Cahiers d’Études Germaniques

67 | 2014 Quelques vérités à propos du mensonge ? (Volume 1)

Hélène Barrière, Karl Heinz Götze et Ingrid Haag (dir.)

Édition électronique URL : http://journals.openedition.org/ceg/1628 DOI : 10.4000/ceg.1628 ISSN : 2605-8359

Éditeur Presses Universitaires de Provence

Édition imprimée Date de publication : 1 décembre 2014 ISSN : 0751-4239

Référence électronique Hélène Barrière, Karl Heinz Götze et Ingrid Haag (dir.), Cahiers d’Études Germaniques, 67 | 2014, « Quelques vérités à propos du mensonge ? (Volume 1) » [En ligne], mis en ligne le 17 décembre 2017, consulté le 04 novembre 2020. URL : http://journals.openedition.org/ceg/1628 ; DOI : https://doi.org/ 10.4000/ceg.1628

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CAHIERS D’ÉTUDES GERMANIQUES

QUELQUES VÉRITÉS À PROPOS DU MENSONGE ?

VOLUME I

Études réunies par

Hélène BARRIÈRE, Karl Heinz GÖTZE et Ingrid HAAG

2014/2 – n° 67 CAHIERS D’ÉTUDES GERMANIQUES

DIRECTEUR Karl Heinz GÖTZE (Aix-Marseille)

RÉDACTEURS EN CHEF Ingrid HAAG (Aix-Marseille) Karl Heinz GÖTZE (Aix-Marseille)

SECRÉTAIRE DE RÉDACTION Hélène BARRIÈRE (Aix-Marseille)

COMITÉ SCIENTIFIQUE Dieter BORCHMEYER (Heidelberg) Ulrich FUCHS (Bremen – Marseille) Maurice GODÉ (Montpellier) Ingrid HAAG (Aix-Marseille) Michael HOFMANN (Paderborn) Steffen HÖHNE (Weimar) Dorothee KIMMICH (Tübingen) Jean-Charles MARGOTTON (Lyon 2) Gerhard NEUMANN (München) Gert SAUTERMEISTER (Bremen) Michel VANOOSTHUYSE (Montpellier) Marcel VUILLAUME (Nice)

COMITÉ DE RÉDACTION Florence BANCAUD (Aix-Marseille) Hélène BARRIÈRE (Aix-Marseille) André COMBES (Toulouse 2) Claus ERHART (Nice) Wolfgang FINK (Lyon 2) Karl Heinz GÖTZE (Aix-Marseille) Hilda INDERWILDI (Toulouse 2) Thomas KELLER (Aix-Marseille) Françoise KNOPPER (Toulouse 2) Jacques LAJARRIGE (Toulouse 2) Michel LEFÈVRE (Montpellier 3) Fabrice MALKANI (Lyon 2) Nathalie SCHNITZER (Aix-Marseille) Christina STANGE-FAYOS (Montpellier 3) Katja WIMMER (Montpellier 3) Ralf ZSCHACHLITZ (Lyon 2)

COMITÉ DE LECTURE Sylvie ARLAUD (Paris 4) Heike BALDAUF (Lyon 2) Bernard BANOUN (Paris 4) Jean-Marc BOBILLON (Nice) Suzanne BÖHMISCH (Aix-Marseille) Véronique DALLET-MANN (Aix-Marseille) Hélène LECLERC (Toulouse 2) Dorle MERCHIERS (Montpellier 3) Nadia MESLI (Aix-Marseille) Jean-Michel POUGET (Lyon 2) Christine SCHMIDER (Nice)

ADMINISTRATION-DIFFUSION Alix FABRE Université d’Aix-Marseille Maison de la Recherche 29, av. Robert-Schuman 13621 AIX-EN-PROVENCE CEDEX 1 Tél. 04 13 55 36 73 Courriel [email protected] Sommaire

Karl Heinz Götze, Avant-propos...... 7

MILLE ET UNE DISCIPLINES DU MENSONGE Clemens Knobloch, Was man Sprach- und Kommunikations- wissenschaftler über die „Lüge“ fragen darf – und was nicht...... 27 Jochen Jordan, Die Psychologie des Lügens ...... 45 Alain Malissard†, D’Homère à la rhétorique : un certain art du mensonge ...... 63 Gert Ueding, Ars est artem celare – Die Lüge als rhetorische Kunst betrachtet...... 75 Jochen Mecke, Une critique du mensonge par-delà le bien et le mal...... 91

MENSONGE : TEXTES ET CONTEXTES Rainer Nägele, Zur Kritik der Ehrlichkeit ...... 113 Ingrid Haag, Über die „Wahrheit“ der weiblichen Natur und wie diese auf der Bühne des bürgerlichen Trauerspiels Lügen gestraft wird 123 Gert Sautermeister, Wallenstein – Selbsttäuschung und Identitätsbrüche im Spannungsfeld der Politik...... 137 Yasmin Hoffmann, La Chauve-Souris de Johann Strauss : une valse de mensonges...... 157 Susanne Böhmisch, « Eines ist mir klar: Daß die Weiber auch in der Hypnose lügen ». Mensonge et genre chez Arthur Schnitzler ...... 169 Gerhard Neumann, Die letzten Masken. Zum Problem der Lüge bei Arthur Schnitzler...... 185 Hélène Barrière, Un faux mensonge contre un vrai ? Imagination et réalité dans Amoralische Kinderklapper (1969) de Barbara Frischmuth ...... 195 Charlotte Januel, Segensbetrug oder Spaß? Thomas Manns Die Geschichten Jaakobs und die Genesis ...... 211 6 SOMMAIRE

Dorothee Kimmich, „Mundus vult decipi“. Warum man sich den Hochstapler als einen glücklichen Menschen vorstellen muss...... 223 Karl Heinz Götze, Über einige Versuche Brechts, die Lüge zu erkunden. 237 Jörg Döring/ Davis Oels, Lüge, Fälschung, Plagiat. Über Formen und Verfahren prekärer Autorschaft ...... 255 Thomas Keller, Über Wahrheit und Lüge jenseits des deutsch- französischen Sinns...... 271

Résumés...... 289

Alain Malissard nous a quittés au moment de la mise sous presse du présent volume. Sa compétence scientifique tout comme sa chaleur humaine nous manqueront. Vorwort

Lügen, darüber sind sich im Alltag alle einig, lügen soll man nicht. So die Theologen und sogar die Juristen, die Eltern und die Lehrer, die Politiker und die Verliebten, die Journalisten und ihre Leser. Lügen soll man nicht seit je. Jedenfalls seit den zehn Geboten: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider Deinen Nächsten“, um die Formulierung Luthers zu zitieren. Zugleich aber lügen sie alle, lügen wir alle, mancher, wissenschaftlich erwiesen, hunderte Male am Tag, wobei die Lügen von der kriegstreibenden Behauptung, der Irak verfüge über Massenvernichtungswaffen bis zum augenzwinkernden Kompliment gehen können. Das Besondere an dem Phänomen Lüge liegt nicht darin, dass wir Menschen hier religiöse oder moralische Gebote übertreten. Schon die hebräische Bibel erzählt immer erneut davon, dass wir töten und ehebrechen und stehlen und neiden, Gott darüber in Zorn gerät und mit Strafe oder Barmherzigkeit reagiert. Aber bei den meisten Menschen bleibt dieses Töten und Stehlen, Ehebrechen und Neiden doch Ausnahme oder auf Ausnahmesituationen wie Kriege beschränkt. Anders steht es mit der Lüge: Man soll nicht lügen, aber alle tun es, häufig, immer wieder. Die Soziologie weiß um das normale Schicksal von Geboten, von Gesetzen, an die sich keiner hält: Sie verschwinden aus der sozialen Welt, verlieren ihre Verbindlichkeit. Nicht so das Lügenverbot. Zumindest im privaten Bereich dürfte der offene Vorwurf „Du lügst“ in den meisten Fällen zum dauerhaften Kontaktabbruch führen. Im politischen Bereich gibt es viele aktuelle Beispiele, dass eine offenbar gewordene Lüge das Ende einer Karriere bedeuten kann. Es muss sehr mächtige Gründe dafür geben, dass die Alltagssprache auf den pejorativ gebrauchten Begriff der Lüge nicht verzichten kann, ebenso mächtig wie die, die dafür sorgen, dass die Lüge aus der Alltagspraxis nicht verschwindet. Kurz, die Lüge ist eine interessante Sache, so schwer zu fassen wie schwer zu lassen.

Was ist eigentlich Lüge? Warum ist sie so schlecht beleumdet? Warum kann man sie so schlecht erkennen?

Schwer zu fassen, weil alles, was man darüber sagen kann, kaum wahrer ist als sein Gegenteil. Ja, sogar der christlich-jüdische Gott scheint seinen Spaß an dem Lügenszenario gehabt zu haben, mit dem sich Jakob den Segen seines blinden Vaters erschlich – Gebote hin, Gebote her. Und was die 8 KARL HEINZ GÖTZE

Politikerlügen angeht, so bedeuten die, ans Licht gekommen, nicht automatisch und überall das Ende einer Karriere, sondern können dem betroffenen Politiker, so der sich geschickt aus der Affäre zu ziehen versteht, die Wähler zutreiben. Nicht selten haben wir unseren Spaß daran, einem Lügner beim Versuch zu beobachten, die Lüge zu vertuschen oder umzuwerten, sind also eher auf seiner Seite. Es gibt Berufsgruppen, in denen das geschickte Lügen geradezu ein unabdingbarer Bestandteil der fachlich notwendigen Qualifikationen ist. Ein Rechtsanwalt oder ein Diplomat, der nicht lügen kann bzw. nicht lügen will, muss umschulen – fragt sich nur, auf welchen Beruf. Die Wahl ist so groß nicht. Schwer zu fassen, das gilt auch für die Definition. Die Leser der folgenden Beiträge werden merken, dass der Begriff der Lüge, von der die Autoren jeweils ausgehen, nicht so ganz identisch ist. Jedenfalls ist die Lüge ein kommunikativer Akt, zu dem mindestens zwei gehören, derjenige, der lügt und derjenige, dem die Lüge glaubhaft gemacht werden soll. Schon gegen diese Grundbestimmung kann freilich sofort Einspruch erhoben werden: Sind nicht die „Selbstlüge“ oder das, was Ibsen „Lebenslüge“ nannte, auch mächtige, bisweilen verheerende Formen von Lüge? Gewiss, aber es fehlt ihnen doch ein wesentliches Element, auf das wir spontan reflektieren, wenn wir das Wort „Lüge“ aussprechen, nämlich die Bewusstheit. Es gibt eben Differenzen zwischen dem, was man meint, wenn man sagt „Du irrst“, sagt „Du machst Dir was vor“ oder sagt „Du lügst“. Im Kern allen Lügenbegriffs steht die bewusste Differenz zwischen einem Gefühl bzw. einem Tatsachenwissen und einer Aussage, eine Differenz, die vom Lügner gewusst, aber vertuscht und verleugnet wird. Dies zumeist zu einem ebenfalls vertuschten, häufig egoistischen Zweck. Aber selbst an diese basale Bestimmung lassen sich Fragezeichen heften. So kann man z.B. aus altruistischen Gründen lügen, was zumindest für die moralische Beurteilung meist nicht folgenlos bleibt. Durchaus fraglich ist auch, ob die Lüge immer sprachlich sein muss. Es gibt auch non-verbale Lügen, die sich gestisch oder bildlich artikulieren. Und es gibt Lügenobjekte wie das Trojanische Pferd. Aber wäre die List, die sich des Trojanischen Pferdes bediente, erfolgreich gewesen ohne die Reden des Sinon? Dissimulation und List zum Selbsterhalt sind von der Teufelsmantis bis zu den Menschenaffen allgemeine Kennzeichen der Schöpfung. Die menschliche Lüge setzt diese Reihe fort, aber sie ist eben doch im Allgemeinen sprachlicher Natur. Im Allgemeinen, mehr nicht, denn man kann ja auch durch Schweigen lügen. Wenn man ins Zentrum des Lügenbegriffs trotz allem die intentionale Falschaussage stellt, ist man aus den Schwierigkeiten keineswegs heraus. Um eine bewusste Falschaussage zu machen, muss man die Wahrheit erst einmal wissen. Erst seit Giordano Bruno und Galilei war der Satz, die Sonne dreht sich um die Erdscheibe, wirklich eine Lüge und längst nicht für alle. Epistemologischer Agnostizismus kann, streng genommen, nicht von Lüge reden. Einfacher gesagt: Wenn man meint, die Wahrheit nicht erkennen zu können, muss man von Lüge schweigen. Aufmerksamkeit verdient auch die VORWORT 9

Tatsache, dass die sprachliche Übermittlung eines Gefühls mit der Unzuverlässigkeit des sprachlichen Mediums rechnen muss. Wie will man prüfen, ob der so häufig gesprochene Satz „Ich liebe Dich“ eine Lüge ist? Außer dem Blumenorakel („Sie liebt mich, sie liebt mich nicht...“) bleibt da wenig. Dass der Satz stereotyp klingt, muss kein Zeichen mangelnder Aufrichtigkeit sein, sondern kann einfach auf ein wenig elaboriertes Sprachniveau verweisen. Lüge, noch einmal, ist im Kern eine falsche Aussage, um deren Falschheit der Sprecher weiß, es aber dissimuliert und damit versteckte Ziele verfolgt. Gewiss. Aber auch das Gegenteil kann richtig sein, man kann mit wahren Aussagen lügen. Ein klassisches Beispiel ist der Umgang mit Statistiken, die in sich richtig, also nach wissenschaftlichen Kriterien erhoben, aber zu politischen Absichten bewusst irreführend eingesetzt werden. Der definitorischen Schwierigkeiten ist damit kein Ende. Zu den zahlreichen weiteren gehört die Tatsache, dass die Lüge selten in Reinform auftaucht. Die Lüge kommt so wenig rein vor wie der Alkohol soll Freud gesagt haben. Erst durch die Beimischung von Wahrheit wird sie genießbar wie Alkohol erst durch Beimischung von Wasser, dergestalt, dass sich beide nicht mehr getrennt schmecken lassen, die Trennung sich im Wohlgeschmack verliert. Seltsame Dialektik der Lüge! Erst dadurch, dass sie sich mit ihren natürlichen Feinden, mit der Klarheit, Reinheit und Wahrheit verbindet, kann sie wirken, der Zunge schmeicheln und den Verstand vernebeln. Verlassen wir das Feld der Lügendefinitionen, ohne logisch zwingendes, trennscharfes Ergebnis, aber auch nicht, ohne einen Eindruck von den Problemen bekommen zu haben, die Lüge zu fassen, denen sich die folgenden Beiträge auf unterschiedliche Weise stellen. Sicher ist jedenfalls, dass auf Lüge kaum Verzicht geleistet werden kann, individuell wie gesellschaftlich. Aber gerade weil wir das wissen, liegt uns soviel daran, die Lügen der anderen zu erkennen. Das Überleben kann ebenso vom Erkennen einer Lüge abhängen wie von einer Lüge, die man selbst ausspricht. Aber sie ist gesichtslos. „Lügen haben kurze Beine“? Ach, es gibt so abgrundtief verlogene langbeinige Geschöpfe. Lügen haben lange Nasen wie Pinocchio? Dessen Nase ist wohl das einzige Lügenzeichen, das international verstanden wird. Aber wie viele Stupsnasen oder Knollennasen zieren die Physiognomie verlogener Menschen! Die gekreuzten Finger, die unser Titelbild zieren? Sie können, wie meist in Deutschland, einen Eid oder ein Versprechen „ableiten“, also tatsächlich Lüge indizieren, sie können aber auch, wie im angelsächsischen Raum, einfach bedeuten, dass man Glück wünscht, ähnlich der Bedeutung des Daumendrückens. Lügen sind wahrhaftig eine globale Praxis, aber die Zeichen dafür, wenn es denn überhaupt welche gibt, sind ziemlich national geprägt, so wie der meist auf einer Kanonenkugel reitende „Lügenbaron“ von Münchhausen, dessen Geschichten heute allerdings kaum ein deutsches Kind mehr kennt. Die Kunstgeschichte ist sehr arm an Lügenszenen. Es ist meist so, wie bei Lucas Cranach d. Ä., der die zehn Gebote malen wollte, aber eben keine Lüge malen konnte, sondern eine 10 KARL HEINZ GÖTZE

Gerichtsszene. Man sieht den Ort, aber die Lüge sieht man eben nicht. Wir dürfen jedenfalls die Schwierigkeiten der ikonographischen Darstellung der Lüge als Bestätigung der These verstehen, dass Lüge meist sprachlich ist und heimlich bleiben will, wie gesagt gesichtslos. Wie lange noch, weiß man nicht. Tausende von Psychologen arbeiten seit vielen Jahren an der Entwicklung von Lügendetektoren und können dabei schon ziemlich stolze Resultate vorweisen. Aber so richtig funktioniert es noch nicht, jedenfalls nicht so zuverlässig, dass die Geräte der Justiz die Arbeit abnehmen könnten. Stellt man sich die Frage, ob zuverlässig funktionierende Lügendetektoren denn wünschbar seien, stößt man wieder auf die Ambivalenz, die um die Lüge ist: Einerseits wünscht man sich, dass mancher notorische Lügner endlich erwischt und seiner Strafe zugeführt werde, andererseits ist die Vorstellung zuverlässiger totaler Überwachung und Kontrolle ein Albtraum, weit schlimmer als noch die schlimmste der unentdeckten Lügen. Schaut man näher hin, so zeigt sich diese Ambivalenz auch in der Bewertung der Lüge. Klar, im Alltagverstande sind Lügen negativ konnotiert. Welche Eltern werden schon ihr Kind, welcher Lehrer wird schon seine Schüler ermuntern, nach Kräften und Fähigkeiten zu lügen, statt die Wahrheit zu sagen? Aber warum eigentlich nicht, wenn doch die meisten dieser Erzieher nicht mehr an die göttliche Herkunft des Lügenverbots glauben? Es hat damit zu tun, dass Institutionen wie die Schule, die Familie, ja selbst ein Staat auf ein gewisses Maß an Vertrauen angewiesen sind, um überhaupt existieren und damit auch dem Einzelnen Schutz und Entwicklung sichern zu können. Der ertappte Lügner untergräbt aber dieses Vertrauen, manchmal auf Dauer („Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht und wenn er selbst die Wahrheit spricht“). Freilich haben die schlichten Sprichwörter auch nicht immer Recht im vertrackten Falle der Lüge. Das „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht“, das gilt nur für bestimmte Lügen in bestimmten Situationen und Bereichen. Für welche, das ist wenig untersucht und gewiss auch von der jeweiligen Kultur ein gut’ Stück weit abhängig. Wir dürfen vermuten, dass Lügen etwa im Bereich der Werbung oder der Diplomatie kaum mehr als Lügen wahrgenommen werden, weil die Lüge, wie jeder weiß, dort sozusagen zum Funktionsmechanismus gehört wie es zum Habitus des Verkäufers auf dem Wochenmarkt gehört, seine Ware zu preisen und ihre Flecken und schwachen Seiten zu verschweigen. Sie nähert sich damit der Lüge im Kartenspiel, die zwar dissimulieren will, aber nach Vereinbarung der Spielpartner zum Spiel gehört und damit allerseits von vornherein akzeptiert wird. Aber auch da wäre noch weiter zu differenzieren: Nur bestimmte Lügen der Diplomatie werden achselzuckend als selbstverständlich akzeptiert, andere, zum Beispiel die geschickte Montage von angeblichen Beweisstücken dafür, dass Saddam Hussein über Massenvernichtungswaffen verfüge und deshalb Krieg gegen ihn geführt werden müsse, haben die internationale Glaubwürdigkeit der Bush-Administration gründlich beschädigt. VORWORT 11

Die „schlimmsten“ Lügen, also diejenigen, die tatsächlich zum völligen Glaubwürdigkeitsverlust, zum Beziehungsabbruch, im extremen Falle zur Destruktion des Belogenen führen, sind die Lügen, die sich in die intimsten Verhältnisse einnisten und von Innen heraus zerstören.1 Häufig ziehen sie nicht nur ewig fortgebärend weitere Lügen nach sich, sondern schlagen auch selbstzerstörerisch auf den Lügner zurück: „Oh weh der Lüge! Sie befreiet nicht,/ Wie jedes andre, wahrgesprochne Wort,/ [...] sie ängstet/ Den, der sie heimlich schmiedet, und sie kehrt, / Ein losgedruckter Pfeil, von einem Gotte/ Gewendet und versagend, sich zurück/ Und trifft den Schützen.“2 So heißt es in Goethes Iphigenie. Die negative Bewertung der Lüge hat also auch jenseits religiöser und anderer metaphysischer Argumente viele gute Gründe.

Warum wir die Lüge dennoch brauchen und warum sie eine Kunst ist

Und dennoch bleibt die Bewertung der Lüge ambivalent. Lügen kann nicht jeder. „Gescheite Leute lügen gern“ meinte schon der Lügenbaron Münchhausen. Der Ehrliche ist nicht selten der Dumme und das in doppeltem Sinne. Die Lüge, die List und das Täuschungsverhalten setzen Intelligenz voraus, Intelligenz und Empathie, ja sogar Kreativität, denn um erfolgreich zu lügen, muss man sich in den Anderen einfühlen können, muss imstande sein, Geschichten zu erfinden, widerspruchsfrei zu erzählen, mit Wirklichkeitselementen zu mischen, muss sich seiner Lügen von gestern erinnern können. Erfolgreich lügen ist schwierig. Der Schüler, der zum zehnten Mal die geschlossene Bahnschranke als Grund für seine Verspätung angibt, wird bestraft werden, unabhängig davon, ob es stimmt: er hätte besser eine neue Ausrede erfunden. „Die Lüge ist die Muttersprache unserer Vernunft und unseres Witzes“3 schrieb Hamann an Kant, der in dieser Frage ganz, ganz anderer Auffassung war. Soweit werden auch die ärgsten Verächter der Lüge zustimmen, mit der Anerkennung der intellektuellen Leistung aber eine umso schärfere Verurteilung der moralischen Folgen verbinden. An Beispielen würde es ihnen nicht mangeln. Aber es gibt Lügen, denen nur schwer die Zustimmung zu verweigern ist. Dazu gehören alle Lügen, die unmittelbar dem Selbsterhalt dienen. Sicher, auch das wird man nach Maßgabe der Meinung über das jeweilige „Selbst“ beurteilen, aber doch wohl nicht schärfer als die Gesetzgeber der

1 Karl Heinz GÖTZE, „Der Preis der Lüge. Kleists Mobilisierung für den totalen Volkskrieg“, in Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, H. 300 [= 54. Jg., H. 6/2012], S. 810-833. 2 Johann Wolfgang VON GOETHE, Iphigenie auf Tauris, in Goethes Werke [Hamburger Ausgabe], Bd. V, S. 45, V. 1405-1411. 3 Johann Georg HAMANN an Immanuel KANT, Brief vom 17. Juli 1759, in J.G. Hamanns Briefwechsel, hrsg. v. Josef NADLER und Walther ZIESEMER, Leipzig, Goeschen, 1940, Bd. 1, S. 379. 12 KARL HEINZ GÖTZE demokratischen Staaten, die Beklagten ausdrücklich das Recht zubilligen, sich, seine Verwandten und seine Verschwägerten nicht durch Wahrheiten zu belasten. Die Lüge zum Schutze des Lebens anderer, von Augustinus wie von Kant verworfen, wird wohl heute kaum jemand mehr verurteilen. Die Lüge aus Barmherzigkeit ist – zum Glück – gängige Praxis an Krankenbetten; die Lüge beim Begräbnis geradezu verlangt; die Zustimmung zum „bis dass der Tode Euch scheidet“ mag eher in die Kategorie der Illusion gehören, aber sie wird in mehr als einem Drittel der Fälle Lügen gestraft. Und wer wird – damit schließen wir diese Reihe der Beispiele, die man ad infinitum fortsetzen könnte – schließlich den Stab über einen Machtlosen brechen, der hinter einer Lüge den Schutz vor einem Mächtigen sucht, den ihm sonst niemand bietet? Man stelle sich eine Gesellschaft vor, in der jeder jedem offen sagt, was er gerade denkt, ohne alle Höflichkeit, ohne alle Konvention, die beide ohne Lüge nicht sein könnten. Sie wäre ganz und gar unerträglich, würde Kränkung auf Kränkung nach sich ziehen, würde psychische Zusammenbrüche, Duelle, Kriege an denen es wahrhaft schon jetzt nicht mangelt, unendlich vermehren. Vom Verschwinden der kleinen Freuden durch ein gelungenes Kompliment, dem allemal ein wenig Lüge beigemischt sein muss, ganz zu schweigen.

