienen.“ (Návštěvní Besucher hat den Mut, etwas Kritisches um ausländische Delegationen. Ab und kniha Muzea Karla Marxe, 1981, Muzeum Karlovy zu schreiben. Nur an einer Stelle hat zu wurde aber spontaner geschrieben. Vary, 19.06.1981). eine andere Person Zeilen durchgestri- Ein Westdeutscher behauptete beispiels- 23 „Ich hatte nicht die Absicht, eine Eintragung chen, die vermutlich kritisch oder vul- weise, die Ideen von Marx seien veral- vorzunehmen, aber gär waren. tet.22 Darauf reagierte ein Ostdeutscher obige Zeilen veranlassen mich. Die Theorien von Viel interessanter sind die Aussagen der mit dem Statement, dass die DDR die Karl Marx und Friedrich ausländischen Touristen. Am meisten Aktualität von Marx zeige.23 Wiederholt Engels sind sehr aktuell u. nicht veraltet. Die waren die Bürger der Sowjetunion und beklagten die deutschen Besucher, dass praktische Lebendigkeit ist an der Existenz der der beiden deutschen Staaten vertreten. die Ausstellung keine deutschsprachigen sozialistischen Staaten Inhalte enthalte, ein Besucher aus der verdeutlicht, auch am Beispiel in Deutschland, DDR schrieb sogar, dass sich Marx im wie einerseits am realen Grab umdrehen würde, hätte er seinen Sozialismus in der DDR 24 u. andererseits wie diese veränderten Name gelesen. historische Aufgabe auch Die aus dem Westen stammenden Kri- noch in der Bundesrepu- blik zur Lösung vor der 25 Návštěvní kniha tiken kamen sowohl aus dem linken als Tür steht. Diese Theorien Muzea Karla Marxe, 1980, verändern im Zusammen- Muzeum Karlovy Vary, auch aus dem rechten Spektrum, obwohl hang mit dem Leninis- 20.10.1980. wirklich antikommunistische Einträge mus, dem Marxismus 26 Návštěvní kniha unserer Epoche, auch Muzea Karla Marxe, 1981, fehlen. Bei allen kritischen Äußerungen weiterhin die Welt, zum Muzeum Karlovy Vary, aus dem Westen darf man die mögliche Nutzen der Werktätigen. 18.08.1981. (Wir waren dank unserer Angst der Besucher vor der Ausweisung 27 Návštěvní kniha Arbeiter- u. Bauernmacht Muzea Karla Marxe, 1978, nicht vergessen, die es verhinderte, kostenlos zur Kur. Aber! Muzeum Karlovy Vary, Ein BRD Bürger zahlte ca. 01.05.1978. schärfere Kritik zu äußern. Ein West- 2 bis 3000 Mark aus sei- ner Tasche.)“ (Návštěvní 28 Návštěvní kniha deutscher meinte etwa, man müsse Marx kniha Muzea Karla Marxe, Muzea Karla Marxe, 1981, nicht vergöttlichen.25 Von linker Seite 1981, Muzeum Karlovy Muzeum Karlovy Vary, Vary, 22.06.1981; Hervor- 18.06.1981. wurde kritisiert, dass die Ausstellung die hebung i.O.). 29 „Ein Gespenst geht Frauenfrage nicht genügend reflektie- 24 „Vom Inhalt und um in Osteuropa – das re.26 Ein anderer Besucher plädierte für Gesamteindruck aus ge- Gespenst der Ideen sehen, ist die Ausstellung Mao Tse-Tungs, der den einen Kampf für Freiheit, Demokratie gut. Allerdings würden Marxismus-Leninismus 27 sich Karl Marx und um die entscheidende und Sozialismus in Ost und West. Ein Friedrich Engels im Grab Lehre ,Notwendigkeit Eintrag erwähnte das berühmte Zitat umdrehen, wenn sie der Fortführung des ihre veränderten Namen Klassenkampfes unter „Freiheit ist immer Freiheit des anders lesen würden. Sie waren den Bedingungen der Denkenden“ von Rosa Luxemburg.28 Ein und bleiben Deutsche. Diktatur des Proletariats‘ Keinem Menschen würde fortentwickelte und damit Maoist schrieb über das Gespenst der es bei uns in der DDR die revisionistische Entar- Ideen von Mao Tse-tung und über die einfallen, vom Kompo- tung seines Landes ver- nisten Friedrich Smetana hinderte. Wie muss die Notwendigkeit der Fortführung des zu schreiben. Und wir neue Bourgeoisie dies 29 kennen auch nicht Karl fürchten! Kommunisti- Klassenkampfs. Čapek. Also, ‚Karel Marx‘ scher Studentenverband. Karlsbad war jedoch nicht die einzige und ‚Bedřich Engels‘ ist – Zelle Psychologie – FU Unfug.“ (Návštěvní kniha Westberlin.“ (Návštěvní tschechische Stadt, die Marx besuch- Muzea Karla Marxe, 1980, kniha Muzea Karla Marxe, te; er reiste während seines hiesigen Muzeum Karlovy Vary, 1975, Muzeum Karlovy 14.08.1980). Vary, 05.06.1975). Aufenthalts auch nach Prag. In Karls-

85 bad lernte Marx einen gewissen Max Marx so zu einem russischen Erinne- Oppenheimer aus Prag kennen, den rungsort geworden. Schwager von Luis Kugelmann. Op- Auch fast alle Straßen, die in der Tsche- penheimer, selbst auch Jude, handelte choslowakei nach Marx benannt wa- mit Medikamenten und Sprengstoffen. ren, sind umbenannt worden, ähn- Marx wurde von ihm nach Prag einge- lich wie die Straßen, die die Namen laden, und er hat die Goldene Stadt an von Lenin und anderen Figuren aus der Moldau zweimal in den Jahren 1874 dem kommunistischen Pantheon ge- und 1875 besucht. Später wurde mithil- tragen hatten. Google Maps zufolge fe des Adressbuchs herausgefunden, wo sind Marx-Straßen nur in neun klei- Oppenheimer lebte, also konnte man neren Kommunen erhalten. Es wur- das Haus, in dem Marx verweilte, mit den mehrere Bücher veröffentlicht, großer Wahrscheinlichkeit identifizie- die versucht haben, das intellektuelle ren. 1953 wurde in der Truhlávrská-Stra- und moralische Profil von Marx infra- ße 16 eine massive Marmorgedenktafel ge zu stellen (eine gewisse Popularität enthüllt, die die folgende Inschrift trug: haben beispielsweise die Schriften des „In diesem Haus lebte während seines britischen Publizisten Paul Johnson er- Aufenthaltes in Prag in den Jahren 1874 langt, die Marx und andere linke Intel- und 1875 Karl Marx, Gründer und ge- lektuelle skandalisiert haben).31 Sogar nialer Schöpfer des wissenschaftlichen Václav Havel hat Marx in einer seiner Sozialismus. Proletarier aller Länder ersten Reden als tschechoslowakischer vereinigt euch!“ Weil der Kontakt zum Staatspräsident als „wütenden Fatzke“ jüdischen Händler nicht sehr gut zur (vzteklý ješita) bezeichnet.32 Auch die kommunistischen Propaganda passte, Gedenktafel in Prag wurde entfernt, die Marx als Freund der Arbeiter und und da das Haus nicht mehr unter Gegner der Bourgeoisie darstellte und Denkmalschutz stand, wurde es ab- seine jüdischen Wurzeln und Kon- gerissen und an diesem Ort ein Hotel takte zu Juden überging, wurde nur mit dem merkwürdigen Namen Grand selten erwähnt, bei wem er in Prag zu Majestic Plaza Hotel gebaut. Wie oft in Besuch war. solchen Fällen wusste niemand, was Nach der Wende wurde das Museum aus der Tafel geworden war. 2013 ver- in Karlsbad geschlossen; das Besucher- weilte ich in der Stadt Sázava (Sasau),­ buch aus dem Jahr 1989 fehlt, wie auch wo ich sie im Restaurant Hostinec za 30 Vgl. Karlovarští řeší jenes aus dem Jahr 1968. Die Marx-Büs- vodou zufällig entdeckte. Sie dient dort problém obtížných soch, in: http://www.ceskatelevize. te wurde aus dem Stadtpark entfernt, als Tischplatte. Die Kneipe macht da- cz/ct24/ct24/regiony/ die Marx-Straße umbenannt, das Kur- mit keine Reklame, auch nicht auf 1372821-karlovarsti-resi- problem-obtiznych-soch, haus Karl Marx wurde zum Olympic Pa- ihrer Website.33 Nur, wenn man sich 16.11.2009. lace Luxury Spa Hotel. Jedoch überlebten wirklich an den Tisch setzt, ist sie zu 31 Paul Johnson, Intellec- tuals, London 1988. die Gedenktafel und die Marx-Statue erkennen. Möglicherweise kam die Ta- 32 Václav Havel, Rede bis heute, vielleicht weil beide etwas fel hierher, als man Ambitionen hatte, zum Gedenktag des entfernt vom Zentrum sind. Die Stadt- die Kneipe „ostalgisch“ zu konzipieren, Februarputsches 1948 vom 25.02.1990, zit. nach regierung begründete dies sogar damit, und als die Konzeption ad acta gelegt http://www.vaclavhavel. cz/showtrans.php?cat= dass sich beide Denkmäler der Nähe wurde, war es wahrscheinlich zu kom- projevy&val=321_projevy. des russischen Konsulats befinden und pliziert, den schweren Tisch zu entfer- html&typ=HTML (letzter Zugriff: 06.07.2017). viele russische Touristen in die Stadt nen (Abb. 7.4). 33 Vgl. www. kommen, deren Gefühle die tschechi- Nach 2000 gab es jedoch erste Versuche sazavahostineczavodou. schen Behörden nicht verletzen möch- einer jüngeren Generation von Sozial- cz/galerie-hostinec.php (letzter Zugriff: ten.30 In den Augen der Tschechen ist wissenschaftlerinnen und Sozialwissen- 06.07.2017).

