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DISJanuar 2010 PUT

Lothar Bisky: Versuch zur Verdächtigungskultur : Wir haben nach vorne zu schauen Wie schaut’s aus bei der LINKEN in Nordrhein-Westfalen und in Schleswig-Holstein? im Gespräch: »Wir haben eine Riesenchance« zum Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung

Bedarf an Debatte – über Programme, Projekte, Personen und wohl auch über Politik © Erich Wehnert © Erich ZITAT 4 ESSAY Lothar Bisky: Versuch zur Ein Loch ist da, wo etwas nicht ist. Verdächtigungskultur Kurt Tucholsky 6 PARTEI Gregor Gysi: Wir haben nach vorne zu schauen 9 FEUILLETON 10 PARTEI Ulrich Maurer: Wohin gehst du, LINKE? 12 LANDESVERBAND

Zum Wahlprogramm in Nordrhein- Schneider © Anke Westfalen Seit 1993 gibt es die Solidaritäts- projekte »Milch für Kubas Kinder«. 14 LANDESVERBAND Über die Zusammenarbeit berieten Schleswig-Holstein: Auf dem Weg Experten. Seite 36 zu Mitglied 1.300 15 MITGLIEDER Die Neue für Neue 26 DISKUSSION 16 ORTSVERBAND : Eine neue Leonberg – Durchhalten in der Erzählung von links Diaspora 27 FRAKTION 17 TERMINE Zu den Ergebnissen der Klausur

© Repro 18 GEDENKEN 28 PARTEI »Wir haben eine Riesenchance« – Die Neonazis wollen am 13. Februar Bei Rosa und Karl Im Gespräch mit Klaus Ernst in Dresden aufmarschieren. Sie 20 FRAKTION missbrauchen den 65. Jahrestag der Hessen: »Wahlkreisbüro« 33 EUROPÄISCHE LINKE Bombardierung Dresdens, um im Widerstandsdorf Bienvenue à Paris Nazi-Deutschland zum Opfer umzu- deuten. Der Parteivorstand ruft DIE 22 ARBEIT 34 EUROPA LINKE auf, gemeinsam mit anderen Lohndumping in der Drogerie Gabi Zimmer zum Jahr zur den Naziaufmarsch zu verhindern. Bekämpfung von Armut und 23 ARBEIT sozialer Ausgrenzung Interview mit der Schlecker- Betriebsrätin Mona Frias 36 CUBA SI ZAHL DES MONATS Solidarität mit Kuba vor neuen 24 PARTEIDEBATTE Aufgaben 2,09 Vier Antworten auf den Vorstands- brief 38 POLITISCHE BILDUNG Die Monatsrente eines Erwerbslosen Ulrike Zerhau: Das Angebot für ein Jahr Bezug von Arbeitslosen- wächst geld II erhöht sich aktuell nur noch Die 1919 ermordeten Rosa Luxemburg 39 MEDIEN um 2,09 Euro und nicht – wie 2009 und Karl Liebknecht werden an jedem Vor der Linken Medienakademie berechnet – um 2,17 Euro. Darauf zweiten Januarsonntag von vielen verwies Herbert Rische, Präsident tausend Menschen in Berlin geehrt. 40 GESCHICHTE der Deutschen Rentenversicherung, Seite 18 Die Erfahrung der Runden Tische in einem Interview am 16. Januar. Er in der DDR warnte davor, dass aufgrund von 42 INTERNATIONAL Arbeitslosigkeit und Niedriglöhnen Mit Rosa Luxemburg in Israel die Gefahr für Altersarmut steigt. 44 BRIEFE 45 NACHBELICHTET 46 BÜCHER 47 JANUARKOLUMNE

© Erich Wehnert © Erich 48 SEITE ACHTUNDVIERZIG

IMPRESSUM DISPUT ist die Mitgliederzeitschrift der Partei DIE LINKE, herausgegeben vom Parteivorstand, und erscheint einmal monatlich über Neue Zeitungsverwaltung GmbH, Weydingerstraße 14 – 16, 10178 Berlin VERÖFFENTLICHUNG gem. § 7A Berliner Pressegesetz Gesellschafter der NDZ GmbH: Föderative Verlags-, Consulting- und Handelsgesellschaft mbH – FEVAC –, Gesellschafter der FEVAC GmbH: Uwe Hobler, Diplom-Agraringenieur, Berlin (40 Prozent), Dr. Ruth Kampa, Rechtsanwältin, Berlin (30 Prozent), Joachim Philipp, Rechtsanwalt, Berlin (30 Prozent) REDAKTION Stefan Richter, Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin, Telefon: (030) 24 00 95 10, Fax: (030) 24 00 93 99, E-Mail: [email protected] GRAFIK UND LAYOUT Thomas Herbell DRUCK MediaService GmbH BärenDruck und Werbung, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin ABOSERVICE , Druckerei und Verlag GmbH, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, Telefon: (030) 29 78 18 00 ISSN 0948-2407 REDAKTIONSSCHLUSS 18. Januar 2010 DER NÄCHSTE DISPUT 18. Februar 2010

INHALT DISPUT Januar 2010 02 ANGELIKA LINK-WILDEN

Sie ist leidenschaftlich gern Kölnerin und Berufsschullehrerin. In der LINKEN ist Angelika Link-Wilden, 54 Jahre, als stellvertretende Sprecherin des Kreisver- bandes Köln aktiv, und sie leitet die Projektgruppe Mitgliederwerbung. © privat

Was ist für dich links? Ich bin links, Sozialistin, weil ich die Menschen und das Leben liebe. Ich möch- te, dass jeder Mensch in seinem einmaligen Leben nach seinen Bedürfnissen in Würde, materieller Sicherheit, Freiheit und Frieden leben kann.

Was hat dich in letzter Zeit am meisten überrascht? Negativ überrascht hat mich, dass die rechtsradikale Gruppierung »pro Köln« bei der Kommunalwahl stadtweit besser abgeschnitten hat als wir. Positiv überraschend war dann unser Ergebnis bei der Bundestagswahl in einigen »be- nachteiligten« Stadtgebieten: über 19 Prozent.

Worin siehst du deine größte Schwäche, worin deine größte Stärke? Meine größte Stärke ist meine positive Ausstrahlung: Das Glas ist eben halb voll und nicht halb leer. Meine größte Schwäche liegt im Perfektionsanspruch, der mich schon mal vor die eigene Wand laufen lässt.

Was war dein erster Berufswunsch? Ich glaube Floristin, Blumen binden …

Wie sieht Arbeit aus, die dich zufrieden macht? Wenn sie in solidarischer Weise erfolgt und nicht misstrauisch konkurrierend.

Wenn du Parteivorsitzende wärst ...... würde ich die Zusammenarbeit zwischen westdeutschen und ostdeutschen LINKEN forcieren. Wir wissen viel zu wenig über die jeweilige konkrete Arbeit. Es wäre gut, wenn wir uns austauschen könnten; man muss das Rad doch nicht immer wieder neu erfi nden.

Was regt dich auf? Zu erleben, wie stark die Angst vor Ausbildungslosigkeit/Arbeitslosigkeit die Menschen regiert (bestimmt). Es macht mich wütend, immer wieder zu erleben, wie ungleich die Chancen auf ein gutes Leben verteilt sind.

Wann und wie hast du unlängst Solidarität gespürt? Witzig: Auf dem letzten Landesparteitag hat eine »schnarchende Zimmer- genossin« das Bett mit der Badewanne getauscht, damit ich schlafen konnte.

Wovon träumst du? Dass alle unsere Mitglieder aktive Mitglieder wären!

Wofür gibst du gerne Geld aus? Reisen an das Meer, Blumen, Bücher.

Wann fühlst du dich gut? In der Schule: wenn ich sehe, dass meine Schüler/innen engagiert miteinander arbeiten. Bei den LINKEN: wenn Ideen Formen annehmen. Und sonst: wenn ich mit meiner Familie und Freunden bewusst zusammen bin.

Wovor hast du Angst? Dass immer mehr ihr Einzelinteresse über das Gesamtinteresse stellen!

Welche Eigenschaften schätzt du an Menschen besonders? Das Vermögen, Menschen und das Leben zu lieben; Lebensklugheit, Fröhlich- keit, Wärme, Kreativität, Zuverlässigkeit.

Wie lautet dein Lebensmotto? Aus dem »rheinischen Grundgesetz«: »Jeder Jeck is anders« (Jeder Mensch ist anders) und »Et bliev nix wie et wor« (Sei offen für Neuerungen!).

30 DISPUT Januar 2010 FRAGEZEICHEN ESSAY

ric Hobsbawn hat das zwanzigs- werden auch die dritte Wendeschleife zehnten verdächtigen mich die Block- te Jahrhundert treffend als »Jahr- unbeschädigt drehen. Das Phänomen freunde von einst, sie seien lernfä- E hundert der Extreme« bezeichnet. der Verdächtigung wird man nicht be- hig, wir aber nicht. Seit zwei Jahrzehn- Zwischen und in den politischen und seitigen, politische Denunziation nicht ten bin ich für die Vergehen von Lenin, ideologischen Extremen gedieh die durch Dekret abschaffen können. Was Stalin, Ulbricht und Honecker verant- Verdächtigungskultur. Markante histo- aber machbar ist, wäre im 21. Jahrhun- wortlich und verdächtig, irgendetwas rische Daten wurden zu Symbolen der dert die Suche nach zeitgemäßen Lö- gegen das Grundgesetz im Schilde zu zu Beginn des Jahrhunderts noch sozi- sungen neuer Problemlagen ohne ein führen. aldemokratisch vereinten Linken: Be- Mitschleifen der Schablonen der Ver- Ich weiß, diese Verdächtigung willigung der Kriegskredite, Oktober- dächtigungskultur. wird bleiben. Muss aber die Verdäch- revolution, Novemberrevolution, Grün- Stefan Heym, einst von Bürgerbe- tigungskultur der Linken gegenein- dung der KPD, Ebert, Noske und Schei- wegten als »Nestor« der friedlichen Re- ander bleiben? Ich finde nicht. Das demann, Luxemburg und Liebknecht, volution benannt, gab die Auszeich- Wort »Versöhnung«, das Platzeck be- Räterepublik. Sozialdemokraten und Kommunisten gingen getrennte Wege und schlugen aufeinander ein, statt ih- re Kräfte gegen Hitler zu vereinen. Das rächte sich bitterlich. Abtauchen, Exil oder Widerstand und Konzentrations- lager waren verbliebene Möglichkei- Versuch zur ten für die politische Linke bis zum En- de des Zweiten Weltkrieges. Verdächtigungskultur Zwischenzeitlich hatte Stalin »den Wärmestrom in der Geschichte«, wie Heinrich Mann die Oktoberrevolution Von Lothar Bisky nannte, in der sibirischen Kälte des Gu- lag erstarren lassen. Der Kalte Krieg be- setzte nach dem heißen Krieg die Her- zen und Hirne vieler Menschen. Die Ver- dächtigungskultur integrierte die sehr unterschiedlichen politischen Entwick- lungen in hilfreiche Schablonen: Stali- nisten hier, Arbeiterverräter da, »Sozi- aldemokratismus« auf der einen und »Kommunisten« auf der anderen Sei- nungen, die er als Angehöriger der nutzt, scheint mir nicht besonders tref- te galten als kaum zu überbietende pe- amerikanischen Armee im Kampf ge- fend. Ich möchte mich aber ohne jegli- jorative (abwertende) Bezeichnungen. gen die Hitler-Armee bekam, wegen che Verdächtigung mit anderen Linken Die Verdächtigung, der einen oder an- des Koreakrieges zurück, behielt aber über »Fragen moderner, also vorsor- deren »Kategorie« zuzugehören, reich- seine Haltung als Sozialist auch ge- gender Gesellschaftspolitik« (Platzeck) te zur vernichtenden Abstempelung des gen Attacken des Politbüros der SED verständigen können – und zwar unab- jeweils so Benannten. Der Kalte Krieg bei und wurde als Alterspräsident des hängig von der Bewilligung der Kriegs- war die Blütezeit der Verdächtigungs- Deutschen Bundestages brüskiert: Am kredite durch die SPD und den Verbre- kultur, und alle, die da hofften, sie wür- Abend vor seiner Rede ging die Lüge chen Erich Mielkes. de mit ihm verschwinden, gingen in die durch die Sender, er habe -Kon- Die Geschichte bleibt. Sie lässt sich Irre. Gewiss, sie ist heute abgemildert, takte gehabt. Nach seiner Rede blieb weder entsorgen noch »bewältigen« aber sie strahlt noch weitläufi g aus, als die CDU-Front mit einem offensicht- oder hinter Schlussstriche zwängen. ob man immer noch dem Frieden nicht lich schlecht gebildeten Historiker an Sie lässt sich aber diskutieren ohne so ganz trauen könne: als hätten die der Spitze und mit den einstigen Block- verdächtigungskulturelle Hintergründe. Kommunisten noch Budjonnys Reiter- freunden der SED vereint in provoka- Voraussetzung dafür ist, sich gegensei- armee im Verborgenen zur Verfügung tiver Haltung formiert – für alle Medi- tig Lernfähigkeit zuzugestehen, auch oder die Sozialdemokratie Noske im en erkennbar. Motto: Wer mit der PDS Mitgliedern anderer Parteien. Es sollte Hinterhalt versteckt. etwas macht, egal was, ist des Hoch- das Vorurteil der Konservativen bleiben, Die Rechte freut sich diebisch. Sie verrats auf jeden Fall verdächtig oder sich allein Lernfähigkeit zuzuschreiben hat, von den Rechtsextremen abgese- längst überführt. und andere auszugrenzen. Exklusi- hen, Hitler aus ihrer Geschichte ent- Seit zwei Jahrzehnten höre ich jetzt on unter- oder gegeneinander scheint sorgt und Stalin gegen die Linke wie- ohne nennenswerte Pause, dass die mir für eine plurale Linke, wie sie sich derbelebt: Die Enkel Hitlers siegen über Partei, die ich vertrete, längst oder bald praktisch herausgebildet hat, unbe- die Enkel Stalins, und die Schabowskis gestorben sein wird. Seit zwei Jahr- gründet und unangemessen. Inklusi-

DISPUT Januar 2010 04 on bedeutet ja nicht, eigene Überzeu- Pluralität und Produktivität zusam- jetischen Film. Es könnte »Schlacht un- gungen und Ziele preiszugeben, son- men zu denken, die Unterschiedlich- terwegs« gewesen sein. Darin gibt es dern sich auf einige Gemeinsamkeiten keit als Chance, nicht als Gefahr zu neh- eine Szene, in der ein Parteimitglied zu einigen, die sich im Alleingang nicht men, das fällt durchaus schwer. Dabei eines Werkes den Parteisekretär an- verwirklichen lassen. Das durchsich- hat die Skepsis von Linken gegen die ruft, um sich bitter über ein anderes tige Ausgrenzungsritual der CDU bin- Veränderungen gute Gründe. Der Neo- Parteimitglied zu beschweren. Der Par- det die SPD strategisch an Große Koali- liberalismus hat die Liberalisierung teisekretär unterbricht diese Denun- tionen und in die Opposition. Am Aus- der Märkte in die Finanzkrise gesteu- ziation und verbindet telefonisch den grenzungshalsband führt die CDU die ert, die Flexibilisierung der Arbeit in Kritisierer mit dem Kritisierten. Eine SPD vor und durchs Land. das Prekariat, die Privatisierung in ein symbolträchtige Szene aus Tauwetter- Verdächtigung entsteht sowohl aus Instrument zur zügellosen Enteignung Zwischenzeiten. Endlich wäre es mög- Unsicherheiten als auch aus übertrie- der Kommunen und Nationen zuguns- lich, diese Methode in Parteien zur All- benen Gewissheiten, vulgär: Rechtha- ten der Aufrechterhaltung des Casino- tagskultur zu entwickeln. Es handelt sich um wahre Denunziationshemmer und Entwicklungsbeschleuniger einer produktiveren politischen Kultur. Das Eigentümliche von gegenwärti- gen Denunziationen besteht in der Tat- sache, dass dem Wesen ideologischer oder politischer Denunziation die Ab- weichungsvermutung unterstellt ist, eine Abweichung von der vermeint- lich richtigen »Linie« sei gegeben. Nun gibt es gerade in pluralen Parteien kei- ne eindeutige Linie, von der man Mil- limeterabweichungen messbar nach- weisen könnte. So wird denn von einer mutmaßlichen Abweichung von einer vermuteten scharfen Trennlinie ausge- gangen – ein absurder Vorgang. Vergleichbar ist er mit der Manipula- tionserwartung gegenüber Massenme- dien. Gerade unter Linken ist der Ma- nipulationsverdacht gegenüber Medi- berei. Die erbitterten Kämpfe um die Kapitalismus. The winner is … Acker- en weit verbreitet, und das nicht sel- »richtige« Auslegung der programma- mann. Wer wollte da noch der Verdäch- ten berechtigt. Zugleich wird alles, was tischen Gerippe, an die sich alle klam- tigungskultur widerstehen! Medien berichten, für bare Münze ge- mern, wurzeln eher in einer Furcht denn Die praktizierte Verdächtigungs- nommen. So nimmt man gerade Äuße- in einer produktiven Nutzung von Plu- kultur heißt Denunziation. Denunziert rungen anderer Linker, die direkt oder ralität. wird zumeist nicht die Nachricht. Son- indirekt oder gewissermaßen als Me- Interessenvertretung arbeitender dern die Denunziation bleibt am Über- taäußerungen oft aus jeglichen Zusam- Menschen ist im 21. Jahrhundert kom- bringer der Nachricht kleben. Die Ge- menhängen gerissen sind, wie empiri- plizierter geworden, wo es neben der schichte des Staatssozialismus ist reich sche Beweise. So mutiert die Manipu- Industriearbeiterschaft nunmehr auch an Geschichten, in denen die Politbü- lationserwartung überraschend zur Be- ein »Informationsproletariat« zu ver- ros nicht die kritisierten Zustände be- weislast. treten gilt, das in einem weiten Sin- seitigten, sondern diejenigen straften, Wer sich sorgfältig mit den zahlrei- ne mit der Produktion, Verbreitung die über sie berichteten. Sachlich ging chen Revisionsverfahren nach der Wen- und Speicherung von Information be- und geht es um Verunglimpfung der de befasst, kann studieren, wie aus Zu- fasst ist, vorwiegend in prekären Be- Nachrichtenquelle. Subtile Methoden sammenhängen gerissene Äußerun- schäftigungsverhältnissen, in Routine gestatten erfahrenen Denunzianten, gen zur Knetmasse von Parteirepressi- und Kreativität: den Rohstoff Informa- sich der Denunziation des einen durch onen geformt worden sind. Eine Lehre tion nutzend, ohne ihn zu verbrauchen. Anbiederung beim anderen zugleich zu daraus sollte sein: präzise mit Äuße- Die Informations- und Wissensgesell- bedienen. Ideologische Scharfrichterei rungen, mit Texten umzugehen, den schaft schiebt sich in die Industriege- feiert heute gelegentlich im Internet Humus für Verdächtigungskulturen sellschaft. Beide ergeben eine neue so- fröhliche Urständ, als hätte es die ver- austrocknen zu lassen. Es liegt in unse- ziale Mixtur, eine Architektur der Ge- hängnisvolle Denunziationsgeschichte rer Hand, aus derartigen Lehren denun- sellschaft, die nicht nur in traditionel- der Linken nie gegeben. ziationsfreie Kommunikationsräume zu len Bahnen läuft. Vor längerer Zeit sah ich einen sow- entwickeln.

50 DISPUT Januar 2010 Wir haben nach vorne zu schauen Aus der Rede von Gregor Gysi beim politischen Jahresauftakt der Bundestagsfraktion am 11. Januar in Berlin

Ich wünsche euch allen ein wirklich funden haben, die der Bedürfnis- und West, mit allen Strömungen usw. bis sehr gutes Jahr 2010. Und damit mei- Interessenlage der Bürgerinnen und wir Kompromisse gefunden haben und ne ich zunächst einmal: Ich wünsche Bürger entsprachen. Hätten wir auf fal- gesagt haben: Ja, mit diesen Kompro- euch Gesundheit – die geht immer vor sche Themen gesetzt, hätten wir uns missen können wir doch in den Wahl- –, dann wünsche ich euch allen priva- mit Dingen beschäftigt, die die Leute kampf ziehen. Das ist übrigens nicht tes Glück – wenn ihr nämlich privat un- gar nicht unmittelbar interessiert hät- undemokratisch. Das ist auch nicht glücklich seid, könnt ihr auch politisch ten, wären wir bei Wahlen auch nicht verantwortungslos, sondern ganz im nicht erfolgreich sein. Und dann wün- erfolgreich gewesen. Das ist deshalb Gegenteil das einzige, was Verantwor- sche ich euch allen politische Erfolge – so wichtig, weil es einige bei uns im- tung ausmacht: sich selber nicht so soweit ihr mit mir übereinstimmt. mer gibt, die denken, sie beschließen wahnsinnig wichtig zu nehmen, son- Mit der letzten Einschränkung ma- die Themen. Und sie denken sogar, dern in erster Linie an die Bürgerinnen che ich auf ein Problem aufmerksam, sie können beschließen, welche The- und Bürger im Lande zu denken. (...) das uns gegenwärtig sehr beschäf- men die Bürgerinnen und Bürger zu Wir brauchen einen Spürsinn für Re- tigt. Ich meine das gar nicht nur posi- interessieren haben. Aber sie interes- levanzen. Wir brauchen einen Blick für tiv, sondern auch ironisch. Ich möchte sieren sich für diese Beschlüsse nicht. die wesentlichen Konfl iktlagen in der euch gleichzeitig herzliche Grüße von Es sind immer die Realitäten, die die Gesellschaft, für verletzte Gerechtig- übermitteln, den ich Menschen bewegen. Deshalb müssen keit und Würde. Wir brauchen einen vor Kurzem besucht habe. Wir haben wir nach den Themen suchen, die die Wahlkampf und Wahlprogramme, die ein sehr schönes langes Gespräch ge- Menschen tatsächlich bewegen und Bedeutung für die Leute haben – nicht habt. Ich freue mich, dass es ihm ge- nicht von denen wir uns wün schen, in der ersten Linie für uns. Wir müssen sundheitlich besser geht, aber der dass sie sie bewegen mögen. Das kön- wiederum lernen, Konfl ikte in produk- Prozess ist noch nicht abgeschlossen. nen wir zwar immer gerne zusätzlich tiver Weise – auch innere Konfl ikte – Und jeder, der denkt, dass er auf ei- versuchen, aber die eigentlichen The- zu behandeln und zu lösen. Ich sage es ne kleine Personalie oder andere Din- men, die sie bewegen, müssen unser ganz klar: Es ist jetzt bei uns ein Klima ge wartet, irrt sich komplett. Oskar La- Maßstab sein. der Denunziation entstanden. Ich fi n- fontaine ist vieles, aber nicht kleinka- de dieses Klima unerträglich. Ich wer- riert. Seine Entscheidung hängt aus- de mich daran nie beteiligen. Tragfähige Kompromisse schließlich davon ab, ob er das Ganze Unsere gegenwärtigen Probleme gesundheitlich verkraftet. Aus der Po- Das Zweite ist: Wir haben bestimmte haben bekanntlich mit einem Artikel litik ist er sowieso nicht zu verdrängen. Themen doch nicht erst im Wahlkampf begonnen – und ich sage das hier auch Das möchte ich auch allen Vertreterin- besetzt, sondern vier Jahre lang von so offen, obwohl ich ihn sehr mag: Da nen und Vertretern der Medien sagen. 2005 bis 2009 – immer wieder, parla- war der Bundesgeschäftsführer ge- Keine falschen Hoffnungen! Er bleibt mentarisch und außerparlamentarisch. genüber einem Vorsitzenden nicht lo- ja mindestens in der Landespolitik. Deshalb waren wir in diesen Themen yal. Und das hat Folgen, weil dann das Wenn es jemanden gibt, der auch aus glaubwürdig. Hätten wir erst im August Vertrauensverhältnis in der engeren der Landespolitik heraus permanent 2009 angefangen, diese Themen zu Führung beschädigt ist. Das war das Bundespolitik machen kann, dann Os- besetzen, hätten wir gar keine Chance Erste. Ihr könnt alle davon ausgehen, kar Lafontaine. Aber ich hoffe, dass er gehabt. Das erlebt doch jetzt die SPD, dass wir das alle mitbekommen haben. auch funktional in der Bundespolitik wenn sie einfach einmal eine Positi- Da wir das alle mitbekommen haben – bleibt – im , beim Parteivor- on um 180 Grad dreht. Damit wirst du wir sind ja auch nicht dämlich –, ha- stand. Ich habe diesbezüglich länger doch nicht glaubwürdig. Deshalb ist es ben wir natürlich darüber nachgedacht, gesprochen als er, weil ich bessere Ar- wichtig, dass wir diesbezüglich durch wie wir das Problem wieder lösen. Nun gumente hatte. Aber letztlich muss ich Kontinuität Glaubwürdigkeit erlangen. gab es aber – ich gebe das hier mal akzeptieren: Die Gesundheit geht vor. Drittens: Wir haben in unserer Par- ganz genau an – Mitarbeiterinnen und Es wird nicht mehr allzu lange dauern tei tragfähige Kompromisse dort er- Mitarbeiter der Fraktion und von Bun- und dann werden wir seine Entschei- reicht, wo wir sie brauchten, weil es destagsabgeordneten, die fürchteten, dung erfahren. Und wenn wir sie erfah- eben unterschiedliche Auffassungen dass wir das doch nicht mitbekommen ren haben, werden wir mit beiden Va- gab. Ich erinnere an unseren Partei- haben, und meinten, sie müssten nun rianten umgehen müssen. Wir können tag im Juni (2009) in Berlin. Ich erin- eine Erklärung formulieren, aber die- uns nicht zurückfallen lassen. Auf gar nere daran, wie alle Medien davon se nicht an uns schicken, um zu sagen: keinen Fall. Wir haben nach vorne zu überzeugt waren, dass wir Ideologie- »Falls ihr es nicht mitbekommen habt, schauen und auch nach vorne zu ge- schlachten erleben werden, so dass wir wollten euch auf dieses und jenes hen. (...) wir ohne jede Chance diesen Partei- hinweisen«, sondern es natürlich ver- Im Jahre 2009 waren wir erfolgreich. tag wieder verlassen. Ich erinnere dar- öffentlichen, damit es alle mitbekom- Darauf hat Lothar (Bisky) hingewiesen. an, dass es eine Führung gab, die sich men. Ich weiß nicht, ob die Abgeordne- Wir hatten ein sehr gutes Bundestags- dann ausnahmsweise einmal vorher ten, deren Mitarbeiter es waren, davon wahlergebnis. Ich glaube, das hing da- Gedanken gemacht hat, Gespräche wussten. Wenn sie davon wussten, sa- mit zusammen, dass wir Themen ge- organisiert hat und zwar mit Ost und ge ich ihnen hier auch ganz klar – ich

PARTEI DISPUT Januar 2010 06 habe heute die Absicht, mich zwischen wa mit einem Brief. Was sie, glau- macht. Nun können die Landesvorsit- alle Stühle zu setzen –, dann fi nde ich be ich, nicht eingeschätzt haben, ist, zenden West darüber beraten, wie sie das ein bisschen feige; sagt es selbst, dass daraufhin eine Telefonkonferenz als Nächstes reagieren. Und dann ma- schickt nicht eure Mitarbeiterinnen der zehn Landessprecherinnen und chen wir wieder eine Sitzung der sechs und Mitarbeiter vor. Als Anwalt füge Landessprecher und Landesvorsitzen- Landesvorsitzenden Ost und die ge- ich hinzu: Wenn es so war. den West begann und man nun darü- ben wieder eine Erklärung ab. Das ist Aber gut, nun war es veröffentlicht ber nachdachte, wie man doch darauf eine dolle Kiste, die uns da eingefal- und die dachten: Da haben wir doch ei- antwortet. Da kam keine gemeinsame len ist. Ich möchte bloß daran erinnern, nen schönen Punkt gesetzt. Jetzt kom- Erklärung heraus, sondern Briefe an als das Ganze anfi ng, hat ja keiner da- men natürlich meine sechs ostdeut- mich als Unzuständigen. Das Letztere mit gerechnet, dass es so endet. Viel- schen Landesvorsitzenden und sagen: fi nde ich sehr gut. Ich werde sie auch leicht sollten wir einmal lernen, bevor »So geht es nun nicht«, weil sie sich an nicht zurückschicken, da ich mich ger- wir A sagen, darüber nachzudenken, etwas erinnern, was man nicht verges- ne in Dinge einmische, die mich nichts dass auch B, C und D folgen. Vielleicht sen darf, und zwar selbst die, die Diet- angehen. Aber abgesehen davon, sa- sollten wir das einmal lernen. mar Bartsch nicht leiden können, dür- ge ich auch, mit welchem Problem das Jetzt kommen zwei weitere Dinge. fen nie vergessen, dass das dennoch Ganze zusammenhängt. Es hängt na- Anfangen tut immer der Erste, dann © Erich Wehnert © Erich stimmt: Er hat sich riesige Verdienste türlich damit zusammen, dass wir im kommt der Zweite – ich habe das al- erworben um die Entwicklung unserer Augenblick ein Vakuum haben. Einer les in der Reihenfolge geschildert –, Partei. unserer Vorsitzenden sitzt in Europa dann kommt der Dritte, usw. Das ist und der andere war krank. Da drängeln mir schon ganz klar. Hätte Dietmar sich zu viele herein. Dann besteht na- Bartsch seinen Fehler nicht begangen, Im Augenblick ein Vakuum türlich eine gewisse Hoffnung, dass ich wäre das Ganze nicht gekommen. Hät- Ich mache es ganz kurz: Er wurde Bun- vielleicht das eine oder andere noch te es nicht als Erstes die Erklärung der desschatzmeister zu einer Zeit, als ausgleichen könnte. Deshalb verste- Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ge- sein Vorgänger gerade in Untersu- he ich dann auch, dass man an mich geben, weil sie sich hätten denken chungshaft saß. Schon vergessen? schreibt. Dass man an mich schreibt, können, dass wir vielleicht selber da- Aber ich nicht. Und er hat die ganze ist auch harmlos. Ich lese das alles ar- rüber nachdenken, wie wir das Ganze Situation hervorragend gemeistert. Er tig, denke darüber nach etc. Das ist al- lösen, hätte es die Erklärung der Ost- war und ist auch ein sehr guter Bun- les versprochen. Das Problem ist, dass deutschen nicht gegeben. Hätte es die- desgeschäftsführer. Er war auch ein es dann eben zum Teil öffentlich wird. se Erklärung nicht gegeben, hätte ... – guter Wahlkampfl eiter etc. Ich kann Dann hat Lothar einmal ein klares Wort Soll ich es noch einmal machen? Es ist das alles aufzählen, das ist gar nicht gesprochen. Daraufhin meinten natür- doch wohl deutlich geworden, wie das nötig. Also, die sechs Vorsitzenden lich meine sechs ostdeutschen Lan- Ganze eskaliert und was wir eigentlich meinten, daran noch einmal erinnern desvorsitzenden, dass sie sich dazu zu vermeiden haben. (...) zu müssen mit einer wiederum zu ver- auch noch einmal öffentlich erklären Wisst ihr was, Genossinnen und öffentlichenden Erklärung – nicht et- müssen. Das haben sie dann auch ge- Genossen, ich glaube, dahinter steht

