Heimatwelt

Mit Beiträgen von Gemeindearchiv Geschichtsverein Weimar

Heft Nr. 55/2020

Herausgeber: Gemeinde Weimar ()

Redaktion: Michael Endter

Inhalt

Der Geschichtsverein Weimar feierte im September 2018 sein 20-jähriges Jubiläum von Otto Weimar ……………………………………………………………………………… 3

Weimarer Dörfer – ihre Geschichte und deren künftige Vermittlung von Siegfried Becker …………………………………………………………………………… 4

Die Montanregion Weimarer Land – geoarchäologische Ausblicke auf die Lahnberge mit dem bei Niederweimar von Mirko Runzheimer………………………………………………………………………….. 14

Leben und Alltag unserer Vorfahren von Richard Pfeffer .……………………………………………………………………………… 22

Die Glocken in unserer Kirchengemeinde von Otto Weimar ...... ……………………………………………………………………… 24

Einzug von Lehrer Christoph Wagner in Roth von Otto Weimar ...... …………………………………. 28

Das Trinkwasser in Wenkbach von Otto Weimar ……………………………………………………………………………….. 29

Lebenserinnerungen der Else Amsler von Otto Weimar ...... …………………………………………………………………………… 30

Kleine Mitteilungen

Zur Frage der Ersterwähnungen von Kehna und Niederweimar (S. Becker) …………………… 10

Rübsamen-Handel 1739 (S. Becker) …………………………………………………………. 11

Leiterhäuser (S. Becker) ...... …………………………………..... 11

Warum nennen wir die Kraniche „Schneegänse“? (S. Becker) ...... …………………………….. 20

Der Wachtelschlag (S. Becker) ...... 25

Bücherschau

Jahrbuch 2020 Landkreis - ...... …….….. 32

Der Geschichtsverein Weimar feierte im September 2018 sein 20-jähriges Bestehen

Ein Rückblick von Otto Weimar

Den Anstoß zur Gründungsversammlung des Ge- Weimar“. Wir konnten, dank Prof. Dr. Siegfried schichtsvereins gaben damals Bürgermeister Karl Becker, den Historiker Dr. Johannes König gewin- Krantz und verschiedene Bürger aus den Ortstei- nen, der die Entstehung und den Aufbau der Ge- len. Nach etlichen Gesprächen und Treffen wurde meinde Weimar von 1971 bis 1974 historisch und der Geschichtsverein am 16. September 1998 im lehrreich dargestellt hat. Zum 40-jährigen Jubiläum Bürgerhaus Wenkbach von neun Personen aus der der Gemeinde „Weimar (Lahn)“ am 1. Juli 2014 Gemeinde gegründet. Es sollte ein Geschichtsver- konnte die Chronik in einer Feierstunde der Öffent- ein für alle Ortsteile werden. Der Name sollte hei- lichkeit vorgestellt werden. ßen „Geschichtsverein Weimar.“ Sein besonderes Im September 2018 konnte der Geschichtsver- Anliegen ist, die allgemeine Heimatgeschichte zu ein in der alten Kirche in Niederweimar zu seinem erforschen, um sie so weit wie möglich für die 20-jährigen Jubiläum viele Bürger aus unserer Ge- Nachwelt zu erhalten. In unseren „Heimatwelt“- meinde begrüßen. Bürgermeister Peter Eidam Heften, die wir zusammen mit der Gemeinde her- dankte den Mitgliedern des Geschichtsvereins für ausgeben, wollen wir das Geschichtliche der Öf- ihre Arbeit in all den Jahren und wünschte für die fentlichkeit zugänglich machen. Die „Heimat- Zukunft alles Gute, auch, dass der Verein noch welt“-Hefte wurden 1977 von unseren Heimatfor- lange bestehen kann. Siegfried Becker hielt einen schern Herbert Kosog und Heinrich Ehlich ins Le- Vortrag über „Weimarer Dörfer, ihre Geschichte ben gerufen. Heinrich Ehlich war lange Jahre für und deren künftige Vermittlung“. Danach zeigte das Herbert-Kosog-Archiv und das Bild-Archiv Karl Krantz einen Film über „Weimar gestern und der Gemeinde zuständig. Er wurde im April 2007 heute“, den er für den Geschichtsverein zusam- verabschiedet. Sein Nachfolger Hans Schneider hat mengestellt hatte. das Archiv bis zu seinem Tod am 1. Mai 2017 ver- Unser Wunsch für die Zukunft wäre, dass junge waltet. Menschen mehr Interesse an der Geschichte unse- Die alte Schule in Niederwalgern wurde im rer Gemeinde zeigen würden. Unsere Dörfer, die Rahmen der Dorferneuerung renoviert und steht Landschaft, verändern sich so schnell – was heute dem Geschichtsverein für Treffen und Ausstellun- geschieht, ist morgen schon Geschichte. Dies alles gen zur Verfügung. In den 20 Jahren haben wir et- sollte für die Nachwelt festgehalten werden. Am liche Ausstellungen in der alten Schule in Nieder- Ende unserer Feier konnten wir mit unseren Gästen walgern der Öffentlichkeit vorgestellt. Eine inte- mit einem Glas Sekt anstoßen und es gab interes- ressante Ausstellung war „Alte Postkarten“ aus un- sante Gespräche. seren Ortsteilen, bei der wir ca. 100 alte Postkarten zeigen konnten. Besonderes Interesse hatten die Anmerkung der Redaktion: Otto Weimar, der Besucher an den Postkarten vom Waldschlösschen den Geschichtsverein Weimar seit dessen Grün- bei Argenstein, das 1971 beim Ausbau der B3 ab- dung als Vorsitzender leitete, ist am 2. Januar 2020 gerissen wurde. Auch einen Sonntag der offenen in Marburg verstorben. Wir stellen diesen Rück- Kirchen, am 17. September 2006, haben wir in der blick, den er anlässlich der Jubiläumsfeier auf 20 Gemeinde Weimar angeregt. Dies wurde von den Jahre Geschichtsverein Weimar richtete, als sein Kirchengemeinden umgesetzt und von den Ein- Vermächtnis für die weitere Arbeit unseres Vereins wohnern der Gemeinde und im Landkreis gut an- diesem Heft der „Heimatwelt“ voran. Statt eines genommen. Etliche Heimatkalender mit Bildern Nachrufs verweisen wir auf die Würdigung, die aus unseren Ortsteilen haben wir unseren Einwoh- ihm Hans Schneider zum zehnjährigen Jubiläum nern angeboten. Unser größtes Projekt, das wir an- des Geschichtsvereins 2008 im Heft 44 der „Hei- geregt haben, war die Geschichte der „Gemeinde matwelt“ gewidmet hat.

Weimarer Dörfer – ihre Geschichte und deren künftige Vermittlung

Vortrag zum Jubiläum des Geschichtsvereins Weimar (Lahn) am 14. September 2018 von Siegfried Becker

In der Geschichte der Dörfer unserer Gemeinde stücke von Mahl- und Schleifsteinen sowie Weimar (Lahn), die im Rahmen der hessischen Steinklingen (Sicheln) wurden geborgen. Die Gebietsreform 1974 gegründet wurde, spiegelt verzierten Scherben ermöglichen eine genaue sich gewissermaßen die hessische Geschichte Datierung in die zweite Hälfte der jüngsten im Kleinen wider. Auch wenn ich mich in die- Bandkeramik um 4950 v. Chr. (also vor fast sem Vortrag vor allem mit der Frage einer künf- 7000 Jahren!); sie ergänzen die Befunde aus tigen Vermittlung von Geschichte befassen Siedlungsstätten und weisen auf den Getreide- will, sollen doch zunächst die Potentiale aufge- bau (Sicheln) und die Getreideverarbeitung zeigt werden, die eine solche Geschichte im (Mahlsteine) hin. Der Befund zeigt aber auch Kleinen mit ihrem Blick aufs Nahe, aufs schein- Aktionsräume der Menschen über die nach- bar Vertraute, für die große Geschichte bietet, weisbaren Siedlungsspuren hinaus – hier sind für die Landesgeschichte wie für darüber hin- menschliche Artefakte nicht nur innerhalb der ausgreifende Aspekte der europäischen Ge- Hausgrundrisse und in deren Nähe greifbar, schichte. sondern auch abseits davon, und sie zeigen, dass Da ist zunächst die gesamte lange Spanne Landschaft nicht nur als Jagdrevier und zuneh- der Vor- und Frühgeschichte, die mit den aufse- mend als ackerbauliche Nutzfläche erschlossen henerregenden Funden in der Lahnaue im Ar- wurde, sondern die Menschen auch ihren Abfall chäologischen Freilichtmuseum Zeiteninsel ab- darin deponierten (und wir entdecken darin so- gebildet wird. 1994 entdeckte der Geograph fort eine wichtige Fragestellung auch an die Ralf Urz im Rahmen der Untersuchungen zu jüngste Geschichte der letzten 70 Jahre: warum seiner Dissertation zur Rekonstruktion vergan- nicht einmal der Abfallentsorgung in unseren gener Flußlandschaften Fundstellen aus der Dörfern nachgehen, den wilden Mülldeponien mittleren Steinzeit in der Lahnaue bei Nieder- und dem Prozess zunehmender staatlicher Re- weimar – ganz unspektakuläre Funde, und doch gelung und den sie begleitenden Protesten). bestätigen sie, dass bereits am Beginn des Ho- Nach dem imposanten Haus der Rössener lozän, also am Ende der letzten Eiszeit, Men- Kultur, das die Zeit um 4500 v. Chr. abbildet, schen durchs Lahntal zogen. Damit reichen die entstehen gegenwärtig weitere Gebäude aus der archäologisch nachgewiesenen menschlichen römischen Kaiserzeit. Keltische Siedlungsspu- Spuren bis in die Zeit um 9.000 v. Chr. zurück ren finden sich sehr zahlreich auf dem nahen – der Standort des Archäologischen Freilicht- Dünsberg, der mit seinem mächtigen und land- museums Zeiteninsel ist also gut gewählt, denn schaftsprägenden Kegel auch von Niederwei- 11.000 Jahre anthropogene Spuren und Besie- mar her gut zu sehen ist. Der Blick auf den delung in unserer Region, damit auch die Beein- Dünsberg zeigt uns, dass wir uns davor hüten flussung der Umwelt durch den Menschen, kön- müssen, eine Siedlungskontinuität im Lahntal nen darin vermittelt werden. anzunehmen. Zwar lassen sich jahrtausendelang Auch die Besiedlung des Lahntals lässt sich menschliche Siedlungsspuren nachweisen, die durch die archäologischen Grabungen sehr gut belegen, dass sich über nahezu 11.000 Jahre nachvollziehen und auf der „Zeiteninsel“ dar- Menschen hier aufgehalten haben, aber diese stellen. Dichtere Befunde aus der Jungsteinzeit Menschen kamen und gingen, Häuser wurden zeigen erste Siedlungsspuren. Auf einen unge- errichtet und verfielen wieder, Kulturen ent- wöhnlichen Befund aus der Zeit der Linear- standen und verschwanden wieder. bandkeramik haben jüngst die Archäologen Ob das Lahntal wirklich dauerhaft besiedelt Hans-Christoph Strien und Christa Meiborg war, wissen wir nicht. Außer den Überresten aufmerksam gemacht: im Grabungsbereich der dieser Kulturen, die wir aus der Erde bergen Kiesgrube Weimar wurde eine verfüllte Baum- können, sind uns keine Überlieferungen erhal- wurfgrube entdeckt – es könnte also eine frühe ten. Mit diesen archäologisch erschlossenen Müllgrube gewesen sein, in der die Menschen Spuren kann Vor- und Frühgeschichte bis ins der Jungsteinzeit ihren Abfall entsorgten. Reste Mittelalter hinein vermittelt werden. Dies wird von verzierten Gefäßen, Grobkeramik, Bruch- künftig auf der Zeiteninsel professionell ge-

schehen. Der Frage nach der künftigen Vermitt- Integration ist erfolgreich über die konsens- lung von Geschichte für die Epochen danach fähige Bewältigung aktueller und künftiger po- aber wird sich auch weiterhin der Geschichts- litischer Aufgaben, aber dies ist nicht alles. Für verein annehmen müssen, und dies ist, zumal die Herausbildung eines Kommunalbewusst- die Quellen reichlicher fließen, erst recht eine seins spielt immer auch der Rückblick auf die spannende und ergiebige Aufgabe. Geschichte eine Rolle, eine Vergewisserung des Seit dem frühen Mittelalter mit seinen Klos- Herkommens, die jedoch keineswegs nur eine tergründungen, die mit ihren Urkunden die ers- affirmative Überlieferung der Erinnerungen, ten Erwähnungen unserer Dörfer liefern, lässt der anekdotischen Unterhaltung sein und blei- sich eine wirkliche Siedlungskontinuität nach- ben darf, sondern sich immer auch kritisch mit vollziehen. Im späten 8. Jahrhundert nach der Vergangenheit auseinandersetzen muss, um Christus waren die Dörfer schon vorhanden, die aus der Geschichte zu lernen – eine Aufgabe, auch heute noch bestehen: Allna, Walgern und die uns gerade heute wieder bewusst wird, wo (das später als Gerichtsort auch für einige Geschichtsklitterung und affirmative Berufung unserer Dörfer bedeutsam wurde); ihre Namen auf vermeintliche Heimatwerte wieder bis in die sind in der Abschrift des Lorscher Codex ge- Parlamente von Bund und Ländern Einzug hal- nannt, des Urkundenbuches der Reichsabtei ten. Lorsch am Rhein. Aus Allna und Niederwal- Bürgermeister Karl Krantz hatte, als er mit gern sind uns auch die ersten Bewohner unserer großem politischen Gespür und Geschick da- Dörfer namentlich überliefert – Hildegund, eine ranging, aus selbständigen Dörfern eine neue Witwe aus Allna, mit ihrer Tochter Mechthild, politische Gemeinde zu formen, das große Hermann, Walter und Hartmann, aus Nieder- Glück, dass er jemanden hatte, der diese Auf- walgern Theoderich mit seinem Sohn Hermann, gabe des Rückblicks in die Hand nahm, aus den Guda, die Mutter, Irmentrud und Gertrud. Wir Lokalgeschichten der ehemals selbständigen finden sie in den Elisabethmirakeln, den Wun- Dörfer eine gemeinsame, vergleichende und in- derprotokollen vom Grab der heiligen Elisabeth tegrierende, aber doch auch die Eigenheiten der von Thüringen in Marburg. In der Geschichte Ortsteile wahrende und respektierende Ge- unserer Dörfer spiegelt sich also die Geschichte schichte zu erstellen: Herbert Kosog, der als des Mittelalters im heutigen hessischen Raum. Lehrer im Ruhestand nach Niederweimar gezo- Aber auch die Geschichte der frühen Neuzeit gen war, fand eine erfüllende Betätigung darin, mit der territorialen Zersplitterung der Land- das aus den Ortsteilen übernommene Archivgut grafschaft Hessen finden wir darin (in den drei zu ordnen und zu verzeichnen, die Geschichte, Dörfern des Schenkisch Eigen etwa) – und die das Gedächtnis der ehemals selbständigen Dör- Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts, die mit der fer in einem Gemeindearchiv zusammenzufü- Integration von Flüchtlingen nach 1945, aber gen. Und er beließ es nicht dabei, sondern be- auch mit der Gebietsreform ein Zusammen- gann, seine Aufzeichnungen aus dem Gemein- wachsen heterogener historischer Strukturen, dearchiv und aus dem Staatsarchiv mitzuteilen, unterschiedlicher Erinnerungen und Identitäten zunächst im Mitteilungsblatt der Gemeinde, seit erforderlich machte, eine Aufgabe, die sich in 1977 in regelmäßiger Folge dann in einer eige- der politischen Förderung eines Landesbe- nen Geschichtsbeilage, unserer Zeitschrift wusstseins dort und eines Kommunalbewusst- „Heimatwelt“, die noch heute erscheint. seins hier abzeichnete. Kosog starb 1983. Seine Leistungen in der Wie konnten diese Aufgaben geleistet wer- Ordnung und Betreuung des Gemeindearchivs den? Wie die Integration der Flüchtlinge, aber und der kontinuierlichen Veröffentlichung auch der verschiedenen Landesteile unter- sorgfältiger Quellenauswertung sind in der Be- schiedlicher territorialer und staatlicher Her- nennung des Gemeindearchivs nach ihm gewür- kunft im Bundesland Hessen nach 1945, musste digt worden. Sein langjähriger Mitstreiter und auch nach der hessischen Gebietsreform 1974 Illustrator der „Heimatwelt“, Heinrich Ehlich, für die in den neuen Großgemeinden zusam- hat noch etliche Jahre aus den hinterlassenen mengeschlossenen Orte ein kommunales Be- Aufzeichnungen Herbert Kosogs die „Heimat- wusstsein erst entwickelt und gefunden werden: welt“ gefüllt und damit ihr kontinuierliches Er- Verträge werden mit einem Federstrich unter- scheinen ermöglicht. Aber diese Quelle begann zeichnet, aber bis zusammenwächst, was zu- zu versiegen. Wie konnte nun die Lücke ge- sammengehören soll, vergeht oft viel Zeit. schlossen werden? Brauchte man überhaupt noch Geschichte, um für die Zukunft gerüstet zu

