Musikstunde Wandel als Prinzip Jacques Offenbach zum 200. Geburtstag (2) Von Michael Struck-Schloen Sendung: 18. Juni 2019 Redaktion: Dr. Bettina Winkler Produktion: 2019 SWR2 Musikstunde mit Michael Struck-Schloen 17. Juni – 21. Juni 2019 Wandel als Prinzip Jacques Offenbach zum 200. Geburtstag 2. Offenbach und Paris Am kommenden Donnerstag feiert die internationale Musik- und Amüsierwelt den 200. Geburtstag von Jacques Offenbach. Und für beides ‒ die Musik und das Amüsement ‒ hat der Immigrant aus Köln die wesentlichen Anregungen in Paris bekommen. Dass Paris etwas Besonderes ist, bekamen und bekommen nicht nur die Leute aus der Provinz zu spüren ‒ und in Frankreich ist alles außer Paris Provinz ‒, sondern auch die Zugereisten. Jacob Offenbach hat seinen deutsch-jüdischen Namen an der Seine bald zu Jacques „Offänback“ geändert. Dass er es dennoch in seinen ersten Pariser Jahren als Cellist in den Salons und im Orchester der Opéra-Comique schwer hatte, habe ich gestern in der Musikstunde beleuchtet. Ins Rampenlicht kam Offenbach erst, als er sich weniger um sein Violoncello als um das Musiktheater kümmerte ‒ nicht um das ernsthafte, staatstragende, das mit Riesenaufwand an der Opéra gepflegt wurde, sondern um die freche und hochaktuelle Opéra-bouffe. Offenbach hat sie zur wichtigsten Gattung im so genannten „Zweiten Kaiserreich“ gezüchtet. Und selbst wenn die Kontakte zwischen dem Komponisten und Kaiser „Napoléon trois“, dem Neffen von Napoleon Bonaparte, minimal blieben, war die Glanzzeit des Kaisers auch die Blüte der Buffo-Oper à la française. MUSIK 1 Jacques Offenbach 3‘30 Ouvertüre zu „Barbe-bleue“ <Track 10> Münchner Rundfunkorchester Ltg. Ulf Schirmer (RCA 88697234522, LC 00316 ‒ WDR: 6162031110) Das Münchner Rundfunkorchester mit dem Dirigenten Ulf Schirmer spielte die Ouvertüre zu Offenbachs Opéra-bouffe Barbe-bleue, einer modernen und ziemlich bissigen Variante des Märchens vom Frauenmörder Blaubart. Musik, die 1866 erstmals im Théâtre des Variétés in Paris erklang. Noch heute gibt es das Theater am Boulevard Montmartre; seine Fassade wirkt mit ihren klassischen Säulen, den Balustraden und altmodischen Laternen wie der Eingang zu einer Akademie oder einem 5-Sterne-Hotel. Innen läuft man am über rote Teppiche, der Saal prunkt in Gold und umhüllt einen mit dem Plüsch vergangener Tage. In den 1990er Jahren war Jean-Paul Belmondo Besitzer des Théâtre des Variétés und ist dort in Boulevardstücken aufgetreten. Heute ist es das Pariser Theater, das trotz aller Umbauten dem Originalzustand der Offenbach-Zeit am nächsten kommt. Vor dem Eingangsgitter treffe ich mich mit dem Dirigenten und Musikwissenschaftler Jean-Christophe Keck. Im Offenbach- Jubiläumsjahr ist er ein gefragter Mann, denn seit zwanzig Jahren legt er in der „Offenbach Edition Keck“ beim Verlag Boosey & Hawkes bekannte und vor allem unbekannte Offenbach-Werke in kritischen Ausgaben vor. Offenbach ist so zu sagen das zweite Leben des Jean-Christophe Keck, 3 der die Noten des Meisters genauso intim kennt wie seine Briefe ‒ wenn sie denn überhaupt zugänglich sind und nicht immer noch von den Mitgliedern der weitverzweigten Nachkommenschaft von Offenbach unter Verschluss gehalten werden. Um