Was bisher so über die Lüge gedacht wurde

Die skizzierte Ambivalenz bei der Beurteilung der Lüge durchzieht ihre Geschichte von der Antike bis heute. Zur Diskursgeschichte der Lüge gibt es zahlreiche Studien, auf denen die hier vorliegenden aufbauen. Es spricht viel für die These von Bettetini, dass sich in dieser Diskursgeschichte immer erneut mit strukturell ähnlichen, aber historisch anders artikulierten Argumenten die entschiedenen Gegner aller Lüge und die weniger lauten Verteidiger ihrer zivilisatorischen Rolle gegenüber stehen.4 Von den Ambivalenzen in den biblischen Lügenerzählungen war schon die Rede. Sie finden sich auch in der griechischen Antike. Das Altgriechische kennt keinen spezifischen Begriff für „Lüge“, sondern hat nur das Wort pseudos, das sowohl das bewusst unwahre Sprechen als auch den einfachen Irrtum und die Fiktion meint. Das hinderte nicht die Diskussionen über Wahrheit, Fiktion und Lüge, etwa in Platons Dialog mit Hippias oder die Reflexionen über Lüge und Lügner in Aristoteles’ Nikomachischer Ethik. Vor allem hindert es nicht die große Erzählung von Odysseus, von Odysseus und seinen Listen, denen die Griechen den Sieg in Troja verdanken und die er dann zur Überwindung der tödlichen Gefahren, die ihn an der Heimkehr zu hindern suchen, immer wieder braucht. Er überwindet sie durch Lug und Trug, durch List als Ausdruck seines überlegenen Geistes. Nicht zufällig ist

4 Maria BETTETINI, Eine kleine Geschichte der Lüge. Von Odysseus bis Pinocchio, Berlin, Wagenbach, 2003, S. 13ff. VORWORT 13 ein Kapitel in Horkheimer/ Adornos Die Dialektik der Aufklärung5 Odysseus gewidmet. Aufgeklärtes Bewusstsein ist ohne die Möglichkeit der Lüge nicht zu haben. Ein ganz und gar negatives Vorzeichen bekommt die Lüge ideengeschichtlich erst mit zwei Schriften des Augustinus, De mendacio und Contra mendacium.6 Die Lüge, so argumentiert er, sei widergöttlich, denn sie unterlaufe den göttlich gesetzten natürlichen Sprachzweck, sei somit Sünde, selbst dann, wenn sie eingesetzt werde, um andere schwere Sünden wie etwa einen Mord zu verhindern oder als List diene, um etwa die Annahme des Evangeliums zu erleichtern. Er räumt ein, dass es mehr oder minder schwere Lügen gäbe, räumt unterschiedliche Lügenintentionen ein, aber Sünde bleibe sie allemal und gute Menschen dürften nie lügen. Augustinus hat damit streng den Grundton des christlichen Lügendiskurses vorgegeben. Die mittelalterliche Theologie, etwa Thomas von Aquin, behält den cantus firmus bei, systematisiert aber die Formen der Lüge und klassifiziert sie unter dem Gesichtspunkt des Grades ihrer Verwerflichkeit. Die Lüge wider Gott ist absolut verwerflich, die Lügen wider die Menschen sind zu unterscheiden in „Schadenslügen“, Lügen um des eigenen Genusses willen, Lügen, um einer guten Sache zu dienen usw. Solche Unterscheidungen, bei Augustinus schon angelegt, aber für seine Argumentation am Ende folgenlos, sind wohl dahin zu interpretieren, dass es der Kirche trotz der Bedrohung durch ewige Verdammnis nicht gelang, die Lüge auszurotten und dies’ nicht einmal in den eigenen Reihen. Also war zwischen lässlichen, das Seelenheil nicht aufs Spiel setzenden Sünden und den Todsünden zu unterscheiden. Übrigens setzt auch Luther die Ablehnung der Lüge nicht absolut: Lügen gegenüber Kranken, Lügen zur Schadenabwendung an Leib und Leben anderer sind ihm leichte Sünden. Leichte Sünden, aber Sünden doch. Freilich ist die frühe Neuzeit auch der historische Moment, in dem sich in einigen fortgeschrittenen Ländern das Nachdenken über die Lüge weitgehend von der Theologie emanzipiert. Das gilt etwa für Graciáns Oráculo manual y arte de prudencia (Handorakel und Kunst der Weltklugheit)7 von 1653, das erste bedeutende Exemplar einer bis heute nicht abreißenden Gattung von Büchern über höfliches, „weltkluges“ Verhalten, ein Verhalten, das ganz selbstverständlich Lüge und Dissimulation einschließt, ja zu einem der wichtigsten Lernziele macht. Das gilt auch für Niccolò Machiavellis Il principe8 (1513), den wohl frühesten Text, der das Funktionieren der Macht analytisch untersuchte, statt den zahlreichen

5 Max HORKHEIMER/ Theodor W. ADORNO, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag, 1988. 6 Aurelius AUGUSTINUS, De mendacio/ Über die Lüge; Contra mendacium/ Gegen die Lüge; Contra Priscillianistas/ Gegen die Priszillianisten, Eingel., übers. u. komment. v. Alfons Städele u. a. [= Werke, Bd. 50] Paderborn, Schöningh, 2013. 7 Balthasar GRACIÁN, Handorakel und Kunst der Weltklugheit, übers. v. Arthur Schopenhauer, Stuttgart, Reclam, 2003. 8 Niccolò MACHIAVELLI, Der Fürst, übers. u. Nachw.. v. Horst Günter, Frankfurt am Main, Insel Verlag, 2001. 14 KARL HEINZ GÖTZE

Schriften des Fürstenlobs eine weitere hinzuzufügen. Sicher ist er sich jedenfalls, dass der erfolgreiche Fürst die Gesetze der Moral, also auch das Lügenverbot verletzen muss, freilich aber auch nicht alle und nicht überall. Es ist hier nicht der Platz, die verwickelte Geschichte der Emanzipation des Denkens und der Moral von den kirchlichen Orthodoxien nachzugehen. Es lohnt jedoch, einen Blick auf die deutsche Situation um 1800 zu werfen, eine Sattelzeit auch im Denken über die Lüge. Zumindest der Diskurs der Gebildeten war mit der Aufklärung nicht mehr bestimmt durch Elemente wie Sünde, oder gar Erbsünde, durch Höllenangst und Vergebungssehnsucht, sondern kreiste, was die Moral angeht, um die Frage, wie ein freies, selbstmächtiges, vernunftbegabtes Individuum sich verhalten und sich und seinesgleichen Gesetze geben solle. Das rückte aber die Lüge keineswegs in ein milderes Licht. Vernunft braucht, um allgemein zu werden, die Kommunikation, und die Kommunikation braucht die Sprache. Wenn aber die Sprache durch die Lüge verdorben wird, dann unterminieren diese Lügen prinzipiell die menschliche Gemeinschaft. Der in vieler Hinsicht interessanteste Text der deutschen Aufklärung zur Lüge, Kants „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“9 (1797) antwortete auf eine Bemerkung Benjamin Constants, die er auf sich gemünzt glaubte: „Der sittliche Grundsatz [...] es sei eine Pflicht, die Wahrheit zu sagen, würde, wenn man ihn unbedingt und vereinzelt nähme, jede Gesellschaft zur Unmöglichkeit machen. Den Beweis davon haben wir in den sehr unmittelbaren Folgerungen, die ein deutscher Philosoph aus diesem Grundsatze gezogen hat, der so weit geht zu behaupten: dass die Lüge gegen einen Mörder, der uns fragte, ob unser von ihm verfolgter Freund sich nicht in unser Haus geflüchtet, ein Verbrechen sein würde.“10 Tatsächlich ist die viel interpretierte Debatte zwischen Kant und Constant höchst verwickelt und nicht frei von Missverständnissen, geht es doch in Kants Argumentation darum, dass Lüge nicht zum Rechtsgrund werden könne. Aber es geht „dahinter“ doch auch um das absolute Lügenverbot und um Kants starken Affekt gegen die Lüge. Constant hingegen wendet sich keineswegs gegen die Pflicht, die Wahrheit zu sagen, aber dagegen, diesen Imperativ „unbedingt“ und „vereinzelt“ zu nehmen und zwar mit dem kaum bestreitbaren, allemal

9 Immanuel KANT, „Über ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen“, in Werke, hrsg. v. der Königlichen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Reimer Verlag, 1903ff., Bd. 8, S. 426. 10 „Le principe moral, par exemple, que dire la vérité est un devoir, s’il était pris d’une manière absolue et isolée, rendrait toute société impossible. Nous en avons la preuve dans les conséquences très directes qu’a tirées de ce principe un philosophe allemand, qui va jusqu’à prétendre qu’envers des assassins qui vous demanderaient si votre ami qu’ils poursuivent n’est pas réfugié dans votre maison, le mensonge serait un crime.“ (Benjamin CONSTANT, De la force du gouvernement actuel de la France et la nécessité de s’y rallier. Les réactions politiques, Kap. VIII, S. 154, Paris, Flammarion, 2013, übers. vom Verfasser. Philippe RAYNAUD, der Autor des Vorworts des genannten Bandes gibt eine knappe und präzise Zusammenfassung der viel kommentierten Kontroverse (S. 27f.). VORWORT 15 noch gültigen Argument, absolute Wahrhaftigkeit in allen Fällen würde alle Gesellschaft unmöglich machen. Goethes Iphigenie auf Tauris (ab 1779) ist in gewisser Weise ein Seitenstück zu Kant, wenn auch schon die literarische Form dem Kantschen Rigorismus entgegen steht. Das Stück gilt nach Form und Inhalt als das Drama des klassischen deutschen Humanismus, besonders deshalb, weil die bei den Taurern gefangen gehaltene Priesterin Iphigenie in dem Moment, als sich unerkannt ihr schiffbrüchiger Bruder einstellt und mit ihr listige Fluchtpläne zu schmieden beginnt, die natürlich Lügen implizieren, nach heftigen inneren Kämpfen, Freiheit und Leben aufs Spiel setzend, dem barbarischen König Thoas die Wahrheit gesteht und damit ihr Schicksal in seine Hand legt. Die Humanität wirkt humanisierend. Thoas lässt Iphigenie mit den Schiffbrüchigen ziehen. Wir wissen, dass Goethe das Stück „verflucht human“ genannt hat, wir wissen auch, dass es der Versifizierung, der Formglättung (und der Italienreise) bedurfte, um es überhaupt glaubwürdig vollenden zu können. Goethe wusste um die Brüchigkeit der gezeigten Humanisierungsstrategie. Der Faust, an dem er fast sein ganzes Leben lang arbeitete, sieht denn auch das Böse (und als Teil des Bösen die Lüge) keineswegs durch humanes, wahrheitsliebendes Verhalten endgültig überwunden, sondern weist ihm einen Platz im Universum an als „Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“11 Vernunft und Humanität gelingt es so wenig wie den kirchlichen Satzungen, die Lüge aus der Welt zu schaffen. Umso stärker tritt durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch in den Schulbüchern und in der Populärliteratur wieder der normative Aspekt, das „du sollst nicht“ in den Vordergrund. Auf dem Höhenrücken der Ideengeschichte freilich vollzieht sich anderes, nämlich die Ausdifferenzierung des Lügenbegriffs bis hin zu seiner völligen Auflösung. Marx z.B. benutzt natürlich gegenüber politischen Gegnern den Kampfbegriff „Lüge“, wenn sie etwas besser wissen, aber aus machttaktischen Gründen nicht sagen. Zugleich aber entwickelt er Begriffe wie den der Ideologie,12 in seinem Verstande notwendig falsches Bewusstsein. Notwendig deshalb, weil eine bestimmte Stellung im Klassengefüge der Gesellschaft nur bestimmte Erkenntnisse möglich macht, andere wegen dieser Stellung und dem daraus folgenden Standpunkt verunmöglicht. Wer es nicht besser weiß, um des Erhalts seiner Privilegien willen auch nicht besser wissen kann, der ist kein Lügner. Er ist, manchmal auf großartige Weise, beschränkt. Das, was einmal unter den Sammelbegriff „Lüge“ fiel, wird bei Marx ausdifferenziert zu Ideologie, zu Charaktermaske, zu Wirkungen des Warenfetischs usw. Nietzsches Denken, insbesondere die in diesem Zusammenhang immer wieder zitierte dritte unzeitgemäße Betrachtung Über Wahrheit und Lüge im

11 Johann Wolfgang VON GOETHE, Faust, in Goethes Werke [Hamburger Ausgabe], Bd. III, S. 47, V. 1336-1338. 12 Manfred BEHRENS/ Wieland ELFFERDING/ Wolfgang Fritz HAUG u.a., Theorien über Ideologie, Berlin, Argument Verlag, 1979 [= Argument-Sonderband 40]. 16 KARL HEINZ GÖTZE außermoralischen Sinne13 verabschiedet sich nicht nur vom religiösen Lügenverbot, sondern auch vom moralischen, das ihm folgte. Er verabschiedet den Gegensatz von „wahr“ und „falsch“ ebenso wie den zwischen Ehrlichkeit/ Wahrhaftigkeit und Täuschungsabsicht. Sein Begriff der Wahrheit ist allemal historisch, er sieht sie also wandelbar. Er denkt das Problem der Lüge vom „Leben“, von der Notwendigkeit der Selbsterhaltung her, eine Herangehensweise , die ihre erkenntnistheoretische Triftigkeit und Lebensnähe mit dem Verlust an Hemmung bezahlt, die in manchem Bereich, dem politischen zumal, ihre Gefährlichkeit unterdes erwiesen hat. Um 1800 ging es um die Emanzipation vom christlichen Lügenparadigma zugunsten einer selbstbestimmten, vernünftigen und humanen Subjektivität. Hundert Jahre später bricht sich, besonders in der Wiener Moderne, die Erkenntnis von der Brüchigkeit dieser Subjektivität, ihrer Machtlosigkeit im eigenen Haus mächtig Bahn. Dazu rücken die Defizite unserer Wahrnehmung, deren Zuverlässigkeit doch Voraussetzung der Scheidung zwischen „wahr“ und „gelogen“ ist, in den Blick. Und schließlich wird die Sprache als Instrument, werden die Wörter in hohem Maße fragwürdig, zerfallen sie wie Hofmannsthal in Ein Brief schreibt, „im Munde wie modrige Pilze.“14 Wenn gelogen wird, „lügt“ da das Subjekt? Welches? Oder täuscht die Wahrnehmung? Wen? Oder lügt die Sprache? Warum? Wie? So gefragt, ist Lüge nicht mehr recht dingfest zu machen. Zugleich ist der Begriff um 1900 in aller Munde, zumindest auf dem literarischen Feld. Das gilt besonders für den der „Selbstlüge“ oder den der „Lebenslüge“, den Ibsen und Strindberg popularisierten. Sie entgeht übrigens nicht der kontroversen Beurteilung, der die Lüge seit je unterlag. Die Lebenslüge kann ein stimulierendes Prinzip sein, Tatkraft und Intelligenz hervorrufen, sie kann der letzte Halt vor dem Fall sein und sie kann zur seelischen Selbstvergiftung führen. Auf der Couch des Psychoanalytikers finden sich vor allem diejenigen, die die Selbstlügen, die Verdrängungen, die Verschiebungen und Verneinungen krank gemacht, neurotisiert haben. So gesehen, ist die Psychoanalyse eine Kur, die den Kranken zurückführen soll zur verstellten Wahrheit seines Ich. Klar und durch einen Blick in die Wörterbücher der Psychoanalyse leicht verifizierbar ist jedenfalls, dass auch Freud den Begriff der Lüge überaus vorsichtig verwendet und im Bereich der wissenschaftlichen Begriffsbildung vermeidet, durch eigene, differenziertere, semantisch eindeutigere Termini ersetzt. Darin ist er durchaus typisch für die

13 Friedrich NIETZSCHE, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, in Werke in sechs Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta, Bd. 5, München/ Wien, Hanser Verlag, 1980, S. 309- 323. 14 Hugo VON HOFMANNSTHAL, Ein Brief, in Gotthart WUNBERG, Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910, Stuttgart, Reclam, 1981, S. 431-444, hier S. 436f. Nicht zufällig fällt der Satz im Zusammenhang des Versuchs von Lord Chandos, der „meiner vierjährigen Tochter Katherina Pompilia eine kindische Lüge, deren sie sich schuldig gemacht hatte, verweisen und sie auf die Notwendigkeit, immer wahr zu sein, hinführen wollte, und dabei die mir im Munde zuströmenden Begriffe plötzlich eine solche schillernde Färbung annahmen und so ineinander überflossen [...].“ VORWORT 17

Wissenschaft des 20. Jahrhunderts, die den unscharfen, vielfältig beladenen Ausdruck „Lüge“ sehr vorsichtig verwendet, wenngleich er seinen Platz im Alltag behauptet. So sind es häufig die Außenseiter, die Literaten, die mit dem Wort operieren. So verlängert sich eine Linie der Subjekt- und Sprachkritik der Wiener Moderne im Werk von Karl Kraus,15 der geradezu besessen versuchte, der Sprache, vor allem der Sprache der Journalisten die Lüge auszutreiben, ihr zumindest eine Schelle umzuhängen. Diese Linie setzt sich sprachphilosophisch fort in den Überlegungen Wittgensteins zur Lüge.16 Man findet Spuren davon noch in der Literatur der zweiten Nachkriegszeit (Ingeborg Bachmanns „Wir müssen wahre Sätze finden“17). Von Karl Kraus führt aber auch eine Linie in den Bereich der Reflexion der „politischen Lüge“ des 20. Jahrhunderts, ein Bereich, der sich in den letzten hundert Jahren aufs Unerfreulichste erweitert und ausdifferenziert hat, bis er sozusagen zum Normalfall der politischen Kommunikation geworden ist. Was wäre ein spin-doctor anderes als hochqualifizierter Lügenerfinder und -verbreiter? Ein klassischer Text in diesem Zusammenhang ist Hannah Arendts Die Lüge in der Politik18 geworden. Ihre Analyse der Pentagon- Papiere lässt sich fast bruchlos übertragen auf die Vorgeschichte des letzten Irak-Krieges. Ein gar nicht so spezieller Spezialfall ist die Rolle der Lüge in modernen totalitären Staaten. In unserem deutsch-französischen Zusammenhang ist da von besonderem Interesse die Analyse Alexander Koyrés19 von 1943 mit dem Titel Betrachtungen über die Lüge. Letztlich fallen aber alle Untersuchungen zu Ideologie und Propaganda des Faschismus in diesen Bereich, ebenso wie andererseits die aus der Perspektive des Widerstands, z.B. Vladimir Jankélévitchs Du Mensonge20 von 1942. Zu konstatieren ist jedenfalls, dass trotz zahlreicher Versuche im 20. Jahrhundert, die Lüge oder ihre engen Verwandten, z.B. das, was Sartre die „mauvaise foi“ nennt, auf der Höhe der Zeit zu denken, mit der Entwicklung der organisierten Lüge, zum Beispiel in Werbung, Politik und Public Relations kaum Schritt halten kann. Wo derlei versucht wird, geschieht es nur in Ausnahmefällen explizit als Lügenforschung, eher unter anderem Namen, spezialisiert auf einige ihrer Aspekte und Teilbereiche.

15 Karl KRAUS, Lüge und Literatur, Schriften, Bd. 3, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1991. 16 Ludwig WITTGENSTEIN, Vorlesungen über die Philosophie der Psychologie 1946/47, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1991. 17 Ingeborg BACHMANN, Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews, München/ Zürich, Piper, 1983, S. 19. 18 Hannah ARENDT, Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays, München/ Zürich, Piper, 2013. 19 Alexander KOYRÉ, Réflexions sur le mensonge, Paris, Allia, 1998. Deutsch Betrachtungen über die Lüge, in Freibeuter , H. 72, 1997, S. 5 ff. 20 Vladimir JANKÉLÉVITCH, Du mensonge, o.V, Lyon, 1943. Deutsch Von der Lüge, Berlin, Parerga Verlag, 2004. 18 KARL HEINZ GÖTZE

Aber weder die überall zu spürende Skepsis der Wissenschaft gegenüber dem unscharfen Begriff der Lüge noch der schon Jahrhunderte anhaltende, aber noch nicht abgeschlossene Verlust seiner religiösen Begründung führen zum Verschwinden des Terminus „Lüge“ in der Alltagssprache. Zu konstatieren ist, im Gegenteil, eher ein inflationärer Gebrauch. Der Begriff verbindet sich wie kein anderer ohne alle Schwierigkeiten mit immer neuen Termini, die neue Phänomene indizieren. Das kann von der „Griechenland- Lüge“ bis zur „Diät-Lüge“ reichen. In all’ diesen Fällen sind die neu gebildeten Komposita kritisch gemeint und formulieren Kritik in der kürzesten möglichen Form. Von „Diät-Lüge“ in einem konkreten Kontext zu sprechen erspart eine lange Argumentation, die etwa so ginge: „X verspricht uns, dass man ohne Veränderung lieber Nahrungsgewohnheiten abnehmen könne, wenn man nur sein Produkt Y kaufe. Die Medizin weiß aber, und X von und mit ihr, dass das nicht möglich ist. Also lügt er und das tut er zu eigenem Vorteil, weil er an Produkt Y verdient.“ Das alles ist gesagt und zudem noch handlich konzentriert, wenn man in einem konkreten Kontext von „Diät-Lüge“ spricht. Man darf also die These wagen, dass der Gebrauch des Terminus „Lüge“, zumal in Komposita, heute zumeist eine kritische Dimension impliziert. Es wird damit gesagt, dass die Aussage eines Anderen nicht stimmt und er mit dieser falschen Aussage etwas zum eigenen Vorteil im Schilde führt, bzw., wie es eher heißen müsste, hinter dem Schild seiner Aussage verbirgt. Kritik kann sich mit dem Lügenvorwurf nicht begnügen, aber sie kann auch angesichts der gesellschaftlichen Perfektionierung der Lüge nicht auf ihn verzichten, denn er wird sofort verstanden. Er wird sofort verstanden und er transportiert den Anspruch – zumindest an öffentliche Personen –, durch sie aufgeklärt zu werden, statt manipuliert. Das ist keine Frage abstrakter Moral, sondern eine der Selbsterhaltung und des politischen Kampfes.

Zu den Beiträgen dieses Bandes

Die Forschungsgruppe von Germanisten und Slavisten der Universität Aix-Marseille, auf deren Arbeit der vorliegende Band basiert, hat sich zuvor über acht Jahre, drei Kolloquien und drei Kongressbände mit der Liebe beschäftigt. Obgleich man es anders möchte: es ist der Lüge und der Liebe nicht nur die Alliteration gemein. Aber es war nicht nur das, was unser Interesse auf die Lüge lenkte, sondern gerade die oben entwickelte Tatsache, dass der Begriff wie die Sache überaus verbreitet, aber sehr unzureichend konzeptualisiert sind. Derlei Felder, so will uns scheinen, sind günstige Felder für kultur- und literaturwissenschaftliche Forschung. Nicht deshalb, weil es spezifische Affinitäten gäbe zwischen den „ungenauen Wissenschaften“21

21 Jakob GRIMM, „Über den werth der ungenauen wissenschaften“, in Kleinere Schriften, Bd. 7, Berlin, Ferdinand Dümmler, 1864, S. 563ff. VORWORT 19

(Jacob Grimm nannte so die Germanistik in seiner Rede auf dem ersten deutschen Germanistentag 1846) und dem unscharf begrenzten Phänomen der Lüge, sondern vor allem aus dem Grunde, dass die Lüge vorzüglich ein Alltagsphänomen22 ist und die Literatur, unser Gegenstand, so viel über diesen Alltag weiß und aufbewahrt. Klar war aber andererseits, dass die Germanisten allein mit dem Thema überfordert sein würden. Es wurde im Abendland gelogen, bevor es die deutsche Sprache in schriftlicher Form überhaupt gab, und gelogen wird bis heute auch in anderen Zungen als den germanischen. Wir haben uns deshalb erfolgreich um die Mitarbeit von Psychologen, Sprachwissenschaftlern, Kunsthistorikern, Philosophen und Spezialisten für Rhetorik bemüht. Interdisziplinäre Zusammenarbeit ist leicht gefordert, aber praktisch schwer ins Werk zu setzen, weil sich jede Disziplin nach ihren Bedürfnissen den Gegenstand anders zuschneidet und anders benennt. So gilt unser besonderer Dank gerade den Kolleginnen und Kollegen, die von Außen kamen, sei es räumlich, sei es fachlich. Angesichts der Zusammensetzung der einladenden Forschungsgruppe aus deutschsprachigen und französischsprachigen Germanisten lag es nahe, die französische und die spanische Literatur einzubeziehen. Deutsche Romanisten haben uns dabei unterstützt. Erfreulich war auch, dass über personelle und sachliche Kontinuität die Ergebnisse des Regensburger Graduiertenkolloquiums einfließen konnten. Jedenfalls hat unser Aufruf zur Mitarbeit ein erfreulich breites Echo gefunden, das sich in zwei Tagungen und einem großen Colloquium niederschlug, alle drei mit internationaler Beteiligung. Es war nicht daran zu denken, diese Ergebnisse in einem einzelnen Heft der Cahiers d’Études Germaniques zu veröffentlichen. So ist die vorliegende wie die folgende Nummer der Cahiers (Nr. 68, Frühjahr 2015) dem Thema der Lüge gewidmet. Die Beiträge erscheinen, der Tradition der Zeitschrift entsprechend, in der Originalsprache, also auf Französisch oder auf Deutsch. Der Band präsentiert zu Beginn Reflexionen über die Lüge in außergermanistischer Sicht, gefolgt von Studien literatur- und kulturwissenschaftlicher Ausrichtung in mehr oder weniger chronologischer Abfolge. Den Anfang macht ein Beitrag über das, was uns Sprach- und Kommunikationswissenschaftler über die Lüge zu sagen haben. Clemens Knobloch stellt die Ansätze der strukturalistischen Sprachwissenschaft, der pragmatischen Sprechaktlehre, der sprachkritischen Philosophie um 1900 wie der aktuellen neoevolutionistischen Signalkostentheorie der Lüge vor und kommt zu dem zumindest für Nicht-Linguisten erstaunlichen Resultat, dass die Lüge, die doch ohne Sprache nicht gut sein kann, als analytische Kategorie für Sprach- und Kommunikationswissenschaftler nicht eben taugt.