86 schaftlern, die intellektuelle Tradition von Marx zu rehabilitieren. Einen Wen- depunkt stellte die Publikation der Über- setzung des Buches von Erich Fromm „Das Menschenbild bei Marx“ dar.34 Seit- her wurden Dutzende Bücher publiziert, die wir als marxistisch bezeichnen kön- nen, darunter auch das berühmte Buch von Thomas Piketty.35 Es gibt auch die Initiative einer Gruppe junger Künstler, die Gedenktafel in Prag zu erneuen.36 Kurzum, in all diesen Kontexten findet man Marx heutzutage im tschechischen Teil Zentraleuropas.37

Dr. Stanislav Holubec (*1978) wurde nach einem Studium an der Karls-Uni- versität Prag in Wirtschafts- und Sozial- geschichte sowie Soziologie promoviert. Im Anschluss an Lehrtätigkeiten in Prag und Pilsen war er sechs Jahre lang als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Im- re-Kertész-Kolleg „Europas Osten im 20. Jahrhundert“ an der Universität Jena tätig. Derzeit arbeitet er an der Philoso- phischen Fakultät der Universität Hra- dec Králové.

34 Erich Fromm, Obraz člověka u Marxe, über- setzt von Michael Hauser, Brno 2004. 35 Thomas Piketty, Kapitál v 21. století, übersetzt von Jana Charierová, Praha 2015. 36 Korrespondenz des Autors mit der Künstler- gruppe Pole, 15.04.2013. 37 Ich möchte mich hiermit herzlich bedan- ken bei Frau Yvetta Viktoříková vom Stadt- museum Karlovy Vary für die Besorgung der Besucherbücher und weiterer Studien- materialien.

87 88 Winfried Speitkamp Ehrung und Entehrung

Marx im öffentlichen Erinnerungsraum

Ist Marx obsolet? Ist er ein Fall für die Logiken von Symbolkonflikten, von Er- Geschichte? Darf er noch geehrt wer- innerung, Ehrung und Entehrung im den? Es ist gewiss kein Zufall, dass Karl öffentlichen Erinnerungsraum, gestellt Marx schon im Vorgriff auf die Veran- werden. Der Beitrag greift insofern über staltungen zu seinem 200. Geburtstag Marx hinaus.1 Die Gliederung folgt vier 2018 in den Blick gerückt ist. Aber auch Thesen. Am Anfang steht eine kurze in dieser Perspektive erscheint Marx als Bestandsaufnahme zum Ort von Karl besonderer Fall, nicht mehr derart um- Marx in der gegenwärtigen deutschen stritten wie Ernst Thälmann, Carl Peters, Erinnerungskultur, dann folgen allge- Paul von Hindenburg oder zahlreiche meine Bemerkungen zu Ehrung, Denk- nationalsozialistisch belastete Personen, mal, Denkmalsturz und Namenswech- deren Ehrungen in jüngerer Zeit auf sel. Daran schließen sich Beobachtungen kommunaler Ebene in die Kontroverse zu Konjunkturen und Dynamiken von geraten sind – oder jedenfalls anders um- Denkmalbau und Denkmalsturz an, stritten als die Genannten. Gleichwohl bevor die Ausführungen im letzten Teil

1 Der vorliegende Essay war nämlich auch Marx immer wieder zu Marx im öffentlichen Erinnerungs- lehnt sich in den allge- Gegenstand von Kontroversen und raum zurückkehren. meinen Ausführungen an meinen 2016 er- von Distanzierungen, von Entehrun- schienenen Beitrag zum gen, Denkmalstürzen und Konflikten Erste These: Marx ist in die Alltagskul- Thema des Denkmal- sturzes an: Winfried um Benennungen. Das wirft die Frage tur und das Hintergrundwissen abgewan- Speitkamp, Verlorene Ehre. Ehrungen im politi- auf, welche Bedingungen, Dynamiken dert. Er erscheint als Teil der Geschichte, schen Streit um Vergan- und Konjunkturen solcher Ehrungsde- als lokaler Erinnerungsort oder sogar als genheit und Gegenwart, in: Dietmar von Reeken/ batten im Allgemeinen und auch spezi- ironisches Zitat. Aber er ist kein unan- Malte Thießen (Hrsg.), ell in Bezug auf Marx festzustellen sind. gefochtener nationaler Erinnerungsort Ehrregime. Akteure, Praktiken und Medien Im folgenden Beitrag geht es um Marx mehr. lokaler Ehrungen in der in der deutschen Erinnerungskultur, Wenn heute Marx- oder Engels-Denk- Moderne, Göttingen 2016, S. 311–342. und das Thema soll in den Kontext der mäler errichtet werden, dann bloß