70 DISPUT Januar 2010 ein Wunsch, den ich überhaupt nicht sich auch nicht vereinigen. Dann will noch gar nicht Stellung nehmen wollen. teile: Es gibt bei einigen Genossin- man nur Recht haben. Das ist aber viel Wo wir noch sagen: Wir brauchen noch nen und Genossen in den alten Bun- zu wenig. Damit lösen wir unsere Pro- zwei Jahre Basisdemokratie, und die desländern die Vorstellung – sie wer- bleme nicht. Union sagt: Tut uns leid, wir setzen es den es nicht so denken, sie werden es Natürlich gibt es unterschiedliche trotzdem auf die Tagesordnung. Dann nicht so fühlen, sie werden es nicht so politische Traditionen. Nicht wenige müssen wir uns am Dienstag verstän- sagen, aber im Kern steckt es dahinter Mitglieder in den alten Bundeslän- digen, was wir am Donnerstag dazu sa- –, dass doch die östlichen Landesver- dern sind bestimmten Gruppen bei- gen. Das ist manchmal unangenehm, bände ihnen beizutreten haben. Sie getreten in früherer Zeit in dem Wis- aber wir haben keine andere Chan- sollen eigentlich so werden, wie sie sen, dass sie sich damit an den Rand ce. Diese Tatsache müssen wir endlich schon sind. Und es gibt im Osten – ich der Gesellschaft stellen. Viele im Os- nutzen, um zu sagen: Es gibt eine Fül- habe doch gesagt, ich setze mich heu- ten kamen aus der SED. Sie waren so- le von Gemeinsamkeiten aller Mitglie- te zwischen alle Stühle – nicht wenige, zusagen Mitglieder der Machtstaats- der der Partei DIE LINKE, und die stel- die denken: Wir brauchen einmal den partei und wurden ausgegrenzt. Das len wir in den Vordergrund. Das Tren- umgekehrten Vorgang. Der Westen hat war doch nicht ihre Entscheidung. Sie nende behandeln wir auch, aber wir beizutreten und hat so zu werden, wie haben doch nicht gesagt: »Ich möch- vergessen nicht unsere Gemeinsam- wir schon sind. te jetzt gern an den Rand der Gesell- keiten. Die machen wir deutlich. (...) Ich möchte euch bloß eins ganz schaft«, sondern da wurden sie hinge- Wir haben eine riesige Verantwor- klar sagen: Weder für den einen noch stellt. Das ist ein riesiger Unterschied. tung, der wir gerecht werden müssen. für den anderen Beitritt stehe ich zur Es gibt eine unterschiedliche Kultur Wir werden das packen – ich bin da- Verfügung. Ich will eine Vereinigung – und unterschiedliche Problemlagen. von überzeugt. Die Hoffnungen eini- nichts anderes. Ich will nicht, dass die Die Fraktionen in den Landtagen ha- ger, dass wir in Aufl ösung sind, sind PDS über die WASG siegt. Und ich will ben ganz unterschiedliche Stärken. Im Quatsch. Und ich sage es hier auch nicht, dass die WASG über die PDS Westen gibt es eine Betonung, eine Ar- ganz klar: Unser Parteivorstand ist we- siegt. Ich will etwas Neues. Etwas Neu- tikulation der politischen Interessen, der die »junge Welt« noch das »Neue es, das heißt DIE LINKE, wo der Unter- auch solcher, die von der SPD aufge- Deutschland«, geschweige denn der schied Ost – West nicht relevant ist. ben worden sind. Im Osten sind wir ei- »Spiegel« oder »Stern online«. Wir (...) ne Volkspartei. Neben der Artikulation sind unsere Partei! Ich sage euch noch etwas: Vereini- klassischer linker Themen tritt die Arti- Und deshalb sage ich euch zum gung verträgt weder Besserwisserei kulation der sogenannten Ostinteres- Schluss: Diese Gesellschaft braucht noch Wichtigtuerei. Das sind auch ver- sen und die Zuständigkeit für alle Fra- innerhalb und außerhalb der Parla- breitete Erscheinungen in allen Partei- gen. Wenn du aber für alle Fragen zu- mente eine starke LINKE. Wir sollten en – leider auch bei uns. Vereinigung ständig bist, verhältst du dich anders. endlich lernen, uns nicht regelmäßig ist aber nicht Gleichmacherei. Das geht (...) dann zu beschädigen, wenn es ande- auch gar nicht. Das ist auch gar nicht re nicht können. Medien taugen nicht hinzubekommen. Sondern wir haben für innerparteiliche Auseinanderset- Beitrag zur Vereinigung leisten natürlich Unterschiede zwischen den zungen. Denunziationen sind immer Landesverbänden Ost und West. Es Deshalb sage ich ist die spannen- von Übel. Wir haben eine Verantwor- bringt auch gar nichts, diese zu leug- de Frage: Wie kommen wir zur Verei- tung – hier in Deutschland und in Eu- nen. Also zum Beispiel die Herkunft nigung? Nun habe ich gesagt, erstens ropa. Ich erwarte von uns allen einen und soziale Verankerung der Mitglie- müssten wir lernen, endlich einmal ein aktiven politischen Kampf, eine aktive der ist sehr unterschiedlich. Das liegt Zentrum zu organisieren in unserer Par- politische Auseinandersetzung. Über- zum Beispiel daran, dass im Osten die tei. Es ist zu klein. Es ist nicht organi- legen, wie wir unseren Einfl uss erhö- Eliten abgewickelt wurden. Dadurch siert. Es ist nicht erkenntlich. Ich bin hen können. Ich erwarte von uns allen, sind natürlich aus den früheren Eliten auch das Zentrum nicht gern fast allein. dass wir innerhalb unserer Partei auf- zur PDS mehr gekommen, als aus den Also, wir müssen uns Gedanken ma- hören, besserwisserisch, wichtigtue- bestehenden Eliten in den alten Bun- chen: Wie bekommt man so etwas hin? risch und eben gar denunziatorisch zu desländern zur WASG gegangen sind. Das ist nicht so leicht, weil sich andere sein. Dass jede und jeder bereit ist, ei- Das kann man sich doch ausrechnen. Dinge leichter organisieren lassen als nen Beitrag zur Vereinigung zu leisten, Die Ostdeutschen kommen mit der Er- ein Zentrum. Aber wir müssen uns dar- das heißt nicht nur andere ändern will, fahrung eines politisch und ökono- um Gedanken machen. (...) sondern auch sich selbst. Das klingt misch gescheiterten Staatssozialis- Das Letzte, das Vierte, was uns leicht, ist aber eher schwierig. Wir ste- mus. Die Westdeutschen kommen mit strukturell gelingen muss, ist die Bun- hen aber in der Verantwortung, täglich der Erfahrung eines immer ungerech- destagsfraktion. Wenn wir in der Bun- einen höheren Beitrag zu leisten, dass ter werdenden Kapitalismus, mit der destagsfraktion keine Vereinigung hin- diese und andere Gesellschaften fried- Erfahrung, dass es mit dieser Struktur bekommen, kann es in der Partei über- licher, sozial gerechter, nachhaltig nicht funktioniert. Das sind aber unter- haupt nicht gelingen. Wenn es aber in ökologischer, gleichberechtigter, das schiedliche Erfahrungen, die auch zu der Bundestagsfraktion gelingt, dann heißt auch feministischer, rechtsstaat- unterschiedlichen Reaktionen auf be- haben wir auch gute Chancen in der licher, demokratischer und auf dieser stimmte Erscheinungen in der Gesell- Partei. Und deshalb muss es dort ge- Basis endlich wirklich frei werden. Wir schaft führten. Ich will doch nicht mehr, lingen. Die haben ihre Vor- und Nach- sind eine demokratisch sozialistische als dass wir uns, jede und jeder, sich teile. Der Vorteil ist: Wir müssen im- Partei und sollten lernen, uns auch so immer wieder überlegen, dass wir Ver- mer gemeinsam Politik vertreten. Der zu benehmen. ständnis für die anderen entwickeln – Nachteil ist: Wir bestimmen nicht die nicht, dass wir so werden, wie die an- Tagesordnung allein, sondern andere Die Rede wurde redaktionell stark ge- deren sind. Aber wenn man kein Ver- mit. Deshalb zwingen sie uns, zu Fra- kürzt und ist vollständig im Internet zu ständnis entwickelt, dann möchte man gen Stellung zu nehmen, zu denen wir hören unter www.linksfraktion.de

PARTEI DISPUT Januar 2010 08 er erste Monat im zweiten Jahr- stritten. So geraten dann »junge Wilde« zehnt des dritten Jahrtausend und »alte Grauköpfe« aneinander. Und D ist um. Was gab es nicht an gu- Gesine versucht als »Super-Nanny« ten Vorsätzen bei Regierenden und Op- zu schlichten. Eigentlich alles normal, ponierenden? Doch die Überschrift der weil alles ringsum noch unnormaler meisten Kommentare lautet: Fehlstart! ist. Aber wir können nicht ewig von den Die Regierung Westermerkel war als Fehlern der anderen Parteien leben. »Liebesheirat« annonciert, erweist sich Meine linke Basisgruppe, deren Mit- aber als bürgerliches »Zweckbündnis« glieder und Sympathisanten ein Leben gegen den Linksrutsch. Die Kanzlerin lang für eine bessere, gerechtere und kaut am missratenen Klimagipfel. Den friedlichere Welt gestritten haben, trifft Vizekanzler plagt seine Profilneuro- sich inzwischen bald öfter auf dem se. Der Arbeitslosenminister versucht Friedhof als im Versammlungsraum. zu beweisen, dass 2 + 2 = 3 ist. Der Fi- Bei uns kommt kaum noch einer auf die nanzminister weiß, dass das dicke En- Leiter, wenn Wahlplakate aufzuhängen de noch kommt. Der Wirtschaftsminis- sind. Umso größer war die Freude über ter bastelt an Büttenreden. Der Vertei- jedes Prozent im Wahlkreis. Die Alten in digungsminister schult um auf Kriegs- meiner Gruppe haben »im früheren Le- minister und schafft Ersatz an allen ben« – als es noch »weise Führer« und fremden Fronten. Und alle zusammen, eine »wissenschaftliche Theorie« gab – die geschworen haben, für das Wohl alles mitgeschrieben, vieles nachgebe- des Volkes zu wir- tet und das meiste mitvollzogen. Das ken, beschließen als ging durch innere und äußere Umstän- Fehlstart Geschäftsführer der de an den Baum. Nach der Kehrtwen- Bosse, Banker und de haben sie – ohne Parteilehrjahr und Börsianer neue Ver- Mitschreiben – eine Menge dazuge- ordnungen, die das lernt. Sie wissen jetzt, dass Macht den Volk melken und die Charakter verderben kann. Dass Wi- Sahne nach oben derspruch und Widersprechen lebens- schleudern zu den wichtig sind. Dass eine Zwangsbeglü- Von Jens Jansen verarmten Geldhai- ckung des Volkes nicht funktioniert. en, Hotelbesitzern Dass das Ringen um demokratische und Erben der Begüterten. Mehrheiten ein langer steiniger Weg ist. Während die Zustände in Deutsch- Erst recht, wenn die Medien aus jedem land eine Aufforderung zum Tanz sind, X ein U machen können. Meine Weg- widmen sich Teile der Linken dem genossen verfolgen mit wachem Ge- Schattenboxen. Die Wahlen brachten spür, was unter der dreimal veränder- einen starken Vertrauensvorschuss, ten Fahne zu machen ist. Sie merken, aber der kann selbst bei Frost weg- dass der Leim zwischen den Ost- und schmelzen. Wenn es zehn Flügel und Westlinken noch nicht trocken ist. Sie keinen Kopf gibt, kann der »rote Adler« haben deshalb auch zu dem internen nicht abheben, nur abstürzen. Wer im Streit viele Zwischenrufe auf den Lip- Westen sechs Prozent schaffte statt 30 pen: »Ohne Oskar und Gregor fehlen Prozent wie im Osten, der brauchte die Pfeffer und Salz«. »Wenn der Bundes- fünffache Kraft für sein Fünftel. Die Fra- geschäftsführer das Scharnier ist, dann ge ist also nicht, ob der Schwanz mit darf er nicht quietschen.« »Der Platz dem Hund wackelt, sondern was der für den Streit ist diesseits der Barrika- Kopf und die Zähne machen. Wenn es de und nicht in den bürgerlichen Me- früher bei den Linken im Osten um die dien.« »Im Hinterzimmer wächst keine »Einheit und Geschlossenheit« ging, Streitkultur, nur Intrige.« »Wer gewählt dann müssen sie heute lernen, mit wurde, darf sich nicht zu lange auf die der »Vielfalt und Verbundenheit« aus- Schenkel klopfen, sonst wird er gehbe- zukommen. Das nervt! Aber ohne ein hindert.« »Wir haben ein Defi zit an ver- breites Bündnis kann die Bändigung lässlicher Analyse: Wer wählt uns wa- des Turbo-Kapitalismus nicht gelingen. rum? Wo wollen wir hin, was sind die Das beginnt im Rathaus beim Ringen Schritte, wer die Verbündeten?« um bezahlbare Mieten und Fahrpreise Klar: Der Parteivorstand hat Kopf- und hört im Bundestag nicht auf beim schmerzen. Die Basis hat Bauch- Veto gegen die Umverteiler und Privati- schmerzen. Unsere zwei Beine in Ost sierer des Reichtums. und West humpeln noch. Die intensi- Wenn Linke bei der sozialen Abrüs- ve Debatte über unser Programm muss tung helfen, sägen sie an dem Ast, auf »orthopädische Wirkung« haben. Al- dem sie sitzen. Wenn sie nicht helfen, les, was derzeit in Deutschland pas- das Machbare zu machen, dann igno- siert, ist eine Aufforderung zum Tanz. rieren sie ihr Mandat. Das verlangt ein Der Parteitag im Mai muss auf die Pau- Programm mit kluger Strategie und Tak- ke hauen, damit es los geht, und zwar tik, und darüber wird viel zu wenig ge- links rum!

90 DISPUT Januar 2010 FEUILLETON Wohin gehst du, LINKE? Für eine LINKE, die sich weder durch das System korrumpieren lässt, noch im Kampf die repressiven Züge ihrer Gegner annimmt Von Ulrich Maurer

11,9 Prozent bei der Bundestagswahl einer Gesellschaft, die sich über viele System ist bestenfalls verbal in Frage haben wir gewonnen. Wir sind 78.000 Jahre entsolidarisiert hat und entstaat- gestellt, aber noch nicht einmal an sei- Mitglieder. Die Mitgliederzahl im Os- licht wurde, und sie beginnen zu glau- nen machtpolitischen Rändern tangiert ten haben wir gehalten und im Westen ben, dass jeder sich selbst der Nächs- oder gar verändert. Wir haben den Ohn- seit der Gründung mehr als verdoppelt te ist. mächtigen und denen, die nach Ge- – die Mitgliedsbeiträge sind im Westen Ihre Anfälligkeit für Rassismus und rechtigkeit dürsten, eine vage Hoffnung immer noch zu niedrig, aber gesteigert. der Hass auf Minderheiten wächst; sie gegeben, mehr nicht. Und doch scheint An zwei Landesregierungen sind wir haben gleichzeitig erkannt, wer ihnen der Erfolg bei der Bundestagswahl eini- maßgeblich beteiligt, selbst von den die Krise eingebrockt hat, und lehnen ge und leider auch einige Wichtige zu ärgsten politischen und medialen Geg- das kapitalistische System zunehmend verleiten, ihre Kraft und Fantasie, aber nern werden wir als dauerhaftes Phä- ab. auch ihre Fähigkeit zum Intrigantentum und die Lust am persönlichen Fortkom- men auf den Kampf um die Partei statt auf den Kampf für die Partei zu konzen- trieren. Die Partei als Beute, als Plattform im Strömungsnetzwerk organisierter Karri- eren? Es ist schon schwer zu verstehen, warum sich die SPD solchen Strukturen bis zur Selbstvernichtung ausgeliefert hat. Warum sie den neoliberalen Me- dien erlaubt hat, zu entscheiden, wer sie und wohin führen soll. Warum sie es zugelassen hat, dass man mit Hil- fe gegnerischer Gazetten den innerpar- teilichen Gegner bekämpft, die Privat- sphäre zur politischen Waffe oder zum politischen Angriffsziel wird. Aber DIE LINKE jetzt auch noch?! Man kann nicht auf den Straßen und

© Erich Wehnert © Erich Plätzen Solidarität predigen und die in- Auf der Klausur der Bundestagsfraktion – Fragen der Medien und der Parteibasis nerparteiliche Auseinandersetzung mit Mitteln führen, die nicht mal in einer nomen zähneknirschend akzeptiert. 22 Sie sind janusköpfi g, denn sie sind halbwegs funktionierenden Fußball- Prozent der Deutschen, das sind neun uninformiert; das Wissen um politische mannschaft zulässig sind. Millionen Frauen und Männer, können und ökonomische Zusammenhänge ist Wollen manche Funktionäre im Os- sich vorstellen, DIE LINKE zu wählen. auf einem historischen Tiefpunkt. Die ten sich wirklich damit zufrieden geben, Gefragt, was sie von uns erwarten, sa- Anhänger des ach so schwäbischen als Repräsentanten einer leidlich gelit- gen sie, wir sollen anders sein als die VFB Stuttgart, die sich Ultras nennen, tenen Regionalpartei in den Nischen anderen: wirklich sozial, wirklich ge- haben nach dem Spiel gegen Bochum des Systems ihr bescheidenes Aus- recht, wirklich friedliebend. Wir sollen randaliert, wurden gewalttätig und ha- kommen zu fi nden? Wollen manche im den Finanzmarktkapitalismus überwin- ben dazu »Scheiß-Vorstand«, »Scheiß- Westen alles Erreichte und alle Hoff- den, das Hartz-System beseitigen, aus Millionäre«, »Scheiß-Daimler« und nung dafür aufgeben, endlich wieder Afghanistan abziehen, wir sollen die »Scheiß-Regierung« gebrüllt. das Wohlgefühl der heimeligen Sekte Klimakatastrophe stoppen und endlich Fakt ist: Die Krise wird zunehmen, zu erleben? wieder von oben nach unten umvertei- die Verzweifl ung wird zunehmen, die Es mag ja Bewegungsgründe geben len. Und sie sagen, wir sollen regieren, Ohnmacht wird zunehmen und die Wut. angesichts erlebter demokratisch zent- möglichst schnell und möglichst über- Und DIE LINKE? Auch sie ist janus- ralistischer Staatlichkeit in der DDR, in all, um das alles durchzusetzen. köpfi g. Und das hat Ursachen. Die Par- das andere Extrem der Verherrlichung Sie wollen von uns die Quadratur tei weiß um ihre Pluralität. Sie scheint von Antistaatlichkeit zu verfallen, er- des Kreises. Sie sind ungeduldig, und in Wahlkämpfen oder wenn sie von au- zwungene Massenaufmärsche gegen viele von ihnen sind wütend. Sie füh- ßen massiv bedroht wird auch zu wis- links-libertären Privatismus einzutau- len den Zynismus der Mächtigen in der sen, dass man diese vielen Kulturen, schen. Es mag Beweggründe geben, Krise, und sie fühlen ihre eigene Ohn- Existenzformen und Biografien bün- aus lauter Angst, von der Macht kor- macht. Sie leben in einer Gesellschaft, deln muss auf die Selbstvergewisse- rumpiert zu werden, lieber ein Leben deren ökonomisch herrschende »Eli- rung des Gemeinsamen. Sie hat da- in wohliger Ohnmacht zu führen. Viel- ten« die Wertorientierung – selbst die mit großen Erfolg in kurzer Zeit gehabt. leicht ist es für manche angenehmer, bürgerliche – aufgekündigt haben, in Aber sie ist noch ganz am Anfang. Das mit zwanzig anderen das Wissen um

PARTEI DISPUT Januar 2010 010 die alleinige Wahrheit zu teilen als mit Was uns eint, ist das Wissen, dass setzen, desto humaner wird diese Ge- zehntausend anderen den Zweifel. der Kampf für Gerechtigkeit untrenn- sellschaft. Angesichts dessen ist es von im- bar mit Demokratisierung aller Lebens- Rekommunalisierung, Belebung und menser Wichtigkeit, sich auf unsere bereiche verbunden ist, dass die Um- Ausweitung genossenschaftlicher An- Kerninhalte zu besinnen und auf das, welt nicht in einem System von Kapital- sätze, Unterstützung jeder Form von was uns einigt und zu gemeinsamen märkten bewahrt werden kann, das auf Selbstorganisation, die nicht der Ge- Aktionen befähigt. Wachstumswetten basiert. winnerzielung dient, Verstärkung von Was uns eint, ist die Ablehnung von Was uns eint, ist das Streben nach Staatlichkeit bei gleichzeitiger Verbes- Krieg als Mittel der Politik. Die geziel- kostenfreier Bildung und Erziehung, serung demokratischer Kontrolle und te massenweise Tötung von Menschen das Wissen darum, dass es in einer Abbau von Überwachungs- und Obrig- bei Kundus ist nicht nur eine Fehlent- Gesellschaft krasser Unterschiede bei keitssystemen, die Verbindung von In- scheidung von Militärs und ihrer politi- Einkommen und Vermögen keine Chan- dividualität und Solidarität, demokra- schen Führung. Sie liegt in der Eigenlo- cengleichheit geben kann. tische Gesetzlichkeit statt vermeintli- gik des Krieges an sich und sie ist des- Wir mögen uns in der beginnenden cher Individualrechte auf Bereicherung halb auch maßgeblich von denen zu Programmdebatte deshalb die Köpfe zu Lasten der anderen – das könnte die verantworten, die unser Land an die- heiß reden darüber, wie der demokra- Identität der LINKEN beschreiben. sem Krieg beteiligt haben. tische Sozialismus aussieht, aber viel- Gerade wegen unserer Geschich- Was uns eint, ist der Kampf gegen leicht können wir uns darauf verständi- te schulden wir den Menschen diesen die fortschreitende Spaltung der Ge- gen, dass der Weg dahin nur über die Versuch. Wir schulden das Beispiel ei- sellschaft, die Umverteilung von unten Zurückgewinnung des Demokratischen, ner LINKEN, die sich weder durch das nach oben, die zunehmende Ausbeu- des Öffentlichen und des Solidarischen System korrumpieren lässt, noch im tung der Menschen über Niedriglöhne führen kann. Konkret: Je mehr es uns Kampf die repressiven oder gewalttäti- und Leiharbeit, das Hartz-System und gelingt, Profi tlogik aus immer mehr ge- gen Züge ihrer Gegner annimmt. die damit verbundene Armut von Frau- sellschaftlichen Bereichen zu verdrän- en und Kindern. gen und das Primat der Werte durchzu- [email protected]

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11 0 DISPUT Januar 2010 Umverteilen steht ganz oben Vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Zum »Hammer« Programm der LINKEN: Original sozial – konsequent solidarisch Von Bärbel Beuermann und Wolfgang Zimmermann © Stefan © Stefan Richter Hören, was DIE LINKE will. Kundgebung zur Bundestagswahl 2009 in Duisburg.

Es gab lange Debatten auf dem Partei- DIE LINKE fordert einen radikalen sorgung im Alter und die Abschaffung tag der LINKE. Nordrhein-Westfalen in Kurswechsel für NRW. Wir bestimmen der Hartz-Gesetze sowie die Verkür- Hamm (7./8. November 2009), aber ei- unsere politischen Ziele für die Land- zung der Arbeitszeit sind dabei Kern- nes blieb unumstritten: Wir wollen ei- tagswahl am 9. Mai 2010 aus dem An- elemente, um Arbeit und Reichtum um- nen Politikwechsel in Nordrhein-West- spruch, die gesellschaftlichen Verhält- zuverteilen. Tariftreue bei der Vergabe falen, radikal und realistisch. Wir wol- nisse in Nordrhein-Westfalen ändern öffentlicher Aufträge, ein öffentliches len, dass endlich wieder im Interesse zu wollen. Unsere Alternative ist der de- Beschäftigungsprogramm für NRW und der Mehrheit der Bevölkerung Politik mokratische Sozialismus, also eine Ge- die Wiederaufnahme der staatlichen gemacht wird. Nicht die Profi te der Kon- sellschaft, die Ausbeutung von Mensch Förderung unabhängiger Erwerbslo- zerne, sondern die Menschen sollen an und Natur überwindet. Dies ist jedoch senzentren stehen in diesem Zusam- erster Stelle stehen. nur dann möglich, wenn der Einsatz na- menhang auf unserer landespoliti- NRW ist mit 18 Millionen Einwohne- türlicher Ressourcen sowie Produktion schen Agenda. rinnen und Einwohnern das bevölke- und Verteilung des gesellschaftlichen Daneben spielt für uns die fi nanziel- rungsreichste und am dichtesten be- Reichtums rational, nachhaltig und de- le Stärkung der Kommunen eine wichti- siedelte Flächen-Bundesland. NRW ist mokratisch geregelt werden. Wir for- ge Rolle. Viele Kommunen in NRW sind wie kaum ein anderes Bundesland von dern einen sofortigen Politikwechsel, mittlerweile in akuter Finanznot, jede Industrie und Arbeit geprägt und daher der eine völlig neue Richtung bei der sechste hat die Entscheidungsfreiheit von der Wirtschaftskrise besonders be- Vermögensverteilung, beim Demokra- über ihre Ausgaben verloren. Was NRW troffen. Ob Opel, Arcandor oder Quel- tieausbau, bei der Herstellung gleicher braucht, ist eine umfassende Gemein- le: In den Betrieben in NRW geht es um Chancen und Rechte für alle und beim defi nanzreform, die sich am Bedarf der tausende Beschäftigte und ihre Fami- sozialen und ökologischen Umbau zum Kommunen orientiert. Für die hoch ver- lien. Dabei treffen die Auswirkungen Schutz der Umwelt und des Klimas ein- schuldeten Kommunen in den Regio- der Krise das Ruhrgebiet besonders schlägt. nen mit einem tief greifenden Struktur- hart. Die Erwerbslosigkeit ist in einzel- Umverteilen ist eine der zentra- wandel muss ein Entschuldungsfonds nen Revierstädten doppelt so hoch wie len Forderungen im Landtagswahlpro- eingerichtet werden. die durchschnittliche Erwerbslosigkeit gramm. Wir kämpfen für soziale Ge- Ein – auch von den Medien viel be- in NRW. Aber auch der ländliche Raum rechtigkeit und eine solidarische Ge- achteter – Kernpunkt des Programms leidet unter den Auswirkungen der Kri- sellschaft. Ohne Umverteilung von zur Landtagswahl ist die Forderung se, denn häufi g sind Betriebe Hauptar- oben nach unten ist dies nicht mög- nach einem sozialen und ökologi- beitgeber einer ganzen Region. lich. Gerechte Löhne, eine bessere Ver- schen Umbau Nordrhein-Westfalens.

LANDESVERBAND DISPUT Januar 2010 012 Doch angesichts der Entwicklungen in Politik duldet nur Migrantinnen und Mi- schaft angewiesen ist und die sie be- Umwelt und Klima, angesichts wach- granten, die einen unmittelbaren öko- reichern: Arbeiten in Beruf und Erwerb, sender Armut auf der Welt muss dem nomischen Nutzen für die Wirtschaft in Familie und Partnerschaft, in Gesell- kapitalistischen Raubbau ein Ende ge- haben. Flüchtlinge, die politisch ver- schaft und Politik und im Bereich der setzt werden. Neben dem Zukunftsin- folgt und/oder Opfer der zutiefst unge- individuellen Selbstentfaltung und vestitionsprogramm (ZIP NRW), das auf rechten Weltwirtschaftsordnung sind, Weiterentwicklung. einem Sonderparteitag am 27. Februar werden ihrer elementaren Rechte wie Und nicht zuletzt ist der Einsatz für 2010 ausführlich beraten wird, ist die des Rechts auf Asyl, auf Freizügigkeit, den Frieden und für ein friedliches Zu- Forderung nach dezentralen und kom- Arbeit und Gesundheitsversorgung be- sammenleben, in NRW und außer- munalen Energieversorgungsstruktu- raubt. Sie werden in Sammellagern ein- halb, für uns Kernelement des Wahl- ren für uns ein weiterer zentraler Punkt quartiert oder gar nicht mehr ins Land programms. Gemeinsam mit der anti- unseres Wahlprogramms. Die Energie- gelassen. DIE LINKE. NRW steht dage- faschistischen Bewegung, gemeinsam konzerne in NRW – RWE und E.ON – gen für eine Politik, die allen Migrantin- mit engagierten Menschen und den Ge- müssen vergesellschaftet werden. Sie nen und Migranten ein selbst bestimm- werkschaften bekämpfen wir die Neo- gehören in öffentliche Hand und müs- tes Leben ohne Diskriminierung ermög- nazis, wo immer sie sich zeigen. Egal sen demokratisch kontrolliert, pers- licht. Dazu gehören eine umfassende, ob autonome Nationalisten unsere ei- pektivisch entfl ochten und dezentrali- gerechte und aktive Integrationsarbeit genen Genossinnen und Genossen be- siert werden. auf der landespolitischen Ebene, ein drohen, ob rechtspopulistische Par- Bildung ist keine Ware, das steht umfassendes Wahlrecht für alle hier le- teien gegen Minarette und die hier le- für DIE LINKE fest. Unsere Positionen benden Menschen und ein wirkliches benden Muslime wettern, DIE LINKE. zur Bildungspolitik in NRW sind durch- Recht auf Asyl. NRW stellt sich gemeinsam mit ande- dacht, detailliert und durchsetzbar. Wir Für DIE LINKE. NRW ist engagier- ren quer. fordern Bildung ohne Gebühren oder te Frauenpolitik vor allem Menschen- Darüber hinaus sind wir gegen jeg- Beiträge – von der Kita über die Schule rechts- und Sozialpolitik, denn sie liche Kriegsbeteiligung und für Abrüs- und Hochschule bis zur Fort- und Wei- wirkt in allen Lebensbereichen. Kaum tung und werden das auch auf der lan- terbildung. Wir fordern »Eine Schule für eine andere Bewegung hat in der Ver- despolitischen Ebene immer wieder alle« bis zur zehnten Klasse, inklusive gangenheit so vehement Kritik an den deutlich machen. Lehr- und Lernmittelfreiheit und kos- herrschenden Verhältnissen geübt wie DIE LINKE. NRW steht für einen Poli- tenlosem, gesundem Schulessen für die Frauenbewegung. Sie hat immer in tikwechsel und grundlegende Alterna- alle Kinder. Wir wollen die betriebliche dem Bewusstsein agiert, dass das Pri- tiven. Erforderlich dafür ist Druck aus Ausbildung stärken und in gute Ausbil- vate von jeher politisch ist. Die rund der Gesellschaft, aus Vereinen, Verbän- dung statt in Warteschleifen investie- 800 Organisationen und Initiativen in den, Betrieben und Verwaltungen, Ge- ren. Wir wollen das sogenannte Hoch- NRW brauchen die notwendigen Mittel werkschaften, aus den sozialen Bewe- schulfreiheitsgesetz zurücknehmen für ihre Arbeit für und mit Frauen und gungen. Die Menschen sollen sich ak- und einen Studienreformprozess ein- Mädchen. Die Tagesfinanzierung als tiv einmischen. leiten, um gemeinsam mit den Studie- Eigenbeteiligung in den Frauenhäu- DIE LINKE wird auch im Landtag of- renden in NRW Reformmöglichkeiten sern muss abgeschafft und eine soli- fen sein für den Protest und die For- und Studienabschlüsse zu entwickeln. de Finanzierungen sichergestellt wer- derungen der Arbeitnehmerinnen und Nordrhein-Westfalen ist ein Ein- den. Darüber hinaus brauchen wir eine Arbeitnehmer, ihrer Gewerkschaften, wanderungsland, in dem 4,3 Millionen völlige Neubewertung und Umdeutung der Erwerbslosen und ihrer Initiativen, Menschen nicht-deutscher Herkunft le- von Arbeit und Zeitverfügung, damit al- der Globalisierungskritiker/innen, der ben, fast die Hälfte von ihnen hat kei- le Menschen in den vier Bereichen tä- Menschen mit Behinderungen, der nen deutschen Pass. Die herrschende tig sein können, auf die unsere Gesell- Frauenbewegung, der Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft und Kultur, der Migrantinnen und Migran- ten. Nur im Zusammenspiel mit au- ßerparlamentarischen Kräften kann DIE LINKE im Parlament Erfolg haben. Der Widerstand gegen den Abbau so- zialer und demokratischer Rechte und für Alternativen wird von der LINKEN auch parlamentarisch unterstützt. DIE LINKE. NRW wird sich jedoch an keiner Regierung beteiligen oder diese tole- rieren, die Privatisierungen, Personal- und Sozialabbau vornimmt und die nicht die Lebens- und Arbeitsbedin- gungen der Menschen verbessert. Je stärker DIE LINKE, desto sozialer das Land.

