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Musikstunde

Wandel als Prinzip zum 200. Geburtstag (2)

Von Michael Struck-Schloen

Sendung: 18. Juni 2019 Redaktion: Dr. Bettina Winkler Produktion: 2019 SWR2 Musikstunde mit Michael Struck-Schloen 17. Juni – 21. Juni 2019 Wandel als Prinzip Jacques Offenbach zum 200. Geburtstag

2. Offenbach und

Am kommenden Donnerstag feiert die internationale Musik- und Amüsierwelt den 200. Geburtstag von Jacques Offenbach. Und für beides ‒ die Musik und das Amüsement ‒ hat der Immigrant aus Köln die wesentlichen Anregungen in Paris bekommen.

Dass Paris etwas Besonderes ist, bekamen und bekommen nicht nur die Leute aus der Provinz zu spüren ‒ und in Frankreich ist alles außer Paris Provinz ‒, sondern auch die Zugereisten. Jacob Offenbach hat seinen deutsch-jüdischen Namen an der Seine bald zu Jacques „Offänback“ geändert. Dass er es dennoch in seinen ersten Pariser Jahren als Cellist in den Salons und im Orchester der Opéra-Comique schwer hatte, habe ich gestern in der Musikstunde beleuchtet. Ins Rampenlicht kam Offenbach erst, als er sich weniger um sein Violoncello als um das Musiktheater kümmerte ‒ nicht um das ernsthafte, staatstragende, das mit Riesenaufwand an der Opéra gepflegt wurde, sondern um die freche und hochaktuelle Opéra-bouffe. Offenbach hat sie zur wichtigsten Gattung im so genannten „Zweiten Kaiserreich“ gezüchtet. Und selbst wenn die Kontakte zwischen dem Komponisten und Kaiser „Napoléon trois“, dem Neffen von Napoleon Bonaparte, minimal blieben, war die Glanzzeit des Kaisers auch die Blüte der Buffo-Oper à la française.

MUSIK 1 Jacques Offenbach 3‘30 Ouvertüre zu „Barbe-bleue“ Münchner Rundfunkorchester Ltg. Ulf Schirmer (RCA 88697234522, LC 00316 ‒ WDR: 6162031110)

Das Münchner Rundfunkorchester mit dem Dirigenten Ulf Schirmer spielte die Ouvertüre zu Offenbachs Opéra-bouffe Barbe-bleue, einer modernen und ziemlich bissigen Variante des Märchens vom Frauenmörder Blaubart.

Musik, die 1866 erstmals im Théâtre des Variétés in Paris erklang. Noch heute gibt es das Theater am Boulevard Montmartre; seine Fassade wirkt mit ihren klassischen Säulen, den Balustraden und altmodischen Laternen wie der Eingang zu einer Akademie oder einem 5-Sterne-Hotel. Innen läuft man am über rote Teppiche, der Saal prunkt in Gold und umhüllt einen mit dem Plüsch vergangener Tage. In den 1990er Jahren war Jean-Paul Belmondo Besitzer des Théâtre des Variétés und ist dort in Boulevardstücken aufgetreten. Heute ist es das Pariser Theater, das trotz aller Umbauten dem Originalzustand der Offenbach-Zeit am nächsten kommt.

Vor dem Eingangsgitter treffe ich mich mit dem Dirigenten und Musikwissenschaftler Jean-Christophe Keck. Im Offenbach- Jubiläumsjahr ist er ein gefragter Mann, denn seit zwanzig Jahren legt er in der „Offenbach Edition Keck“ beim Verlag Boosey & Hawkes bekannte und vor allem unbekannte Offenbach-Werke in kritischen Ausgaben vor. Offenbach ist so zu sagen das zweite Leben des Jean-Christophe Keck,

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der die Noten des Meisters genauso intim kennt wie seine Briefe ‒ wenn sie denn überhaupt zugänglich sind und nicht immer noch von den Mitgliedern der weitverzweigten Nachkommenschaft von Offenbach unter Verschluss gehalten werden. Um daranzukommen, braucht es Fingerspitzengefühl, gute Beziehungen, Chuzpe und auch eine Portion Glück.