89 noch im Umfeld von Gedenkstätten Artikel erhalten.4 Allerdings kommt wie in Wuppertal-Barmen und in Marx, was die Zahl der Nennungen auf Trier. Der Barmer Fall, das im Auftrag den 2.250 Seiten angeht, laut Regis- der Volksrepublik China von einem ter doch ziemlich weit hinten mit 19 chinesischen Künstler erstellte, 2014 Nennungen, er liegt damit auf einem beim Engels-Haus in Wuppertal-Bar- Niveau mit Walter Ulbricht, Stalin und men errichtete Denkmal, eine fast vier Ernst Moritz Arndt. An erster Stelle Meter hohe Bronzestatue, fand in den steht hier Hitler mit 191 Seitenverwei- Medien eine gewisse Aufmerksamkeit sen, dann folgen, weit abgeschlagen, und forderte durchaus manche Kri- Goethe mit 131 Nennungen sowie da- tik und ironische Bemerkungen he- hinter Bismarck, Napoleon, Schiller, raus. Ein Stein des Anstoßes aber war Luther und Nietzsche; Letzterer ran- es nicht, vorab hatten SPD und CDU giert mit 56 Nennungen sowie einem im Stadtrat der Annahme des chine- eigenen Namensartikel immer noch sischen Geschenkes zugestimmt.2 Im weit vor Marx. Das heißt: Im intentio- Übrigen werden durchaus noch Marx- nalen Gedächtnis rangiert Marx recht Denkmäler hergestellt, aber vor allem hoch, ihm wird ein eigener Artikel ge- wohl aus kommerziellen Gründen und widmet. Im realen sozialen Gedächt- zumeist als Miniaturausgaben. Jeder nis dagegen rangiert er niedrig, er wird kann sich privat ein Marx-Denkmal nicht mehr häufig erwähnt, er scheint aufstellen, bei Amazon findet man in dieser Perspektive nicht mehr er- Marx-Büsten, zum Beispiel aus Alabas- forderlich, um deutsche Geschichte zu ter-Gips, 18,5 Zentimeter hoch, weiß, erklären. geeignet für den säkularen Hausaltar, Doch das Bild ist widersprüchlich. oder eine Spardose aus Keramik, mo- Bei einer Umfrage in sechs europäi- delliert als Marx-Kopf auf Sockel, beti- schen Ländern nach Personen des 19. 2 Vgl. http://www. spiegel.de/wirtschaft/ 3 telt sinnigerweise „Das Kapital“. Marx und 20. Jahrhunderts, die am ehesten china-schenkt-wuppertal- scheint also irgendwo im Allerlei der europäische Identität repräsentieren, eine-friedrich-engels- statue-a-974379.html Alltagskultur und der gesellschaftsfä- kam Marx insgesamt auf Platz 11, in (letzter Zugriff: 24.11.2016). 5 Vgl. auch den Beitrag higen Ironie zu verschwinden, er ist Deutschland sogar auf Platz 6. In der von Eberhard Illner in insofern kein Gegenstand von Kontro- ZDF-Show „Unsere Besten – Die größ- diesem Band. versen mehr. ten Deutschen“ vom 28. November 3 Vgl. https://www. google.de/search?q= Welchen Standort hat Marx also in der 2003, einer Ranking-Show, angeblich marx+b%C3%BCste&ie= deutschen Erinnerungskultur? Er fehlt auf der Basis von Zuschauerbefragun- utf-8&oe=utf-8&client= firefox-b&gfe_rd=cr& in der Walhalla bei Regensburg, die gen, landete Marx sogar auf dem drit- ei=-Gc3WJm-NeWv8 1842 als klassizistischer Tempel errich- ten Platz, hinter Adenauer und Luther, weYya7YCA (letzter Zugriff: 24.11.2016). tet worden ist und seitdem sukzessive vor den Geschwistern Scholl, Willy 4 Iring Fetscher, die Büsten bedeutender Deutscher auf- Brandt, Johann Sebastian Bach, Goe- Karl Marx, in: Etienne François/Hagen Schulze nimmt (Abb. 2.2). Mittlerweile han- the, Gutenberg, Bismarck und Ein- (Hrsg.), Deutsche delt es sich um 130 Büsten, dazu kom- stein.6 Zudem gibt es, nach Zahlen Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2001, hier men 65 Gedenktafeln, doch Marx und von Rainer Pöppinghege, noch 558 Bd. 3, S. 328–346. Engels sind hier nicht vertreten. In Marx-Straßennamen in Deutschland. 5 Vgl. Etienne François/ Thomas Serrier, Lieux den „Deutschen Erinnerungsorten“, in Damit steht er auf dem 28. Platz, einen de mémoire européens, Anlehnung an das große Werk von Pi- Platz hinter Albrecht Dürer, einen Platz Paris 2012, S. 25. erre Nora über Frankreich von Etienne vor Otto von Bismarck. Allerdings ran- 6 Vgl. https://de.wikipedia. org/wiki/Unsere_Besten# François und Hagen Schulze 2001 in giert er weit hinter den Personen, die auf Unsere_Besten_.E2.80. drei Bänden publiziert, hat Marx unter Platz 1 (Goethe, 2.416 Nennungen), 93_Die_gr.C3.B6.C3. 9Ften_Deutschen (letzter 121 Erinnerungsorten einen eigenen Platz 2 (Schiller, 2.332 Straßennamen) Zugriff: 24.11.2016).

90 und Platz 3 (Friedrich Ludwig Jahn, 2.155 etwas je anderes. Die Widersprüchlich- Straßennamen) positioniert sind.7 keit der Befunde spiegelt sich auch in Zudem stehen weiterhin einige Marx- dem Umgang mit der Denkmal- und Denkmäler, etwa in Berlin, Frankfurt/ Straßennamenlandschaft der DDR. Oder und Chemnitz. Manches war nach der Wende von 1989/90 um- Zweite These: Denkmalsturz schafft eher stritten, aber wohl weniger wegen der Erinnerung als Denkmalbau. Auseinan- Person Marx, eher wegen des Kontex- dersetzung hält Erinnerung wach. tes der DDR, in der die meisten Marx- Denkmalsturz nach Systemwechseln, Denkmäler entstanden sind und ge- die Beseitigung von Symbolen des nutzt wurden. Denn Denkmäler sind – Überwundenen, die Umbenennung mehr noch als Straßennamen – kon- von Straßen – all das sind offenkun- textabhängig, was Bewertung und Be- dig epochenübergreifende Phänome- wahrung angeht. Straßennamen wir- ne und auch transnationale Erschei- ken unabhängig vom Kontext durch nungen. In der Moderne beginnen die ihren alltäglichen Gebrauch subkutan Denkmalstürze mit der Französischen 7 Vgl. Rainer Pöppinghege, Wege des weiter, Denkmäler dagegen müssen Revolution, in deren Verlauf, im Zuge Erinnerns. Was Straßen- namen über das deutsche durch soziale Praxis, Veranstaltungen, der Radikalisierung, viele Monarchen- Geschichtsbewusstsein getätigte Verehrung oder historische denkmäler fielen.10 Das 20. Jahrhun- aussagen, Münster 2007, S. 29–31. Erinnerung präsent und lebendig ge- dert, das zahlreiche radikale System- 8 Vgl. zu dem Fall Toni halten werden, anderenfalls erstarren brüche erlebt hat, führte noch einmal Jost, Bauen für die Ewig- sie zum unbeachteten Möbelstück. Es zu einer Steigerung, was radikale Epura- keit. Das Ensemble „Zentraler Platz“ von waren lokale Bedingungen und spezi- tionen und Symbolwechsel angeht. So Chemnitz/Karl-Marx-Stadt, in: archimaera, Dezember fische historische und kommunale Be- vielfältig aber die Denkmallandschaft 2011, S. 59–74, http:// züge, die trotz Beseitigung des Namens seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert www.archimaera.de/2011/ lebensdauer/bauen_ Karl-Marx-Stadt die Bewahrung des geworden ist, also seit der sogenann- ewigkeit/index_html dominanten Marx-Kopfes in Chemnitz ten Denkmalflut des Kaiserreichs, und (letzter Zugriff 25.11.2016). 8 Siehe zu dem Fall auch ermöglicht haben. Es waren ebenso so massiv das Stadtwachstum und der unten die Ausführungen lokale Bedingungen und Diskussionen, Straßenbau dazu beigetragen haben, zur vierten These. 9 Vgl. Maoz Azaryahu, die zur partiellen Bewahrung des Na- dass immer mehr Straßen zu benennen Zurück zur Vergangen- mens Karl-Marx-Allee in Berlin beige- waren, so häufig nun auch Personen- heit? Die Straßennamen 9 Ost-Berlins 1990–1994, tragen haben. namen als politische Namensgeber ge- in: Winfried Speitkamp All diese Befunde sind uneindeutig. nutzt wurden, so vielfältig sind auch (Hrsg.), Denkmalsturz. Zur Konfliktgeschichte Marx ist nach wie vor in der deutschen die Probleme bei Systemwechseln ge- politischer Symbolik, Erinnerungskultur präsent, wenn auch worden. Seit dem 19. Jahrhundert hat Göttingen 1997, S. 137–154, hier S. 149. verstreut, vage und ambig. Marx spielt sich eine dichte und durchaus schon 10 Vgl. Günther Lottes, offenkundig nach wie vor eine beson- pluralistische Denkmallandschaft ent- Damnatio historiae. Über den Versuch einer dere Rolle, eine Rolle als Leuchtturm wickelt, sodass klare Wertungen und Befreiung von der Ge- und Außenseiter zugleich im kollek- eindeutige Umgangsweisen nicht mehr schichte in der Franzö- sischen Revolution, in: tiven Gedächtnis wie wohl niemand möglich scheinen. Zunächst müssen Speitkamp, Denkmal- sonst im Pantheon deutscher Geistes-, vier allgemeine Beobachtungen vor- sturz, S. 22–48. weggeschickt werden: 11 Thomas Nipperdey, Kultur-, Kriegs- und Politikgeschichte; Nationalidee und National- er hat – als Symbol und Erinnerungsort Erstens: Thomas Nipperdey hat dar- denkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: – auch das Ende der DDR überlebt. Und auf hingewiesen, dass die Opposition Ders., Gesellschaft, Kultur, selbst wo er nicht (mehr) symbolisch keine Denkmäler baut – „solange sie Theorie. Gesammelte 11 Aufsätze zur neueren präsent ist, gilt: Jeder kann mit dem nichts als Opposition ist“. Denkmal- Geschichte, Göttingen Namen etwas anfangen, jeder verbin- bau ist Herrschaftsarchitektur, Denk- 1976, S. 133–173, hier S. 133. det etwas damit – vielleicht allerdings mäler zeugen von Staatsbewusstsein