daranzukommen, braucht es Fingerspitzengefühl, gute Beziehungen, Chuzpe und auch eine Portion Glück. Daneben weiß Keck um jeden Schritt, den Offenbach in Paris gemacht hat: von der ersten Wohnung in der Rue des Martyrs über die Theater, wo er als Cellist oder Intendant gewirkt hat, bis zum Sterbehaus am Boulevard des Capucines, nahe der heutigen Oper. Obwohl das Theater der Bouffes-Parisiens heute bekannter ist, hatte Offenbach im Théâtre des Variétés einige seiner größten Erfolge: Die schöne Helena, Blaubart, La Périchole, Die Banditen oder Die Großherzogin von Gerolstein. Das lag nicht nur an seinen frechen Stoffen, sondern vor allem an der Operetten-Diva Hortense Schneider, die damals für Offenbach sang ‒ Jean-Christophe Keck entdeckt im Foyer des Theaters ihr Porträt als Großherzogin mit Reitpeitsche, Schoßhündchen und aufreizendem Blick. Die Schneider war ein Teufelsweib auf der Bühne und der Schwarm von Bürgern und Königen. Und die applaudierten besonders enthusiastisch, wenn die Sängerin an den Grundfesten des Staates kratze ‒ zum Beispiel am Militär. „Ah, que j’aime le militaire ‒ Wie sehr ich das Militär liebe“, singt die Großherzogin von Gerolstein in ihrer ersten Arie. Wobei sie gleich klar macht, dass ihr Sieg oder Niederlage herzlich egal sind, wenn nur die Krieger gut gebaut sind. 4 MUSIK 2 Jacques Offenbach 3‘48 La Grande-Duchesse des Gérolstein (T: Meilhac/Halévy) <Track 2> 1 Akt: Rezit. & Arie der Großherzogin „Vous aimez le danger“ Jane Rhodes (Mezzosopran) Orchestre de Bordeaux-Aquitaine Ltg. Roberto Benzi (EMI Classics 5681152, LC 06646) Janes Rhodes sang die Arie der Großherzogin von Gerolstein aus Jacques Offenbachs gleichnamiger Opéra-bouffe: Fazit: „Der Krieg? Keine Ahnung, was das ist ‒ ich weiß nur, dass ich die Soldaten liebe!“ Die Großherzogin nimmt sich, was sie will ‒ und wenn sie dafür den attraktiven Gefreiten Fritz zum General machen und im Gegenzug den affigen General Boum degradieren muss. Bei Offenbach bestimmt die Frau selbst ihr Leben und lässt sich darin nicht von gesellschaftlichen Konventionen aufhalten. Das Publikum liebte diese Großherzogin, die 1867 im Théâtre des Variétés herauskam. Selbst der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck genoss eine Aufführung, applaudierte der Diva Hortense Schneider, verließ aber das Theater nach dem zweiten Akt, zündete sich eine Zigarre an und wanderte über den Boulevard zu seinem Hotel. Vier Jahre später demütigte er die Grande Nation, indem er im Spiegelsaal von Versailles das Deutsche Reich gründen ließ. Natürlich kennt auch der Offenbach-Kenner Jean-Christophe Keck die Anekdote über den späteren „Eisernen Kanzler“. 1867, das Uraufführungsjahr der Großherzogin, markierte schon die Endphase des 5 französischen Kaiserreichs und von Offenbachs Glanzzeit. Wir aber wollen uns jetzt dem Beginn dieser Erfolgsstory widmen ‒ und der fand nicht im Zentrum von Paris statt, sondern weit draußen an den Champs- Élysées. Dafür nehmen wir die Métro bis zur Station „Roosevelt“. Zwischen dem Grand Palais und dem Elysee-Palast befindet sich das Théâtre Marigny. Um 1855 war hier noch nicht viel los, bemerkt Keck über den auffälligen Rundbau, wo damals ein Zauberkünstler sein Publikum unterhielt. Die Gegend war verrucht, erst langsam wandelten sich die Champs-Élysées zur modischen Flaniermeile. Jacques Offenbach aber wusste, dass die Zeit der leichten Damen und dunklen Geschäfte bald vorbei sein würde. 