Daneben weiß Keck um jeden Schritt, den Offenbach in Paris gemacht hat: von der ersten Wohnung in der Rue des Martyrs über die Theater, wo er als Cellist oder Intendant gewirkt hat, bis zum Sterbehaus am Boulevard des Capucines, nahe der heutigen Oper. Obwohl das Theater der Bouffes-Parisiens heute bekannter ist, hatte Offenbach im Théâtre des Variétés einige seiner größten Erfolge: Die schöne Helena, Blaubart, La Périchole, Die Banditen oder Die Großherzogin von Gerolstein. Das lag nicht nur an seinen frechen Stoffen, sondern vor allem an der Operetten-Diva Hortense Schneider, die damals für Offenbach sang ‒ Jean-Christophe Keck entdeckt im Foyer des Theaters ihr Porträt als Großherzogin mit Reitpeitsche, Schoßhündchen und aufreizendem Blick. Die Schneider war ein Teufelsweib auf der Bühne und der Schwarm von Bürgern und Königen. Und die applaudierten besonders enthusiastisch, wenn die Sängerin an den Grundfesten des Staates kratze ‒ zum Beispiel am Militär.

„Ah, que j’aime le militaire ‒ Wie sehr ich das Militär liebe“, singt die Großherzogin von Gerolstein in ihrer ersten Arie. Wobei sie gleich klar macht, dass ihr Sieg oder Niederlage herzlich egal sind, wenn nur die Krieger gut gebaut sind.

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MUSIK 2 Jacques Offenbach 3‘48 La Grande-Duchesse des Gérolstein (T: Meilhac/Halévy) 1 Akt: Rezit. & Arie der Großherzogin „Vous aimez le danger“ Jane Rhodes (Mezzosopran) Orchestre de Bordeaux-Aquitaine Ltg. Roberto Benzi (EMI Classics 5681152, LC 06646)

Janes Rhodes sang die Arie der Großherzogin von Gerolstein aus Jacques Offenbachs gleichnamiger Opéra-bouffe: Fazit: „Der Krieg? Keine Ahnung, was das ist ‒ ich weiß nur, dass ich die Soldaten liebe!“

Die Großherzogin nimmt sich, was sie will ‒ und wenn sie dafür den attraktiven Gefreiten Fritz zum General machen und im Gegenzug den affigen General Boum degradieren muss. Bei Offenbach bestimmt die Frau selbst ihr Leben und lässt sich darin nicht von gesellschaftlichen Konventionen aufhalten. Das Publikum liebte diese Großherzogin, die 1867 im Théâtre des Variétés herauskam. Selbst der preußische Ministerpräsident genoss eine Aufführung, applaudierte der Diva Hortense Schneider, verließ aber das Theater nach dem zweiten Akt, zündete sich eine Zigarre an und wanderte über den Boulevard zu seinem Hotel. Vier Jahre später demütigte er die Grande Nation, indem er im Spiegelsaal von Versailles das Deutsche Reich gründen ließ.

Natürlich kennt auch der Offenbach-Kenner Jean-Christophe Keck die Anekdote über den späteren „Eisernen Kanzler“. 1867, das Uraufführungsjahr der Großherzogin, markierte schon die Endphase des

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französischen Kaiserreichs und von Offenbachs Glanzzeit. Wir aber wollen uns jetzt dem Beginn dieser Erfolgsstory widmen ‒ und der fand nicht im Zentrum von Paris statt, sondern weit draußen an den Champs- Élysées. Dafür nehmen wir die Métro bis zur Station „Roosevelt“. Zwischen dem Grand Palais und dem Elysee-Palast befindet sich das Théâtre Marigny.

Um 1855 war hier noch nicht viel los, bemerkt Keck über den auffälligen Rundbau, wo damals ein Zauberkünstler sein Publikum unterhielt. Die Gegend war verrucht, erst langsam wandelten sich die Champs-Élysées zur modischen Flaniermeile. Jacques Offenbach aber wusste, dass die Zeit der leichten Damen und dunklen Geschäfte bald vorbei sein würde. 1855 entstanden hier zwischen Seine und Champs-Élysées die Pavillons für die erste Pariser Weltausstellung, das Théâtre Marigny befand sich gleich gegen-über vom riesigen Industriepalast. Wenn er seine Pforten schloss, dann woll¬te das Publikum aus Nah und Fern etwas erleben. Und weil nicht jeder die Droschke in die Innenstadt nehmen wollte, bot Offenbach gleich vor Ort kleine musikalische Komödien mit wenigen Personen und einem kleinen Orchester.