Bärbel Beuermann, stellvertretende Landessprecherin, und Landessprecher Wolfgang Zimmermann führen die Lan-

© DIE LINKE.NRW © DIE desliste der LINKEN für die Landtagswahl Katharina Schwabedissen, Gregor Gysi und die »Spitzen« Bärbel Beuermann am 9. Mai 2010 an. und Wolfgang Zimmermann. www.dielinke-nrw.de

13 0 DISPUT Januar 2010 Auf dem Weg zu Mitglied 1.300 Gestärkt durch die Wahlergebnisse 2009, steht DIE LINKE in Schleswig-Holstein in diesem Jahr vor großen Herausforderungen Von Björn Radke und Cornelia Möhring

Auch in Schleswig-Holstein sind wir ge- stärkt in und durch die Wahlkämpfe ge- gangen. Mit dem Schwung der grandi- osen Ergebnisse im Saarland und in Thüringen im Rücken sind wir mit fünf (eventuell auf sechs korrigiert) Abge- ordneten in das Landeshaus in Kiel eingezogen. Wir konnten zudem viele neue Mitglieder in unserer Partei be- grüßen und sind auf dem Weg zu Mit- glied 1.300. Die Schleswig-Holsteiner/innen ha- ben bei der Landtagswahl beiden Par- teien der schwarz-roten Koalition die Rote Karte gezeigt. Die vorzeitige Auf- kündigung der Koalition und die An- kündigung einer schwarz-gelben Zu- kunft haben der CDU nicht den erhoff- ten Zuspruch gebracht. Im Gegenteil: Die CDU musste einen Verlust von 9,1 Prozentpunkten hinnehmen. Mit 31,5 Prozent hat sie ihr bisher schlechtes- tes Ergebnis in Schleswig-Holstein er- zielt. Viele ihrer Wähler/innen sind zur FDP übergelaufen und brachten dort ei- nen Zuwachs um 6,6 Prozentpunkte. Für die SPD hat es sich nicht ausge- zahlt, gemeinsam mit der CDU ein ri- LINKE.Schleswig-Holstein © DIE gides Sparprogramm im öffentlichen Wahlparty in Kiel mit Cornelia Möhring (Bildmitte). Dienst durchzuziehen, eine marode Landesbank mit Steuermitteln zu stüt- Mit einem massiven Sparprogramm ten Lohns liegen. Durch die Folgen der zen und in der Bildungspolitik halbher- will Schwarz-Gelb in Schleswig-Hol- Wirtschaftskrise sind 21.500 Beschäf- zige Reformen anzuschieben, die das stein der Krise begegnen. So ist un- tigte in Kurzarbeit und müssen befürch- dreigliedrige Schulsystem zementieren. ter anderem die Streichung von 5.600 ten, im Verlauf des Jahres ihren Job zu Ihr Wahlresultat ist schlichtweg katas- Stellen im öffentlichen Dienst ange- verlieren. Festzuhalten ist: Die sozia- trophal. Geradezu erdrutschartig hat kündigt. Suggeriert wird trotzdem, es le Spaltung hat sich in Schleswig-Hol- sie über 13,3 Prozentpunkte gegenüber gäbe ein Programm, die »Finanzkrise stein in den vergangenen zwei Jahren 2005 verloren und mit 25,4 Prozent das überwinden und die Vertrauenskrise verfestigt: schlechteste Ergebnis seit 1950 erzielt. bewältigen« zu können. DIE LINKE wurde mit sechs Prozent Dagegen musste Ende 2009 die Re- • 9,6 Prozent der Bevölkerung sind ge- auf Anhieb in den Landtag gewählt. Al- gionaldirektion Nord der Arbeitsagen- genwärtig auf Sozialleistungen ange- lerdings lag dieses Ergebnis zwei Pro- tur eingestehen, »dass die schwierige wiesen. zent unter dem der Bundestagswahl. konjunkturelle Lage in Schleswig-Hol- • Armut trotz Arbeit greift weiter um Gut 30.000 Stimmen weniger zeigen, stein – wenn auch im bundesweiten sich. Die Zahl der »Aufstocker« liegt ak- dass die Partei die wachsende Zustim- Vergleich noch immer unterproporti- tuell bei 487.700 Beschäftigten. mung auch dem Bundestrend zu ver- onal – Spuren hinterlässt. Seit Mitte • Bedrückend ist auch die Zahl der Rent- danken hat. Der sehr kurze Zeitraum des Jahres steigt die Arbeitslosigkeit ner/innen (27.300), die Grundsiche- für die Konsolidierung des Landesver- im Vergleich zum jeweiligen Monat des rungsleistungen beziehen, weil sie von bandes mit dem Image eines »zerstrit- Vorjahres.« Gegenüber dem Dezember ihrer Rente allein nicht leben können. tenen sektiererischen Haufens« zu ei- 2008 hat sich die Arbeitslosenzahl um • Völlig inakzeptabel ist die Zahl der ner ernst zu nehmenden politischen 4.000 oder 3,8 Prozent erhöht. Sie liegt Kinder in Armut (66.500). (alle Daten Kraft, die in den Medien verbreite- nun bei 108.000, das ist eine Arbeits- von Dezember 2009) ten Meldungen über Querelen inner- losenquote von 7,6 Prozent. Der Ver- halb der Partei sowie medienwirksam weis auf die neu geschaffenen Arbeits- Nach der jüngsten Steuerschätzung inszenierte Austritte drei Tage vor der plätze in den Bereichen Erziehung und wird das Land von 2009 bis 2013 rund Wahl haben sicher einige davon abge- Gesundheitswesen darf nicht darü- vier Milliarden Euro weniger Steuern halten, auch für den Landtag DIE LIN- ber hinwegtäuschen, dass sie weit un- einnehmen als ursprünglich geplant. KE zu wählen. ter dem Niveau eines lebensgerech- Noch härter sind die Einnahmeverlus-

LANDESVERBAND DISPUT Januar 2010 014 te bei den Kommunen. Sie müssen in Schwerpunkte sollen die Infrastruktur DIE NEUE FÜR NEUE diesem Jahr weitere Mindereinnahmen und Landwirtschaft, Tourismus, Ver- von 60 Millionen Euro verkraften. Das kehr, Bildung und Gesundheit sowie verschärft deren Lage so dramatisch, Klima- und Küstenschutz sein. Damit dass die Grundversorgung von Teilen könnten tarifl ich bezahlte Arbeitsplät- der Bevölkerung angesichts der vorge- ze geschaffen und die Wirtschaft unter- sehenen Streichungen kaum noch auf- stützende Maßnahmen getroffen wer- rechterhalten werden kann. den. Wir sind uns allerdings auch klar Angesichts solcher Umstände aber darüber, dass es dafür entsprechende dem Wachstumsbeschleunigungsge- Umverteilungsmaßnahmen auf Bun- DIE LINKE ist eine wachsende Par- setz zugestimmt zu haben – ohne ver- desebene geben muss und nur ein tei. Zu den über 77.500 Mitgliedern bindliche Entlastungszusagen durch breites Bündnis mit verschiedenen kommen täglich neue dazu. »Bei den Bund – und selbst ein massives gesellschaftlichen Kräften einen wirk- uns kannst du ganz viel – vor al- Sparprogramm vor allem im öffentli- lichen Politikwechsel entfalten kann. lem aber mitmachen«, das ist die chen Sektor aufzulegen, zeigt die Kon- Gemeinsam mit Gewerkschaften, Sozi- Botschaft der neuen Klappkarte zeptionslosigkeit der schwarz-gelben alverbänden, Erwerbsloseninitiativen zur Mitgliedergewinnung. Wer ei- Koalition. und Umweltverbänden wollen wir da- ne solche Karte bekommt und ein- Zusätzlich wird das Land durch die für kämpfen. tritt oder mitmachen will, der war HSH Nordbank belastet. Weitere Ver- Die Voraussetzungen für eine weite- schon ganz dicht davor, der muss- luste in Milliardenhöhe sind wahr- re organisationspolitische Stärkung der te nicht erst überzeugt werden, scheinlich. Die Kreditvergabe für die LINKEN in Schleswig-Holstein sind vor- dem genügte die Karte als Auslö- mittelständische Wirtschaft in Schles- handen. Das Jahr 2008 und die erste ser. Darum sollen mit ihr nur die wig-Holstein wird sich weiter erheblich Hälfte 2009 galten dem strukturierten wichtigsten Motive angesprochen verschlechtern. Allmählich dämmert es Aufbau der Partei und der Vorbereitung werden. auch den Regierungsparteien, dass die des Superwahljahres. Die Vorstands- Aufkleber auf der Klappkar- HSH Nordbank vor dem Abgrund steht. arbeit wurde politisch entwickelt, die te veranschaulichen die einzel- FDP-Fraktionschef Wolfgang Kubicki: Kommission politische Bildung ins Le- nen Gründe, in DIE LINKE einzutre- »Jetzt geht es darum, alles zu unterneh- ben gerufen, die Zusammenarbeit der ten. Wer die Karte erhält, hat viel- men, das Vermögen des Landes zu si- Kommunalfraktionen mit einer regel- leicht auch Spaß daran, das, was chern und zu retten.« mäßigen Fraktionskonferenz profes- ihm an unserer Partei gefällt, wei- Schon im April 2009 hatte DIE LIN- sionalisiert und intensiviert und ei- terzuerzählen und die Aufkleber KE mit einer landesweiten Aktion deut- ne funktionierende Landesgeschäfts- zu verbreiten. Wenn nicht – auch lich Position bezogen: »Die Entschei- stelle aufgebaut. Die Landesarbeits- nicht schlimm. Auf jeden Fall hält dung des Landtages, weitere Steu- gemeinschaften konstituieren sich zur er oder sie eine bunte, coole Kar- ergelder in die HSH zu pumpen, läuft Zeit inhaltlich und personell neu, um te in der Hand, deren einen Teil auf eine Verschleuderung öffentlicher dann gemeinsam mit dem Landesrat er/sie ausgefüllt zurückschicken Mittel hinaus. Stattdessen schlägt DIE und den Vorständen die politischen kann. Und es gibt die Möglichkeit, LINKE vor, dieses Geld in Hamburg und Schwerpunkte voranzubringen. Mit ei- sich erst mal bei einem Gespräch Schleswig-Holstein für ein wirksames ner Landesmitgliederversammlung vor Ort zu informieren. Antikrisen- und Strukturprogramm ein- im November, an der besonders viele Neue Mitglieder sind ein gro- zusetzen, mit dem Zehntausende von neue Mitglieder aktiv teilgenommen ßer Gewinn, sie stärken die Akti- Arbeitsplätzen erhalten und geschaf- haben, wurden die ersten Schritte ge- onsfähigkeit und die Finanzkraft, fen werden können. Den Versuch durch tan. sie bringen Erfahrungen und neue CDU/SPD/GRÜNE/FDP, den Eignern Die Mitgliederentwicklung ist insge- Ideen mit und sie erhöhen den po- von Wertpapieren mit öffentlichen Mit- samt positiv. Die meisten neuen Mit- litischen Einfl uss. Sie sind also ein teln generell ihre Verluste abzunehmen, glieder fi nden von alleine ihren Weg in Grund zur Freude, und das sollte lehnt DIE LINKE weiterhin ab! (…) Darü- die Partei. Sie treten über das Internet man ihnen auch zeigen. ber hinaus sind alle Forderungen nach bei oder wenden sich aus eigener In- Mit ganz unterschiedlichen Er- Teilöffnungen der Sparkassen für pri- itiative an die Kreisverbände oder die wartungen kommen neue Mitglie- vate Investoren zurückzuweisen. Über Landesgeschäftsstelle. Das zeigt zu- der: Die einen wollen gleich Akti- neue Formen gesellschaftlicher Kont- gleich unser Potenzial, das wir in die- onen machen und in die Kommu- rolle muss nachgedacht werden.« (Vor- sem Jahr verstärkt nutzen wollen. Es nalpolitik eintauchen, andere wol- schläge für ein Antikrisenprogramm für gibt keinen Grund, Freundinnen und len vorwiegend diskutieren, die Schleswig-Holstein, Mai 2009) Freunde, Sympathisierende, Kollegin- nächsten suchen soziale und po- DIE LINKE Schleswig-Holstein bleibt nen und Kollegen, Wählerinnen und litische Geborgenheit und wiede- dabei: Aus der Krise kann man sich Wähler ... nicht zu fragen, ob sie DIE rum andere wollen einfach dabei nicht raussparen. Haushaltsdefizite LINKE auch durch eine Mitgliedschaft sein. Erkunden muss man, wo das müssen über Kredite fi nanziert werden. unterstützen möchten. neue Mitglied sich so einbringen Durch eine andere Steuerpolitik im könnte, dass es für alle ein Gewinn Bund können die Einnahmen struktu- Björn Radke und Cornelia Möhring sind wird. Die Klappkarte gibt’s im On- rell verbessert werden. Ergänzend kann Landessprecher und Landessprecherin. lineshop unter https://shop.die- im Land eine Haushaltspolitik verfolgt linke.de/ werden, die bei den überfl üssigen Pro- DIE LINKE.Schleswig-Holstein jekten umschichtet. Sophienblatt 19, 24103 Kiel Lars Kleba, Mitarbeiter im Bereich DIE LINKE im Land fordert darüber Telefon: (0431) 737701 Parteientwicklung hinaus ein staatliches Zukunftspro- [email protected] [email protected] gramm zur Bekämpfung der Krise. Die www.die-linke-schleswig-holstein.de Telefon: (030) 24 00 95 57

15 0 DISPUT Januar 2010 Durchhalten in der Diaspora Ein Bericht aus dem Ortsverband Leonberg (Baden-Württemberg) Von Ronald Borkowski

Das Wirkungsfeld des Ortsverbandes ihnen 75 Prozent Männer, relativ viele jährlich Diskussionsabende mit Gastre- Leonberg liegt vor den Toren Stuttgarts Rentner/innen, Gewerkschafter/innen ferenten. Damit wurden aber meist nur im Landkreis Böblingen. Der Landkreis und Hartz-IV-Betroffene mit einem ge- wenige Teilnehmerinnen und Teilneh- südwestlich der Landeshauptstadt hat schätzten Durchschnittsalter von 50 bis mer erreicht, die nicht schon bekannt etwa 370.000 Einwohnerinnen und 55 Jahren. Nur wenige verfügten über waren. Der »Sendekanal« der Partei Einwohner und zeichnet sich durch ei- Erfahrungen in aktiver Parteiarbeit. stellt sich bisher allgemein als prob- ne starke Industrie- und Exportorientie- Im Laufe des Jahres 2008 wurde lematisch dar. Die Presselandschaft rung aus. Hier liegen das Entwicklungs- der Routinebetrieb des Ortsverbandes wird hier von einer Lokalausgabe der zentrum von Porsche und einer der be- nach und nach aufgenommen und eine konservativen Stuttgarter Zeitung be- deutendsten Daimler-Standorte. Ähnli- Satzung beschlossen. Zur regelmäßi- herrscht, die über Veranstaltungen der ches gilt für bekannte IT-Unternehmen. gen internen Kommunikation existiert LINKEN offensichtlich ungern berichtet Viele weitere Arbeitnehmerinnen und ein monatlicher »Linker Stammtisch«. und sie auch nicht ankündigt. Anzei- Arbeitnehmer pendeln nach Stuttgart. Seine Besatzung – oft nur fünf Genos- gen sind teuer, die Nutzung der kom- Die Arbeitslosigkeit war und ist hier sinnen und Genossen – ist gleichzeitig munalen Verkündungsblätter ist nur stets am unteren Ende der deutschen die verlässliche Kernmannschaft des sehr eingeschränkt möglich. So bleibt Statistik zu fi nden. Die Strukturdebat- Ortsverbandes, wenn es um die prakti- als Ankündigungsform allein die ei- ten in der Automobilindustrie und die genhändige Pla- aktuelle Weltwirtschaftskrise haben katierung übrig – diese Gewissheit erstmalig angekratzt. gegen Bezahlung Dennoch fühlt sich die gut bezahlte städtischer Ge- Daimler-Kernbelegschaft bisher kaum bühren. besonders der LINKEN verbunden. Das Ab Ende 2008 trifft eher auf die weniger privilegierten konzentrierten wir Leih-, Zeit- und Zulieferarbeiterinnen alle Kräfte auf die und -arbeiter zu. Vorbereitung der Das Gebiet des Kreisverbandes Europa- und Kom- Böblingen der LINKEN deckt sich et- munalwahlen (Re- wa mit dem Bundestagswahlkreis 260 gionalversamm- sowie den baden-württembergischen lung, Kreistag, Landtagswahlkreisen 5 und 6. Hier er- Gemeinderäte). ringt die CDU regelmäßig direkt die Dafür mussten Mandate; die FDP ist an vielen Stellen nicht nur Kandi- stärker als die SPD. DIE LINKE erreichte daten gefunden, bei der Landtagswahl 2006 – wie bei sondern auch der Bundestagswahl 2005 – nur etwa noch die verlang- drei Prozent der Stimmen. ten Unterschrif- Vor Gründung des Kreisverbandes ten von Unterstüt- Mitte des Jahres 2007 gab es bereits ei- zerinnen und Un- ne sehr gute Zusammenarbeit der ört- terstützern einge- lichen Linkspartei.PDS und der WASG holt werden. bei den beiden Wahlen. Davor existier- Schindler © Ralf Die Regional- te viele Jahre eine PDS-Basisgruppe Infostand mit Gisela und Peter auf dem wahl ließ sich in beiderlei Hinsicht rela- Böblingen. Marktplatz von Weissach, Sommer 2009. tiv unproblematisch sicherstellen. Die Im Norden des Landkreises ist der Beschaffung von 500 Unterschriften LINKE-Ortsverband Leonberg zu Hau- sche Arbeit geht. Auch Vorstandsfunk- für die Kreistagswahl erforderte dage- se. Das Zentrum Leonberg selbst hat tionen wurden hier oft ersatzweise er- gen große Anstrengungen der Aktiven, 45.000 Einwohnerinnen und Einwoh- füllt, weil sich die Gewinnung eines gelang aber in neun von zehn Wahlkrei- ner, das gesamte Gebiet des Ortsver- kontinuierlich arbeitenden Vorstandes sen, so dass DIE LINKE nahezu fl ächen- bandes etwa 100.000. als unerwartet schwierig erwies. Der deckend kandidieren konnte. Die Auf- Erst Anfang 2008 wurde der Ortsver- erste Sprecher trat nach einem halben stellung von 35 Gemeinderatslisten war band zusammen mit drei weiteren Orts- Jahr aus persönlichen Gründen zurück, dagegen personell unmöglich und ver- verbänden im vorher nicht unterglie- zwei neue Vorstandsmitglieder ver- sprach selbst ohne 5%-Klausel wenig derten Kreisverband gebildet, in ers- zogen. Zwischen den beiden Wahlen Erfolg (eine Kandidatur gab es allein in ter Linie mit Blick auf die Kommunal- 2009 wurde der Vorstand vervollstän- Sindelfi ngen). wahlen im Juni 2009. Jeder der neuen digt – leider ohne Frauen –, und er hat Während des heißen Wahlkampfes Ortsverbände hatte damals etwa fünf- bis heute durchgehalten. im Mai und Juni 2009 halfen in Leon- zehn bis zwanzig Mitglieder: mehrheit- Als inhaltliches Angebot auch nach berg dann doch genügend aktive Hän- lich ehemalige WASG-Mitglieder, von außen veranstalteten wir etwa viertel- de (etwa jedes zweite Mitglied und ein

ORTSVERBAND DISPUT Januar 2010 016 paar SympathisantInnen), um überall DEMNÄCHST zu plakatieren, an Schwerpunkten Info- materialien an die Haushalte zu vertei- len und in jedem Ort ein oder zwei In- fostände auf den Märkten durchzufüh- ren. Aus ostdeutscher Parteiperspekti- ve mag das etwas bescheiden klingen, aus hiesiger kommen aber auf einen Wahlhelfer rund fünftausend Wähler- Haushalte! Jubiläen und Jahrestage 11. Februar 1990 Nach den Kommunal- und Europa- Nelson Mandela nach 28 Jahren aus wahlen wurden die Leonberger Ergeb- 21. Januar 1950 Haft entlassen nisse Wahlbezirk für Wahlbezirk aus- 60. Todestag von George Orwell 12. Februar gewertet und im Bundestagswahl- 22. Januar 2005 Internationaler Tag gegen den kampf die knappen Kräfte stärker auf WASG wird Partei Einsatz von Kindersoldaten besonders lohnende Wahlbezirke kon- (Red Hand Day) zentriert. Doch auch wenn er mit ein- 22. Januar gespielten Abläufen und ohne Unter- Tag der deutsch-französischen 13. Februar 1960 schriftensammlung verhältnismäßig Freundschaft (seit 2003) Frankreich zündet erste Atombombe einfach zu bewältigen war, so zehrte der Bundestagswahlkampf insgesamt 25. Januar 1985 15. Februar 1970 an den Kräften. Das gemeinsame Wahl- Bundestag ächtet generell die Urteile Erstes Festival des Politischen Liedes plakate-Kleistern war ohne Zweifel im- des Volksgerichtshofes beginnt (DDR) mer ein bedeutendes Gemeinschafts- 16. Februar 2005 erlebnis. 25. Januar 1890 Kyoto-Protokoll tritt in Kraft Bei allen Wahlen konnten die Resul- Reichstag lehnt Verlängerung des Sozialistengesetzes ab tate im Vergleich zur Vorwahl etwa ver- 16. Februar 2005 doppelt werden. Die kommunalen Er- 26. Januar 2005 Bundesregierung beschließt gebnisse liegen um zwei Prozent, die Bundesverfassungsgericht macht »Nationalen Aktionsplan für ein deutlich besseren Resultate bei der Weg für Studiengebühren frei kindgerechtes Deutschland« Bundestagswahl liegen um sechs Pro- (bundesweites Verbot verletzt zent: in Leonberg, Weil der Stadt, Ren- Gesetzgebungsrecht der Länder) ningen und im gesamten Landkreis Termine Böblingen. In Sindelfingen zog ein 27. Januar 18. bis 22. Januar Stadtrat der LINKEN in den Gemein- Tag des Gedenkens an Opfer des Sitzungswoche Bundestag derat ein, im Kreistag ist unsere Par- Nationalsozialismus tei durch einen Kreisrat vertreten, und (auch Holocaust-Gedenktag) 18. bis 21. Januar nach längerem Zittern zog auch der ört- Sitzungswoche Europaparlament liche Bundestagskandidat Richard Pit- 28. Januar terle (über Platz 6 der Landesliste) in Europäischer Datenschutztag 23. Januar den Bundestag. Die erhoffte Eintritts- (seit 2007) Sitzung Parteivorstand und Bundes- welle an neuen Mitgliedern blieb aller- schiedskommission dings bis jetzt leider aus. 29. Januar 2000 Wie sich die weitere Arbeit entwi- 135 Staaten einigen sich auf 23. und 24. Januar ckelt, ist in Umrissen zu erkennen. Die Kriterien zum Handel mit gentech- Landesparteitag Baden-Württem- Möglichkeiten zur öffentlichen Darstel- nisch veränderten Lebensmitteln berg, Stuttgart (DGB-Haus) (Biosafety) lung haben sicherlich zugenommen. 25. Januar Doch ein Problem liegt deutlich auf der 31. Januar 1950 Ausschusswoche Bundesrat Hand: Bundestagsmandat, Landesaus- US-Präsident Truman ordnet Bau schuss, Kreisvorsitz, Kreistag, Gemein- der Wasserstoffbombe an 25. bis 29. Januar derat Sindelfi ngen und Ortsvorsitz Le- Sitzungswoche Bundestag onberg lasten auf nur zwei Personen! 4. Februar 1990 Großen Bedarf gibt es bei der gemein- aus SED-PDS wird PDS 30. und 31. Januar samen inhaltlichen Debatte, die bisher Landesparteitag Bremen neben dem Wahlkampf zu kurz kam. 6. Februar (Konsul-Hackfeld-Haus) Internationaler Tag gegen Genital- Ansonsten muss die Zeit bis zu den 30. Januar verstümmelung bei Frauen Landtagswahlen für die Partei sicher- Sitzung Bundesausschuss lich unter dem Motto stehen: »Mehr 8. Februar 1950 werden – besser werden!«. Ende März 8. Februar der DDR beschließt 2011 gilt es dann, die 5%-Hürde vor Sitzung Geschäftsführender Bildung des MfS dem Landtag auch im schwarzen Ba- Parteivorstand den-Württemberg zu meistern. 9. Februar 1930 13. Februar Paul Levi (Mitbegründer der KPD) Mobilisierung gegen Nazi-Aufmarsch Dr. Ronald Borkowski ist Kreisrat und verstorben Sprecher der LINKEN im Ortsverband in Dresden Leonberg. 11. Februar 1960 [email protected] Victor Klemperer stirbt in Dresden Zusammenstellung: Daniel Bartsch

170 DISPUT Januar 2010 Bei Rosa und Karl Traditionsweg führte zur Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin

Am 10. Januar ge- dachten wieder viele der 1919 er- mordeten Rosa Lu- xemburg und Karl Liebknecht. Die beiden langjähri- gen Mitglieder der Sozialdemokra- tie und Mitbegrün- der der KPD hatten leidenschaftlich für eine Welt ohne Ausbeutung, Krieg und Ungerechtig- keit gekämpft.

DISPUT Januar 2010 018 Trotz Kälte, Schnee und Eis waren Besu- cher aus nahezu allen Bundesländern zur Gedenkstätte der Sozialisten in Ber- lin-Friedrichsfelde gekommen. Sie wider- spiegelten ein sehr breites politisches Spektrum. © Erich Wehnert (6) Wehnert © Erich

190 DISPUT Januar 2010 GEDENKEN »Wahlkreisbüro« im Widerstandsdorf Die hessische Landtagsfraktion will den Interessen der sozial Schwachen Gehör verschaffen. Ein Zwischenstand Von Janine Wissler und Willi van Ooyen

Zwei Legislaturperioden ist DIE LIN- war daher die Forderung an die Lan- wir das Widerstandsdorf, spendeten KE im Hessischen Landtag vertreten, desregierung, dass Hessen in die Tarif- Verpfl egung und Geld und errichteten wobei die erste ebenso kurz wie au- gemeinschaft der Länder (TdL) zurück- schließlich vor Ort ein »Wahlkreisbüro« ßergewöhnlich war. Bei der Landtags- kehrt, aus der die Koch-Regierung aus- in Form einer eigenen Hütte. Zu deren wahl am 27. Januar 2008 hatte Roland getreten war. Trotz parlamentarischer Einweihung luden wir an einem Sonn- Kochs CDU zwölf Prozent und damit die Mehrheit setzte die Landesregierung tag alle Aktiven und eine Band in den Mehrheit im Landtag verloren. DIE LIN- auch diesen Beschluss nicht um. Wald. KE zog mit 5,1 Prozent denkbar knapp Ein großer Erfolg war, dass Hessen CDU und FDP im Landtag brach- erstmals in den Landtag ein, und damit als erstes Bundesland die Studienge- ten daraufhin zunächst einen Antrag gab es eine Mehrheit jenseits von CDU bühren wieder abgeschafft hat. Dar- ein, der uns als Anstifter von Rechts- und FDP. Die »hessischen Verhältnis- an war DIE LINKE im Landtag wie auch bruch und Gewalt brandmarken sollte. se« währten über ein halbes Jahr, Koch außerparlamentarisch beteiligt. Ent- Schließlich bezichtigten sie uns wegen blieb geschäftsführender Ministerprä- sident und im Landtag gab es wech- selnde Mehrheiten. DIE LINKE wollte Roland Koch ab- wählen, und wir erklärten uns bereit, eine rot-grüne Regierung zu unterstüt- zen, wobei unsere Mindestbedingun- gen waren, dass es keinen weiteren So- zial- und Personalabbau und keine wei- teren Privatisierungen geben darf. Aber dazu kam es nicht. Nachdem am 3. No- vember, nur einen Tag vor der geplan- ten Wahl von Andrea Ypsilanti zur Mi- nisterpräsidentin, insgesamt vier Mit- glieder der SPD-Fraktion ihrer Kandi- datin spektakulär die Unterstützung entzogen, kam es zur Aufl ösung des Landtages und zu Neuwahlen. Mit sechs Abgeordneten sind wir jetzt zum zweiten Mal die kleinste Fraktion im Hessischen Landtag. Eine Menge Arbeit angesichts von 55 Wahl- kreisen, 14 Ausschüssen und dem An- Treber © Dietmar spruch, die außerparlamentarischen Beim bundesweiten Bildungsstreik am 12. November 2008 in Frankfurt am Main Bewegungen in Hessen zu stärken. Was haben wir erreicht in den fast zwei scheidend für den Erfolg aber waren der zwei mal zwei Meter großen Hüt- Jahren seit der ersten Hessen-Wahl? die hartnäckigen Proteste der Studie- te, die wir im Baumarkt erstanden hat- Die erste Legislaturperiode war ge- renden und deren Unterstützung durch ten, der Verfassungsfeindlichkeit. Und prägt von den Auseinandersetzungen die Bevölkerung. 80.000 Unterschrif- zu guter Letzt wurde unsere Protesthüt- der geschäftsführenden Landesregie- ten für die Abschaffung der Studienge- te zum Gegenstand einer Regierungser- rung mit der parlamentarischen Mehr- bühren wurden im Rahmen einer Volks- klärung des Innenministers. Dem Hüt- heit aus SPD, Grünen und LINKE. Gleich klage gesammelt. tendorf wurde auf diese Weise mehr Öf- in der zweiten Plenarsitzung fand ein fentlichkeit eingeräumt, als wir gehofft Antrag der LINKEN eine parlamenta- hatten, auch wenn der Ausbau des Hütte im Kelsterbacher Wald rische Mehrheit: Der Landtag schloss Flughafens und die Rodung des Wal- sich mit seiner Mehrheit unserer For- Seit Jahrzehnten ist der Ausbau des des nicht verhindert werden konnten. derung nach einem sofortigen Abschie- Frankfurter Flughafens ein Thema in CDU und FDP haben von Anfang bestopp für afghanische Flüchtlinge an. Hessen. Anfang der 80er Jahre gab es an sehr gereizt auf unsere Initiativen Leider half es nichts, die Landesregie- harte Auseinandersetzungen um die im Parlament wie außerhalb reagiert. rung weigerte sich, diesen Beschluss Startbahn West. Seit zehn Jahren wehrt Landtagsdebatten beschäftigten sich umzusetzen. sich die Region gegen den erneuten auf Antrag der CDU mit Themen wie DIE LINKE hat sich für die Interessen Ausbau, für den der angrenzende Kels- dem »Schutz unserer Demokratie und der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- terbacher Wald gerodet werden muss- unseres Rechtsstaates vor den revoluti- mer im öffentlichen Dienst im Land- te. Aktivisten hatten dort ein Hütten- onären Zielen der Linkspartei«. 90 Jah- tag eingesetzt. Einer der ersten Anträ- dorf errichtet, um die Rodung zu verhin- re nach ihrem gewaltsamen Tod wur- ge, die wir in den Landtag einbrachten, dern. Als LINKE-Fraktion unterstützten den sogar Rosa Luxemburg und ihre Er-