22 Zum Terminus „Alltagsphänomen“ vgl. Jörn MÜLLER/ Hanns-Gregor NISSING (Hrsg.), Die Lüge. Ein Alltagsphänomen aus wissenschaftlicher Sicht, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2007. 20 KARL HEINZ GÖTZE

Jochen Jordan hat sich der undankbaren Aufgabe angenommen, ganze Datenbänke psychologischer Forschung über die Lüge auf ein paar Seiten uns fachfremden Lesern vorzustellen. Im Versuch der Klassifizierung, bei den Psychologen häufig nach Motiven vorgenommen, erkennen wir noch die Verwandtschaft mit den theologischen Klassifizierungsversuchen von Augustinus bis Luther. Er präsentiert vor allem die beiden großen Forschungszweige der Psychologie, die Lüge betreffend. Der erste erforscht und perfektioniert den Lügendetektor, also ein Gerät, das (vielleicht) irgendwann zuverlässig anzugeben weiß, ob der Befragte wahrheitsgemäß antwortet oder lügt. Der andere richtet sich auf eine so subtile Beobachtung der Folgen der Lüge für die Körpersprache, dass selbst erfahrene Simulanten das System nicht unterlaufen können. Hier geht es, das ist unübersehbar, nicht mehr in erster Linie um philosophische oder moralische Fragen (die natürlich bleiben, aber im Hintergrund), sondern um mögliche praktische Anwendungsfelder, um viel Geld, um Sicherung von Macht. Entsprechend intensiv sind die Forschungsanstrengungen. Zwei Beiträge, der von Alain Malissard und der von Gert Ueding, sind der Rolle der Lüge in der Rhetorik gewidmet. Der Blick richtet sich zurück auf Texte und Zeiten, in denen Lüge und Wahrheit noch nicht absolut getrennt und eindeutig bewertet sind, auf die Geschichten von Iphigenie, Philoktetes, Odysseus, vom Trojanischen Pferd, vom Mythos, in dem Erfindung und Geschichte noch nicht geschieden sind wie in nachplatonischer Zeit. Von verschiedenen Ausgangspunkten kommen beide Autoren zu dem Resultat, dass Rhetorik nicht einfach eine Technik ist, Falsches für wahr zu verkaufen, wie es insbesondere den Anwälten bis heute vorgeworfen wird. Die juristische wie die öffentlich-politische Rede geht ja nicht von Wahrheiten aus, sondern von einer Pluralität von Meinungen, seien sie vom Sprecher geglaubt oder nicht. Im rhetorischen Wettstreit der Meinungen ist die (relative) Wahrheit erst zu finden. Insofern trägt auch die Lüge dialektisch zur Wahrheitsfindung bei, so wie das Böse des Mephisto gegen dessen Willen immer zum Guten ausschlägt. Jochen Meckes Beitrag Eine Kritik der Lüge jenseits von Gut und Böse vermisst in hohem Bogen sowohl die logischen als auch die historischen Dimensionen der Lüge von der Antike bis heute. Er stellt sich dabei, schon der Titel verrät es, in die Tradition von Nietzsches außermoralischer Betrachtung der Lüge. Seine Ausgangsfrage ist, warum die Lüge generell so heftig verdammt wird, obwohl sie sich überall findet. Er verfolgt den Lügenbegriff seit der Antike über Augustinus bis zu Sartre, Benjamin und Luhmann, um nur Einige zu nennen. Den Furor der Verdammung der Lüge gerade bei denen, die besonders viel und folgenreich lügen, etwa Vertreter totalitärer Systeme und Institutionen aller Art, erklärt er damit, dass die entschiedene Ablehnung der Lüge eine indirekte Glaubwürdigkeits- versicherung sei, eine Glaubwürdigkeitsversicherung, die notorische Lügner besonders nötig haben. VORWORT 21

Der Aufsatz von Rainer Nägele Zur Kritik der Ehrlichkeit macht den Übergang zwischen den Beiträgen eher allgemeiner Art und den kultur- und literaturwissenschaftlichen Fallstudien. Auch er wirft noch einmal einen Blick auf die Antike und das christliche Lügenverbot, auch er erinnert an klassische Kontroversen zum Thema wie die zwischen Kant und Constant, an klassische Texte darüber, wie z.B. Goethes Iphigenie. Er konzentriert sich aber auf die Zeit zwischen dem 18. Jahrhundert und der Gegenwart. Im 18. Jahrhundert bekommt, so kann er zeigen, in Deutschland die Debatte über die Lüge zur moralischen eine soziale und eine nationale Komponente. Das Bürgertum, stolz auf seine Ehrsamkeit, versucht den Adel mit Hinweis auf seine Lügenhaftigkeit zu delegitimieren, der „ehrliche“ Deutsche setzt sich besonders in der Zeit der Kriege gegen Napoleon gegen „den“ Franzosen ab, der die Wahrheit der Eleganz, der Höflichkeit und der Hinterlist opfere. Die Rede von der Lüge ist allemal eingebunden in Machtverhältnisse und Machtambitionen. Nägele zeigt an zahlreichen Beispielen, dass der Versuch, den Diskurs auf Tugend zu gründen, notwendig bei der Lüge endet. Ingrid Haag versucht am konkreten Beispiel, am Beispiel der Emilia Galotti und dem der Minna von Barnhelm in Lessings bürgerlichen Trauerspielen die Folgen des bürgerlichen Tugenddiskurses auszuloten. Sie zeigt, wie obsessive Wahrheitsliebe im Verein mit Machtlosigkeit Emilia zugrunde richtet. Die Reinheit, Ehrlichkeit, Tugendsamkeit, die ihr die Ehrziehung aufzwingt, verschließt ihr jede Möglichkeit, sich hinter einer Lüge einen Schutzraum für das Eigene zu errichten oder sich zumindest undurchsichtig zu machen für alle, die sie durchschauen und manipulieren wollen. Ganz anders Minna von Barnhelm. Sie eignet sich Klugheit, List, Verstellung, Täuschung und Lüge als Techniken an und macht sich damit zum Subjekt. Absolut gesetzte Ehrlichkeit kann in die Katastrophe führen, die List zum guten Ende. Gert Sautermeister widmet sich dem Charakter des Wallenstein. Im Gegensatz zur lange dominierenden Forschungsposition sieht er ihn nicht als mit einer einheitlichen, starken Identität versehenen Helden, sondern als Figur mit einem widerspruchvollen, heterogenen Selbst. Sautermeister interessiert sich nicht für die Lügen der Sterne, nicht für die Lügen Octavio Piccolominis, er interessiert sich für Wallensteins Selbstlügen. Tatsächlich sind es diese Selbsttäuschungen, die Wallenstein nicht bewusst sind, die ihn erst für die Lügen anderer empfindlich machen. Die Selbstlüge, die Lebenslüge als Antwort auf ein Lebenstrauma, die als Begriffe erst ein Jahrhundert später in aller Munde sind, beschreiben Phänomene, die nicht erst mit der Moderne entstehen. Yasmin Hoffmanns Analyse von Johann Strauß’ ist der erste von vier Texten, die in diesem Heft der Lüge in Österreich gewidmet sind. In Strauß’ Operette lügen alle, fast immer und ganz locker, die Ehepartner und die Liebespartner, die Herrschaft und die Diener, die Prinzen und die Doktoren, selbst die Gefängnisdirektoren machen keine Ausnahme. Die Wahrheit der Identität sieht sich mit dem Doppelgänger irritiert, die 22 KARL HEINZ GÖTZE

Grenzen zwischen Maskenball und Wirklichkeit sind kaum mehr wahrnehmbar. Am Ende, als alle Lügen an den Tag kommen, da amüsiert sich das Publikum mit dem Dr. Falck und dem Prinzen Orlofski und alles kann von Neuem beginnen. Dass man einmal eine Lüge für Sünde halten konnte, erscheint ganz unwirklich im Schwung des Dreivierteltakts. Nur ihre enge Verwandte, die Freud bald „Verdrängung“ nennen sollte, die kommt bisweilen kurz zum Vorschein, wenn die Masken verrutschen und sich das baldige Ende dieser Spaßgesellschaft andeutet. Susanne Böhmisch blendet die Lügensemantik der Wiener Moderne und die zeitgleich weit verbreiteten, aggressiv-misogynen Theorien ineinander. Nicht nur im Falle Schnitzlers ist dabei eine Spaltung zu konstatieren. Auf der einen Seite, der männlichen, wird im Namen Nietzsches das Lügenverbot relativiert, während die – wie man glaubte eingeborene – Lügenhaftigkeit des Weibes zunehmend Sorge bereitete, als antizivilisatorisch gegeißelt und praktisch vor allem gefürchtet wurde. Die Geschlechterdiskurse sind, was die Lüge anlangt, von einer Art repressiver Entmoralisierung bestimmt. Man will, dass es zumindest einige Momente, einige Orte gäbe, wo die Lüge keinen Platz finde. Die Liebe gehört dazu, aber wir wissen, dass sie auch dort auf eigenen Wegen Eingang findet. Und natürlich der Tod. Was hätte die Lüge angesichts des Todes noch für einen Sinn? Ist da nicht alle Differenz zwischen Wahrheit und Lüge erloschen? In den beiden Geschichten Schnitzlers, die Gerhard Neumann analysiert, bleiben auch in diesen beiden lebensgeschichtlichen Extremsituationen das Wahre und das Falsche, das Echte und das Vorgespielte ununterscheidbar durcheinander gemengt. Zumindest Literaturwissenschaftler werden an Neumanns Beitrag schätzen, dass er methodisch nicht vom Allgemeinen ausgeht, um das Besondere bisweilen in den Zeugenstand zu rufen, sondern umgekehrt von zwei Texten ausgeht und am Ende versucht, Allgemeines zur Lüge nicht nur in Schnitzlers Texten dingfest zu machen. Auch der Beitrag Hélène Barrières gilt der österreichischen Literatur, aber der nach dem zweiten Weltkrieg. Die Grazer Literatengruppe Forum Stadtpark wendet den alten Vorwurf gegen die Dichter, sie seien verlogen, gegen die staatstragenden Lügen Nachkriegsösterreichs zurück. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht Barbara Frischmuths Amoralische Kinderklapper, ein Kinderbuch für Erwachsene. Erzählt wird aus der Perspektive der Kinder, deren Sprache sich um die scharfe Scheidung zwischen Wahr und Falsch noch nicht schert. Gerade dadurch wird das Unwahre im gemeinhin als wahr Geltenden offen gelegt. Thematisiert wird also die Funktion des Phantastischen für die Kritik der Lüge. Mit der rückhaltlosen Verteidigung des Lügenverbots ist es spätestens im 20. Jahrhundert bei denen, die zählen auf dem Feld der Literatur, gründlich vorbei. Selbst Thomas Mann mit seinem feinen Sinn für moralische Nachlässigkeiten, hat mit größtem Vergnügen die List als Jokus dargestellt, mit der sich der biblische Jakob das Erstgeburtsrecht erschlichen hat (Charlotte Januel). Hochstapler, deren Lebenselixier die Lüge ist, so zeigt uns VORWORT 23

Dorothee Kimmich, sind freie und glückliche Menschen. Im Augenblick, der mehr oder minder lang dauert. Vielmehr: sie werden in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bis hin zu Felix Krull häufig so dargestellt. Die Entscheidung, an der Schwelle des Augenblicks zu leben, zu Pfeifen auf Identität und Fortschritt, das ist umso attraktiver, als sich das stählerne Gehäuse der Moderne immer enger um die Menschen legt. Freilich scheint all’ das einen Preis zu haben, denn Krull schreibt aus dem Gefängnis. Wir lieben ihn dennoch. Aber keineswegs alle der Hochstapler, mit denen uns Dorothee Kimmich bekannt macht. Brecht wollte wahrlich mit Moral nicht erwischt werden, jedenfalls nicht in freundschaftlichen Verhältnissen. Seine ersten Stücke, Baal insbesondere, versuchen zu ergründen, wie denn die Welt beschaffen wäre ohne Moral, ergo ohne Zivilisation. Baal lügt also (fast) nicht. Die Lehrstücke vom Ende der zwanziger Jahre propagieren die Lüge ohne alle moralische Rücksicht, wenn die Lüge auf die langfristige Abschaffung der Ausbeutung zielt, die die Hauptursache der Lüge ist. Die im Exil entstandenen Texte kreisen immer wieder um die Frage der Lüge zum Überleben in schlimmen Zeiten. Die Analyse von Karl Heinz Götze mündet schließlich in eine Lektüre der verschiedenen Fassungen des Galilei, reich an Formen der Lüge, reich aber auch wieder an offenen Fragen und inneren Widersprüchen in Bezug auf ihre Legitimität. Jörg Döring und David Oels untersuchen den Sonderfall prekärer, also „erlogener“ Autorschaft. In den drei untersuchten Fällen haben die unter fiktiver Autorschaft erschienenen Texte zunächst eine überwiegend positive Rezeption erfahren, die nach der Entdeckung der „Autoren-Lüge“ umschlägt in generelle Verurteilung. Die Fiktivität, die einem Text zugebilligt wird, gilt in Bezug auf die Autorschaft als Lug’ und Trug und schlägt nach Entdeckung auf das fiktionale Werk zurück. Den Abschluss dieses Bandes macht der Text von Thomas Keller, der die deutsch-französischen Aspekte, die untergründig in einigen Beiträgen vorhanden sind, explizit macht. Keller analysiert die Lüge in deutsch- französischen Kontexten. Er richtet sich gegen das tief verwurzelte Stereotyp vom ehrlichen, aber unhöflichen Deutschen und dem höfisch-verlogenen Franzosen, indem er derlei essentialistischen Ansätzen methodisch die Untersuchung transkultureller Debatten gegenüberstellt. In dieser Perspektive nimmt er noch einmal die Kant-Constant-Debatte auf, um dann einen Blick auf die lebensphilosophische Umartikulation des Lügenproblems um 1900 zu werfen, u.a. am Beispiel von Rolland. Ausführlich wird der wenig bekannte Dialog zwischen Greve und Gide analysiert, der um die Lüge als acte gratuit, als facettenreiches Spiel kreist. Überblickt man das Ganze der Beiträge dieses Bandes, so kann man demjenigen Leser, der sich für den Facettenreichtum der Lügensemantik interessiert, reichen Stoff versprechen. Enttäuscht könnte derjenige sein, der Eindeutigkeit sucht eines so arg zweideutigen Themas. Einigkeit besteht wohl nur darin, dass mit der Zivilisation und der Sprache auch die Möglichkeit der 24 KARL HEINZ GÖTZE

Lüge auf ewig untrennbar verbunden ist. Und Einigkeit herrscht wohl auch darüber, dass die moralische Pauschalverurteilung der Lüge nicht mehr gegründet und jenseits von Metaphysik auch nicht begründbar ist. Sie taugt zum Übelsten, und sie taugt zum Besten. Kommt immer darauf an...

Karl Heinz Götze

Literaturhinweise

Maria BETTETINI, Eine kleine Geschichte der Lüge. Von Odysseus bis Pinocchio, Berlin, Wagenbach Verlag, 2003. Jacques DERRIDA, Histoire du mensonge. Prolégomènes, Paris, Éditions Galilée, 2012. Simone DIETZ, Die Kunst des Lügens. Eine sprachliche Fähigkeit und ihr moralischer Wert, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 2003. Mathias MAYER (Hrsg.), Kulturen der Lüge, Köln/ Weimar/ Wien, Böhlau Verlag, 2003. Peter VON MATT, Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist, München/ Wien, Carl Hanser Verlag, 2006. Jochen MECKE (Hrsg.), Cultures of Lying. Theories and Practice of Lying in Society, Literature, and Film, Glienicke/ Berlin und Madison/Wisconsin, Galda & Wilch Verlag, 2007. Jochen MECKE, „Lüge“, in Gert UEDING (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1992ff., Bd. 10 (2011), Sp. 589-605. Jörn MÜLLER/ Hanns-Gregor NISSING (Hrsg.), Die Lüge. Ein Alltagsphänomen aus wissenschaftlicher Sicht, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2007. Kurt RÖTTGERS/ Monika SCHMITZ-EMANS (Hrsg.), „Dichter lügen“, Essen, Verlag Die blaue Eule, 2001. Harald WEINRICH, Linguistik der Lüge, Heidelberg, Lambert Schneider, 1966.

Mille et une disciplines du mensonge

Was man Sprach- und Kommunikationswissenschaftler über die „Lüge“ fragen darf – und was nicht

Clemens KNOBLOCH Universität Siegen

[0] Motto

Vebi: „Soll ich nicht einmal sagen, was ich von der Sache halte?“

Bischof: „Nein, nein, nein, lieber Freund. Uns ist ganz gleich, was Sie davon halten. Wir fragen, was Sie sehen und hören, nicht, was Sie davon halten. Meinen Sie, dass wir hier solche Wickelkinder sind, dass man für uns denken und schlussfolgern, uns übers Töpfchen halten muss?“

Vebi: „Aber wenn sie anfangen, mir die Hucke voll zu lügen?“

Bischof: „Ich bezahle das Band. Aber aufpassen, dass sie nicht durch Sie lügen. Dass Sie nicht selbst lügen!“

Vebi: „Irgendwie muss ich doch überprüfen, was sie sagen.“

Bischof: „Nichts überprüfen. Wenn die Leute lügen, nun denn. Wenn sie irgendeinem Irrglauben anhängen, dann umso besser! Vergessen Sie nicht, dass es nur wenige gibt, die ein wenig die Wahrheit sagen; keinen, der viel, geschweige denn einen, der die reine Wahrheit sagt. Gesprochene Worte sind eine Tatsache für sich, seien sie nun wahr oder gelogen. Wenn Menschen sprechen, dann enthüllen sie sich selbst, ob sie nun lügen oder die Wahrheit sagen.“ (Halldor Laxness, Am Gletscher)

28 CLEMENS KNOBLOCH

[1] Definitionsfragen

Ich gebe vorab eine Arbeitsdefinition der Lüge, die an Falkenberg (1982) anknüpft: Unter Lüge im engeren Sinne verstehe ich eine sprachliche Äußerung, die [a] personal sein muss (es lügt immer jemand, nicht „die Sprache“ etc.), [b] sozial sein muss (d.h. persönliche „Lebenslügen“ etc. sind keine Lügen im Sinne der Definition), [c] temporal (d.h. als Akt datierbar), [d] intentional (d.h. absichtlich) und [e] verbal sein muss (d.h. Verstellung und andere nichtverbale Täuschungsakte sind keine Lügen). Darüber hinaus spielt jedoch in alle Debatten eine weite Definition der Lüge hinein, nach der auch Selbsttäuschung, Verstellung, Ausrede etc. einerseits, sprachlich-kommunikativ mehr oder weniger verbindlich etablierte Fiktionen andererseits, schließlich sogar Mimikry, Finten und alle potentiell den Rezipienten täuschenden Signaleffekte der Lüge zugerechnet werden.

[2] Vorab

Der Satz „Herr Ackermann ist gerade in einer Besprechung“, geäußert von seiner Sekretärin am Telefon, bleibt in jeder Hinsicht der gleiche Satz, ob die behauptete Proposition der Wahrheit entspricht oder wissentlich gelogen ist. Sofern die synchron strukturalistische Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts von den Techniken, Mitteln und Traditionen des Sprechens handelt, hat sie zur „Lüge“ nichts zu sagen. Sie handelt von Wörtern, Phrasen, Sätzen, nicht von Wahrheit oder Lüge. Allerdings gibt es in der modernen Linguistik einen Zweig der Semantik (Bedeutungslehre), der die Ansicht vertritt, dass „Bedeutung“ und „Wahrheit“ beinahe dieselbe Sache seien. Die Bedeutung eines Satzes kennen, heißt wissen, was der Fall ist, wenn der Satz „wahr“ ist. So lautet die Grundannahme der „wahrheitsfunktionalen“ Semantik, die eigentlich mit der Nase auf die Lüge stoßen müsste. Allerdings hat sie schon vorher den rettenden Schwenk vollzogen, den es braucht, damit nicht die ganze (literarische und sonstige) Welt der Fiktionen mit einem Male bedeutungslos wird: aus „wahr“ in der Wirklichkeit hat sie das modifizierte Prädikat „wahr in einer möglichen Welt“ gemacht. Und Lügen zeichnen sich definitiv dadurch aus, dass sie in einer möglichen Welt wahr sind! Um zu funktionieren, müssen sie sogar in einer wirklichen Welt für wahr gehalten werden. Die wahrheitsfunktionale Semantik hat meines Wissens allerdings keine Beiträge zur Analyse und Beschreibung der Lüge geleistet. Ihre Schwäche liegt in der logisch- positivistischen Axiomatik der „Protokollsätze“, über deren Wahrheit oder Falschheit (angeblich) Einigkeit erzielt werden kann. Die Lüge freilich macht WAS MAN ÜBER DIE „LÜGE“ FRAGEN DARF 29 just von den (zahllosen) Eigenschaften natürlicher Sprachen Gebrauch, die diese für die Herstellung einfacher und objektiver Wahrheiten so problematisch machen: Vagheit, unscharfe (fuzzy) Konzepte, grenzunscharfe Denotationen, undurchschaute konnotative und evaluative Effekte, Referenzunschärfen. Das Bild wandelt sich radikal, wenn wir auf die sprachkritische Philosophie vor dem Strukturalismus und die pragmatisch-kommunikative Sprachtheorie nach dem Strukturalismus schauen. Da geht es einmal um den Verdacht, dass natürliche Sprachen „systematisch irreführende Zeichensysteme“ sind (Fritz Mauthner) – und damit wären auch unsere Wahrheiten bloße Lügen. Hier ist es die Sprache selbst, die nicht anders kann als lügen. Die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge würde damit tendenziell hinfällig. Auch wer aufrichtig glaubt, die Wahrheit zu sagen, wäre dann Opfer sprachinduzierter Irrtümer und Illusionen. Der Sprecher wäre so weitgehend aus dem Schneider, weil er wenig hinzutut zur lügenhaften Sprache. Es ist nicht zuletzt die Allgegenwart der öffentlichen Lüge in Politik und Gesellschaft, in Journalismus und Propaganda, die sprachskeptische Philosophen wie Nietzsche, Mauthner, Vaihinger, Wittgenstein (und auf einer anderen Ebene Karl Kraus) umtreibt, es ist auch der um 1900 notorische Verdacht, das Bewusstsein sei gar nicht Herr im eigenen Haus, weil es entweder von Verdrängung und Verleugnung (Freud) beschränkt werde oder sich einbilde, etwas anderes zu sein als eine (ideologische) Form des gesellschaftlichen Seins (Marx).1 Die sprachskeptischen Lehren der Jahrzehnte vor und nach 1900 haben eine Nachfolge gefunden in der modernen Sprachwissenschaft. Es handelt sich um die „kritische Diskursanalyse“, die (meist in der Tradition Foucaults) von Autoren wie Jürgen Link, Ruth Wodak, Siegfried Jäger, Norman Fairclough und anderen vertreten wird. Natürlich geht auch die kritische Diskursanalyse davon aus, dass gelogen wird, aber sie versteht die Engführungen von autoritativem Sprachgebrauch, anerkanntem Wissen und institutioneller Macht, in welchen gesellschaftliche Ordnung erzeugt und reproduziert wird, nicht als Ergebnis von Lügen. Das wäre nämlich ein Akt der moralischen Zurechnung gesellschaftlicher Realität auf Individuen und insofern eine Entgleisung. Den dritten Motivkreis meines Vortrags bildet die Theorie und Empirie des Lügens als einer bestimmbaren Sprechhandlung. In die (durchaus fragmentarischen) linguistischen Theorien der „Lüge“ soll mein Beitrag einführen. Am Ende steht ein Ausblick auf die neoevolutionistischen Signaltheorien, die dem Problem der Lüge eine theoretisch interessante neue Rahmung verpassen. Meine These lautet: „Lüge“ ist ein Wort, dessen moralisch-performativer Gebrauch den Adressaten unter

1 Hierzu ausführlicher Gustafsson (1980), der allerdings glaubt, den Zweifeln der Sprachskeptiker mit den relativ schlichten Mitteln des logischen Positivismus zu Leibe rücken zu können. 30 CLEMENS KNOBLOCH

Rechtfertigungszwang setzt. Eine halbwegs schlüssige intensionale oder extensionale Definition für „Lüge“ gibt es dagegen meines Wissens nicht.

[3] Lügen als Sprachhandlung

„Herr Ackermann ist gerade in einer Besprechung“ – Wir betrachten den nämlichen Satz jetzt nicht als wahrheitsfähige Proposition, sondern als einen lügenhaften Sprechakt. Die Pointe der (von Austin und Searle begründeten) Sprechakttheorie besteht darin, dass wir uns als Sprachbenutzer nicht Propositionen um die Ohren hauen, sondern dass jeder unter vorgegebenen Bedingungen geäußerte Satz einen Sprechakt mit einer bestimmbaren Illokution produziert. Was ist darunter zu verstehen? Wenn Frau B zu Herrn A aus der Küche, wo sie gerade das Abendessen kocht, ruft: „Die Kleine hat in die Hose gemacht!“, dann tun wir gut daran, nicht den Wahrheitsgehalt des Satzes zu überprüfen, sondern den konventionellen Handlungssinn der solchermaßen getätigten Äußerung als „indirekte Aufforderung“ zu identifizieren, die Kleine mit einer frischen Windel zu versehen. „Ich mache es gleich“ wäre also durchaus eine passende Antwort, in der die gelungene Aufforderung ratifiziert wäre. Die Frage ist nun, ob es eine Illokution „lügen“ gibt, so wie es die Illokutionen „auffordern“, „versprechen“, „drohen“, „bitten“ etc. gibt. Die Antwort ist, erwartbar, paradox, denn der Sprechakt „lügen“ gelingt nur, wenn der Sprecher die Wahrheit seiner Behauptung erfolgreich vortäuscht. Falkenberg (1982), die Standardreferenz zur Sprechakttheorie der Lüge, definiert die Illokution „lügen“ als eine Entzweiung zwischen verbalem Akt und Bewusstsein des Sprechers. Aber in einer sozialen Theorie des konventionellen Handlungssinnes sprachlicher Äußerungen ist das Bewusstsein des Sprechers keine definierbare Größe. Wenn ich sage „Morgen mähe ich definitiv Deinen Rasen“, dann habe ich konventionell ein Versprechen abgegeben, selbst wenn ich dabei schon weiß, dass ich morgen längst über alle Berge bin. Das Bewusstsein des Sprechers hat in einer reinen Sprechakttheorie keinen Platz. Sprechakttheoretisch mag die Lüge eine spezielle Form des Behauptens sein (wobei „behaupten“ dann die Illokution wäre), aber ihre Spezifik ist nicht zu fassen mit den Mitteln der Sprechakttheorie. Wiewohl wir also aus kumulierter kommunikativer Erfahrung wissen, dass der von Vorzimmerdamen geäußerte Satz „Herr Ackermann ist gerade in einer Besprechung“ vermutlich meistens ein propositional lügenhafter Akt des Abwimmelns lästiger Anrufer ist, dürfte kaum ein solcher kontern mit der Entgegnung: „Das ist eine Lüge!“ Lernen lässt sich freilich aus dieser Standardkonstellation etwas anderes: dass nämlich das Sprachspiel „lügen“ (Wittgenstein) selbst gelernt sein will. Wer es auf diesem Spielfeld zu etwas bringen möchte, der tut gut daran zu beachten, dass eine gute Lüge einer konstellativ erwartbaren Wahrheit sehr WAS MAN ÜBER DIE „LÜGE“ FRAGEN DARF 31