Sein erster großer Erfolg war / Die beiden Blinden ‒ eine Posse über zwei Bettler, die sich auf einer Brücke gegenseitig das Geschäft vermasseln wollen. Um die Machtverhältnisse zu klären, spielt man am Ende um den Standort ‒ wobei natürlich schnell klar wird, dass keiner von beiden wirklich blind ist. Der Streit geht unentschieden aus, am Ende singen beide die Zugnummer des Stücks, einen spanischen Bolero. Hier der Schluss in deutscher Übersetzung mit Erich Hallhuber und Josef Meinertzhagen in den Titelrollen.

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MUSIK 3 Jacques Offenbach 3‘20 Die beiden Blinden (T: Moinaux, dt. von A. Coy) Finale („Geteiltes Leid“) Erich Hallhuber (Gesang) Josef Meinertzhagen (Gesang) Karl-Rudolf Liecke (Erzähler) WDR Funkhausorchester Ltg. Curt Cremer (EP WDR: 6027563101)

Offenbach auf Deutsch: das war das Finale der musikalischen Posse Die beiden Blinden in einer WDR-Produktion aus den siebziger Jahren mit dem WDR Funkhausorchester und dem Dirigenten Curt Cremer.

Natürlich war das keine wörtliche Übersetzung ‒ die wäre heute angesichts der vielen Anspielungen an Offenbachs Frankreich kaum mehr verständlich. Aber man bekommt doch mit, dass die beiden Blinden auf der Brücke eine Art Vorläufer der Bettler in der Dreigroschenoper von Bert Brecht und Kurt Weill sind: Der Kapitalismus bestimmt mit seinen Regeln auch diejenigen, die eigentlich unter ihm leiden.

Sie hören die SWR 2 Musikstunde zum 200. Geburtstag von Jacques Offenbach ‒ und im zweiten Teil begeben wir uns heute ins Paris des Zweiten Kaiserreich, benannt nach der Herrschaft von Napoleon III. Am 5. Juli 1855 hatten Die beiden Blinden unter den Bedingungen Premiere, die die kaiserliche Theateraufsicht den kleinen Häusern zugestand: Erlaubt waren zwei bis drei singende Personen, ein kleines

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Instrumentalensemble und eine einaktige Handlung ‒ eine Beschränkung zugunsten der großen staatlichen Opernhäuser, die der Privatunternehmer Offenbach als Zumutung empfand. Einmal hat er deshalb eine zusätzliche stumme Person eingefügt, der man angeblich die Zunge herausgeschnitten hatte und die ihren Part auf Tafeln ins Publikum hielten ‒ eine Lachnummer, über die sich die staatliche Zensur natürlich ärgerte.

Und weil man Offenbach zuerst nicht an die große Oper oder die Opéra- Comique heranließ, schuf er sein eigenes Genre ‒ ob allein oder parallel zu seinem Hauptkonkurrenten Hervé, darüber streiten sich die Experten. Offenbachs Plan: Er wollte den Franzosen eine anspruchsvolle Musikkomödie geben, die, so schrieb er, „sowohl dem gebildeteren als auch dem breiten Publikum gefallen soll: Harlekinaden und Pantomimen, kleine Opern mit gesprochenen Dialogen, Schwänke, Tänze, Ballette, „Lebende Bilder“ mit Darstellungen der schönsten Werke der Kunstgeschichte usw.“

Das war eine ziemlich große Wundertüte, aus der dann am Ende die „Opéra-bouffe à la française“ heraussprang: eine sehr Parisierische Variante der italienischen Commedia dell’arte, weniger derb als das Vorstadttheater ‒ und vor allem mit einer überraschend anspruchsvollen Musik. Die frivolen Geschichten stellten ihm seine Meisterlibrettisten und Ludovic Halévy in gemeinsamer Fleiß- und Fließbandarbeit her. Kriselnde Ehen, Partnertausch, Parodien klassischer Dramen, skurrile Exoten, betrunkene Ritter, starke Frauen ‒ das war das Repertoire.