FRAKTION DISPUT Januar 2010 020 mordung zum Thema einer von der CDU beantragten Aktuellen Stunde im Land- tag. Um uns zu dämonisieren, fuhr die CDU schweres Geschütz auf. Die Angrif- fe und ihre abstrusen Beschuldigungen halfen uns letztlich, diese Auseinan- dersetzungen dafür zu nutzten, unse- re Positionen und unser Profi l auch in Abgrenzung von den anderen Opposi- tionsfraktionen zu präsentieren. Gera- de bei bundespolitischen Themen wie Steuerpolitik, Hartz IV, Bundeswehrein- satz in Afghanistan oder Privatisierung der Bahn wurden die Differenzen zu SPD und Grünen im Landtag deutlich. Auch in der Opel-Frage waren wir die einzige Fraktion, die die Bereitstellung Fraktion vor Ort: Protest gegen die Rodung des Kelsterbacher Waldes von Landesmitteln nicht in blindem Vertrauen beschließen wollte, sondern nicht auf die Beschwerden der zwangs- jüngst spielte Koch eine unrühmliche an Bedingungen wie den Erhalt aller pensionierten Beamten. Die hessische Rolle bei der Ablösung des ZDF-Chefre- Standorte und Arbeitsplätze knüpf- Ärztekammer hat den zuständigen Psy- dakteurs. Die hessische CDU ist als der te. Das hat uns Kritik eingebracht, sich chiater wegen dieser Gutachten mittler- »Stahlhelmverband« bekannt. Rechts- aber im Nachhinein als Möglichkeit he- weile zu einer Geldbuße verurteilt. Und konservative und rassistische Positio- rausgestellt, politisch gestaltend den ein anderer Fall belegt, dass die hessi- nen gehören zu ihrem Repertoire. Zur Prozess zu begleiten. schen Konservativen sich zwar gern als Bundestagswahl 2009 trat sie mit einer Die CDU stolperte derweil immer harte Vertreter einer »Law and Order«- Landesliste an, auf der Franz-Josef Jung, wieder über ihre eigenen Fehler und Linie präsentieren, ihre Klientel und und Heinz Riesenhu- Vergehen. Der hessische Landesver- Großverdiener aber gegen alle rechts- ber die ersten drei Plätze belegten. band machte vor zehn Jahren von sich staatlichen Grundsätze protegieren: Ei- Auch für die Zukunft sehen wir Weg reden, als herauskam, dass er das Zen- ne Richterin des hessischen Staatsge- und Ziel unserer Arbeit darin, den Be- trum des Schwarze-Kassen-Skandals richtshofs ist mit einem Rechtsanwalt langen und Interessen der Lohnabhän- war. Seit Ende 2009 arbeiten wir daran, verheiratet, der jahrelang in der Immo- gigen und sozial Schwachen auf der einen Skandal aufzuarbeiten, der sich bilien- und Finanzbranche fragwürdi- politischen Bühne Gehör zu verschaf- daran anschloss: Mehrere Frankfurter ge und riskante Geschäfte tätigte. Nun fen. Wir werden uns weiter in unter- Steuerfahnder, die sich auf die Verfol- laufen seine Geschäfte nicht mehr, und schiedlicher Form in die Auseinander- gung großer Steuersünder und Bank- es stellt sich heraus, dass das zustän- setzungen um eine gerechtere und de- kunden spezialisiert hatten, wurden dige Finanzamt von seiner Lage erst mokratischere Gesellschaft einbringen. vor einigen Jahren mit psychiatrischen jetzt erfährt. Denn es hat mehrere Jah- Wir wollen soziale Bewegungen stär- Gutachten aus dem Dienst entlassen, re lang darauf verzichtet, von ihm eine ken, deshalb machen wir regelmäßig die ihnen »pathologisches Querulan- Steuererklärung einzufordern, und sei- »Fraktion vor Ort«-Veranstaltungen in tentum« bescheinigten. Ihre gesam- ne Einkommensangaben fraglos ak- ganz Hessen, wo wir uns bei Bürgerin- te Abteilung wurde komplett aufgelöst. zeptiert. itiativen und lokalen Bündnissen über Ministerpräsident Koch und Finanz- Auf bundespolitischer Ebene richtet ihre Anliegen informieren, damit wir minister Weimar reagierten jahrelang die Hessen-CDU ebenfalls Schaden an; diese in den Landtag einbringen kön- nen. Wir waren beispielsweise bei den Milchbauern, den Kohlekraftgegnern und im Abschiebegefängnis. Bei betrieblichen Auseinanderset- zungen oder beim Bildungsstreik ver- suchen wir, die Forderungen und die Proteste auch direkt in den Landtag zu bringen. Das hat uns schon nach der kurzen Zeit, die wir als LINKE in Hessen präsent sind, Vertrauen und Zuspruch vonseiten der Gewerkschaften und der anderen sozialen Bewegungen gesi- chert.

Janine Wissler und Willi van Ooyen sind Vorsitzende und Vorsitzender der hes- sischen Landtagsfraktion der LINKEN. DIE LINKE. Fraktion im Hessischen Land- tag, Schlossplatz 1–3, 65183 Wiesbaden, Telefon: (0611) 350 60 90,

© Linksfraktion Hessen (2) Hessen © Linksfraktion [email protected], Die Fraktion mit Janine Wissler (2. von links) und Willi van Ooyen (3. von links) www.linksfraktion-hessen.de

210 DISPUT Januar 2010 Lohndumping in der Drogerie Gewerkschaft und DIE LINKE unterstützen Aktionen gegen Schlecker-Pläne Von Olaf Klenke und Romana Dietzold

Die Drogerie-Kette Schlecker verfolgt ei- rechtskräftig ist, hat es Konsequenzen Die Proteste von Beschäftigten, von ne neue Strategie. Bestehende Märkte für mindestens 200.000 Beschäftigte ver.di und LINKEN wirken! Schlecker werden geschlossen und stattdessen in der Leiharbeit«, erläutert die Berli- hat Anfang Januar angekündigt, keine XL-Märkte eröffnet. Nicht nur das Sor- ner Arbeitssenatorin Carola Bluhm (DIE neuen Leiharbeiter/innen mehr über timent wird neu sortiert, Schlecker will LINKE). »Sie könnten rückwirkend An- Meniar einzustellen. Für die Beschäf- vor allem Arbeitskosten senken. Das sprüche für die entgangenen Löhne tigten ein kleiner Erfolg, aber immer Prinzip: Den Beschäftigten der alten geltend machen.« noch sollen sie auf Urlaub, Urlaubs- Märkte wird gekündigt. Sie können nur und Weihnachtsgeld verzichten. Unklar als Leiharbeiter/innen bei der Firma bleibt: Was passiert mit den schon ein- Gleicher Lohn für gleiche Arbeit Meniar (»Menschen in Arbeit«) in ei- gestellten Meniar-Beschäftigten? Und nem neuen XL-Markt anfangen. Meniar Inzwischen haben zahlreiche Firmen will Schlecker künftig weiter einfach hat einen Tarifvertrag mit den Christli- eigene Leiharbeitsfirmen gegründet. eine andere Leiharbeiterfi rma nutzen? chen Gewerkschaften für Zeitarbeit und Während Leiharbeit von der Bundesre- ver.di bleibt deshalb aktiv. »Beschäf- Personal-Service-Agenturen (CGZP) ab- gierung noch als Jobwunder gepriesen tigte und ver.di wehren sich zu Recht. geschlossen. »Der christliche Tarifver- wird, erweist sie sich für die meisten Auch 2010 werden wir im Kampf gegen trag von Schlecker hat wenig Christ- Beschäftigten als Lohndrückerei. Die Lohndumping nicht locker lassen. Die liches an sich«, kommentiert die ar- betroffenen Beschäftigten bezahlen Beschäftigten können uns an ihrer Sei- beitsmarktpolitische Sprecherin der dafür mit niedrigen Löhnen und Alters- te wissen«, sichert Vize-Parteivorsit- Bundestagsfraktion der LINKEN, Sa- armut. Schon heute sind über 164.000 zender Klaus Ernst die Unterstützung bine Zimmermann. »Diese bezahlt ca. Beschäftigte im Einzelhandel gezwun- der LINKEN zu. 6,50 Euro die Stunde statt dem Dop- gen, ihr niedriges Gehalt aufzustocken. Der Parteivorstand bittet die Lan- pelten wie mit einem ver.di-Tarifver- Monatlich werden in Deutschland ins- des- und Kreisverbände, aktiv zu wer- trag.« Das Lohndumping von Schlecker gesamt über 700 Millionen Euro für auf- den. In seiner Sitzung am 12. Dezember würde die Niedriglohnspirale im Einzel- stockendes Arbeitslosengeld II gezahlt. 2009 beschloss er Maßnahmen zur Öf- handel weiter verschärfen. DIE LINKE fordert, Leiharbeit strikt fentlichkeitsarbeit sowie unterstützen- Die Praxis von Schlecker hat ein zu begrenzen. Der Grundsatz »Gleicher de Angebote für die Parteigliederungen. besonderes Geschmäckle. Denn die Lohn für gleiche Arbeit« muss uneinge- Zur Unterstützung für Aktionen können CGZP wurde vom Arbeitsgericht und schränkt gelten. Leiharbeiterinnen und sich Interessierte zum Beispiel ein Paket vom Landesarbeitsgericht Berlin für Leiharbeiter dürfen nicht zu Beschäftig- für Aktionen zuschicken lassen (E-Mail tarifunfähig erklärt. »Wenn das Urteil ten zweiter Klasse gemacht werden. an [email protected] senden). © Erich Wehnert (2) Wehnert © Erich Wer ist Anton Schlecker? Er gründete 1965 sein erstes Geschäft. Der Drogerie-Discounter Schlecker ist heute Marktführer in Deutsch- land und mit mehr als 55.700 MitarbeiterInnen in 13 Ländern Europas aktiv. Anton Schlecker wurde bereits 1998 wegen Lohnbetrugs an seinen Angestellten zu einer Gefängnisstrafe auf Bewährung verurteilt. Sein Vermögen beträgt geschätzt 2,4 Milliarden Euro.

ARBEIT DISPUT Januar 2010 022 »Schlecker XL boykottieren« Gegen den Großangriff auf Lohn und Recht. Interview mit der Betriebsrätin Mona Frias

Mona Frias, 44, seit 1995 bei Schlecker beschäf- tigt, Betriebsrats- vorsitzende, zu- ständig für 43 Ver- kaufsstellen im Osten Berlins und in einigen Dörfern in .

Kollegin Frias, was sind die Hauptthe- dass ihr auch bald betroffen seid? nen eventuellen Notruf verfügten. Wie men deiner Arbeit als freigestellte Be- Groß. Wir rechnen 2010 defi nitiv da- schätzt du insgesamt die Arbeitsbe- triebsrätin? mit. Das heißt weg vom Tarif und so dingungen bei Schlecker ein? Immer aktuell sind: Arbeitszeiten, weiter. Wir nehmen an, dass das spä- Auch wenn nun in den Filialen ein Te- Abmahnungen, Kündigungen, Verset- testens März richtig losgeht. lefon ist, was wir als Erstes eingeklagt zungen und im Moment Leiharbeiter. Aktuell verkauft Schlecker seine Wa- haben, hat sich nichts Entscheidendes Aber Gott sei Dank sind wir Querulan- renhäuser. Wir müssen genau aufpas- verbessert. Erschwerend kommt hinzu, ten und haben deswegen nur zwei Leih- sen, was da für Schweinereien laufen. dass die Kolleginnen bis sechs Stun- arbeiter. Andere Bereiche haben da den allein in der Filiale stehen. Denn schon mehr zugelassen. War es schwer, bei Schlecker Betriebs- Überfälle sind immer wieder aktuell; Ein weiteres Thema sind Schließun- räte zu bilden? die Verbrecher wissen, dass die Kolle- gen von Filialen, im vorigen Jahr ver- Nö. Wir waren nicht die ersten, und ginnen leichte Opfer in den Verkaufs- mehrt. dadurch war das bei uns schon etwas stellen sind. An das Thema wollen wir entspannter. Die damalige Gewerk- schon lange ran. Wir haben mal einen Wie viele wurden 2009 geschlossen? schaft HBV hatte zur Betriebsversamm- Sicherheitstarifvertrag ins Auge ge- Sechs Filialen. lung eingeladen, ein Wahlvorstand fasst, aber da das eine freiwillige Sa- wurde gesucht, ich hatte keine Ahnung, che ist, kommen wir nicht wirklich ran, Seit wann wisst ihr von den Schle- was das ist. Meine Chefi n hat gesagt: aber wir arbeiten dran. cker XL-Plänen, durch Entlassungen Nehmt die, die hat eine große Klappe! Die Betriebserlaubnis für die Leihfi r- und Leiharbeit flächendeckendes So unromantisch bin ich zu dem Job ge- ma Meniar darf nicht verlängert werden. Lohndumping im Einzelhandel in Gang kommen. DIE LINKE hat ja auch viel mitgeholfen, zu setzen? dagegen was zu tun. Die ersten Berichte kamen Ende Fühlt ihr euch als Betriebsrat ernst ge- 2008 aus der Gerüchteküche. Dann nommen? Wie viel Kolleginnen und Kollegen seid wurden wir über den Gesamtbetriebs- Na ja, seitdem wir die Woche drei- ihr in eurem Bereich? rat und den Wirtschaftsausschuss, wo mal auf Gericht sind, werden wir schon 169, ausschließlich Kolleginnen. meine Stellvertreterin ist, informiert. ernster genommen als andere. Welche Unterstützung wünscht ihr Wie haben die Kolleginnen darauf re- Gibt’s auch Erfolgserlebnisse? euch von den Kundinnen und Kunden? agiert? Jede Menge. Wir klagen gegen Dass sie uns als AS unterstützen Unterschiedlich. In unserem Be- Zwangsversetzung und gegen Einstel- und dass sie Schlecker XL boykottie- reich gibt es noch keinen XL-Laden, lung von befristeten Aushilfen, denn ren, so lange, bis wir dafür gesorgt ha- manche Bereiche spielen »Karteilei- das passt nicht zu den Anträgen auf ben, dass sie zu uns gehören und dass che« und machen nichts, und andere Kündigung von langjährigen Kollegin- unsere Mitarbeiterinnen zu den glei- klagen eben, dass sie zu uns gehören. nen; die Richter sehen das schon so chen Bedingungen da arbeiten können. Denn wo Schlecker drauf steht, ist auch wie wir. Denn größer und schöner, das wollen Schlecker drin. wir auch. Vor Jahren wurde publik, dass die Filia- Wie groß sind eure Befürchtungen, len nicht einmal über ein Telefon für ei- Interview: Stefan Richter

230 DISPUT Januar 2010 ARBEIT »... uns selbst aktivieren«

Zum Platz der LINKEN. Aus Reaktionen auf den Brief des Parteivorstandes Mitmachen! an die Mitgliedschaft

DISPUT veröffentlicht auf diesen Sei- sich »gegen Pauschalisierungen ... und muss jedoch gestärkt werden. In dem ten weitere Auszüge aus Wortmel- einseitige Beurteilungen und bemüht nötigen Streben nach Zusammenarbeit dungen der Basis zum Brief des Partei- sich um differenzierte und ausgewo- mit der SPD sollte es um Gemeinsam- vorstandes vom 17. Oktober 2009. gene Einschätzungen.« Die Wertung keiten gehen, ohne die Unterschiede im Koalitionsvertrag, die auch durch außer Acht zu lassen. Das stärkt not- Wir haben über euren Brief in einer andere vertreten wird, entspricht nach wendige Klärungsprozesse auch in der Mitgliederversammlung diskutiert (...) unserer Auffassung nicht den »Pro- SPD. Der in Brandenburg von der SPD und grammatischen Eckpunkten«, die auf In diesem Zusammenhang bewegt unserer Partei beschlossene Koaliti- dem Gründungsparteitag beschlossen uns eine weitere Frage: Sollten nicht onsvertrag regt uns zu Überlegungen wurden, und sie steht im Widerspruch auch unterschiedliche Auffassungen an, die diskutiert werden sollten. Es zu unseren Erkenntnissen und persön- der Partner, zum Beispiel zu geschicht- geht um Lehren für kommende Land- lichen Erfahrungen. Auch in unserem lichen Ereignissen, in dem Koalitions- tagswahlen, auch in unserem Bundes- Land wurden einige sozialdemokrati- vertrag Eingang fi nden? land. Wir bleiben bei unserer Position, sche Genossen, die Gegner der Verei- Ein gründlich diskutiertes Pro- Koalitionen weder grundsätzlich ab- nigung von SPD und KPD waren, unzu- gramm der Partei ist dringend nötig. zulehnen noch sie um jeden Preis zu lässig verfolgt. Mit der Herausbildung Die »Eckpunkte« wurden diskutiert. schließen. Wer Koalitionen will, muss der Partei neuen Typus und der damit Ein Entwurf für ein neues Programm ist bereit sein, Kompromisse einzugehen. verbundenen Abwertung sozialdemo- erforderlich, aber warum sollten nicht Koalitionen in einem Bundesland wer- kratischer Traditionen durch den Vor- Beiträge zur Diskussion – zum Beispiel den in Verantwortung der Landespar- wurf des Sozialdemokratismus wur- von den Mitgliedern der Programm- teiorganisationen verhandelt und ent- den auch Mitglieder der SPD aus Ver- kommission – öffentlich gemacht wer- schieden. antwortung verdrängt. In dieser Zeit den? Unsere Brandenburger Genossen änderte sich die Zusammensetzung Unsere volle Unterstützung fi ndet haben mit dem Koalitionsvertrag viel der SED. Viele sind erst nach dem April die Forderung im Brief: »Die politische erreicht. Uns bewegt jedoch die Fra- 1946 Mitglied der SED geworden. Die Praxis erfordert gemeinsame geistige ge, kann ein Landesverband in einem Mehrheit der Mitglieder der SPD ging Grundlagen, Qualifizierung und Bil- Koalitionsvertrag etwas festschreiben, jedoch überzeugt den Weg in die SED, dungsarbeit sind angesagt.« Nach un- was aus unserer Sicht nicht in seiner darunter bekannte sozialdemokrati- serer Erfahrung birgt die ständige For- alleinigen Verantwortung liegt. Es geht sche Funktionäre wie Carl Moltmann, derung nach mehr Pragmatismus und um Feststellungen oder Entscheidun- Wilhelm Höcker, Xaver Karl, Luise und Realpolitik die Gefahr in sich, politi- gen, die im Gegensatz zur Politik der Franz Höppner, die zum Teil bis zum sche Bildung zu vernachlässigen. Das Gesamtpartei stehen und auf Partei- Lebensende in leitendenden Funktio- Lesen und der nötige Meinungsaus- tagen oder durch den Parteivorstand nen wirkten. tausch werden unterschätzt. Die Pro- beschlossen wurden. Das betrifft zum Die Frage nach der Kompetenz ei- grammdiskussion kann die politische Beispiel das im Koalitionsvertrag nach- nes Landesverbandes entsteht auch Diskussion befördern. Gute Erfahrun- drückliche Bekenntnis zum Vertrag von mit der Zustimmung der Brandenbur- gen haben wir mit öffentlichen Veran- Lissabon. ger Genossen, die Braunkohlenge- staltungen im Stadtteil zu bestimmten Auch die folgende Formulierung winnung im Tagebau fortzusetzen. Im Themen mit kompetenten Referenten wirft die Frage nach der Zuständigkeit Wahlprogramm der Partei in Branden- sowie mit der Teilnahme an Veranstal- eines Landesverbandes der Partei auf: burg wurde das Gegenteil gefordert, tungen der Rosa-Luxemburg-Stiftung, »... die Arbeit der 1989 wiedergegrün- auch im Energiekonzept der Gesamt- die in unserer Stadt monatlich stattfi n- deten, zuvor von der SED seit 1946 un- partei geht es um erneuerbare Energie. den, gemacht. terdrückten und verfolgten Sozialde- Ähnliche Probleme ergeben sich auch Hans Wandt, Schwerin mokratie (hat) zur positiven Entwick- aus Festlegungen über einen Stel- lung unseres Landes entscheidend lenabbau im öffentlichen Dienst. Um den politischen Einfl uss der Partei beigetragen«. In den »Programmati- Das Ringen um eine Koalition ist ein zu verstärken, müssen wir uns selbst schen Eckpunkten« heißt es zur Ausei- äußerst komplizierter Prozess, und der aktivieren. In unserer Basisorganisati- nandersetzung mit der Geschichte der Teufel steckt im Detail. Die Glaubhaf- on besteht ein echtes Bedürfnis nach DDR und der BRD: DIE LINKE wendet tigkeit und das eigenständige Profi l regelmäßigen Zusammenkünften

DEBATTE DISPUT Januar 2010 024 und nach Gedankenaustausch. Wich- sen wir nicht. Einmal im Jahr könnte DIE LINKE muss zeigen, dass sie tige Themen mit entsprechend quali- aber ein Resümee gezogen werden. Bei mehr macht und bewegt als andere. fi zierten Referenten sollten jedoch in aktuellem Anlass muss natürlich sofort DIE LINKE muss die beste Opposition der Regel in einem größeren Rahmen reagiert werden. auf allen Ebenen sein oder als Betei- behandelt werden, wie das bei uns in Die Mitgliedschaft könnte attrak- ligte in Regierungen mehr für die ein- der KULTSchule Sewanstraße auf Ini- tiver werden, wenn zum Beispiel bei fachen Menschen bewegen und durch- tiative von Sprecherräten praktiziert einem Umzug entweder nach Ummel- setzen. Ehrlichkeit und Konsequenz wird. dung der Genossen im Stadtbezirks- sind da gefragt. Wir sind dennoch der Meinung, vorstand oder nach »automatischer« DIE LINKE beschäftigt sich zu oft mit dass BO unseres Schlages (mit einem Ummeldung durch die Kreise die neue sich selber nach außen. Besonders in sehr hohen Altersdurchschnitt) nicht BO unverzüglich informiert wird, damit den Spitzenfunktionen, da scheint für jedwedes Mitglied die politische die Aufnahme in der neuen BO in wür- viel Kraft zu verpuffen. LINKE-Politiker Heimat abgeben können. Deshalb er- diger Form erfolgen kann. Bei uns wur- müssen mehr Flagge zeigen, dort, wo scheint es uns wichtig zu sein, die de erst viel später, und zwar per Zufall, es besonders schlecht aussieht, was Möglichkeiten weiter zu entwickeln, in bekannt, dass wir zwei neue Genossen Arbeitslosigkeit und Perspektivlosig- denen sich Genossen entsprechend haben. Die BO sollten verpfl ichtet wer- keit betrifft. ihren unterschiedlichen Interessen, den, den übergeordneten Vorständen DIE LINKE muss mehr Jugendliche Fähigkeiten und Möglichkeiten in un- Wohnungswechsel mit neuen Adres- und junge Menschen anziehen, einbe- serer Partei organisatorisch verankern sen zu melden. ziehen, interessieren, auch machbare können. Die hervorragenden Bildungsange- Perspektiven gegebenenfalls deutsch- Die Vereinigung mit der WASG ist bote der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der landweit aufzeigen. von all unseren Genossen und Ge- Hellen Panke, unserer Lichtenberger LINKE-Politiker sollten offensiver, nossinnen begrüßt worden. Für unse- Sonntagsgespräche müssen besser ge- kritischer, auch selbstkritischer auf- re praktische Parteiarbeit hat sich al- nutzt werden. Wir fordern in fast jeder treten, sich mehr engagieren, auch un- lerdings dadurch nichts verändert. Wir Mitgliederversammlung zur Teilnahme bequemer einbringen von Kommunen könnten uns gegenseitige Kontakte – auf, aber nur wenige gehen hin. bis zum Land/Bund. möglichst vieler BO – zwischen Basis- Ein Mitglied hat einer Genossin, Wichtig ist die Frage, junge oder organisationen oder Sprecherratskrei- die Hartz IV-Empfängerin ist, ein ND- jung gebliebene Leute für DIE LINKE zu sen etc. aus Ost und West vorstellen. Geschenkabo gespendet. Das sollte gewinnen, Leute, die unzufrieden sind Wir bitten deshalb zur praktischen Ver- Schule machen, soweit die Vorausset- mit den gesellschaftlichen Erschei- wirklichung ein Mitglied des Bundes- zungen bestehen. nungen, mit Arbeitslosigkeit, die oh- tages aus den westlichen Ländern, uns (...) Überhaupt widerspricht es un- ne Leistungsbezug sind, die über Jah- eine BO aus seinem Bereich zu benen- serem Verständnis von Parteidiszip- re von staatlichen Stellen bitter ent- nen. Wir könnten bis zu fünf Genossen lin, wenn – was nicht selten geschieht täuscht sind. Senioren zum Beispiel anlässlich der – führende Funktionäre unserer Partei Manuel Mergel, Lübz Liebknecht-Luxemburg-Demonstra- ihre Standpunkte (nicht selten Privat- tion im Januar einladen. Dann wären meinungen) über bürgerliche Medien Euren Brief an die Mitglieder vom Ok- ein Berlin-Bummel und ein Gespräch in die Öffentlichkeit transportieren. tober will ich mal so beantworten: Wie mit Erfahrungsaustausch sowie eine BO 59/1, Berlin-Lichtenberg kommt ihr auf solche Fragen? Der Im- Übernachtung möglich. petus ist schon sehr bewegend. Weiter würden wir begrüßen, wenn Der Brief des Parteivorstandes bewegt Gerade weil die Genossinnen und zum Beispiel in der KULTSchule Sewan- mich, denn bei mir schlägt auch links Genossen der Partei eine mannigfalti- straße öfter Genossen aus den west- das Herz und man kann einfach nicht ge Lebenserfahrung haben, muss die lichen Bundesländern als Referenten mit den Dingen zufrieden sein, die ak- Pluralität der Partei auch weiterhin er- oder Gesprächspartner auftreten wür- tuell und auch in den Jahren vorher in halten bleiben. Das Kriterium der An- den. der Gesellschaft von Politik und Staat erkennung als Mitglied der LINKEN, Unser Einfl uss auf die Jugend sollte dem Otto Normalbürger verordnet wer- in welcher Form/Formation auch im- unbedingt verstärkt werden. Hier se- den oder verordnet worden sind. Vie- mer, kann nur seine Anerkennung des hen wir zunächst nur über zentrale le Menschen sind schon verzweifelt, Friedens als oberste Priorität sein. Da- Netzwerke entsprechende Möglich- haben jedes Vertrauen zu Politik und zu gehört die Beantwortung der Eigen- keiten. Was können wir tun, um fru- Staat verloren, die Gesellschaft wird tumsfrage im Marx’schen Sinn. strierte »linke« Jugendliche zu bewe- von Lobbygruppen aufrechterhalten. Zu 2.: Das wäre sicherlich einfacher gen, dass sie ihren Protest in wirk- Für die immer weniger werdenden Ju- zu postulieren, wenn es uns gelän- samen, gesellschaftlich akzeptierten gendlichen und jungen Menschen gibt ge, als europäische Linke aufzutreten, Formen zum Ausdruck bringen? Dieses es leider kaum noch Perspektiven trotz die vom Atlantik bis zum Ural/Mittel- Potenzial sollten wir für uns interessie- einer alternden Gesellschaft, auch die meer die gleichen Probleme hat. Dar- ren. Auf Stadtbezirks-und Landesebe- Parteien veralten, da das Interesse für um wäre meines Erachtens eine Kam- ne könnten Bildungs- und Begegnungs- Politik immer weniger wird und junge pagne zur Vertiefung des europäischen möglichkeiten (auch zwischen den Ge- Leute kaum Chancen haben (bekom- Bewusstseins bei den Mitgliedern der nerationen) angeboten werden. men). LINKEN sinnvoll, die aber keine Kam- Unsere BO versucht durch Hinwei- Ich gehöre zu den jungen Men- pagne bleiben darf. se, Stellungnahmen und Forderungen schen, die als Erwachsene unter 25 Wir kämen weiter, wenn die Mitglieder Einfl uss auf die Politik unserer Partei zu Jahren nicht einmal ALG 2 beantragen als Mitglieder behandelt würden, nicht nehmen. Zumeist haben wir Antwort er- und erhalten können, ohne Einkom- nach ihrer »Schubfach«zugehörigkeit. halten. Informationen an die Leitungen men dastehen, arbeitswillig sind, mo- In diesem Sinne wünsche ich uns eine sollten aber öfter erfolgen. Ob dazu ein bil sind, sich auch für Politik interes- erfolgreiche Programmdebatte. Schema entwickelt werden sollte, wis- sieren, mitmischen wollen. (...) Harald Zieseniß, Waren

25 0 DISPUT Januar 2010 Eine neue Erzählung von links

Nicht gegen, sondern für Demokratie und Freiheit. Mitmachen! Einige Vorschläge zur Diskussion Von Katja Kipping