91 oder Triumph. Aber nicht ganz: Bürger- hen von der Lagerung des gestürzten liche Denkmäler im 19. Jahrhundert, Monumentalobjekts. Und ein Monu- etwa für Johannes Gutenberg, Martin mentalobjekt wie das Lenin-Denkmal Luther oder Friedrich Schiller, standen kann man auch nicht heimlich ver- auch für bürgerliches und nationales schwinden lassen.13 Denkmalsturz ist Selbstbewusstsein gegen Feudalismus also oft eine aufwendige Angelegen- und Monarchismus, sie dokumentier- heit. Das heißt auch: Dem Sturz geht ten bürgerlichen Aufstieg. Ausnahmen zwingend eine Debatte voraus, über stellen Kriegerdenkmäler dar, inso- Grundsätze, gestalterische Fragen und fern sie Trauer dokumentieren. Aber Neubelegung, oft auch eine rechtliche im Kern sollen auch sie besagen, dass Bewertung und schließlich eine poli- die Überlebenden letztlich siegen wer- tische Entscheidung. Selbst Straßen- den. Sie wurden in Deutschland nicht namen werden zwar manchmal spon- errichtet, um eine Niederlage einzu- tan übermalt, aber auch hier ist die gestehen, in ihrer politischen Ausprä- Umbenennung eine bürokratische und gung nach 1918 dokumentierten sie manchmal parlamentarische Prozedur, vielmehr einen inneren oder einen die aufwendig und langwierig ist. Die künftigen, antizipierten Triumph. Der Umgestaltung der Symbollandschaft Opposition bleibt insofern nur der erfolgt also erst, wenn der revolutio- Denkmalsturz. näre Rauch verflogen ist, wenn Re- Zweitens: Denkmäler werden nach flexion eingesetzt hat, wenn über die Systembrüchen selten sofort komplett Bewertung des Erreichten schon ge- gestürzt, zum Teil aus rein technischen stritten wird – und das macht die Sache Gründen; man braucht oft schweres kompliziert. Gerät, um moderne Monumentaldenk- Drittens: In häufig zitierten Worten mäler zu zerstören. Über die Vernich- hat Robert Musil formuliert: Man geht tung des Kyffhäuser-Denkmals oder jahrelang achtlos an Denkmälern vor- des Völkerschlachtdenkmals hat man bei, man nimmt sie erst wahr, wenn 12 Siehe als Beispiel Sven Frotscher u.a., durchaus nachgedacht, doch der tech- sie fehlen, wenn sie gestürzt sind.14 Zu Der Kyffhäuser, o.O. o.J. nische Aufwand hätte den potenziel- ergänzen ist: Man nimmt Denkmäler [1996], S. 61. 12 13 Vgl. Petra Roettig, len politischen Nutzen überstiegen. wahr, sobald sie umstritten sind, so- Sprechende Denkmäler. Ein Denkmalsturz erfordert also oft bald ihre Legitimation und die Ehre Von der Inschrift zum Graffito – Formen des zumindest Planung und präzise Vorbe- der Geehrten in Frage gestellt wird, so- Denkmalkommentars, reitung, nicht selten wird eine Insze- bald über sie öffentlich diskutiert wird. in: kritische berichte 20, 1992, H. 3, S. 75–82, nierung daraus gemacht, zu sehen an Ist eine Diskussion einmal losgetreten, hier S. 75f. Ferner zum Beispielen von der Französischen Re- gibt es kaum einen Weg zurück. Was Lenin-Denkmal auch Anna Saunders, The volution bis zum Sturz der monumen- in Erinnerung gerufen ist, qua Infrage- Ghosts of Lenin, Thäl- mann and Marx in the talen Saddam-Statue in Bagdad 2003 stellung, kann man nicht per Dekret Post-Socialist Cityscape, nach dem Sieg der US-Amerikaner. Der wieder dem Vergessen anheim fallen in: German Life and Letters 63, 2010, H. 4, über sieben Meter hohe Karl-Marx-Kopf lassen. Was umstritten ist, kann nicht S. 441–457. in Karl-Marx-Stadt hätte auch nicht per Dekret wieder in eine gemeinsame 14 Vgl. Hans-Ulrich von Hunderten wütender Demonstran- Deutung überführt werden. Thamer, Straßennamen in der öffentlichen Dis- ten mal eben umgestürzt werden kön- Viertens: Daraus folgt auch: Ein Denk- kussion: Der Fall Hinden- burg, in: Matthias Frese nen. Das knapp 20 Meter hohe Berli- malsturz ist nachhaltiger als der Denk- (Hrsg.), Fragwürdige ner Lenin-Denkmal 1991 wieder zu malbau, die Entehrung ist wirkungs- Ehrungen!? Straßenna- men als Instrument von zerlegen, war schon fast Ingenieurs- voller als die Ehrung. Eine Ehrung Geschichtspolitik und kunst; der Abtransport erforderte eine kann verblassen, sie kann in Verges- Erinnerungskultur, Münster 2012, S. 251–264, geeignete Infrastruktur, ganz abgese- senheit geraten wie eben das Denkmal, hier S. 251.

92 an dem man achtlos vorbeigeht. Die Drittens die Bewahrung und Umdeu- Schmach der Entehrung dagegen bleibt tung, die Neukontextualisierung, etwa in Erinnerung. Das gilt erst recht, wenn durch eine neue Inschrift, die die Bot- Denkmäler regelrecht geköpft werden, schaft des Denkmals umlenkt. So kann wie es nach Umbrüchen durchaus ge- aus einem Kolonial-Ehrenmal wie dem schieht, und der Kopf dann auch noch Elefanten-Monument in Bremen von ausgestellt wird.15 Als am 6. Mai 2016 1932 ein Denkmal gegen Kolonialismus im Karl-Marx-Haus in Trier eine Büste und Rassismus werden.16 In Kassel ist von Marx enthüllt wurde, ein Werk des aus einem 1874 errichteten nationalis- Marx-Urenkels Karl-Jean Longuet aus tischen, antifranzösischen Monument den 1950er-Jahren, hat das niemanden (ein liegender Hessen-Löwe), das an die mehr wirklich provoziert. Würde man Opfer des Widerstands gegen Napoleon dagegen morgen eines der noch exis- erinnerte, durch Austausch der Inschrift tierenden Marx-Denkmäler stürzen, ein bloßes Gefallenendenkmal gewor- dann gäbe es starke Reaktionen. Der den.17 Auch Straßenbenennungen kann Sturz eines Denkmals liefert übrigens man umdeuten – unabhängig davon, auch sehr viel eindringlichere Bilder ob die Nutzer und Anlieger der Straße als die Errichtung. diese Nuancen wahrnehmen. Aus alledem folgt, dass man immer Viertens die Umsetzung des Objekts, wieder neue Möglichkeiten gesucht die Musealisierung und Dekontextua- hat, nach Systemwechseln angemes- lisierung, der Entzug der deutenden sen mit der in Verruf geratenen Ge- Umgebung, der Tradition, die Sinn zu- schichte umzugehen, und dass immer weist. Eindringlich und nachhaltig ge- wieder langwierige Kontroversen und lingt das bei der Umsetzung in einen erbitterte Konflikte die Folge waren. Es Denkmalpark, wie er mit dem Szo-