ähneln muss, um zu funktionieren, dass eine lügenhafte Behauptung von Adressaten möglichst nicht öffentlich bestritten werden können sollte und/ oder ihr Wahrheitsgehalt vom Adressaten nicht vor Ort überprüfbar sein sollte, dass es kommunikative Konstellationen die Menge gibt, in denen alle Teilnehmer erwarten, dass gelogen wird (von Geschäftsverhandlungen über Einstellungs- und Vorstellungsgespräche bis hin zu politischen Runden). Verdienste hat sich die Sprechakttheorie der Lüge erworben um die allgegenwärtigen Fragen der begrifflichen Abgrenzung von Lüge gegenüber anderen Formen des Täuschens. Was unterscheidet „lügen“ von „sich verstellen“, von „Ausreden improvisieren“, von „Versprechen nicht halten“, von „falschen Präsuppositionen“ etc. Falkenberg (1982), so ließe sich resümieren, liefert nur eine gehobene Version der Alltagsdefinition von „Lüge“, die aber nur dann zu seiner Axiomatik passt, wenn man die tatsächlichen Überzeugungen des Sprechers in den Kontext von Äußerungen aufnimmt. Die Formel zur Bestimmung von Illokutionen lautet: X gilt als Y im Kontext C, wobei X = der geäußerte Satz, Y = die Illokution und C = der Äußerungskontext sein soll. Die Lüge wäre dann banalerweise eine Behauptung, die den Überzeugungen des Sprechers nicht entspricht. Heringer (1990: 2) resümiert diese Lage mit dem Satz: Mit einem Bein stehe die Lüge in der Öffentlichkeit (= was X sagt), mit dem anderen Bein stehe sie im inneren Glaubens- und Bezugssystem des Sprechers (= was X glaubt). Allerdings hat die Sprechakttheorie keine axiomatischen Mittel für die Analyse oder Einbeziehung dessen, was X glaubt. Meibauer (2005: 1374) schreibt in diesem Sinne: „It is a well known fact that lies display no special devices that indicate illocutionary force. If they did, we would face the case of illocutionary suicide.” In der Weiterentwicklung einer pragmatischen Beschäftigung mit der Lüge haben sich Autoren die Frage gestellt, ob man z.B. mit (Griceschen) Implikaturen „lügen“ kann. Um ein beliebtes (auch bei Meibauer 2005 diskutiertes) Beispiel zu zitieren: Wenn der Matrose X (aus Rache für den Logbucheintrag seines Kapitäns, wonach er am 13. Oktober schon wieder betrunken war) seinerseits ins Logbuch den wahren Satz schreibt: „Heute, am 14. Oktober, ist der Kapitän nicht betrunken“, dann wird jeder schließen, dass der Kapitän sonst immer oder oft betrunken sei. Ist der Satz also eine implikative Lüge, obwohl seine Proposition wahr ist? Nun, schon Augustinus wusste, dass man auch die Wahrheit sagen kann, um jemanden zu täuschen. Weit spannender und potentiell fruchtbarer werden die Dinge, wenn man (in der Tradition von Konversationsanalyse und Ethnomethodologie) die Lüge als eine praktische Kategorie von Gesprächsteilnehmern behandelt und die Frage stellt: Wie gehen Sprecher in der Praxis mit der Unterstellung, Behauptung von „Lüge“ um? Hier gibt es m.W. nur wenige Untersuchungen (darunter eine berühmte von Harvey Sacks 1975, in welcher der konversationelle Umgang mit dem truism „everyone has to lie“ untersucht wird, der als complaint oder excuse eingesetzt werden kann). Tendenziell 32 CLEMENS KNOBLOCH dürfte die Schwelle für den Vorwurf „Sie lügen!“ sehr hoch sein, weil dieser Vorwurf in hohem Maße gesichtsbedrohend für beide Teilnehmer ist. Erkennbar ist dieser Umstand an der Tatsache, dass die Behauptung „du lügst“ beide Teilnehmer unter erheblichen account-Zwang setzt, nicht nur den Adressaten, sondern auch den Sender, der eine so starke Behauptung nur dann wagen wird, wenn er zugleich bereit ist, die Beziehung zum Empfänger aufs Spiel zu setzen – der dann seinerseits nicht zögern wird, die Unverschämtheit dieser Behauptung herauszustreichen etc. In Zeiten des Duells war die Forderung durch den solchermaßen Beleidigten eine sichere Folge des Vorwurfs, gleich welchen Wahrheitsgehalt er gehabt haben möchte. Die konversationellen „Kosten“ des Vorwurfs „Sie lügen“ sind enorm hoch, in der Regel führt er zu Gesprächsabbruch. Man kann daran erkennen, dass die konversationelle Thematisierung von „Lüge“ unter Gleichen hoch polemogen ist, unter Ungleichen (etwa Eltern zu ihren Kindern) setzt sie Adressaten unter hohen Legitimierungszwang. In der politischen und öffentlichen Kommunikation gelten wieder andere Regeln, z.B. die der Justiziabilität. Alle mikrosoziologischen und konversationsanalytischen Untersuchungen über Höflichkeit, face, Selbstdarstellung etc. zeigen zudem, dass eine praktische Bindung des Gesprächsverhaltens an den Wahrheitsglauben der Sprecher2 gar nicht durchzuhalten wäre (und somit als pathologisch wahrgenommen werden würde). Wer konversationell eine Schmeichelei zurückweist, der wird nicht sagen „du lügst“, sondern bestenfalls „du übertreibst“. Und wer in einer Diskussion eine Behauptung als unwahr zurückweist, der wird fragen „woher weißt Du das?“, „Da hab ich meine Zweifel!“ oder „Welche Anhaltspunkt hast Du dafür, dass das stimmt?“ – aber nicht „Du lügst“. Als Teilnehmerkategorie ist die „Lüge“ ein hochschwelliger moralischer Vorwurf mit gesichtsbedrohenden Konsequenzen nach beiden Seiten. Seine Folgen sind konversationell kaum zu bearbeiten. In der Regel führt er zum Abbrechen der Kommunikation. Der harte Kern der Lüge ist der gesichtsbedrohende moralische Vorwurf. Kognitiv und konzeptuell ist sie kaum definitorisch zu fassen. Selbst wenn nur der Schatten eines Lügenvorwurfs in der Konversation auftaucht, ist die Vielzahl der verbalen Rückzugsmöglichkeiten auffallend: „Ich hab mich geirrt“, „wusste ich nicht“, „hat mir jemand erzählt“, „ich wollte dir nicht weh tun“ etc.

[4] Historiographischer Exkurs

Für gewöhnlich beginnen linguistische Abhandlungen über die Lüge mit einem Hinweis auf Weinrichs (1966) Linguistik der Lüge, der man gerne den Status eines Klassikers verleiht. Wer allerdings heute den Text nachliest, der wird sich die Augen reiben, weil er ein Dokument vor Augen hat, das lediglich illustriert, wie zeitgeistabhängig die Frage nach der Lüge verstanden

2 Wie sie in der Argumentation von Falkenberg (1982) unterstellt wird. WAS MAN ÜBER DIE „LÜGE“ FRAGEN DARF 33 wird. Um Lügen im heute dominanten Sinne geht es bei Weinrich (1966) eigentlich nur am Rande. Die zentrale Frage ist die nach dem Vertrauen in die Wahrheitsfähigkeit der Sprache, die Weinrich (1966) – als Textlinguist und sprachphilosophischer Ernüchterer der ersten Stunde – gedämpft optimistisch beantwortet. In den Kontext seines Textes gehört das Wörterbuch des Unmenschen und der inhumane Akkusativ, kurz: die seinerzeit üblichen Mystifizierungen der Sprache selbst als Quelle alles Übels und aller Täuschungen. Dieses Konglomerat könnte man ansprechen als eine etwas schmuddelige Endmoräne, die nach dem 2. Weltkrieg übrig geblieben ist von der philosophischen Sprachskepsis eines Mauthner, Wittgenstein, Karl Kraus oder Vaihinger. Aus den enttäuschten Sprachidealisten der Jahrhundertwende3 sind mittlerweile, nach Nazismus und Weltkrieg, diskursive Kleinhändler geworden, die das Bedürfnis des Feuilletons bedienen, als Hauptschuldigen von Krieg und Massenmord die einigermaßen geduldige und wehrlose Sprache selbst auszumachen – damit von Sprechern und Tätern gar nicht erst die Rede sein muss. Es sind diese Endmoränen, die Weinrich (1966), hierin durchaus verdienstvoll, planiert, und man kann Hundsnurscher (1994) beipflichten, wenn er Harald Weinrichs Linguistik der Lüge vergleicht mit dem Aufpflanzen einer Entdeckerfahne auf dem unerforschten Territorium der Lüge. Kolonisiert worden ist das von Weinrich entdeckte Territorium erst später und nicht durch ihn. Was Weinrich einleitet, ist vielmehr die Hinwendung zu einem pragmatisch-textlinguistischen Verständnis der Lüge, bei dem der Sprecher/ Akteur ebenso wieder ins Spiel kommt wie systemische Eigenschaften natürlicher Sprachen, die freiwillige und unfreiwillige Lügen begünstigen: semantische Vagheit sprachlicher Konzepte, konnotative Aufladungen von Ausdrücken mit ihrer Gebrauchsgeschichte – aber auch: die Wahrheitssuggestion des Muttersprachlich-Gemeinschaftsstiftenden (gegen Leo Weisgerber!) und die vermeintlich höhere Wahrheit des algebraischen Kalküls (gegen Noam Chomsky!). Als wissenschaftshistorisch aktiver Linguist kann ich mir auch den Hinweis nicht verkneifen, dass es vor der NS-Zeit in Deutschland ebenfalls bereits eine empirisch-sozialwissenschaftliche Tradition der Lügenforschung gab, für die als zentraler Text der große (und immer noch lesenswerte) Sammelband von Lipmann & Plaut (1927) stehen mag, in dem Psychologen (Kainz), Soziologen und erstaunlicherweise auch bereits Tierpsychologen (wie Friedrich Alverdes) Forschungsberichte zum Thema Lüge zusammentragen. Auch an diese Tradition knüpft Falkenberg (1982) mit

3 Eibl (2009: 125) bezeichnet die sprachphilosophischen Fiktionalisten um Mach, Mauthner, Vaihinger als „enttäuschte Idealisten“, die in den Sprachen vielleicht noch ein praktisches Werkzeug fürs „irdische Wirtshaus“ (Mauthner) sehen, aber ein Täuschungs- und Marterinstrument für ernsthafte Wahrheits- und Erkenntnissucher. 34 CLEMENS KNOBLOCH seiner Lügendefinition an, wie wir sie zu Beginn des Beitrags vorgestellt haben. Kainz (1927) gibt durchaus bereits differenzierte Beispiele für das „Zwischenreich“, in dem man bildlich davon sprechen kann, dass die Sprache für uns lügt, indem ihre bereit liegenden Formeln, Deutungsmuster und Vorgaben uns in sozial akzeptierte Bahnen des Sprechens kanalisieren. Er weiß durchaus schon manches über das, was man später die Macht der Diskurse nennen wird, über die Kooperationszwänge des Gesichtwahrens („lieber unwahr als unhöflich“), über „Bestechungen“, die sprachlich als „Spenden“ oder „Subventionen“ verkauft werden. Wie zeitbezogen die linguistische Thematisierung des Lügens in der Regel ist, erhellt auch aus Beobachtungen wie der, dass der wirklich nüchterne Dwight Bolinger, damals einer der bekanntesten Sprachwissenschaftler der USA, in seiner Rede auf dem US-Linguistentreffen 1973 das Thema „Truth is a linguistic question“ aufwirft (Bolinger 1973). Es ist erkennbar die Erfahrung der immer durchsichtiger lügenhaften Regierungsäußerungen zu Vietnamkrieg, Studentenbewegung, Watergate, die Bolinger zu einem sehr emotionalen Appell an seine KollegInnen bewegt, sich mit den linguistischen Eigenschaften „wahren“ Sprechens – und eben auch: mit der Lüge - zu befassen. Die kanonische Geschichte der sprachtheoretischen Bemühungen um das Problem Lüge sind ansonsten von den allgemein philosophischen Bemühungen zu diesem Thema kaum abzugrenzen. Ihre Stationen umfassen in der Regel Plato, aus dessen „kleinem“ Hippias in der Regel geschlossen wird, dass die allgemeine moralische Einstellung zur taktisch gesagten Unwahrheit keineswegs ablehnend war, dass Virtuosität auf diesem Gebiet (siehe Odysseus) durchaus bewundert wurde. Zu den kanonischen Figuren gehört auch, dass erst Aristoteles die subjektive Absicht von der objektiven Handlung (und damit den Irrtum von der Lüge) sauber scheidet.4 Und schließlich vergisst kaum jemand den Hinweis, dass die unbedingte moralische Verurteilung der Lüge (nebst ihrer kasuistisch wie jesuitisch dehnbaren Abgrenzung gegen andere Arten des „anders Redens“) erstmals beim Kirchenvater Augustinus zu besichtigen ist, während die pragmatisch- machttechnische Relegitimierung der politischen Lüge bei den weltlichen Denkern der frühen Neuzeit (allen voran Machiavelli) auf die Bühne der Wissensgeschichte tritt.

[5] Empirische Sozialpsychologie des Lügens

Wer Vollständigkeit auf diesem Gebiet anstrebt, der sollte wenigstens ein paar Sätze zu einem weiteren Zweig der Lügenforschung anfügen. Es handelt

4 Schließlich heißt altgriechisch mendesthai gleichermaßen „sich irren“ und „lügen“; vgl. Sommer (1993: 14). WAS MAN ÜBER DIE „LÜGE“ FRAGEN DARF 35 sich um die empirisch-experimentelle Sozialpsychologie des Lügens, die besonders in den USA mit teils recht einfallsreichen experimentellen settings betrieben wird. Für Einzelheiten fehlt hier der Raum, ich möchte jedoch wenigstens ein paar Beispiele geben. Es gibt eine Linie von Untersuchungen, die herausbekommen möchte, was Versuchspersonen dazu bringt, Behauptungen aufzustellen, die ihren Sinneserfahrungen widersprechen. Ein Befund ist, banal und erwartbar, Gruppendruck. Wer eine wirkliche Vp zusammen mit drei eingeweihten Mitspielern vor die Aufgabe stellt, anzugeben, welche von drei Linien länger ist die beiden anderen, der wird die Erfahrung machen, dass die echte Vp auch die kürzeste Linie nennen wird, wenn zuvor die drei eingeweihten das behauptet haben. Feldabhängigkeit und Außenlenkung heißen hier die Stichworte. Es gehört Mut dazu, nicht „mitzulügen“, wenn eine Mehrheit der anderen etwas behauptet, was nicht mit unserem Wissen oder unserer Sinneserfahrung in Einklang ist. Da lässt Mauthners Sprachphilosophie grüßen. Der nämlich sagt, natürliche Sprachen könnten zwar Fiktionen verbindlich vergesellschaften, aber keine Wahrheiten formulieren. Eine zweite Linie, an der vor allem ihr Scheitern interessant ist, beschäftigt sich mit der Frage, ob Lügen an regelhaften Begleiterscheinungen erkannt und als solche identifiziert werden können. Hier gibt es eine (in jüngerer Zeit auf Paul Ekman zurückgehende, in der Sache aber auch in der Psychologie der 20er Jahre präsente) Forschungstradition, die sich auf alle möglichen nonverbalen Begleiterscheinungen des Lügens konzentriert – mit der Generalhypothese, dass die Sprache uns das Lügen zwar leicht mache, während der Rest des körperlichen Ausdrucksgeschehens (Gestik, Mimik, Blickverhalten etc.) zur Ehrlichkeit tendiere und uns darum leicht verrate, wenn wir leichtsinnigerweise aufs Lügen setzen. Schon bei Lipmann (1927) ist die Rede von Symptomen wie Erröten, Stammeln, unsicherer Blick, Atmung, die den Lügner verraten. Es ist aber auch schon die Rede davon, dass die Fähigkeit zur Dämpfung und Kontrolle der Emotionen, die uns verraten, im Laufe des Alterns zunimmt. Beim Kleinkind ist sie am geringsten, beim erfahrenen Schauspieler am größten. Um es kurz zu machen: Das Ziel dieser Forschungen ist letztlich das des Lügendetektors, und das Dilemma, in dem diese Forschungen samt und sonders stecken bleiben, ist stets das gleiche: Die vermeintlich sicheren Indikatoren des Lügens treten [a] nicht immer auf und [b] auch dann auf, wenn die sprechende Person emotional und/ oder kognitiv schwierige, peinliche, gesichtsbedrohende Wahrheiten ausspricht. Fazit: Die Lügenindikatoren sind ganz allgemeine Stress-, Peinlichkeits- und Angstsignale, und kein Mensch kann ihre allgemeine Ausprägung von einer spezifischen Ausprägung beim Lügen unterscheiden. Auf dem Weg freilich findet man auch eine Reihe interessanter Einzelheiten. Es lässt sich zeigen, dass Vpn sich eher kleinere Lügen erlauben, wenn sie erfolgreich das Gesamtimage eines ehrlichen Menschen pflegen und aufrechterhalten können. Lügen ist offenbar in der Regel kognitiv 36 CLEMENS KNOBLOCH und emotional aufwendiger als die Wahrheit zu sagen (hier werden jedem gleich Einschränkungen auffallen, z.B. die der Höflichkeit und der Konvention, wo umgekehrt die Lüge das Leben ungemein erleichtert, während die Wahrheit es nachgerade unerträglich erschweren würde!). Dynamisch lässt sich zeigen, dass die online-Rückkopplungssignale des Rezipienten beim Lügen eine steuernde Rolle spielen. Die Sprachaufmerksamkeit steigt an, die Wortwahl wird bewusster etc. Es wird deutlich, dass Lügen (im definitorisch engen Sinne) die Sprachbewusstheit und die Aufmerksamkeit für die Auswahl sprachlicher Mittel steigert (und ergo mehr Intelligenz voraussetzt als das einfache „Mitreden“). Und noch eine weitere höchst interessante empirische Forschungstradition der Sozial- und Entwicklungspsychologie mit höchster Relevanz für das Thema Lüge will ich hier wenigstens kurz erwähnen. Um überhaupt lügen zu können – so lautet hier die Grundthese – muss ein Individuum eine so genannte theory of mind (kurz: ToM) haben. Was ist darunter zu verstehen? Nun, lügen kann nur, wer eine Vorstellung davon hat, dass das, was ein anderer weiß und wissen kann, sich von dem unterscheidet, was er selbst weiß und wissen kann. Je nach experimentellem design kann man davon ausgehen, dass etwa Dreijährige in der Regel noch keine hinreichend ausdifferenzierte ToM haben. Lässt man einen Dreijährigen zuschauen, wie ein anderes Kind ein Objekt in einer Schublade versteckt, das dann, wenn der „Verstecker“ weggegangen ist, von einem anderen dort herausgenommen und anderswo platziert wird, so hat man die experimentelle Standardsituation. Man fragt das Kind, das diese Szene beobachtet hat: „Wo wird das Kind ‚sein’ Objekt suchen?“ Ein Kleinkind wird spontan davon ausgehen, dass auch das andere Kind weiß, was es selbst weiß. Nur wenn das Kind weiß, dass das andere nicht wissen kann, was nur es selbst beobachtet hat, verfügt es über eine ToM. Es ist einsichtig, dass von „Lüge“ nur die Rede sein kann, wenn ein Sprecher über eine solche ToM verfügt, d.h. über ein praktisches Bewusstsein dafür, dass er in der gegebenen Situation die Unwahrheit sagen kann, weil der andere keine sichere Evidenz gegen die fälschlich behauptete Proposition hat (oder mit hinreichender Wahrscheinlichkeit haben kann). Um das ToM-Konzept gibt es eine vielstimmige Debatte, die ich hier nicht resümieren kann. Sie reicht in den Extremen von der Annahme, dass auch nichtmenschliche Primaten eine solche ToM haben, bis zur völligen Ablehnung des ganzen Konzepts als einer mentalistischen Irreführung. In jedem Falle ist es irgendeine Entsprechung der ToM, was die evolutionäre Entwicklungslinie von Mimikry, Täuschung und Hereinlegen vom Lügen im engeren Sinne einigermaßen scharf abgrenzt. WAS MAN ÜBER DIE „LÜGE“ FRAGEN DARF 37

[6] Die Lüge in der neoevolutionistischen Signal- und Kommunikationslehre

Im Verein mit der radikalen Umwälzung des modernen Darwinismus, für die in den 70er Jahren die Soziobiologie (Wilson 1975) ebenso steht wie der Siegeszug des „egoistischen Gens“ (Dawkins 1976), hat sich auch die Signal- und Kommunikationstheorie der Evolutionisten (und ergo auch das Verständnis der Lüge) radikal verschoben. Sahen die älteren Evolutionisten der Generation Konrad Lorenz die Evolution von Signalen und Verständigungsmitteln im Tierreich im Dienste des Artwohls und des Artüberlebens – also kooperationsgetrieben – , so hat sich seither durch die genegoistische Axiomatik der Blick auf Signal und Kommunikation von der Kooperation ganz aufs Agonal-Egoistische verschoben. Signale, so könnte man den ersten Hauptsatz der neuen Lehre formulieren, dienen dem Sender zur Manipulation der Empfänger im Interesse der eigenen Gene. Verlässlich – und das ist schon der zweite Hauptsatz! – sind Signale nur dann, wenn sie teuer und schwer zu fälschen sind. Dem entsprechend „erwartet“ der Neoevolutionist im tierischen und menschlichen Signalwesen die Allgegenwart von Lug und Trug, Täuschung und Irreführung, Tarnung und Beschiss. Aufrichtige und kooperative Signale sind die hoch unwahrscheinliche und erklärungsbedürftige Ausnahme. Tier und Mensch tun gleichermaßen gut daran, allen Signalen mit Vorsicht und Misstrauen zu begegnen, die nicht aufwendig und fälschungssicher sind. Und – das fügen wir hier schon ein – sprechen ist der Inbegriff eines mühelosen und ergo hoch fälschungsgefährdeten Signals. Die neue Signalkostenlehre hat bereits ihre Klassiker (Dawkins & Krebs 1978, Richard Alexander 1987) und ihre Popularisatoren (Sommer 1993, Zahavi & Zahavi 1998). Ihre Breitenwirkung ist beträchtlich. Die Wissenschaftsteile der großen Zeitungen beherrscht sie vollständig. Ihr populärstes deutschsprachiges Werk heißt nicht zufällig Lob der Lüge (Sommer 1993) und kommt im Gestus des Ernüchterns und des Aufklärens. Was wir ohnehin wissen: Dass nämlich Kinder ihre Eltern belügen, Ehemänner ihre Frauen betrügen (und vice versa), Geschwister sich untereinander übervorteilen, das wird nunmehr in die lange Reihe naturevolutionärer Täuschungen eingestellt, die von der passiven Mimikry über keineswegs fälschungssichere Droh- und Imponiersignale bis hin zur aktiven Irreführung von Artgenossen bei Primaten und Rabenvögeln reicht. Kaum zu übersehen, dass die Lüge damit den Adel der naturgeschichtlichen Notwendigkeit zugeteilt erhält und eo ipso dem moralischen Urteil ein gutes Stück weit entzogen wird. Die Pointe der Signalkostentheorie des Lügens lautet: Alle Individuen sind lediglich Vehikel, die von ihren Genen so programmiert sind, dass sie alles für deren maximalen Reproduktionserfolg tun. Jedes Signal, jede Kommunikation, die uns in der Natur (und eben auch in der menschlichen) begegnet, muss darauf befragt werden, was sie leistet für die Reproduktion 38 CLEMENS KNOBLOCH der Gene des Signalgebers. Das ist einfach und evident im Falle von Mimikry: Dass manches wohlschmeckende Insekt die Warnfärbung der hochgiftigen Wespen „nachahmt“, trägt gewiss zu seinem Reproduktionserfolg bei. Wer nicht gefressen wird, hat alle Zeit und Gelegenheit der Welt, sich fortzupflanzen. Ebenso, dass manche Schmetterlinge welke Blätter oder Gesichtspartien größerer Tiere „imitieren“, weil Raubfeinde so vom Verzehr abgeschreckt werden können. Etwas komplizierter wird die Lage bei aktiven Warnsignalen, mittels derer Vögel, Affen und viele andere Arten (nicht nur) ihre Artgenossen vor Fressfeinden und Beutegreifern warnen, die sie zuerst erspäht haben. Hier fragt sich der Neoevolutionist: Warum macht ein Tier das, statt sich still in die Büsche zu drücken? Wenn der ein oder andere Artgenosse dem Räuber zum Opfer fiele, würde das die Reproduktionschancen der eigenen Gene doch erhöhen! Erschwerend kommt hinzu, dass der Signalgeber in jedem Falle auch noch sich selbst gefährdet, weil das Warnsignal ihn für den Raubfeind lokalisierbar (und damit zur bevorzugten Beute) macht. Prima facie ist ein solches Warnsignal zwar heldenhaft für uns, aber self defeating für die Evolution. Denn eigentlich müssen wir erwarten, dass die Warner alsbald von den Raubfeinden gefressen werden und ihre Warngene somit durchaus keine Chance haben, sich in der Population zu verbreiten. Ganz anders die Gene der Individuen, die sich beim Erblicken eines Raubfeindes still verdrücken und die anderen ihrem Schicksal überlassen. Jedes Signalverhalten, dessen genegoistischer Nutzen nicht klar auf der Hand liegt, wird so in hohem Maße erklärungsbedürftig. Hier setzt dann verhaltensbiologische Detailforschung an, die z.B. bei manchen aktiv warnenden Arten zeigt, dass die Signale auch zum eigenen Vorteil eingesetzt werden, z.B. um Futterkonkurrenten zur Flucht zu veranlassen, auf dass der betrügerische Warner die Nahrung alleine verzehren kann. Oder auch, dass es sich um „teure Signale“ handelt, um hoch riskante Verhaltensweisen, mittels derer die Warner innerartlich ihre besondere Fitness signalisieren und ergo in Sachen Fortpflanzung bevorzugt gewählt werden. Solche Signale, als demonstrative „handicaps“ bezeichnet, werden mit den Akten menschlichen Prestigekonsums verglichen. Die Individuen signalisieren ihre Fitness, indem sie „mitteilen“, dass sie sich dergleichen selbstgefährdende Verhaltensweisen „leisten können“. Die modernen Soziobiologen gefallen sich durchweg in der Rolle des antiromantischen Ernüchterers. Das Publikum hört zwar gerne, dass es in der Natur harmonisch und ausgeglichen zugehe, dass Gleichgewichte zum wechselseitigen Vorteil der Arten sich einpendeln, dass innerartliche (Komment-)Kämpfe auf Schonung der Artgenossen und Vermeidung von innerartlicher Tötung programmiert seien – doch ach! Die Verhältnisse sie sind nicht so. Im Gegenteil sind Lug und Trug die Triebkräfte der Signalevolution. Ein Signal, so heißt es bei Dawkins & Krebs (1978), verschafft einem Individuum die Möglichkeit, sich manipulativ der Muskelkraft eines anderen zu bedienen. Hatte die Generation von Konrad Lorenz die rituellen Kommentkämpfe mancher Arten, bei denen vielfach WAS MAN ÜBER DIE „LÜGE“ FRAGEN DARF 39

Droh- und Imponiersignale ausgetauscht werden, als Ergebnis von das Artwohl fördernden Tötungshemmungen verstanden, so applizieren die modernen Genegoisten die Modelle der mathematisch-ökonomischen Spieltheorie, um herauszubekommen, unter welchen Bedingungen es sich für wie viele Individuen lohnt, vom Kommentkampf zur rücksichtslosen Aggression überzugehen. Wenn es z.B. in einer Population von Kommentkämpfern einen echten Aggressor gibt, dann wird dieser immer gewinnen und damit für die eigenen Gene einen Riesenvorteil erlangen. Sobald hingegen ein gewisser Prozentsatz von „echten“ Aggressoren in der Population vorhanden ist, wird das Risiko für den einzelnen größer, in Kampfsituationen auf einen solchen zu stoßen und zu unterliegen. Also, so die Logik der Spieltheorie, pendelt sich eine evolutionär stabile Mischung von Täuschung, Drohen, Bluffen und echter Aggression ein, die vom einzelnen ein tendenziell immer feineres Sensorium dafür verlangt, wann er damit rechnen kann, dass sich der andere auf eine Drohgeste zurückzieht, und wann er damit rechnen muss, dass der andere ernstlich „zuschlägt“. Es entsteht das, was die Neoevolutionisten eine arms race, einen Rüstungswettlauf, nennen, eine dynamische Konstellation, in der sich die Tendenz zur Verfeinerung täuschender Signale und die Fähigkeit, solche Täuschungen zu durchschauen und zu antizipieren, gegenseitig hochtreiben. Und ein Effekt solcher Rüstungswettläufe besteht darin, dass (s.o.) aufwendige und teure, nicht leicht zu imitierende Signale einen Glaubwürdigkeitsüberschuss abwerfen. Man kann sich darauf verlassen, dass sie „echt“ sind, der Aufwand, der für ihre Produktion getrieben werden muss, bezeugt ihre Verlässlichkeit. Jeder Kuckuck legt seinen Wirt dadurch herein, dass er die optische Zeichnung von dessen Gelege ebenso übertreibt wie die Fütterungsverhalten auslösende optische Konstellation des sperrenden Jungvogels. Ich kann hier nicht ins Detail gehen und muss mich mit ein paar exemplarischen Bemerkungen begnügen, die Geist und Denkweise der neoevolutionären Signal- und Kommunikationslehre illustrieren. Die Denkweise ist (schon durch die mathematisch-spieltheoretische Axiomatik) durchweg ökonomistisch. Auch Signale werden in terms von Kosten und Nutzen, von Aufwand und Ertrag aufgefasst. Man kann also ganz genau die Bedingungen angeben, unter denen es sich für einen Signalgeber lohnt, nicht zu täuschen: [a] wenn der Nutzen des ausgelösten Verhaltens für den Sender größer ist als für den Empfänger; [b] wenn der Empfänger und Nutznießer des Signals eine hinreichende Menge der Gene des Senders trägt und also à la longue deren reproduktive Fitness steigert (inclusive fitness); [c] wenn der Empfänger und Nutznießer mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine äquivalente Gegenleistung erbringt; 40 CLEMENS KNOBLOCH