In den ersten Jahren nach ihrer Grün- reich verhindert und damit die Mög- risiert. Die Verhältnisse werden grund- dung hat sich DIE LINKE organisato- lichkeit der Beschäftigten, für besse- legend hinterfragt und dabei gibt es risch neu aufgestellt und viele Wahl- re Löhne und bessere Arbeitszeiten zu keine Scheu vor Widerständen. Aller- kämpfe erfolgreich geführt. Was nun streiten, beeinträchtigt. Hier zeigt sich dings gehört zum Wesen dieser Grund- ansteht, ist die inhaltliche NeuBEgrün- beispielhaft, wie stark die Kämpfe um haltung der hohe Stellenwert der Frage dung linker Politik im 21. Jahrhundert. Freiheitsrechte und um soziale Rechte nach der demokratischen Legitimation Dazu möchte ich im Folgenden auch zusammengehören. der angestrebten Gesellschaftsverän- mit Hinblick auf die Programmdiskus- derungen. Zum anderen steht Transfor- sion einige Vorschläge unterbreiten. Verfügungsgewalt über mation für die strategische Grundsatz- Produktionsverhältnisse sowie entscheidung, die unterschiedlichen Eine LINKE der Demokratie und das eigene Leben Zeithorizonte, die jeweils dem Reform- Selbstbestimmung und dem Revolutionskonzept zugrun- Zur NeuBEgründung linker Politik ge- de liegen, zusammenzuführen. Es geht DIE LINKE versteht sich ausdrück- hört meiner Meinung nach, zukünftig also um die Verknüpfung kurzfristig er- lich als Partei der sozialen Gerechtig- gleichberechtigt sowohl um die Ver- reichbarer Reformschritte mit langfris- keit. Sie muss aber ebenso die Partei fügungsgewalt über Produktionsmit- tig angestrebten, grundlegenden Ver- der Freiheitsrechte und der Demokra- tel als auch um die Verfügungsgewalt änderungen. tie werden. Linke Skeptiker/innen des über das eigene Leben zu streiten. Zur Auf der Suche nach treffenden Be- Freiheitsbegriffs wenden unter Beru- Verfügungsgewalt über die Produkti- schreibungen für Transformation wur- fung auf Bertolt Brecht gern ein: Was onsbedingungen gehört natürlich die de ich in dem Buch »Unterhaltungen nützt es dem Hungernden, wenn er sei- Eigentumsfrage. Doch ich betrachte über den Sozialismus nach seinem ne Meinung sagen kann? Gegenfrage: das weniger als eine Frage des formal Verschwinden« fündig. »Die Erfahrung Was nützt es dem Gefolterten, wenn juristischen Eigentumstitels. Vielmehr lehrt«, so Wolfgang Fritz Haug, »dass die Henkersmahlzeit besonders üppig geht es darum, dass die Beschäftigten der reformistische Kampf zur perspek- ausfällt? mitbestimmen, was und wie produziert tivlosen Anpassung verkommt, wenn er Das Bild des Hungernden, dem es wird. Zur Verfügungsgewalt über das ei- seinen utopischen Horizont aus dem nichts nützt, seine Meinung sagen zu gene Leben gehört die freie Wahl des Blick verliert.« Nahziele, so sein Fazit, dürfen, ist irreführend: Die Möglichkei- Berufs und der Tätigkeit, der man nach- »brauchen Fernziele zur Orientierung.«1 ten, erfolgreich gegen Hunger zu kämp- geht, gehört die Mitbestimmung über Umgekehrt brauchen diese Fernzie- fen, sind in einer freiheitlichen Gesell- die Arbeitszeit, gehört die Freiheit, den le auch Stützpunkte in der Gegenwart. schaft größer. Die Aussichten auf einen Wohnort zu wechseln und über den ei- Wenn das Fernziel am anderen Fluss- erfolgreichen Kampf für Umverteilung genen Körper selbst zu entscheiden. ufer liegt, muss man irgendwann an- von oben nach unten sind hingegen in fangen, einen Brückenkopf Richtung einer Gesellschaft, in der Regimegeg- Zukunft zu bauen. Eine LINKE der Transformation ner/innen mit Repressionen rechnen müssen, deutlich schlechter. Wenn Wer über eine neue LINKE spricht, Transformationsprojekt bedin- heute Konzerne beispielsweise China muss sich auch Gedanken darüber ma- gungsloses Grundeinkommen als Paradies betrachten, dann liegt das chen, wie sie ihre Ziele umsetzen soll. eben auch daran, dass die Menschen Der Streit zwischen Reform und Revolu- Sich auf dem strategischen Weg der dort keine Freiheitsrechte genießen, tion ist alt. Im Versuch, diesen Konfl ikt Transformation einzulassen bedeu- die es ihnen erlauben würden, huma- zu beheben, fällt gelegentlich der Be- tet auch, sich der Debatte um konkre- ne Arbeitsbedingungen durchzusetzen. griff Transformation – eine Denkfi gur, te Transformationsprojekte zu stellen. Auch in Deutschland ist aktuell zu die allein schon wegen ihres spröden Für mich hat kein Projekt so sehr das beobachten, wie die Einschränkung Klanges abschreckend wirkt und eher Potenzial dazu wie das bedingungs- von Grundrechten und die Einschrän- an staubiges Knäckebrot erinnert als lose Grundeinkommen. Dieses sollte kung von sozialen Rechten Hand in an eine fetzige Losung. Die Fans der Re- zumindest ein Leben jenseits der Ar- Hand gehen. Vor einiger Zeit gerieten volution beäugen diesen Begriff miss- mut ermöglichen und ohne Bedürftig- die Discounter Lidl und Schlecker in trauisch in der Sorge, dahinter verste- keitsprüfung und ohne Zwang zur Ar- die negativen Schlagzeilen. Grund da- cke sich womöglich doch nur die refor- beit ausgezahlt werden. Die Einfüh- für war, dass diese Unternehmen ihre mistische Anpassung. Die Reformer/in- rung des Grundeinkommens würde die Beschäftigten heimlich mit Videoka- nen tun sich ähnlich schwer mit einer Menschen von Existenzangst befreien. meras ausgespitzelt hatten, und das erweiterten Perspektive. Insofern ist es erst einmal ein Ansatz, bis in den Umkleidekabinen. Und die- Doch die Denkfi gur Transformation welcher die Lebenssituation im Hier se Firmen traten nicht allein das Frei- hat es verdient, dass man sich gründ- und Heute verbessert. Darüber hinaus heitsrecht auf informelle Selbstbestim- licher mir ihr beschäftigt. Meiner Mei- greift das Grundeinkommen eine ent- mung mit Füßen. In vielen Filialen die- nung nach trägt sie einen Doppelcha- scheidende Voraussetzung der kapita- ser Unternehmen wurde bisher die rakter. Zum einen wird sie durch eine listischen Ausbeutung an – namentlich Gründung eines Betriebsrates erfolg- widerständige Grundhaltung charakte- die Abhängigkeit derjenigen, die nicht

DISKUSSION DISPUT Januar 2010 026 über Produktionsmittel verfügen und KLAUSUR DER BUNDESTAGSFRAKTION nur ihre Ware Arbeitskraft anzubieten haben. Damit ist es auch ein revolutio- näres Projekt. Ein bedingungsloses Grundeinkom- men würde diejenigen, die nur ihre Ar- beitskraft zum Anbieten haben, zwar nicht völlig aus dieser Abhängigkeit be- freien. Aber es würde sie in eine deut- lich bessere Verhandlungsposition ver- Afghanistan-Abzug Bestverdiener, Großkonzerne. Die setzen. Sie wären nicht mehr zwin- Umverteilung von unten nach oben gend auf den sofortigen Verkauf ihrer in diesem Jahr! muss gestoppt und umgekehrt wer- Arbeitskraft angewiesen. So eröffnen In ihrer Klausurberatung hat sich die den. sich neue Möglichkeiten für die Mit- Fraktion DIE LINKE auf Schwerpunk- 4. Der Fall Schlecker hat es noch bestimmung, für das Erstreiten ökolo- te ihrer politischen Arbeit bis zur einmal drastisch vor Augen geführt: gischer Standards und höherer Löhne Sommerpause verständigt. Die Ab- Leiharbeit entrechtet Beschäftig- oder besserer Arbeitszeiten. Ein Grund- geordneten waren sich darin einig, te und drückt die Löhne. DIE LINKE einkommen erleichtert auch die Grün- dass angesichts der von der CDU/ will die Leiharbeit zurückdrängen dung von Genossenschaften oder an- CSU-FDP-Koalition für die Zeit nach und sich erneut für einen fl ächende- deren Formen der freien Assoziation der NRW-Wahl angekündigten sozi- ckenden gesetzlichen Mindestlohn und kann damit die Voraussetzung für alen Einschnitte eine starke Linke einsetzen. eine allmähliche Vergesellschaftung in Bund und Ländern nötiger denn 5. DIE LINKE bleibt dabei: Hartz bieten. Natürlich gibt es keine Garan- je ist. IV muss weg. Wir werden Vorschlä- tie dafür, dass mit der Einführung des 1. Dies gilt in gleichem Maße für ge für einen Richtungswechsel hin Grundeinkommens der Kapitalismus den Abzug der Bundeswehr aus Af- zu einer repressionsfreien sozialen überwunden wird. Aber in einer Gesell- ghanistan. Diese Forderung der LIN- Grundsicherung unterbreiten. schaft, in der ein Grundeinkommen er- KEN ist zum beherrschenden Thema 6. Laut Deutscher Rentenversi- stritten wurde, sind die Voraussetzun- der gesellschaftlichen Debatte über cherung waren im September 2008 gen für eine grundlegende Transforma- den Afghanistan-Einsatz geworden. nur noch 7,4 Prozent aller 63- und tion der Gesellschaft auf demokrati- DIE LINKE wird deshalb entsprechen- 64-Jährigen in einer sozialversiche- sche Art und Weise deutlich besser. de Initiativen ergreifen, damit das rungspflichtigen Vollzeitbeschäfti- Letztlich geht es dabei auch – und Jahr 2010 das Jahr des Abzugs der gung. Die 2010 fällige Überprüfung dies ist mein Vorschlag für die anste- Bundeswehr aus Afghanistan wird. der Rente erst ab 67 muss deshalb hende Programmdiskussion – um ei- 2. Als zentrales Projekt aller Frak- genutzt werden, um diese Renten- nes der Anliegen der Französischen tionen der Linken in Bund und Län- kürzung zu stoppen. Revolution. Gefragt ist der »Citoyen«, dern geht es der LINKEN um die Wie- 7. DIE LINKE wird sich für die Er- der Staatsbürger also, der im Geist der dergewinnung des Öffentlichen, haltung und den Ausbau der solida- Aufklärung lebt, die »Citoyenne«, die insbesondere durch die Rekom- rischen Sicherungssysteme und ins- Staatsbürgerin, die aktiv am öffentli- munalisierung der öffentlichen Da- besondere für die Einführung einer chen Leben teilnimmt. Der Citoyen bzw. seinsvorsorge. Bürgerinnen- und Bürgerversiche- die Citoyenne sind stolz, Träger und 3. Dem Steuersenkungswahn von rung einsetzen. Dazu gehört eine Trägerin der erkämpften Freiheitsrech- Schwarz-Gelb setzt DIE LINKE eine staatliche Garantie gegen Krisenfol- te zu sein. Diese starke Bezugnahme Politik der Steuergerechtigkeit ent- gen für die soziale Sicherung ebenso auf Freiheit kennt der deutsche Begriff gegen. Steuersenkungen für nied- wie die Verhinderung von Kopfpau- des »Bürgers« nicht, erst recht nicht rige und mittlere Einkommen, hö- schale und Kapitalstock in Gesund- der duckmäuserische Privatbürger der here Belastungen für Vermögende, heit und Pfl ege. neuen Bürgerlichkeit. Doch die Wie- derentdeckung und Weiterentwicklung des »Citoyen« als Leitbild könnte eine zentrale Mission der Linken im 21. Jahr- hundert darstellen. Die Zeit war längst reif für eine Partei, die sich dem radi- kaldemokratischen Aufbruch verpfl ich- tet fühlt. Eine neue Erzählung von links steht an – nicht gegen, sondern für De- mokratie und Freiheit.

Katja Kipping ist stellvertretende Parteivorsitzende. [email protected]

1 Wolfgang Fritz Haug und Frigga Haug (Hrsg.): Unterhaltungen über den So- zialismus nach seinem Verschwinden.

Berlin 2002. Berliner Institut für Kriti- Wehnert © Erich sche Theorie. Seite 14. Zum politischen Jahresauftakt drängten 700 Gäste ins Berliner Congress Center.

270 DISPUT Januar 2010 Im Mai 2010 wählt Nordrhein-Westfalen den Landtag, womit sich historisch ein Kreis schließt. Denn vor fünf Jahren, am 22. Mai 2005, trat in NRW die WASG erstmals zu einer Wahl an, sie erreichte 181.988 Stimmen (2,2 Prozent; die PDS: 0,9 Pro- zent), und nur Tage darauf trafen sich Ver- treter von WASG und PDS das erste Mal, und es begann die einzigartige Entwick- lung bis hin zur Gründung der LINKEN. Mir kommt das noch ganz frisch vor.

Lass uns zunächst weiter zurückgehen. Wenn man sich dei- ne Biografi e anschaut, kann man zu dem Urteil gelangen, du hast immer gegen etwas aufbegehrt – und wenn du ge- gen etwas aufbegehrt hast, dann mit großer Konsequenz. Mit 15 bist du zu Hause ausgezogen ... Warum eigentlich? Ich hab mich mit meinem Stiefvater nicht verstanden. Ich hab eine Lehre begonnen und bin in ein Lehrlingswohnheim gezogen. Dort war ich derjenige, der am frühesten aufstehen musste: Die anderen lernten in einer Bank, ich machte ei- ne Lehre als Elektromechaniker. Nach drei Monaten half mir meine Mutter, ein möbliertes Zimmer zu fi nden. Das Lehr- lingsgeld waren so 110 Mark.

Als Lehrling, so ist zu lesen, hast du dich mit der Betriebs- leitung angelegt. Obwohl es eine der besten Ausbildungsfi rmen war, lie- ßen sie uns schnell spüren, dass Lehrjahre keine Herrenjah- re sind. Wir wurden oft herablassend behandelt. Ich ließ mir das nicht gefallen und habe eine Jugendgruppe gegründet. Wir wurden ja als Lehrlinge immer beurteilt. Da haben wir ge- sagt, jetzt drehen wir den Spieß mal um, jetzt beurteilen wir mal die Ausbilder. Wir haben so viele Leute mobilisiert, dass die Ausbildungsleitung dann mit uns verhandeln musste.

Das war eine Jugendgruppe in der Gewerkschaft? Nein, das war eine eigenständige Jugendgruppe. Aber das ging nicht sehr lange. Ich bin dann schnell in meinem Betrieb zum Jugendvertreter gewählt worden. Der Jugendse- kretär der IG Metall kümmerte sich darum, dass wir gewerk- schaftlich geschult wurden. Als wir vom Lehrgang wiederka- men, haben wir fast alle Auszubildenden gewerkschaftlich organisiert: 300. Das war für eine Elektronikfi rma sehr viel. Später wurde ich dann in den Betriebsrat gewählt. In der IG Metall wurde ich Vorsitzender des Ortsjugendausschusses und der DGB-Jugend in München. Meine erste Rede hielt ich vor 2.000 Leuten im Betrieb zu einem Firmenjubiläum. Für die Beschäftigten gab’s zu dem Anlass bei Weitem weniger Geld, als die erwartet hat- ten. Gleichzeitig wurde den Brotzeitfrauen – das waren Frau- en, die vom Wagen aus im Betrieb Brötchen verkauft haben »Wir haben eine – gekündigt, es würde sich nicht mehr rentieren. Auf der Be- triebsversammlung habe ich das kritisiert: Während die Be- schäftigten nach vielen Jahren in der Firma genauso dran Riesenchance« sind wie vorher, haben die Eigentümer einige Milliönchen auf ihrem Konto. Aber das langt ihnen noch nicht; das, was die Brotzeitfrauen kosten, wollen sie auch noch einsacken. – Über Widerspruchsgeist, konkrete Das schlug da ein wie eine Bombe. Das freut mich jetzt noch, Bedürfnisse, die Gründung der WASG – wenn ich mich daran erinnere. und über Fragen, die diskutiert werden Wo rührt dein Widerspruchsgeist her? Und: Was stand dazu müssen. Ein Gespräch mit Klaus Ernst in deinem Schulzeugnis? Ich habe die Mittelschule abgebrochen, als ich von zu Hause weg bin. Mit guten Lehrern kam ich gut aus, mit weni- ger guten weniger gut. Ich konnte es nicht aushalten, wenn ich das Gefühl hatte, ungerecht behandelt zu werden. Das

GESPRÄCH DISPUT Januar 2010 028 © Erich Wehnert Wehnert © Erich

konnte ich auch nicht aushalten, wenn es bei anderen war. und zwar auf der Straße mit möglichst vielen. Das war für In der Ausbildung wurde mal mein Nachbar so runter ge- mich wichtig. putzt, dass er geheult hat. Da hat es dann gekracht, da bin ich zum Chef: Was ist hier eigentlich los? So etwas mag ich Was war eigentlich dein erster Berufswunsch? nicht. Bis heute nicht. Ich hab da begriffen, dass man sich Ich hatte anfangs keinen konkreten Berufswunsch. Ich alleine nicht vernünftig wehren kann, dass man sich zusam- wollte was mit Technik machen. mentun muss. Und zu der Zeit, mit 16, 17, lernte ich Leute kennen, die für meinen Weg wichtig wurden. Die kamen aus Wie kamst du zur SPD? der Studentenbewegung. Mit denen habe ich viel diskutiert. Ich habe immer gedacht: Die Veränderungen in der Ge- Diese Gespräche haben mich politisch weitergebracht. sellschaft müssen aus dem Betrieb heraus erfolgen. Eine Nach meiner Ausbildung wollte man mich nicht überneh- Veränderung im Betrieb ohne starke Gewerkschaften ist men. Woanders gab es ähnliche Fälle. Die IG Metall mach- nicht möglich. Innerhalb der Gewerkschaft war es damals te dann bundesweit eine Aktion: Von den Kollegen gewählt, fast selbstverständlich, auch zur SPD zu gehen. Damals war von den Bossen gefeuert. Und im Ergebnis der Aktion habe klar: Wenn du in der Gewerkschaft oder in der Gesellschaft ich meinen Job behalten. Außerdem wurde das Betriebsver- was nach vorn bewegen willst, dann musst du in der SPD fassungsgesetz geändert, der Paragraf 78a kam hinzu. Da sein. hab ich gespürt, dass man gemeinsam was bewirken kann, 1972 – ich war noch Lehrling – habe ich Wahlkampf für

290 DISPUT Januar 2010 »Bei den Verhandlungen war aus meiner Sicht besonders wichtig: Es darf nicht der Eindruck erweckt werden, als gehe es um eine Westausdehnung der PDS – dann hätte es nicht geklappt. Das gilt bis heute. Wir sind im Osten viel homogener und im Westen absolut heterogen.« © Erich Wehnert (3) Wehnert © Erich

Willy Brandt gemacht. Es war diese Aufbruchstimmung da- unserer Debatten war im März 2004 der Aufruf für die In- mals, die mich mitgerissen hat. Ich war aber immer mehr Ge- itiative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit. Unsere Forde- werkschafter als Sozialdemokrat. Bis heute. rung war, dass die SPD ihre Politik ändert. Wir haben an- gekündigt, eine wählbare Alternative zu gründen, wenn sie Wir müssen in die »Neuzeit« springen, sonst sprengt das das nicht tut. Eine erste Mail dazu verschickten Thomas Hän- Gespräch den Rahmen des Heftes: Eure Initiative für Arbeit del und ich. Der Aufruf wurde dann an Freunde und Gewerk- und soziale Gerechtigkeit hängt mit der Agenda 2010 und schaftsbevollmächtigte, die wir kannten, versandt. mit der SPD zusammen. 1998 wollten wir einen politischen Wechsel nach 16 Jah- Hattet ihr die feste Absicht, eine Partei zu gründen, oder ren Kohl. Wir bekamen eine neue Regierung, aber keine sollte dies der letzte mögliche Schritt sein? andere Politik. Ich erinnere mich: hatte in Ein Teil von uns sieben hat noch dran geglaubt, dass sich Schweinfurt erklärt, in der Steuerpolitik müsse umgesteuert die SPD verändert, der andere Teil hat nicht daran geglaubt werden. Aber einer der ersten Akte von Rot-Grün war, dass und ist davon ausgegangen, dass es in eine Partei münden sie die Abfi ndungen von Arbeitnehmern höher besteuerten. wird. Der erste richtige Knall war dann die Steuerpolitik. Der Spitzensteuersatz wurde dramatisch gesenkt. Der nächste Du gehörtest zu welchem Teil? Knall war die Riester-Rente, die Privatisierung der Rente. Das Ich hab nie geglaubt, dass wir die SPD verändern können. war im Jahr 2000. In Schweinfurt haben wir dagegen Arbeits- Aber wir wollten möglichst viele mitnehmen. Ich muss- niederlegungen organisiert. Leider blieben wir bundesweit te an die Gewerkschafter denken; die waren sauer über die fast die einzigen aus dem Gewerkschaftslager, die sich ge- SPD, aber viele wollten noch keine andere Partei. Manche wehrt haben. Die Rente zu privatisieren war ein Paradigmen- von denen, die mich von der Parteibildung abhalten wollten, wechsel, es war für viele eine Katastrophe. Ich wurde in den sind heute Mitglied der LINKEN. Betrieben angesprochen, wofür ich denn Werbung gemacht hätte ’98. Was sich Rot-Grün erlaubt hat, hätte Schwarz- Wie groß war die Sorge, plötzlich ziemlich allein dazuste- Gelb nicht gewagt. Gewerkschaften und SPD wären dage- hen, weil vielleicht andere der Mut verlässt? gen Sturm gelaufen. Aber jetzt war die SPD praktisch zum La- Ich war mir sicher, dass das klappt. Aber dann ist Folgen- ger der politischen Gegner übergelaufen. Nicht nur ich fühl- des passiert: Wir wollten eigentlich eine bundesweite Initia- te mich betrogen. Bei der Rentenreform 2000 hatte ich das tive. Doch die Presse bekam zu früh Wind davon, wir mach- erste Mal die Idee einer neuen Partei. Es gab einen Artikel in ten kurzfristig eine Pressekonferenz mit 150 Journalisten. Als der »Süddeutschen«, und alle haben mich ausgelacht. Bis alles bekannt wurde, sind wir ganz schnell aus der SPD aus- auf einen Ortsverein der SPD, der wollte sofort mitmachen. geschlossen worden. Doch das war zu früh, viel zu früh. Unser Büro hatten wir in Fürth. Plötzlich trafen all die So- lidaritätserklärungen und Initiativen ein. Das führte dazu, Wann war’s höchste Zeit? dass Thomas Händels Privat-Fax, auf dem die unterschrie- Der Höhepunkt war Schröders und Steinmeiers Agenda benen Rücksendungen eingingen, durchgebrannt ist. 2010, die die SPD fast widerstandslos hingenommen hat. Das Ziel der Hartz-Gesetze ist nicht nur das Quälen der Men- Wer ist auf den Namen der Initiative gekommen? schen, sondern das Senken der Löhne. Und dafür ist Hartz Da sind wir gemeinsam drauf gekommen. Wir haben uns ein Vehikel, weil die Menschen so viel Angst haben vor Ar- gesagt: Arbeit und soziale Gerechtigkeit, das sind die The- beitslosigkeit und Hartz IV, dass sie bereit sind, immer nied- men, die die Leute diskutieren und die die SPD nicht mehr rigere Löhne zu akzeptieren. Das geschieht ja auch heute. besetzt. Die wollten und wollen wir bis heute besetzen. Es Das war der letzte Anlass, dass Gewerkschaftssekretäre wie bringt ja nichts, nur über abstrakte Visionen zu reden. Die Günther Schachner, Thomas Händel, Peter Vetter, Anny Hei- Leute haben auch heute konkrete Bedürfnisse und Interes- ke, Gerd Lobodda und ich sagten, es geht nicht mehr mit der sen. Ein 75-jähriger Rentner ist vielleicht für den Sozialismus, SPD, in der wir alle Mitglied waren. Der profi lierte linke Öko- aber er weiß nicht, ob er ihn noch erlebt. Deshalb ist er zwi- nom Herbert Schui hat uns sofort unterstützt. Das Ergebnis schenzeitlich auch für mehr Rente und für einen ordentli-

GESPRÄCH DISPUT Januar 2010 030 chen Job für die Enkel. Wir wollten möglichst konkret sein im Wart ihr mit dem NRW-Wahlergebnis zufrieden? Hier und Jetzt und dafür die Menschen gewinnen. Manche hatten vorher gleich an einen Durchmarsch in Unser Ziel war der Antritt bei der Bundestagswahl 2006. den Landtag geglaubt, ich fand die 2,2 Prozent recht akzep- Für den Weg dahin gab es unterschiedliche Linien. Meine Li- tabel. nie war, eine Plattform für all die Menschen zu bilden, die Nach Schröders Neuwahl-Entscheidung kamen wir unter sich von der Sozialdemokratie und den Grünen nicht mehr unwahrscheinlichen Druck. Nach vielen Debatten entschie- vertreten fühlten. Andere wollten auch alle zerstreuten Lin- den wir uns, offi zielle Gespräche mit der PDS über einen ken sammeln. Wir waren uns damals sogar einig, uns nicht möglichen gemeinsamen Wahlantritt aufzunehmen. Nach als links zu bezeichnen. Wir wollten uns über ganz konkre- großer Kritik stimmten die WASG-Kreisvorsitzenden zu. Denn te Inhalte defi nieren. Denn viele, die uns recht gaben, fühl- die PDS war nicht das, was die WASG wollte. Die WASG war ten sich nicht als Linke. Das ist noch heute so. Meine The- alles andere als eine sozialistische Partei. Dennoch wollten se lautet, dass bei unserem alten Wahlziel – 10 plus X – das wir eine Kooperation mit der PDS versuchen, um im Bundes- X umso größer wird, je mehr von diesen Leuten uns wäh- tag eine starke Opposition zu gewährleisten. Wir haben ver- len. Wenn wir eine gesamtdeutsche Volkspartei werden wol- handelt, und es kam zu den verschiedenen Kooperations- len, brauchen wir die und sie müssen sich von uns vertre- abkommen. ten fühlen. Welche Eindrücke hattest du von deinen Gesprächspartne- Wie habt ihr die PDS gesehen, spielte sie in euren Überle- rInnen von der PDS? gungen eine Rolle? Wir haben ausschließlich mit Leuten aus dem Osten ver- Die spielte anfangs keine große Rolle. Wir waren uns si- handelt. Das waren spannende Leute mit ihrer eigenen Ge- cher: Die würden im Westen nie was hinkriegen. In Schwein- schichte, und man konnte mit ihnen klarkommen. Trotzdem furt gab’s drei oder vier Leute, in größeren Städten ein paar blieben natürlich die Vorbehalte gegen die PDS im Westen. mehr. Im Osten sah’s natürlich anders aus. Deswegen war Deswegen war ja für den Antritt bei der Bundestagswahl die meine allererste Idee: Die PDS im Osten als Volkspartei und Frage des Namens ein Riesenproblem. Das wäre nie unter wir im Westen machen eine Fraktionsgemeinschaft. Das geht PDS gelaufen. Dann sind wir auf die Idee gekommen, dass aber wahlrechtlich nicht. Eine Partei muss mehr als fünf Pro- sich die PDS in Linkspartei.PDS umbenennt und dass im zent der Stimmen aller Wähler in der Bundesrepublik haben. Westen der Zusatz PDS weggelassen wird. Bloß in Bayern Dieser Weg war versperrt. Also war klar: Es muss eine eige- hat der Landesverband der PDS gegen die eigene Beschluss- ne Partei sein. lage gehandelt und uns bei der Wahl als Linkspartei.PDS an- Zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 2005 wollten gemeldet. Das hätte fast das ganze Ding zum Scheitern ge- wir nicht unbedingt antreten, weil unser Ziel die Bundestags- bracht. wahl 2006 war und wir eigentlich zu wenig Geld hatten, um Bei den Verhandlungen war aus meiner Sicht besonders beide Wahlkämpfe zu bestehen. Aber das war dann in NRW wichtig: Es darf nicht der Eindruck erweckt werden, als ge- nicht vermittelbar. Wir haben damals praktisch unser ganzes he es um eine Westausdehnung der PDS – dann hätte es Geld in den NRW-Wahlkampf gesteckt. nicht geklappt. Das gilt bis heute. Wir sind im Osten viel ho- mogener und im Westen absolut heterogen. Wir haben das Im NRW-Wahlkampf hat euch Oskar Lafontaine unterstützt. mit den Kooperationsabkommen versucht auszugleichen. Wie kam es dazu? Inhaltlich strittige Fragen waren die Frauenquote, die Tren- Oskar Lafontaine kannte ich von einer Veranstaltung in nung von Amt und Mandat, die Beitragsregelung. Das sind Schweinfurt vor der Parteigründung. Nachdem unser Projekt ja alles noch aktuelle Themen. bekannt war, rief ich ihn an, ob er mitmacht. Und er hat zu- rückgerufen. Es gab die Absprache, dass Oskar uns in NRW In der WASG gab es nicht geringen Widerstand gegen einen unterstützt, doch bis zur Wahl abwartet. Er hat dann nach der Fusionskurs. Aus welchen Gründen? Wahl erklärt, uns zu unterstützen, wenn sich PDS und WASG Teile der WASG wollten die Fusion absolut nicht. Die einen, zusammentun. Oskar hat dann für die Bundestagswahl den weil sie darin die Aufgabe unseres Projektes sahen, das ja entscheidenden Schub gebracht. breiter angelegt war als die PDS. Eine andere Gruppe, weil