sein? Es ist wiederum Bgm. Karl Krantz zu ver- Alle bisher genannten Orte – Niederweimar, danken, dass er im breiten, mit gesellschaftli- Germershausen, Kehna, Oberweimar, Nessel- cher Differenzierung und wirtschaftlichen Kri- brunn, Weiershausen und Stedebach – haben sen wachsenden Spektrum kommunalpoliti- noch keine Ortschronik. Sie könnten also über- scher Aufgaben sehr wohl die Bedeutung einer legen, ob sie zu den in näherer oder weiterer Zu- gründlichen historischen Arbeit vor Ort gesehen kunft anstehenden Ortsjubiläen eine Chronik er- hat und die Anregung gab zur Gründung eines stellen wollen. Ich habe daher auch die „krum- Geschichtsvereins. men“ Jubiläumszahlen 875 und 775 Jahre ge- Dieser Verein, der heute sein 20-jähriges Be- nannt, weil sie – wie in Niederwalgern 2010 – stehen feiert, also 1998 gegründet wurde, hat Gelegenheit böten, eine solche Ortschronik zu seitdem die „Heimatwelt“ erarbeitet, die von erarbeiten. der Gemeinde herausgegeben wird. Sie ermög- Ortschroniken liegen dagegen bereits vor für licht damit eine gründliche und mit der Einstel- die Orte: Wolfshausen 1974 (damals von Pfr. lung aller Hefte auf der Homepage der Gemein- Friedrich Mohn erstellt und zur 700-Jahrfeier deverwaltung auch für alle interessierten Bürge- nachgereicht) – 2069 könnte Wolfshausen seine rinnen und Bürger einsehbare Dokumentation 800-Jahrfeier und somit 2019 seine 750-Jahr- der Geschichte unserer Weimarer Dörfer. Mit feier begehen. Die drei Dörfer im ehemaligen den Vorarbeiten in dieser kleinen, aber nun Gericht Schenkisch Eigen haben ihre Jubilä- schon seit über 40 Jahren kontinuierlich erschei- umsfeiern bereits begangen und mit Ortschroni- nenden lokalgeschichtlichen Zeitschrift wurde ken gekrönt: Roth 2002, Wenkbach 2002 und es auch ermöglicht, dass zu den Ortsjubiläums- Argenstein 2007. Allna hat 2007 (1200 Jahre) feiern einiger Dörfer fundierte Chroniken er- und Niederwalgern 2010 (775 Jahre) gefeiert; stellt werden konnten. Und dieser Fundus wird beide Orte haben Ortschroniken vorgelegt, die auch bleiben für die Zukunft. in der neuen Reihe „Historische Schriften der Anlässe, Jubiläen zu feiern – und sie zu nut- Gemeinde Weimar/Lahn“ erschienen sind. zen, um in die Geschichte unserer Dörfer zu- Diese neue Schriftenreihe wurde im Jahr rückzublicken – haben wir in den nächsten Jah- 2009 in Gemeindeverwaltung und Gemeinde- ren und Jahrzehnten genug; ob sie genutzt wer- vertretung der Gemeinde Weimar beraten und den, liegt an den Ortsteilen, ihren Ortsbeiräten, beschlossen. Wolfshausen, Roth, Wenkbach Bürgerinnen und Bürgern, die darüber entschei- und Argenstein hatten bereits eigene Chroniken den müssen, ob und wie sie Jubiläen der ersten zu ihren Ortsjubiläen vorgelegt, in denen die Erwähnungen ihrer Dörfer begehen wollen. Geschichte ihrer Dörfer dargestellt worden war Niederweimar hat zwar 2013 ein Jubiläum – daher wurde auch die Frage aufgeworfen: wa- 875-Jahre gefeiert, doch gibt das Historische rum noch eine eigene, von der Gemeinde prote- Ortslexikon eine erste sichere Nennung als Wi- gierte Schriftenreihe, wenn doch bereits vier mer inferior erst 1294 an, so dass 2019 eine selbstverantwortete Ortsteil-Chroniken vorla- 725-Jahrfeier, 2044 dann 750 Jahre gefeiert gen? Für die Antwort darauf muss ich etwas werden könnten. Germershausen, das ja als weiter ausholen. selbständiger adliger Hof erst 1928 nach Ober- Geschichte ist immer Konstruktion von Er- weimar eingemeindet wurde, kann 2024 auf 700 innerung – weil wir sie nie ganz, sondern nur in Jahre seiner ersten Erwähnung zurückblicken, kleinen Ausschnitten abbilden können, müssen Kehna hat 2016 bereits 875 Jahre gefeiert, doch wir auswählen, hervorheben, weglassen, inter- wäre nach dem Historischen Ortslexikon 2025 pretieren. Geschichtsschreibung steht daher im- eine 775-Jahrfeier, 2050 eine 800-Jahrfeier mer in aktuellen Kontexten – das, was uns heute möglich; wie bei Niederweimar scheint also das an der Geschichte wichtig erscheint, wird auf- Jahr der Ersterwähnung fraglich zu sein. Zu den geschrieben. Dass in den letzten Jahren und Ersterwähnungen der beiden Dörfer ist daher Jahrzehnten in Hessen so viele Ortsjubiläen ge- unten eine Kleine Mitteilung angefügt. Ober- feiert wurden (selbst wenn es einmal keine ge- weimar hat 2009 850 Jahre seit seiner ersten Er- raden, „runden“ Jubiläen waren wie die 775- wähnung gefeiert, 2034 wäre Gelegenheit zur Jahrfeier in Niederwalgern und die 675-Jahr- 875-Jahrfeier, zu der dann auch eine Chronik er- feier in Argenstein) und so viele Ortschroniken stellt werden könnte. Nesselbrunn kann 2033 geschrieben wurden, hat nicht nur mit den 675 Jahre feiern, Weiershausen 2035 750 Ersterwähnungen zu tun. Denn Jubiläumsfeiern Jahre, Stedebach 2060 seine 800-Jahrfeier, mit- können zwar in zeitlicher Nähe zueinander lie- hin 2035 775 Jahre. gen (wie Allna 2007 und Niederwalgern 2010),

doch zwischen den Ersterwähnungsurkunden, (im aktuellen Mitteilungsblatt ist der bebilderte auf die sich die Veranstaltungen berufen, kön- Bericht zur Feier des Landesentscheid-Gewinns nen Jahrhunderte liegen: Allna ist erstmals im „Unser Dorf hat Zukunft“ beredtes Beispiel da- Lorscher Codex 807 genannt und Niederwal- für). gern in den Mirakelprotokollen der Hl. Elisa- Es verwundert daher nicht, dass in den spä- beth 1235. Oder die Jubiläen beziehen sich auf ten siebziger und achtziger Jahren ein Begriff dieselben oder doch in ihrer Provenienz zusam- wieder neu diskutiert wurde, der längst als ver- menhängende Quellen wie die Ersterwähnun- staubt, belastet, abgelegt galt, und der schließ- gen der drei Dörfer Roth, Wenkbach und Ar- lich mit der Filmreihe von Edgar Reitz nicht nur genstein im Schenkisch Eigen, das einmal zur im intellektuellen Diskurs, sondern auch in ei- Vogtei der Reichsabtei Essen ge- ner breiten Öffentlichkeit wieder platziert wer- hörte. Es sind also zufällige Gründe, die zur den konnte: „Heimat“. Neu diskutiert wurde er, Häufung der Anlässe für Ortsjubiläen führen. weil die kritische Reflexion der deutschen Ge- Nicht zufällig ist, dass all diese ehemals schichte ihn dekonstruiert, ihn seiner Inan- selbständigen Dörfer in der hessischen Gebiets- spruchnahme für politische Indoktrination im reform 1974 zu größeren Gemeinden zusam- deutschen Nationalismus und Faschismus über- mengefasst wurden. Damit sind Grenzen, die führt, aber auch die Fluchtwelten der Unterhal- einmal Kirchturm, Dorf und Gemarkung umga- tungsfilme nach 1945 (den deutschen Heimat- ben, im politisch-administrativen Alltag weni- film) hinterfragt hatte. Und nun wurden in einer ger wichtig geworden – doch sie sind nicht ver- Gesellschaft, die sich modern, aufgeklärt, welt- schwunden. Das zeigen uns die vielen Grenz- offen gab, Region und Gemeinde wieder wich- gänge, die zu den Jubiläumsfeiern oder auch all- tig – und es musste das Verständnis dafür wach- jährlich in den Dörfern stattfinden (wie jetzt sen, dass das Bedürfnis nach Heimat als Ant- wieder in Wolfshausen), Grenzgänge, in denen wort auf Fremderfahrungen entsteht, auf Zerris- diese alten Gemarkungsgrenzen abgeschritten senheitsgefühle im Ineinandergreifen von All- werden, in denen also auch eine Identität der täglichkeit und Außeralltäglichkeit in einer sich Orte beschrieben wird, die an die Zeit vor der rasch modernisierenden Gesellschaft. Mit die- Gebietsreform erinnert. Wie die Grenzgänge zu ser neuen Wahrnehmung einer psychologischen den Ortsjubiläen sind auch die Ortschroniken Bedeutung von Heimat in gesellschafts- und Vergewisserungen einer eigenen kommunalen kulturwissenschaftlichen Diskursen setzte sich Geschichte, eine historische Legitimation ge- auch die Erkenntnis durch, dass es „die Heimat“ genwärtigen Zusammenlebens – eine Verge- nicht gibt, sondern Heimat immer eine Bezugs- genwärtigung der Vergangenheit ehemals selb- größe der individuellen Erinnerung ist, an der ständiger Gemeinden. wir Verlusterfahrungen messen – jene Nähe, die Das Schreiben lokaler Geschichte hat also erst aus den Erfahrungen der Ferne und der möglicherweise auch etwas mit der Gebietsre- Fremde gesucht und geschaffen wird. Ulrike form zu tun – es ist vielleicht eine späte Antwort Hass hat dies einmal schön formuliert in dem darauf, ein Widerhall, wie es vor längerer Zeit Titel „Die Heimat flieht, wir hinterher“ und da- die Rückkehr der großgeschriebenen Ortsna- mit das Gefühl der Ungeborgenheit angespro- men auf den Ortsschildern oder jüngst die chen, das nie erfüllt werden kann, solange eine Rückkehr der alten KFZ-Kennzeichen war. An- Sehnsucht nach Vertrautheit und Nähe bleibt dreas Bimmer hat bereits 1984 in einem Abriss und nicht durch tätige Aneignung gestillt wer- zu neuen Aufgaben volkskundlicher Regional- den kann. Darum konnte auch die Unzufrieden- forschung in Hessen nach der Gebietsreform heit über den Verlust kommunaler Eigenstän- aufmerksam gemacht auf die nach der Reform digkeit nie ganz nivelliert werden, denn die Er- oft gesteigerten Binnenaktivitäten in den Orts- fahrung einer Aufhebung von Grenzen der über- teilen in Form von Ortsteilfesten und Straßen- schaubaren Welt setzte sich fort in einer immer festen, in denen sich eine bewusste und offene stärker vernetzten Welt ökonomischer Struktu- Abgrenzung gegenüber der Hauptgemeinde ren, aber auch einer zunehmend individualisier- manifestierte. Vor allem Vereine wurden in den ten Gesellschaft, in der die regionalen und loka- Ortsteilen zu Trägern der Identitätsbildung und len Bezugsgrößen, die Heimatinszenierungen, -tradierung, und die Teilnahme an den überregi- wieder zur Kompensation dienen konnten. In onalen Wettbewerben „Unser Dorf soll schöner diese Heimatinszenierungen werden sich auch werden“ trug nicht selten Züge einer ostentati- künftig die Ortsjubiläen und Ortschroniken ein- ven Demonstration kommunalen Eigensinns fügen, sie sind Vergewisserungen eines lokalen

Horizonts, der noch immer in den Ortsteilen, in Dass „Heimat“ identitätsstiftend wirken den Dörfern und nicht in der Großgemeinde be- kann und soll, hat damals durchaus im Interesse schrieben wird. der Großgemeinde vorausschauend Herbert Ko- Diese notwendige kritische Perspektive auf sog reflektiert, als er der „Heimatwelt“ ihren Ti- das Heimatbuch soll den Wert der Ortschroni- tel gab. Wenn auch in antiquierter grafischer ken keineswegs schmälern. Sie ermöglichen, Gestaltung, war damit ein Fundus geschaffen, gerade auch in der Kooperation zwischen wis- aus dem später die entstehenden Ortschroniken senschaftlicher, insbesondere landesgeschicht- wieder schöpfen konnten – die Heimatinszenie- licher und volkskundlicher Forschung und den rungen profitieren also von diesem kleinen Pro- engagierten Autorinnen und Autoren vor Ort, jekt der Großgemeinde in nicht geringem Maße. eine enge Verknüpfung von ortskundigen und Warum soll diese Rezeption nicht wieder rück- methodisch-sachkundigen Kompetenzen, und gebunden werden durch Integration in Projekte sie erlauben zudem der Forschung, in der Aus- der Großgemeinde? wertung der dichten Quellenüberlieferung auf Wenn das Schreiben lokaler Geschichte, der untersten administrativen Ebene wissen- wenn die zumeist umfangreichen Ortschroniken schaftliche Theorien zu überprüfen. eine indirekte Antwort auf die Gebietsreform, Heimatbücher aus der Feder eines einzelnen auf die Gründung größerer kommunaler Einhei- Autors, wie sie in den fünfziger und sechziger ten sind und wenigstens in Buchform eine Iden- Jahren noch häufig waren und meist von Leh- tität der kleineren Ortsteile beschrieben und be- rern oder Pfarrern im Ruhestand geschrieben stätigt werden soll – ist es dann nicht sinnvoll, wurden, sind in den letzten Jahrzehnten selten diese Ortschroniken einzubeziehen in eine ge- geworden – heute geht die Initiative zur Erar- meinsame Schriftenreihe, wie es viele Städte beitung von Ortschroniken meist von mehreren bereits erfolgreich umgesetzt haben? Zeigt nicht Personen aus, meist gebündelt über die politi- die Gemeinde mit dem gemeinsamen Dach ei- schen Vertreterinnen und Vertreter der Orts- ner Schriftenreihe, dass ihr die Geschichts- teile. Dahinter steht in der Regel der Wunsch, pflege in den Ortsteilen wichtig ist, dass sie die ein gehaltvolles und repräsentatives Buch zu er- Besonderheiten lokaler Geschichte und Gesell- stellen, das gemeinsam erarbeitet werden, damit schaftsstrukturen respektiert, dass sie statt hege- auch integrativ wirken und die Identifikation monialer Attitüden (wie es die frühen Ortsschil- mit dem Ort fördern soll. Auch damit setzt das der nach der Gebietsreform mit den Namen der Heimatbuch Strategien der lokalen Identitäts- Großgemeinden ausdrückten) auf das Gleichge- bildung nach 1974 fort. wicht der großen und kleinen, der zentralen und So hat Gisela Riescher 1988 in ihrer politik- peripheren Ortsteile setzt? wissenschaftlichen Untersuchung zu den Reak- Und ermöglicht diese Reihe nicht zugleich, tionen auf die Kommunalreform in Bayern auf- die übergreifenden (und die notwendigen) The- zeigen können, dass die zahlreichen Protestfor- men aufzunehmen: sollten nicht die großen men, die oft mit radikaler Hartnäckigkeit ge- Themen der Zeitgeschichte weiter aufgearbeitet führte Verteidigung der lokalen politischen Ge- werden, wie es mit dem Band zur Gebietsreform meinwesen, keineswegs mit demokratischen bereits geschehen ist? Es wäre interessant, den Defiziten der Reform erklärt und demokratie- Auswirkungen gesellschaftlicher Krisen und theoretischen Folgeproblemen zugewiesen wer- Umbrüche in den sozialstrukturell so unter- den konnten, wie es in der politikwissenschaft- schiedlichen Dörfern nachzugehen, den Aus- lichen Literatur bis dahin versucht wurde. Sie wirkungen der Massenverelendung im Vormärz konstatierte darin die große Bedeutung psychi- vor der Revolution 1848, den Auswirkungen scher Ortsbezogenheit und den kommunalen der Wirtschaftskrise in der Weimarer Republik Raum als Ort sozialer wie individueller Identi- und ihrem Niederschlag in den Wahlergebnis- tätsfindung, der von den politischen Instanzen sen zur Zeit der Präsidialkabinette, den Ent- mit Umsicht und Weitsicht berücksichtigt wer- scheidungen, Fanatisierungen und Verweige- den müsse: Kommunalpolitik bedarf daher ge- rungen im Nationalsozialismus; die Aktenüber- rade in den seit der Gebietsreform größer ge- lieferung aus der NS-Zeit, insbesondere die für wordenen, aber auch fraktionierteren Gemein- die Lokalgeschichte gehaltvollen Spruchkam- den einer ständigen Reflexion der Einbindung, merakten, werden jetzt nach und nach zugäng- der Wechselbeziehung von Inklusion und Ex- lich. Ist es nicht an der Zeit, das Erinnern an den klusion, um ortsteilspezifisches Denken und Holocaust nach 1945 auch in den Dörfern der Handeln integrieren zu können. Gemeinde Weimar gründlich zu recherchieren

und zu dokumentieren? Es wäre auch wichtig, Das heißt nicht, dass sie nicht noch verbes- den Spuren der vielen, vielen Zugewanderten serbar wäre, um zukunftsfähig zu werden. Was nachzugehen, die über die Jahrhunderte hin in meine ich damit? Mittlerweile sind, ohne die unsere Dörfer kamen, als Händler, Handwerker, Sonderhefte mitzuzählen, 54 Hefte der „Hei- Glaubensflüchtlinge, als Ost- und Zwangsarbei- matwelt“ erschienen, das ist eine stattliche Zahl, ter. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und diese Hefte sind, mal mehr, mal weniger, musste in den Dörfern der heutigen Gemeinde auch recht gehaltvoll, sie bieten Material für Weimar wie in fast allen hessischen Dörfern manchen ersten Einstieg in die Geschichte eines eine große Zahl an Menschen integriert werden, Ortes, und auch für manche weitergehende Re- was auch zu einer konfessionellen Differenzie- cherche. Und sie sind Ausgangsbasis für die ein rung beitrug – die Integration von Flüchtlingen oder andere Ortschronik, die hoffentlich noch und Vertriebenen, aber auch die Konflikte, Not- erarbeitet wird und die kleine Schriftenreihe situationen und Überlebensstrategien sollten fortsetzt. Nehmen wir einmal Weiershausen – einmal aufgeschrieben werden. Nicht erst mit 2035 stünde die 750-Jahrfeier an; zu einer Chro- der Zuwanderung seit der EU-Osterweiterung nik finden sich schon hier und da Beiträge und erfuhren viele Dörfer eine erhebliche Auswei- Hinweise in der „Heimatwelt“, die jedoch nicht tung ihrer Siedlungsstruktur. All den vielen alle über das Gesamtinhaltsverzeichnis zu fin- Menschen, die in den letzten Jahren und Jahr- den sind: Herbert Kosogs Bericht zur Kataster- zehnten hierher gekommen sind und sich hier vorbeschreibung im Lager-, Stück und Steuer- niedergelassen haben, können und sollten wir buch von Weiershausen finden wir zwar darin, auch die Möglichkeit geben, sich mit ihren aber nicht den Abgeordneten der kurhessischen Wohnorten und ihrer Geschichte zu beschäfti- Ständeversammlung Johann Peter Weber, auf gen. den ich in einer Bücherschau aufmerksam ge- Damit komme ich zu Überlegungen für die macht habe. Wir müssen also den Gesamtfun- weitere Erarbeitung und die künftige Vermitt- dus der „Heimatwelt“ über Suchbegriffe recher- lung der Lokalgeschichte. Wenn beides erfolg- chierbar machen – ich muss „Weiershausen“ reich sein soll, wenn wir jüngeren Generationen eingeben und dann zu den entsprechenden Arti- Zugänge zur Geschichte erleichtern und ermög- keln hingeleitet werden können. Dies wäre für lichen wollen, dann müssen wir ihre Vermitt- eine Außenwirkung des Geschichtsvereins – lung den neuen Rezeptionsgewohnheiten an- und auch der Gemeinde – sinnvoll. passen. Junge Leute lesen sich – leider! – nicht Was aber kann und muss für die Arbeit im mehr durch dicke Bücher. Sie sind geübt darin Geschichtsverein selbst getan werden? Es wird (konditioniert, könnte man sagen), auf Suchan- immer wieder mal die Frage gestellt: wer macht fragen prompt und knapp informiert zu werden. mit, wie können wir Menschen begeistern für Die Generation Google tippt Begriffe ein und Fragen an die Geschichte? Und wie können wir erwartet Antwort und Auskunft, und diese Ant- Bürgerinnen und Bürger aus jenen Ortsteilen worten und Auskünfte müssen wir bereitstellen. einbinden, aus denen sich bisher keine Mitglie- Ich will hier nicht problematisieren, dass damit der im Verein engagieren, Ortsteile, die also ge- auch Nachteile verbunden sind, dass Fähigkei- wissermaßen nicht vertreten, nicht abgebildet ten zum Kontextualisieren, zum Hinterfragen sind. und Einordnen verloren gehen können, und ich Es gibt dafür eine seit uralter Zeit (und die will die neuen Rezeptionsgewohnheiten in au- Sprache verrät dies bereits) – eine seit uralter diovisuellen Medien auch keineswegs pessimis- Zeit bewährte Weisheit: Wenn der Berg nicht tisch sehen, zumal sie sich eh nicht ändern las- zum Propheten kommt, dann muss der Prophet sen. Wir müssen, wenn wir weiter Geschichte eben zum Berg gehen. Warum nicht einmal vermitteln, dafür Interesse wecken wollen, die Vorträge anbieten – in Niederweimar, aber wa- Geschichte such- und findbar aufbereiten. Die rum nicht auch einmal in Weiershausen oder Anfänge dazu sind gemacht. Die „Heimatwelt“, Nesselbrunn? In Absprache mit Ortsvorstehern so antiquiert ihre Titelgestaltung wirken mag, und Ortsbeiräten könnten auch einmal Dorfspa- ist seit vielen Jahren online abrufbar, sie ist ziergänge angeboten werden, ein Format, bei findbar (sogar über das Bibliotheks-Recherche- dem ich vielerorts – etwa in Kehna, in Seelbach, system OPAC der Marburger Universitätsbibli- jüngst in Altenvers – die Erfahrung gemacht othek), und sie ist damit moderner als manche habe, dass viele Menschen dankbar sind, wenn wissenschaftliche Zeitschrift, die nur in der sie auf Spuren der Geschichte in ihren Orten, an Printversion erscheint. ihren Häusern und Höfen aufmerksam gemacht