15 So wird der Kopf des war kaum vorauszusehen, wann solche bor-Park am Stadtrand von Budapest Berliner Lenin-Denkmals, Konflikte wieder auflebten. Eine Reak- für die Denkmäler des Sozialismus ent- das 1970 am damaligen Lenin-Platz (heute Platz tion, ein Handeln, war und ist folglich standen ist. der Vereinten Nationen) unvermeidlich, wenn der Streit einmal Fünftens der Sturz, die Freiräumung eingeweiht und 1991 de- montiert wurde, seit April da ist. Welche Möglichkeiten gibt es und Einebnung des Standorts, die Aus- 2016 in der Spandauer Zitadelle vorgeführt. nun zu handeln, um unliebsame Er- löschung nicht nur des Denkmals, 16 Vgl. Winfried Speit- innerungszeichen einzuhegen, in ihrer sondern auch des Orts und damit auch kamp, Kolonialdenkmäler, Strahl- und Provokationskraft zu bre- der sinnlichen Verankerung der Erin- in: Jürgen Zimmerer (Hrsg.), Kein Platz an der Sonne. chen? Für Denkmäler und Straßen sind nerung. Erinnerungsorte der folgende sechs Varianten denkbar: Sechstens der Sturz bzw. die Namens- deutschen Kolonialge- schichte, Frankfurt 2013, Erstens die Bewahrung bei Leugnung tilgung mit anschließender Neubele- S. 409–423, hier S. 413f., 417, 420f. der Belastung, wie es oft bei Straßen- gung. Nur das macht den Sieg einer 17 Vgl. Winfried Speit- namen geschieht, ob man dabei dem neuen Zeit sinnfällig, hält ihn näm- kamp, Erinnerungskultur Beharrungsvermögen der Anwohner lich als Sieg sichtbar und in Erinne- und Denkmal. Kassel im 20. Jahrhundert, in: oder den Kosten einer Neubenennung rung. Das ist die übliche Praxis, so Hessisches Jahrbuch für Rechnung trägt. Das führt allerdings etwa wurde in Elsass-Lothringen nach Landesgeschichte 63, 2013, S. 1–23, hier S. 10f. manchmal zu fortwährenden, sich ra- dem Ende der deutschen Herrschaft 18 Vgl. Annette Maas, dikalisierenden Kontroversen. 1918/19 verfahren: An die Stelle des Zeitenwende in Elsaß- Lothringen. Denkmal- Zweitens die Bewahrung mit erklären- Kaiser-Wilhelm-Denkmals in Metz trat stürze und Umdeutung der, vielleicht sogar distanzierender In- ein Poilu-Denkmal, ein Denkmal für der nationalen Erinne- rungslandschaft in Metz schrift auf einer Plakette am Denkmal die französischen gemeinen Soldaten – (November 1918–1922), oder einer kleinen Tafel am Straßen- ein doppelter Denkmalsturz fand also in: Speitkamp, Denkmal- sturz, S. 79–108. schild. statt.18

93 Deutlich wird, dass Ehre und Enteh- Sie können Verwirrung schaffen, Ärger rung in enger, dialektischer Beziehung und Kosten provozieren. Sie gefährden stehen. Gleichzeitig handelt es sich Tradition, Alltagsidentifikation, Hei- bei beiden um Erinnerungspolitik. Das matempfinden. Sie sind also in lokaler zeigt sich besonders eindringlich bei Perspektive relevant und problemati- der Entehrung, die am wirkungsvolls- scher noch als Denkmalstürze. ten ist, wenn sie sich als Auslöschung Zugleich sind Straßennamen, die auf der Geschichte, als damnatio memoriae Personen verweisen, immer Namen, oder sogar damnatio historiae, umsetzen die auch eine Ehrung enthalten und lässt. die zur Provokation werden können. Das macht eine Historisierung schwie- Dritte These: Denkmaldebatten basieren rig. Während man ein missliebiges heute auf lokalen Bedingungen im trans- Denkmal möglicherweise stehen lassen lokalen Kontext; Partizipation, „shared und dabei mit einer erklärenden Tafel heritage“ und sogar „sharing heritage“ Distanzierung ausdrücken kann, ist das lauten die Leitbegriffe. bei Straßennamen als Ehrenzeichen Seit der Zeit der Französischen Revolu- mit alltäglicher Nutzung kaum mög- tion sind Denkmäler und Benennun- lich; eine erklärende Tafel am Straßen- gen, an erster Stelle von Straßen, zum schild hilft nicht weiter, denn sie wird dominanten Instrument der politi- kaum wahrgenommen. Abgesehen schen Belegung des Raumes und auch davon kann man dem Adressfeld auf der Auseinandersetzung um den Raum dem Brief oder der Visitenkarte nicht geworden. Seitdem kommt es immer noch eine distanzierende Erklärung wieder zu spektakulären Attacken auf beifügen. Die Orientierungsfunktion Symbole, zu Umbenennungen und verlangt Kürze, die Ehrung wird damit Neubelegungen. Herrschaft und Wi- unvermeidlich mittransportiert. derstand verdinglichen sich im Raum. Gleichzeitig stehen Straßennamen im Und an der Neucodierung des Raums, Zusammenhang eines alltäglichen Zei- an den Namens- und Symbolwechseln, chensystems mit historischen Bezügen, lassen sich die Wechselfälle der Ge- das allem Handeln unterlegt ist, ohne schichte ablesen. dass es ständig reflektiert wird, ohne Schloss Wilhelmshöhe bei Kassel hieß dass es überhaupt nur bewusst wird. in napoleonischer Zeit Napoleonshö- Das umfasst neben den Straßennamen he. Die Verbindungsstraße zur Stadt die Benennungen von Schulen und Kassel, die Wilhelmshöher Allee, in anderen öffentlichen Einrichtungen. napoleonischer Zeit „Napoleonshö- Hier ist der personale Bezug manchmal her Allee“ genannt, mündet in einen schon deshalb problematischer, weil Platz, der zeitweilig dementsprechend die Institution einer Aufgabe gewidmet Napoleonshöher Platz hieß, dann wie- ist und die im Namen geehrte Person der Wilhelmshöher Platz, im ‚Dritten Vorbildcharakter haben soll. Zu dem Reich‘ Adolf-Hitler-Platz und nach Zeichensystem mit historischen Bezü- dem Krieg bis heute Brüder-Grimm- gen gehören auch Briefmarken, Mün- Platz. Auch wenn die Namen wechseln, zen und Banknoten, deren Bedeutung bleibt die Straße. Man braucht einen im Alltag angesichts von E-Mail und Namen, denn Straßennamen haben bargeldlosem Verkehr allerdings zu- Differenzierungs- und Orientierungs- rückgeht. Dennoch: Derartige Zeichen funktion in der Stadt. Deshalb sind bilden eine alltägliche Geschichts- Namenswechsel im Alltag schwierig. landschaft, in der Menschen sich wie

94 selbstverständlich bewegen, ohne ihr Betrachtet man systematisch, wie sich Tun und ihre Wahrnehmungen zu re- Konjunkturen und Dynamiken der flektieren, die ihnen aber Orientierung Symbolkonflikte entwickeln, so fällt bietet. Es ist unklar, welche Wirkungen Folgendes auf: davon ausgehen, es ist kaum zu ermit- Erstens: In Systemwechseln spielen teln, ob etwa die beständige Nutzung Denkmalattacken eine besondere Rol- von Personennamen als Straßennamen le, oft aber in der ersten Phase eher auch Sympathie für die jeweilige Per- als aggressiver Vandalismus, als Ironi- son implementiert. sierung, Distanzierung, Verhöhnung, Daran wird deutlich, dass wir noch sichtbare Entehrung, auch im Rahmen nicht genau wissen, was das Besondere des Bemühens um Epuration oder Pu- an Straßennamen ausmacht. Straßen- rifikation. Marx bietet dafür Beispiele; namen sind schlafende Erinnerungen. die Basis des Marx-Engels-Denkmals Sie stehen im Kontext vergleichbarer auf dem Marx-Engels-Forum in Berlin Erinnerungszeichen, die eher subkutan wurde nach der Wende mit dem auf- wahrgenommen werden, oft jahrelang gesprühten Spruch versehen: „Wir sind unbeachtet bleiben und dann irgend- unschuldig“. Und auf der Rückseite des wann Brisanz erlangen, wenn der Na- Sockels war nun zu lesen: „Beim nächs- mensgeber neu bewertet oder über- ten Mal wird alles besser“20 (Abb. 6.5). haupt nur mit seiner Vergangenheit Dann folgt in der Regel eine Phase der und Belastung wahrgenommen wird. Institutionalisierung und Verrechtli- Was die Konjunkturen von Denkmal- chung des Neuen. Das kann mit Ten- stürzen angeht: Nur auf den ersten denzen verbunden sein, die kulturelle Blick sind Denkmalstürze und Na- Seriosität und Legitimität des neuen menswechsel bloß Begleiterscheinun- Regimes zu demonstrieren, indem gen von Systembrüchen. Dort treten Vandalismus bekämpft wird, denkmal- sie freilich besonders hervor, erschei- pflegerische Aspekte betont werden nen sie gehäuft und radikaler, werden und Umgestaltungen eingegrenzt wer- sie jedenfalls erwartet und beobachtet. den nach politischen Kriterien, zum Allerdings durchziehen solche Debat- Beispiel durch Begrenzung der Zerstö- ten die Geschichte der Bundesrepu- rungserlaubnis an historischen Gebäu- blik oder tauchen unerwartet wieder den auf Zeichen des Monarchismus, auf. Besonders seit 1990 sind immer Faschismus und Militarismus – so nach wieder derartige Diskussionen ge- 1918 und nach 1945. De facto werden führt worden, und zwar keineswegs so Zeichen der Geschichte bewusst ge- beschränkt auf den Umgang mit der schützt. DDR-Vergangenheit. So ist die Debatte Zweitens: Denkmalstürze werden be- über Hindenburg als Namensgeber in sonders dann radikal und unnach- verschiedenen deutschen Städten auf- giebig vorgenommen, wenn sie mit 19 Vgl. Reiner Burger, Alte Heimat Hinden- geflammt und vor allem in Münster nationalen Identitätswechseln gekop- burg, in: Frankfurter All- 2012 außerordentlich erbittert geführt pelt sind. Nationale Befreiung, Ent- gemeine Sonntags- zeitung, 09.09.2012, worden, ohne dass ein Systemwechsel kolonialisierung, Vertreibung fremder S. 5; Jasper von Alten- bockum, Hindenburger vorausging oder ein grundlegend neu- Herrscher, aber auch Eroberung frem- und Anti-Hindenburger, es Forschungsergebnis bekannt gewor- den Territoriums oder Rückeroberung in: Frankfurter Allgemeine 19 Zeitung, 14.09.2012, S. 4; den wäre. Dahinter stand vielmehr eigenen Territoriums – immer dann ferner Thamer, Straßen- ein schleichender Deutungswechsel im wurden und werden Denkmäler atta- namen. Kontext einer sich wandelnden politi- ckiert. Das gilt an erster Stelle für na- 20 Fetscher, Karl Marx, S. 345. schen Kultur. tional eindeutig zuzuordnende Perso-