310 DISPUT Januar 2010 sie meinte, dass das die Übernahme durch die PDS bedeu- ohne Zugang zu den Gewerkschaften ist unmöglich. Die Unter- tet. Nur mit ganz knapper Mehrheit wurde auf dem entschei- stützung der organisierten Arbeitnehmer macht uns stark. Das denden Parteitag für die Fusion gestimmt. In zwei Urabstim- Bündnis mit den Gewerkschaften verspricht Erfolg. mungen wurde diese Linie aber mit großer Mehrheit bestätigt. Nicht die vielen kleinen und kleinsten Gruppen haben Er- gebnisse erreicht, sondern wir: langjährige Gewerkschafter, Was ist geblieben von den Ansprüchen des WASG-Projektes, die sich nie ausgegrenzt, sondern immer stark gefühlt und was muss noch geklärt werden? selbstbewusst gehandelt haben. Wir haben erreicht, dass sich alle Parteien wieder um Sozi- alpolitik kümmern. Und auch die Friedenspolitik. Es gibt wie- Wie hast du dich verändert in den vergangenen fünf Jahren? der eine Opposition. Es werden wieder Alternativen diskutiert. Für viele von uns war das wichtigste Motiv sich zu enga- Alle anderen Parteien bewegen sich. Das ist ein Riesenerfolg. gieren, die Lebensverhältnisse der Menschen real zu verän- Es war richtig, das mit der PDS zu machen. Auch weil die Fra- dern. Die wollten sich zum Beispiel nicht mit der Geschichte ge vor der Bundestagswahl 2005 stand, was passiert, wenn der DDR oder mit Stasi-Fällen auseinandersetzen – aber jetzt keiner reinkommt. Dann hätten wir ein Parlament ohne Op- müssen sie es. Plötzlich muss ich zum Beispiel ein Interview position gehabt. Ich bin heute davon überzeugt, dass es der zur Stasi machen, da hab ich natürlich keine Lust drauf. Aber WASG ohne das fehlende Geld nicht möglich gewesen wäre, ich mache es, um unser Projekt zu stabilisieren. In diesen Fra- bei den vorgezogenen Bundestagswahlen einen erfolgreichen gen bin ich nun mal glaubwürdiger als Frau Merkel, die in der Wahlkampf zu führen. Dazu kommt, dass im Osten der Aufbau FDJ war, als ich noch SPD-Mitglied war. der WASG genauso wenig gelungen ist wie der PDS der Auf- Ich bin ernüchtert über den parlamentarischen Ablauf. In bau im Westen. den Debatten geht es nicht um die besten Lösungen, sondern Noch haben wir eine ganze Reihe von Fragen zu beantwor- um die Diffamierung des politischen Gegners. Wie viel Zeit man da vertut! In der gleichen Zeit kannst du als Gewerkschaf- ter Vereinbarungen treffen, die den Menschen wirklich helfen. Geboren: 1. November 1954 in München, 15jährig aus Eltern- Ich habe auch gemerkt, dass es in der Partei nicht jedem haus, Schulabbrecher, Elektromechaniker, Jugendvertreter, um die Änderung der Verhältnisse in der Welt geht, sondern Betriebsrat, Studium Volkswirtschaftslehre/Sozialökonomie um seine eigenen Einkommensverhältnisse, da geht’s man- in Hamburg, seit 1985 Gewerkschaftssekretär in Stuttgart, chem um einen Platz am warmen Ofen. Und darum, wie oft er seit 1995 1. Bevollmächtigter IG Metall in Schweinfurt, alle in der Zeitung steht. Das hat mich desillusioniert. vier Jahre von Delegierten aus den Betrieben gewählt. 12. März 2004: Mail mit Gründungsaufruf für politisches Gewisse Eitelkeiten unterstellt man doch von vornherein Po- Bündnis, das zur Bundestagswahl 2006 wählbar sein wollte. litikern? 19. März 2004: Hotel »Arvena« Nürnberg-Langwasser: Pres- Ich bin erst mit 50 in die Politik und hatte das nie vor. Ich sekonferenz zur Initiative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit war und bin Bevollmächtigter der IG Metall, und das mit gu- Ausschluss aus SPD im Sommer 2004 (nach 30 Jahren) tem Erfolg. Ich hab eine wunderschöne Alm (ohne Strom!) und Gründung der Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtig- kann mir auch das eine oder andere leisten. Deswegen war keit. Stellvertretender Vorsitzender der Partei DIE LINKE und meine Eitelkeit relativ begrenzt. Wir haben, als wir die Wahl- stellvertretender Vorsitzender ihrer Bundestagsfraktion alternative gründeten, gewusst, dass das unsere Gewerk- schaftskarriere nicht befördern wird, weil wir uns in Wider- spruch zu diesem SPD-dominierten Gewerkschaftsapparat ten. Die Gründungsdokumente der LINKEN lassen vieles of- stellen. Bei uns war das nicht Eitelkeit. fen. Wir müssen aufpassen: Die WASG war nie eine sozialisti- Inzwischen hab ich aber ein dickeres Fell gegen Verrückt- sche Partei! Viele aus der ehemaligen WASG fragen: Sind wir heiten in dieser Partei. Aber aus der Haut fahre ich immer jetzt Sozialisten? Was ist denn demokratischer Sozialismus? noch manchmal. Wo fängt er an, wo hört er auf? Ist es die Verstaatlichung des Bäckers, oder genügen die Stromnetze? Wir wollen den Ban- Was war denn für dich das Schönste in diesen fünf Jahren? kensektor vergesellschaften. Aber wollen wir auch die Ver- Als wir die Fusion hinbekommen haben, was äußerst kom- staatlichung von Daimler oder Opel? Was machen wir mit de- pliziert war, das war schon ein Erlebnis. Wenn man auf ein nen, die alle unsere Forderungen teilen – von der Rente mit großes Ziel hin arbeitet und es klappt, das ist schon gewaltig. 65 bis zum Abzug aus Afghanistan –, aber sich nicht als So- zialisten fühlen? Du bist für einen kernigen Spruch immer gut. Für einen poli- tischen Witz bestimmt auch ... Darüber müssen wir diskutieren. Als Schröder stirbt, will Petrus am Himmelstor von ihm wis- Ja, aber wir müssen das so diskutieren, dass wir alle mit- sen, wohin er will: In die Hölle oder in den Himmel? Da fragt nehmen, sonst ist es wieder die alte PDS, die im Westen nie Schröder, was denn dort so geboten wird. Petrus zeigt ihm die angekommen ist und die im Osten absolut pragmatisch ist. Hölle: »Schau, da saufen sie, rauchen dicke Zigarren, Frauen Jetzt steht die Frage: Wird es wirklich eine neue Partei, oder und so weiter.« – Schröder ist begeistert: »Das schaut ganz wird es wieder eine ideologisch ausgerichtete Partei, die im gut aus. Nun lass mal den Himmel sehen.« Da sitzt nur eine Westen abschreckt? Die eigentliche Herausforderung ist, ob züchtige Dame an der Harfe und singt was. – »Ja, was wählst wir das schaffen. Denn aus meiner Sicht ist das überhaupt du nun?«, erkundigt sich Petrus. – »Ganz klar, natürlich die noch nicht in trockenen Tüchern. Das sieht man an verschie- Hölle.« Okay. Schröder öffnet wieder die Tür zur Hölle. Nur ist’s denen Konfl ikten. Wir haben unheimlich viel hingekriegt, wir da plötzlich ganz anders als vorher: Die sitzen in der Jauche, haben eine Riesenchance, aber jetzt kommt es darauf an, kleine Teufel piken mit glühenden Zangen die Körper ... Em- dass man das Ding mit Vernunft weiterführt. pört ruft der Schröder: »He, das schaut ja komplett anders aus wie vorher.« - »Tja«, meint Petrus, »das ist der Unterschied – Du bist nach wie vor 1. Bevollmächtigter der IG Metall in vor der Wahl und nach der Wahl.« Schweinfurt. Wie gerne? Sehr gerne. Aus einem einfachen Grund: Ein linkes Projekt Gespräch: Stefan Richter

GESPRÄCH DISPUT Januar 2010 032 Bienvenue à Paris Die Europäische Linke beriet in Berlin. Zu den Ergebnissen Von Oliver Schröder

Am 8. und 9. Januar tagten der Vorstand eine sozialere und friedlichere Welt ein- und Durchsetzung einer Friedensstra- der Europäischen Linken (EL) und der tritt, und so ist die Einladung von Exper- tegie und fordert die Beendigung des Rat der Parteivorsitzenden in Berlin. tInnen und PartnerInnen zu den Bera- Krieges. Diese und weitere politische Obschon das sehr winterliche Wetter tungen der Parteigremien Usus gewor- Resolutionen sind im Internet abrufbar. die Anreise des einen oder anderen ver- den. In Berlin durfte die EL mit Francois Auf Einladung gaben Vertreter und zögerte, so konnte DIE LINKE als gastge- Houtard eine ganz besondere Persön- Vertreterinnen der kurdischen BDP (Par- bende Partei doch mehr als 80 Vertre- lichkeit begrüßen – der belgische So- tei des Friedens und der Demokratie), terinnen und Vertreter der 34 EL-Partei- ziologe und Theologe engagiert sich die sich als Nachfolgerin der jüngst ver- en begrüßen. seit Jahrzehnten für den globalen Sü- botenen DTP konstituierte, einen Über- Im Vordergrund stand die Verständi- den und gehört zu den entschiedens- blick zur Situation in der Türkei. Die EL gung über die gegenwärtige Situation ten Kritikern der kapitalistischen Glo- unterstützt die BDP in ihrem friedlichen der politischen Linken in Europa und balisierung. Für das von ihm und Sa- Kampf für die demokratische Lösung der Austausch über die gravierendsten mir Amin geleitete Weltforum für Al- der Kurdenfrage. Probleme wie die nun immer brutaler ternativen (www.forumdesalternatives. Nach den vielen intensiven Stunden auf die Realwirtschaft durchschlagen- org) plädierte Francois Houtard für die in den schönen Tagungsräumlichkeiten de globale Finanzkrise oder der Kampf effektive Verknüpfung theoretischen von ver.di Berlin-Brandenburg (an die- gegen Hunger, Armut und Klimakollaps. Denkens mit praktischen Forderungen ser Stelle ein herzliches Dankeschön!) Formal wichtigste Entscheidung des und Aktionen. Nur so könnten sich die waren die Teilnehmer/innen glücklich, Wochenendes ist die Einberufung des Menschen zum Beispiel mit der Weltso- am 10. Januar in das Berliner Winter- dritten Kongresses der Europäischen zialforum-Bewegung identifi zieren und wunderland einzutauchen, um Rosa Linken für die erste Dezemberwoche die Defensive gegenüber dem kapita- Luxemburg und Karl Liebknecht zu eh- nach Paris. Zu den konkreten inhaltli- listischen System überwunden werden. ren. Speziell für unsere Genossinnen chen und organisatorischen Vorberei- Wichtig sei hierbei, dass keine Kultur, und Genossen von osteuropäischen EL- tungen für den Kongress, bei dem die Religion oder Gruppe ausgeschlossen Parteien ist dies immer wieder ein posi- Kommunistische Partei Frankreichs als bleibe, dass man Pluralität lebe. tives und Mut machendes Ereignis, da Gastgeber fungieren wird, wurden Ar- Einen wichtigen Teil der Beratung viele Regierungen mittels Gummipara- beitsgruppen eingesetzt. Bis Dezember nahm die Diskussion zum Krieg in Af- grafen und antikommunistischer Geset- wird der Bundesausschuss entschei- ghanistan ein. Die EL betont in ihrem ze eine Identitätspfl ege zunehmend er- den müssen, welche zwölf Parteimit- Aufruf die Notwenigkeit zur Entwicklung schweren. glieder DIE LINKE in Paris vertreten sol- len. Es bleibt weiterhin eine wichtige Auf- gabe für die EL, kohärente Ansätze für einen wirksamen Eingriff in die öffent- lichen Debatten zu entwickeln und um- zusetzen. In diesem Sinne hat die EL ei- ne Reihe von Aktionen und inhaltlichen Schwerpunkten für 2010 beschlossen. Zu ihnen zählen die Veranstaltung ei- nes Europäischen Tages der Gesund- heit und der sozialen Dienste am 27. Fe- bruar in Barcelona und der Austausch mit Kräften der lateinamerikanischen Linken während des 4. Treffens »Alter- nativen Verbinden«. Der Kampf gegen Rechtsradikalismus ist für die EL ein weiterer Schwerpunkt – es wird 2010 mehrere Aktionen geben. Den 65. Jah- restag der Befreiung vom Hitlerfaschis- mus wird die EL durch eine Demonstra- tion und eine Konferenz in Österreich würdigen. Der fortwährend aktualisier- te Arbeitsplan der EL kann auf den Web- seiten der LINKEN und der EL abgerufen werden. Die EL versteht sich als Kraft, die gemeinsam mit sozialen Bewegungen Wehnert © Erich und Vertretern der Zivilgesellschaft für Abgesandte von 34 EL-Parteien kamen in Berlin zusammen.

330 DISPUT Januar 2010 EUROPÄISCHE LINKE Nicht mit angezogener Handbremse Armutsbekämpfung ist Teil eines komplexen Kampfes zur Veränderung der Welt Interview mit der Europaabgeordneten Gabi Zimmer

Die Europäische Armut und soziale Ausgrenzung, für Bisher erklärte Kommissionspräsi- Kommission hat die Durchsetzung der globalen Ent- dent Barroso, dass dem die Interessen 2010 zum Euro- wicklungsziele (Millennium Develop- der Mitgliedsstaaten entgegenstän- päischen Jahr zur ment Goal) zu führen. Zum Klimagip- den. Sozialpolitik ist auch nach dem Bekämpfung von fel in Stockholm sind viele NGO (nicht- Lissabonner Vertrag eben keine Ge- Armut und sozi- staatliche Organisationen) und global meinschaftspolitik. Aus diesem Grund aler Ausgrenzung vernetzte Bewegungen mit Initiativen wurde die sogenannte OMK – die Offe- 2010 ausgerufen. aktiv geworden. ne Methode der Koordinierung – ent- Was erwartest du Ich hoffe, dass wir die Chance po- wickelt, die vor allem auf den Erfah- davon? litisch nutzen können, unsere Vor- rungsaustausch orientiert. Damit die- Ich erwarte, schläge für soziale Gerechtigkeit, De- ses Instrument aber kein zahnloser dass die öffent- mokratie, soziale und Freiheitsrech- Tiger wie bisher bleibt, müssen Kriteri- liche Aufmerk- te, für Solidarität in der Gesellschaft en und Indikatoren entwickelt werden, samkeit stärker als bisher auf einen in die Debatte um eine neue Zukunfts- die mess- und abrechenbar sind. Die gesellschaftlichen Skandal gerich- und Nachhaltigkeitsstrategie der EU 2008 vom Europaparlament – eine Ini- tet wird und die Forderungen und Vor- einfl ießen zu lassen. Die Lissabonner tiative unserer Fraktion – bereits gefor- schläge zur Armutsbekämpfung ernst- Strategie läuft 2010 aus. Wir sollten derte Einführung von Mindestlöhnen haft wahrgenommen werden. Die Re- alles dafür tun, die Regierenden nicht in allen EU-Staaten auf Basis von min- gierenden in der Europäischen Union wieder hinter geschlossenen Türen die destens 60 Prozent der jeweiligen na- glauben allerdings, dass sie das Jahr entscheidenden Weichen für die Ent- tionalen Durchschnittslöhne und von mit angezogener Handbremse über- wicklung der EU und hinsichtlich ihres Mindesteinkommen in Höhe von min- stehen: Statt gemeinsame Ziele und globalen Agierens stellen zu lassen. destens 60 Prozent der jeweiligen nati- Strategien zu entwickeln, um Armut Das Europäische Netzwerk gegen Ar- onalen Durchschnittseinkommen sind wirksam zu bekämpfen, setzen sie vor mut (EAPN) und Solidar haben zusam- aus meiner Sicht ein wichtiger Schritt. allem auf eine Werbekampagne. Dabei men mit europäischen entwicklungs- Als GUE/NGL werden wir alles tun, um sollte es endlich darum gehen, die Le- politischen und umweltpolitischen diese Forderung trotz der veränderten benssituation von 80 Millionen in Ar- Bewegungen in der »Spring Alliance« Mehrheitsverhältnisse im Europapar- mut lebenden Menschen, darunter 19 (einem Netzwerk von Mitgliedern aus lament zu verteidigen. Millionen Kinder, in der EU erheblich allen Teilen der Zivilgesellschaft) ihre Ich selbst setze mir in diesem Euro- zu verbessern. Forderungen für eine neue EU-Strate- päischen Jahr gegen Armut und sozia- gie formuliert. Diese stellen aus mei- le Ausgrenzung die folgenden Arbeits- Wie könnte sich wirklich etwas än- ner Sicht auch für uns Linke in Europa schwerpunkte: Armut von Kindern und dern? Ist es überhaupt möglich, ledig- eine gute Handlungsbasis dar. Mich Jugendlichen; Obdachlosigkeit; Armut lich innerhalb der EU die Zahl der in bewegt dabei vor allem die Frage, wel- und soziale Ausgrenzung von Migran- Armut lebenden Menschen drastisch chen Beitrag wir zur Mobilisierung der ten und Migrantinnen sowie Angehöri- zu senken? Menschen im Kampf gegen Armut leis- gen ethnischer Minderheiten. Nein, ganz und gar nicht. Die EU hat ten können, ob es gelingt, den globa- Neben allen strategischen Überle- ja mit ihrer Strategie der globalen Kon- len Aktionstag gegen Armut am 17. Ok- gungen brauchen wir sehr konkrete kurrenz wesentlich zur Spaltung zwi- tober 2010 mit den vielfältig geplanten Vorschläge, wie denn Armut bekämpft schen Arm und Reich in der Welt bei- Protesten, Europäischen Märschen ge- werden kann. Ich schlage der Delegati- getragen. Armutsbekämpfung ist dem- gen Arbeitslosigkeit und Armut, dem on der LINKEN und meiner Fraktion im zufolge Bestandteil eines komplexen Weltfrauenmarsch usw. zu verbinden. Europaparlament deshalb vor, dass Kampfes zur Veränderung der Welt wir die Debatte um die Frage, worin und nicht einfach eine Aufgabe für so- Was fordert die Fraktion der europä- denn eigentlich soziale Mindeststan- genannte Gutmenschen. Armut kann ischen Linken (GUE/NGL) im EU-Parla- dards bestehen, wie sie auf europäi- aber auch nicht lediglich regional oder ment, um soziale Ausgrenzung zu be- scher Ebene defi niert werden können, im nationalen Rahmen beseitigt wer- enden? vorantreiben und dazu parlamentari- den. Das hat auch die Linke in Europa Natürlich wollen wir zum einen die sche Initiativen in enger Kooperation noch längst nicht verinnerlicht. Veränderung der Ausgangslage, um mit Wissenschaftlern und sozialen Be- Das Europäische Jahr gegen Armut das Armutsthema überhaupt zu einem wegungen entwickeln. Wir haben zwar ist deshalb eine wichtige Gelegenheit, gesellschaftlichen und politischen in der EU die Mindestgröße von Bana- um die regionalen, europäischen und Schwerpunkt der EU machen zu kön- nen festgelegt, wir haben Sicherheits- globalen Kämpfe, Initiativen und Akti- nen – also die Veränderung der EU- standards für Autogurte und vieles onen miteinander zu verbinden. Es ist Strategie an sich. Gleichzeitig fordern mehr entwickelt, aber die Frage, was wichtig, dass wir als Linke in Europa wir verbindliche Schritte der EU und der Menschen konkret brauchen, um in dazu beitragen, den globalen Kampf Mitgliedsstaaten zur Bekämpfung der Würde leben zu können, die steht au- gegen Umweltzerstörung und Klima- Armut in den entsprechenden Richtli- ßerhalb der EU-Debatte. wandel gleichzeitig als Kampf gegen nien (Gesetzen) und Mitteilungen. Selbst in Deutschland beziehen

EUROPA DISPUT Januar 2010 034 Ich abonniere DISPUT

sich die sozialen Mindeststandards zeiten bleiben wir bei unserer Forde- vorwiegend auf Arbeit und Beschäfti- rung nach Begrenzung der wöchent- Name, Vorname gung. Um aber zum Beispiel die Grund- lichen Höchstarbeitszeit auf maximal versorgung auch in Armut lebender 40 Stunden, ohne Ausnahme. Die Mit-

Menschen mit Strom, Wasser, Gas zu gliedsstaaten dürfen ihr Ziel nicht er- Straße, Hausnummer sichern, müssen Mindeststandards reichen, die wöchentlichen Arbeitszei- defi niert sein. Das Gleiche gilt für die ten zu verlängern, denn Niedriglöhne

Debatte um das Existenzminimum von und lange Arbeitszeiten sind zwei Sei- PLZ, Ort Kindern und Jugendlichen. Wir brau- ten derselben Medaille. chen EU-weit gültige Mindeststan- Ein weiteres wichtiges Thema ist die dards, die im Rahmen der nationalen Situation von Minderheiten in der EU, Ich bestelle ab sofort Exemplar(e) Gesetzgebungen, der nationalen sozi- unter anderem Roma und Menschen der Zeitschrift DISPUT im alen Sicherungssysteme eigenständig ohne gültige Papiere. Wir fordern Pro- umzusetzen und öffentlich abzurech- gramme für den sozialen Einschluss Halbjahresabonnement zum Preis von nen wären. Da hätte ich dann auch der Roma in der EU und die Legalisie- 12,00 Euro inkl. Versandkosten nichts gegen einen Wettbewerb zwi- rung und soziale Einbindung der acht schen den EU-Mitgliedstaaten – einen Millionen Menschen, die hier ohne Pa- Jahresabonnement zum Preis von Wettbewerb um die besten Sozialstan- piere leben. Schnellstens müssen eu- 21,60 Euro inkl. Versandkosten dards, einen Wettbewerb, bei dem die ropaweite Regelungen für eine gesi- Menschen gewinnen ... cherte medizinische Versorgung ge- und nutze den vorteilhaften Bankeinzug Ein solcher Wettbewerb könnte sich funden werden. auch auf den kostenlosen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen (medi- Habt ihr als Linksfraktion im Europa- zinische Versorgung, Bildung – von parlament bereits Aktivitäten zum Eu- Geldinstitut der Kinderkrippe bis zur Universität –, ropäischen Jahr 2010 gestartet? ÖPNV, etc.) beziehen, vor allem für be- Ja. Als Auftakt zur sozialen Mobi- sonders gefährdete Gruppen wie zum lisierung für das Jahr 2010 haben wir Beispiel für Kinder aus alleinerziehen- die Konferenz »Stand Up Against Po- Bankleitzahl den Familien, für Migrantinnen und verty Now!« im November 2009 or- Migranten, für Angehörige ethnischer ganisiert, zusammen mit den Euro- Minderheiten, die heute noch einer päischen Märschen gegen Erwerbs- Kontonummer mehrfachen Diskriminierung ausge- losigkeit. Die Teilnehmerliste reich- setzt sind. te von den europäischen Netzwerken oder EAPN, Solidar, Eurochild und ENAR Was steht noch auf eurer Agenda zur über Gewerkschafter aus der gesam- bitte um Rechnungslegung (gegen Armutsbekämpfung? ten EU und der Türkei bis zu Attac und Gebühr) an meine Adresse. Der Kampf um die europäische Ar- dem Weltmarsch der Frauen. Gemein- beitszeitrichtlinie bleibt uns erhal- sam verfolgen wir das Ziel, unsere Ak- ten. Wir haben immer wieder als Lin- tionen für das Jahr 2010 zu vernetzen ke auf den engen Zusammenhang zwi- und zu koordinieren. Das Abonnement verlängert sich automatisch um den schen Erhöhung der wöchentlichen Jetzt geht es darum, besonders un- angegebenen Zeitraum zum gültigen Bezugszeitraum, falls ich nicht 15 Tage (Poststempel) vor dessen Ablauf bzw. Lebensarbeitszeit und dem An- sere Aktivitäten in der zweiten Hälfte schriftlich kündige. wachsen von Armut aufmerksam ge- des Jahres 2010 als Teil der alljährli- macht. Nachdem in der letzten Legis- chen, weltweiten UN-Kampagne zur latur die Mehrheit des Europäischen Erreichung der UN-Millenniumszie-

Parlaments sich den Vorstellungen le »Stand Up. Take Action. End Pover- Datum, 1. Unterschrift von Rat und Kommission verweigert ty Now!« einzuordnen. Der Höhepunkt hat, die Höchstarbeitszeiten herauf- soll der 17. Oktober 2010 sein. Ich habe zur Kenntnis genommen, dass ich die Bestellung zusetzen, versuchen Letztere jetzt, bei Gleichzeitig richten wir unsere innerhalb von 10 Tagen widerrufen kann. den Transportunternehmen Tür und Tor Überlegungen auch auf die Zeit nach Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung des für das Aufweichen von Arbeitszeitbe- 2010. Die Vorstellung von Kommission, Widerrufs. grenzungen zu öffnen. Unsere Fraktion Rat und Mitgliedsländern »Mit dem hält offenbar als einzige geschlossen Europäischen Jahr gegen Armut und dagegen. Thomas Händel vertritt unse- soziale Ausgrenzung haben wir unse- Datum, 2. Unterschrift re Fraktion in den Verhandlungen mit re Pfl icht und Schuldigkeit getan« wer- Coupon bitte senden an: Parteivorstand DIE LINKE, großem Engagement. den wir nicht durchgehen lassen. Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin. Entgegen dem vorherrschenden Bestellungen auch möglich unter: www.die-linke.de Trend zur Liberalisierung der Arbeits- Interview: Florian Müller

35 0 DISPUT Januar 2010 Zur Milch nun auch Hase und Büffel Ein Workshop zu Cuba Sí-Projekten. Solidarität mit Kuba vor neuen Aufgaben Von Brigitte Schiffl er

Anders als in vielen Ländern dieser Welt muss in Kuba niemand hungern. Doch angesichts globaler Wirtschaftskrise, verheerender Naturkatastrophen und der Wirtschaftsblockade durch die USA steht die sozialistische Gesellschaft vor gewaltigen Herausforderungen. Vor diesem Hintergrund fand im Dezember 2009 ein Nachhaltigkeits-Workshop in Kuba statt, an dem vier Mitglieder der AG Cuba sí und drei Vertreter der Par- tei DIE LINKE teilnahmen, um die gegen- wärtige Entwicklung der von Cuba sí ge- förderten Projekte zu analysieren und angesichts der weltweiten Krise neue

Ziele für ihr Handeln zu formulieren. (3) Schneider © Anke Seit 1993 gibt es die Solidaritätspro- jekte »Milch für Kubas Kinder«. Nach sation mit 35.000 Mitgliedern in ganz produktion gestiegen, neue Futterpfl an- dem Zusammenbruch der osteuropä- Kuba, die mit Teresa Planas Pérez eine zen gewährleisten eine hohe Qualität ischen Planwirtschaften und den da- Frau zur Präsidentin gewählt hat. Im No- der Milch und damit höhere Preise, die durch ausbleibenden Futtermittelliefe- vember 2006 hatte erstmals ein Work- Böden sind verbessert worden, es wer- rungen im Einklang mit den begrenzten shop zur Bewertung der Nachhaltigkeit den keine Pestizide benutzt, hochwerti- fi nanziellen Möglichkeiten des Landes der Milchprojekte stattgefunden. Beim ges Saatgut wurde zurückgelegt, Infor- sollen sie die Produktion von Milch auf zweiten Workshop im März 2008 war matik und strategische Planung wurden der Basis ökonomischer, sozialer und die Aufgabe, die Umsetzbarkeit der im angewandt. ökologischer Nachhaltigkeit ermögli- ersten Workshop ausgearbeiteten Emp- Die wichtigsten Neuerungen: Es wird chen. Seitdem ist viel erreicht worden. fehlungen zu analysieren. Bei diesem nicht allein Milch produziert, sondern Heute existieren in vier Provinzen Milch- dritten Workshop ging es um die Di- mit dem Ziel, die Ernährungslage zu projekte, die viele Arbeitsplätze mit gu- mensionen der veränderten Bedingun- verbessern, werden zunehmend Hasen, ten Konditionen geschaffen haben, die gen und um eine entsprechende Neu- Büffel und Ziegen gezüchtet. Das Pro- in lokale Produktionsstrukturen integ- ausrichtung der Projekte. Das Beson- gramm zur Diversifi zierung der Land- riert sind und umweltschonende Tech- dere an den Workshops war die breite wirtschaft enthält auch die Herstellung nologie und Technik einsetzen. Cuba sí Teilnahme von Produzenten und Spezi- von organischen Düngemitteln. Nach unterstützt im Einzugsbereich der Pro- alisten aus den Projekten. Gemeinsam wie vor werden in erster Linie Genos- jekte auch Forschungseinrichtungen zu mit Vertretern des Landwirtschaftsmi- senschaften und Staatsbetriebe unter- einheimischen Futtermitteln, Rinder- nisteriums und der kubanischen Verei- stützt, aber auch einzelne Privatbauern zuchtanlagen, Kantinen- und Schulein- nigung für Milchproduktion wurden die erhalten nun zur Erhöhung der Lebens- richtungen, Kulturprojekte und Weiter- Herausforderungen, Gefahren und Risi- mittelproduktion Fördergelder, was in- bildungsmaßnahmen. ken, Alternativen und Lösungen für die tensiv diskutiert wurde. Fazit: Die Pri- Partnerorganisation für die Durch- zukünftige Zusammenarbeit ausgewer- vatbauern bereichern sich nicht, denn führung der Projekte ist ACPA, die ku- tet. sie sind in Kredit- und Dienstleistungs- banische Vereinigung für Tierprodukti- Die Errungenschaften: Die Projekte kooperativen eingegliedert, müssen ei- on. Sie ist eine nichtstaatliche Organi- sind erfolgreich. Überall ist die Milch- desstattliche Erklärungen über ihre Ein-

CUBA SÍ DISPUT Januar 2010 036 was wir mit den Händen anpfl anzen, das ist Freude.« Etwa zwanzig Prozent des kubani- schen Inlandsprodukts wurden durch die Hurrikane 2008 vernichtet, so Os- car Martinez Cordovés, stellvertreten- der Leiter der Abteilung internationale Beziehungen der KP Kubas. Der Klima- wandel führe zur Versteppung, die Re- genzeit habe sich verschoben. Auch die Preisanstiege für Lebensmittel und Öl sowie der Preisverfall für Nickel und die geringeren Einnahmen beim Tourismus hätten dazu geführt, dass das Jahr 2009 das schwierigste Jahr für Kuba war. Den- noch werde Kuba weiterhin 60 Prozent seiner Staatsausgaben für Bildung, Ge- sundheit, Sport, Kultur und Renten aus- geben und hier keine Einschränkungen vornehmen. Kuba müsse die Ungleich- heit in den Lebenslagen angehen, doch die Vereinheitlichung zweier Währun- gen und die Veränderung der Subven- tionierung von Lebensbereichen ohne Gegenleistung seien schwierig zu lö- sende Probleme. Hierzu will die Partei Gruß an gute Freunde. Deutsche Helfer zesse zu erleichtern. Ein Schwerpunkt vor dem Parteitag einen Kongress ver- schälen Eukalyptus-Stämme (links unten) soll die Förderung von frauenfreundli- anstalten und die Bevölkerung breit in als Bauholz für Ställe. Eines der Milchpro- chen Arbeitsbedingungen sein, ange- den Diskussionsprozess einbeziehen. jekte befi ndet sich in der Provinz Pinar regt wurde zum Beispiel die Einrichtung Spannend waren die Treffen bei del Rio. von Kindergärten. Prensa Latina, der kubanischen Nach- Neue Herausforderungen sind: Es richtenagentur, und Mundo Latino, der gibt zu wenig Möglichkeiten, die not- kubanischen Institution für Dokumen- wendigen Materialien für Reparatur und tarfi lme. Der Präsident von Prensa Lati- Ausbau in Kuba zu erwerben; zu teure na gab uns einen guten Einblick in Ge- Technik, um neues Weideland zu gewin- schichte und derzeitige Arbeit dieses nen; zu wenig Kenntnisse, wie den Na- Bereiches. Die wichtigste Aufgabe sei turkatastrophen zu begegnen ist. heute, mittels Fernsehsendungen In- Die Teilnehmer waren hoch motiviert formationen über das Alltagsleben in und bedauerten, dass die Zeit so knapp Kuba aktuell weiterzugeben; eine neue war. Aber schon im Januar sollen neue Nachrichtensendung startet am 8. Ja- Vorschläge eingereicht werden, und Cu- nuar. Aber sie stoßen an ihre Grenzen, ba sí wird über die großen Herausforde- weil die notwendige Technologie fehlt. rungen beraten. Bei Mundo Latino, seit 23 Jahren Film- In den folgenden Tagen konnten wir produzent über das authentische Le-

© Oliver Schröder © Oliver deutschen Teilnehmer des Workshops ben in Kuba, möchte der Präsident sei- mehrere Projekte in drei Provinzen ken- ne Produkte stärker in Deutschland vor- kommen abgeben und sind zur Abgabe nenlernen und waren tief beeindruckt, stellen und fragte nach Ideen für die Zu- eines Teils ihrer Produkte verpfl ichtet. welche Bedeutung unsere solidarische sammenarbeit. Alles, was sie verkaufen, wird erfasst. Arbeit für viele Menschen hat. Die um- Im Haus der Freundschaft empfi ng Sie können das ihnen zugeteilte Land fasst nicht nur die Milchprojekte, son- uns der Vizepräsident des ICAP, der In- weder verkaufen noch vererben. dern beispielsweise auch ein Kultur- stitution für Völkerfreundschaft, mit Als zukünftige Notwendigkeit stellt haus für etwa 50 Kinder. Spontan luden der Cuba sí seit seiner Gründung poli- sich heraus: Der Informationsaus- sie uns zu einer Theaterprobe ein, und tisch zusammenarbeitet. Das Jahresab- tausch zwischen allen Beteiligten soll schon waren wir mitten auf der Bühne. schlussfest der Völkerfreundschaft im intensiviert werden. Die Erfahrungen Dank ACPA nahmen wir an einer Veran- Parque Lenin, zu dem wir eingeladen der einzelnen Projekte müssen durch staltung ihres Projektes Palomas – kei- wurden, war ein würdiger Abschluss un- Aufarbeiten, Systematisieren und Ver- ne Gewalt gegen Frauen – teil. Prämiert serer Delegationsreise. allgemeinern nutzbar werden, so dass wurde unter anderem ein Film über Wer neugierig auf unsere Arbeit ge- sie als Referenzprojekte wirken können. Frauen in Führungspositionen in land- worden ist, findet mehr Informatio- Gemeinsame Planungsworkshops sol- wirtschaftlichen Projekten – einige von nen auf unserer Webseite www.cuba-si. len organisiert und die Mitarbeiter der ihnen lernten wir auf den Cuba-sí-Pro- org, auch über Reisen nach Kuba. Kuba Projekte systematisch in neuen Lern- jekten kennen. Starke Frauen, die mit braucht Devisen. methoden und audiovisuellen Medien viel Arbeit die Hurrikanschäden besei- geschult werden. Und die Projekte sol- tigen: »Jede Nacht bin ich voll Vertrau- Brigitte Schiffl er ist Mitglied bei Cuba sí len längerfristig angelegt werden, um en. Wenn alles organisiert wird, dann Hamburg. die Planungs- und Genehmigungspro- bekommt man wieder Mut. Zu sehen, www.cuba-si.org