werden und sich Zusammenhänge erschließen rungen aus 775 Jahren. (Historische Schriften der Ge- können. meinde Weimar/Lahn 1) Weimar/Lahn 2010. – Johannes Koenig: Die Entstehung der Gemeinde Weimar (1971- Der Geschichtsverein ist nun 20 Jahre alt ge- 1974). (Historische Schriften der Gemeinde Weimar 3) worden. Das ist ein jugendliches Alter – das Weimar (Lahn) 2014; aus meiner Einführung in diesen beste Alter überhaupt! Wer möchte nicht gerne Band sind Teile des vorliegenden Vortrags übernommen. nochmal 20 sein! Und die Aufgaben sind längst - Andreas Bimmer: Neue Aufgaben der volkskundlichen noch nicht erschöpft, nein, sie wachsen immer Regionalforschung in Hessen im Anschluß an Raumpla- nung und Gebietsreform. In: Jahrbuch für Volkskunde und weiter an! Packen wir‘s also in jugendlicher Fri- Kulturgeschichte 30 (Neue Folge 15), 1987 (Referat, ge- sche an und arbeiten weiter an der und für die halten auf dem Symposium „Probleme regionaler Volks- Geschichte unserer Weimarer Dörfer! kultur“, Schwerin 1984). - Wilfried von Bredow, Hans- Friedrich Foltin: Zwiespältige Zufluchten. Zur Renais- sance des Heimatgefühls. Berlin u.a. 1981. - Ulrike Hass: Literaturnachweis (in Reihenfolge der Erwähnung): Ralf Die Heimat flieht, wir hinterher. In: Niemandsland. Zeit- Urz: Prähistorische Jäger, Sammler und Ackerbauern im schrift zwischen den Kulturen 1987, S. 2-12. - Wolfgang Lahntal. Naturwissenschaftliche Forschung auf der Groß- Schmidbauer: Das Leiden an der Ungeborgenheit und das grabung von Niederweimar. In: Denkmalpflege & Kultur- Bedürfnis nach Illusionen. In: Österreichische Zeitschrift geschichte H. 3, 2008, S. 16-20. - Werner Schön: Mesoli- für Volkskunde L/99, 1996, S. 305-320. - Hermann Bau- thische Fundstellen im Lahntal bei Niederweimar. In: hes- singer: Heimat und Globalisierung. In: Österreichische sen-Archäologie 2015, Jahrbuch für Archäologie und Pa- Zeitschrift für Volkskunde LV/104, 2001, S. 121-135. - läontologie in Hessen, S. 29-32. - Regine Müller, Claudia Heinz Schilling, Beatrice Ploch (Hrsg.): Region. Heimaten Nickel: Der Dünsberg im Gleiberger Land. In: Denkmal- der individualisierten Gesellschaft. (Kulturanthropologie- pflege & Kulturgeschichte 2016, H. 3, S. 20-25. - Hans- Notizen 50) am Main 1995. - Christel Köhle-He- Christoph Strien, Christa Meiborg: Ein ungewöhnlicher zinger: Heimatinszenierungen. Beobachtungen zur ländli- Befund der Linearbandkeramik aus dem Erweiterungsa- chen Geschichtskultur in der Gegenwart. In: Andreas real 2012 der Kiesgrube Weimar (Lahn). In: hessen-Ar- Dornheim, Sylvia Greiffenhagen (Hrsg.): Identität und po- chäologie 2014, Jahrbuch für Archäologie und Paläontolo- litische Kultur. Stuttgart 2003, S. 39-46. - Mathias Beer gie in Hessen, S. 32-35. – Friedrich Mohn: Wolfshausen. (Hrsg.): Das Heimatbuch. Geschichte, Methodik, Wir- Unser Heimatdorf in Vergangenheit und Gegenwart. Wei- kung. Göttingen 2010. - Georg Fülberth: Ortschroniken mar (Lahn)-Wolfshausen 1974. - 700 Jahre Roth. Dorfge- und forschendes Lernen. In: Siegfried Becker (Hrsg.): Pro- schichte in Texten und Bildern 1302-2002. Weimar jektieren und Studieren. Berichte aus Forschung und Pro- (Lahn)-Roth 2002. - Wenkbach. Geschichte und Geschich- jektstudium. (Hessische Blätter für Volks- und Kulturfor- ten 1302-2002. Weimar (Lahn)-Wenkbach 2002. - Argen- schung 40) Marburg 2006, S. 101-111. - Gisela Riescher: stein an der Lahn, Argorstene oder Argozstene, Ortsteil der Gemeinde als Heimat. Die politisch-anthropologische Di- Gemeinde Weimar (Lahn) 1332-2007. Weimar (Lahn)-Ar- mension lokaler Politik. (tuduv-Studien, Reihe Politikwis- genstein 2007. - Von Essen nach Hessen. 850 Jahre Fron- senschaften 21) 1988. - Konrad Köstlin: „Heimat“ als hausen 1159-2009. Fronhausen/Lahn 2009. - Die Zeit in Identitätsfabrik. In: Österreichische Zeitschrift für Volks- Allna 807-2010. Beiträge zur Ortsgeschichte. (Historische kunde L/99, 1996, S. 321-338. Schriften der Gemeinde Weimar/Lahn 2) Weimar/Lahn 2010. – Niederwalgern 1235-2010. Ereignisse und Erinne-

Kleine Mitteilungen

Zur Frage der Ersterwähnungen von Kehna und Nie- Probleme und Chancen. In: Hessische Heimat 45, 1995, S. derweimar. Im vorstehend abgedruckten Vortrag habe ich 123-128). Ob diese für die frühen Erwähnungen von Nie- bereits angesprochen, dass es in der Frage der frühesten derweimar und Kehna erteilt werden könnte, ist fraglich. Nennungen der Weimarer Ortsteile Kehna und Niederwei- Schauen wir uns einmal an, worauf sich diese frühen mar Unsicherheit gibt. Niederweimar hat selbstbewusst im Daten beziehen. Heinrich Diefenbach (Der Kreis Marburg, Jahr 2013 eine 875-Jahrfeier begangen, Kehna 2016 eben- seine Entwicklung aus Gerichten, Herrschaften und Äm- falls eine 875-Jahrfeier, obwohl das Historische Ortslexi- tern bis ins 20. Jahrhundert. Marburg 1943) hat die Ur- kon (HOL) für Niederweimar die erste sichere Nennung kunde von 1138/39 in den Kontext einer möglichen Aus- als Wimer inferior 1294 angibt und für Kehna 1250. Wenn weitung des gisonischen Erbes durch die Landgrafen von wir ins Ortslexikon schauen, sind für Niederweimar tat- Thüringen gestellt, denn im Gefolge des Landgrafen Lud- sächlich eine Erwähnung de Wimere 1138/39 nach dem wig wird darin neben Ludwig von Cappel und Ludwig von Urkundenbuch Siegburg und weitere Nennungen als Marburg auch Thammo de Wimere genannt, also ein Adli- Wymare 1280 und Wimere 1291 angegeben. Ganz korrekt ger, der sich nach dem Ort Weimar nannte. Diefenbach sah aber werden diese Angaben eingeschränkt („sofern nicht dafür ausschließlich Niederweimar wegen des späteren auf Ober-W. zu beziehen“; „vgl. auch Ober-W.“). landgräflichen Besitzes dieses Dorfes und der Analogie zu Für eine offizielle Jubiläumsfeier, für die auch eine den beiden anderen Orten in Frage kommen; er erwog zu- Freiherr-vom-Stein-Plakette oder -Urkunde des Landes dem einen Zusammenhang mit den späteren nassauischen Hessen verliehen werden könnte, muss zweifelsfrei fest- Rechten, die auf eine Belehnung durch den Landgrafen zu- stehen, dass es sich tatsächlich um diesen Ort handelt; dazu rückgehen mochten. Diese Annahme aufgrund des Gefolg- bedarf es einer Stellungnahme des Hessischen Staatsar- schaftsverhältnisses (die er ja aus später erworbenen land- chivs (vgl. Wilhelm A. Eckhardt: Kommunale Jubiläen. gräflichen Rechten zurückprojizierte) muss hypothetisch

bleiben. Ob sich Thammo de Wimere auf Oberweimar Catharina Preiß geb. Caletsch kam aus Rötgen, also aus (dem zweifellos älteren Ort) oder Niederweimar beziehen Roth (im Dialekt: Reetche); sie hatte am 17. November lässt (und damit die Urkunde von 1138/39 eindeutig zuge- 1729 Caspar Preiß in Roth geheiratet. Der Säugling starb schrieben werden kann), ließe sich allenfalls durch ein me- bereits wenige Wochen nach der Geburt am 15. August in diävistisches Gutachten des Staatsarchivs klären. Auch die Roth und wurde zwei Tage darauf begraben; er sei zu Ebs- Ausstattung der Dynasten von Eppstein durch den Grafen dorf, wo die Mutter rübensaamen zu verkaufen war hinge- Rupert von Nassau mit Eigenleuten in villam Wymere et gangen, gebohren und getauft worden (KB Fronhausen investituram ecclesiae et decimam quandam in Wimere 1706-1765, Sterberegister). Catharina Preiß starb am 16. zwischen 1150 und 1191 hat Diefenbach selbst hinsicht- Februar 1746 im 42. Lebensjahr, ihr Mann 1759 im Alter lich der Zuordnung zu Ober- oder Niederweimar als unsi- von 62 Jahren (ebd.). cher eingeräumt, auch wenn Niederweimar wahrscheinli- Diese Einträge lassen uns die Not der ärmeren Einwoh- cher sei (S. 107f). Im kirchlichen Status von Niederweimar ner Roths ahnen, die hohe Sterblichkeit der Kinder und den als Kapelle sah er keinen Hinderungsgrund der Deutung, mühsamen Erwerb des Lebensunterhalts. Und sie zeigen da sich bei Classen zahlreiche Beispiele für Patronate von zugleich Strategien des Überlebens, die zu einer wenn Kapellen fänden (doch woraus leitete er die Vermutung, auch kleinräumigen Mobilität auf dem Land beitrugen: dass Niederweimar schon eine Kapelle hatte, ab?). All Viele Menschen waren unterwegs, und wenn auch die diese älteren Urkunden sind also m.E. nicht eindeutig auf Strecken für uns heute Nahräume bedeuten, so müssen wir Niederweimar zu beziehen. Allerdings gab Diefenbach bedenken, dass die Wege damals fußläufig bewältigt wer- eine Erwähnung in inferiori Wimere 1268 nach einem Be- den mussten - in diesem Fall von einer Hochschwangeren, leg in der Sammlung Gustav Schenk zu Schweinsberg im die sich erhoffte, im „Grund“, wo die vermögenderen Bau- Marburger Staatsarchiv an (S. 208 Anm. 236), also eine ern saßen, ein paar Heller zu verdienen. Ersichtlich ist, gegenüber 1294 (im HOL) frühere Nennung, die für eine dass der Pfarrer in Fronhausen über Geburt und Taufe des Bestätigung der Ersterwähnung noch herangezogen und Kindes - und über den Grund der Anwesenheit der Mutter verifiziert werden müsste. in Ebsdorf - informiert war, wohl mittels eines Tauf- Kehna berief sich für seine 875-Jahrfeier 2016 auf scheins, in dem die vollzogene Taufe vom Pfarrer in Ebs- „eine Urkunde der Gleiberger Grafen um 1140“; auch hier dorf bestätigt worden war. liegt die Angabe bei Diefenbach (S. 201) zugrunde, der die Warum konnte Catharina Preiß hoffen, im Ebsdorfer Belehnung der Dynasten von Eppstein durch den Grafen Grund mit Rübsamen ein wenig Geld zu verdienen? Rüb- Otto von Gleiberg mit einem Hof zu Kehna „vor der Mitte sen (Brassica rapa) ist eine früh in Kultur genommene des 12. Jahrhunderts“ erwähnte (S. 107f). Hier liegt die Wildform des Rapses, aus der sowohl die Speiserübe als Problematik etwas anders. Das HOL gibt eine Ersterwäh- auch der Öl-Rübsen entstanden; bei dem hier erwähnten nung von Kehna 1250 nach dem von Arthur Wyss edierten Rübsamen dürfte es sich um diesen Öl-Rübsen gehandelt Urkundenbuch der Deutschordens-Ballei Hessen (Bd. 1, haben, aus dem Rüböl gewonnen wurde, das sich jedoch Nr. 101) mit de Kene an, also auch hier ein Adliger, der wegen der darin enthaltenen Bitterstoffe weniger für die sich nach dem Ort nannte. Diese Urkunde lässt sich ein- Küche als vielmehr für Öllampen eignete. Dieses Rüböl deutig datieren, während die von Diefenbach seiner An- ergab jedoch wie der ebenfalls als Lichtquelle verwendete gabe „um 1140“ zugrundegelegte Urkunde nicht eindeutig Kienspan eine rußende Flamme, die neben den kleinen, datiert ist (im Text datierte er sie ja noch vorsichtiger: „vor wenig lichtdurchlässigen Fenstern mit Butzenscheiben das der Mitte des 12. Jahrhunderts“). Da sich hier nicht einmal im 18. Jahrhundert übliche geschnitzte Möbel erklärt, des- das spätest mögliche Jahr zur Datierung der Urkunde si- sen stark reliefierte Oberflächen auch noch wirken konn- cher angeben lässt, kann sie für eine Bestätigung eines ten, wenn sich eine dickere Rußschicht darauf abgelagert Ortsjubiläums (875 Jahre) nicht herangezogen werden. hatte. Intarsienmöbel mit glatten Oberflächen und Orna- Feiern lässt sich freilich trotzdem. Auch wenn Nieder- menten, die sich aus der Farbigkeit verschiedener Holzar- weimar schon 2013 und Kehna 2016 ihre 875-Jahrfeiern ten ergaben, kamen daher erst im 19. Jahrhundert in den begangen haben, können sie 2044 (Niederweimar 750 bäuerlichen Haushalten auf. Jahre) und 2050 (Kehna 800 Jahre) ja weitere Jubiläums- S. Becker feiern begehen, dann auch als offizielle Feiern mit Urkun- den des Landes Hessen. S. Becker Leiterhäuser. Vorläufer unserer heutigen Feuerwehr-Ge- rätehäuser waren die Spritzenhäuser, in denen die ge- spanngezogenen Feuerspritzen aufbewahrt wurden; zu Rübsamen-Handel 1739. Eine Einkommensmöglichkeit dem alten Spritzenhaus unter der Kirche in Niederwalgern, der kleinen Leute, die in der frühen Neuzeit zur Versor- das für die 1857 angeschaffte Feuerspritze erbaut wurde, gung der Landbevölkerung mit Dingen des täglichen Ge- vgl. den Beitrag in: Niederwalgern 1235-2010. Ereignisse brauchs beitrug, war der Wanderhandel, Hausier-, Klein- und Erinnerungen aus 775 Jahren. Weimar/Lahn 2010, S. oder auch Nothandel genannt. Dass in unseren Dörfern 747f. Auf dem Foto dieses Spritzenhauses ist rechts neben auch Rübsen oder Rübsamen so gehandelt wurde, zeigt ein dem Tor für die Feuerspritze das integrierte Leiterhaus zu Eintrag im Kirchenbuch Ebsdorf aus dem Jahr 1739: Don- erkennen - und wir haben darin wiederum den Vorläufer nerstag, den 9. Jul[ii] abends zwischen 5 - 6 uhr ist Catha- der Spritzenhäuser: Leiterhäuser waren Gemeindebauten, rina, Caspar Preißen frau von Rötgen, welche mit die in fast allen hessischen Dörfern standen (vgl. Alfred rübsaamen hausiren gangen, zu Ebsdorf mit einem jungen Höck: Leiterhäuser im Oberhessischen. In: Burgwaldbote sohn niederkommen, welcher den 11. hujus [desselben 28, 1994, H. 16, S. 6-7; Rolf Reutter: Verschwundene Bau- Monats] getauft worden, und Johann Christian genant ten - Leiterhäuser in Hessen. In: Denkmalpflege in Hessen worden, Gevattern waren Johann Christian, Meister Peter 1993, H. 1, S. 26-29; ders.: Ein Leiterhaus aus Waldsolms- Seyberts ehelicher sohn aus der Schinbächer-mühl Kroeffelbach. In: Hessenpark 12. Jg., 1987, H. 1, S. 21). [Schönbacher Mühle] und Anna Barbara H[errn] Henrich Denn die in Auszügen auch in die Grebenordnung von Rühlen, gerichtsschöpfen eheleibl. tochter (KB Ebsdorf, 1739 übernommene Feuerordnung der Landgrafschaft Taufbuch 1692-1758). Hessen- bestimmte, dass der „Vorraht von sämtli-

cher in der Gemeinde vorhandener Feuer-Gerähtschafft Ortslage errichtet worden, oft neben der Kirche wie in Ro- [...] bey denen jährlichen Land-Gerichten specificiret denhausen oder an der Dorfstraße in der Nähe der Kirche übergeben werden“ müsse, dazu gehörten vor allem „die wie in Lohra, auch direkt mit Schleppdach an die Kirche Sprützen / Haken / lederne Eymer und Leitern“. All diese angebaut wie in Mornshausen, wo unter diesem Schutz die Gerätschaften seien „an solchen Orten zu bewahren / wo bauzeitliche rot-weiße Kaseinfarben-Bemalung der roma- sie durch den Regen nicht verderben und bey Feuers-Ge- nischen Südpforte erhalten blieb (Karl Rumpf: Vom Bau fahr leicht herbey geholet werden können“ (Verordnung des Galerie-Ganges 1625-26 am Marburger Schloß und Des Allergnädigsten / Großmächtigsten Fürsten und Herrn von der einstigen Farbigkeit aller Architektur. In: Zeit- / Hrn. Friedrichs, Von Gottes Gnaden der Schweden / Go- schrift des Vereins für hessische Geschichte und Landes- then und Wenden Königs [...] Wornach sich Die Greben / kunde 77/78, 1966/67, S. 11-32, hier S. 29). Auch in Allna Vorstehere / Heimbürgere [...] in ihrem Dienst zu betragen erinnert das langgestreckte ehemalige Spritzenhaus neben / und wie es mit denen Dorffs-Rechnungen in Zukunfft zu der Kirche noch an diese Aufgabe (vgl. Die Zeit in Allna halten. Cassel 1739, S. 25; Nachdruck, hrsg. von Dieter 807-2010. Beiträge zur Ortsgeschichte. Weimar/Lahn Carl: Die hessische Grebenordnung von 1739. Vellmar 2010, S. 316f). 2004, S. 9). Leiterhäuser waren daher meist zentral in der