[d] wenn der direkte oder indirekte reproduktive Vorteil, den der Sender durch sein Signalverhalten einfährt, den Nachteil (z.B. der Selbstgefährdung durch Warnrufe) übersteigt (das ist der Fall „handicap“; vgl. Zahavi & Zahavi 1998). Vielleicht illustriert ein Beispiel am besten die Denkweise der evolutionistischen Signaltheoretiker. Hähne, so lässt sich leicht beobachten, senden ein bestimmtes Signal, wenn sie Futter finden, das dann die Hühner des Hofes zur Futterquelle herbeilockt. Für die alte „Artwohllehre“ ist das durchaus kein Problem, sondern erwartbare Kooperativität. Manche Hähne präsentieren sogar Proben der gefundenen Nahrung an die zuhandenen Hühner. Die neuen Signalspezialisten haben herausgefunden, dass der „Nutzen“, den Hähne aus diesem vermeintlich selbstlosen Signalverhalten ziehen, ihr verbesserter Zugang zu den Hühnern ist, die offenbar gute „Futterfinder“ den anderen Hähnen vorziehen. Im Effekt lässt sich sogar beobachten, dass das einschlägige Verhalten bei Hähnen gewissermaßen leer läuft und zur Täuschung verwendet wird: Sie gackern und präsentieren den anwesenden Hühnern unverdauliche Fundstücke, um Fortpflanzungsvorteile zu ergattern (Bradbury & Vehrenkamp 2011: 5). Und die Hühner müssen somit lernen, zwischen „echten“ und bloß vermeintlichen Futterfindern zu unterscheiden. Womit einmal mehr belegt wäre, dass der Eigennutz des Senders an der Quelle eines jeden Signals zu finden ist, wenn man nur genau genug sucht. Weil die Glaubwürdigkeit von Lügen und Täuschungen zunimmt, wenn der Signalgeber selbst an sie glaubt, wenn also zur Fremdtäuschung die Selbsttäuschung hinzutritt, adoptiert der Soziobiologe Sommer (1993) die völlig anders zugeschnittene und gedachte Axiomatik des Mikrosoziologen Erving Goffman, der in seinem klassischen Text The presentation of self in everyday life (deutsch: Wir alle spielen Theater) das soziale makeup schildert, das wir unserem Verhalten auflegen, wenn es von anderen beobachtet werden kann. In Goffmans Perspektive „lügen“ wir freilich nicht, wenn wir uns im dynamischen System der Erwartungserwartungen bewegen, weil wir sozial eben das sind, was wir an der Öffentlichkeit auflegen. Einen persönlichen Kern, der unter den Zwängen der Etikette leidet, mag es geben, ebenfalls gewiss Individuen, die ihr eigenes Verhalten unter dem Druck der Etikette als lügenhaft empfinden, aber im Ganzen scheint die soziobiologische Einverleibung von Goffmans Theatermetapher in die Naturgeschichte von Lug und Trug doch einigermaßen gewagt. Zeigen will Sommer (1993: 131), dass es sich bei der alltäglichen Selbstinszenierung der Akteure um taktische Täuschungen handelt, dass show und Angeberei umso besser und glaubwürdiger werden, je mehr auch der inszenierende Regisseur seiner selbst an ihre Ehrlichkeit glaubt. Das ist aber soziologisch Unsinn, denn jeder weiß, dass die Glaubwürdigkeit einer interpersonalen Inszenierung ebenso gut – wenn nicht besser! – auch durch mit inszenierte Zweifel und Selbstzweifel WAS MAN ÜBER DIE „LÜGE“ FRAGEN DARF 41 gesteigert werden kann (und dass übertrieben naive Kritik- und Selbstkritiklosigkeit oft genug den gegenteiligen Effekt hat). Die Pointe der neoevolutionistischen Argumentation in Sachen Lüge besteht jedenfalls darin, dass der Mensch auch in seinem kulturellen Verhältnis zur Lüge die Krone der Evolution von kommunikativem Lug und Trug bildet. Die in allen Moralen und Religionen vom Individuum geforderte Wahrheitsliebe ratifiziert nur den Umstand, dass wir „von Natur“ alle genegoistische Betrüger und Egoisten sind. Tatsächlich fällt es auch leicht nachzuweisen (das hat schon Lipmann 1927 getan!), dass die Unbedingtheit der Aufrichtigkeitsforderung sich jenseits des engen Kreises von Familie und Sippe rasch verdünnt. Es sind nur die eigenen Leute, die man nicht belügen darf. Je weiter der soziale Kreis um den Sprecher gezogen wird, desto dichter wuchern die moralisch-religiösen Ausnahmeregelungen für Wahrheit und Lüge, was prima facie den Genegoismus zu bestätigen scheint. Und ist nicht die Eigenschaft natürlicher Sprachen, sich für elaborierte Fiktionen ganz ebenso zu eignen wie für einfache (und komplexere) Wahrheiten, ein Beleg dafür, dass bei jeder Komplexitätssteigerung in einem Signal- und Kommunikationssystem dessen Wahrheits- und Koordinationspotentiale ganz ebenso anwachsen wie die für Illusion und Täuschung? Die allgemeine moralische Ächtung der Lüge ist (so z.B. Richard Alexander 1987) ein Produkt der höheren (genetische Verwandtschaft transzendierenden) Formen sozialer Organisation. Stämme, Ethnien, Religionen stehen vor der Aufgabe, verlässliche Kooperation jenseits der Verwandtschaftsebene zu etablieren. Reziprozität wird da zusehends indirekt, die Risiken (und die Chancen) von Aufrichtigkeit wachsen. Und kollektiv geteilte Fiktionen stärken den Zusammenhalt der Gruppe. Kein Zweifel, dass bei aller Unbedingtheit des moralisch-religiösen Lügenverbots die mehr oder weniger scharfe Unterscheidung zwischen Ingroup und Outgroup stets im Hintergrund lauert. Die eigenen Leute belügen ist immer viel schlimmer als Fremde oder gar Feinde zu belügen. Und die vielleicht größte Herausforderung an eine jede Theorie der Sprachevolution besteht in der Existenz einer Vielzahl wechselseitig nicht verständlicher „natürlicher“ Sprachen. Schon diese Tatsache verweist darauf, dass Koordinationsfähigkeit nach innen, für die Ingroup, und Unverständlichkeit (oder Täuschung!) nach außen der eigentliche Kick der Sprachentstehung gewesen sein könnte. Schließlich verstehen den Warnruf einer Amsel, die eine Katze oder einen Sperber entdeckt hat, nicht nur alle anderen Amseln in der Nähe, auch andere Vogelarten verstehen ihn und beteiligen sich sofort am kollektiven Mobbing des Räubers. Wir haben sogar reichlich Evidenz, dass auch der entdeckte Räuber selbst registriert, dass er entdeckt ist, und sich verdrückt, weil mit Beute nicht mehr zu rechnen ist. Selbst wir als menschliche Beobachter „verstehen“ nach kurzer Erfahrungsexposition den Warnruf der Amsel. Wir landen am Ende also bei der Vermutung, dass unsere wachsende Kompetenz im Täuschen und Irreführen (ganz ebenso wie unsere wachsende 42 CLEMENS KNOBLOCH

Sensibilität beim Entdecken und Entlarven von Täuschungen) als Spätprodukt auf einer langen Geschichte evolutionärer Rüstungswettläufe auf dem Feld des Signalisierens aufruht. Stets prämiert wird von der genegoistischen Konkurrenz aller, wer eine Spur trickreicher täuscht als die anderen – und wer auch die eine Spur trickreicheren Lügner entlarven und ausmanövrieren kann.

[7] Zusammenfassung

Alle Versuche einer sprach- und kommunikationswissenschaftlichen Theoretisierung der Lüge oder des Lügens scheitern daran, dass der harte semantische Kern des Ausdrucks „Lüge“ lediglich ein moralisches Urteil ist. Ex negativo wirft dieser Umstand ein Licht darauf, dass Gricesche Aufrichtigkeitsprinzipien in der stillschweigenden Axiomatik der sprachlichen Kommunikation eine hohe Position einnehmen. In der Mittelstruktur natürlicher Sprachen hinterlässt die Unaufrichtigkeit keine anderen Spuren als die Aufrichtigkeit. Überall finden wir Mittel, durch deren Einsatz wir Grad und Art unserer propositionalen Gewissheit abstufen können: „Wissen“ wir etwas vom Hörensagen, von einem bestimmten Informanten, aus eigenen Schlüssen etc.? In aller Regel entpuppen sich neue sprachwissenschaftliche Theorien der Lüge als Versuche, den Moralgehalt des Wortes zu manipulieren. Mit einem Male reden wir von sprachlichen Fiktionen, von Unwahrheiten, von egoistischer Täuschung im Einklang mit Naturgesetzen. Witzigerweise verschwindet aber bei all diesen semantischen Manipulationen eben das, was die Lüge ausmacht: das negative moralische Urteil. Auch ist aus der neuen Kommunikationstheorie des Neoevolutionismus zu lernen, dass nicht nur der spezifische moralische Kern der Semantik von „Lüge“ im weiten Meer der täuschenden und irreführenden Signale verschwindet, wenn wir die menschliche Lüge naturgeschichtlich zu adeln versuchen, es verschwimmt vielmehr zwangsläufig auch der für die Lüge wesentliche Unterschied zwischen absichtlichen Täuschungen und bloßen Irrtümern. Die evolutionistische Erkenntnis, wonach wir andere glaubwürdiger täuschen, wenn wir selbst auch an unsere Lügen glauben, lässt auch diese, für die Lüge wesentliche, Unterscheidung verblassen. Im Kern läuft demnach die neoevolutionistische Signal- und Kommunikationslehre auf die nämlichen paradoxen Konsequenzen hinaus, die wir schon bei den radikalen Sprachskeptikern der Jahrzehnte um 1900 gefunden haben: Wenn die Signalsysteme selbst im Kern lügenhaft und irreführend sind, dann ist es kaum noch möglich, dem einzelnen den Vorwurf der Unwahrhaftigkeit zu machen. Der fällt dann nämlich in eins mit der Erkenntnis, dass die Sprache uns alle hereinlegt. WAS MAN ÜBER DIE „LÜGE“ FRAGEN DARF 43

[8] Literatur

Alexander, Richard D. (1987): The Biology of Moral Systems. Hawthorne, New York: Aldine. Ausborn-Brinker, Sandra (2003): “Über die Lüge”. Jörg Hagemann & Sven F. Sager (eds.): Schriftliche und mündliche Kommunikation. Begriffe – Methoden – Analysen. Festschrift zum 65. Geburtstag von Klaus Brinker. Tübingen: Stauffenburg. S. 3-14. Bolinger, Dwight (1973): “Truth is al linguistic question”. Language 49. S. 539-550. Bradbury, Jack W. & Vehrencamp, Sandra L. (2011): Principles of Animal Communication. 2nd ed. Sunderland, Mass.: Sinauer. Dawkins, Richard (1976): The Selfish Gene. New York: Oxford UP. Dawkins, R. & Krebs, J.R. (1978). "Animal signals: information or manipulation". Behavioural Ecology: An Evolutionary Approach. Oxford: Blackwell Scientific Publications. S. 282–309. Eibl, Karl (2009): Kultur als Zwischenwelt. Eine evolutionsbiologische Perspektive. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Falkenberg, Gabriel (1982): Lügen. Grundzüge einer Theorie sprachlicher Täuschung. (= Linguistische Arbeiten. 86). Tübingen: Narr. Giese, Bettina (1992): Untersuchungen zur sprachlichen Täuschung. (= Reihe germanistische Linguistik. 129). Tübingen: Narr. Gustafsson, Lars (1980): Sprache und Lüge. München: Hanser. Heringer, Hans Jürgen(1990): Über die Mannigfaltigkeit der Lügenbeine. Mannheim: DUDEN Verlag. Hundsnurscher, Franz (1994): „Lügen – auch eine Form sprachlichen Handelns“. Dieter W. Halwachs et al. (eds.): Sprache. Onomatopöie. Rhetorik. Namen. Idiomatik. Grammatik. Festschrift für Prof. Karl Sornig zum 66. Geburtstag. Graz: GLM. S. 97-113. Kainz, Friedrich (1927): „Lügenerscheinungen im Sprachleben“. In: Lipmann & Plaut (1927: 212-243). Lipmann, Otto & Plaut, Paul, (eds.) (1927): Die Lüge in psychologischer, philosophischer, juristischer, pädagogischer, historischer, soziologischer, sprach- und literaturwissenschaftlicher und entwicklungsgeschichtlicher Betrachtung. Leipzig: Ambrosius Barth. Meibauer, Jörg (2005): „Lying and falsely implicating“. Journal of Pragmatics 37. S. 1373-1399. Sacks, Harvey (1975): „Everyone Has to Lie“. Mary Sanches & Ben G. Blount (eds.): Sociocultural Dimensions of Language Use (With a Foreword by John J. Gumperz). New York, London: Academic Press. S. 57-79. Sommer, Volker (1993): Lob der Lüge. Täuschung und Selbstbetrug bei Tier und Mensch. 2. Aufl. München: Beck. Weinrich, Harald (1966): Linguistik der Lüge. Heidelberg: Lambert Schneider. 44 CLEMENS KNOBLOCH

Wilson, Edward O. (1975): Sociobiology. The New Synthesis. Cambridge, Mass.: Harvard UP. Zahavi, Amotz & Zahavi, Avishag (1998): Signale der Verständigung. Das Handicap-Prinzip. Frankfurt/M.: Insel.

Die Psychologie des Lügens

Jochen JORDAN Kerckhoff Klinik Bad Nauheim und Universitätsklinik Frankfurt am Main

Die Lüge ist die Visitenkarte des Menschen. Männer lügen häufiger als Frauen, Frauen lügen anders als Männer, in verschiedenen Kulturen und Religionen gibt es unterschiedliche Motive und Lügenkonstruktionen und über die Jahrhunderte ändern sich die Gepflogenheiten rund ums Lügen, wobei weltweit auch heute noch alle denkbaren Umgangsweisen vorkommen: in einigen Teilen der Welt werden Frauen gesteinigt und ermordet, wenn sie in bestimmten Fragen lügen, in anderen Ländern würde man sich wundern, wenn Menschen in spezifischen Kontexten aufrichtig sind. Weltweit ist die Lüge die „Corporate Identity“ spezifischer Berufsausübungen, insbesondere in Politik, Banken, Religionsgemeinschaften und Werbeindustrie. Als Bestandteil des Alltagsrepertoires der Kommunikation versteckt sie sich in jeder charmanten Schmeichelei oder tritt niederträchtig und zerstörerisch in Erscheinung. Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit dem Motivsträngen, den Konstruktionen und Gefahren des Lügens ebenso wie mit den Versuchen, die Lüge sicher zu erkennen und Lügner zu überführen. In jedem Land Europas finden öffentliche Auseinandersetzungen um Wahrheit und Lüge statt, die zuweilen bizarre sprachliche Gebilde hervorbringen. Der deutsche Kurzzeitbundespräsident Wulff kreierte beispielsweise folgende Formulierung: „Ich habe in diesem Zusammenhang nicht gelogen, sondern nur die halbe Wahrheit gesagt.“ Ob im Kontext von Nixons Watergate-Affäre, Strauss-Kahns ganz anderer Affäre in New York, von Boris Beckers Erlebnis in einer Wäschekammer oder Clintons Petting im Oval-Office, alles sind Lehrstücke der allgemeinen Grammatik der Lüge.

Literaturrecherche

Literaturrecherchen in den großen wissenschaftlichen Datenbanken führen zu unüberschaubar vielen psychologischen Originalarbeiten zum Thema. Der vorliegende Beitrag ist keine systematische oder vollständige 46 JOCHEN JORDAN

Literaturdarstellung, sondern eine subjektive Auswahl einiger interessanter Aspekte.

Eine psychologische Definition der Lüge

Die Definition enthält drei Merkmale, ohne die eine nicht handhabbare Uferlosigkeit des Themas entstünde. Eine Definition von „Wahrheit“ wird hier nicht versucht, obgleich die Begriffe Lüge und Wahrheit eine untrennbare Einheit bilden. Der Wahrheitsbegriff wird der Philosophie überlassen.1 Mit der Festlegung auf drei Definitionsmerkmale wird ein erheblicher Teil der psychologischen Literatur bewusst ausgeklammert, weil andernfalls der Begriff nicht mehr operationalisierbar wäre.

Die Lüge ist ein Verhalten mit folgenden Charakteristika: 1. Es werden bewusst und wissentlich unwahre Zusammenhänge postuliert. Die Bedingung des bewussten Entschlusses bedeutet, dass der Handelnde immer die Möglichkeit der Entscheidung zwischen Wahrheit und Lüge hat. 2. Es gibt für Sender und Empfänger eine relevante, eindeutig klärbare Differenz zwischen (objektiv) nachvollziehbaren Sachverhalten und deren Darstellung durch den Lügner. 3. Es ist entscheidend, dass der Empfänger der Lüge (das Opfer) vorher keine Ankündigung des Lügners erhalten und auch kein klares Einverständnis gegeben hat.2

Zur Verdeutlichung sind einige Abgrenzungen hilfreich: a. Ein Mensch mit einer halluzinatorischen Psychose lügt demnach nicht, wenn er Dinge ausspricht, die der Wahrheit nicht entsprechen. b. Ein pathologischer Hochstapler muss als Lügner angesehen werden. Er unterliegt zwar einem pathologischen, oft nicht bzw. sehr schwer kontrollierbaren Drang, seine Selbstdarstellung forciert vorzutragen und auszugestalten. Er weiß im Detail dennoch, dass seine Geschichten erfunden und massiv ausgestaltet sind. Er ist sich also der Lüge bewusst und daher straffähig, denn sein Handeln ist bewusstseinsfähig und prinzipiell beeinflussbar (z.B. durch erlernbare Distanzierungstechniken, regelmäßige Psychotherapie und/oder Medikamente). c. Genauso wenig ist der Zauberer ein notorischer Lügner, wenn er sein Publikum ein- ums andere Mal hinters Licht führt, so wenig wie ein

1 Konrad Paul LIESMANN (Hrsg.), Der Wille zum Schein. Über Wahrheit und Lüge, Reihe: Philosophicum Lech, Bd. 8, Wien, Zsolnay, 2005. Arno BARUZZI, Philosophie der Lüge, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1996. 2 Dieser Aspekt der Positionierung des Opfers ist wesentlich, weil es eine Vielzahl von „betrügerischen“ Konstellationen gibt, die durch das Einverständnis des Opfers charakterisiert sind und legitimiert werden. DIE PSYCHOLOGIE DES LÜGENS 47

Schauspieler wenn er Hass und Trauer nur vorspielt, ohne sie zu empfinden. Das Liebeswerben wie auch so manche Liebeserklärung sind mindestens Teillügen. Sie werden dennoch nicht als solche markiert, weil sie beim „Opfer“ Glückshormone ausschütten.

Der Beitrag der Psychoanalyse

Der Platzmangel im vorliegenden Kontext erlaubt nur einige kurze Anmerkungen. Diejenigen Stellen, an denen sich Freud mit der Lüge beschäftigt, haben eine spezifische Argumentationslogik: Sie sind dadurch charakterisiert, dass sie v.a. den unbewussten Anteil des Lügens herausarbeiten und hier besonders die Bedeutung sexueller Impulse. Eindrucksvolle, wenn auch kurze Anmerkungen zur Lüge finden sich an wenigen Stellen. Zu nennen ist ein von Freud wiedergegebener Judenwitz (der wirklich schwer zu verstehen ist).3 Weiterhin finden sich Anmerkungen in der Arbeit Die Zukunft einer Illusion, in der er sich mit den kulturellen Normen und Verboten und deren regelmäßiger Außerachtlassung beschäftigt.4 In zwei Fallbeispielen von lügenden Kindern5 wird die Frage erörtert, warum Kinder chronisch und teilweise selbstschädigend lügen und welche unbewussten Entwicklungskonflikte dahinter verborgen sind.6 Freud geht so weit, dass er formuliert, dass auch das Unbewusste selbst lügen kann (womit dann aber eine bewusste Entscheidung ausgeschlossen ist, die der Kern der hier vorgetragenen Definition ist).

Die Allgemeine Psychologie der Lüge

Da Lügen ein zentrales Verhaltensmerkmal zwischenmenschlicher Beziehungsgestaltung ist, gehört das Handwerkszeug des Lügens zur Grundausstattung und muss schon in frühester Kindheit trainiert werden.7 Das psychologische Paradoxon ist: Obgleich die Lüge alltäglich ist, so wird sie doch in allen Kulturen als moralisch verwerflich klassifiziert. Dies impliziert

3 Sigmund FREUD, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, Studienausgabe IV, Frankfurt/M., Fischer, 1982, S. 109. 4 Sigmund FREUD, Die Zukunft einer Illusion, Studienausgabe IX, Frankfurt/M., Fischer, 1974, S. 145f. 5 Sigmund FREUD, Zwei Kinderlügen, Studienausgabe V, Frankfurt/M., Fischer, 1975, S. 231-234. 6 In der wissenschaftlichen Literatur zur Entwicklungspsychologie oder pädagogischen Psychologie wird dies häufig in ähnlicher Weise erörtert, vgl. Maurice KROUT, „The psychology of childrens’s lies“, in The Journal of Abnormal and Social Psychology, 26, 1, 1.27, 1931. 7 Betrachtet man die Gruppendynamik unserer Vorfahren (Bonoboaffen und Schimpansen) so sind hier deutliche Vorformen der Lüge zu finden und es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Lüge auch phylogenetisch früh kultiviert wurde. 48 JOCHEN JORDAN unausweichliche intrapsychische Konflikte. Es ist zu vermuten, dass die negative Bewertung zivilisatorisch den Zweck hat, das Lügen ein wenig einzudämmen. Interessant ist wissenschaftsgeschichtlich, dass in den entsprechenden Lehrbüchern der Psychologie regelmäßig ein entsprechendes Kapitel fehlt. In der Subdisziplin der „Allgemeinen Psychologie“, in welcher Sprache, Denken, Lernen und Verhalten beheimatet sind, wäre bei der Alltäglichkeit des Phänomens ein Kapitel zur Lüge zu erwarten. Und ein weiteres bemerkenswertes Charakteristikum psychologischer Forschung zur Lüge verdient der Markierung: Das Hauptinteresse gilt nicht der Entstehung und intrapsychischen Dynamik der Lüge,8 sondern deren Erkennen und Aufdecken (Körpersprache, Lügendetektor, etc. s.u.). Die oben beschriebene Doppelmoral zeigt sich zunächst eindrucksvoll darin, dass die psychologische Forschung nahe legt, dass diejenigen Menschen, die von anderen als ehrlich, authentisch und offen – also wenig lügend – eingeschätzt werden, besonderes soziales Ansehen genießen. Nicht- lügen gehört zu den sozial am meisten geschätzten Eigenschaften. Lügen ist im Kern (sozusagen losgelöst vom konkreten Kontext) die Manipulation des anderen Menschen (ohne dass dieser es bemerkt also) mit dem Zweck, einen Vorteil daraus zu erreichen. Und (ganz wesentlich): Der erzielte Vorteil soll nicht vollständig gezahlt werden. Der Aufwand des Lügens wird also geringer eingeschätzt als die Mühe der Offenheit. Lüge und Täuschung erscheinen dem Lügenden als eine „preiswerte“ Vorteilsnahme. Da Lügen trotz seiner Alltäglichkeit als moralisch verwerflich angesehen wird und da die Aufdeckung einer Lüge mit viel Ungemach verbunden ist, kann geschlossen werden, dass jede Lüge als intrapsychischer Vorgang mit einem energetisch aufwändigen, Zeit und Aufmerksamkeit kostenden Prozess verbunden ist. Lügen ist Stress und Stress löst eine Vielzahl körperlicher Reaktionen aus. Und zugleich werden – bei halbwegs gelungener Sozialisation – immer innere Konflikte und ein individuell unterschiedliches Quantum an Schuldgefühlen damit erkauft. Der je individuelle Preis der Lüge errechnet sich also aus der je spezifischen Persönlichkeitsstruktur. Es ist festzuhalten: Lügen kostet das Gehirn Energie und Zeit (es blockiert also andere Prozesse im Gehirn) und löst zahlreiche körperliche Reaktionen aus. Es bedarf eines komplizierten Vorgangs der Güterabwägung und – wenn man nicht eine allzu schnelle oder leichte Überführung riskieren möchte – bedarf es einer erheblichen sozialen Intelligenz: Man muss die Fähigkeit besitzen, den sozialen Kontext differenziert zu analysieren, man muss zur Perspektivenübernahme fähig sein, um vorauszuberechnen, wie der Empfänger der Lüge die Situation erlebt und bewertet. Weiterhin ist eine beachtliche Merkfähigkeit erforderlich, weil Nachfragen vom Opfer oder von Dritten zu erwarten sind und Widersprüche tunlichst vermieden werden

8 Leonard SAXE, „Lying. Thoughts of an applied social psychologist“, American Psychologist, 46, 4, S. 409-415, 1991. DIE PSYCHOLOGIE DES LÜGENS 49 müssen, da sie immer der Anfang der Aufdeckung sind. Zusätzlich, und das ist der schwierigste Teil des Prozesses, muss ein hoher Aufwand betrieben werden, damit man sich nicht beim Vorgang des Lügens durch unpassende Tonlage, durch Sprechpausen oder inadäquate Mimik, Gestik und Körperhaltung verrät. Der skizzierte intrapsychische Konflikt bildet natürlich soziale Normen ab und ist auf komplexe, aber widersprüchliche Weise gesellschaftlich kontextualisiert. Kinder lernen in der Schule, dass Aufrichtigkeit erwartet wird und Zuwiderhandlung nachteilig ist, während zugleich jede Nachrichtensendung schwerste folgenlose Lügen dokumentiert. Eine gesellschaftlich hoch angesehene Institution zelebriert seit Jahrhunderten die Doppelmoral: die Institution nämlich, die moralisch die Lüge geißelt und in der Sozialisation einen beträchtlichen Aufwand treibt, um die Lüge als verwerflich zu brandmarken, ist zugleich diejenige, die sich von Anbeginn an virtuos der Lüge bedient. Die katholische Kirche verwendet diese Sozialstrategie (Doppelmoral) routiniert seit Jahrtausenden. Beispiel: Sie betrieb in Deutschland lange Jahre Beratungsstellen für ungewollt Schwangere und bescheinigte diesen ihren Besuch, sagte aber offiziell, dieser Schein sei kein Schein im eigentlichen Sinne des Gesetzes, obgleich er vom Staat als solcher anerkannt wurde: es war der Schein-Schein erfunden („Ceci n’est pas une pipe“). Und noch raffinierter: Sie geißelt die Lüge und stellt zugleich den Lügenden ein Ritual zur Verfügung, das den inneren Konflikt minimiert: die Beichte. So kann man vor den Augen Gottes lügen und erhält durch Buße ein leichteres Gewissen, also Über-Ich-Entlastung. In diesem Kontext muss eindringlich auf die enorm destruktive Kraft des Lügens hingewiesen werden. So alltäglich die Lüge sein mag, sie kann in bestimmten Kontexten eine dramatisch zerstörerische Seite haben: Bestimmte Lügen in spezifischen Kontexten können Menschen zerstören, in den Selbstmord treiben und für den Rest des Lebens ein Vertrauen in das eigene Ich, in die eigene Wahrnehmung und die Antizipierbarkeit des Lebens nehmen. Lügen können also andere Menschen zerstören und der Lügende hat meist die Fähigkeit, dies zu antizipieren. Lügen können eine massive Aggression sein und nicht reparierbare Schäden verursachen und zwar im persönlichen wie auch im gesellschaftlichen Lebensraum.