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Bald galt Offenbach als „Mozart der Champs-Élysées“, aber musikalisch war er wohl eher ein „Rossini der Champs-Ély¬sées“: Die durchdrehende Mechanik des industriellen Zeitalters versetzte alle in einen Taumel ‒ schon im ersten Stück, mit dem er Ende 1855 sein neues Theater, die „Bouffes-Parisiens“ in der Innenstadt von Paris eröffnete. Die „musikalische Chinoiserie“ Ba-ta-clan spielt, wie es im heißt, in einem „kleinen Staat, in dem Chinesisch gesprochen wird“. Dieses Chinesisch ist allerdings eine klischeehafte Fantasiesprache ‒ und überhaupt entpuppen sich die Hauptpersonen mit den urchinesischen Namen Fé-ni-han, Ké-ki-ka-ko, Ko-ko-ri-ko und Fé- an-nich-ton als waschechte Pariser, die ihre Lebensart auch in der Ferne nicht verleugnen

MUSIK 4 Jacques Offenbach 4‘13 Ba-ta-clan Ba-ta-clan-Lied Huguette Boulangeot (Sopran) Rémy Corazza () Raymond Amade (Tenor) Orchestre Jean-François Paillard Ltg. Marcel Couraud (Erato DUE 20240, LC 00200 ‒ WDR: 6309605101)

Der Marsch aus Jacques Offenbachs Chinoisierie Ba-ta-clan in einer Plattenproduktion mit dem Dirigenten Marcel Couraud.

Die Uraufführung fand allerdings nicht im heutigen -Theater statt, das erst nach dem Siegeszug des Stücks erbaut wurde und vor

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einigen Jahren durch einen islamistischen Terroranschlag traurige Berühmtheit erlangte. Offenbachs „musikalische Chnoiserie“ war das erste Stück für das Theater der Bouffes-Parisiens in der Passage Choiseul zwischen Opéra und Palais-Royal.

Für den Offenbach-Forscher Jean-Christophe Keck sind die Bouffes- Parisiens, wo noch heute Theater gespielt wird, natürlich eine Pflichtstation auf unserer Offenbach-Route durch Paris. Die Concierge öffnet uns den Haupteingang, der heute nicht mehr zur Passage, sondern zur Rue Monsigny führt. Im oberen Teil der Fassade wölbt sich eine seltsamen Blechverkleidung über den Gehweg ‒ hier hat Offenbach das Haus erweitert, um mehr Raum für das zahlende Publikum zu schaffen. Im Zuschauersaal röhrt noch der Staubsauger, im nüchternen Arbeitslicht hängen die Logen wie Girlanden in den Saal; im Parkett sind die Reihen eng, kaum 30 Musiker passen in den Orchestergraben. Bis 1855 gab es hier ein Kinder- und Jugendtheater, das unter Missbrauchsvorwürfen schließen musste – offenbar nicht erst ein Phänomen unserer Tage. Offenbach nutzte die Gunst der Stunde und übernahm das Theater, dessen Mauern noch heute im Besitz der Familie Offenbach sind.

In den Bouffes-Parisiens hat Offenbach peu à peu aus den einaktigen Farcen sein ureigenes Theater entwickelt: die Offenbachiaden. Das erste Beispiel dafür ist zugleich das berühmteste: 1858, nachdem die amtlichen Beschränkungen gelockert worden waren, kommt Orphée aux enfers auf die Bühne. Offenbach und seine Librettisten Hector Crémieux und Ludovic Halévy haben sich ausgerechnet den Urmythos der Musik für ihr Meisterwerk ausgesucht, mit dem einst die Oper ihre Geschichte begann. Aber in diesem in der Unterwelt ist alles auf den Kopf

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gestellt: Der Titelheld, ein abgehalfterter Geigenlehrer, liebt seine Eurydike nicht mehr ‒ und sie ihn auch nicht. Deshalb sind eigentlich beide ganz froh, dass sie in die Unterwelt entführt wird. Dabei hat Orpheus aber nicht mit der „öffentlichen Meinung“ gerechnet, die Offenbach genialer Weise mit einer Altstimme besetzt. Sie zwingt Orphée, seine Ehefrau wieder auf die Erde zu holen. Also sucht er Hilfe bei den schon arg gelangweilten Göttern, die ihrerseits das Abenteuer wittern und gemeinsam zur Hölle fahren.

