Das Jahr, in Dem Die Denkmäler Stürzten Die Sicht Auf Die Geschichte Verändert Sich
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Das Jahr, in dem die Denkmäler stürzten Die Sicht auf die Geschichte verändert sich. „Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert blickt zurück auf ein Trümmerfeld mit vor sich ein behutsamer Umgang mit dem die Zukunft. Wer die Gegenwart kontrolliert, Schreck geweiteten Augen, während ihn historischen Erbe geradezu auf. kontrolliert die Vergangenheit.“ <George Orwell> der Wind, den man Fortschritt nennen kann, unaufhaltsam in die Zukunft treibt. Der 10. Oktober. Das engagierte und groß- artige Team, das die Inhalte der Mobilen Geschichte ist also ein Trümmerfeld, Ausstellung [siehe BRÜCKEseite 44] gestal- Das Jahr 2020 wird unter anderem als wenig fügt sich schlüssig zusammen und tet hat, war sich daher der Sensibilität der jenes Jahr in die Geschichte eingehen, in aus dem Steinbruch der historischen Aufgabenstellung voll bewusst. Es galt, dem an vielen Orten der Welt Denkmäler Versatzstücke holen sich Individuen oder vom Ausgangspunkt, dem 10. Oktober 2020 stürzten. In Boston wurde eine Christoph- Gruppen passende Puzzleteile, um sich 1920 aus, den Blick auf die Vergangenheit ja Kolumbus-Statue enthauptet, in New Orle- ihr jeweils eigenes Bild der Vergangenheit differenziert zu ermöglichen und mit den ans fiel General Lee. In Bristol rollte die zu konstruieren. Und dieses steht dann vorliegenden soliden Erkenntnissen der Statue des Sklavenhändlers Edward Col- im Widerspruch zu jenem Bild, das sich Geschichtswissenschaft zu unterlegen. In ston ins Wasser des Hafenbeckens und in manch andere, konkurrierende Gruppe der Verdeutlichung der versuchten und Antwerpen wird das Denkmal von König erstellt hat. Es ist die Aufgabe der Wis- oftmals gelungenen Vereinnahmung des CARINTHI Leopold II. nicht nur beschmiert, sondern senschaft, die Motive für die jeweilige historischen Ereignisses für politische grundsätzlich in Frage gestellt. Auswahl der Fakten zu entschlüsseln. Das Ziele in den Folgeepochen, in der Darstel- Auch die Kärntner Geschichte ist reich Gesamtbild bleibt aber wohl auch für die lung des Kampfes um die Erinnerung an Beispielen für Gewaltaktionen gegen Wissenschaft stets fluid, jede Gegenwart spiegeln sich die dramatischen Ereignisse Denkmäler. Man könnte eine eindrucks- stellt ihre eigenen Fragen an die Geschich- der Folgejahrzehnte, die dem Land schwe- volle Ausstellung mit Bildern von unfreund- te und eröffnet, von neuen Standpunkten re Wunden zugefügt haben. lichen Interventionen an steinernen Zeu- aus, neue Perspektiven. Wenn man, wie ich, vor über einem hal- gen der Geschichte gestalten. Das macht Von George Orwell stammt das bekann- ben Jahrhundert aus Kärnten weggezogen deutlich, dass hier wie überall die Geschich- te Zitat: „Wer die Vergangenheit kontrol- ist, familiär aber noch immer tief in diesem te ein umkämpfter Ort ist. Vergangenheit liert, kontrolliert die Zukunft. Wer die Land verwurzelt ist, so erscheint einem der vergeht nicht, sie ist über das individuelle, Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Umgang der Kärntner*innen mit ihrer kommunikative oder kulturelle Gedächtnis Vergangenheit.“ Die Sichtweise auf die Geschichte oftmals widersprüchlich und oft in widersprüchlichster Form mit uns Geschichte ist also eine Machtfrage in der aus der Zeit gefallen. Besonders der Rück- und unserer Gegenwart verbunden. Paul Gegenwart mit entscheidender Funktion blick auf den Oktober 1920 orientiert sich Klees Angelus Novus, von Walter Benjamin für die Gestaltungsmöglichkeiten in der oftmals sehr viel weniger an der durch die als Engel der Geschichte interpretiert, Zukunft. Berücksichtigt man das, drängt Geschichtswissenschaft solide erschlosse- 4 DIE BRÜCKE Nr. 20 | Brückengeneration 5 Nicole Six & Paul Petritsch: Die Innere Grenze | Notranja meja. Fotos: Six & Petritsch | Bildrecht 2020 Mit diesem Projekt untersuchen Six/Petritsch anhand der Abstimmungskarte den 1920 erwogenen Grenzverlauf für Kärnten. Das Aufsuchen und Begehen dieser erdachten zirka 160 Kilometer langen Grenze wird von ihnen auf unsentimentale Weise fotografisch dokumentiert. Ort und Blickrichtung der jeweiligen Fotoaufnahmen wurden – in Anlehnung an kartografische Methoden – allein durch ein bestimmtes Raster definiert, das sie über die Karte legten [siehe auch das da.schau.her auf BRÜCKENseite 25]. nen Fakten als an den unter- gehen, die ohne Diskriminie- Gestalter*innen zu danken. Die Zusam- schiedlichen Interpretationen rung auskommt und möglichst menarbeit mit diesen kreativen Menschen und Vereinnahmungen, die die allen Bewohner*innen dieses so war für uns, die wir die Inhalte zu liefern Kärntner Volksabstimmung in den schönen Landes gute Perspektiven hatten, eine beglückende Erfahrung. Jahrzehnten, die auf dieses Ereignis folgten, bietet. Das