Motivstränge des Lügens

Die Komplexität und Vielfältigkeit der motivationalen Hintergründe des Lügens führen dazu, dass in der Literatur verschiedene Klassifikations- versuche unternommen wurden. Häufig werden die Motivstränge in drei Kategorien eingeteilt: Senderbezogene, empfängerbezogene und beziehungsbezogene Motive. Diese nachvollziehbare Einteilung hat den Nachteil erheblicher Überschneidungen. So können senderbezogene Motivstränge natürlich nie unabhängig von den sozialen Einbindungen 50 JOCHEN JORDAN verstanden werden, sie sind also immer auch empfänger– und beziehungsbezogen. Nachfolgend wird folgende Systematisierung vorgenommen: zunächst werden das Lügenmotiv der Machterlangung und –erhaltung, dann die aus der innerpsychischen Balance resultierenden Motivstränge und schließlich die überwiegend beziehungsregulierenden Lügen dargestellt.

Das Motiv der Machterlangung und –erhaltung

Aus Sicht der Menschheitsgeschichte ist dies sicher die älteste Motivstruktur. Wenngleich die Frage der Bewusstheit nicht beantwortbar ist, kann die Verhaltensforschung zeigen, dass in der Regulation der Gruppen- struktur der Schimpansen bereits geschickt eingefädelte Täuschungsmanöver vorkommen. Gesellschaftliche Macht, eine hierarchische Position, finanzielle Vorteile und Konkurrenzstreben sind sicherlich die häufigsten und gängigsten Motive für Täuschung und Lüge. Hier gibt es kaum Schranken und Hemmungen. Selbst die Aufdeckung von Lug und Betrug ist nur in seltenen Fällen wirklich für den Sender nachteilig (oft reicht es, wenn man einige Monate abtaucht oder eine erhebliche Geldstrafe akzeptiert; vgl. Franz Josef Strauß oder Guttenberg in Deutschland). Die Politik hat eigene Gesetze: Zuweilen lässt es sich mit offenkundigen Lügen lange und gut leben bzw. regieren. Allerdings führen hin und wieder spezifische Interessenlagen dazu, dass die Aufdeckung von im Grunde bekannten Lügen plötzlich zum Skandal oder zum Rücktritt führen. Andererseits: Unsere Gesellschaft ist geprägt von zentralen ideologischen Lügenkonstruktionen, die fundamental und konstituierend unser politisches System bestimmen und die hierdurch natürlich individuelle Niederschläge haben. Hierzu gehören Lügen, wie etwa das Wort von der „sozialen Marktwirtschaft“ oder den „gleichen Bildungschancen“. So wie die Macht-Lüge im gesellschaftlichen Machtkontext ein konstitutives Element ist, so ist sie auch im zwischenmenschlichen Bereich eine der verbreitetsten Verhaltensstrategien: Vom Kindergarten bis ins Seniorenheim kommt die Lüge bei der Regulierung von sozialen Hierarchien und hinsichtlich des Zugangs zu relevanten Vorteilen zum Einsatz: Verunglimpfung, realer und geistiger Diebstahl, Aktenmanipulation und Mobbing sind einige Beispiele. Wir versuchen Kindern und Jugendlichen mühsam zu vermitteln, dass es nicht in Ordnung ist, wenn man einem anderen Menschen gleich die Zähne ausschlägt oder ihm ein Stuhlbein über den Schädel zieht, wenn man etwas durchsetzen will. Wir erziehen zur Affektkontrolle, zum sozialen Dialog und zum Diskurs im Sinne von Habermas, während gleichzeitig Präsidenten von Staaten sich über Lügengeschichten den Zugang zu anderen Territorien verschaffen und ganze Völker und Kontinente mit Krieg überziehen. Fast DIE PSYCHOLOGIE DES LÜGENS 51 immer stellt sich heraus, dass die veröffentlichten Begründungen auf bewusstem Betrug beruhten, was im Allgemeinen folgenlos bleibt.

Die Lüge im Dienste der narzisstischen Gleichgewichtsregulation

Da das Nicht-Lügen ein hohes Gut ist, gilt es als normatives Ideal. Intrapsychisch bedeutet dies, dass der Lügner eine Abwägung vornehmen muss, was seine Selbstbildbalance angeht: Der ständige Abgleich zwischen Real-Ich, Ideal-Ich und Wunsch-Ich (nämlich: wie möchte ich, dass andere mich sehen) erfordert nicht nur Zeit und Energie, sondern auch schwierige (weil konflikthafte) Entscheidungen, also im weitesten Sinne eine Güter- abwägung. Die von Foucault beschriebene zivilisatorische Verinnerlichung psychischer Steuerungsmechanismen von (vormals durch äußere Kontrolle und Zwang herbeigeführten) Verhaltensmustern ist heute zunehmend wichtig. Anders ausgedrückt: Die Entscheidung, ob man im konkreten Fall lügen sollte, basiert nicht allein auf der Frage, wie sie sich sozial auswirken würde (also wie andere über mich urteilten, würde sie aufgedeckt), sondern auch auf der Frage, wie das innere Gleichgewicht betroffen sein würde (wie also mein Bild von mir aussähe). Die je spezifische innere Balance (bzw. Dysbalance) eines Menschen ist demnach ein wesentlicher Motor (oder Bremser) der Täuschung und Lüge. Es ist hier vom Narzissmus nicht als einer klinischen Symptomatik die Rede, sondern vom Narzissmus als persönlichkeitsspezifische Eigenschaft der Balance zwischen Selbstvertrauen und Selbstzufriedenheit auf der einen und Mangel an Selbstbewusstsein und Minderwertigkeitsgefühlen auf der anderen Seite. An beiden Polen sind die Motive und Ausgestaltungen von Täuschung und Lüge deutlich anders. Dient die Lüge dem narzisstischen Größenwahn, so ist sie dadurch motiviert, dass der Lügende sich damit noch weiter erhöhen möchte, sich über Andere stellen und weitere Glanzpunkte erlangen will. Nicht selten spielt dabei auch eine Rolle, dass nicht nur etwas erreicht wird, sondern dass man sich auch großartig fühlt, weil man in der Lage ist, andere Menschen erfolgreich zu manipulieren, ohne dass diese es merken. Es ist demnach ein narzisstischer Sieg über die ahnungslosen belogenen Personen, der der eigenen Regulation dient. Die Bewunderung, die glänzenden Augen des Gegenübers und der kurze Moment der Überlegenheit motivieren entsprechende Handlungen (da Glückshormone ausgeschüttet werden, kann man auch von einem nicht-Substanz-gebundene Suchtverhalten sprechen). Hier gibt es harmlose und durchschaubare Inszenierungen des Alltags, aber auch große katastrophale und desaströse Inszenierungen, die erheblichen Schaden anrichten und durchaus ruinös sein können. An beiden Enden der narzisstischen Dimension ist die psychische Stabilität des Lügenden nicht besonders groß und daher ist die Gefahr der Aufdeckung groß. Narzissten beider Ausprägungen lügen im Allgemeinen schlecht, weil sie – wie das Wort 52 JOCHEN JORDAN sagt – zu sehr auf sich bezogen sind und daher die Perspektivenübernahme mangelhaft ist. So erleiden sie oft die Scham der Aufdeckung und ihr Dilemma wird vergrößert und der Gewinn der Lüge ist spärlich und allzu kurzfristig (was wiederum, sozusagen kompensatorisch, die nächste „narzisstische Show“ auslöst). Ein Beispiel für einen intrapsychischen Konflikt auf der Ebene des labilen Selbstbildes am anderen Pol der narzisstischen Regulation soll folgende Konstellation verdeutlichen: Ein Mensch mit einem rigiden strengen und unnachgiebigen Über-Ich hat dieses erfahrungsgemäß durch konkrete Umstände und Menschen gebildet.9 Man würde annehmen, dass er das Lügen in jedem Fall vermeidet (muss), um den zwangsläufigen inneren Selbstbild- Konflikt zu vermeiden. So weit wäre der Fall einfach und klar: Unser guter Mensch führt ein weitgehend untadeliges Leben. Aber unsere Psyche ist voller Ambivalenz, Konflikte sind selten zu befrieden, sie kehren wieder und inszenieren sich unbewusst: Unser braver Mensch hat mit hoher Wahrscheinlichkeit einen schweren inneren Autonomiekonflikt. Von den Eltern muss man sich eines Tages lösen. Je strenger das Über-Ich, desto problematischer gestaltet sich dies. Und so mancher psychischer Apparat gerät hier ins Straucheln und die Lüge wird scheinbar vielversprechend zum Instrument der Gewinnung von mehr innerem Raum, die Lüge verspricht also zuweilen Freiheit und Autonomie: Der innere Dialog geht ungefähr so: „Wenn man mich in eine solche Lage bringt (ich bin Opfer), dann ist das entwürdigend und wenn ich lüge, erhalte ich meinen Stolz sowie meine Selbstachtung und ich unterwerfe mich daher nicht“. Gemein wie das Leben so ist, geht alles schief und endet schlimmer als es am Anfang war: Die Lüge wird aufgedeckt, die Scham und Schande ist besonders groß und die erhoffte Autonomie endet im Gegenteil, nämlich in der noch größeren inneren Unfreiheit. Das Unbewusste kehrt bekanntlich wieder, es sucht immer neue Reinszenierungen in der Hoffnung, eines Tages einen günstigen Ausweg zu finden und die Sache endet doch meist im Desaster.

Die Lebenslüge

Psychologisch besonders interessant und von Kunstschaffenden immer wieder aufgegriffen, ist die Lebenslüge, die ebenfalls sehr stark durch innere Erlebniszustände motiviert ist. Sie ist psychologisch deshalb interessant, weil es sich um einen Grenzfall des Lügens handelt. Im Einzelfall ist nämlich nicht ganz präzise zu definieren, ob der Lügende sich tatsächlich bewusst ist, im Sinne einer bewussten, nachvollziehbaren Entscheidung, dass er sich selbst belügt. Ein interessantes Beispiel ist z.B. die sexuelle Orientierung eines Menschen, der einen gegengeschlechtlichen Menschen heiratet, um sich nicht

9 Meist Eltern, Schule und Kirche. DIE PSYCHOLOGIE DES LÜGENS 53 einzugestehen, dass er homosexuell ist. So gibt es viele Konstruktionen, in denen Menschen im Grunde lebenslänglich versuchen, sich etwas vor- zumachen und es bleibt häufig ganz und gar offen, wie viel Bewusstsein und wie viel Entscheidungsfähigkeit dahinter steht. Die Lebenslüge hat fast immer tragische Seiten und es ist im psychologischen Sinne meist eine Verleugnung enthalten. Verleugnung wäre dann als Abwehrmechanismus zu verstehen, der per Definition nicht bewusst eingesetzt wird, der aber immer ganz nahe am Rande der Bewusstseinsfähigkeit ist. Insofern scheint es gerechtfertigt, die Lebenslüge in den vorliegenden Kontext (mit Vorbehalt) zu integrieren.

Lügen zur Regulierung sozialer Beziehungen

Hier spielt die Beziehungsstruktur zwischen Sender und Empfänger, also auch die Interaktion eine zentrale Rolle. Zu unterscheiden sind folgende Formen: Alltagslügen, Bequemlichkeitslügen, Notlügen und schließlich die Untreue in der Partnerschaft.

Alltagslügen

Man versteht darunter Lügen, die so alltäglich sind, dass sie schon eigentlich nicht mehr als Lüge zu bezeichnen sind, weil auch der Belogene im Grunde damit rechnet und implizit möglicherweise einverstanden ist mit dem Ritual. Aus empirischen Forschungen wissen wir einiges über die Häufigkeit, die geschlechtsspezifische Verteilung und die Bewertung des Verhaltens.10 Ganz einfache Beispiele sind etwa: Ein Mensch ruft an und man äußert Freude und Dankbarkeit über den Anruf, etwa nach dem Motto: „Ach wie schön, dass du anrufst!“ Zugleich kommt der Anruf allerdings ungelegen, man hat eigentlich keine Lust oder Zeit, ihn anzunehmen. Das Gleiche gilt, wenn man auf der Straße jemanden trifft und sagt: „Ach, wir müssten wieder einmal einen Kaffee trinken gehen“ oder „Du siehst ja blendend aus“ oder ähnliches. Dies sind Alltagsformulierungen, die implizit eine Lüge enthalten (können), die aber zivilisatorisch erlaubt und konventionell gefordert sind.

Die Lüge aus Bequemlichkeit und zur Aufrechterhaltung einer Beziehung

Ein gar nicht seltenes, sogar alltägliches Motiv der Lüge ist der Wunsch, sich Ungemach und Aufwand zu ersparen. Das Motiv ist, die Beziehung

10 Sonja AUSSERBAUER, Isabell BECK, Katharina PHILIPP, Silvia WARTENSTEINER, „Die Häufigkeit von Lügen im Alltag“, Semesterarbeit Universität Regensburg: http://www-app.uni- regensburg.de/Fakultaeten/PPS/Psychologie/Lukesch/downloads/forschung/Berichte/ss03_3206 7_LuegenImAlltag.pdf. 54 JOCHEN JORDAN zwischen Sender und Empfänger unkompliziert und frei von Störungen zu gestalten (evtl. auch, um eine Geschäftsbeziehung nicht zu destabilisieren). In vielen Fällen vereinfacht eine kleine Lüge die Kommunikation, vermeidet Nachfragen, Einwände oder Zudringlichkeiten. Je nach den Erziehungs- grundsätzen, denen man selbst unterlag, lernt man, dass es in vielen Fällen sinnvoll ist, unter dem Radarsystem anderer Menschen zu segeln und hierfür alle Tricks der Darstellung und des Verschweigens anzuwenden. Dies kann im narzisstischen Sinne auch so weit gehen, dass man Erfolge und Fähigkeiten versteckt, um nicht von Anderen beneidet oder enteignet zu werden. Hierzu gehört auch eine komplizierte und meist leidvolle Kunst des stützenden Lügens: die Fähigkeit nämlich, das narzisstische Gleichgewicht des Gegenübers zu erfassen und sich spielerisch darauf einzustellen und sozusagen die narzisstische Balance des Gegenübers so zu beeinflussen, dass möglichst große Stabilität herrscht (den andern stützen). Dies ist ein Manöver, das zwischen Kindern und Eltern, aber auch zwischen Ehepartnern sehr häufig zu finden ist. Dieses Verhalten gehört zur Lüge, weil man im Allgemeinen auch sehr genau weiß, dass man jetzt eine Manipulation vornimmt, den anderen lobt und beruhigt oder ihm schmeichelt oder ablenkt. (Bei Kindern ist in diesem Fall kaum von Lüge zu sprechen).

Die Notlüge

Die Notlüge ist vermutlich die einzige Lüge, die unbestritten moralisch hochstehend ist. Sie ist immer damit verbunden, dass man durch die Lüge einem anderen Menschen etwas Gutes tut (mindestens tun möchte). So überlegt man sich etwa am Krankenbett eines Patienten, der auf der Intensivstation mit dem Leben kämpft, ob man ihm mitteilen möchte, dass ein guter Freund von ihm gerade gestorben ist. Wenn man entscheidet, dies nicht auszusprechen, so ist dies eine Lüge. Es handelt sich hier aber um eine Kontextualisierung, die zivilisatorisch akzeptabel erscheint und von der man davon ausgehen kann, dass der andere sie im Nachhinein verzeihen wird. Derartige Notlügen sind durchaus häufig im Alltag, sie genießen aber den Schutz der moralischen Begründbarkeit, die im Einzelfall natürlich auch immer höchst zweifelhaft und auch mit viel Leid verbunden sein kann.

Lügen in der Partnerschaft

Aus psychologischer Sicht dürften die im Rahmen von Partnerschaft auftretenden Lügen, v.a. die zur Kaschierung von Untreue besonders bedeutsam sein. Den deutschen Soziologen Beck und Beck-Gernsheim DIE PSYCHOLOGIE DES LÜGENS 55 zufolge11 hat die Partnerschaft in ihrer Bedeutung heute intrapsychisch den Rang der Religion. Insofern ist die Lüge in der Partnerschaft häufig auch eine der schwersten individuellen Belastungen und Krisen. Lügen innerhalb der Partnerschaft haben viele Ebenen, aber vermutlich ist die sexuelle Untreue der zentrale Punkt. Hier gibt es unendlich viele Formen und Varianten, die zu diskutieren den Kontext dieses Beitrages sprengen würden. Jedenfalls ist die Lüge rings um die Untreue sehr verbreitet (30 bis 40% aller Menschen in fester Partnerschaft schlafen irgendwann mit anderen Partnern). Die unterliegenden psychologischen Motive sind vielfältig: Rache, Langeweile, narzisstische Balanceprobleme, Bindungsangst, Midlife-Krise, Triebdruck u.a.

Weitere besondere Spielarten der Lüge

Als Grenzfälle müssen folgende Lügenkonstruktionen erwähnt werden: So spricht man etwa über den unverbesserlichen oder auch notorischen Lügner: hier liegt ein chronifiziertes, von der Person fast nicht beherrschbares zwanghaftes Verhalten vor. Man kann hier nicht von einer wirklichen Lüge sprechen, denn es sind zumeist schwere psychiatrische Erkrankungen, die hier hervortreten. Weitere Beispiele illustrieren die Grenzsituationen: Menschen, die sich selbst verletzen oder mit Substanzen krankheitsähn- liche Zustände erzeugen (Münchhausen-Syndrom) und im Medizinsystem das eigene Zutun) verschweigen. Gleiches gilt für Menschen, die dies nicht bei sich selbst, sondern bei ihren Kindern tun (Münchhausen bei Proxy-Syndrom). Hier ist der Schädigungsakt durchaus bewusst und muss mit Hilfe von Beweismitteln gesichert werden (versteckte Kameras). Die Kinder müssen geschützt werden und in manchen Ländern erfolgt die Bestrafung, weil eine Bewusstheit zu Recht angenommen wird. Schließlich gibt es Menschen, die das Selbe tun, aber in einem zutiefst religiösen Kontext, die sich Stigmatisierungen12 zufügen und häufig in grenznahen mentalen Zuständen sind. In diesem Fällen handelt es sich zwar um prinzipiell bewusstseinsfähige Handlungen, aber häufig geschehen sie in einem Zustand tiefster Dissoziation oder aber im Rahmen von schweren psycho-pathologischen, das heißt psychiatrischen Störungen. Sie enthalten bewusstseinsfähiges Material, sind aber im individuellen Kontext doch von so massiven Wahrnehmungsstörungen begleitet, dass man sie im eigentlichen Sinne nicht mehr als Lüge bezeichnen kann. Sie sind daher auch nicht straffähig.

11 Ulrich BECK/ Elisabeth BECK-GERNSHEIM, Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt/M., Suhrkamp,1990. 12 Gerd OVERBECK/ Ulrich NIEMANN, Stigmata, Geschichte und Psychosomatik eines religiösen Phänomens, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2012. 56 JOCHEN JORDAN

Tricks des Lügens und ihre Erfolgsaussichten

Es werden nun verbreitete Lügentechniken charakterisiert und ihr jeweils unterschiedliches Risiko eingeschätzt.

Weglassen und Ablenken

Das Weglassen als Versuch, bestimmte Sachverhalte nicht oder nur teilweise ans Licht kommen zu lassen, ist psychoökonomisch sicher die „günstigste“ Variante der Lüge.13 Das Ablenken von einem Thema, das Einbringen von Alternativthemen oder der Versuch, durch Aktionen und gezielte Aufmerksamkeits(ab)lenkung vom Sachverhalt wegzukommen, ist ebenfalls psychisch nicht allzu aufwändig und für Geübte unproblematisch. Man muss bei diesen Techniken nichts erfinden, muss keine (unwahren) „Geschichten erzählen“, kann sich nicht in (nachweisliche) Widersprüche verwickeln und es bleibt immer eine Korrekturlücke, indem man – wenn es eng wird – mit kleinen Portionen Nachreichungen vornimmt. Das Weglassen erfordert auch wenig Aufwand hinsichtlich der Modulation der Körpersprache und der Emotionsunterdrückung, wenngleich auch hier Signale gesendet werden können, die geübten Beobachtern als Hinweise gelten.

Über- oder Untertreiben

Das Über- oder Untertreiben ist psychoökonomisch sehr viel aufwändiger. Hier müssen Fakten und Gefühle entweder vorgespielt oder aber Gefühle unterdrückt werden. Beides ist fehlerträchtig, weil noch nicht einmal gute Schauspieler einen vollständigen willentlichen Zugriff auf die komplexen muskulären Muster haben. Damit ist das Risiko der Aufdeckung groß. Allerdings bleiben auch hier Auswege und (halbwegs) ehrenvolle Abgänge, denn es ist schließlich nicht möglich, einen schlüssigen Nachweis des willentlichen Lügens zu führen, da das Unter- oder Übertreiben eher als emotionale Fehler klassifiziert werden, die moralisch nicht so verwerflich sind wie die „glatte“ Lüge.

Erfinden und Verfälschen

Erfinden und Verfälschen gehören zu den risikoreichsten Täuschungsmanövern. Wenn man nicht wirklich abgebrüht und geübt ist (wie etwa Politiker es aufgrund ihres langen Weges an die Macht), dann erfordert das Erfinden sehr viel psychischen Aufwand. Die Geschichte muss in sich

13 Die halbe Wahrheit sagen oder verschweigen (weglassen) kann als kleines Missgeschick, als „versehentliche“ Verdrehung oder Verharmlosung attribuiert werden. DIE PSYCHOLOGIE DES LÜGENS 57 konsistent und widerspruchsfrei sein, sie muss zu den feststellbaren Fakten passen, sie muss Motive und Bedenken berücksichtigen und man muss sich alle erzählten Details sehr genau merken, um nicht sofort verräterische Ungereimtheiten zu erzeugen. All das erfordert größten Aufwand, höchste Konzentration und ist überdies gefährlich, weil kleinste Details zur Entlarvung beitragen können. Die Aufdeckungsgefahr bleibt über Jahre und Jahrzehnte groß, weil jedes Detail die Geschichte in Lügenverdacht bringen kann. Eine sehr verbreitete Technik ist: Im Alltag Routineabläufe über lange Zeit zu etablieren, bis sie nicht mehr hinterfragt werden. Dann können diese Routinen als Platzhalter (z.B. für außereheliche Beziehungen) verwendet werden.

Vergessensbehauptung

Eine sehr beliebte Technik ist die Behauptung, etwas vergessen zu haben. Diese Technik ist in manchen Bereichen durchaus erfolgversprechend und bei Politikern sehr verbreitet. Man kann hier zum Beispiel immer behaupten, man habe etwas nicht gewusst und kann sogar dann noch einen Rettungsversuch wagen, wenn Beweise für das Gegenteil vorliegen (z.B. eine Unterschrift unter eine Aktennotiz u.ä.). Man hat dann zwar die Verantwortung zu übernehmen, kann aber noch eine Ehrenrettung versuchen, weil man völlig überlastet und überfordert war und so vieles täglich zu unterschreiben hatte, dass es zu solchen Fehlhandlungen „leicht“ kommen konnte. Die sehr kurze Darstellung der Motivstränge, der Mechanismen und Kontextualisierungen des Lügens zeigt, dass es eine in jedem Lebensbereich auftretende Verhaltensweise ist, die daher auch eine außerordentliche Vielfalt hat. Im Grunde ist die Lüge ein Joker des Sozialverhaltens, der je spezifisch und individuell gefärbt in jeder Gefühlslage, in allen erdenklichen Konfliktkonstellationen und allen sozialen Kontexten zur Anwendung kommen kann. Möglicherweise ist dies der Grund dafür, dass es kein psychologisches Lehrbuch der Lüge gibt.

Der Lügendetektor

Die ersten Überlegungen zu einem sogenannten Lügendetektor stammen von C. G. Jung14 und M. Wertheimer15. Eine Realisierung gelang durch den Bau des ersten Polygraphen ca. 1935.

14 Es ist eindrucksvoll, wie differenziert und methodisch ausgeklügelt C. G.Jung in den ersten Jahren seines Schaffens psychophysiologische Forschung in Angriff nahm und in englischer Sprache publizierte. Der zweite Band seiner 23-bändigen Gesamtausgabe dokumentiert dies eindrucksvoll. Die Arbeiten wurden 1907 in angesehenen internationalen Zeitschriften publiziert. Danach hat er seinen Arbeitsschwerpunkt vollständig verlagert. Carl Gustav JUNG, Experimentelle Untersuchungen, Gesammelte Werke, Bd. 2, Solothurn, Walter Verlag, 1995. 58 JOCHEN JORDAN

Bis heute ist der Korpus an wissenschaftlicher Literatur zu diesem Thema außerordentlich groß und nahezu unüberschaubar.16 Die Wissenschaften, die sich damit beschäftigen, sind zahlreich, vor allem sind das die Psychophysiologie, die Juristerei und die Militärwissenschaft. Alle haben völlig unterschiedliche Interessen und Fragestellungen an den Polygraphen.