Mit seinen mythologischen Anspielungen ist Orphée ein Stück für gebildete Leute. Aber man kann auch einfach so seinen Spaß daran haben, darauf haben die Macher geachtet. Und wenn sich der Berufslüstling Jupiter der schönen Eurydike als Stubenfliege nähert, dann ist das nicht nur eine Parodie auf die amourösen Metamorphosen des Göttervaters, sondern auch eine Anspielung auf die Bienen im Wappen von Napoleon III. Und wie Jupiter soll auch der Kaiser verführt haben, was ihm gerade über den Weg lief …

MUSIK 5 Jacques Offenbach 5‘00 Orphée aux enfers (T: Crémieux/Halévy) 2. Akt, 3. Bild: Duo de la mouche (Sopran) Laurent Naouri (Bariton) Orchestre de l’Opéra National de Lyon Orchestre de Chambre de Grenoble Ltg. (EMI Classics 5567252, LC 06646)

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Kaiser Napoleon III. verführt als Fliege das französische Bürgertum in der Gestalt der schönen Eurydike, die sich ihm willig unterwirft ‒ eine wahrhaft brillante Karikatur der Zeit im „Fliegen-Duett“ aus Jacques Offenbachs Orpheus in der Unterwelt. Es sangen Nathalie Dessay und Laurent Naouri in der wundervollen Aufnahme des Orpheus mit Marc Minkowski, der das Orchester der Oper Lyon und das Kammerorchester Grenoble leitet.

Wie aber war überhaupt das Verhältnis von Offenbach zum französischen Herrscher, der nach der Revolution von 1848 als Staatspräsident angetreten war, sich aber bald schon zum Kaiser krönen ließ? Sonderlich oft haben sich Napoleon III. und seine Gattin Eugénie nicht in Offenbachs Musiktheater blicken lassen. Aber wenn man den Offenbach-Herausgeber Jean-Christophe Keck nach Offenbach und der Macht fragt, dann gab es doch sehr viel deutlichere Sympathien des Komponisten für das Kaiserreich als für die nachfolgende Republik. Außerdem hatte Offenbach beste Beziehungen zum Herzog von Morny, dem Paten seines einzigen Sohnes Auguste. Morny war der Halbbruder des Kaisers und als Innenminister und Präsident der gesetzgebenden Versammlung eine Schlüsselfigur im Kaiserreich. Und Offenbach wusste, wie er den Herzog, der überdies Chef der Zensurbehörde war, auf seine Seite zog ‒ einmal, indem er sogar ein Libretto des Politikers vertont hat.

Im Übrigen war Offenbach ein Bewunderer der baulichen Veränderungen, die in Paris vorgingen und die Hauptstadt bald zum Vorbild für ganz Europa machte. Den mittelalterlichen und barocken Stadtgrundriss verwandelte der Präfekt Baron Haussmann in die „Ville lumiére“, die Stadt des Lichtes. Durch große Sichtachsen, Boulevards

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und Parks als imposante Kulisse der Macht inszeniert ‒ immerhin eine mit Kanalisation und Schienennetz. Prachtvolle Bahnhöfe wurden gebaut, und auch bei Offenbach ist die Eisenbahn Tagesthema ‒ zum Beispiel seiner Opéra-bouffe Die schöne Helena: Hier findet der Königssohn Paris in einem Rätselwettbewerb der Griechen die überraschende Lösung ‒ 4000 Jahre vor Erfindung der Eisenbahn.