Niederwalgern, um 1910. Kirche und Spritzenhaus vom Dachfenster des alten Pfarrhauses aus gesehen; anstelle des 1903 abgebrannten Wohnhauses von Adam Grebe (der dann ein neues Haus am Friedhof baute – Oadams) ist bereits die Scheuer von Deutsche mit der hohen Brandmauer an Giebel und Rückwand errichtet worden (Sammlung Otto Dettmering †)

Solche Leiterhäuser zur Aufbewahrung funktionstüchtiger werden konnte. Diese aus hölzernen Stangen mit einge- Feuerleitern waren notwendig und wurden in der Regel zapften Sprossen aus Eichenholz gefertigten Leitern muss- auch in professioneller Zimmermannsarbeit erstellt; nur zu ten trocken aufbewahrt, sorgfältig gewartet und überprüft oft kam es in den Dörfern mit ihren bis weit ins 19. Jahr- werden, um Folgen unsachgemäßer Lagerung, morscher hundert hinein strohgedeckten Wohn- und Wirtschaftsge- oder wurmstichiger Sprossen und Holme zu vermeiden. bäuden zu Brandkatastrophen, bei denen zahlreiche Häu- Dass auch junge, bewegliche Menschen beim Einsatz ser vernichtet wurden: in Rodenhausen brannten 1723 im Brandfall auf diesen langen, schwankenden Leitern ge- etwa 30 Gebäude nieder, in Mölln 1834 mehrere Hofrei- fährdet waren, macht ein Eintrag im Kirchenbuch Ebsdorf ten, Anlass für die Kreisverwaltung, die Strohdächer zu vom Oktober 1718 deutlich: den 27. starb Conradt Müller verbieten, was freilich nur bedingt gelang. Leitern waren zu Unterhausen [Dreihausen-Unterhausen] so vorigen eminent wichtig, um im Brandfall Menschenleben zu ret- freitag in der feuerßbrunst zu Londorff darin über 30 bau ten oder wertvolles Inventar aus den Obergeschossen zu abgebrandt von Einer leiter die zerbrochen gefallen und bergen, vor allem aber, um das Dachstroh der angrenzen- sich Elendiglich zerquetschet und wurde d. 28. begraben den Gebäude mit nassen Tüchern abzudecken, es notfalls seines alters 29 jahr (KB Ebsdorf 1692-1758, Sterberegis- aber auch (mit den in der Grebenordnung erwähnten Ha- ter). ken) herunterzureißen, womit dem Feuer Nahrung entzo- gen und einem Weitertragen durch Funkenflug vorgebeugt

Lohra, vor 1900. Leiterhaus an der Lindenstraße, um 1930 abgebrochen (Foto von Ludwig Bickell, Bildarchiv Foto Marburg)

zu Nordeck und zu Holzhausen oder die Schutzbar genannt Milchling in Treis an der Lumda), auch die Landbevölke- rung hatte vielfältige soziale und wirtschaftliche Bezie- hungen. Mit der Orientierung an den verschiedenen Oberzen- tren Gießen und Marburg ist in den letzten Jahrzehnten der Höhenzug zwischen Ebsdorf und Nordeck (der „kalte Stall“) fast als Riegel verstanden worden, doch gehörte das Gericht Treis an der Lumda bis zur Annexion Kurhessens durch Preußen 1866, die Orte Nordeck und Winnen sogar bis zur Gebietsreform 1974 zum Kreis Marburg. Diese alte administrative Zugehörigkeit hat im Alltagsleben durch in- tensive wirtschaftliche und familiäre Beziehungen lange nachgewirkt, nicht zuletzt im Kontakt zwischen den jüdi- schen Gemeinden in Leidenhofen und Nordeck sowie in Roth und in Treis an der Lumda bis zur Verfolgung und Deportation im Nationalsozialismus. Leider ist nicht ange- geben, warum sich Conrad Müller in Londorf aufgehalten Rodenhausen, um 1900. Leiterhaus an der Kirchhofsmauer hat, aber Anlässe dafür mag es durch Handel, Gewerbe, (Bildarchiv Foto Marburg) Verwandtenbesuch oder Gesindedienst vielfach gegeben haben. Der Sterbeeintrag zu Conrad Müller aus Dreihausen, der Auch in den Dörfern der heutigen Gemeinde Weimar sich in Londorf aufgehalten und dort bei der Bekämpfung müssen einmal Leiterhäuser gestanden haben. Wer auf al- des Großbrandes mitgeholfen hatte, lässt die regen Kon- ten Familienfotos solche zufällig ins Bild genommenen takte erkennen, die zwischen den Dörfern der Marburger Bauten findet, möge sich bitte beim Geschichtsverein Wei- Landschaft, vor allem aus dem Ebsdorfer Grund, und den mar melden. Dörfern des Lumdatals gepflegt wurden, das heute zum S. Becker Kreis Gießen gehört. Nicht nur der landsässige Adel hatte enge verwandtschaftliche Beziehungen (wie die von Rau

Die Montanregion Weimarer Land - Geoarchäologische Ausblicke auf die Lahnberge mit dem Lahntal bei Niederweimar

von Mirko Runzheimer

Wer hier Montanregion liest, wird zuerst an Be- wurde während dieses Zeitabschnittes gebildet reiche im Lahn-Dill-Gebiet oder das Siegerland und gegen Ende dieses Zeitabschnittes tekto- denken, aber bestimmt nicht daran, dass sich so nisch gefaltet. etwas direkt vor unserer Haustüre befindet. Weit gefehlt, im Bereich der angrenzenden Lahnberge, im westlichen Teil der Gemeinde Weimar wurden vor wenigen Jahren allerdings gegenteilige Funde mit anderem Aussagewert, unter anderem durch Dieter Eidam aus Roth ge- macht – Funde an Positionen, wo in den Karten- werken der vergangenen Jahre noch Grabhügel eingezeichnet waren; vgl. Topographische Karte Kurfürstentum Hessen 1840-1861, Mess- tischblatt 70 Niederweimar (1:25.000) oder Amtliche Topographische Karte Hessen 1967, Messtischblatt 52186 Niederwalgern, TK25, 1:25.000. Bei einem Teil der eingezeichneten

Grabhügel handelt es sich allerdings um soge- Abb. 1: Mittelmeer-Mjösen-Zone (rote Schraffur) - nannte Schlackenhalden, die von einer Eisen- Grabenbruchsystem durch Europa (Grafik M. Runz- verhüttung zeugen. Nahe dieser Spuren finden heimer) sich im Gelände weitere dazu gehörige Abbau- spuren, auf die hier weiter eingegangen werden Die typischen Gesteine des Rheinischen Schie- soll. Der Grund dafür erklärt sich wohl folgend fergebirges sind Schiefer, Tonschiefer, Kalk- aus der im Untergrund verborgenen Geologie. steine, Diabase und deren Tuffe. Im später fol- Das Marburg-Gießener Lahntal, mit der genden Tertiär erst entstand auf Teilen der Lahntalweitung bei Niederweimar, das Amöne- Westhessischen Senke, aus der Folge vulkani- burger Becken, die Wetterau, sowie die West- scher Vorgänge, das größte zusammenhän- hessische Senke bilden einen Teil der tektoni- gende Vulkangebiet Europas, der heutige Vo- schen Grenze zwischen dem Rheinischen gelsberg. Trotz seines zentralen Hochgebietes Schiefergebirge und dem tertiären Vogelsberg- setzt sich der Vogelsberg aus einer Vielzahl von vulkanismus. Die sogenannte Hessische und Einzelvulkanen im und auf dem Buntsandstein Westhessische Senkenzone ist eine Bruchzone zusammen, die sich gelegentlich auch gegensei- von nacheinander folgenden Talsenken und Teil tig überlappen (Müller 1984). Im erdgeschicht- der sogenannten Mittelmeer-Mjösen-Zone. lichen Quartär entstanden Sedimente in Form Hier spricht man von einer europäischen Gra- von eiszeitlichem Löss aus den Folgen des Glet- ben- oder auch Bruchzone, die sich vom Golf scherrückgangs und damit verbundenem äoli- von Lyon durch das Rhônetal, den Oberrhein- schen (durch Winde sedimentierten) und alluvi- graben, die Rhein-Main-Ebene mit der Wetter- alen (durch Flüsse sedimentierten) Transport au, das Lahntal und das Amöneburger Becken, bzw. Ablagerung. Löss ist ein feinstkörniges, die Westhessische Senke und über den Leine- vorwiegend aus Schluff bestehendes, homoge- graben bis zum Mjösasee in Norwegen fortsetzt nes und hellgelblich-graues Sediment mit Kar- (Abbildung 1). Diese Bruchzone stellt eine der bonatanteil (der Anteil kann variieren). Löss ist wichtigsten Verbindungslinien zwischen Nord- das Ausgangssubstrat für die ackerbaulich und Südeuropa und somit auch zwischen Nord- günstigsten Böden und trug auch zur Verbrei- und Süddeutschland dar, einen natürlichen tung der frühesten ackerbaulichen Kulturen im „Durchgangskorridor“ (Klug 1989). Das Rhei- Neolithikum, der sogenannten Neolithischen nische Schiefergebirge am westlichen Rand der Revolution in Mitteleuropa, bei. Löss ist von Mittelmeer-Mjösen-Zone ist eine der ältesten Natur aus ungeschichtet, unverfestigt und sehr Gesteinsformationen in unserer Region. Es ge- porös, allerdings hat er durch den Karbonatan- hört dem Paläozoikum an, das heißt seine Basis teil eine hohe Standfestigkeit in Verbindung mit

Wasser und anschließendem Trocknungspro- zess, welches die anthropogene Bildung von Hohlwegen und Ackerterrassen begünstigte. Die fruchtbaren Böden, eine verkehrsgünstige Lage, die Versorgung mit ausreichend Süßwas- ser und die naturräumlich geschützte Lage des Lahntals und der Lahntalweitung bei Nieder- weimar, inmitten von klimatisch eher rauen Mittelgebirgsregionen, waren so ursächlich für eine im Vergleich relativ dichte prähistorische Besiedlung. Eine damit verbundene landwirt- schaftliche Nutzung kann heute ab dem Früh- neolithikum archäologisch belegt werden, die den frühesten Ackerbauern außerhalb von Wet- terau und Rhein-Main-Gebiet die Gelegenheit bot, in Hessen auf äußerst fruchtbaren Böden zu siedeln (Klug 1989). Diese Lössböden stellen die jüngsten Erscheinungen im erdgeschichtli- chen Bild, auch in unserer Region, dem heuti- gen sogenannten „Marburger“ und „Weimarer“ Land, dar, zu dem auch Teile der Lahnberge und des Marburger Rückens gehören. Diese hier do- minierenden Bergformationen sind durch Ohm- und Lahntal vom Burgwald getrennt und bilden Abb. 2: Generalisierte Darstellung der Geologie des geologisch eine südliche Fortsetzung des Bunt- Lahntals bei Niederweimar (nach Klug 1989). Die sandsteingebirges des Burgwalds. Die an der hellen Bereiche entsprechen Lössgebieten (Grafik breitesten Stelle etwa 3 km breiten und etwa 10 M. Runzheimer) km von Nord nach Süd verlaufenden Lahnberge sind zum größten Teil aus dem mittleren Bunt- Diese Eisenausfällungen kann man zum Bei- sandstein aufgebaut, der dem Zechstein aufliegt spiel an der oberen Westflanke der Lahnberge, und von zwei Basaltkegeln, dem Stempel und östlich von Wolfshausen, westlich des von dem Frauenberg, durchbrochen wird (Abbil- Nordwest nach Südost verlaufenden „Planeten- dung 2; vgl. Müller 1984). weges“ und auch an anderen Stellen auf den Der Höhenunterschied der Lahnberge zum Lahnbergen beobachten. An diesen Stellen rei- Lahntal beträgt durchschnittlich etwa 100 m. chen die entstandenen Risse durch das Grund- Durch das Entstehen von Brüchen im Zusam- gestein bis an die Bodenoberfläche und „bei- menhang mit der Mittelmeer-Mjösenzone und ßen“ dort in Form von regelrechten Eisenadern damit auch des Rheingrabens kam es zu weite- aus. Auch die damaligen, wohl vor- bis frühge- ren Staffelbrüchen zwischen dem Rheinischen schichtlichen Bewohner des Lahntals sind da- Schiefergebirge und Buntsandstein. Das Lahn- rauf wohl aufmerksam geworden und haben tal stellt somit also eine nördliche Verlängerung dieses Wissen schon für sich genutzt. Heute des Rheingrabens dar. zeugen obertägig im Gelände sichtbar davon le- Innerhalb dieser Staffelbrüche entstanden diglich erodierte Abbauspuren, in Form von so- weitere Verwerfungen (Gesteinsrisse) im Bunt- genannten Pingen / Schachtpingen entlang der sandstein, durch die hydrothermale Lösungen „ausbeißenden“ Eisenadern (Ausfällung von („hydrothermales Wasser“, das sind unter Eisenoxid an der Bodenoberfläche in Form von Druck und Temperatur geratene mineralische Eisenbänderungen im Gestein von unterschied- Lösungen im Temperaturbereich zwischen lichen Stärken, vgl. Abbildung 3 und 4; Abbil- 100°C und 374°C) mit chemisch gelöstem Ei- dung 5 orangene Schraffur). Der Eisengehalt sen aufsteigen, das bei Sauerstoffkontakt wie- wurde vom Leiter des Mineralogischen Mu- der zu Eisenoxid ausfällen konnte (Abbildung seum in Marburg, Prof. Dr. Peter Marsberg, im 3; vgl. Runzheimer 2018). Jahr 2015 bestätigt.

Abb. 3: Schematische Umzeichnung von Genese und Abbau des Eisenerzes bei Wolfshausen (Grafik M. Runzhei- mer)

Abb. 4: Im Bearbeitungsgebiet vom Autor gefundene Sandsteine mit Eisenbänderungen (Grafik M. Runzheimer)

Es wurde nicht nur das Eisenerz auf diese Weise Aufgrund der zahlreichen und teilweise auch obertägig abgebaut, man sieht dort auch Zeug- sehr mächtigen Schlackehalden wäre in jedem nisse von Eisenverhüttung in Form der bereits Fall von mehreren Rennofenvorgängen auszu- erwähnten Schlackenhalden und auch durch gehen, wenn nicht auch von einer längeren Ge- obertägig noch sichtbare Plattformen von Holz- samtlaufzeit der Eisenerznutzung an dem be- kohlemeilern (Abbildung 5, karminrote Schraf- schriebenen Standort. Die Zeugnisse von Eisen- fur). Diese Schlackehalden wurden im augen- erzabbau und Eisenverhüttung entlang der scheinlichen Vergleich zu bekannten Rennofen- Lahnberge sind in einem großen Umfang vor- standorten im Lahn-Dill-Gebiet und den vom handen, dass hier sogar von einem alten Erzre- Autor bei Versuchen und Archäotechnikvor- vier oder einer alten Montanregion ausgegan- stellungen generierten Schlacken bestimmt. gen werden sollte.

Abb. 5: Lageübersicht des Eisenabbaus östlich oberhalb von Wolfshausen (Grafik M. Runzheimer)

Metallisches Eisen konnte durch ausreichend tensiven technischen Vorgang dar. Für diesen hohe Eisengehalte des Ausgangsgesteins schon Vorgang ist nicht nur ein Vorhandensein der be- zu vor- und frühgeschichtlichen Zeiten im soge- nötigten Rohstoffe von bedeutender Wichtig- nannten Rennfeuerverfahren durch die Reduk- keit, darüber hinaus muss auch das technische tion von Eisenoxid gewonnen werden. Bei der Wissen dafür vorhanden sein. Als Rohstoffe Eisenverhüttung und auch der Weiterverarbei- werden ausreichend Brennmaterial an Holz- tung des Eisens durch Schmieden entstanden als kohle, Lehm und Magerungsmaterial für die Er- Nebenprodukte Schlacken, die als einer der richtung eines feuerfesten Schachtofens und na- Hauptnachweise für die Verhüttung oder auch türlich das nötige Rohmaterial an Eisenerz (Ei- Weiterverarbeitung von Eisen anzusehen sind. senoxid) benötigt. Bei den Prozessen der Ge- Diese Schlacken sind nahezu unvergänglich winnung bis zum fertig schmiedbaren Eisen und fallen durch ihre großen Mengen und zum spielt die chemische Reduzierung von Oxiden Teil bizarren Ausformungen, mit bei Nässe (Sauerstoff) eine besondere Rolle. Um eine sol- glänzender Oberfläche, auf. Die Gewinnung che reduzierende Atmosphäre zu erreichen, von Eisen stellt heute sowie in vergangenen wird ein Schachtofen, ein sogenannter „Renn- Epochen einen sehr aufwendigen und arbeitsin- ofen“, aus temperaturbeständigem Lehm errich-

tet (Abbildung 6). Für diesen Verhüttungspro- wieder mit Holzkohle in den Schachtofen ein- zess waren so auch Unmengen an Holzkohle gebracht (Abbildung 6). Der Schachtofen unter- notwendig, die im Volumenverhältnis zu dem teilt sich so während eines Verhüttungsprozes- verhütteten Eisenerz mit etwa 1 : 2 Teilen Holz- ses in verschiedene Temperaturbereiche, wobei kohle bis etwa 1 : 5 Teilen Holzkohle benötigt der höchste Temperaturbereich direkt an der wurden, je nach Erzanteil und Zusammenset- Tondüsenmündung im Inneren des Ofens liegt, zung der Ofenchemie in Bezug auf den Silizi- hier können durch die direkte Sauerstoffversor- umanteil. Die Holzkohle wurde in langer ar- gung Temperaturen teilweise bis zu 1350 °C er- beitsreicher Vorarbeit, auch um weite Wegstre- reicht werden. Die Temperaturen nehmen bis cken zu meiden, direkt vor Ort im Meilerbrand zur Mündung des Schachtofens immer weiter ab verschwelt. (Abbildung 6.A-D). In den oberen Bereichen des Schachtofens, in Temperaturbereichen bis 570 °C (Abbildung 6.D) wird das Eisenoxid durch Kohlenmonoxid zu Magnetit reduziert (3Fe2O3 + CO = 2Fe3O4 + CO2). Dieser Effekt kann aber auch schon in einer Vorarbeit genutzt und das Eisen- oxid schon weitestgehend vor dem Verhüt- tungsprozess zu Magnetit „veredelt“ werden, indem das Erz vor dem Verhüttungsprozess auf einem Feuer geröstet wird, was auch das Zer- kleinern erleichtert. Tiefer in dem Schachtofen, in Bereichen um 700 °C (Abbildung 6.C) wird Magnetit dann weiter zu Wüstit reduziert (Fe304 + CO = 3FeO + CO2). Im inneren Be- reich des Ofens, wird durch glühende Holz- kohle um etwa 1000 °C Eisenoxid (Abbildung 6.B, 3.5) zu Eisen (Abbildung 6.6) reduziert (FeO + C = Fe + CO). In den Temperaturbereichen über 1000 °C (Abbildung 6.A) bildet sich aus restlichen Ei- senoxiden und damit vergesellschafteten Mine-