Was ist die Logik des Polygraphen?

Die psychophysiologische Forschungsfrage ist seit vielen Jahrzehnten folgende: Da am Verhalten des Lügens komplexe emotionale und kognitive Prozesse beteiligt sind und körperliche Stressreaktionen des autonomen Nervensystems (die willentlich nicht beeinflusst werden können) messbar sind, müsste es möglich sein, anhand dieser Parameter Aussagen als wahr oder erlogen zu differenzieren. Von dieser Voraussetzung ausgehend, hat man eine ganze Reihe von psychophysiologischen Messgrößen wissenschaftlich getestet: Haut- widerstand, Puls, Herzfrequenzvariabilität, Hauttemperatur, Muskeltonus, Blutdruck und Atmung. Heute werden zunehmend auch Messungen mittels MRT herangezogen.17 Die Forschungsmethoden und die Verhörtechniken sind sehr ausgeklügelt und aufwändig. Das Ergebnis all’ dieser Studien ist bisher sehr widersprüchlich: Es gibt nur wenige absolut spezifische autonome Reaktionsmuster, die mit immer denselben Emotionen sicher verknüpft werden können. Alles in allem sind die autonomen Funktionen eher generalisiert-gleichförmig im Sinne der Aktivierungsachse Flucht versus Kampf bzw. Sympathikus versus Parasympathikus. Da das Verhaltensmuster Lügen in erster Linie eine körperliche Stressreaktion auslöst, ist die Interpretation der Messungen immer unsicher. Beispiel für eine gängige Argumentationslogik: Man geht davon aus, dass ein Mensch, der die Wahrheit sagt, eine geringere Gehirnanstrengung zu leisten hat als ein Mensch, der lügt. Das Lügen erfordert mehr Energie, mehr neuronale Prozesse und die Beteiligung von mehr Gehirnregionen und dauert daher länger. Diese Hypothese führt zu ausgeklügelten gezielten Asso- ziationstests oder Materialpräsentationstests. Die in Millisekunden messbaren Reaktionszeiten auf standardisierte Aufgabenstellungen werden als Indikatoren verwendet: Je länger die Reaktionszeit im Vergleich zu vorliegenden Erfahrungswerten, desto wahrscheinlicher ist eine Lüge.

15 Wertheimer hatte schon in seiner Dissertation (erschienen 1905) empirisch und sehr intelligent über objektive Tatbestandsdiagnostik geforscht. 16 Umfassend informiert die medizinische Datenbank Pubmed. 17 vgl. M. R UCHSOW/ L. HERMKE/ M. KOBER, „MRT als Lügendetektor und Gedankenleser? Kritische Bestandsaufnahme und Reflexion“, Der Nervenarzt, 81, 2010, S. 1085-1091. DIE PSYCHOLOGIE DES LÜGENS 59

Der wissenschaftliche Haupteinwand lautet: Zufällige Versuchspersonen im Labor18 haben keinerlei Interesse und stehen nicht unter Druck. Der große Korpus an wissenschaftlicher Literatur ist daher zunächst einmal überhaupt nicht auf die Realität juristischer Tatbestände oder Verhörmethoden der Armeen übertragbar. Menschen, die einer Untersuchung mittels Lügen- detektor zustimmen bzw. dazu gezwungen wurden, können ihre Motive für sich behalten und absichtlich unkooperatives Verhalten an den Tag legen. Es gibt ein Faktum, das die dahingehenden Einwände präzise auf den Punkt bringt: Die amerikanische und auch andere Armeen, trainieren ihre Soldaten systematisch hinsichtlich spezifischer Verhörmethoden. Sie trainieren, damit ihre Soldaten, wenn sie in Gefangenschaft geraten, durch die mittels Lügendetektor gemessenen autonomen Reaktionen nicht Geheimnisse an den Gegner verraten. Das Training ist im Grunde sehr einfach: Man kann nicht trainieren, dass es beim Lügen keine Ausschläge in den verschiedenen Parametern gibt, man kann aber leicht trainieren, dass es bei allen Fragen heftige Ausschläge gibt, indem man systematisch und bewusst das autonome Nervensystem aktiviert. Dies kann durch verschiedene Techniken jeder Mensch erlernen. Damit haben alle diese Verhörmethoden einen systematischen Fehler in die Richtung der Hochaktivierung, was dazu führt, dass der Polygraph auch bei unbedeutenden Fragen (und daher auch bei der Artikulation der Wahrheit) heftig ausschlägt.

Was ist die Zukunft dieses Verfahrens?

Im Moment zeichnet sich ab, dass mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt immer weitere autonome Funktionen, vor allem auch neurophysiologische Funktionen, in die Messung einbezogen werden. Das MRT ist hierfür eine geeignete Forschungsmethodik. Allerdings ist das MRT für die Frage der Wahrheitsfindung ebenfalls durch den genannten systematischen Messfehler behaftet: Er setzt eine hohe Kooperations- bereitschaft voraus, weil man in dem Gerät sehr still liegen und kooperationsbereit sein muss. Und es ist wohl kaum vorstellbar, dass Politiker und Banker ins MRT geschoben werden, um Wahrheiten zu erfahren.

Körpersprache und Lügen

Der Forscher Paul Ekman wird oft als der beste Lügendetektor der Welt bezeichnet. Was bedeutet dies? Es gibt einen großen Forschungszweig, der sich systematisch und mit hohem apparativem Aufwand mit der Dechiffrierung der Körpersprache beschäftigt (u.a. R. Krause in Deutschland).19 Ekman hat ein komplexes

18 Das sind in der psychologischen Forschung zumeist Psychologiestudenten. 19 vgl. http://www.pukzh.ch/default/assets/File/Handout_Prof._R._Krause.pdf 60 JOCHEN JORDAN

System zu Codierung der Gesichtsmuskulatur entwickelt: Das FACS (Facial Action Coding System). Moderne Softwaresysteme der Gesichtserkennung sind in der Lage, die komplexen Muster der menschlichen Ausdruckskonstellationen zu kartografieren. Ekman20 hat durch extrem feine Untersuchungsmethoden Reaktionen von Muskelgruppen erforscht, die dem normalen Menschen entgehen. Er hat in Videoanalysen herausgefunden, dass es Reaktionsmuster in der Gesichts- muskulatur gibt, die nur im Bruchteil einer Sekunde auftreten (und daher nicht bewusstseinsfähig sind), die aber nach seinen Erfahrungen ein deutlicher Hinweis darauf sind, ob es sich um echte oder simulierte emotionale Gesichtsausdrücke handelt. Am Beginn seiner Forschung hatte er eine Videoaufnahme von einer psychiatrischen Patientin, die eindeutig lügt, was man aber erst später erkennen konnte (sie verübte kurz nach dem Gespräch Selbstmord, hatte aber im Gespräch glaubhaft versichert, sich von solchen Gedanken distanziert zu haben). Hunderte Male hat er mit Kollegen das Band angesehen und nichts gefunden, was auf das fatale Ende hindeutete. Erst als er in Zeitlupe Bild für Bild ansah, hat er die „verräterischen“ Mikroprozesse entdeckt. Für Sekundenbruchteile waren mimische Muster zu erkennen, die zu den übrigen kontrastierten und den Suizid ankündigten. Wir müssen davon ausgehen, dass solche Reaktionsmuster von unserem Gehirn aufgenommen und verarbeitet werden, dass sie sogar prozessiert werden und handlungsleitende Funktionen erfüllen, dass sie aber dennoch nicht dem Bewusstsein zugänglich sind.21 Diese Mikroprozesse haben eine hohe Bedeutung und werden sich in Zukunft sicher der Forschung noch weiter öffnen. Man ist in der Lage, durch Filmaufnahmen und Computerauswertungen diese Vorgänge genauer zu erfassen und es ist sehr wahrscheinlich, dass die Muster von gleichzeitig aktiven Muskelgruppen bei Emotionen wie etwa Angst, Freude, Lachen etc. so spezifisch sind, dass man mit dieser Technik durch eine nachträgliche Analyse sehr viel erfahren kann. In der Wissenschaft ist man im Moment dabei, diese verschiedenen Reaktionsmuster zu kategorisieren und einer systematischen Auswertung zuzuführen. Die Grundthese hinsichtlich der Lügendetektion ist also: Ein Mensch, der eine echte aufrichtige Emotion zeigt, hat ein anderes Muster des muskulären Zusammenspiels als ein Mensch, der lügt bzw. eine Emotion nur vorspielt. Vor allem die Gesichtsmuskulatur, daneben aber auch die Bewegungen der

20 Paul EKMAN, Ich weiß, dass du lügst. Was Gesichter verraten, Reinbek, Rowohlt, 2011, sowie “What the Face Reveals: Basic and Applied Studies of Spontaneous Expression Using the Facial Action Coding System (FACS)”, Series in Affective Science, Oxford, University Press, 2005. 21 Faszinierend ist, dass man an in Gefangenheit lebenden Schimpansen zeigen konnte, dass sie in Lernexperimenten auf Reizdarbietungen korrekt reagieren konnten, die von der Präsentationszeit weit unter dem liegen, was Menschen erkennen können. DIE PSYCHOLOGIE DES LÜGENS 61

Hände und der Arme werden einbezogen.22 Das Gesicht hat 24 Muskeln. Einige Halsmuskeln modulieren zusätzlich den Gesamtausdruck und werden vom Empfänger dechiffriert. Die Kombinationen der Muskelbewegungen in Mimik und Gestik sind außerordentlich komplex: die Kombination der 24 Muskelgruppen ergibt eine Variationsbreite von ca. 10.000 Kombinationen, da beim Ausdruck jeder Emotion immer mehrere Muskeln gleichzeitig beteiligt sind. Damit ergibt sich am Ende eine äußerst komplexe, aber eindeutige Interpretation. Nach heutigem Wissen geht man hinsichtlich der emotionalen körpersprachlichen Ausdrucksweisen von einer Universalität aus, das heißt es wird vermutet, dass zentrale, lebenswichtige Ausdrucks- formen bei allen Menschen gleich sind. Nun scheint es wenige Menschen zu geben, die die außerordentliche Begabung haben, mimische Zusammenhänge (Mikromimik) in Sekunden- bruchteilen sozusagen intuitiv, also ohne besondere Anstrengung, zu erfassen und zu interpretieren (aber auch sie können sie nicht bewusstseinsfähig machen und erläutern). Diese Menschen können durch hohe Aufmerksamkeit und zusätzliches Training die Reaktionsmuster anderer schnell und genau erfassen und sie werden beim Militär und im Grenzzoll gerne eingesetzt. Es ist tatsächlich verblüffend ihnen zuzuschauen. Sie können meist nicht beschreiben, aufgrund welcher Indizien sie zu einer Einschätzung kamen. Es scheinen hochkomplexe Mustererkennungen zu sein. Intuitiv können vermutlich fast alle Menschen, wenn sie psychisch halbwegs stabil und gesund sind, sehr viel mehr erfassen, als ihnen bewusst wird. Insgesamt gehen wir davon aus, dass die Wahrnehmung dem Menschen nur zu etwa 10% bewusst zur Verfügung steht, das heißt 90% des Wahrgenommen wird zwar gespeichert und auch analysiert, aber nicht der bewussten Bearbeitung zugeführt.

Die Schlussfolgerung mag ernüchternd sein: Es wird in den nächsten 15 Jahren Fortschritte in der Wissenschaft geben, die aber, nach allem was wir über unsere Gesellschaft wissen, keineswegs relevante Veränderungen bewirken werden hinsichtlich der „großen“ Lügner unserer Welt, die eingangs des Kapitels genannt wurden (in Politik, Banken, Religions- gemeinschaften und Werbeindustrie). Aus diesen Forschungen ergibt sich eine Empfehlung an alle Lügner: Emotionen, die man nicht hat, sind schwer vorzuspielen und die Unterdrückung von heftigen Emotionen ist ebenfalls außerordentlich fehlerträchtig. Das bedeutet: Man kann nur eine Maßnahme trainieren, nämlich soweit wie irgend möglich die Gesichtsmuskeln still zu halten, außerdem unbedingt die Hände bewegungslos nach unten hängen zu lassen und dann mit gleichförmiger Stimme zu sprechen.

22 Einen Finger ins Gesicht führen gilt als sehr verräterisch.

D’Homère à la rhétorique : un certain art du mensonge

Alain MALISSARD Université d’Orléans

Des origines de notre littérature à nos jours, en passant par les temps d’invention d’un art ou d’une technique du discours, la parole et les mots qui peuvent persuader l’auditoire ont le plus souvent suscité la méfiance. Le mensonge peut en effet toujours y prendre place. Cette méfiance est explicable, et souvent justifiée. Dans les textes fondateurs de la littérature occidentale, on trouve en effet toute une série de mensonges et même la condamnation d’un certain usage de la vérité.

Au temps de la guerre de Troie

Une série de mensonges

Le sacrifice d’Iphigénie Dès le début de l’expédition des Grecs contre Troie, la flotte rassemblée par Agamemnon dans le port d’Aulis attend en vain que le vent se lève. Consulté, le devin Calchas révèle qu’une offense a été faite à Artémis et que la déesse exige qu’Iphigénie, fille d’Agamemnon, lui soit sacrifiée. Le roi doit alors inventer un prétexte : il demande par lettre à son épouse Clytemnestre de venir avec sa fille et lui explique qu’Achille refuse de partir pour Troie, s’il n’épouse pas d’abord Iphigénie. C’est donc un mensonge qui rend possible le départ de la flotte. Ce ne sera pas le seul : le triomphe final des Grecs n’est rendu possible que par une série complexe de mensonges, dont nous ne retiendrons que deux exemples. 64 ALAIN MALISSARD

Philoctète et Néoptolème Avant de monter sur le bûcher1, Héraclès a donné à son ami Philoctète son arc et ses flèches qui atteignent toujours leur cible. Muni de ces armes efficaces, Philoctète part d’Aulis avec Agamemnon, mais il est, au cours d’une escale, mordu au pied par un serpent ; jointe à ses plaintes et à ses lamentations, sa blessure devient si malodorante et si effroyable sur le navire qui le transporte qu’Ulysse le fait débarquer dans l’île de Lemnos où il le laisse seul et abandonné. Des années de siège se passent sans que les Grecs obtiennent un résultat, Achille est mort, et le devin troyen Hélénos, fait prisonnier par Ulysse, confirme ce qu’avait dit déjà l’oracle de Delphes : Troie ne peut être prise sans les armes d’Héraclès. Leur récupération devient donc absolument nécessaire et Ulysse part pour Lemnos en compagnie du jeune Néoptolème, qui est le fils d’Achille. Dès qu’ils débarquent2, Ulysse explique à Néoptolème que c’est lui qui doit s’approcher de Philoctète et récupérer l’arc ; pour gagner la confiance du malade solitaire, il doit lui dire qu’après la mort d’Achille les Grecs l’ont fait venir à Troie, mais qu’ils ont refusé de lui donner les armes de son père, parce qu’Ulysse les avait d’abord exigées ; ce mensonge fera de lui un ennemi d’Ulysse, mettra Philoctète en confiance et il pourra se saisir des armes qui assureront la défaite des Troyens. A cette étape importante du récit, il s’agit à présent de faire mentir quelqu’un. Dans un premier temps cependant, Néoptolème refuse : « Que m’enjoins-tu donc là, si ce n’est pas mentir3 ? », demande-t-il. Dans la pièce de Sophocle, Néoptolème se laissera finalement convaincre, mais sera continuellement en lutte avec lui-même, car « ces vilains artifices4 » lui font horreur.

Le cheval de Troie L’histoire est trop connue pour y revenir. Qu’il suffise donc de dire que le cheval est en lui-même un objet trompeur. Il est le fruit de l’intelligence madrée d’Ulysse ; c’est une ruse de guerre, un mensonge-objet. En tant que piège, il ne pourra cependant fonctionner qu’au prix d’un étouffement de la vérité, ou qu’avec l’appui d’un mensonge exprimé par la parole. Le mensonge

1 Jalouse d’Iole, Déjanire, épouse d’Héraclès, lui a donné une robe empoisonnée par le sang du Centaure Nessus. La robe s’attache aux chairs d’Héraclès et lui cause d’atroces souffrances ; pour y mettre fin, Héraclès monte sur un bûcher et décide Philoctète, ou son père, à y mettre le feu. 2 Eschyle et Euripide avaient traité le sujet. Nous nous référons ici à la pièce de Sophocle qui seule a subsisté. 3 SOPHOCLE, Philoctète, trad. A. Dain, P. Mazon et J. Irigoin, Paris, Les Belles Lettres (Collection des Universités de France), 4e éd. revue 1990, v. 100. 4 Ibid., v. 88. D’HOMÈRE À LA RHÉTORIQUE : UN CERTAIN ART DU MENSONGE 65 sera celui de Sinon, sur lequel nous allons revenir en détail. Il nous faut en effet examiner d’abord quel sort les récits d’Homère réservent à la vérité.

Les malheurs de la vérité

À Troie Quand l’énigmatique idole se dresse devant Troie, Laocoon, prêtre de Poséidon, vient dire aux Troyens qu’il s’agit d’un piège ; pour le prouver, il frappe les flancs du cheval qui sonnent creux, mais les Troyens l’accusent de sacrilège et tiennent d’autant moins compte de ses avertissements que d’affreux serpents surgissent soudainement de la mer et viennent l’étouffer avec ses trois enfants. Rappelons aussi, sans qu’elle ait de rapport direct avec l’épisode du cheval, la présence à Troie de Cassandre, qu’Apollon, à qui elle s’est refusée, a condamnée à toujours dire la vérité sans être jamais crue. À Troie, en fait, la vérité est, soit étouffée, soit inaudible.

Ulysse Plus probant encore est le cas d’Ulysse. L’homme aux mille tours, le rusé, le menteur, le héros de la mètis5 grecque se laisse en effet prendre au piège de la vérité et contribue dans ce cas sans le vouloir à l’apologie du mensonge que portent en elles l’Iliade et l’Odyssée. Après avoir aveuglé le Cyclope et fait sortir de la grotte ceux de ses compagnons qui ont survécu, Ulysse s’éloigne de la terre à force de rames. Avec l’astuce qui le caractérise, il a d’abord dit au Cyclope qu’il s’appelait « Personne » ; maintenant qu’il est au large et à l’abri des énormes rochers que les Cyclopes ameutés jettent dans sa direction, il éprouve dans la joie de son succès le besoin de clamer son véritable nom : « Cyclope, si quelqu’un des mortels te demande jamais qui t’infligea la honte de te priver de l’œil, dis- lui que c’est Ulysse saccageur de cités qui te rendit aveugle, Ulysse, fils de Laërte, qui réside en Ithaque6 ». Mal lui en prend, car le Cyclope est le fils de Poséidon, auquel il s’adresse en demandant vengeance, et le dieu des mers ne manquera jamais de déclencher sur le Grec des tempêtes dévastatrices ! Dans les textes fondateurs de notre littérature et dans ceux qui en dérivent, c’est-à-dire au cœur même de la légende, on trouve donc à la fois une apologie du mensonge et une critique de la vérité. Le mensonge y est toujours justifié par l’intérêt collectif (c’est le cas d’Iphigénie et de Néoptolème) ou par les lois de la guerre (c’est le cas du

5 « Puissance de réflexion », pris au sens de « ruse », « artifice », voire de « perfidie ». 6 HOMÈRE, Odyssée, trad. nouv. de Mario Meunier, Paris, Albin Michel (Cercle du bibliophile), 1967, 9, v. 502-506. 66 ALAIN MALISSARD cheval de Troie) et il est en outre efficace : la flotte d’Agamemnon peut partir, l’arc et les flèches d’Héraclès sont récupérés, Troie tombe aux mains des Grecs. À cette apologie du mensonge s’ajoute une condamnation de la vérité. Dans l’épisode du cheval, inaudible ou étouffée, elle est imperceptible à un peuple aveuglé par les passions ; quand les Troyens, par exemple, déplacent le cheval, ils entendent, à quatre reprises, les armes cliqueter à l’intérieur, mais n’y prêtent aucune attention. Chez Ulysse, elle marque le passage de la mètis à l’ubris7 et apparaît nettement comme une manifestation d’orgueil et d’excès ; à l’inverse du mensonge, elle est irréfléchie, injustifiée, inefficace et même néfaste puisqu’elle engendre une série de catastrophes. De cette apologie du mensonge et de cette méfiance à l’égard de la vérité, la rhétorique se souviendra.

La persuasion par le mensonge

Pour analyser le fonctionnement du mensonge, examinons ses raisons dans la tragédie de Sophocle et ses méthodes dans l’épopée de Virgile.

Les raisons du mensonge : Néoptolème

On vient de voir que, dans un premier mouvement, Néoptolème rejette la méthode proposée par Ulysse. Pour ne pas recourir au mensonge, il propose deux solutions, soit utiliser la force8, soit user de persuasion ; Ulysse lui répond que l’emploi de la force est impossible, car l’arc et les flèches qui se trouvent entre les mains de Philoctète sont extrêmement dangereux ; en vieux routier rusé, il considère, « expérience faite », que « ce qui mène tout, c’est la langue et non les actes9 ». Pour Néoptolème cependant, on peut se servir de la langue et des discours sans mentir. User de la parole et des mots, c’est aussi rappeler l’enjeu à Philoctète, faire appel à la raison, expliquer, convaincre ou persuader, autrement dit partir de la vérité et rester dans le juste et le vrai pour atteindre l’objectif. Mais, aux yeux d’Ulysse, la haine de Philoctète pour les Grecs est trop violente ; pour déjouer sa fureur, il faut mentir et captiver son esprit ; Néoptolème doit « par [son] langage tromper l’âme de Philoctète10 ». Seul le mensonge sera efficace : il obtiendra un résultat et engendrera en outre un

7 « Démesure ». 8 Le recours à la force est souvent opposé à la persuasion. Dans le Gorgias, c’est, par exemple, ce que propose Calliclès : PLATON, Gorgias, texte établi et traduit par Alfred Croiset (avec la collaboration de Louis Bodin), Paris, Les Belles Lettres (Collection des Universités de France), 1949, 482c-486d. 9 SOPHOCLE, Philoctète, v. 99. 10 Ibid., v. 54-55 D’HOMÈRE À LA RHÉTORIQUE : UN CERTAIN ART DU MENSONGE 67 double profit : Néoptolème récupérera l’arc et gagnera la réputation de brave et d’adroit.

NÉOPTOLÈME.- Et tu ne vois rien de honteux à user ainsi de mensonges ? ULYSSE.- Certes non, quand mentir doit te sauver la vie. NÉOPTOLÈME.- De quel front cependant oser parler ainsi ? ULYSSE.- Quand on cherche un profit, on ne peut hésiter. NÉOPTOLÈME.- Quel profit ai-je donc à ce qu’il vienne à Troie ? ULYSSE.- C’est son arc seul qui peut être vainqueur de Troie. NÉOPTOLÈME.- Alors ce n’est plus moi qui dois la conquérir, comme vous le disiez ? ULYSSE.- Tu ne le peux sans l’arc, l’arc ne le peut sans toi. NÉOPTOLÈME.- Si c’est cela, il faut nous emparer de lui. ULYSSE.- Tu auras ainsi deux profits d’un coup. NÉOPTOLÈME.- Si je savais lesquels je n’hésiterais plus. ULYSSE.- On te dira aussi adroit que brave. 11 NÉOPTOLÈME.- C’est bien ; j’agirai donc en laissant tout scrupule.

Séduit par les arguments d’Ulysse, Néoptolème accepte le principe du mensonge et saura même se montrer très éloquent ! Cette éloquence est plus sensible encore dans le discours que Virgile place dans la bouche de Sinon au chant deux de l’Énéide12.

Les méthodes du mensonge : le discours de Sinon

Ayant décidé de prendre Troie par la ruse, les Grecs ont fait semblant de renoncer au siège et ont laissé devant les murs de Troie un gigantesque cheval de bois dont les flancs cachent un commando de guerriers commandés par Ulysse, l’auteur du projet. Tout à leur joie, les Troyens sortent de la ville, se rassemblent autour du cheval et se demandent ce qu’ils doivent faire : faut-il le jeter à la mer, le brûler, en percer les flancs ou l’installer dans la ville en signe de victoire ? Comme on l’a vu, le cheval est un mensonge-objet qui a besoin du discours pour fonctionner. Virgile a donc créé un personnage, Sinon, un Grec plein de charme qui se fait passer pour une victime d’Ulysse et va persuader les Troyens de faire entrer le cheval dans la ville en abattant une partie de leurs remparts ; des bergers, auxquels il vient de se livrer spontanément le traînent aux pieds de Priam et Virgile place son discours dans le long récit qu’Énée fait à Didon de ses malheurs et de la chute de Troie. Il y a en fait deux prises de parole de Sinon, la seconde étant beaucoup plus courte que la première. Elles suivent, l’une et l’autre, une organisation générale du discours, dont le plan a été tracé très tôt13 ; on y trouve donc un

11 Ibid., v. 108-120. 12 VIRGILE, Énéide, texte établi par Henri Goelzer et René Durand et traduit par André Bellessort, Paris, Les Belles Lettres (Collection des Universités de France), 1970, 2, 57-198. 13 Voir Françoise DESBORDES, La rhétorique antique, Paris, Hachette, 1996, p. 80-84. 68 ALAIN MALISSARD exorde, une captatio benevolentiae, une narration, une argumentation, une péroraison.