MUSIK 6 Jacques Offenbach 0‘25 La belle Hélène (T: Meilhac/Halévy) 1. Akt: Dialog „Locomotive!“ Janine Lina, André Dran, Jean Mollien (Sprechstimmen) Ltg. René Leibowitz (Cantus Classics 5.00437, Aufn. 1952, LC 03982)

MUSIK 7 Jacques Offenbach 2‘05 Le vie parisienne (Textfassung Cambreling/Marthaler) 1. Akt: Introduction Ensemble Klangforum Wien Ltg. Sylvain Cambreling (col legno WWE2CD20100 , LC 00645 ‒ WDR: 6191281101)

Die Eisenbahn als letzter Schrei im Zweiten Kaiserreich ‒ auch in Offenbachs Musiktheater. Das war die Rätselszene aus der Schönen Helena und der Chor der Bahnbeamten aus der Opéra-bouffe Pariser Leben ‒ hier in einer ziemlich freien Fassung für die Berliner Volksbühne von und Sylvain Cambreling.

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La vie parisienne, die 1866 kurz vor der zweiten Pariser Weltausstellung auf die Bühne kam, war Offenbachs erste Operette, in der er nicht mehr die Antike oder die Mythologie parodiert hat, sondern seine eigene Gegenwart.

Damals war Offenbach der Star der Pariser Operettenszene. Die Bouffes-Parisiens hatte er schon wieder aufgegeben, aber alle Theater der Stadt wollten seine komischen Werke spielen; von den Einnahmen des Orphée aus enfers konnte er für seine Familie ein Haus in Étretat an der Küste der Normandie kaufen, das er natürlich „Villa Orphée“ nannte. Seit einigen Jahren war der Komponist französischer Staatsbürger und Ritter der Ehrenlegion ‒ und damit, wie Jean-Christophe Keck es nennt, „der französischste unter den deutschen Komponisten seiner Zeit“.

Aber Keck weiß auch, dass sich Offenbach seine Erfolge hart verdienen musste ‒ über geschäftliche Zusammenbrüche und Wiederanfänge, durch ständige Betteleien bei Geldgebern und einflussreichen Politikern, vor allem durch unentwegte Arbeit. Es gibt Erinnerungen der Zeitgenosse, nach denen Offenbach auch bei seinen morgendlichen Empfängen in seiner Wohnung in der Rue Laffitte während der Gespräche an seinen Partituren weitergearbeitet hat; in seiner Kutsche, die ihn zum Theater brachte, hatte er ein Klapptischchen, um keine Zeit zu verlieren.

Und wenn es ein Schlagloch gab, rutschte ihm schonmal die Feder aus ‒ bis heute ist das in manchen Noten zu erkennen. Offenbach war workaholic ‒ und manchmal klingt auch seine Musik danach.

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MUSIK 8 Jacques Offenbach 2‘00 , Ballett 2. Akt: Marsch London Symphony Orchestra Ltg. (Decca 444827-2, LC 00171 ‒ WDR: 6024252202)

Das London Symphony Orchestra spielte unter Leitung von Richard Bonynge einen Ausschnitt aus dem Ballett Le papillon von Jacques Offenbach.

1860 flattert der Schmetterling durch die Pariser Oper in der Rue Le Peletier ‒ einen Bau, der einige Jahre später ein Raub der Flammen und durch den heutigen Palais Garnier ersetzt wurde. Liebend gern hätte Offenbach auch für die kaiserliche Oper mehr Werke komponiert ‒ aber die Arroganz der Pariser Gesellschaft und der Komponisten-Konkurrenz machte ihm immer wieder einen Strich durch die Rechnung.

Mittlerweile bin ich mit Jean-Christophe Keck auf unserer Offenbach- Tour durch Paris vor der imposanten Fassade der Opéra-Comique angelangt. Es ist schon der dritte Bau, der diesen Namen trägt, erbaut erst nach Offenbachs Tod. Aber auch in der alten Opéra-Comique war man, wie in der Opéra, reserviert gegenüber dem Komponisten, der als Tanzmeister des Zweiten Kaiserreichs, nicht aber als ernstzunehmender Komponist galt. Für Keck und seine Kollegen in der Offenbach- Forschung steht fest: In der Hierarchie der Theater standen die Bouffes- Parisiens oder das Théâtre des Variétés unten, die Opéra-Comique und die Opéra oben. Jedes Theater hatte sein Publikum mit bestimmten

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Erwartungen an die Musik und die Handlung ‒ ein Wechseln von einem Genre ins andere war nicht vorgesehen.