Abb. 6: Schema eines Rennofenvorganges (Grafik ralien, sowie auch Holzkohle und an in M. Runzheimer) Schmelze gegangenen Bestandteilen der Ofen- wandung eine zähflüssige Silikatschlacke, die Das Eisenoxid, welches hier in Form von ober- der Schwerkraft folgend nach unten rinnt (Ab- tägigem Abbau in sogenannten Pingen und bildung 6.8). Schachtpingen abgebaut wurde, wurde dann Die Laufzeit eines solchen Ofens hängt von weiter gereinigt, getrocknet und im Feuer gerös- der jeweiligen Aufnahmefähigkeit der Sili- tet, dann zerkleinert, fast pulverisiert, um eine katschlacke ab, wenn diese bis zur Tondüsen- größtmögliche reagierende Oberfläche zu mündung ansteigt und damit die Sauerstoffzu- schaffen und um taubes Gestein grob von Eisen- fuhr unterbricht, wird der Verhüttungsprozess oxiden zu trennen. In dem Schachtofen wird abrupt gestoppt. Die entstandene Silikatschla- dann unter Zufuhr von Sauerstoff (O2; Abbil- cke kann auch durch einen Abstich aus dem dung 6.1) die zuvor erstellte Holzkohle (C) ver- Ofen geleitet werden (Abbildung 7), dann hängt brannt, Kohlendioxid (CO2) entsteht (C + O2 = die Laufzeit von der Menge an produziertem Ei- CO2; Abbildung 6.4) und reagiert weiter mit sen ab; wenn eine gewisse Menge erreicht ist, heißer Holzkohle zu Kohlenmonoxid (CO2 + C wird der Ofen zum Schlot hin förmlich abge- = 2CO; Abbildung 6.3). dichtet. Die so entstandenen Gase heizen sich sehr Das reduzierte Eisen akkumuliert sich zu ei- schnell auf und steigen weiter, begünstigt durch nem zusammengesinterten Eisenschwamm, der den Kamineffekt des Schachtofens, nach oben. sogenannten Luppe (entlehnt aus dem lat. „lu- Das Eisenoxid wird, nachdem genügend Holz- pus“, zu dt. „Wolf“) (Abbildung 6.2), die in fol- kohle verbrannt und eine entsprechende Ofen- genden Prozessen immer wieder auf Tempera- temperatur erreicht ist, in wechselnden Lagen tur und zum Aufglühen gebracht werden muss,

um sie immer weiter mechanisch zu Verdichten lung. Eisenabbau ist bereits seit vielen Jahrhun- und noch weiter von enthaltener Silikatschlacke derten herrschaftlich, wie durch sogenannte zu trennen. Das Eisen ist abschließend weiter- Bergregale der deutschen Könige spätestens seit verwendbar zum Schmieden (Runzheimer dem 12. Jahrhundert belegt, oder durch die spä- 2018). teren landesherrschaftlichen Bergordnungen seit etwa zu Beginn des 15. Jahrhunderts orga- nisiert, und war so auch nur mit den jeweils nö- tigen Abbaugenehmigungen möglich (vgl. Bergrecht bei Wikipedia. < https://de.wikipe- dia.org/wiki/Bergrecht >, Stand: 01.10.2019). Bergrechtliche Belange werden heute von den Bergaufsichten verwaltet. Die zuständige Berg- aufsicht für die Gemeinde Weimar untersteht dem Regierungspräsidium in Gießen und konnte glaubhaft aus dem bestehenden Akten- bestand versichern, dass für den beschriebenen Bereich und auch die weitere Umgebung seit dem 14. Jahrhundert keine Eintragungen beste- hen (auf Anfrage des Autors über das Bearbei- tungsgebiet bei der Bergaufsicht Gießen / RP Gießen im Jahr 2015). So liegt die Vermutung nahe, dass die hier beschriebenen Zeugnisse des Eisenabbaus und der Eisenverhüttung dement- sprechend älter sind. Auch an der Kirche in Wolfhausen sind Spuren des Eisenerzes in meh- reren der verbauten Sandsteine, wie eine breite Eisenerzader im linken unteren Portalstein des Haupteinganges, gut sichtbar (Abbildung 8).

Abb. 7: Rennofenabstich mit "herausrinnender" Schlacke (Foto M. Runzheimer)

Der Verhüttungsprozess wurde vom Autor be- reits mehrfach im archäologischen Freilichtmu- seum Marburger Land, der Zeiteninsel, erfolg- reich im Rahmen von Versuchen, Experimenten und Archäotechnikvorführungen nachgestellt. Allerdings liegt dem Verfasser die Vermutung des Betriebes eines sogenannten Windofens nahe und nicht der Betrieb über einen oder meh- rere Blasebälge, da die vorgefundenen Schla- ckenhalden mit ihren vermuteten Rennofen- standorten in südwestlicher topographischer Lage, der örtlichen Hauptwindrichtung von Südwesten folgend ausgerichtet sind. Die Er- bauer der Öfen hätten somit natürliche Luft- ströme, verstärkt durch die an den ansteigenden Hängen auftretende Thermik nutzen können und wären somit nicht auf manuelle Hilfsmittel wie einen Blasebalg angewiesen gewesen. Lei- der können hier keine genauen Aussagen getrof- fen werden, es müsste vor Ort weiter erforscht Abb. 8: Portal der Kirche in Wolfshausen. Pfeil zeigt werden, wie auch über eine mögliche Zeitstel- die Eisenbänderung (Grafik M. Runzheimer)

In wie weit diese in der Kirche verbauten Steine aber auf jeden Fall durch weitere archäologi- im Kontext der Erzgewinnung zu betrachten sche Bearbeitung verifiziert werden. Die im Ge- sind, bleibt an dieser Stelle leider offen und un- lände vorhandenen Zeugnisse wurden so bei ei- beantwortet, weitere vielleicht zeitgleiche vor- ner gut besuchten, geoarchäologisch-histori- und frühgeschichtliche Hinterlassenschaften in schen Wanderung durch den Förderverein der den beschriebenen Bereichen könnten so viel- Zeiteninsel und den Geschichtsverein Weimar leicht auch im Kontext eines Eisenabbaus und von Mirko Runzheimer und Siegfried Becker der Weiterverarbeitung stehen. Es gibt auch im Juni des Jahres präsentiert. Der Autor freut noch weitere vergleichbare Abbaugebiete zu sich über weitere historisch an dem Thema In- dem in Wolfshausen vorliegenden Eisenerzab- teressierte und würde sich etwa für die Bildung bau, verteilt über die gesamten Lahnberge, und einer Arbeitsgruppe zur weiteren Erkenntnisge- auch Beispiele von Eisenerzabbau mit einer winnung einsetzen, um auch einem Verschwin- ähnlichen Eisenerzgenese, östlich des benach- den der wichtigen Zeugnisse unserer Vergan- barten Hassenhausen und auch Sichertshausen. genheit wenigstens in Form einer wissenschaft- Viele dieser Fragestellungen könnten aber lichen Dokumentation vorzubeugen. durch weitere Nachforschungen noch geklärt werden, dazu bestehen bereits Bestrebungen Literatur: Jutta Klug 1989: Die vorgeschichtliche Besied- lung des Amöneburger Beckens und seiner Randgebiete. des Autors. Eine augenscheinliche Begutach- Archäologische Berichte 2, Bonn. – Karl Heinz Müller tung der Schlacke durch den baden-württember- 1984: Geographische Grundlagen Hessens. In: Fred gischen Montanarchäologen Guntram Gass- Schwind, Edmund E. Stengel (Hrsg.): Geschichtlicher At- mann ergab so auch eine wahrscheinlich vor- las von Hessen. Hessisches Landesamt für geschichtliche Landeskunde, Marburg, S. 1-18. – Mirko Runzheimer und frühgeschichtliche Entstehungszeit (Au- 2018: Frühe Eisengewinnung in Schleswig-Holstein. Un- genscheinliche Begutachtung der Schlacke veröffentlichte Arbeit an der Philipps-Universität Mar- durch Dr. G. Gassmann zusammen mit dem Au- burg, Marburg. tor im Jahr 2016). Dieser Datierungsansatz ei- ner bisher unbekannten Montanregion muss

Kleine Mitteilung

Warum nennen wir die Kraniche „Schneegänse“? her eher beiläufig der Begriff mit übertragen wurde (wie Wenn im Herbst die langen Ketten der Kraniche über das die Rose als symbolgeschichtlich wichtigste Blume auch Lahntal hinwegziehen, dann hören wir immer wieder den Synonym für andere Blumen sein konnte). Die in der zoo- Ausruf: Die Schnäigeis fläije! Das fordert dann manchen logischen Nomenklatur so bezeichnete, in den Polarregio- ornithologisch versierten Auswärtigen zum energischen nen Nordwestgrönlands, Nordkanadas, Alaskas und Nord- Widerspruch heraus: „Es sind doch Kraniche, keine ostsibiriens verbreitete Schneegans (Anser caerulescens Gänse!“ Und so gelangte denn auch eine Anfrage an mich, oder Chen caerulescens) tritt in Mitteleuropa jedenfalls ob ich denn diese landläufige Fehldeutung erklären könne. nicht oder nur äußerst selten auf. Wie so oft, wenn man einen Ethnologen fragt, wird‘s Wir kennen auch noch ältere Bezeichnungen für die komplizierter, nicht einfacher. „Schneegänse“ ist schon ziehenden Feldgänse. Noch in meiner Kindheit sagten ein neuerer Begriff, der seit dem 15. Jahrhundert nach- ganz alte Leute: Hoalgeis (Halgänse), und das ist neben weisbar ist (fnhd. snegans). Er erklärt sich aus der Be- „Hagelgänse“ auch die im Mittelalter gängige Bezeich- obachtung, dass die großen Feldgänse (Graugans, insbe- nung gewesen. Beide Begriffe werden meist aufeinander sondere aber die Saatgans, Anser fabalis) erst kurz vor dem bezogen (Halgans also als Kurzform von Hagelgans ver- Einsetzen des Schneefalls/des Winters ziehen. Ich habe die standen); auch Crecelius erklärte es so, gab aber auch an, endlos langen Ketten der wilden Gänse unmittelbar vor dass sich „Halgans“ mit dem Wort hal, hahl (dürr, mager) den harten Wintern der siebziger Jahre (1970/71, 1971/72, mische, also („wie Hahlochse und Hahlschwein“) eine ma- 1976/77) noch in guter Erinnerung. Sie waren in der vor- gere, ungemästete Gans meinte (im Vergleich zur gemäs- industriellen Zeit, in der Wettervorhersagen vor allem auf- teten Martinsgans als einer der wichtigsten Abgaben an die grund genauer Beobachtungen der Naturerscheinungen Grundherrschaft); auch Brot konnte als hahl bezeichnet getroffen werden mussten und konnten (oder besser: ver- werden (Wilhelm Crecelius: Oberhessisches Wörterbuch. sucht wurden), wichtige Indikatoren des unmittelbar be- Darmstadt 1897/99, S. 448), und ich erinnere mich, dass vorstehenden Wintereinbruchs, die von der Landbevölke- man auch zum Spätherbst- und Winterwald sagen konnte: rung aufmerksam wahrgenommen wurden (die Feldmieten en hoale Waald. Gemeint waren mit „Hagel-/Halgänse“ mit Kartoffeln, Rüben etc. mussten zugedeckt, die Keller- die ziehenden Gänse (Grau-, vor allem aber Saatgänse); löcher mit Strohsäcken geschlossen werden). Grau- und der Begriff „Hagelgänse“ wird zuweilen interpretiert als vor allem Saatgans sind also als die eigentlich gemeinte Hinweis darauf, dass sie mit Schrot („Hagel“) geschossen „Schneegans“ anzusehen, „weil sie im Winter, mit dem worden seien, doch da sich schon ahd. hagalgans in den Schnee, nach Süden kommt“ (Kluge, Etymologisches mittelalterlichen Quellen findet, also sehr lange vor der In- Wörterbuch, 23. Aufl. S. 735). Sie waren die wichtigeren novation des Schwarzpulvers bzw. der Einführung des Indikatoren als die früher ziehenden Kraniche, auf die da- technischen Wissens um seine Herstellung, können wir

den Zusammenhang mit dem Büchsenschrot ausschließen. und in Luxemburg als Holgans (neben Huergans) vor; in Wie Halgans ist auch Hagelgans (als Vorbote schlechten Göttingen und Grubenhagen gilt Sleckergas, in Waldeck Wetters) sicherlich eine alte Bezeichnung für die ziehen- Schlackergaus, an mittlerer Edder in Hessen (d.i. die Eder, den großen Feldgänse gewesen. Hagelgans findet sich Anm. SB) Schlackergans, in Westfalen Slackergos, Sleg- dann sogar rezipiert in der Familiennamengebung (16./17. gergos (auch von Kranichen, ebenso wie luxemburg. Jhdt.), und Halgans reichte, wie oben erwähnt, im Dialekt Huergäns, gebraucht = hier haben wir die sekundäre Über- der Landbevölkerung bis in die frühen 1970er Jahre, er tragung auf die Kraniche erwähnt, Anm. SB), welche zu dürfte der in der Volkskultur über Jahrhunderte geläufige slackern 'schneien' gehören.“ (soweit Suolahti, S. 416f.). Begriff gewesen sein. Aus den älteren Quellen ist die Die oben schon angemerkte Fußnote 1 (S. 416) ist ganz Wortgeschichte differenziert dargestellt in dem noch im- wichtig, weil er hier aus Naumann, Naturgeschichte der mer unübertroffenen Standardwerk des finnischen Germa- Vögel Mitteleuropas, zitierte, der insbesondere die Saat- nisten Hugo Suolahti: Die deutschen Vogelnamen. Eine gänse mit diesem Namen in Verbindung brachte (was ich wortgeschichtliche Untersuchung. 1909 (ein unveränder- ja aus der eigenen Erinnerung auch schon geahnt hatte): ter photomechanischer Nachdruck erschien 2000 bei de „Nach Naumann fliegen die Saatgänse fast immer sehr Gruyter; falls er noch erhältlich sein sollte, empfehle ich hoch außer Schußweite und auch sehr unregelmäßig, d.h. dieses Buch jedem Ornithologen): „Ein anderer Ausdruck bald nach der, bald nach jener Gegend zu, und dies beson- für die Wildgänse ist Schneegans. Der Name hängt zusam- ders, wenn sie ungestüme Witterung merken. Sie sind da- men mit der öfters beobachteten Tatsache, daß das Er- her wahre Wetterpropheten, die die bevorstehende Verän- scheinen dieser Vögel ein Vorzeichen strenger Kälte, Ha- derung des Wetters auf 24 Stunden vorher empfinden; gel und Schneefalls ist (die hier angemerkte Fußnote teile denn wenn sie im späten Herbst in guter Ordnung und sehr ich unten noch mit, SB). Bereits Albertus Magnus De ani- eilig Tag und Nacht gerade gegen Westen fliegen, so fällt malibus S. U 7a spricht von den Wildgänsen als Wetter- gewiß sehr bald ein hoher Schnee, der ihnen in dieser Ge- propheten: ‚Silvestres autem anseres omnes gregatim vo- gend die Nahrungsmittel entzieht, daher sie eine gelindere lando, ordinem servant literatum, sicut et grues: et cum vo- aufsuchen müssen, die ihnen dieselben noch unbeschneit lant, flatui ventorum quo facilius volant committunt et ideo darbietet. Im Frühling hingegen, wo natürlich dieser Zug multi predicant ventos et frigora et ymbrel ad volatum ip- gegen Osten geht, bedeutet es nachher Tauwetter.“ Inte- sorum.‘ Der Name bezieht sich auf verschiedene Arten der ressant ist, dass die Saatgänse im Siegerland und auf dem wandernden Wildgänse. - Aus dem Umstande, daß Hohen Westerwald als „Irrgänse“ bezeichnet wurden, was Schwenkfeld Ther. Sil. (1603) S. 213 (d.i. Theriotropheum ja der von Naumann mitgeteilten Beobachtung wechseln- Silesiae, Lignicii 1603, Anm. SB) unter den Gänsearten der Zugrichtungen vor dem unmittelbaren Wintereinbruch die in Deutschland nur selten beobachtete Schneegans (an- entspricht (vgl. Karl Löber: Beharrung und Bewegung im ser hyperboreus, d.i. Chen caerulescens, Anm. SB) be- Volksleben des Dillkreises/Hessen. Marburg 1965, S. 63- schreibt, haben auch moderne Ornithologen den Schluß 68), was ebenfalls auf die Kraniche übertragen wurde. Die gezogen, daß Schlesien zu den südlichen Landstrichen ge- Bezeichnungen Hagel- und Halgänse sind heute ganz ver- hört, wo dieser nordische Vogel sich zuweilen gezeigt hat. schwunden. Wenn man etwas nicht mehr versteht (wie das Zu beachten ist aber, daß die Schilderung Schwenkfelds alte Wort hal), dann sucht man sich neue Interpretationen. von Gesner abhängig ist, der sie wieder aus Albertus Mag- Und das sind dann die „Schneegänse“, weil sie den kom- nus übernommen hat. Dieser beschreibt den anser hyper- menden Schnee/Winter ankündigen. Gemeint sind auch boreus in seinem Werke De animalibus a.a.O.: ‚et est ter- damit in erster Linie die wilden Gänse (Grau-, insbeson- tius totus albus preter alarum extremas quattuor vel quin- dere aber die Saatgänse). que pennas quae sunt nigerrimae et hoc genus est parvum Warum aber bleiben heute die Kraniche als „Schnee- late et alte et longe volans ---; vulgo anseres grandinis sive gänse“ in der Wahrnehmung übrig? Die großen Feldgänse nivis vocantur‘. Der letztere von den hier genannten Na- als reine Pflanzenfresser können seit 40, 50 Jahren wegen men des Vogels ist als snegans im 13. Jh. belegt (Versus der milderen Winter in den norddeutschen Marschen über- de volucr., Ahd.Gll. III, 714/44); dann im 15. Jh. schne- wintern, die sehr langen Ketten, die noch in den 1970er gans a.a.O. III, 29/18 und das Synonymon wetergans Jahren zu beobachten waren, kommen heute deutlich sel- ebenfalls im 15. Jh. a.a.O. III, 29/38. Die gewöhnliche tener, jedenfalls nicht mehr in gleichem Maß vor. Stattdes- Wildgans (anser cinereus, d.i. Anser anser, Anm. SB) sen beeindrucken uns die Kraniche, die ja stärker auf tieri- nennt Albertus a.a.O. gragans. Bei der Wiedergabe der sche Nahrung angewiesen sind und daher früher und wei- Schilderung des Albertus bemerkt Gesner, daß man in der ter ziehen müssen, aber auch wegen der erfolgreichen Schweiz mit dem Ausdruck Schneeganß nicht nur die Schutzprojekte wieder zugenommen haben, in der Wahr- dritte Art des Albertus verstehe, sondern auch die erste und nehmung des Vogelzugs heute besonders. Aus den „Vor- zweite (anser arvensis und anser segetum, d.s. Anser anser boten“ der „Schneegänse“ der früheren Jahrhunderte sind und Anser fabalis, Anm. SB). Baldner Vogelb. (1666) S. heute also die eigentlichen „Schneegänse“ geworden, auch 11 bezieht den Namen ebenfalls auf den anser segetum wenn der Sinn der Bezeichnung nicht mehr unmittelbar er- (d.i. Anser fabalis, Anm. SB), und dieser Vogel wird wohl fahrbar ist, denn auf die Kraniche folgt ja nur recht selten an den meisten Orten darunter verstanden (warum, erklärt - wie früher auf die Feldgänse - unmittelbar der Schneefall. sich aus der Fußnote unten, Anm. SB). Älter bezeugt als Insofern verweist uns aber diese Verschiebung der Wahr- der heute in den Mundarten sehr verbreitete und auch in nehmung auf die ökologischen Folgen der Klimaerwär- die Schriftsprache aufgenommene Name Schneegans ist mung, ähnlich wie die fast um 14 Tage vorgezogene Ve- das Synonymon Hagelgans, das in den ahd. Glossen als getationsphase der Blattentfaltung der Rotbuche von An- hagalgans (= mullis Versus de volucribus, sparalus fang Mai auf Mitte April: „Der Mai ist gekommen, die H.S.III, 17 und Glossae Hildegardis in Ahd. Gll III, Bäume schlagen aus“ trifft ja auch nicht mehr zu (eine 404/55) belegt ist. Im Elsaß, wo dieses Wort im 16. Jh. Verschiebung, die uns als langjähriges Mittel aus den phä- durch das Strassburg. Vogelb. V. 479 (auch bei Fischart nologischen Aufzeichnungen des Deutschen Wetterdiens- und in Spangenbergs Ganskönig) bezeugt wird, ist es nach tes besonders auffällt). Martin-Lienhart Wb. I, 226 jetzt ausgestorben. In Hessen- S. Becker Nassau kommt der Name als Halgans, Halegans, Holgans