370 DISPUT Januar 2010 Das Angebot wächst Von den Interessen der Mitglieder ausgehend – die eigenständige Bildungsarbeit der Partei. Ihr Stellenwert nimmt zu Von Ulrike Zerhau

Die politische Bil- de zum Mitdiskutieren ein, sondern Der neue Bereich Bildung wird folgen- dung ist für DIE schreckt im Gegenteil eher viele vom de Aufgaben wahrnehmen: LINKE von zentra- Mitmachen ab. Oft liegt es schlicht da- ler Bedeutung. Ih- ran, dass Kompetenzen zur Gesprächs- • die Entwicklung, Erprobung und Her- re Aufgabe ist es, leitung fehlen oder Sachhintergrün- ausgabe von Bildungsmaterialien, Gesellschaftskri- de unbekannt sind. Nicht selten aber • die thematische Unterstützung der tik, Selbstkritik sind die Lebenshintergründe so unter- Programmdebatte in den Gliederun- und den Wunsch schiedlich, dass die Argumente für ei- gen der Partei, nach Verände- nen anderen Standpunkt erst gar nicht • die Qualifi zierung und Betreuung von rung zu fördern. bekannt sind. Bildungsangebote kön- Teamerinnen und Teamern, Bildungsarbeit nen hier Diskussionsräume zum gegen- • die Herausgabe eines regelmäßigen

© Aris muss daher eng seitigen Kennenlernen und zum Verste- Newsletters für die Bildungsarbeit, mit unserer po- hen unterschiedlicher Positionen auf- • die Einrichtung und Pfl ege eines Inter- litischen Alltagspraxis verknüpft sein. schließen. Sie schaffen Gelegenhei- netangebots für politische Bildung, Sie sollte für alle FunktionärInnen und ten zum Erlernen und Erproben einer • die Organisation und Durchführung Mitglieder genauso selbstverständlich solidarischen innerparteilichen Streit- des zentralen Bildungsangebots der sein wie unsere Öffentlichkeitsarbeit, kultur. Letztlich braucht DIE LINKE die Bundesgeschäftsstelle, unser Wahlkampf oder die Organisa- gemeinsame politische Arbeit und das • die organisatorische Unterstützung tionspolitik. Sie muss folglich in den gemeinsame Lernen als entscheiden- der Kommission politische Bildung Planungen aller Parteigliederungen ge- de Voraussetzung einer solidarischen, beim Parteivorstand, nauso auftauchen wie unsere politi- lebendigen Mitgliederpartei, die das • die Hilfe beim Aufbau von Landes-Bil- sche Schwerpunktsetzung oder die Or- Stellvertreterprinzip überwindet, al- dungsstrukturen, ganisationswahlen. Auch unsere Kam- len Beteiligung anbietet und von unten • die Kooperation mit den Landesvor- pagnen können nur erfolgreich sein, aufgebaut ist. Daher muss besonders ständen und ihren Landesstrukturen wenn die Aktiven mit Bildungsmaßnah- dort, wo die Partei sich noch im Aufbau der politischen Bildung sowie die Un- men unterstützt und begleitet werden. befi ndet, ein umfangreiches Bildungs- terstützung der Zusammenschlüsse DIE LINKE muss das Ziel haben, al- angebot vorhanden sein. bei ihrer eigenen Bildungsarbeit, le Mitglieder mit einem Bildungsange- Der Aufbau einer arbeitsfähigen Bil- • die Zusammenarbeit mit der Rosa-Lu- bot zu erreichen. Andere Bildungsein- dungsstruktur hat erstens zur Voraus- xemburg-Stiftung und Nutzung ihrer richtungen, zum Beispiel die Rosa-Lu- setzung, dass es auf allen Ebenen der Aktivitäten, xemburg-Stiftung, die parteinah aber Partei eine personelle Verantwortlich- • die Kooperation mit den Bildungsver- unabhängig Linke anspricht und all- keit für die Bildungsarbeit und – wo antwortlichen von [’solid] und SDS. gemeinpolitische oder gezielt kommu- möglich – entsprechende Kommissio- nalpolitische Qualifi zierungsangebote nen gibt. Zweitens eine Arbeitsstruk- Der neue Bereich fängt nicht bei Null vorhält, sind wichtige Bildungsakteure, tur zur Entwicklung von Bildungsma- an. Am Aufbau einer bundesweiten Bil- auf die wir unsere Mitglieder ausdrück- terialien und die ständige Qualifi zie- dungsstruktur arbeitet inzwischen seit lich aufmerksam machen müssen. Dar- rung und Weiterbildung von Teamerin- ca. zwei Jahren die Bildungskommissi- über hinaus brauchen wir allerdings ei- nen beziehungsweise Teamern. Und on des Parteivorstandes. Sie setzt sich ne eigenständige Bildungsarbeit der drittens muss für die Bildungsarbeit zusammen aus aktiven erfahrenen Bil- LINKEN, die ausgehend von den Inter- ein angemessener Etat der Bundespar- dungsarbeiterInnen aus allen Bundes- essen der Mitglieder und der Partei ent- tei wie der Landesverbände zur Verfü- ländern und weiteren vom Parteivor- wickelt wird und daher nicht von ande- gung stehen. stand benannten Bildungsprofi s. Sie ren Trägern übernommen werden kann. Der Parteivorstand hat daher auf sei- konnte gleich nach der Gründung der Unsere Mitglieder kommen aus un- ner Sitzung am 14. November der inner- LINKEN erste notwendige Sofortange- terschiedlichsten sozialen Verhältnis- parteilichen Bildung einen deutlich hö- bote (vor allem für den Aufbau West sen und kulturellen Milieus. Langjäh- heren Stellenwert eingeräumt. Anfang und die Wahlkämpfe) entwickeln, zum rige Politikerinnen und Politiker tref- 2010 wird ein eigenständiger Bereich Beispiel mit einem »Erste-Hilfe-Semi- fen auf Hartz IV-Betroffene, Umwelt- Bildung eingerichtet werden, mit einem nar« für neue Mitglieder. Das Konzept bewegte auf Gewerkschafterinnen und mehr als dreimal so großen Etat für Bil- für das Neumitgliederseminar ist inzwi- Gewerkschafter, Feministinnen auf dungsarbeit wie bisher und mit zwei zu- schen fertig, wurde erprobt, und eine Sozialistinnen, Sozialisten und Frie- sätzlichen pädagogischen Mitarbeite- ständig wachsende Zahl von TeamerIn- densbewegte. Sie alle verstehen sich rInnen. Sie sollen so schnell wie mög- nen konnte für diesen Seminartyp qua- als LINKE, haben aber ganz verschie- lich gefunden werden, gemeinsam mit lifi ziert werden. dene Beitrittsgründe und oft vonein- dem Bereichsleiter Heinz Hillebrand In den östlichen Bundesländern ander abweichende Politikvorstellun- ein professionelles hauptamtliches Bil- kann die Partei bei einer Tradition von gen. Das macht die Partei bunt, führt dungsteam bilden und Hand in Hand Bildungsarbeit ansetzen, aber auch in allerdings nicht selten zu Konfl ikten. mit der Bildungskommission unsere Bil- den westlichen Bundesländern sind in- Die reale Streitkultur lädt nicht gera- dungsstrukturen weiter ausbauen. zwischen Strukturen für Bildung ange-

POLITISCHE BILDUNG DISPUT Januar 2010 038 legt worden, wenn auch das tatsächli- HILFE FÜR DEN BALANCEAKT che Seminarangebot im Umfang noch recht unterschiedlich bleibt. Auf der Bundesebene wird das Bildungsan- gebot 2010 deutlich ausgeweitet wer- den können. Neben Grundlagense- minaren wird es eine Reihe Angebo- te zur Weiterqualifi zierung geben, wie zur Öffentlichkeitsarbeit, zum Umgang mit Konfl ikten und zur Mitgliederwer- 7. Linke Medienakademie boten werden. Ebenfalls neu ist die bung. Ein Schwerpunkt in den kom- größere Gewichtung der inhaltlichen menden Monaten wird die Begleitung (LiMA) im März in Berlin. Weiterbildung unter LiMAthema, bei der Programmdebatte sein. Im Dezem- Interview mit Nele Haas der es spezielle Veranstaltungen zu ber 2009 wurde zur Vorbereitung die- vom Organisationsteam den Themen Migration, Rechtsextre- ser Debatte bereits ein erstes Seminar mismus und Genderpolitik gibt. mit frauenpolitischem Schwerpunkt durchgeführt. Im Frühjahr können Tea- Die LiMA, die Linke Medienakade- Kannst Du uns schon einen Einblick mende sich im Rahmen eines Grund- mie, fi ndet in diesem März bereits ins Programm geben? lagenseminars zur Einführung in die zum siebten Mal statt. Warum brau- Dr. Gregor Gysi, der die Schirm- Programmdebatte qualifi zieren, darü- chen Linke immer noch die LiMA? herrschaft übernommen hat, stellt ber hinaus werden unterstützende Bil- Man lernt ja nie aus. Für alte Ha- Gedanken zu »Die Kunst der Rede in dungsmaterialien für die Diskussion sen und junge Hüpfer ist es schwie- der Welt der Politik« vor. Ulrich Stoll zentraler und strittiger Themen der Pro- rig, sich in der Medienwelt zu be- von »frontal 21« gibt Einblicke in die gramme erstellt werden. haupten, weil man bestimmte Re- Recherchen zur Geschichte der DDR- Noch ist die Frage nicht beantwor- geln und Instrumente kennen muss. Rückkehrer, und Gerhard Seyfried tet, mit welchem Bildungsverständnis Die wiederum erscheinen Linken stellt im LiMAschaufenster erstmals in der LINKEN gearbeitet wird. Ist es aber, teilweise zu Recht, als manipu- zum Beispiel schon Bildung, wenn im lativ. Das verunsichert. Rahmen einer Mitgliederversammlung ein Referat zu einem aktuellen The- Wie kann ein Medienkongress das ma gehalten wird? Welches Verständ- ändern? nis haben wir von der Rolle der Lernen- Die LiMA kann helfen, indem sie den im Bildungsprozess? Welche Inhal- linke Medienfrauen und -männer zu- te sollen mit welchen Methoden erlernt sammenbringt. Der Umgang mit den werden? Wollen wir nur Qualifi zierung Medien ist für sie ein ständiger Ba- als »training for the job«, um Mitglie- lanceakt. Da ist es gut, wenn man der und Funktionsträger/innen für ih- sich mit anderen Linken austau- re speziellen Aufgaben fi t zu machen, schen und voneinander lernen kann. oder soll unsere Bildung eine politi- Dafür bietet die LiMA eine Plattform. sche Bildung sein, die ein tieferes Ver- ständnis der kapitalistischen Gesell- Was ist dieses Jahr neu an der LiMA?

schaft schafft, (Selbst-)Kritikfähigkeit Die drei Konferenzen für Zielgrup- © B. Malter fördert und Handlungsperspektiven pen, mit denen wir am 11. März star- und alternative Politikkonzepte dis- ten. LiMAcampus mit speziellen An- seit einem Jahrzehnt einen Band mit kutiert? Die Bildungskommission wird geboten für junge Menschen fi ndet neuen Cartoons vor. Dr. Thomas Leif diese Fragen in den nächsten Sitzun- das zweite Mal statt, aber neu sind wird aus seinem Buch über den Par- gen auf die Tagesordnung setzen und das union camp für gewerkschaftli- teinachwuchs lesen und anschlie- für sich klären müssen. che Akteure und LiMAdigital als Bar- ßend unter anderem mit Katja Kip- Damit alle Mitglieder Bildungsange- camp für Online-Journalismus. ping und Franziska Stier diskutieren. bote für sich fi nden können, müssen Auch die LiMA selbst ist in ver- Außerdem gibt es von renommierten vor allem vor Ort Seminare und ande- schiedene Kleinkonferenzen aufge- JournalistInnen und Medien-Dozen- re Veranstaltungen organisiert werden. teilt. LiMAarena umfasst alle Diskus- tInnen viele Workshops zum Hand- Zentrale Angebote der Bundesebe- sionen und Lesungen, LiMAwerkstatt, werkszeug für Medienmacher – vom ne können sich vorrangig nur an Tea- alle Workshops, die auch erstmals in Layouten über Texten bis hin zu Ka- mer/innen und weitere Multiplikato- verschiedenen Niveaustufen ange- meratraining und Rhetorik. rInnen richten. Der Parteivorstand bit- tet daher die Landesverbände und die nachgeordneten Gebietsvorstände, die 7. Akademie für Journalismus, Bürgermedien, Durchsetzung der Grundsätze und Zie- Öffentlichkeitsarbeit & Medienkompetenz le der Bildungsarbeit der Partei wirk- LiMAcampus, LiMA union camp und LiMAdigital am 11. März 2010 sam zu unterstützen sowie die perso- HTW Berlin, Campus Wilhelminenhofstraße 75 A nelle und fi nanzielle Sicherstellung ih- Workshops, Diskussionen, Lesungen, Fachvorträge linker und alternativer rer Bildungsarbeit zu gewährleisten. Medienmacher Teilnahmebeiträge zwischen 10 und 150 Euro Ulrike Zerhau ist stellvertretende Partei- Anmeldung und Infos: www.lima-akademie.de vorsitzende. Unterstützt durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung und Helle Panke e.V. [email protected] März 2010 bis 14. 11.

390 DISPUT Januar 2010 Demokratie für eine andere DDR Die Erfahrung der Runden Tische Von Stefan Bollinger

Die antisozialistische Geschichtspoli- statt. Die Werktätigen wollten selbst Ei- systemsprengende Opposition: die tik war 2009 erfolgreich. An 1989 sol- gentümer sein und stellten nicht Eigen- Bürgerbewegungen, die SDP (Sozial- len nur Demos unzufriedener DDR-Bür- tumsstrukturen in Frage. Vielmehr frag- demokratische Partei in der DDR)? Die ger und Mauerfall erinnern. Da schert ten sie nach Kompetenz und Integrität wollten noch im November eine soziale, es wenig, dass die Öffnung der Staats- ihrer Leiter, die sich vielfach Vertrau- demokratisierte DDR ohne SED-Macht- grenze durch einen Beschluss der DDR- ensabstimmungen unterziehen muss- monopol und grenzten sich mehrheit- Führung herbeigeführt wurde, dass ver- ten. Das Dreigestirn von Direktor, Par- lich vom bundesdeutschen Modell ab, antwortungsbewusste Grenzer, MfSler teisekretär und Gewerkschaftsvorsit- träumten wie SED-Reformer vom 3. Weg wie DDR-Bürger, die den Westen in ei- zender verlor seine Macht. Vor allem jenseits Stalinismus und Kapitalismus. ner Wahnsinns-Nacht erschnuppern wurde begonnen, gemeinsam darüber Aber der Mauerfall veränderte die wollten, aber denen eben diese DDR- zu reden, wie Betriebe und Einrichtun- Stimmung der DDR-Bevölkerung. Der Führung nicht die Regeln für diesen gen nicht mehr politisiert werden, son- Westen war erreichbar geworden, aber ebenso überfälligen wie für das Staats- ohne harte DM und wesen DDR tödlichen Akt in Hand ga- mit einer nur va- ben, das mit Freude, aber auch ohne gen Reformpers- Gewalt vollzogen. Im Herbst ‘89 hatten pektive fingen Bür- die Bürger ihren »aufrechten Gang« ger an zu zweifeln. auf der Straße wiedergefunden für ei- Zugleich zerbrach ne neue DDR, gegen die Flucht aus die- mit der »Nationalen sem Staat. In der heutigen Darstellung Front« der Block der einer »friedlichen Revolution« wird al- »Block«parteien, die lein das spätere Resultat, die Zuwen- ja eigentlich den Ge- dung zur Bundesrepublik als funktio- genpol zur Oppositi- nierendem, nicht mehr hart zu erarbei- dern wie Strukturen und Wege zu einer on darstellen sollten. Hier bildete sich tendem Gesellschaftsmodell betont. demokratisch kontrollierten wie wirt- eine wirkliche Trennlinie heraus, denn Die Illusionen, das Beste aus Ost wie schaftlich effektiven Gestaltung zu fi n- diese suchten spätestens seit Ende No- West zu vereinen, bleiben der spötti- den seien. Dass Letzteres bald zum vember den raschen Anschluss an die schen Nachsicht überlassen. Konfl ikt führen musste, wurde meist »Schwester«parteien im Westen. Gerade angesichts der Uminter- noch nicht erkannt. pretation des Herbstes ‘89 ist danach Dies war – wie auch die bald entste- Legitim und unverzichtbar zu fragen, ob es jemand ernst mein- henden Runden Tische – der Versuch te mit einem demokratischen Neuan- einer Erneuerung der DDR, nicht ihrer Während heute in Geschichtsdarstel- fang einer souveränen DDR. Bürgerbe- Preisgabe. Schon im Frühjahr hatte die lungen der Zentrale Runde Tisch meist wegte und SED-Reformer (vgl. Disput »Initiative für Frieden und Menschen- abgewertet wird, da nicht demokratisch 11/2009) sind recht unstrittig. Aber das rechte« mit Blick auf Polen für die DDR gewählt, stand dies damals nicht zur Jahr 1989 brachte eine demokratische ein solches Möbelstück empfohlen. Im Debatte. Denn mit ihm griffen die neuen Innovation, die nicht zufällig bis auf Herbst ‘89 wurde eine solche Forde- Bewegungen entsprechend ihren For- wenige Ausnahmen auch in der wis- rung akut, die oppositionellen Bewe- derungen und im Einklang mit der Mas- senschaftlichen Diskussion übergan- gungen wollten so mit der Macht ins senstimmung vom Oktober/November gen oder heruntergespielt wird: den Gespräch kommen. Die Kirchen boten in die Gestaltung der DDR ein. Sie wa- Zentralen Runden Tisch, die regionalen sich als Vermittler an, als sie die Idee ren durch Unterschriften, Versammlun- und thematischen Runden Tische, die von »Demokratie jetzt« am 22. Novem- gen und Foren – »durch die Straße« – le- analogen basisdemokratischen Struk- ber öffentlich machten. Die Krenz-Füh- gitimiert. Sie hatten, wie auch Altpartei- turen in Betrieben, Institutionen, Uni- rung beeilte sich, dem zu folgen. Der en und Regierung, ihre Vertreter – mehr versitäten, der Akademie der Wissen- dann am 7. Dezember Wirklichkeit wer- oder minder demokratisch benannt – schaften. dende Zentrale Runde Tisch sah ei- entsandt. ne paritätische Vertretung von bishe- Alte und neue politische Kräfte tra- rigem Machtblock einerseits und Bür- fen sich am 7. Dezember in Berlin zu- Demokratisierung von unten gerbewegungen auf der anderen Seite nächst im Dietrich-Bonhoeffer-Haus, Das war damals der Zeitgeist: Der vom vor. Drei Kirchenvertreter sollten mode- später im Schloss Niederschönhau- »Neuen Forum« im September 1989 rieren. sen. Dabei standen sich Teilnehmer gegen die »offensichtlich gestört(e)« Obschon das polnische Vorbild den aus den alten Parteien SED, CDU, DBD, »Kommunikation zwischen Staat und Machtwechsel von der PVAP zur Oppo- LDPD, NDPD einerseits und Bürgerbe- Gesellschaft« eingeforderte »demo- sition zum Ziel hatte, wobei klar war, wegungen und SDP andererseits sowie kratische Dialog über die Aufgaben dass diese Opposition sich kapitalis- dem FDGB gegenüber und mussten zu- des Rechtsstaates, der Wirtschaft und tisch orientierte und in Richtung Wes- sammen nach einem Krisenausweg su- der Kultur« fand nicht nur auf der Stra- ten gehen würde, stellte sich dies in chen. Der Zentrale Runde Tisch sah sich ße, sondern vor allem am Arbeitsplatz der DDR komplexer dar. Denn wer war in Verantwortung für »unser in eine tie-

GESCHICHTE DISPUT Januar 2010 040 fe Krise geratenes Land, seine Eigen- Zusammenschluss sorgten für einen sich auf eine bis heute nachwirkende ständigkeit und seine dauerhafte Ent- mehr und mehr unausweichlichen Gang Frage, die Zerschlagung von MfS/AfNS, wicklung«. Er forderte »die Offenlegung in die deutsche Einheit. Hatte Modrow konzentrierte. Mit dem Regierungsein- der ökologischen, wirtschaftlichen und schon das Vorziehen der Wahlen bestä- tritt von Vertretern der Bürgerbewegun- finanziellen Situation«. Bis zu freien tigen müssen, so begriff er nun die Si- gen und der unausbleiblich heraufzie- Wahlen wollte er informiert und einbe- gnale aus Moskau. Ende Januar konn- henden Einheit wurde der Zentrale Run- zogen sein in alle »wichtigen rechts-, te er nur noch konstatieren, dass er sich de Tisch zum Verteidiger der DDR-Sozi- wirtschafts- und fi nanzpolitischen Ent- mit Gorbatschow geeinigt hatte. Mos- alstandards wie der demokratischen scheidungen«. In harter Auseinander- kau war nicht mehr bereit, sich für die Errungenschaften von 1989/90. Er wur- setzung mit den Altpar- de von einem Gegner der Re- teien und der Regierung pression und des Machtmiss- setzte er sein Verständnis brauchs seitens der SED zum von der Aufgabe der Run- Verteidiger der DDR in dem Mo- den Tische als »Bestand- ment, als deren Ende absehbar teil der öffentlichen Kon- war. trolle« durch. Letztlich bil- Das Vermächtnis der Run- dete sich in der DDR eine den Tische, der Bürgerbewe- Art Doppelherrschaft he- gungen wie der SED-Reformer – raus, die sich erst mit der Einbindung DDR zu engagieren, und wollte nun sei- und bezeichnenderweise auch der in- der Parteien des Zentralen Runden ne Zustimmung für die Einheit belohnt volvierten Vertreter der Altparteien (die Tisches in die zweite Modrow-Regierung bekommen. Als am 30. Januar 1990 Mo- entweder doppelzüngig oder weltfremd normalisierte. drow aus Moskau zurückkehrte und agierten) – war ein Komplex von Geset- Er entstand, um die Lage zu beruhi- sein Konzept einer schrittweisen Ein- zen, die im März 1990 noch durch die gen, strebte eine Kontrollfunktion über heit über eine Konföderation »Deutsch- alte Volkskammer durchgepeitscht wur- die Regierung an und wurde schließlich land einig Vaterland« verkündete, da den und der Verfassungsentwurf. Ihr zum wirklichen Partner der Regierung hatte er nur die Tatsachen anerkannt. Ziel: die Leistungen der DDR für ihre Bür- nach der Krise vom Mitte Januar, als Tei- Allein seine eigene Partei, die SED/PDS ger festzuschreiben und die gerade er- le der Bürgerbewegungen ihr zentrales – die sich mühsam erneuernde Staats- lebte Demokratie auch für die deutsche Problem – die Aufl ösung des MfS – in partei der DDR –, und die Bürgerbewe- Einheit zu behaupten. Denn es ging Angriff nahmen, was mit einem Sturm gungen waren entsetzt, fügten sich aber. um eine DDR der umfassenden Demo- auf die MfS-Zentrale einherging und ei- Nur die Vereinigte Linke zog ihre Konse- kratisierung, mit starken Gewerkschaf- ne gefährliche Situation entstehen ließ. quenzen und gab die gerade erst zuge- ten, Betriebsräten, mit basisdemokra- Modrow und die Bürgerbewegungen standene Mitarbeit in der Modrow-Re- tischen Elementen, mit Plebisziten, frei mussten aufeinander zugehen und ei- gierung auf. Es galt nun, die letzten Ver- von äußerer Einmischung. Es ging um nen Ausgleich suchen, der schließlich teidigungsbastio- mit der Entsendung von Bürgerrecht- nen zu errichten, lern in eine Regierung der Nationalen und hier waren Einheit endete. der Zentrale Run- Der Zentrale Runde Tisch, dessen Ta- de Tisch und sei- gungen live im Fernsehen übertragen ne Bürgerrechts- wurden, entzauberte für viele Bürgerin- basis ausschlag- nen und Bürger allerdings rasch die De- gebend: Die Sozi- (3) Deutschland Neues © Repro, mokratie. Gezeigt wurden neben Dis- alcharta, das Gewerkschaftsgesetz und eine DDR der Menschenrechte in ihrer kussion und dem Ringen um beste ge- das Treuhandgesetzes sollten den Rah- bürgerlichen wie sozialen Dimension. meinsame Standpunkte viel Streit und men schaffen, den nicht mehr aufhalt- In einer sozialen und ökologischen DDR weniger erfreuliche Arabesken demo- baren Weg in die Einheit selbstbewusst sollte das Wohl der Menschen und nicht kratischen Tuns. Seine Arbeit machte zu gestalten und die Errungenschaften der Profi t bestimmend sein. Ziel war es, deutlich, wie schnell scheinbar macht- der DDR zu verteidigen. in die Einheit etwas einzubringen und ferne neue Kräfte die Verantwortung die BRD selbst zu wandeln. Die Wah- wahrgenommen und sich in die Konzi- Erbschaft aus einem len brachten jene Parteien an die Macht, pierung einer Politik für eine erneuer- antistalinistischen Revolutions- die ihre Zentralen in Bonn hatten, wo te DDR eingearbeitet hatten. Und er be- versuch man wusste, was der Osten braucht: be- wies, dass vielleicht nicht nur in Krisen- währte Westrezepte, um die Geschichte zeiten das Ringen um einen Konsens am Was heute auffällt, ist die Ungleichzei- zurückzudrehen. ehesten Lösungen bringen kann. tigkeit der Entwicklung und der Rolle Die Erfahrung, dass es anders geht, Letztlich wurde die Frage der deut- des Zentralen Runden Tisches. Er wur- gehört zur Hinterlassenschaft des Jah- schen Einheit zum springenden Punkt. de wirksam, als sich die Stimmung in res 41 der DDR. Modrow musste an der Spitze seiner der DDR bereits der Einheit zuwandte neuen Regierung einsehen, dass der und Altparteien wie auch die SDP auf Dr. Stefan Bollinger ist Mitglied der Weg in die Einheit nicht aufzuhalten den Zug zur Einheit aufsprangen und Historischen Kommission beim Partei- war. Die durchaus vom Westen ange- die DDR-Innenpolitik ihren neuen west- vorstand der Partei Die LINKE. heizte Stimmung auf der Straße – nach- deutschen Übervätern überließen. Zu- In der Reihe »kontrovers« der Rosa- drücklich bei Kohls Besuch in Dresden dem sind die unterschiedlichen Etap- Luxemburg-Stiftung erschien jüngst am 19. Dezember 1989 spürbar –, das pen seiner Arbeit zu beachten, die bis »Der missglückte Neuanfang 1989/90. Umschwenken der CDU wie der konser- Mitte Januar 1990 zunächst einmal sei- Die DDR zwischen antistalinistischer vativen Bürgerbewegungen und neuen ne Anerkennung als gleichberechtigter Revolution und kapitalistischer Verein- Parteien auf einen möglichst raschen Partner der Regierung bedeutete und nahmung«.