1855 entstanden hier zwischen Seine und Champs-Élysées die Pavillons für die erste Pariser Weltausstellung, das Théâtre Marigny befand sich gleich gegen-über vom riesigen Industriepalast. Wenn er seine Pforten schloss, dann woll¬te das Publikum aus Nah und Fern etwas erleben. Und weil nicht jeder die Droschke in die Innenstadt nehmen wollte, bot Offenbach gleich vor Ort kleine musikalische Komödien mit wenigen Personen und einem kleinen Orchester. Sein erster großer Erfolg war Les deux aveugles / Die beiden Blinden ‒ eine Posse über zwei Bettler, die sich auf einer Brücke gegenseitig das Geschäft vermasseln wollen. Um die Machtverhältnisse zu klären, spielt man am Ende um den Standort ‒ wobei natürlich schnell klar wird, dass keiner von beiden wirklich blind ist. Der Streit geht unentschieden aus, am Ende singen beide die Zugnummer des Stücks, einen spanischen Bolero. Hier der Schluss in deutscher Übersetzung mit Erich Hallhuber und Josef Meinertzhagen in den Titelrollen. 6 MUSIK 3 Jacques Offenbach 3‘20 Die beiden Blinden (T: Moinaux, dt. von A. Coy) <Track 1, ab 23‘18> Finale („Geteiltes Leid“) Erich Hallhuber (Gesang) Josef Meinertzhagen (Gesang) Karl-Rudolf Liecke (Erzähler) WDR Funkhausorchester Ltg. Curt Cremer (EP WDR: 6027563101) Offenbach auf Deutsch: das war das Finale der musikalischen Posse Die beiden Blinden in einer WDR-Produktion aus den siebziger Jahren mit dem WDR Funkhausorchester und dem Dirigenten Curt Cremer. Natürlich war das keine wörtliche Übersetzung ‒ die wäre heute angesichts der vielen Anspielungen an Offenbachs Frankreich kaum mehr verständlich. Aber man bekommt doch mit, dass die beiden Blinden auf der Brücke eine Art Vorläufer der Bettler in der Dreigroschenoper von Bert Brecht und Kurt Weill sind: Der Kapitalismus bestimmt mit seinen Regeln auch diejenigen, die eigentlich unter ihm leiden. Sie hören die SWR 2 Musikstunde zum 200. Geburtstag von Jacques Offenbach ‒ und im zweiten Teil begeben wir uns heute ins Paris des Zweiten Kaiserreich, benannt nach der Herrschaft von Napoleon III. Am 5. Juli 1855 hatten Die beiden Blinden unter den Bedingungen Premiere, die die kaiserliche Theateraufsicht den kleinen Häusern zugestand: Erlaubt waren zwei bis drei singende Personen, ein kleines 7 Instrumentalensemble und eine einaktige Handlung ‒ eine Beschränkung zugunsten der großen staatlichen Opernhäuser, die der Privatunternehmer Offenbach als Zumutung empfand. Einmal hat er deshalb eine zusätzliche stumme Person eingefügt, der man angeblich die Zunge herausgeschnitten hatte und die ihren Part auf Tafeln ins Publikum hielten ‒ eine Lachnummer, über die sich die staatliche Zensur natürlich ärgerte. Und weil man Offenbach zuerst nicht an die große Oper oder die Opéra- Comique heranließ, schuf er sein eigenes Genre ‒ ob allein oder parallel zu seinem Hauptkonkurrenten Hervé, darüber streiten sich die Experten. Offenbachs Plan: Er wollte den Franzosen eine anspruchsvolle Musikkomödie
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