Leben und Alltag unserer Vorfahren Aus der Ahnen-Chronologie der Familien aus Roth

von Richard Pfeffer

Am Anfang der Familiengeschichte steht eine genheit mussten sich unsere Vorfahren bewäh- heimatgeschichtliche Betrachtung über das Le- ren, wie oft mögen sie in Trauer und Zorn die ben unserer Vorfahren. Detaillierte Kenntnisse vollzogenen Unmenschlichkeiten verflucht ha- sollten nicht vermittelt werden, es ist aber uner- ben. Hätte die tägliche Arbeit des Leibeigenen lässlich, dass wir uns über die damaligen wirt- nicht mehr erbracht, als er selbst zum Leben schaftlichen und sozialen Verhältnisse infor- brauchte, wären Adlige und Grundherren ver- mieren. Die Ursachen für Not und Elend, die hungert, denn sie sahen körperliche Arbeit als hohe Sterblichkeitsrate und die Rechtlosigkeit unter ihrer Würde an. sind nur aus der geschichtlichen Entwicklung Die Pfarrer des Kirchspiels Fronhau- heraus zu erklären. sen/Lahn sind seit dem Jahr 1226 bekannt. Für die geschichtlich-historische Wissen- (siehe Margarete Weber: Aus der Geschichte schaft war die Welt des Mittelalters eine aristo- der Kirche zu Fronhausen/Lahn, 1959). Sie wa- kratische Welt, deren Geschichte von den Taten ren bereits in früher Zeit des Schreibens und Le- und Entscheidungen des weltlichen und geistli- sens kundig und haben uns manche Begeben- chen Adels bestimmt wurde. Das Lehnswesen heiten und Ereignisse schriftlich überliefert. Die bestimmte die Art und Weise, wie Herrschaft Eintragungen im Kirchenbuch von Fronhausen sich damals darstellte. Diese Art der Herrschaft stammen aus dem Jahr 1624, sechs Jahre nach nennen wir „Leibeigenschaft“. Ausbruch des 30-jährigen Krieges. Drei Jahre Mit Haut und Haaren waren die Menschen später soll in Roth, dort, wo heute die Kirche an den Grundherrn gebunden. Politisch recht- steht, ein Wehrturm errichtet worden sein (lei- los, den Wohnsitz durften sie nicht wechseln, der gibt es davon keine Unterlagen, im Kirch- sie waren oft der Willkür ihres Herrn ausgesetzt, turm steht nur die Jahreszahl 1697). Unsere zu allen erdenklichen Frondiensten herangezo- Vorfahren gehörten zum Kirchspiel Fronhausen gen, von den primitivsten Verrichtungen bis zu und die Kirche in Fronhausen wird im Jahre persönlichen Dienstleistungen. Es gab Grund- 1159 urkundlich erwähnt, das Dorf Roth 1302. herren, die sogar ihre Arbeitskräfte verkauften. Bevor der Wehrturm errichtet wurde, sind Historiker bezeichnen die Leibeigenschaft als die Toten auf dem Friedhof in Fronhausen be- eine mildere Form der Sklaverei. Es war ein stattet worden. Man stelle sich vor, großes kaum vorstellbares Leben mit nur wenigen Hochwasser oder strenge Kälte mit hoher Lichtpunkten innerhalb der bäuerlichen Le- Schneedecke, Vieh konnte nicht angespannt bensgemeinschaft. Der Jahresrhythmus von werden. Die Angehörigen, die Nachbarn und Saat und Wachstum, Ernte und Ertrag be- wahrscheinlich auch andere Dorfbewohner stimmte den Tagesablauf, das Wetter entschied mussten die Toten mit einem Handwagen oder über bescheidenen Wohlstand oder Armut. Die einer Karre über die Feldwege nach Fronhausen Abhängigkeit von guten und schlechten Ernten zum Friedhof transportieren. Unter dem dama- war bestimmend für das Leben der bäuerlichen ligen Schenkischen Schultheiß Georg Buchen- Landbevölkerung. Bedroht von Seuchen und bühl wurde dann rund um den Wehrturm der Kriegswirren hatten sie manchmal nur das Nö- erste Totenhof eingerichtet. Es war auch tigste. Es fällt uns heute schwer, sich diesen All- höchste Zeit, denn die drangsalierte Landbevöl- tag vorzustellen, der von einer übermächtigen kerung hatte im 30-jährigen Krieg schwer zu Natur geprägt war. Auch der Winter traf die leiden gehabt. Die Pfarrer haben uns überliefert, Menschen mit aller Strenge, oft folgten der dass es oft zu Mord und Totschlag kam, es war Kälte wegen der schlechten Ernährung Seuchen kein Religionskrieg mehr. Soldaten ausländi- und Tod. Das allerschlimmste waren die Kriege, scher Mächte tummelten sich auf deutschem die auf dem Rücken der ländlichen Bevölkerung Boden und requirierten Vieh und Vorräte auf ausgetragen wurden und die Drangsalierungen den landwirtschaftlichen Höfen. Bis zum Jahr durch die Grundherren, die uns zum Teil schrift- 1634 waren schon große Schäden entstanden. lich überliefert sind. In dieser düsteren Vergan- Wenn die Einwohner frühzeitig gewarnt wur-

den, flüchteten sie vor lauter Angst in die Wäl- des ganzen Mittelalters bis hinein ins 19. Jahr- der, Vieh und Vorräte wurden mitgenommen. hundert nicht verändert. Im Laufe der Ge- Die große und kleine Schanze im Wald Rich- schichte erhofften sich die Menschen immer tung Ebsdorf sind stumme Zeugen der Vergan- wieder die Befreiung von den drückenden Las- genheit. Dann kam das Jahr 1635, das Pestjahr. ten der Grundherrschaft, von Schollengebun- Anfang des Jahres, in den Wintermonaten gab denheit, von der Hoffnungslosigkeit, sich aus es nur einzelne Opfer. Das sollte sich ab Mai dem erniedrigenden Dasein lösen zu können. gründlich ändern. Die Pest hatte sich ausge- Es sollte noch lange dauern, bis es endlich so dehnt, hauptsächlich in Fronhausen und Roth weit war, dass durch die Reform des Reichsfrei- traf sie die Einwohner mit voller Wucht. Durch herrn vom und zum Stein – 1808 durch Napo- die Kriegsvölker wurde die Seuche von Ort zu leon angeregt – und der kurhessischen Verfas- Ort getragen und die Gräuel nahmen neben dem sung vom 5. Januar 1831 die Bauern aus der schrecklichen Sterben kein Ende. Es war eine Leibeigenschaft entlassen wurden. Sie hatten furchtbare Zeit des Sterbens und Verderbens, dafür einen hohen Preis zu zahlen. Die sowieso nicht einmal die Gotteshäuser waren vor den schon verschuldeten Bauern mussten das 20-fa- räuberischen Banden sicher. Aus den Eintra- che des jährlichen Pachtzinses zahlen. Als die gungen im Kirchenbuch von Fronhausen, die letzten Ablöseschulden getilgt waren, schrieb der damalige Pfarrer Johannes Stoll oft mit zitt- man das Jahr 1888. riger Hand geschrieben hat, ist uns das ganze Hessen war neben anderen Landschaften um Drama überliefert. die Mitte des 19. Jahrhunderts das Armenhaus Am Jahresende 1635 waren in Roth 11 Män- Deutschlands. Viele Menschen konnten die Ar- ner, 14 Weiber, 1 Knecht, 7 Mägde, 24 Kinder mut mit all ihren Lasten nicht mehr ertragen und – insgesamt 57 Einwohner – an der Seuche ge- wanderten aus nach Amerika, England oder storben. Neben den Orten Fronhausen, Roth, Frankreich, aus Roth waren es 81 Personen. Die Wenkbach, Argenstein starben im Kirchspiel Auswanderung nach Amerika war mit Kosten Fronhausen, zu dem damals noch die Orte Ober- verbunden. Der Verkauf von Haus und Hof er- walgern, Holzhausen und Wolfshausen gehör- brachte die notwendigen Gelder, um die Über- ten, 308 Menschen an der Pest. fahrt zu finanzieren. In leergewordene Häuser Am Ende des Jahres schreibt Pfarrer Stoll: zogen oft jüdische Mitbürger ein und wurden Gott gebe und verleih, dass dies beginnende ansässig, bis Ende der dreißiger, Anfang der Jahr 1636 glücklicher und mit mehr Fried und vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts, jetzt wur- Gesundheit seinen Anfang und Ende nehmen den die jüdischen Mitbürger im ‚Dritten Deut- möge, Amen. Das verleihe, o du getreuer Gott, schen Reich‘ als unerwünschte Bürger verfolgt. um Jesu Christi willen, Amen. 1636 hatte die Seuche ihren Höhepunkt Nachbemerkung von Otto Weimar: überschritten, die Eintragungen im Kirchen- Der vorstehende Beitrag ist aus dem Nach- buch starb peste wurden seltener, es gab ja auch lass von Richard Pfeffer entnommen, der bis ins viel weniger Menschen in den Orten. Schlimme Alter in den Kirchenbüchern der umliegenden Zeiten gab es noch 1640 im hessischen Bruder- Pfarrämter, im Hessischen Staatsarchiv Mar- zwist 1646-1648. Es gibt keine Parallele zu die- burg, im Gemeindearchiv Weimar, im Buch von sen Ereignissen; im 30-jährigen Krieg und weit Margarete Weber: Geschichte der Kirche von über das Jahr 1700 hinaus hatten die Menschen Fronhausen, im Deutschen Namens-Lexikon, zu tun, um die Kriegsschäden zu beseitigen. im Historischen Ortslexikon des Landes Hessen Wer am Leben geblieben war und auf sein An- u.a. geforscht hat. Die Pfarrer haben früher viele wesen zurückkehrte, stand oft vor dem Nichts. Begebenheiten aufgeschrieben. Haus und Hof waren ausgeplündert, das Vieh Richard Pfeffer hat für die Familien in Roth abgeschlachtet oder weggetrieben, die Felder ihre Ahnenchronik erforscht und für die einzel- von Gestrüpp überwuchert. Die bäuerliche Ar- nen Familien deren Stammtafeln zusammenge- beit mit all ihrer Mühsal hatte sich also während stellt. Dafür sind wir ihm heute dankbar.

Die Glocken in unserer Kirchengemeinde Wenkbach – Argenstein - Wolfshausen

von Otto.Weimar

Im Kern unserer Dörfer der Kirchengemeinde Übersetzung lauten: „Im Jahre des Herrn stehen die Kirchen mit ihren Glocken: Roth, (dni=domini) 1465 entstand die Glocke zur Eh- Wenkbach und Wolfshausen, in der Vergangen- rung der Heiligen Katharina“. heit und auch in der Gegenwart ein zentraler Die kleine Glocke, auch etwa aus der Zeit Mittelpunkt der Gemeinden, heute sind es oft der großen Glocke, hat einen Durchmesser von die Bürgerhäuser. 61 cm, eine Höhe von 67 cm und ein Gewicht Die Glocken erklingen zu bestimmten Ta- von 160 kg. Die Inschrift lautet: „ave maria qra- geszeiten, zu den Gottesdiensten, sowie zu freu- cia plena dominus tecum benedicta tu in mu- digen und traurigen Anlässen. Am Jahresende lieribus et benedictus“. So könnte diese Über- verabschieden sie das alte Jahr und begrüßen setzung lauten: „Gegrüßet seist du Maria, der das neue Jahr. Doch auch erinnert das Läuten Herr ist mit dir, du bist gesegnet unter den der Glocken unsere Gesellschaft immer an den Frauen und gebenedeit (ist die Frucht deines christlichen Teil unserer Kulturgeschichte. Glo- Leibes Jesus Christus, müsste die Inschrift fort- ckenklänge sind auch Heimatklänge, ob man gesetzt werden)“. sich zum Gebet rufen lässt oder auch nicht, ihr Im Zweiten Weltkrieg mussten 1940 alle Klang erreicht das Herz. Auch gehört zur Auf- Bronzeglocken in den Kirchen der Reichsstelle gabe der Glocken ihr Ruf zum Gottesdienst. Es für Metalle gemeldet werden. Der damalige gibt kaum ein Musikinstrument, das die Men- Pfarrgehilfe Textor beantragte für die Wenkba- schen so fasziniert wie eine Glocke. Sie ist im cher Glocken, diese in der Kirche zu lassen, da Alltag fest verwurzelt. Die Glocke ist das viel- sie einen „kunstgeschichtlichen“ Wert besäßen, seitigste und älteste Musikinstrument der Der Antrag konnte nicht verhindern, dass die Menschheit. Schon seit dem vierten Jahrhundert große Glocke „St. Katharina“ am 3. Februar dienten die Glocken in den Klöstern als Signal, 1942 abgegeben werden musste. Jedoch wurde um die Mönche und Nonnen zum täglichen Ge- die Glocke nach Kriegsende in einem Sammel- bet zu rufen. „Zum Größeren Ruhme Gottes“ lager (Glockenfriedhof) in Hamburg gefunden. fand die Glocke im sechsten Jahrhundert eine Sie kam 1947 in die Gemeinde zurück und er- schnelle Verbreitung, so kann man es in alten freut heute noch das Dorf mit ihrem Klang. Schriften nachlesen. Die Klangqualität und die Bei der Renovierung des Kirchturms Form nahmen einen höheren Stellenwert ein. Im 2016/17 mussten die Glockenstühle neu ange- Mittelalter gab es vier Glockenformen, davon passt werden, der elektrische Antrieb wurde hat sich die „Gotische Rippe“ bewährt und auch auch überholt. Das Läuten der Glocken ist wie- durchgesetzt, (die heutige Glockenform). Ihr der gesichert. Geläut berührt immer wieder viele Menschen. Dichter haben schon über Glocken geschrieben. Die Glocken von Wolfshausen: Von Kindheit an begleiten Glocken uns und läu- Die drei neuen Bronzeglocken wurden in ten auf unserem letzten Weg. Wolfshausen zur 700-Jahrfeier am Sonntag Über die Glocken in Roth wurde bereits im Rogate, dem 19. Mai 1974, in einem ökumeni- Heft 49 / 2014 berichtet. schen Gottesdienst feierlich eingeweiht. Vorher waren die drei Stahlglocken zusammen mit den Die Glocken von Wenkbach: unbrauchbar gewordenen Glockenstühlen aus- Die Glocken in der Kirche von Wenkbach gebaut worden. Ein neuer freistehender Glo- sind sehr alt, deshalb wurden sie im 2.Weltkrieg ckenstuhl wurde im Turm für die neuen Glo- als „Kunstwert“ eingestuft und durften in der cken montiert und neue elektrische Läutema- Kirche bleiben. Die große Glocke „St. Katha- schinen eingebaut. Die Glocken wurden von der rina“ stammt aus dem Jahr 1465. Sie hat einen Glockengießerei Petit und Edelbrock in Gen- Durchmesser von 78 cm und eine Höhe von 82 scher/Westfalen gegossen und zeichnen sich cm und wiegt ca. 280 kg. Der Glockenhals ist durch eine ausgewogene Harmonie des Klanges geschmückt mit einem Schriftband. Die In- aus. Sie sind auf die Töne: g“ - h‘‘ - d ‘‘, das schrift lautet: „anno dni MCDLXV Erä est cam- „Te-Deum-Motiv“, gestimmt. Die große g‘‘- pana in honere ste katherina“. So könnte die Glocke hat ein Gewicht von 305 kg und trägt die

Inschrift: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede dem die in Gießen gegossene Glocke aus dem auf Erden.“ Die mittlere h‘‘-Glocke hat ein Ge- Jahre 1753 hing. Die Inschrift lautet: „IN GIE- wicht von 178 kg und trägt die Inschrift: „Dein ßEN GOS MICH 1753 HENSCHEL:“ ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit Bei verschiedenen Anlässen und Feiern in Ewigkeit Amen.“ Die kleine d‘‘-Glocke hat wurde die Glocke von Hand geläutet. Als das ein Gewicht von 129 kg und trägt die Inschrift: Backhaus abgerissen wurde, hat man später im „O Land, Land, Land höre des Herrn Wort.“ neu errichteten Feuerwehr-Haus, dem ein klei- Die alten Stahlglocken kamen zum Schrott, ner Turm aufgesetzt wurde, die Glocke wieder aber dann wurde eine davon wiedergefunden, es aufgehängt. Die Argensteiner wünschten sich wurde ein Gestell dafür gebaut und bis heute eine zweite Glocke und durch Spenden konnte hängt die Glocke vor dem Bürgerhaus. Nach ei- eine zweite angeschafft werden. Die Inschrift: ner größeren Kirchenrenovierung, die etliche „Ich wurde gespendet von den Argensteinern Jahre in Anspruch nahm und bei der auch die 1976“. Beide Glocken hängen im kleinen Turm Glocken neu aufgehängt wurden, konnte am 12. des Feuerwehr-Hauses friedlich nebeneinander Juli 2015 der Einweihungsgottesdienst gefeiert und können bei bestimmten Anlässen geläutet werden. werden.