410 DISPUT Januar 2010 Mit Rosa Luxemburg in Israel Das Büro der Stiftung in Tel Aviv begann seine Aktivitäten nicht am Nullpunkt Von Angelika Timm

Seit März 2009 ist die Rosa-Luxemburg- Rosa beispielsweise auf einer ihr ge- die Gegenwart und Zukunft beider Ge- Stiftung mit zwei Büros in der Nahost- widmeten Gedenkveranstaltung im sellschaften, der gesamten Nahostregi- region vertreten. Der Eröffnung ihrer Kibbuz Givat Brenner als »die bedeu- on und Europas betreffen. Repräsentanz in Ramallah Anfang Ok- tendste Frau in der neueren europäi- Das Israel-Büro der RLS unterstützt tober 2008 folgte am 11./12. März 2009 schen Geschichte« bezeichnet worden. im oben genannten Sinne Projekte, die die Einweihung des Israel Offi ce in Tel Sie galt – so Zaban – vielen jüdischen in Bildung, Kultur und Forschung ver- Aviv. Das aus diesem Anlass durchge- Linken jener Zeit als »der Typ einer neu- ankert sind, die kommunale Selbstbe- führte Symposium »Das Vermächtnis en Heldin«, als »eine waghalsige, ent- stimmung betreffen, darauf abzielen, Rosa Luxemburgs für deutsche und is- schlossene und energische Revolutio- demokratische Werte zu stärken, und raelische Linke« stieß auf große Reso- närin mit Feingefühl für die Geschöp- die Menschen- und Bürgerrechte bzw. nanz und regte auch andere Institutio- fe der Natur, für das Schöne im Men- den Umweltschutz zum Ziel haben. nen – zum Beispiel das Leo Baeck Insti- schen, in der Natur und in der Kunst«. Es begann seine Aktivitäten nicht tute in Jerusalem – an, in den Folgemo- Die »Briefe aus dem Gefängnis«, ins am Nullpunkt. Bereits seit mehreren naten der deutsch-polnisch-jüdischen Hebräische übertragen durch die hoch Jahren kooperiert die RLS mit israeli- Revolutionärin würdigende Veranstal- geachtete Schriftstellerin Lea Goldberg, schen Nichtregierungsorganisationen, tungen zu widmen. seien im Palästina der Mandatszeit zu die auf den Gebieten alternativer Bil- Die Namenspatronin der Stiftung einem »Kultbuch« aufgestiegen. dung, der Vermittlung demokratischer ist in Israel durchaus keine Unbekann- Für israelische Kommunisten be- Werte, des jüdisch-arabischen Dialogs te. Bereits 1922 und 1942 wurden ihre steht Rosa Luxemburgs Vermächtnis und der Friedensarbeit tätig sind. Von »Briefe aus dem Gefängnis« ins Hebrä- heute vor allem darin – so Dov Khe- den zehn Projekten, die die Rosa-Lu- ische übersetzt und im renommierten nin, Politbüro-Mitglied der Kommu- xemburg-Stiftung gegenwärtig fördert, Verlag »Ha-Kibbuz Ha-Arzi« veröffent- nistischen Partei Israels und seit 2006 seien drei vorgestellt: licht. Auch die von Paul Frölich ver- Knessetabgeordneter –, dass sie »jeg- Die Frauenorganisation »Achoti« fasste Luxemburg-Biografi e und aus- lichem Nationalismus widerstand, der (meine Schwester), gegründet 1999 gewählte Schriften erschienen in den öffentlichen Meinung, auch dem Main- von orientalisch-jüdischen Frauen, ver- 1940er Jahren auf Hebräisch und fan- stream in der eigenen Partei (der SPD), folgt das Ziel, orientalischen Feminis- den weite Verbreitung. trotzte und konsequent gegen den Ers- mus aktiv in die Politik und Kultur Is- Die linke Politikerin Schulamit Alo- ten Weltkrieg kämpfte«. Für Khenin ist raels einzubringen. Frauen, die nicht ni, Ikone der israelischen Bürgerrechts- die Haltung der Linken zum Krieg ein nur wegen ihres Geschlechts, sondern bewegung, ging in jener Zeit eine ganz permanenter Lackmustest. Die Suche auch wegen ihrer ethnischen Herkunft, persönliche Beziehung zu Rosa Lu- nach den Spuren Rosa Luxemburgs Hautfarbe, Kultur und Nationalität be- xemburg ein. Auf dem RLS-Symposi- führe daher unabdingbar ins heutige nachteiligt werden, soll eine öffentli- um berichtete sie, dass die »rote Ro- Israel bzw. zu seiner gegenwärtigen in- che Plattform für sozio-ökonomische sa« sie seit frühester Jugend durch ihr nen- und außenpolitischen Verfasst- Aktivität und kulturelle Selbstbe- Leben begleitet habe. Luxemburgs öf- heit. stimmtheit geschaffen werden. Insbe- fentliches Agieren, insbesondere die Das RLS-Büro in Tel Aviv ist bemüht, sondere in der geografi schen, ökono- Standfestigkeit, mit der sie ihrer Über- dem Namen und dem Vermächtnis Ro- mischen und kulturellen Peripherie zeugung trotz permanenter physischer sa Luxemburgs einen neuen Stellen- treffen sich Frauen, um die Öffentlich- und verbaler Bedrohung treu blieb, sei wert in der israelischen Gesellschaft zu keit auf ihre Lebensgeschichten, ihre für sie stets Vorbild gewesen, bekann- verschaffen. Es konzentriert sich vor- Arbeit, Werke und Kultur aufmerksam te Frau Aloni. Nicht nur die Forderung rangig auf drei Aufgaben: in Israel Wis- zu machen. Die Rosa-Luxemburg-Stif- nach Meinungsfreiheit als hohem Gut sen über Deutschland, insbesonde- tung unterstützt zum Beispiel das Pro- gehöre zum Vermächtnis Rosa Luxem- re über die deutsche und europäische jekt »Die Grenzen der Erinnerung ent- burgs, sondern vor allem auch deren Linke, zu vermitteln; mit israelischen decken: Frauen entwickeln eine Spra- Eintreten für universale Menschen- zivilgesellschaftlichen Organisatio- che des Friedens« – ein sozio-kultu- rechte. nen eng zusammenzuarbeiten; und in relles Vorhaben, das es Orientalinnen, Yair Zaban – ebenfalls ein bekann- Deutschland zur Entwicklung eines re- Beduininnen und Palästinenserin- ter Politiker der linkszionistischen Me- alistischen Israelbildes beizutragen. Es nen ermöglicht, produktiv tätig zu wer- rez-Partei und, wie Aloni, ehemaliges darf und will in seiner Wirksamkeit die den. In Workshops und gemeinsamen Knesset- und Kabinettsmitglied – be- Spezifi k der deutsch-israelischen Be- Gesprächsrunden lernen die Teilneh- tonte, dass Rosa Luxemburg insbeson- ziehungen nicht außer Acht lassen. Aus merinnen kreatives Schreiben, entwi- dere in der zionistisch-sozialistischen der deutschen Verantwortung für die ckeln sie Kommunikationsfähigkeiten, Bewegung »Ha-Schomer Ha-Zair« (Der Schoah, der sich auch Linke zu stellen diskutieren sie über Feminismus und junge Wächter) eine besondere Rolle haben, leitet sich die Verpfl ichtung ab, tauschen sie sich mit Künstlerinnen, als politisches und menschliches Vor- in aktiver Zusammenarbeit und Part- Poetinnen und Schriftstellerinnen aus. bild spielte, obwohl sie weder ihr Jü- nerschaft mit israelischen Demokraten Das Projekt soll in eine Publikation dischsein hervorgehoben noch den Zi- nach Antworten auf Fragen zu suchen, münden, die Artikel, Kunstwerke, Fo- onismus befürwortet habe. 1934 sei die sowohl die Vergangenheit als auch tografi en, Diskurse und Biografi en ent-

INTERNATIONAL DISPUT Januar 2010 042 halten wird. Marginalisierten Frauen und Verantwortungsgefühl für die Ge- (Eine Stadt für alle), aktiv in Tel Aviv-Jaf- und ihren von der Gesellschaft zumeist sellschaft zu stärken, werden demo- fo, trafen und Erfahrungen austausch- ignorierten Lebensgeschichten soll so- kratische Werte in den Mittelpunkt ge- ten. Ferner eine in Zusammenarbeit mit mit ein Platz im öffentlichen Bewusst- rückt. Gleichermaßen richtet sich die dem Emil Touma Institute und Green- sein Israels geschaffen werden. Tätigkeit des Zentrums gegen jede Form peace in Haifa durchgeführte Konferenz Ein zweites Beispiel für die Wirk- von Gleichgültigkeit, insbesondere ge- über das Tabuthema »Atomwaffenfreie samkeit der RLS in Israel ist das Projekt gen die Verdrängung der Leiden Drit- Zone Nahost?« oder die in Kooperati- »Merkaz« (Zentrum), das die jüdisch- ter, und gegen die Verletzung der Men- on mit der Tel Aviver Universität am 17. arabische Organisation »Sadaka-Reut« schenrechte, gefährden derartige Er- Dezember 2009 veranstaltete Konfe- (Freundschaft) verantwortet. Die in Jaf- scheinungen doch stets die gesamte renz zum Thema »Aufbruchstimmung fo ansässige NGO strebt eine bi-natio- Gesellschaft. im Herbst 1989 – Die politische Wen- nale, multi-kulturelle und egalitäre Ge- Das von der RLS unterstützte Pro- de in der DDR: Zeitzeugenberichte und sellschaft an, basierend auf sozialer jekt »Vom Lernen über den Holocaust Analysen«. In der letztgenannten stark Gerechtigkeit und Solidarität. Ihre Ak- zum humanistischen Dialog« beinhal- besuchten Veranstaltung legten deut- tivisten gehen davon aus, dass paral- tet multi-kulturelle Seminare und frei- sche und israelische Wissenschaftler lel zum Eintreten gegen jede Form von willige wöchentliche Treffen von ara- bzw. Spitzendiplomaten ihre Sicht auf Diskriminierung und für die Gleichbe- bischen und jüdischen Schülerinnen das »Wunder« der weitgehend gewalt- rechtigung aller Bürger der Kampf ge- und Schülern aus dem Norden Isra- freien »Wende« dar. Bürgerrechtler – gen die Besatzung und für eine gerech- els. Zur Diskussion stehen ausgewähl- wie Friedrich Schorlemmer und Daniela te Lösung des israelisch-palästinensi- te Holocaust-bezogene Themen und Dahn – berichteten über ihre Erfahrun- schen Konfl ikts geführt werden müsse. deren gesellschaftliche Relevanz; das gen mit dem demokratischen Aufbruch Zur Verwirklichung dieses Ziels werden schließt die Erinnerung an die Nakba bzw. mit der späteren Umwertung des regelmäßige Begegnungen zwischen (arabische Katastrophe 1948/49) ein. konkreten Geschehens. jungen israelischen Staatsbürgern pa- Die Teilnehmer erörtern Identitätspro- Die israelischen Reaktionen besa- lästinensischer und jüdischer Nationa- bleme, Erscheinungen des Rassismus, gen, dass neue Ansätze für die Zusam- lität initiiert bzw. wird versucht, die ge- die Verletzung von Menschenrechten, menarbeit deutscher und israelischer gebenen Narrative und Diskurse über das Verhältnis zwischen Bevölkerungs- Linker durchaus vorhanden sind. Zu den Nahostkonfl ikt produktiv zu ver- mehrheit und Minderheiten sowie den den Schwerpunkten der Stiftungsar- ändern. innerisraelischen jüdisch-arabischen beit wird daher die Beantwortung der »Merkaz« will ein alternatives bi-na- Konfl ikt. Frage gehören, wie unter den aktuellen tionales Netzwerk aufbauen, das ins- Deutsche und israelische Linke, Bedingungen der Globalisierung, der besondere Jugendlichen politische Bil- wenngleich unter jeweils spezifi schen Wirtschaftskrisen, des Abbaus sozialer dung vermittelt und jugendspezifi sche gesellschaftlichen Gegebenheiten wir- Rechte und der Rücknahme demokrati- Aktivitäten fördert. So entstehen bei- kend, vereint das Streben nach einer scher Werte linke Politik zu defi nieren spielsweise in Jaffo, Bat Yam, Lod und sozial gerechteren Gesellschaft und ist bzw. welche Möglichkeiten für ge- Ramle Gruppen arabischer und jüdi- nach friedlichen Existenzbedingun- sellschaftliche Aktivität und gemeinsa- scher Teenager, die sich gemeinsam gen. Obwohl das RLS-Büro in Tel Aviv me Aktion existieren. künstlerisch betätigen. Mit ihren Kunst- erst wenige Monate alt ist, lud es zu ei- werken setzen sich die Projektaktivis- ner größeren Zahl von Veranstaltungen Dr. Angelika Timm ist die Leiterin des ten mit der sie umgebenden Realität ein, die recht unterschiedlichen The- Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in auseinander; ihrer Stimme verschaf- men gewidmet waren. Genannt seien Tel Aviv fen sie zunächst in ihrer Umgebung Ge- Workshops, in denen sich linke Kom- www.rosalux.co.il hör – in der Familie, unter Freunden, in munalpolitiker aus Berlin, Frankfurt/ 26 Nahmani St.,Tel Aviv, Israel der Schule und in der unmittelbaren Main und Hamburg mit israelischen Tel: +972–3–62 28 290 Wohngegend. Auf diese Weise wollen Vertretern der Bewegung »Ir lekulanu« offi [email protected] sie wahrgenommen werden, sich eine größere Öffentlichkeit sichern und zu- In Israel ist die Namenspatronin der Rosa-Luxemburg-Stiftung keine Unbekannte. gleich die Beziehungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungssegmen- ten stärken. Erst vor wenigen Wochen wurde ein drittes Projekt aus der Taufe gehoben: die Zusammenarbeit mit dem »Zent- rum für humanistische Erziehung« in Nordisrael. Es richtet sich auf einen neuen Zugang der Beschäftigung mit dem Holocaust und stellt in gewisser Weise ein Unikat in der Bildungsar- beit Israels dar. Die Schoah wird nicht nur als ein historisch einzigartiges jü- disches, sondern zugleich als ein uni- versales Geschehen gewertet, das zur Auseinandersetzung mit gegenwärti- gen sozialen und humanen Konfl ikten zwingt. Insbesondere durch Bildungs- arbeit soll dieses Anliegen realisiert werden. Um Gerechtigkeitsempfi nden

43 0 DISPUT Januar 2010 BRIEFE

Historische Pfl icht für den Lebensunterhalt. Wer nicht ei- wie viel Arbeitsstunden jeder Mitarbei- sern sparen kann, kommt in Schulden. ter pro Monat leistet, und zwar derart, betr.: DISPUT 12/2009, Briefe Ich nahm 1975 einen Kredit von 40.000 je weniger Stunden, desto geringer der Erst durch den Leserbrief von Dr. DM auf. Den habe ich mit 55.000 DM Steuersatz. Die Arbeitszeit muss sin- Kurt Laser bin ich noch einmal auf den zurückbezahlt, auf Raten. Seit 2006 bin ken. Nicht durch ein Gesetz. Das würde Artikel über die Losung »Schlagt die ich schuldenfrei. Selbstständig zu sein nicht durchsetzbar sein und wäre auch Faschisten, wo ihr sie trefft« (DISPUT ist ein Abenteuer! pauschal total falsch. Die Verkürzung 10/2009) aufmerksam geworden. Ich Heute habe ich eine Wohnung von der Arbeitszeit pro Arbeitnehmer muss stimme der Kritik von Kurt Laser nicht 41 Quadratmetern und zahle Sozialmie- fl exibel pro Unternehmen sein. Nur der zu, fi nde den Artikel wichtig und vor al- te von meiner Erwerbsunfähigkeitsren- ständige fi nanzielle Anreiz, Steuern zu lem auch aktuell. Was ich – auch wenn te, unter 800 Euro. Ich mache mit 70 sparen, wenn die Arbeitszeit pro Mit- es sicherlich fahrlässig geschah – sehr Prozent Gehbehinderung eine Treppen- arbeiter sinkt, bringt den Arbeitgeber bedenklich fi nde ist, dass bei dem Ver- hausreinigung jeden Freitag für 32 Euro in die Gänge, mehr Leute einzustellen, weis auf den ehemaligen KPD-Vorsit- netto und spiele Akkordeon gegen Be- auszubilden und sie möglichst nach zenden Heinz Naumann mit keiner Sil- zahlung ab und zu einmal pro Monat. der Ausbildung zu behalten und Frauen be darüber informiert wird, dass er am Jetzt und morgen muss der Kleinun- mit Kindern auch zu reduzierter Stun- 26. November 1937 vom Obersten Ge- ternehmer mehr Gewerbemiete zahlen, denzahl zu beschäftigen. Natürlich un- richt der Sowjetunion zum Tode ver- mehr Stromkosten, Fahrtkosten ..., al- ter hoher Mitbestimmung der Gewerk- urteilt und am selben Tag erschossen les wird teurer. Deshalb gibt es kein schaften und Personalräte. wurde. Und dass – was genauso fas- Wirtschaftswunder! Ich wehre mich dagegen, dass auch sungslos macht – seine Frau 1940 nach Wenn Arbeitnehmer/innen nicht DIE LINKE sich auf die Fahnen heften Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes an ausreichend Geld haben, geht auch der will, einzugestehen, dass in Zukunft die Nazis ausgeliefert wurde (wie min- Konsum zurück. Wenn die Landtags- die Arbeit nicht mehr für alle reicht. DIE destens 400 weitere Kommunisten und wahlen in Nordrhein-Westfalen sind, LINKE muss jedem Menschen eine rea- anderer linke Exilanten) und im Gegen- gehören diese Tatsachen auf Wahlpla- le Chance geben zu arbeiten. Nur: Acht satz zu vielen der Ausgelieferten die kate gedruckt. Dann erhält die FDP/ Stunden pro Tag – das wird nicht mehr dann folgenden Hitler-Konzentrations- CDU weniger Stimmen! Besten Gruß. zu gewährleisten sein. Ein Mensch oh- lager überlebte. Der neue LINKE ne Arbeit ist letztlich ein leerer Mensch. Das ist zwar nicht Inhalt des Artikels, Anton Adler, München Selbst wenn er nur sechs oder fünf oder aber ich fi nde, die Unwissenheit über vier Stunden arbeiten kann, gehört er die Tatsache, dass mehr Politbüromit- eben nicht zu den leeren Menschen. glieder der KPD von 1920 bis 1933 von Arbeit für alle Und erst danach kommt dann die gesell- Stalins Schergen ermordet wurden als schaftliche fi nanzielle Unterstützung. im Hitler-Faschismus, ist so groß, dass betr.: DISPUT 12/2009, »Es ist eine sozi- Dietmar Weider, Bernburg es unsere historische Pfl icht ist, in je- alistische Idee« dem Zusammenhang auf die furchtba- Ich bin seit Langem Leser und ma- ren Opfer, die auch die deutsche Linke che mir wie jeder andere Gedanken um Nicht schwätzen! durch den Stalinismus erlitten hat, hin- die gesellschaftliche Zukunft unseres zuweisen. Es dauert noch lange, bis die Landes. Auslöser meiner Zuschrift ist Vom 5. bis 7. Februar 2010 treffen sich Nachwirkungen des Systems des Stali- der Artikel im Dezemberheft zur Ein- hochrangige Politiker, Militärs und nismus wirklich gebrochen sind! führung des »Bedingungslosen Grund- Wirtschaftsvertreter aus Europa, Ame- Mathis Oberhof, Schildow einkommens«. Diese Idee bewerte ich rika und Asien zur »46. Münchner Si- mit größter Skepsis. Meine Lebenser- cherheitskonferenz«. Linke fordern von fahrung ist eine andere. Ich habe die den Teilnehmern, USA-Präsident Oba- Kein Wunder DDR von ihrer Entstehung bis zu ihrem mas Ziel der Abschaffung aller Atom- Untergang gesellschaftlich aktiv mit- waffen durch konkrete glaubwürdige Ich bin 73 Jahre alt. Von 1971 bis erlebt, habe fünf große Kinder in den Schritte nuklearer Abrüstung zu un- 2006 war ich als Kleingebäudereini- verschiedensten Berufsbranchen samt tersetzen. Die Bundesregierung sollte ger selbstständig. Ich hatte kaum Ur- Schwiegerkindern, und natürlich un- über den Abzug amerikanischer Atom- laub, erst ab 1999. Was alles zu bezah- terhalten wir uns nicht selten über das waffen aus Deutschland nicht schwät- len war: Betriebsrechtschutz-Versiche- Heute und Morgen. Mein wichtigster zen, sondern dafür Termine stellen. Zu rung, Betriebshaftpfl icht-Versicherung, Vorschlag zur Gestaltung der Arbeit zur hoffen ist, dass der Abzug der NATO Berufsgenossenschaft, Auto-, Benzin-, maximalen Einbindung möglichst aller aus Afghanistan als Schritt zum Frieden Öl- und Wartungskosten, Reparaturen, arbeitsfähigen Menschen bei ständig eingeleitet wird. Der geschönte Abrüs- Steuerberater, Materialkosten für Rei- steigendem technischen Fortschritt ist tungsbericht der Bundesregierung vom nigungen, Einkommensteuer, Tages- folgender: Alle Unternehmen vom Frei- 12. Januar 2010 vertuscht das Waffen- löhne, Inseratenkosten, private Kos- berufl er bis zur Aktiengesellschaft wer- profi tgeschäft. ten ... Dann kommt erst der Verdienst den besteuert in Abhängigkeit davon, Prof. Dr. Wolfgang Triebel, Berlin

DISPUT Januar 2010 044 © Erich Wehnert © Erich

NACHBELICHTET

Von Arthur Paul ■ ■ So weit kann es Meute auf der Straße fl og mancher fet- schöfe warnten vor sozialem Aufruhr. Es kommen, wenn die Warnungen von Un- te Happen zu. Doch dann wurden die kann daher beim Zumauern der Fenster ternehmerpräsident Hundt überhört Blicke des Prekariats immer gieriger. Es nicht bleiben. Da muss ein Graben her. werden: Die zunehmend antikapitalis- reckte die Fäuste und verlangten Min- Da muss eine private Wachmannschaft tische Grundhaltung der Bundesbürger destlöhne. Die Regierung erdreistete ans Gewehr. Da muss vor allem der Tre- zwingt die Privateigentümer, ihren kärg- sich, eine Bank zu verstaatlichen. Das sor im Billardzimmer der Herrschaft vor lichen Besitz zur Festung zu machen! war dann der Tag, wo der Besitzer sag- den Habenichtsen gesichert werden. Nur so lässt sich deren letzte Habe vor te: »Die Fenster im Speicher werden zu- PS: Wie wir erst nach Redaktions- den dreisten Zugriffen der Linken schüt- gemauert!« Schließlich verlangt das schluss erfuhren, handelt es sich hier zen. Grundgesetz, das Privateigentum zu nicht um eine Schutzmaßnahme ge- Als dieses alte Lagerhaus noch offe- schützen und zu fördern! gen linke Extremisten, sondern um eine ne Fenster hatte, da gab es drinnen al- Doch da kicherten einige Anwohner Vorsichtsmaßnahme gegen die »Fens- le Schätze dieser Erde zu bestaunen. und riefen: »Lies mal richtig! Da steht, tersteuer«, die Bundesfinanzminister Die im Grundbuch eingetragenen Be- dass das Eigentum verpflichtet! War- Schäuble nach dem Vorbild des franzö- sitzer gaben dreimal im Jahr festliche um habt ihr so viele von uns entlassen? sischen Sonnenkönigs einführen könn- Gelage im rustikalen Ambiente für ihre Und was gebt ihr in die Gemeindekas- te, um die gigantischen Verluste der Pri- geschätzte Kundschaft. Der gaffenden se?« Die Gewerkschaften und die Bi- vatbanken zu decken.

45 0 DISPUT Januar 2010 BÜCHER

Ich – das unbekannte versammelten hat er literarisch den also seinen Teil dazu beitragen kann. Westen erobert. Man könnte ihn fast Hinter all den Geschichten über recht einen globalisierten Autor nennen. merkwürdige Begebenheiten wie bei- Wesen In diesen Erzählungen verschwindet spielsweise einem Symposium über Unerwartete Entdeckungen auf der Ta- nicht nur ein Elefant spurlos, worüber Lärm oder dem Welttreffen der Maul- schenbuchtheke. Gelesen von Ingrid sich der Ich-Erzähler, wie es scheint, trommelspieler öffnen sich Welten und Feix als Einziger Gedanken macht. Irgend- Weltsichten. Es geht um Ost und West, wie um Verlust geht es in den anderen Liebe und Hass, um Vergängliches und aschenbuchausgaben sind für sieben Geschichten auch. Ob es die Tradition, um Gerücht und Wahrheit, manchen Buchliebhaber noch im- Frau ist, die plötzlich ganz ohne Schlaf um Freiheit und Enge, um Natur und T mer die eher unakzeptable Varian- auskommt und sich in zwei Identitä- Mensch … In Handkes literarischem te schöner Literatur. Dabei zeigen viele ten spaltet, oder die Ereignislosigkeit Wundergarten lassen sich viele Entde- Verlage durchaus auch, preiswert muss verschiedener Tage, die ein Tagebuch- ckungen machen. nicht billig aussehen. Gut geführte Ta- schreiber mit Hilfe historischer Daten Handke sollte 2008 für diese Erzäh- schenbuchtheken in den Buchhand- wie »Indianeraufstand von 1881« oder lung für den Deutschen Buchpreis no- lungen beweisen das. Drei fast willkür- »Hitlers Einfall in Polen« auseinander- miniert werden, er lehnte aber dan- lich herausgegriffene Bücher zeigen, hält. Weisheit und Sinnlosigkeit liegen kend zu Gunsten jüngerer Autoren ab. dass man dem anspruchsvollen Ver- da oft beieinander, man kann nicht da- gnügen, das Lesen sein kann, durch- von lassen. Irreales wird zur Wirklich- aus auch zwischen biegsamen Papp- keit und das Ich wird zum unbekann- uch die hier versammelten 33 Tex- deckeln frönen kann. ten Wesen. te von Max Goldt, Jahrgang 1958, Einer der in unseren Breiten be- A sind bereits veröffentlicht und, kanntesten japanischen Gegenwarts- wie der Titel sagt, inzwischen vergrif- em unbekannten Wesen Ich ist auch der in Frankreich lebende Max Goldt D österreichische Schriftsteller Pe- Texte aus den in die ter Handke auf der Spur. Handke, Jahr- Vergriffenheit Haruki Murakami gang 1942, muss hier niemandem wirk- entlassenen Der Elefant lich vorgestellt werden, er gilt schließ- Büchern »Quitten« verschwindet lich als einer der modernen Klassiker und »Kugeln«. rororo, btb Verlag der deutschsprachigen Literatur. »Die Rowohlt Taschenbuch 192 Seiten morawische Nacht« erschien nach den 272 Seiten Repro 8 Euro Repro in den Medien ausgetragenen Kont- 8,95 Euro roversen um Handkes Parteinahme schriftsteller ist Haruki Murakami, Jahr- für Serbien und gegen das Eingreifen fen, was den Autor veranlasste, man- gang 1949. Mit dem Zitat aus Die Zeit der Nato auf dem Balkan. In dieser Er- chen Text mit einem aktuellen Kom- »Murakami ist Kult« schmückt sich der zählung, mit der die Feuilletons erst- mentar zu versehen. Goldt-Texte kann btb Verlag, der schon über ein Dutzend mal wieder ihren Frieden mit Handke man nur mögen, wenn man Ironie seiner fast zwei Dutzend im Deutschen machten, erzählt der Autor von einem versteht und mag. Andernfalls könn- vorliegenden Bücher als Taschenbuch- Ex-Autor, der sich auf ein Hausboot an te man damit lernen, was Ironie ist. ausgabe herausbrachte. Jenseits des dem Balkan-Fluss Morawa zurückgezo- (»Man kann sagen, dass mich im vo- Manga-Booms vermitteln seine Bü- gen und dann eine Rundreise durchs rigen Absatz ein demagogischer Der- cher aber nicht unbedingt das typische westliche Europa unternommen hat- wisch geritten hat. Gram und Sinnes- Bild zeitgenössischer japanischer Li- te. Dieser Ex-Autor lädt sieben Freun- trübung führten meinen Filzstift in die teratur, meinen Japanologen. Und in de auf sein Boot, um ihnen von die- Schmierseife satirischer Zuspitzung.«) der Tat taucht in seinen Büchern, wie ser Reise eine ganze Nacht lang zu be- Der Wahlberliner mit dem Pseudonym auch die vorliegenden Erzählungen richten, wobei ein jeder von ihnen ei- Max Goldt versteht es, wort- und geist- belegen, sehr viel Vertrautes auf, Ro- nen Teil davon selbst miterlebt hat und reich auszuteilen, dabei handelt es mane von Tolstoi, Musik von Schosta- sich stets um Beobachtungen und Mit- kowitsch, Filme von Fellini, Hambur- teilungen des weitgreifenden Alltags ger von McDonald’s, Erkenntnisse von des Ich-Erzählers. Alltagsprosa also im Sigmund Freud. Murakami, Übersetzer allerbesten Sinne. Die Eigenart, immer von ihn auch prägenden Autoren wie Peter Handke wieder vom selbstgestellten Thema Fitzgerald, Chandler, Irving und Capote Die morawische Nacht abzuschweifen, treibt er bis zur Spit- ins Japanische, hat sich immer sehr für Erzählung ze des eigentlich Unmöglichen. Jedem die westliche Kultur interessiert, länge- Suhrkamp Taschenbuch anderen Erzähler würde man das ver- re Zeit auch in Europa und den USA ver- 576 Seiten übeln, bei diesem Tabu-Brecher wird

bracht. Mit Erzählungen wie den hier 14 Euro Repro das zur vergnüglichen Lektüre.

DISPUT Januar 2010 046 riede, dein Name ist Krieg.« Dieser Rand des Bürgerkrieges hinaus desta- Satz fi ndet sich in dem antifaschis- bilisiert, antirussische und antichine- F tischen Roman »Murmeljagd« von sische Fronten aufgebaut. Ulrich Becher. Er beschreibt damit den Der neue Weltkrieg, so der bekann- trügerischen, verlogenen und längst ver- te Hallesche Psychologe Maaz schon ratenen Frieden nach 1918 und vor allem vor zwei Jahrzehnten in einer Diskussi- im Jahr 1938. Die Diskussion darum, ob on in der Berliner Volksbühne, schließt in Afghanistan Krieg herrscht, ist müßig. solche blutigen Kriege und militärischen Der herrscht dort seit mehr als drei Jahr- Konfrontationen ein. Sein eigentliches zehnten. Er beherrscht das Leben und Wesen jedoch sind die Ausplünderung Sterben von Afghaninnen und Afgha- des Südens, der künftigen Generati- nen in einer Weise, die selbst in Krie- onen, der Natur und der Kultur durch gen nicht gewöhnlich ist. Doch es geht den Versuch, die verschwenderische um viel, viel mehr. Seit rund viertausend und gesellschaftszerstörende Produk- Jahren ist Krieg auf dem Erdball schrift- tions- und Lebensweise der kapitali- lich dokumentiert. Über die Eroberung stischen Zentren weltweit fortzuset- Megiddos in Palästina vor 3.500 Jahren zen, auszudehnen und zu sichern. Dass ist die detaillierte Beuteliste der Sieger die Erde dafür zu klein und zu verletz- erhalten: »Gefangene 340, Pferde 2041 lich ist, dass menschliche Gesellschaft ..., 1 Kampfwagen jenes Feindes, mit und Kultur und nicht zuletzt die Ökosy- Gold beschlagen, 892 Kampfwagen je- steme der Erde so nicht überleben kön- nes elenden Heeres nen, wird missachtet und muss, wenn ... « usw. man zu grundlegenden Veränderungen Krieg Als Barack Obama nicht bereit ist, missachtet werden. Pe- sich den Friedensno- ter Scholl-Latour spricht nicht von einem belpreis in Oslo ab- Weltkrieg, aber er warnt eindringlich vor holte, den er so sehr den Folgen des neuen Kalten Krieges: verdient hat wie die »Der Begriff ›new cold war‹, vor dessen Weltkrisenmanager Formulierung die meisten zurückscheu- ihre milliardenschwe- en, bezieht seine Berechtigung nicht al-

Von André Brie ren Boni, bekannte er lein aus dem Wiederaufl eben der ge- Parlament © Europäisches sich zur grundsätz- wohnten Gegnerschaft zwischen den lichen Notwendigkeit und Unvermeid- Vereinigten Staaten von Amerika und lichkeit weiterer Kriege. Eigentlich hätte einem wieder erstehenden russischen Der langjährige DISPUT- er am Ende seiner Rede erklären müs- Imperium. Dieser jetzige Kalte Krieg ist Kolumnist André Brie sen, dass er auf den Friedenspreis ver- multipolar, besser gesagt, multilateral wird in diesem Jahr zichte. Aber das wäre wohl zu viel an geworden, entzieht sich jedem Kalkül Verstärkung erhalten. Ehrlichkeit verlangt. und jeder heimlichen Abstimmung.« Er wird sich monatlich Die Situation im Jahr 2010 ist jener Solche Einsichten gibt es in der herr- mit von 1938 nicht unähnlich, auch wenn schenden Politik nicht, schon gar nicht und Anny Heike ablösen. die Weltkriege des 20. Jahrhunderts sich die Bereitschaft, sich ihren weit rei- Viel Lese-, viel Nachdenk- in dieser Form kaum wiederholen wer- chenden und radikalen Konsequenzen freude! den. Ein anderer globaler Krieg jedoch zu stellen. Die Kopenhagener Klimakon- ist längst in vollem Gange. Gerade ge- ferenz ist daran gescheitert, denn auch rät der Jemen in das Visier der Militär- die EU-Staaten sind dazu nicht fähig und strategen und jener westlichen Politiker, nicht bereit. Abrüstung, Alternativen zur die mit einem imperialen Hegemonis- Militär- und Kriegspolitik, die Demokra- mus alle Winkel der Welt den Interessen tisierung der internationalen politischen des Westens unterordnen wollen. Nie und wirtschaftlichen Beziehungen und habe ich die weit gebrauchte Formulie- eine solidarische Weltwirtschaftsord- rung von der »Nachkriegszeit« verstan- nung – sie scheitern am Widerstand und den, mit der die Jahre nach 1945 be- den Interessen der internationalen Kon- schrieben wurden. Es gab ja nicht nur zerne, Banken und Fonds und an Regie- den Korea- und den Vietnamkrieg, es rungen, die sich zu deren willfährigen gab die jahrzehntelangen Kriege der Ko- Handlangern machen lassen. lonialmächte gegen die unterjochten Vier- oder mehr tausend Jahre Krieg Völker, zahlreiche Militärinterventionen sind nicht mehr fortsetzbar. Allein Em- der USA oder den sowjetischen Afgha- pörung und Idealismus werden sie je- nistankrieg. Und derzeit zieht der »Krieg doch nicht beenden. Aber Wahrheiten gegen den Terror«, so der ebenso verlo- unüberhörbar zu machen, gehört dazu. gene wie doch auch aufschlussreiche So noch einmal der viel gelesene und so Terminus des George W. Bush jr., immer wenig erhörte Peter Scholl-Latour: »Der weitere und gefährlichere Kreise. So unverantwortlichen Schönfärberei muss wurden Afghanistan in einen weiteren ein Ende gesetzt werden.« Krieg und der Irak in hunderttausendfa- Es wird ein mühseliger Weg sein. Ein chen Tod gestürzt, weitere Staaten wie langer kann und darf es nicht mehr sein. Pakistan und eben der Jemen über den Das macht es noch schwerer.

470 DISPUT Januar 2010 JANUARKOLUMNE Auslese

Peter Steinbach, Johannes Tuchel

Georg Elser

© be.bra wissenschaft verlag GmbH, 2008

272 Seiten 32,00 Euro ISBN: 978–3– 937233–53–6

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