95 nendenkmäler. Der Platz wurde in der ihre eigene Dynamik. Sie berühren Regel neu belegt, so im erwähnten Fall lokale Traditionen und Interaktionen, eines deutschen Kaiser-Wilhelm-Denk- Konflikte in der lokalen Gemeinschaft. mals in Metz oder im Falle eines Denk- Sie rufen Erinnerungen an die Benen- mals für den deutschen Kolonialoffizier nung wach, an zuvor unterdrückte Hermann Wissmann in Daressalam, Kontroversen, sie schaffen Verbindung 21 Vgl. John E. G. Sutton, das nach 1918 von den Briten, die der zu anderen lokalen Kontroversen und Dar es Salaam. City, deutschen Kolonialherrschaft folgten, können dann urplötzlich und für den Port and Region, Dar es Salaam 1970, Tafel 60f. durch ein Askari-Denkmal, ein Denk- Außenstehenden überraschend die 22 Vgl. Winfried mal für einen afrikanischen Soldaten Kommune spalten und zu Erbitterun- Speitkamp, Transitions- 21 symbolik – Denkmalbau in britischen Diensten, ersetzt wurde. gen führen – obwohl es doch scheinbar und Denkmalsturz im Drittens: Denkmalwechsel haben eine nur um jahrzehntelang unbeachtete nachkolonialen Afrika, 24 in: Birgit Franz/Waltraud Geschichte. Vorangegangene provo- Symbole geht. Kofler Engl (Hrsg.), zierende Denkmalerrichtungen prägen Fünftens: Lokale Kontexte und Erinne- Umstrittene Denkmale – Monumenti controversi. auch die Formen der Denkmalstürze. rungen verbinden sich oft mit anderen Der Umgang mit dem Denkmalehrung und -entehrung sind lokalen Kontroversen. Friktionen in Erbe der Diktaturen – Come gestire l’eredità Teil einer komplexen Ehrkultur, die der lokalen Gesellschaft, der Partei- delle dittature, Bozen sich aus der Geschichte und der Er- und Presselandschaft spiegeln das un- 2013, S. 184–192. 23 Beispiele zur Konkur- innerung speist. Der Denkmalwech- mittelbar wider. renz und Popularisierung sel selbst wird dann denkmalwürdig; Sechstens: Lokale Denkmalkonflikte der Nationaldenkmäler: Klaus Weschenfelder in Metz ist er auf einer Postkarte do- stehen wiederum in einem transloka- (Hrsg.), „Ein Bild von kumentiert worden. Sogar Denkmal- len Kontext, führen zu translokalen Erz und Stein…“. Kaiser Wilhelm am Deutschen stürze sind schon zum Denkmal ge- Auswirkungen und Reaktionen. Die Eck und die National- denkmäler. Ausst.-Kat. worden. In Ghana hat man das 1966 neuen Debatten über den britischen Mittelrhein-Museum gestürzte Denkmal des Staatsgründers Imperialisten Cecil Rhodes in Kapstadt , Koblenz 1997, S. 69–93. Kwame Nkrumah 2007 als Torso wie- und Oxford („Rhodes must fall“)25 24 Vgl. als aussage- dererrichtet – mit großer Wahrschein- schaffen einen transkontinentalen kräftiges Beispiel den Fall lichkeit handelt es sich sogar um eine Austausch zwischen Großbritannien des Bürgermeisters von Eschwege, Alexander Replik, nicht um das Original.22 Eh- und dem südlichen Afrika. Und Umbe- Beuermann, in der NS- Zeit. 1963 wurde eine rungen in Symbolen antworten also nennungen haben oft ungeahnte Fol- Straße nach ihm benannt, auf Geschichte, sie sind oft kompetitiv gen wie etwa in Paris: Schon kurz nach seit 2000 entstand eine bald erbitterte Debatte oder agonal, Ehrungen sind Teil einer der Umbenennung von Leningrad in um den Geehrten und symbolischen Duellkultur. Schon im St. Petersburg 1991 reagierte auch die dessen Rolle im National- sozialismus, die schließ- Kaiserreich verglich man Denkmäler, Pariser Stadtverwaltung. Aus der Rue de lich 2009 zur Umbenen- es gab interlokale, interregionale und Leningrad wurde die Rue de Saint Pe- nung führte; vgl. Winfried Speitkamp, Eschwege. internationale Konkurrenz, sogar nach tersbourg.26 Hier zeigt sich die höchst Eine Stadt und der Nationalsozialismus, bloß äußerlichen Kriterien: Das Leipzi- suggestive und geschichtsmächtige 2015. ger Völkerschlachtdenkmal von 1913 Wirkung der Benennungspolitik. In- 25 Vgl. Gina Thomas, zum Beispiel beanspruchte, die ame- dem bestimmte Wörter qua Straßenna- Tyrannei des Biedersinns, in: Frankfurter Allgemeine rikanische Freiheitsstatue an Höhe zu men geächtet oder zumindest gelöscht Zeitung, 16.01.2016, S. 11; übertrumpfen.23 werden, wird auf die Dauer doch eine Dies., Sie wollen mit geballten Fäusten die Viertens: Konflikte um Denkmäler oder selbstverständliche neue Begriffswahl Geschichte tilgen, ebd., Straßennamen haben immer lokale durchgesetzt – in der Öffentlichkeit, 11.03.2016, S. 9. 26 Nach wie vor gibt es Bedingungen und Dynamiken, selbst in der Presse, in der Wissenschaft, im in Paris allerdings eine wenn sich überregionale Prozesse darin privaten Leben –, die de facto zur dam- „Stalingrad“ benannte Métro-Station. Der Name niederschlagen. Denkmalkonflikte ha- natio memoriae führt. bezieht sich auf die ben ihre eigene Lokal-Zeit, ihren eige- Solche translokalen Wechselwirkungen Place de la Bataille-de- Stalingrad, die bis 1993 nen Rhythmus, ihren eigenen Kontext, gibt es auch im Fall Marx, denn Marx Place de Stalingrad hieß.