Die Glocken von Argenstein: Quellen: Pfarrarchiv Roth; Chronikbücher aus Roth, Auch in Argenstein gibt es Glocken. Im Jahr Wenkbach, Argenstein, Wolfshausen, sowie eigene Auf- zeichnungen. 1752 wurde im alten Dorf ein Backhaus errich- tet, es hatte einen drei Meter hohen Turm, in

Kleine Mitteilung

Der Wachtelschlag. In den Feldern rings um die Dörfer Wieder bedeutet der Gemeinde Weimar, da, wo die Ähren der Gersten- und ihr hüpfender Schlag: Roggenhalme sich im Wind wiegen und an den Ackerrai- ‚Lobe Gott! Lobe Gott!’ nen die kleinen Blüten der Ackerwinde und der Steinnelke der dich zu lohnen vermag. sich der Sonne entgegenrecken, hören wir in den letzten Siehst du die herrlichen Jahren wieder häufiger einen schnarrenden Ruf: „pick- Früchte im Feld, wer-wick, pick-wer-wick!“ Es ist die Feldwachtel (Co- sieh sie mit Rührung, turnix coturnix), die viele Jahre fast verschwunden war, Bewohner der Welt! nun aber zurückgekehrt ist und an heißen Frühsommerta- ‚Danke Gott! Danke Gott!’ gen fleißig schlägt. Ob es wirklich eine dauerhafte Popu- Der dich ernähret, erhält. lation ist, die eine lange Reise übers Mittelmeer ins Win- Samuel Friedrich Sauters 1796 nach einem wenig älteren terquartier antritt und im Frühjahr wieder zurückkehrt, Lied getextete Strophen des „Wachtelschlags“ wurden oder ob es immer wieder neu ausgewilderte Bestände aus 1812 mit der Melodie von Karl Gottlieb Hering unterlegt. Fasanerien sind, mag dahin gestellt sein. Für den Jagdbe- Das Lied ist ganz ähnlich (Höret! wie d’ wachtel in traid trieb werden mancherorts, so auch in Oberweimar, neben dorten schlagt) schon in der Ostracher Liederhandschrift Jagdfasanen, Stockenten und Japanwachteln auch europä- enthalten. Franz Magnus Böhme (Volksthümliche Lieder ische Wachteln gepflegt, und der eine oder andere dieser der Deutschen. Leipzig 1895) verzeichnet ebenfalls ältere flinken Vögel wird auch schon ausgebüxt sein. Nach vie- Varianten, die in fliegenden Blättern, von Ludwig Erk um len Jahrzehnten, in denen das Verstummen des Wachtel- 1780/90 datiert, veröffentlicht und danach auch ins „Wun- schlags eine leise Ahnung des „stummen Frühlings“ auf- derhorn“ (alte Ausgabe 1806, S. 257) übernommen wur- kommen ließ (Rachel Carson: Der stumme Frühling. dt. den; die von Böhme abgedruckte Variante erschien in „Bü- Ausgabe von „Silent Spring“, München 1962, Neuausgabe schings Wöchentlichen Nachrichten“ (Breslau 1816: Bd. München 1990), erklingt er aber nun wieder, und dies hat I, 3), er weist zudem auf eine in Birlingers Ausgabe des mir beim Spaziergang durch die wogenden Ährenfelder „Wunderhorns“ benutzte Handschrift von 1770 aus Ar- am Gemeimertsberg in Niederwalgern ein altes Lied in Er- nims Nachlass hin. Sauters Text wurde zuerst 1799 in Carl innerung gerufen, das diesem aus Kindertagen vertrauten Langes „Taschenbuch für häusliche und gesellschaftliche Laut der Erntezeit gewidmet ist: Freuden“ veröffentlicht und avancierte zu einem der be- Horch, wie schallts dorten rühmtesten im Volkston geschriebenen Lieder des frühen so lieblich hervor: 19. Jahrhunderts. Noch Jahrzehnte wurde es an den Schu- ‚Fürchte Gott! Fürchte Gott!’ len gesungen. Ein Hinweis auf die lange Tradierung der Ruft mir die Wachtel in’s Ohr. Ostracher Variante findet sich im Nachlass Schlosser in ei- Sitzend im Grünen nem 1865 in Pöllau in der Steiermark aufgezeichneten Be- von Halmen umhüllt, richt: „Zu Kirchberg an der Raab und besonders im nahen mahnt sie den Horcher Lormaberge wird ‚das Wachtellied’ – ein echtes Volkslied im Saatengefild: – gesunden, welches anfängt: ‚Anhört, wie die Wachtel im ‚Liebe Gott! Liebe Gott!’ Getreide schön schlagt!’“ (Zentralarchiv der deutschen Er ist so gütig und mild. Volkserzählung [ZA], Marburg, 188.520; vgl. auch eine

fast gleichlautende, von Pfarrer Fandler in Pöllau mitge- her nach Altenstädt, wo er wusste, dass Frucht zu kaufen teilte Variante im Ferk-Nachlass, ZA 188.265). Neben der war. Der Mann an den er sich in Altenstädt wendet, schämt breiten Popularisierung des Sauterschen Liedes über die sich jedoch den hohen Preis mit Worten auszudrücken, Schulen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind also sondern nimmt ein Stück Kreide und schreibt auf den auch solche älteren Varianten in regionalen Liedreper- Tisch, dass er 42 Thlr. für die zwei Viertel verlange. Das toires erhalten geblieben. ist dem Breitenbacher doch ein wenig zu arg und so fährt er denn lieber mit leerem Wagen wieder nach Hause. – Viele, besonders die Kinder haben damals grossen Hunger gelitten.“ Die Erzählung, die Hoffmeister hier aufzeichnete, erin- nert an die Zeit der Hungerjahre und der Brotunruhen im Vormärz, die besonders in Kurhessen mit seiner vorwie- gend agrarisch geprägten Wirtschafts- und Sozialstruktur und noch vornehmlich an vorindustriellen Lösungsmodel- len orientierten Wirtschaftspolitik in die Krise des Pau- perismus führte. Bevölkerungswachstum und Ernteaus- fälle hatten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Prozess der Auszehrung und Proletarisierung unterbäuer- licher Schichten und der kleinbäuerlichen Anwesen einge- leitet – einen Prozess, der in die Auswanderungswellen mündete. Geschärft durch die Revolutionsfurcht im zeitli- chen Umfeld der Verfassungsgebung von 1831, ist für die Zeit nach 1830 ein deutliches Anwachsen der Pauperis- musliteratur und der Aufmerksamkeit des Staates gegen- über Ausmaß und Folgen der Armut im Land festzustellen. Martin Kukowski hat in seiner Untersuchung diesen ge- sellschaftlichen Wandlungsprozess herausgearbeitet, der von einer bäuerlich-heimgewerblich geprägten Sozial- struktur in den ersten Jahrzehnten zu einer Sozialstruktur führte, die Mitte des 19. Jahrhunderts lediglich noch zu etwa 30 Prozent aus haupterwerblichen Bauernfamilien, sonst aber überwiegend aus gewerblich-handarbeitender oder im Tagelohn tätiger Bevölkerung zusammengesetzt Wachtelpaar mit Küken. Abbildung aus Naumann, Natur- war (Martin Kukowski: Pauperismus in Kurhessen. Ein geschichte der Vögel Mitteleuropas (1897) Beitrag zur Entstehung und Entwicklung der Massenarmut in Deutschland 1815-1855. Darmstadt/Marburg 1995). Er Dieses Lied gab das Zeitgefühl der deutschen Romantik leitet daraus den Begriff der „Entbäuerlichung” des Lan- wieder wie kaum ein zweites, jenes Sentiment, das ja zur des ab, jene Proletarisierung, die durch wirtschaftliche romantischen Dichtung gehört wie die Ironie. Was wir hier Substanzauszehrung und Deklassierung breiter Schichten, im bürgerlichen Blick aufs Volk finden, ist als Beschwich- vor allem der Kleinbauern, Heimgewerbetreibenden, tigungsgeste zu lesen, die Gottesfurcht und Gotteslob mit Handwerker und Handarbeiter als Folge des Erwerbsman- den Bildern und Deutungen der Natur als Schöpfung ver- gels gekennzeichnet war. Diesem augenfälligen demogra- wob. So ist das Motiv auch in religiösen Beispielerzählun- phischen Prozess der wirtschaftlichen Marginalisierung gen wie Maurers „Gottes gütige Wunderhilfe durch unver- stand die Land- und Kapitalakkumulation der großbäuerli- nünftige Geschöpfe“ (um 1910) rezipiert worden. Wenn chen Höfe gegenüber. Sie äußerte sich gerade in Kurhes- wir darin aber eine Beschwichtigungsformel sehen wollen, sen um 1840 in den 675 großteils landwirtschaftlichen dann müsste es ja auch ein Aufbegehren oder doch die Er- Brennereien, in denen 90.000 Ohm Branntwein im Wert wartung und Befürchtung eines Aufbegehrens gegeben ha- von 1.300.000 bis 1.400.000 Talern hergestellt wurden, ben. Und so mutet es fast wie eine Spiegelung an, wenn von denen der kurhessische Staat 100.700 Taler Steuerein- wir als Korrektiv jene hübsche Erzählung vom Wachtel- nahmen bezog (Georg Landau: Beschreibung des Kurfürs- schlag hinzunehmen, die der Nordshäuser Pfarrer Philipp tenthums Hessen. Kassel 1842, S. 110f.) – ein staatlich ge- Hoffmeister 1869 in seine „Hessische Volksdichtung“ auf- duldeter, ja geförderter Entzug von Grundnahrungsmitteln nahm und die just in der Zeit ansetzt, in der Herings Ver- wie Getreide und Kartoffeln, der Ursache und Kehrseite tonung des Sauterschen Wachtelschlags populär zu wer- (also auch hier wieder eine Spiegelung!) der Teuerung des den begann: „In den Nothjahren von 1816 und 1817 kam Brotgetreides und des grassierenden Elendsalkoholismus ein Tagelöhner von Niederzwehren früh Morgens nach als schlimmster Begleiterscheinung des Pauperismus war. Kassel und wollte sich einen Wecke zum Frühstück mit- Das war der Kontext, in dem Erzählungen wie Hoff- nehmen. Er klopft an den ersten Bäckerladen und fordert meisters „Wachtelschlag“ entstehen konnten – und aufge- einen Wecke. Der Bäcker ruft: um einen Dreier stehe ich zeichnet wurden. Die Ankündigung von Teuerung und nicht auf; ich liege noch im Bett. – Nun so reicht mir den Notzeit im Ruf der Feldwachtel ist in späteren Aufzeich- Wecke durch das Schlüsselloch hindurch, antwortet der nungen zu Vogelstimmendeutungen nicht mehr enthalten, Taglöhner. Und so ist es denn auch geschehen. Damals hat dort finden wir dann nur die Forderung der Arbeitsdiszip- die Wachtel ihren Ruf achtzehnmal hinter einander ertö- lin, also die Tradierung des „Fürchte Gott!“ und „Bück’ nen lassen und es ist ein weit verbreiteter Glaube, dass das den Rück’“ (Albert Boßler: Über Vogelstimmen und ihre Viertel Korn soviel Thaler koste als der Wachtelschlag ge- volkstümliche Deutung in Oberhessen. In: Hessenland, schieht und wirklich hat das Korn auch 18 Thlr. gegolten. Zeitschrift für hessische Geschichte und Literatur 25, – Im Jahre 1847 hätte ein Bauer von Breitenbach noch 1911, S. 309-312), die ja schon im bürgerlichen Blick auf recht gut zwei Viertel Korn brauchen können. Er fährt da- die Volkskultur in der Romantik entworfen wurde. Deu-

tungen bedürfen also der Kontextualisierung, und die von Stände gerichteten und auf die Verfassung von 1831 bezo- Hoffmeister aufgezeichnete Erzählung ist ein schönes Bei- genen Zeilen Anlass gewesen sein: Als für das Andenken spiel für die narrativen Verarbeitungen von Armuts- und an Uns bleibendes Denkmal hinterlassen Wir die Unseren Krisenerfahrungen, die in der ersten Hälfte des 19. Jahr- Landen gegebene Verfassung. Möge sie bei allen Unseren hunderts zunehmend entstanden und in die Zeit des Vor- Unterthanen Unseren Anspruch auf dankbare Rückerinne- märz vor der Revolution 1848 mündeten. rung an die Zeit Unseres Lebens und Unserer Regierung Die Zeit der Revolution von 1848 ist auch an unseren begründen. [...] Zu Unseren getreuen Ständen hegen Wir Dörfern nicht vorübergegangen, auch hier gab es Hoffnun- das Vertrauen, daß sie [...] nur das unzertrennliche Wohl gen auf eine Liberalisierung und Demokratisierung der ihres angestammten Fürsten und des Landes im Auge ha- Gesellschaft ebenso wie Hoffnungen auf eine geeinte Na- ben, nur solches, wie es getreue Unterthanen und redli- tion, die über Fürstenherrschaft und Fürstenwillkür der chen Männern geziemt, innerhalb der ihnen vorgezeichne- Territorialstaaten hinweg als größeres Vaterland erstehen ten Schranken ihres Wirkungskreises, vertreten, und so die sollte, Hoffnungen, die mit der Verfassung von 1831 ver- Aufrechterhaltung der von Uns gegebenen Verfassung, bunden wurden, auch in der Landbevölkerung. Mit der li- das Glück Unserer Unterthanen, sichern werden. beralen, dem Kurfürsten abgerungenen und für den Demo- Dieses Schreiben ist, darauf hat Seier hingewiesen, ge- kratisierungsprozess in den deutschen Staaten richtungs- deutet worden als Wunsch des Verstorbenen, die 1831 ge- weisenden Verfassung war in Kurhessen die politische Er- währte Verfassung aufrecht zu erhalten; doch den ersten rungenschaft einer landständischen Vertretung der Land- Verlautbarungen des neuen Landesherrn mangelte es an wirte erreicht worden. Diese Errungenschaft aber war un- einer entsprechenden Festlegung. Zusammen mit einer mittelbar vor der Revolution in Gefahr, und diese Gefähr- Militärordre, die für eine nach dem Thronwechsel erfol- dung des Demokratisierungsprozesses wurde aufmerksam gende Neuvereidigung der Soldaten nur den Fahneneid, wahrgenommen, wie es in der Zirkulation von Abschriften nicht aber ein Verfassungsgelöbnis vorschrieb, gab diese eines kurfürstlichen Schreibens an die Stände und in des- Auslegung des Briefes an die Stände dem Gerücht Nah- sen Auslegung zum Ausdruck kommt. rung, das Grundgesetz solle unter dem Thronfolger nach Nach dem Tod Kurfürst Wilhelms I. 1847 war ein von dem Vorbild Hannovers von 1837 entweder entfallen oder ihm testamentarisch verfügtes Schreiben an die Land- zurückgenommen werden; damit war eine aufgeheizte stände gegangen, das wohl über den Abgeordneten der Stimmung im Kurstaat entstanden, in der die Furcht vor Zweiten Kammer Heinrich Lauer (1816-1896) auch nach Fürstenwillkür in eine Loyalitätskrise, ja in eine Staats- Niederwalgern gelangte, wo es vom damaligen Schulleh- streichgefahr mündete (Hellmut Seier: Das Kurfürstentum rer Johann Heinrich Kaletsch (1807-1852) abgeschrieben Hessen 1803-1866. In: Handbuch der hessischen Ge- wurde. Eine dieser Abschriften ist mit den Erbleihbriefen schichte, 4. Bd.: Hessen im Deutschen Bund und im neuen und Ehekontrakten des Schonke-Hofes überliefert worden Deutschen Reich 1806/1815 bis 1945. 2. Teilbd.: Die hes- (vgl. ausführlicher Siegfried Becker: Strohdächer und zi- sischen Staaten bis 1945. Marburg 1998, S. 1-183, hier S. viler Ungehorsam. Zu bäuerlichen Widerstandsformen im 100). Die Befürchtung war nicht unbegründet, denn tat- Marburger Land. In: Hessische Blätter für Volks- und Kul- sächlich hatte der neue Kurfürst Friedrich Wilhelm die Be- turforschung 39, 2004, S. 108-126; ders.: Die letzten seitigung der Verfassung angestrebt und wurde davon le- Strohdächer. In: Niederwalgern 1235-2010. Ereignisse diglich durch eine Depesche Metternichs aus Wien abge- und Erinnerungen aus 775 Jahren. Weimar/Lahn 2010, S. halten. Wir können also aus der Abschrift und ihrer sorg- 481-496). fältigen Aufbewahrung bei den Rechtsdokumenten des Es ist eine zeitgenössische Abschrift des Schreibens, Hofes entnehmen, dass eine Sensibilisierung für die poli- das Kurfürst Wilhelm II. an die Stände richtete, geschr. tische Lage unter der Bauernschaft in Niederwalgern vor- Niederwalgern am 14ten Januar 1848 und betitelt mit handen war, in der Maßnahmen und Vorgehen der Obrig- Kurfürst Wilh. II letzter Wille, aus dem nachstehend einige keit argwöhnisch beobachtet wurden. Auszüge wiedergegeben seien. Wilhelm II., der sich nach Politische Diskurse des Vormärz spiegeln sich auch in Frankfurt zurückgezogen und die Regierungsgeschäfte Poesie und Erzählung, ja wir müssen die Poesie der Rom- seinem Sohn und Mitregenten Friedrich Wilhelm überlas- antik anders lesen, ihre Ironie verstehen lernen (vgl. Erwin sen hatte, starb am 20. November 1847; rasch wurde be- Petzi: Eduard Mörikes Kunst der schönen Täuschung. kannt, dass er einen Brief an die Stände hinterlassen hatte. Frankfurt am Main u.a. 2004). Die in scheinbar naturselige Nicht das Original, aber eine Abschrift befindet sich auch Gedichte verpackte bittere Ironie am Vorabend der Revo- in den Akten der Ständekammer (vgl. HStAM Best. 73 lution gibt wohl kaum ein Text besser wieder als das „Äh- Hess. Landstände 1509-1866, Acc. 992, Vereinbarung renfeld“ von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, über die Hofdotation und deren Verwaltung sowie die Ver- 1843 zur Melodie eines schlesischen Volksliedes ge- waltung des Staatsvermögens, 3, 1841-1850; Prof. Dr. schrieben und gewiss nicht von ungefähr Assoziationen zu Günter Hollenberg danke ich für frdl. Hinweise). Feld und Brotgetreide herstellend. „Ein Leben war´s im Wie aus dem Vorsatz der Abschrift hervorgeht, war die Ährenfeld Wie sonst wohl nirgend auf der Welt, Musik Urschrift von Dr. Ohlenschlaeger an den Präsidenten der und Kirmes weit und breit Und lauter Lust und Fröhlich- kurhessischen Ständeversammlung adressiert worden, da- keit“ beginnt das Gedicht, das dem Treiben der Grillen, tiert zu Frankfurt am Todestag, und durch allerhöchstes Käfer und Fliegen gewidmet ist, die es sich im Bestand der Handbillet vom 8t. Dezember 1841 auf besonderen wogenden Halme „gar wohl dort sein“ ließen. „Wie aber Wunsch des verstorbenen Kurfürsten hin: Mein lieber geht es in der Welt? Heut´ ist gemäht das Ährenfeld, Zer- Doktor Ohlenschlaeger! Ich lasse Ihnen das beiliegende störet ist das schöne Haus, Und hin ist Kirmes, Tanz und verschlossene Schreiben an die Kurhessischen Stände zu- Schmaus.“ gehen, um solches nach Meinem in Gottes Hand stehenden S. Becker Ableben an die Adresse zu besorgen. Uebrigens verbleibe mit vieler Achtung Ihr wohlgeneigter Wilhelm II. Für die Anfertigung der Abschrift dürften die unmittelbar an die