„Warum dieses Stück an der Opéra-Comique spielen vor einem Publikum, das auf dieses spezielle Genre nicht vorbereitet ist und davon nur abgeschreckt werden konnte?“ schrieb ungnädig der Kollege , als es Offenbach dann doch mit einem Werk an die Opéra- Comique schaffte. Dieser turbulente , in dem sinnigerweise ein Hund Regierungsgeschäfte übernimmt, wurde von der Presse so niedergemacht, dass das musikalisch hochambitionierte Stück lange Zeit einfach verschwunden war und erst im letzten Jahr in Straßburg wiederaufgeführt wurde.

Aber Offenbach war lernfähig und passte sich mit seinen Stoffen und der Musik der Tradition des Hauses an, in der nicht die großen Historienschinken wie in der Opéra und schon gar nicht die frechen Komödien der Bouffes-Parisiens angesagt waren. Lyrische, private Stoffe aus dem adligen oder bürgerlichen Leben kamen hier gut an ‒ so wie das Mädchenpensionat in Offenbachs Vert-Vert, in der eine Horde jünger Mädchen die richtigen Partner sucht, darunter auch Mimi.

MUSIK 9 Jacques Offenbach 2‘55 Vert-Vert 1. Akt: Arie Mimi „Vert-Vert n’est plus un enfant“ Thora Einarsdottir (Sopran) Philharmonia Orchestra Ltg. David Parry ( Rara ORC41, LC 00691 ‒ WDR: 6180574101)

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Thora Einarsdottir sang die Romanze der Mimi aus dem ersten Akt der opéra-comique Vert-Vert von Jacques Offenbach, den man hinter dieser sanften Musik wohl kaum vermutet hätte.

Zu solchen Vorurteilen kann der Offenbach-Verehrer Jean-Christophe Keck natürlich nur lächeln: Für ihn besteht Offenbachs Genie eben nicht nur in Cancans, Champagnerchören und singenden Stubenfliegen, sondern in der ganzen Vielfalt, die man bei Offenbach findet ‒ von der schlichten Romanze bis zum komplexen Opernfinale wie im letzten Werk Hoffmanns Erzählungen.

Für Paris und Offenbach endete das Zweite Kaiserreich im Jahr 1870 mit dem Ausbruch des deutsch-französischen Krieges. Damit ging die erfolgreichste Phase einer Komponistenkarriere zu Ende ‒ auch wenn Offenbach nach dem Krieg wieder Theater gründete, neue Genres erfand und fieberhaft weiterkomponierte. Nur tat er das vor einem republikanischen Umfeld, das für seinen Humor, seinen Biss und seine Parodien nicht mehr ganz so viel Sinn hatte wie die Gesellschaft im Zweiten Kaiserreich. Im vierten Teil der SWR 2 Musikstunde am kommenden Freitag werde ich darauf zurückkommen.

Schließen möchte ich heute mit einem Liedchen, das sich der Schauspieler, Intendant und Gelegenheitssänger Gustaf Gründgens nach einer Vorlage aus Offenbachs Opéra-bouffe Die Banditen geschrieben hat ‒ im Jahr 1932. Und es beschreibt durchaus treffend die Lage, in der sich Offenbach zeit seines Lebens befand: immer hart am Puls der Zeit, immer auf Risiko spielend, oft gewinnend, manchmal abstürzend. Aber selbst in den heikelsten Lagen gilt, was Gründgens empfiehlt: „Bitte nur nicht gleich den Mut verlieren.“

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MUSIK 10 Jacques Offenbach 3‘25 Couplet: „Bitte nicht nur gleich den Mut verlieren“ Gustaf Gründgens (Gesang) Orchester der Städtischen Oper Berlin Ltg. Hasn Sommer (Electrola 2558, LC 00193 ‒ WDR: 6063351104)

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