greift die Mobile Ausstellung Und natürlich ist dem Land Kärnten erfahren musste. auf, mit dem Zeigen der wirtschaftlichen und seinen Vertreter*innen zu danken, Es war kein „Sieg in deutscher Nacht“, Dynamik dieses Landes, mit der Kreativi- dass sie volle Gestaltungsfreiheit bei der vor 100 Jahren errungen wurde. Eine tät und der Weltgeltung der hier entwi- dieser Ausstellung uns allen gegeben hat, Analyse der abgegebenen Stimmen macht ckelten Kultur, mit dem breiten Bildungs- die wir, oftmals von unterschiedlichen deutlich, dass für den Großteil der slowe- angebot und vor allem mit dem Stolz auf Grundpositionen aus unsere Beiträge gelie- nisch sprechenden Menschen in Unter- seine Vielfalt, die sich nicht nur im Sprach- fert haben. Es ist eine große Freude, dass kärnten die Stimmabgabe nicht durch lichen dokumentiert. diese Ausstellung Interesse findet, Dis- einen aufgeheizten Nationalismus – der kussionen und Denkprozesse auslöst, auf bei ihnen noch nicht angekommen war –, (Un)angenehm berührt. Viele Kärnt- konstruktive Kritik stößt und insgesamt sondern durch vernunftgeleitete Analyse ner*innen haben das Land verlassen, um mithilft, die positiven Impulse, die von der sozialen, ökonomischen, politischen anderswo in Österreich oder der Welt ihre „CARINTHIja 2020“ ausgehen, zu unter- und kulturellen Situation getroffen wurde. Träume zu verwirklichen. Von außen stützen und befördern. Die Steine des Slowen*innen, die ihre Stimme für einen haben aber die meisten dieser Menschen Trümmerfelds Geschichte fügen sich Verbleib ihres Landesteiles bei Österreich immer Anteil genommen an dem, was sich langsam zu einem Bild zusammen, in dem abgegeben hatten, trafen eine Entschei- in Kärnten getan hat. Mehr als einmal war sich hoffentlich der Großteil der dung des Kopfes, nicht die eines brennen- man dabei unangenehm berührt, ja betrof- Kärntner*innen, welcher Muttersprache den Herzens. Pragmatismus und Vernunft fen. Aber es gab auch Freude und Stolz. auch immer, wiederfinden können. siegten bei ihnen über Emotion und Und heute überwiegen die positiven Gefüh- ● Helmut Konrad Ideologie. le. Kärntner*innen in aller Welt waren * 1948 in Wolfsberg, Historiker und ehem. Rektor der Karl-Franzens-Universität Graz. Diese (im Übrigen gar nicht neue) Ein- symbolisch dabei, als diese „Landesaus- sicht ermöglicht einen kühleren und abge- stellung“ nach einer durch die Pandemie klärteren Blick auf ein historisches Ereig- erzwungenen Verzögerung endlich der nis, das in Kärnten über Jahrzehnte mit Öffentlichkeit präsentiert werden konnte. hohen Emotionen betrachtet wurde. Und Dass diese Ausstellung so eindrucksvoll von diesem Punkt aus kann man auch mit umgesetzt werden konnte, ist dem enga- Optimismus an eine Gestaltung der Zukunft gierten Team der Architekt*innen und DIE BRÜCKE Nr. 20 | Brückengeneration 5 5 Leto, v katerem so se podirali spomeniki Pogled na zgodovino se spreminja. „Kdor nadzoruje preteklost, nadzoruje prihodnost. Angelus Novus, ki ga je Walter Benjamin mislih je povsem na mestu previdnost pri Kdor nadzoruje sedanjost, nadzoruje preteklost.“ interpretiral kot angela zgodovine, gleda rokovanju z zgodovinsko dediščino. <George Orwell> nazaj na polje ruševin z očmi, izbočenimi od strahu, medtem ko ga veter, ki mu 10. oktober. Nadobudna in odlična ekipa, lahko rečemo napredek, nezadržno vleče ki je oblikovala vsebino potujoče razstave Leto 2020 se bo med drugim zapisalo v v prihodnost. po deželi [glej stran 46], se je v celoti zgodovino kot leto, v katerem so se v zavedala občutljivosti zastavljene naloge. številnih mestih sveta podirali spomeniki. Zgodovina je torej polje ruševin, kjer le Vse od izhodiščnega datuma, 10. oktobra 2020 V Bostonu je bil obglavljen kip Krištofa malo stvari še logično paše skupaj; iz 1920, je bilo treba zagotoviti raznolik ja Kolumba, v New Orleansu je padel general kamnoloma zgodovinskih kulis si posa- pogled na preteklost, podkrepljen z obsto- Lee. V Bristolu se je kip Edwarda Colstona, mezniki ali skupine izberejo primerne ječimi trdnimi spoznanji zgodovinske trgovca s sužnji, zakotalil v vodo prista- dele sestavljanke, da bi si tako ustvarili vede. Pri ponazoritvi poskusa in pogosto niškega doka, v Antwerpnu pa spomenik lastno sliko preteklosti. Ta pa je potem v uspelega tolmačenja zgodovinskih dogod- kralja Leopolda II. ne samo, da je bil nasprotju s sliko, ki si jo je ustvarila mar- kov za politične namene v obdobjih, ki so CARINTHI oskrunjen, temveč je kot tak v celoti pos- sikatera druga konkurenčna skupina. sledila, in pri prikazovanju boja za zgodo- tavljen pod vprašaj. Naloga znanosti je, da razvozla motive za vinski spomin, se odražajo dramatični Tudi v zgodovini avstrijske Koroške ne vsakokratno izbiro dejstev. Celotna slika dogodki naslednjih desetletij, ki so deželi manjka primerov nasilnih dejanj zoper pa vseeno tudi za znanost vedno ostaja zadali hude rane.