Einzug von Lehrer Christoph Wagner in Roth

von Otto Weimar

Am 16. Oktober 1903 ist Christoph Wagner als umso feierlicher und doppelt freudiger, da seit Lehrer in das alte Schulhaus in Roth mit Familie dem Weggang des früheren Lehrers kein Be- eingezogen, er kam aus Oberorke (bei Vöhl) im werber es wagen wollte, die so verrufene hie- Kreis Frankenberg. Das neue Schulhaus war sige Schulstelle anzunehmen. Viele Bewerber noch nicht gebaut, so musste er vorerst im alten wurden durch schlechtes Zureden zurückge- Schulgebäude wohnen und auch im Schulsaal schreckt, bis endlich der jetzige Herr Lehrer die Kinder aus Roth unterrichten. Wagner, durch Zureden eines guten Freundes und Förderers des Dorfes wagte, die Stelle an- zunehmen, vielen Dank für sein Unternehmen. Das Verbringen der Sachen, Möbel und derglei- chen in die Wohnung ging schnell vonstatten, ein jeder wollte gerne behilflich sein. Auch mag wohl viele die Neugier geplagt haben, um in das Innere des Schulhauses zu gelangen. Schreiner, Weißbinder und Maler hatten fleißig gearbeitet, wirklich war von einer ungesunden modrigen Luft und einem Ententeich im Keller, wie man kürzlich in einem Artikel einer Zeitung lesen konnte, keine Spur zu finden. Unserem Herrn Lehrer Wagner und seiner Frau wünscht die Ge- meinde, dass sie die kurze Zeit, welche sie noch im alten Schulhaus wohnen (hoffentlich wird das neue Schulhaus im Frühjahr nächsten Jahres in Bau genommen), gesund und munter verle- ben, um im neuen Schulhaus lange für das Wohl der Gemeinde als Lehrer tätig sein zu können.“

Die alte Schule in Roth (Zeichnung H. Ehlich)

Ein Zeitungsbericht aus der „Oberhessischen Zeitung“ vom 20. Oktober 1903: „Gestern fand der Einzug des von Oberorke, Kreis Franken- berg, auf seinen Wunsch nach hier versetzten Herr Lehrer Wagner in sehr feierlicher Weise statt. Um 3 Uhr nachmittags standen der Krie- gerverein, der Gesangverein, beide mit ihren Fahnen, sowie die Schulkinder und viele Be- wohner des Ortes, am südlichen Eingang des Dorfes, um ihren neuen Lehrer festlich zu emp- fangen. Nachdem die Vorstände der beiden Vereine Herrn Lehrer Wagner im Namen der- selben begrüßt und herzlich willkommen gehei- ßen hatten, bewegte sich der Festzug bis vor das festlich geschmückte Schulhaus, wo sich viele Bewohner des Dorfes, alt und jung, groß und klein eingefunden hatten. Am Schulhaus ange- kommen, hielt Herr Bürgermeister Pfeffer eine kräftige Ansprache, welche in ein dreifaches Hoch auf den neuen Lehrer ausklang. Der Emp- Die neue Schule in Roth von 1908 (Zeichnung H. fang, welchen das Dorf, hauptsächlich die hie- Ehlich) sigen Vereine dem neuen Lehrer bereiteten, war

Zur Erinnerung: Am 12. Oktober 1908 wurde noch zwei Wohnungen für die Lehrer, denn es die neue Schule eingeweiht. Die Kinder nahmen wurde auch eine zweite Lehrerstelle bewilligt. von der alten Schule Abschied und es ging in Lehrer Wagner konnte jetzt umziehen. Er einem feierlichen Zug zu dem neu erbauten wohnte im alten Schulhaus 5 Jahre und 25 Jahre Schulhaus. Der Schlüssel wurde von Bauleiter in der neuen Schule. Pfuhl, dem Landrat Negerlein und dem Schul- Die alte Schule könnte um 1770 erbaut wur- Inspektor (Ortspfarrer Landau) dem Lehrer den sein, sie war baufällig und wurde 1976 ab- Christoph Wagner überreicht. Im Schulsaal fan- gerissen. Auf dem Platz steht heute das Buswar- den die Ansprachen statt. Außer den zwei Klas- tehäuschen. senräumen befanden sich im Obergeschoss

Das Trinkwasser in Wenkbach

von Otto Weimar

Auch in Wenkbach stieg der Wasserverbrauch wird durch zahlreiche Haus- und Gemeinde- nach 1945, einmal durch den wirtschaftlichen Brunnen mit Wasser versorgt. Diese Brunnen Fortschritt, aber auch durch den Bevölkerungs- sind vom hygienischen Standpunkt aus wegen zuwachs, durch die Flüchtlinge. Die Gemeinde ihrer Lage zu beanstanden. Der Bau einer Was- Wenkbach bemühte sich um 1950, die Versor- serleitung ist dringend geboten. – Wenkbach gung mit Trink- und Löschwasser für das Dorf liegt am Westrand der breiten Lahnaue etwas sicherzustellen, denn Wenkbach besaß noch unterhalb von der Einmündung der Allna. Die keine eigene Wasserleitung. Höhen des westlichen Talhanges werden von Schichten des Zechsteines aufgebaut, über die sich Lößlehm hinweg legt. Nicht sehr weit west- lich vom Lahntal tritt der paläozoische Schiefer- Gebirgssockel, westlich die Zechsteinscholle an die Oberfläche. Brauchbare Quellen sind in nä- herer Umgebung nicht vorhanden“ (aus dem Buch „700 Jahre Wenkbach“ von 2002). Man konnte nicht ausschließen, dass auch mancher Brunnen verschmutzt war, das Abwas- ser floss in den Wenkbach oder versickerte im Erdreich, was wiederum die Brunnen mit Schadstoffen belastete. Jetzt hatte die Ge- meinde die Möglichkeit, sich an die geplante Kreiswasserleitung, Wasser aus , an- zuschließen und sie wurde auch aktiv. Nach Verhandlungen und Planungen mit dem „Was- serverband Mittelhessische Wasserwerke“ in Gießen wurde 1955 ein Vertrag mit dem Land- kreis Marburg geschlossen, zum Bau der Was- serleitung in Wenkbach. Die Bauarbeiten gin- gen zügig voran und konnten 1956 abgeschlos- sen werden. Jetzt waren die Brunnen im Dorf überflüssig und hatten ausgedient. Die Wenkbä- cher brauchten jetzt nicht mehr das Wasser für Der damalige Bürgermeister Karber ließ 1950 Mensch und Vieh mit Eimern von ihren eigenen ein Gutachten des „Hessischen Landesamtes für Brunnen oder von den Dorfbrunnen zu holen, Bodenforschung“ zur Planung einer Gemeinde- denn sie hatten fließend Wasser in den Küchen Wasserleitung erstellen. Im Gutachten heißt es: und auf den Höfen für das Vieh. In den Vieh- „Die Gemeinde Wenkbach mit ca. 600 Einwoh- ställen wurden Tränken eingebaut und die nern, mit 210 Stück Großvieh und 350 Stück „Wassereimer- Bänke“ in den Häusern hatten Kleinvieh besitzt noch keine Wasserleitung, sie ausgedient.

Lebenserinnerungen der Else Amsler

von Otto Weimar

Elisabeth (Else) Amsler, geb. 25.09.1899 in ih- Kirche sah, in der ich getauft und getraut wor- rer Heimatstadt Falkenau im Egerland, war ver- den war, kam ich auf sonderliche Gedanken. Da heiratet mit August Amsler, geb. 19.12.1892, stand ich nun mutterseelenallein, die Mutter war Lehrer in Roth von 1946 bis 1954. ja gestorben und von meinem Mann wusste ich Aus ihren 40-seitigen Lebenserinnerungen: nichts, und fuhr einer ungewissen Zukunft ent- Bei meinem Aufenthalt in Troppau 1923, in gegen. Eigentlich hätte ich verzweifeln müssen, Schlesien, war ein Lehrer, der neben der Schule aber dann dachte ich an den lieben Gott, er wird auch das „Jugendheim Lippin“ betreute. Der mir helfen. So fuhr ich denn in einem Waggon, Lehrer, der übrigens später mein Mann – und an dem außen stand „40 Mann oder 6 Pferde“ und durch den ich dann Heimmutter wurde, ver- ins Ungewisse durch das zerbombte Eger. Wir anstaltete öfters sonntags Kulturnachmittage. waren schon in Bayern, da sah ich einen kahlen Jeden Sonntag waren wir im Heim beschäftigt, Baum stehen, der als Schmuck hunderte von hauptsächlich mit Singen. Ich war 10 Jahre hin- gelben Armbinden hatte, die wir daheim hatten durch, bis zur „Austreibung“ (Vertreibung) mit tragen müssen; ich lachte und fing leise zu sin- Singen beschäftigt, in der Schule bei meinem gen an. Wir wurden in einen bayrischen Zug Mann und im Heim. Diese Zeit war eine der umgeladen. Mein heimlicher Wunsch: „Ich will schönsten meines Lebens. nach Marburg, um mich dort mit meinem Mann Als der Krieg immer näher rückte und an der zu treffen.“ Um mich zu vergewissern, ging ich Oder schon die Kanonen donnerten, saßen die nach vorne zur Maschine und da stand „Mar- Kinder im Heim mit mir wie die Küken bei der burg Lahn“. Ja es gibt heute noch Wunder. Henne um den warmen Kachelofen herum. Ich Nach tagelanger Fahrt waren wir dort, als ich spielte auf dem Harmonium, das eine kleine Or- hinausschaute, war ich bezaubert von dieser gel war, Choräle und die Kinder sangen eifrig herrlichen Stadt. Die über 70-jährigen wurden mit. Schlesien war meine Heimat geworden. Als zuerst ausgeladen und kamen auf den Frauen- ich im Winter 1945 das Bündel schnürte und ins berg. Dort war ein Gasthaus zu einem Alters- Egerland mit meiner Mutter zurückmusste, heim umgewandelt worden. Wir übrigen wur- wollte ich noch ein Lied singen, aber es brach den auf Bauernwagen verladen und kamen in mir die Stimme. den Ebsdorfer Grund. In der Schule eines Dor- In meiner alten Heimat Falkenau hatten wir fes wurden wir aufgestellt und verteilt (wie ein winziges Stübchen in meinem Elternhaus Sklaven), ich stand als letzte da, wahrscheinlich als vorübergehende Bleibe gefunden. Wir wa- erschien ich ihnen für die Arbeit zu schwach. ren jetzt vogelfrei und hatten kein Vaterland Um Mitternacht, todmüde, ging ich mit einem mehr. Wir bekamen gelbe Armbinden und durf- Mann an das Haus, das für die nächste Zeit ten nicht auf dem Gehsteig gehen. Abends um 8 meine Bleibe sein sollte. Es war ein langer Weg Uhr mussten wir zuhause sein. Ich ging nur und wir klopften endlich an. Es rührte sich lange raus, wenn es unbedingt sein musste; wir hun- nichts und ich fing an leise zu singen: - „Wer gerten und es fielen Bomben. Meine Mutter klopfet an,- ach zwei gar arme Leut, - was wollt hatte sich zu allem Unglück auch noch den denn ihr - wir suchen Herberg heut“ - … End- „Beinhals“ gebrochen und musste ins Kranken- lich kam die Hausfrau und ich wurde in ein Hin- haus. Wir zwei waren verlassen, hungrig und terzimmer geführt. Ich war so voller Dankbar- arm wie eine Kirchenmaus. Meine Mutter starb keit, weil ich wieder ein freier Mensch war. 3 Wochen vor meiner Aussiedlung; sie war Später kam ich dann nach Wolfshausen und froh, auf diese Weise in der Heimat bleiben zu bekam ein verunkrautetes Stückchen Land. können. Nach kurzer Zeit bekam ich abends ei- Welch eine Freude war es für mich, als die ers- nen Zettel mit der Aufforderung, mich am ten Blümchen sprießten und ich ein paar Erbsen nächsten Tag um 8 Uhr in meiner früheren ernten konnte. Endlich kam mein Mann, das Schule einzufinden, dort war ein Strohlager her- wird wohl jeder verstehen, welche Dankbarkeit gerichtet. Nach einigen Tagen wurden wir auf und Freude mein Herz erfüllte. Er bekam später Lastwagen verladen und zum Bahnhof transpor- eine Lehrerstelle im Nachbar-Ort. Wir gingen tiert, wo wir in Vieh-Waggons verfrachtet wur- ungern von Wolfshausen weg. Ich hatte dort für den. Als ich zum letzten Mal den Turm unserer Klavier- und Harmonium-Stunden einige Le-

bensmittel bekommen. In Roth, so hieß der Ort, Möbelhaus Schramm habe ich dann etwas be- bekamen wir eine kleine Wohnung im Schul- stellt, um die Bücher unterzubringen. Nebenbei haus, es waren schon Heimatvertriebene ein- fragte ich die Tochter Irmgart wo ich Anschluss quartiert. Wir hatten wenig Möbel, keine Vor- zum Singen finden könnte, sie schnappte mich hänge und Teppiche, aber eine wunderbare gleich für den „Sängerhort“ und ich wurde Akustik in den Zimmern. Da wir unsere Musik- freundlich aufgenommen. – Als mein Mann, instrumente verloren hatten, fehlte uns natürlich nach langer schwerer Krankheit verstorben war, etwas. Wir kauften uns eine alte Gitarre um 50 er hatte „Schüttel-Lähmung“, bin ich so erledigt Mark, das war damals viel Geld und wir spielten gewesen und wäre wohl auch dahin gegangen, und sangen in unseren halbleeren Zimmern. Die wenn der Arzt mir nicht eine Kur, wegen mei- Leute sagten oft „Wie können nur die Vertrie- nes Gallenleidens in Bad Mergentheim verord- benen so viel singen, wir würden nur weinen.“ - net hätte. Ich wollte nicht, doch der Arzt hat In der Schule durfte ich auch beim Musikunter- mich dann doch überredet, er meinte „Dort sind richt mithelfen. Mein Mann und ich sangen mit auch Kranke“. Es war im Mai 1960, ich fand ei- Gitarrenbegleitung Lieder vor, da sagten die nen Arzt aus dem Egerland, der mich betreute. Kinder: „Herr und Frau Amsler könnten im Das alte Städtchen bezauberte mich und noch Rundfunk singen, da könnten sie sich etwas mehr die Musik bei den Kurkonzerten. Geld verdienen.“ Anhang: Als ich geboren war und heran In Roth waren ein Gesangverein und Kir- wuchs, war das Sudetenland noch ein Teil „Alt- chenchor, ein hochmusikalischer Dirigent, Österreichs“. Ich war also zuerst eine Österrei- Hans Leinweber, der uns wohlgesinnt war, auch cherin, dann wurde ich Tschechoslowakin, hier- ich sang dort mit. - Marburg wäre mir fast eine nach Reichsdeutsche, dann ein Jahr vogelfrei. dritte Heimat geworden, diese herrliche Stadt Nach der ‚Austreibung‘ Hessin, dann Schwäbin konnte einen bezaubern, die wunderbare Elisa- (Memmingen), zuletzt bin ich Bayerin. Von hier bethkirche, das Schloss, es lohnt schon eine gehe ich nicht mehr weg, denn ich habe auf dem Reise nach Marburg. Waldfriedhof eine Heimstätte und hoffe, dass Abschied aus Roth 1954/55: Als ich das ich schön eingesungen werde. letzte Mal an der Stadt vorbeifuhr, hat mir das Das Singen musste ich zu meinem größten Herz wehgetan. Ehe ich von Hessen Abschied Schmerz aufgeben, da ich wegen meiner starken nehme, fällt mir noch etwas ein, das mit Singen Sehbehinderung die Noten nicht mehr lesen zu tun hat. Im Schulhaus in Roth war noch eine kann. Ich kenne fast alle Volkslieder auswen- sehr nette Lehrerfamilie, die Frau namens Him- dig, aber die Kirchenlieder leider nicht alle, je- melmann überließ mir ihr Klavier, weil bei doch ganz unterkriegen lasse ich mich nicht. ihnen niemand mehr spielte, das war herrlich. Wenn mir die Decke auf den Kopf zu fallen Aber eines Tages zog sie weg und nahm das scheint, stelle ich mich hin und singe, das gibt Klavier natürlich mit. Da kamen einmal zwei mir neue Kraft und das Bedrückende fällt von vierschrötige Männer und wollten das Klavier mir ab. Das Singen gehört zu meinem Leben, abholen, ich konnte es nicht lassen und spielte wie der Atem und der Herzschlag. noch einige meiner Lieblingslieder, u.a. „Die Dies alles habe ich nicht nur der schönen Er- Himmel rühmen …“ Auf einmal sang der eine innerung wegen geschrieben, sondern weil ich mit voller Stimme mit, er hätte Opernsänger viele Menschen zum Singen und Musizieren an- sein können. Die Lehrersfrau weinte vor Rüh- regen will, damit sie so viel Freude und Kraft rung und dachte, das wäre ein von uns geplantes wie ich daraus schöpfen mögen. In Dankbarkeit Abschiedslied gewesen, dabei war es eine reine danke ich allen Menschen, die mir zu meinem Improvisation. Das Schicksal schenkt uns doch Glück geholfen haben. manchmal eine kleine Sternstunde. Als wir nach Freising kamen, mutete es uns Nachbemerkung von Otto Weimar: Ich habe etwas heimatlich an. Wenn ich mit meinem die Lebenserinnerungen der Else Amsler ver- kranken Mann an der Isar spazieren ging, wan- kürzt wiedergegeben. delte sich in unserer Vorstellung die Isar in die Eger, unseren Heimatfluss, um. – Unsere Bü- cher waren noch in achtzehn „Ami Schachteln“ untergebracht und suchten noch eine Bleibe. Im

Alte Apfelbäume auf einer Streuobstwiese bei Fronhausen: eine Erinnerung an die große Bedeutung, die der Obst- bau für die Ernährung der Bevölkerung hatte (Foto Katharina Müller)

Bücherschau

Jahrbuch 2020 Landkreis Marburg-Biedenkopf. Rekom- sollten. Bemerkenswert ist, dass er sich auch mit der Pflan- Verlag 2019, 272 S., zahlr. Abb. Im aktuellen zung und Pflege von Mirabellen, Aprikosen, Pfirsichen, Kreisjahrbuch habe ich S. 229-232 über das Notizbuch des Maulbeeren und Spanischen Kirschen beschäftigte. Aus Georg Seip aus (1686-1769) berichtet, der seinen Aufzeichnungen ersehen wir eindrücklich, dass 1733 zum Baumgärtner in den Gerichten Reizberg und nicht erst im 19. Jahrhundert der Obstbau intensiviert Caldern bestellt wurde. Darin finden sich neben zahlrei- wurde, als überall in den Dörfern Baumschulen und Streu- chen Angaben zu Wetter, Erdbeben, Kriegsfolgen und po- obstwiesen angelegt wurden, um die Versorgung der Be- litischen Ereignissen auch umfangreiche Notizen zu völkerung mit vitaminreichen, über Winter lagerfähigen Pflege, Anpflanzung und Veredlung der Obstbäume. Eine Früchten zu verbessern und die Auswirkungen der Notzeit erste große Pflanzaktion galt 1735 der Bepflanzung der im Vormärz vor der Revolution 1848 zu lindern, in der Straße zwischen Hermershausen und Allna; dabei seien große Teile der Bevölkerung so verarmten, dass sie Brot zunächst auf jeder Straßenseite 14 Mahlsteine gesetzt und aus gemahlenen Eicheln, Weißdornbeeren (daher „Mehl- danach die Obstbäume gepflanzt worden, wobei die beeren“) oder sogar mit Dachstroh gestrecktem Mehl ba- Bäume und damit auch ihr Ertrag den Anrainern gehören cken mussten, um den ärgsten Hunger zu stillen. SB