96 steht für die Verbindung einer lokalen von den Partizipierenden gestaltet, es Geschichte der Benennung mit über- ist wandelbar und offen. Erinnerungs- lokalen Ansprüchen, Ideen, Vorgaben gut ist, was von Bedeutung für lokale und Kontroversen. Diese Wechselwir- Gruppen ist. Aber was heißt das für die kungen können Auseinandersetzungen Marx-Erinnerung? radikalisieren und Fronten verhärten. Die lokalen Akteure handeln vor einer Vierte These: In der DDR war Marx po- überlokalen Öffentlichkeit, passen sich litisches Symbol und Repräsentant des an oder grenzen sich ab, zum Beispiel Staats. Nach der Wende wurde seine Er- von denkmalpflegerischen Ansprü- innerung vielfach lokal angeeignet und chen, die den Kunstwert, den histori- damit pluralisiert. Damit ging indes auch schen Wert oder den „Streitwert“27 be- ein Bedeutungsverlust in der nationalen stimmter Objekte betonen und daraus Erinnerungskultur einher. die Erhaltenswürdigkeit ableiten. Das, In der DDR-Zeit war Marx allgegenwär- was nun diese Konjunkturen kenn- tig, auf Straßennamen, Briefmarken, zeichnet, sind genau diese lokalen Geldscheinen, Orden, vielen Denkmä- Konstellationen in ihrer kontingenten lern, in der Karl-Marx-Universität Leip- überlokalen Wechselwirkung. zig ebenso wie in der Karl-Marx-Par- Auf lokaler Ebene geht es aber nicht nur teihochschule, im Karl-Marx-Orden um Grundsatzfragen, sondern um Par- ebenso wie in Marxwalde – so hieß tizipation. Ausgehandelt wird dabei, Neuhardenberg von 1949 bis 1990.28 wer über den Raum der Stadt bestimmt, Die DDR versicherte sich umfassend welche Gruppen die Erinnerung be- des Marx-Erbes, Marx wurde als Be- legen, wie man belastete Geschichte deutungsträger und Metapher genutzt. 27 Begriff nach Gabi Dolff-Bonekämper, endgültig bereinigen kann. Marx ist Seine Person wurde nicht nur geehrt, Gegenwartswerte. Für dann nicht mehr das Symbol der Ar- sondern zur Ehrung anderer benutzt: eine Erneuerung von Alois Riegls Denkmal- beiterbewegung, des Kommunismus Wer mit seinem Namen in Verbindung werttheorie, in: Hans- oder gar der DDR, sondern ein lokaler gebracht wurde oder gar den nach ihm Rudolf Meier/Ingrid Scheurmann (Hrsg.), Überrest, ein Erinnerungssymbol und benannten Orden trug, durfte sich DENKmalWERTE. Bei- träge zur Theorie und lokaler Identifikationsanker. Denkmä- schon dadurch geehrt fühlen. Marx Aktualität der Denkmal- ler und Straßennamen werden dabei war Sinnbild von Ehre überhaupt und pflege, Berlin 2010, S. 27–40, hier S. 33f. als Gut der lokalen oder partiellen Ge- daher auf allen Formen von Symbolträ- 28 Vgl. Maoz Azaryahu, meinschaft verstanden. Partialkulturen gern präsent. Von Wilhelmplatz zu stehen im Konflikt, bis sich eventuell Marx-Denkmäler in der DDR versuch- Thälmannplatz. Politi- sche Symbole im öffent- ein hegemoniales Verständnis oder ten zugleich eine marxistische Deutung lichen Leben der DDR, 29 Gerlingen 1991, hier Gedächtnis durchsetzt. Wellen der Eh- nahezulegen, es ging keineswegs nur S. 156–170. rungsdebatte werden bestimmt von um die historische Bedeutung einer 29 Vgl. Hubert Staroste, dem Bemühen um Partizipation, von einzelnen Person. Wenn zum Beispiel Politische Denkmäler in Ost-Berlin im Spannungs- Partizipationsschüben. Dabei vermischt ein Zitat mit dem Denkmal verbunden feld von Kulturpolitik sich politische Instrumentalisierung wurde wie in Karl-Marx-Stadt – an der und Denkmalpflege. Ein Bericht zur Arbeit der mit anderen lokalen Ansprüchen an Gebäudewand im Rücken des Denk- Kommission zum Umgang Partizipation, an selbstbestimmte An- mals steht in mehreren Sprachen das mit den politischen Denk- mälern der Nachkriegs- eignung und Umnutzung, an Denkmä- Zitat aus dem „Kommunistischen Mani- zeit im ehemaligen Ost-Berlin, S. 84–86, ler als Gemeingut, an Popularisierung. fest“: „Proletarier aller Länder, vereinigt hier S. 85, http://journals. Man spricht mittlerweile von Partizipa- euch!“ – oder wenn wie in der Berliner ub.uni-heidelberg.de/ index.php/icomoshefte/ tion und Teilhabe, sharing heritage lau- Humboldt-Universität nur ein Spruch article/viewFile/22527/ tet das Schlagwort. Das Gedenken wird vermittelt wurde („Die Philosophen ha- 16288 (letzter Zugriff: 25.11.2016). verflüssigt, das Erbe wird beständig ben die Welt nur verschieden interpre-

97 tiert, es kommt aber darauf an, sie zu Das erforderte 1989 eine Reaktion und verändern“), so unterstrich das das Be- machte sie doch zugleich schwierig. mühen, Marx zu kanonisieren (Abb. 6.4). Denn es wurde ja nicht der konkrete Aber was genau wurde hier eigentlich Marx für konkrete Taten geehrt. Jede geehrt oder erinnert, warum stand im- Reaktion war zweifelhaft. Die Antwor- mer und überall Karl Marx im Fokus? ten waren daher vielfältig und wider- Reicht zur Erklärung seine Bedeutung sprüchlich: Man wollte Marx stürzen als Analytiker des Kapitalismus und oder in seiner Aussage beschneiden, Theoretiker des Kommunismus aus? ihn beispielsweise eben auf den Phi- 1971 wurde das Marx-Denkmal in Karl- losophen reduzieren. Man wollte ihn Marx-Stadt eingeweiht. Erich Hone- ironisieren oder ihm den Kontext ent- cker, Generalsekretär des ZK der SED, ziehen, so seine Macht bannen, seine formulierte dazu in seiner Rede: Kraft als National- bzw. Staatssymbol der DDR brechen. „Wir ehren Karl Marx, […] doch Die Jahre seit 1989 waren in vielen wir fügen hinzu: Das eigentli- ostdeutschen Städten von intensiven che, lebendige Denkmal für Karl Diskussionen über Benennungen und Marx und seine Weggenossen, Denkmäler geprägt. Über die Runden das ist die UdSSR, das ist die Tische und die neuen Parteien wurde Völkerfamilie der sozialistischen Bürgernähe eingefordert, in Leserbrie- Staaten, die diese Epoche im fen und Zuschriften wurden Namen Geiste des Marxismus-Leninis- debattiert, und je nach Stadt gin- mus prägen, das ist unsere so- gen die Lösungen weit auseinander. zialistische Republik, das ist der Manchmal wurden alle Reminiszen- historische Kampf aller revolu- zen an das System der DDR beseitigt, tionären Kräfte.“30 manchmal blieben selbst Personen wie Ernst Thälmann und Georgi Dimitroff Marx stand also nicht für sich allein, als Namensgeber erhalten, manchmal er war ein Platzhalter und selbst wie- wurden sogar in ganzen Stadtvierteln der ein Symbol, er drückte eine kollek- die DDR-Benennungen bewahrt.32 tive Wertausrichtung aus. Die starke Auch innerhalb einzelner Kommunen Stilisierung seines Kopfes, die Unver- wurden widersprüchliche Lösungen wechselbarkeit, die allenthalben Wie- gewählt. Karl-Marx-Stadt (1953 umge- dererkennung garantiert, trägt dazu tauft) hieß seit einer Volksabstimmung bei. So deutlich ist nur noch Bismarck vom April 1990 wieder Chemnitz (drei in der deutschen Denkmalkultur ent- Viertel der Abstimmenden votierten personalisiert und stilisiert worden, ob dafür), die Karl-Marx-Allee in der Stadt als Rolandsfigur wie in oder wieder Brückenstraße. Aber das monu- 30 Zit. nach Karl Marx als bloßes Symbol in den allgegenwär- mentale Marx-Denkmal von 1971, weit – Künstlerbekenntnisse. tigen Bismarcktürmen und -säulen.31 über die Grenzen der Stadt bekannt, Kunstausstellung anläß- lich des Karl-Marx-Jahres Marx war gewissermaßen das National- blieb nach kontroversen Diskussionen 1983, Berlin 1983, S. 29. denkmal der DDR, das Denkmal der so- schließlich stehen, auch unter Beto- 31 Vgl. Kai Krauskopf, Bismarckdenkmäler. zialistischen Nation. Als solches konn- nung des Kunstwertes. Karl Marx ist in Ein bizarrer Aufbruch in te Marx auf Dauer schon in der DDR Form dieses Denkmals in gewisser Wei- die Moderne, Hamburg 2002. nicht weiter existieren. Marx wurde als se eine Sehenswürdigkeit des Stadtmar- 32 Vgl. Frank Pergande, Denkmal daher, wie im späten Kaiser- ketings und eine Touristenattraktion Puschkin zwischen reich die Bismarcktürme, zum privaten geworden; Mikro-Nachbildungen kön- Beimler und Zetkin, in Frankfurter Allgemeine Treff- und Aussichtspunkt. nen als Andenken erworben werden. Zeitung, 04.10.2016, S. 9.

98 Vervielfältigung, Verkleinerung, Loka- mobil nun mit einem Spielzeug-Marx lisierung – der Karl-Marx-Kopf ist in zum 200. Geburtstag des sozialistischen Chemnitz vom Symbol des Sozialismus Theoretikers 2018 aufwarten würde. Bei und Platzhalter für die Sowjetunion beiden, Luther wie Marx, handelt es zum lokalen Erinnerungsort und zum sich offenbar um herausragende Perso- Symbol der Stadt geworden – und zwar nen der deutschen Geistes-, Kultur- und der Stadt Chemnitz, nicht Karl-Marx- Sozialgeschichte, um zwei Reformato- Stadt. In nicht wenigen ostdeutschen ren mit klarer und drastischer Sprache, Städten wurde an Marx festgehalten, auch mit fragwürdigen Urteilen, die bei- wenn man an eine andere DDR erin- de umstritten waren, weil sie die herr- nern wollte, an den unvollendeten schende Anschauung und Praxis infrage Weg des Sozialismus, an einen demo- stellten. Freilich wird am Vergleich bei- kratischen Sozialismus oder wenn man der auch deutlich, wie gravierend der überhaupt an der Abgrenzung vom ka- Bedeutungsverlust von Marx ist. pitalistischen Westen festhalten woll- te. Chemnitz zeigt, wie ein politisches Zeichen der DDR zur lokalen Identität auch jenseits des Sozialismus beitragen Prof. Dr. Winfried Speitkamp (* 1958) konnte. habilitierte sich an der Universität Erinnerung an Marx in der visuellen Gießen mit einer Studie zur Geschich- Kultur scheint nur noch dort zu funkti- te der Denkmalpflege in Deutschland onieren, wo eine Umlenkung des Iden- zwischen 1871 und 1933. Nach sieben- tität suchenden Interesses möglich ist, jähriger Lehrtätigkeit auf einer Profes- wo Marx lokal verortet werden kann sur für Neuere und Neueste Geschichte wie in Trier oder in Chemnitz. Bei den an der Universität Kassel wurde er 2017 Marx-Erinnerungsstätten, -Denkmälern auf eine Professur für Kulturgeschichte und -Straßennamen handelt es sich nun der Moderne in Weimar berufen. Seit- nicht mehr, wie in der DDR, um loka- dem ist er Präsident der Bauhaus-Uni- le Varianten eines nationalen Phäno- versität Weimar. mens, sondern um lokale Aneignungen und Umdeutungen, auch um Aneig- nungen in der Populärkultur. Das ist ein unvermeidbarer Prozess der Entsakrali- sierung, der über die Wendezeit, über Kritik und Distanzierung, aber auch über Ironisierungen, Graffiti, Souvenirs und lockere Sprüche vermittelt worden ist – mit dem Begriffspaar von „Ehrung und Entehrung“ ist er allerdings kaum noch zu fassen. Zum Lutherjahr 2017 ist vorab eine Playmobil-Spielzeugfigur des Reformators auf den Markt gekom- men, und zwar offenbar mit großem Erfolg, wenn auch nicht alle mit der Profanierung glücklich waren. Es wäre konsequent und würde wahrscheinlich ebenso von manchen mit leichtem Un- behagen wahrgenommen, wenn Play-

99 100 Von Trier in die Welt Karl Marx, seine Ideen und ihre Wirkung bis heute

Die Dauerausstellung im Museum Karl-Marx-Haus

Besucherinnen und Besucher begegnen kreis in der deutschsprachigen Arbeiter- im 1727 erbauten Geburtshaus – dem bewegung bis zur globalen Wahrneh- größten Exponat der Schau – der Per- mung, Bearbeitung und Benutzung. Als son Karl Marx, aber auch dem Gesell- Marx 1883 in London stirbt, hinterlässt schafts- und Kapitalismuskritiker. So er keine geschlossene Lehre. Diese wird lernen sie in der Ausstellungseinheit durch nachfolgende Generationen ge- Biografie Marx kennen als einen von formt. Insbesondere sozialistische und den Umbrüchen des 19. Jahrhunderts kommunistische Regimes weltweit ins- geprägten Oppositionellen, der ge- trumentalisieren Marx, der als politi- meinsam mit seiner Familie in ein Le- sche Reizfigur gilt. Die Finanzkrise von ben im Exil in verschiedenen europäi- 2007/2008 löst die aktuelle „Marx-Re- schen Städten gezwungen wird. naissance“ aus. Sie lenkt den Blick wie- In der ersten Etage wird Marx‘ Werk der auf seine Analysen des kapitalis- anhand seiner vier Hauptarbeitsfel- tischen Wirtschaftssystems und seine der Philosophie, Journalismus, Gesell- Forderung nach Emanzipation für die schaftswissenschaften und Ökonomie gesamte Menschheit. veranschaulicht. Diese vier Annähe- Höhepunkte der Ausstellung sind neue rungen erklären die Grundideen des Originalobjekte wie ein Briefentwurf Karl Marx. Dabei stehen „Das Kapital“ von Marx und sein Londoner Lesesessel. und das „Kommunistische Manifest“ Das Team des Karl-Marx-Hauses lädt zu im Mittelpunkt. Marx‘ Leitmotive des Führungen, einem umfangreichen mu- Begreifens, Veränderns und Befreiens seumspädagogischen Angebot und ei- werden deutlich. nem breitgefächerten Veranstaltungs- Im dritten und größten Teil greift die programm ein. Ausstellung die Wirkung der marxschen Ideen vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart auf, von ihrem Wirkungs-

101

Die Umschlagabbildungen zeigen die Karl-Marx-Büste von Karl-Jean Longuet und den Innenhof des Karl-Marx-Hauses in Trier, in dem die Büste im Mai 2016 auf- gestellt wurde (Fotografien: AdsD/Bernd Raschke). Für das Inhaltsverzeichnis wurde eine Abbildung aus dem AdsD verwendet.

Impressum Eine Publikation der Friedrich-Ebert-Stiftung Herausgegeben von Britta Marzi

Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung Godesberger Allee 149 53175 Bonn

Kostenloser Bezug beim Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung E-Mail: [email protected] Diese Publikation steht auch zum kosten- losen Download in der Digitalen Bibliothek unter http://www.fes.de/cgi-bin/gbv. cgi?id=14710&ty=pdf bereit.

Eine gewerbliche Nutzung der von der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegebenen Medien ist ohne schriftliche Zustimmung der Herausgeberin nicht gestattet.

© 2018 by Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn

Redaktion, Lektorat, Koordination: Britta Marzi

Bildrecherche und -rechte: Petra Giertz

Gestaltung und Satz: Werbestudio Zum weissen Roessl, Beelitz

Druck: bub Bonner Universitäts-Buchdruckerei

ISBN 978-3-96250-204-1

Karl Marx in der Kunst, in der Erinnerungskultur und im ö­ entlichen Raum – das ist nicht erst seit der Debatte um die Statue in Trier ein brisantes Thema.

Der Tagungsband dokumentiert das Symposium „Ein Bild von Karl Marx… entwerfen. Kunst_historische Perspektiven“, das im Mai 2016 im Karl-Marx-Haus stattfand. Anlass für das Symposium war die Enthüllung einer Büste des französischen Bildhauers und Marx-Urenkels Karl-Jean Longuet im Innenhof des Museums. Die Aufsätze thematisieren Geschichte und Politik im Werk Longuets, die Bildnisbüste als Medium des Nachruhms, politische Bildnisse der 1920er- bis 1950er-Jahre, Darstellungen von Karl Marx in der Bildhauerei der DDR, die chinesische Engels-Statue für Wuppertal, Marx als Erinnerungsort in Karlsbad und Prag sowie Marx im ö­ entlichen (Erinnerungs-)Raum. Mit Beiträgen von Anne Longuet Marx, Frank Matthias Kammel, Ursel Berger, Arie Hartog, Eberhard Illner, Karl Schawelka, Stanislav Holubec und Winfried Speitkamp.

ISBN 978-3-96250-204-1