Premier discours (vers 69 à 144) Captatio benevolentiae (69-80). Elle consiste pour Sinon à capter par ses plaintes l’attention des Troyens rassemblés autour du cheval. Dès qu’on l’écoute, il se calme et, parlant de lui-même à la troisième personne, il se met en quelque sorte à la place de ses auditeurs : « Si la Fortune a fait de Sinon un malheureux, elle ne fera pas de lui, dans son acharnement, un menteur et un fourbe14 ». Dans l’esprit des Troyens, encore indécis et soupçonneux, Sinon glisse ainsi l’idée que sa situation est telle qu’il ne peut dire que la vérité. Commence alors la narration de ses malheurs. Première narration (8-100). Le récit, assez bref, mais pathétique, présente Sinon comme une victime du ressentiment d’Ulysse. Interruption (100-104). Avec une très grande habileté rhétorique, Sinon interrompt brutalement son récit et déclare soudainement que les Troyens ne sont pas obligés de l’écouter ; puisqu’il est Grec, ils peuvent le tuer tout de suite : « voilà ce que voudrait l’homme d’Ithaque et que les Atrides paieraient cher15 », déclare-t-il. À ce moment de la narration les Troyens sont piégés : le tuer serait ne jamais avoir la fin du récit, mais ce serait surtout faire ce que voulaient précisément faire les Grecs ; ils se trouvent donc en quelque sorte contraints d’écouter la suite du discours et déjà d’y ajouter foi. Reprise de la narration (105-136). Dans cette seconde partie de la narration, Sinon révèle que les Grecs ont depuis longtemps le désir de lever le siège et de rentrer chez eux. Pour que la mer leur soit favorable, l’oracle de Delphes leur a demandé de sacrifier un des leurs à Poséidon et c’est lui, Sinon, que, sur les conseils d’Ulysse, Calchas a fini par désigner ! Aux Grecs, il faut ainsi Iphigénie pour partir et Sinon pour revenir ! Mais lui s’est caché et c’est pourquoi il se trouve maintenant, misérable, devant eux. Péroraison (137-144). Dans le style pitoyable et grandiloquent qui est caractéristique des péroraisons, Sinon évoque sa patrie, ses enfants, son père, sa propre situation et fait appel à la pitié des assistants ; il ne leur donne cependant aucun conseil. Il faut en effet que leur confiance naisse de l’émotion qu’il fait ainsi surgir en eux. Comme dans tout discours conduit selon les règles, la fin rejoint le début : Sinon n’est pas un menteur ; il exprime une vérité dont les Dieux peuvent se montrer garants, et c’est eux qu’il invoque à nouveau quand il implore la pitié de Priam : « par les dieux d’En Haut, par les Puissances divines qui savent la vérité, par ce qu’il y a encore chez les mortels de justice inviolée, je t’en supplie, aie pitié de si grandes épreuves, aie pitié d’un cœur qui ne les méritait pas16 ! »

14 VIRGILE, Énéide, v. 79-80. 15 Ibid., v. 104. 16 Ibid., v. 140-144. D’HOMÈRE À LA RHÉTORIQUE : UN CERTAIN ART DU MENSONGE 69

Deuxième discours (vers 154 à 194) Après la brève intervention de Priam (145-153), les Troyens sont persuadés que Sinon dit vrai ; il peut donc, dans un second discours, moins long, mais décisif, parvenir à son objectif final qui est d’amener les Troyens à percer leurs remparts pour faire entrer le cheval dans la ville. L’exorde (154-161) excite la curiosité : Sinon va produire au grand jour ce qui devait rester caché, mais, en échange des vérités qu’il va rapporter, il demande à Troie de rester fidèle à ses promesses : « Toi seulement, ville de Troie, sois fidèle à tes promesses et, gardée par moi, garde moi ta parole si je te dis la vérité17. » La narration (162-184) explique les raisons pour lesquelles les Grecs ont placé le cheval devant Troie : c’est une offrande que les Grecs font à Pallas en expiation du vol du Palladium18. L’argumentation finale (185-194) révèle que Calchas a voulu que le cheval soit gigantesque, afin qu’il ne puisse pas entrer dans Troie. Les Troyens ne doivent pas faire ce que voulaient les Grecs : ils doivent donc faire entrer le cheval dans la ville. Ainsi se trouve réalisé ce qui était l’objet même d’un long discours : la confiance a été établie, les Troyens prennent pour vrai ce qui est faux et passent à l’action. Une fois de plus, le mensonge est efficace.

La conscience du mensonge

Dans les deux exemples que nous avons cités apparaît cependant une sorte de critique du mensonge qui s’exprime sous deux formes : le remords et l’intervention du narrateur. Dans la tragédie de Sophocle d’abord, Néoptolème se reproche d’avoir menti. Il finira par dire la vérité à Philoctète et essaiera de le convaincre. Toute la tragédie se présente ainsi comme une réflexion sur le mensonge, et on a pu dire que le conflit tragique n’est pas entre deux individus, mais dans le cœur ou l’âme d’un seul19. Une fois de plus, cependant, la vérité n’est pas efficace : Philoctète s’obstine dans son refus et l’aveu de Néoptolème conduit à une aporie. Pour respecter la légende et la tradition, Sophocle doit donc recourir à un deus ex machina et faire intervenir Héraclès, qui ordonne à Philoctète de partir avec Ulysse et Néoptolème pour participer au siège de Troie. Chez Virgile, le discours de Sinon est contenu dans le discours d’Énée qui peut l’interrompre et le commenter pour signaler le mensonge ; les mots « traître », « scélérat », « menteur », « ruse » et « artifice » viennent ainsi

17 Ibid., v. 160-161. 18 Le Palladium (ou Palladion) est une statue de Pallas-Athéna dont, au cours d’une expédition sanglante au cœur de Troie, Diomède et Ulysse s’étaient emparés pour la transporter dans le camp des Grecs. 19 SOPHOCLE, Philoctète, notice p. 4-5. 70 ALAIN MALISSARD marquer les étapes d’un discours dont ils démontent les artifices et les méthodes en même temps qu’ils les reproduisent. Le mensonge est donc dénoncé, mais il a été efficace, puisque les Troyens sont aveuglés à tel point qu’ils n’entendent pas le cliquetis des armes à l’intérieur du cheval quand il bute sur un obstacle au cours de son déplacement vers l’intérieur de Troie. D’un point de vue moral, Sophocle et Virgile condamnent tous deux le mensonge, mais ils savent, le premier, parfaitement le justifier, le deuxième, parfaitement le faire fonctionner. Ils en connaissent et en reconnaissent l’efficacité et savent aussi que le mensonge réussi devient la vérité de celui qui l’écoute et le croit ; ils utilisent, l’un et l’autre, l’ambiguïté de la parole. C’est que Sophocle écrit Philoctète en 409 et Virgile l’Énéide à la fin du premier siècle avant J.-C. Ils ont donc été formés, l’un et l’autre, à la rhétorique et à la sophistique qui leur ont montré que toute parole, tout discours, tout logos, est double. Les deux exemples que nous avons choisis nous engagent donc à poser la question de l’usage que la rhétorique peut faire du vrai et du faux.

La rhétorique antique : mensonge et liberté

La rhétorique et les Sophistes, qui peuvent être confondus sur le plan politique, sont nés en Sicile grecque au moment de la chute des Tyrans, c’est- à-dire en même temps que la démocratie. La démocratie rend en effet nécessaire de convaincre le peuple, assemblé pour décider des lois, ou les juges qui doivent dire le droit, les deux n’ayant rapidement fait qu’un à Athènes, puisque c’est le peuple qui exerce la justice20. L’apparition de la rhétorique marque en fait le passage d’une parole sacralisée à une parole-dialogue21. La parole sacralisée du chef, du prêtre, du devin, voire du Dieu lui-même, était détentrice d’une vérité efficace (alètheia) qu’on ne pouvait oublier (a-lèthè)22 ; la parole-dialogue propose au contraire une vérité marquée d’ambiguïté23. La parole sacralisée du prêtre baignait en effet dans la lumière de l’évidence ; elle tirait son efficacité de la confiance (pistis) qu’elle engendrait naturellement ; la parole-dialogue au contraire recèle une part d’ombre ; elle ne produit pas spontanément la confiance, mais cherche à l’obtenir : elle doit convaincre. On passe ainsi de la pistis, qui est confiance en la parole, à la peitho qui est charme et séduction par la parole (timbre de la voix, choix des mots, phrasé, etc.). Or, pour

20 Voir DESBORDES, Rhétorique, p. 14-16. 21 Marcel DETIENNE, Les Maîtres de Vérité dans la Grèce archaïque, Paris, Le Livre de Poche (collection Références), 2006 [1re éd. Maspéro, 1967], p. 178-183. 22 Ibid., p. 79-82. 23 Ibid., p. 144-151 et 203-209. D’HOMÈRE À LA RHÉTORIQUE : UN CERTAIN ART DU MENSONGE 71 convaincre, la peitho peut, soit soutenir l’alètheia, soit user de l’apatè (tromperie)24. Avec la rhétorique, aussitôt définie comme un art de convaincre par la parole, le logos se fait autonome et forge ses propres lois ; la parole devient un instrument dont des procédés divers et des techniques (technè) vont favoriser l’utilisation. Le rhéteur et le sophiste sont des techniciens du logos25. Sans aller plus loin dans le détail, trois questions peuvent alors se poser : celle de l’ambiguïté du discours, celle de l’utilisation du mensonge et celle de la liberté qu’apporte la parole-dialogue quand on la confronte à la parole sacralisée.

Ambiguïté et identité

Dans le cadre de la démocratie, qu’il s’agisse d’adopter une loi ou de rendre un jugement, il y aura nécessairement devant le peuple un pour et un contre. Le juge, par exemple, devra entendre la défense et l’accusation du prévenu, mais, pour qu’il puisse appliquer la loi, il faudra qu’il distingue le vrai du faux, la parole vraie de la parole fausse. Or rien ne distingue un discours vrai d’un discours faux ; ils sont totalement et parfaitement identiques26. En participant à un colloque, je déclare que je suis heureux d’être devant mes auditeurs, mais si je mens, je prononce les mêmes mots. À chacun de juger ! Dans le cas du peuple-juge, la décision d’acquitter ou de condamner ne peut donc être prise qu’en conséquence de l’effet produit sur l’auditeur par un discours qui peut, soit contenir la vérité, soit dissimuler le mensonge, puisqu’il n’existe dans l’Antiquité, ni expert, ni véritable possibilité d’investigation. L’opinion, puis la décision du juge ne sont alors commandées ou déterminées que par la force et la qualité du discours qu’on lui adresse et l’orateur habile peut aussi bien convaincre du vrai que du faux. Le juge devient son esclave ; il dépend du choix et de la liberté de l’orateur. C’est ce que dit Gorgias :

SOCRATE.- […] Fais-nous connaître quelle est cette chose que tu dis être pour l’homme le plus grand des biens, et que tu fais profession de produire. GORGIAS.- C’est celle qui est réellement le bien suprême, celle qui donne à qui la possède la liberté pour lui-même et la domination sur les autres dans sa patrie. SOCRATE.- Mais enfin qu’entends-tu par là ? GORGIAS.- J’entends le pouvoir de persuader par le discours les juges au tribunal, les sénateurs au Conseil, le peuple dans l’Assemblée du peuple et de même dans toute autre réunion qui soit une réunion de citoyens…27

24 Ibid., p. 125-133 et DESBORDES, Rhétorique, p. 10. 25 DETIENNE, Les Maîtres de Vérité, p. 181-182 et 206 ; DESBORDES, Rhétorique, p. 31-37. 26 DESBORDES, Rhétorique, p. 17-18 et 173-174. 27 PLATON, Gorgias, 452 d-e. 72 ALAIN MALISSARD

À partir du moment où Platon s’est attaqué aux Sophistes tels que Gorgias ou Protagoras, cette duplicité du logos, cette identité dans l’expression de la vérité et du mensonge, a été chez les anciens Grecs, puis Romains, une source continuelle de débats moraux. On a essentiellement accusé la rhétorique d’être un art de persuader par le mensonge.

Un art du mensonge ?

La question ne peut que se poser car la tentation est forte, devant une assemblée ou un juge, de mentir pour faire valoir son point de vue ou pour sauver son client. Les Sophistes grecs et les logographes, dont le métier était d’écrire des discours, estimaient d’ailleurs qu’on peut par la parole faire exister ce qui n’est pas. Le fait est qu’à Rome, après cinq siècles d’existence et de perfectionnement de la rhétorique, l’usage du mensonge et l’indifférence à la vérité sont devenus monnaie courante. Dans De Oratore de Cicéron, le grand orateur Antoine, qui s’apprête à exposer sa conception de l’éloquence, déclare ainsi, d’une manière moins cynique que pragmatique :

[…] [N]ous-mêmes il nous arrive de soutenir alternativement des causes toutes contraires. Ainsi, non seulement Crassus parlera contre moi, ou moi contre Crassus, quoique l’un de nous deux doive nécessairement avoir tort ; mais quelquefois même l’un de nous deux, après avoir soutenu un parti dans une cause, soutiendra le parti contraire dans une cause pareille ; et cependant la vérité est toujours une. J’ai donc à vous entretenir d’une chose qui est appuyée sur le mensonge, qui conduit rarement à la vérité […]28

Dans le même ouvrage, Cicéron lui-même, qui se fait pourtant de la rhétorique une idée plus haute et plus noble, reconnaît cependant, à propos des portraits à charge qu’on peut faire et de la raillerie : « qu’il ne faut pas se faire scrupule d’enchérir un peu sur la vérité en recourant à de petits mensonges (mendaciunculis)29 ». Ailleurs, il défend le droit qu’a un orateur de se contredire en rappelant que l’orateur ne parle pas selon sa conscience, mais selon la cause qu’il défend, et Marcus Antonius ne donnait jamais le texte écrit de ses discours afin de pouvoir au besoin les désavouer30. Quintilien enfin, qui soutient pourtant que « là où la cause est injuste, il n’y a pas de rhétorique31 », ajoute quelques lignes plus bas : « bien que l’orateur

28 CICÉRON, De l’orateur, traduit sous la direction de M. Nisard, Paris, Dubochet, 1840, t. 2, 2, 7, 30. 29 Ibid., 2, 59, 241. 30 CICÉRON, Pour Cluentius, traduit sous la direction de M. Nisard, Paris, Dubochet, 1840, t. 2, 50, 140. 31 e QUINTILIEN, Institution oratoire, éd. et tr. par Jean Cousin, 3 tirage revu et corrigé par Guy Achard, Paris, Les Belles Lettres (Collection des Universités de France), 1976, t. 2, 2, 17, 31. D’HOMÈRE À LA RHÉTORIQUE : UN CERTAIN ART DU MENSONGE 73 doive très souvent s’appliquer à défendre la vérité, il n’en est pas toujours ainsi : l’intérêt public exige parfois qu’il soutienne aussi le faux32. » C’est qu’à Rome, et sans doute à Athènes aussi, les rhéteurs et les écoles de rhétorique n’enseignaient pas à parler selon sa conscience et à défendre ce qui était juste et vrai. Privilégiant toujours le résultat à obtenir et l’efficacité du discours, ils ne reculaient pas devant l’utilisation du mensonge persuasif et déconseillaient souvent l’usage d’une vérité qui pouvait être autodestructrice. Triompher, par exemple, dans une cause honteuse ou douteuse, donc difficile, était un moyen presque recommandé de se faire un nom et d’assurer sa notoriété. Au temps des Sophistes grecs, comme au temps des avocats et des hommes politiques romains, la rhétorique a donc toujours pu être justement accusée de ne pas se préoccuper prioritairement de justice et de vérité, et de trop souvent mettre le talent au service du mensonge.

Une marque de la liberté ?

Pour sa défense, l’art oratoire pourrait répondre qu’il laisse le choix entre la vérité et le mensonge, parce qu’il est une expression de la liberté. La rhétorique est en effet une production et une conséquence de la démocratie ; née à Athènes en 510 av. J.-C., après la chute du tyran Hippias, fils de Pisistrate, qui marque le début du processus de démocratisation33, elle prospère à Rome avec la République ; à Athènes, elle disparaît pendant le bref épisode des Trente tyrans (404-403 av. J.-C.) ; à Rome, elle s’étiole sous l’Empire. La critique des Sophistes que contient le Gorgias de Platon recèle déjà une critique implicite de la démocratie, et l’avocat historien Tacite, qui écrit sous le règne de l’empereur Trajan (81 ap. J.-C.) peut faire dire à Maternus, dans le Dialogue des orateurs :

[…] Cette grande et glorieuse éloquence d’autrefois est la fille de la licence, que des sots vont appelant liberté, la compagne des séditions, l’aiguillon d’un peuple sans frein ; ne connaissant pas l’obéissance ni le sérieux, opiniâtre, téméraire, arrogante, elle ne naît pas dans les États doués d’une sage constitution34.

C’est que, si la démocratie a en quelque sorte transformé la parole sacralisée en parole-dialogue, la rhétorique a transformé la parole-dialogue en une parole contradictoire nécessaire au débat et à la réflexion sur le juste et l’injuste, et c’est dans cette possibilité de contradiction, offerte par la liberté, que se glissent la tentation et la possibilité du mensonge.

32 Ibid., 36. 33 DESBORDES, Rhétorique, p. 11 et p. 14-15. 34 TACITE, Dialogue des Orateurs, texte établi par Henri Goelzer et traduit par Henri Bornecque, Paris, Les Belles Lettres (Collection des Universités de France), 1967, 40, 2. 74 ALAIN MALISSARD

Supprimer cette possibilité de contradiction et ne pas assumer le risque du mensonge, c’est soit rêver d’une parole-dialogue qui n’unirait que des complémentaires, soit accepter de revenir à la parole sacralisée qui deviendrait en fait la parole d’un seul, légitimée par le peuple. C’est d’ailleurs ce que dit Maternus quand il ajoute :

[…] Les honneurs accordés aux orateurs sont moins grands et leur gloire moins éclatante quand les mœurs des citoyens sont bonnes et qu’ils sont disposés à écouter le chef. À quoi bon développer son avis au Sénat, puisque l’élite des citoyens y tombe vite d’accord ? À quoi bon accumuler les discours devant le peuple, puisque, sur les intérêts publics, ce ne sont pas des incompétents et la foule qui délibèrent, mais le plus sage des hommes tout seul ?35

Commencé à l’époque des Sophistes et de Platon, le débat dure encore et nous ne pouvons ici que poser le problème. Disons seulement pour conclure que c’est l’honneur d’une démocratie de laisser le champ libre aux débats et méfions-nous d’une condamnation sans nuance des risques du mensonge qui pourrait conduire à confisquer la parole au profit, en effet, d’un seul, réputé si sage ou reconnu si populaire qu’il serait considéré comme l’unique détenteur de la vérité. Le mensonge est le risque de la liberté.

35 Ibid., 41, 4. Ars est artem celare – Die Lüge als rhetorische Kunst betrachtet

Gert UEDING Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Dass wir lügen – dieser Vorwurf ist Dichtern und Rednern gleicherweise gemacht worden, in der Regel auch von denselben Autoren: von Philosophen zumal aber auch von Kirchenvätern, in der Moderne von Wissenschaftlern, die sich als exakt definieren. Die Dichter konnten damit zumeist gut leben, das Erfreuen und Bewegen (delectare und movere) blieb ihnen allemal und nützen (prodesse) konnten sie auch auf dem Wege scheinhafter Vorspiegelung, insofern das Lügen und dessen Folgen ein lehrreiches Thema von Komödie und Tragödie gleichermaßen blieb. Aber für die Rhetorik ging es um’s Ganze, da ihrem Selbstverständnis als die Wissenschaft, auf überzeugende Weise gut zu reden, mit dieser Beschuldigung pauschal widersprochen wurde. Platon war, wie bekannt, ihr erster prominenter Vertreter und die spitzfindigste (um nicht zu sagen: sophistische) Begründung gab er in den Dialogen Gorgias und Sophistes, unbeschadet der Tatsache, dass Sokrates den Alten selber als Vertreter sophistischer Redekunst galt, wie man sehr schön Xenophons Dialogen entnehmen kann. Den platonischen Sokrates hinderte das natürlich nicht, die Rhetorik generell unter Lügenverdacht zu stellen, sie als Schattenbild eines Teils der Staatskunst sogar böse zu nennen.1 Sie sei dem Bürger bloß gefällig, spreche dem Volke nach dem Munde, gebe den Schein für Wahrheit aus2 und stütze sich auf bloße Meinungen, noch dazu in trügerischer Absicht.3 Diese Vorwürfe sind jahrhundertelang durch die anti-rhetorische Literatur Europas gewandert, wurden oft wörtlich, wie z.B. von Immanuel Kant in der Kritik der Urteilskraft4, übernommen oder nur geringfügig variiert.

1 PLATON, Sämtliche Werke in 3 Bänden, übers. von Friedrich Schleiermacher, Berlin, o.J., Bd. 1, S. 217 (463bff). 2 Ibid., Bd. 4, S. 204 (233b ff). 3 Ibid., Bd. 4, S. 234f (267a ff). 4 Immanuel KANT, Kritik der Urteilskraft, Hamburg, Meiner, 1959, S. 183ff. 76 GERT UEDING

Jeden Leser des Gorgias- oder Sophistes- Dialogs muss es erstaunen, dass Platon aber seinerseits den Grundriss einer Rhetorik formuliert, die nun alle die fundamentalen Mängel nicht besitzen soll, die er vorher kritisiert hat. Es gelingt ihm durch einen Trick und durch die Depontiierung der Redekunst. Wer die Wahrheit suche sei bei der Philosophie an der einzig richtigen Adresse, da sie „die wahre Beschaffenheit eines jeden Dinges“5 erkennen könne. Für die lehrende Vermittlung des „Gerechten, Schönen und Guten“6 wäre dann die Rhetorik gut genug, die damit in didaktischer Funktion aufgeht. Adorno hat diesen Trick als eine Selbsttäuschung der Philosophie offengelegt, und zwar schon in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, als die Wiederentdeckung der Rhetorik erst zaghaft begonnen hatte. „Durch die sei’s offenbare, sei’s latente Gebundenheit an Texte“, schreibt er in seiner Negativen Dialektik,

gesteht die Philosophie ein, was sie unterm Ideal der Methode vergebens ableugnet, ihr sprachliches Wesen. In ihrer neueren Geschichte ist es, analog der Tradition [womit Platon und die Folgen angedeutet sind], verfemt worden als Rhetorik. Abgesprengt und zum Mittel der Wirkung degradiert, war es Träger 7 der Lüge in der Philosophie.

Nun, es gab Ausnahmen, und wir wollen sie gerade heute im Rahmen unseres Themas, nicht vergessen. Die früheste und was ihre historische Wirksamkeit als Gegenbewegung gegen Platon betrifft, auch die bedeutendste Ausnahme repräsentiert die Rhetorik seines Schülers Aristoteles. Der rettete die rhetorische Disziplin nun nicht, wie Adorno vorschlägt, geradewegs über die Abhängigkeit der Philosophie von Sprache, sondern über den ihr eigenen Gegenstandsbereich:

Sie beschäftigt sich aber mit solchen Dingen, welche Gegenstand unserer Beratung sind, für die wir aber keine systematischen Wissenschaften besitzen, und vor solchen Zuhörern, die nicht in der Lage sind, vielerlei mit einem Blick zusammenzufassen und weitreichende logische Schlüsse zu ziehen. Aber wir beraten nur über solche Dinge, welche sich allem Anschein nach auf zweierlei Weise verhalten können: Denn über das, was nicht anders sein, werden oder sich verhalten kann, beratschlagt niemand, sofern er annimmt, daß es sich so verhält: 8 das bringt ja nichts mehr ein.

Das ist der erfrischend praktische Blick, der Aristoteles so auszeichnet, weil er in keine praktizistische Verengung führt, sondern das ganze weite Problemfeld des menschlichen Handelns für das Denken, die theoretische Reflexion zugänglich macht. Auf diese Weise wird die Rhetorik zu dem Vermögen „bei jedem Gegenstand das möglicherweise Glaubenerweckende zu erkennen“ und öffentlich zu vertreten.9 Ist damit aber auch jener

5 PLATON, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 57 (277b). 6 Ibid., Bd. 4, S. 58 (278a). 7 Theodor W. ADORNO, Negative Dialektik, Frankfurt /M., Suhrkamp, 1970, S. 65. 8 ARISTOTELES, Rhetorik, München, W. Fink, 1980, S. 16 (1357a). 9 Ibid., S. 12 (1355b). DIE LÜGE ALS RHETORISCHE KUNST BETRACHTET 77

Lügenverdacht abgewendet, den Platon so entschieden erhob? Keineswegs, ja man könnte sogar auf die Idee kommen, dass er an Brisanz zugenommen hat. Die Formulierung („das möglicherweise Glaubenerweckende“) ist doch, sagen wir es etwas flapsig: watteweich, zumindest aber vorsichtig. Intersubjektive Gültigkeit erscheint danach für rhetorische Aussagen zumindest zweifelhaft. Aristoteles musste eine Möglichkeit finden, sie verbindlich zu machen. Das war nach der sophistischen Aufklärung schwierig geworden, die Götter konnte man dafür nicht mehr aus dem philosophischen Maschinenboden holen. „Von den Göttern vermag ich nichts festzustellen, weder, daß es sie gibt, noch, was für eine Gestalt sie haben.“10 Das ist Protagoras, der bedeutendste Theoretiker der Rhetorik vor Aristoteles. Und er ist auch vor der daraus folgenden Konsequenz nicht zurückgeschreckt, dass nämlich in allen Fragen des Wissens keine andere Instanz zu entscheiden hat als der Mensch selber, er ist der Maßstab jeder Erkenntnis – so der Sinn des vielbesprochenen „Homo-mensura“-Satzes.11 Die platonischen Rückzugsgefechte (Wahrheit kommt allein den Ideen zu) waren für Aristoteles nicht mehr als eben das. Er sah sie als Verlegenheit und aus dieser Verlegenheit heraus gelang ihm eine großartige Entdeckung. In einem ersten Schritt erklärte er für die Allgemeingültigkeit rhetorischer Aussagen die Adressaten (die Polisbürger) für zuständig, kehrte also das bisherige Schema um, das darin bestand, die Beweislast nach außen (an die Götter oder die Ideen) zu delegieren. Zweitens gewann er durch diese Umkehrung ein zuverlässiges Instrument der Überzeugung. Lassen wir ihn selber sprechen. Wann nämlich, so befragt er die Erfahrung erscheint ihnen, den Adressaten, eine Aussage überzeugender, wahrscheinlicher als eine andere? Das ist dann der Fall, wenn sich auf jene Sätze bezieht, „die Allen oder den Meisten oder den Weisen wahr scheinen, und auch von den Weisen entweder Allen oder den Meisten oder den Bekanntesten und Angenehmsten.“12 In dieser Form setzt Aristoteles seine bis heute virulente Entdeckung an den Anfang der Topik, der Schrift also, in der er die rhetorischen Schlussverfahren untersucht. Mit anderer Wendung werden wir ihr nochmals begegnen, in politischem Zusammenhang nämlich, wo auch die fragwürdige (des Fragens würdige) Seite dieses auf Konsens beruhenden Gültigkeitsprinzips diskutiert und einer wiederum überraschenden Lösung zugeführt wird. Für den gegenwärtigen Zusammenhang wird eine anthropologische Annahme wichtig. Aristoteles bindet nämlich den Sinn für das „Wahre und Gerechte“ an die Natur, wenn er sagt, sie, das Wahre und Gerechte, seien von Natur aus stärker als das Gegenteil, womit er die dem Menschen eigentümliche Natur in ihrem Zusammenhang von Körper und Geist, physis

10 Protagoras, in Wilhelm Alfred CAPELLE, Die Vorsokratiker, Stuttgart, Kröner, 1963, S. 333. 11 Ibid., S. 327. 12 ARISTOTELES, Topik, Hamburg, Meiner, 1992, S. 1 (100b). 78 GERT UEDING und logos, meint.13 Auch an dieser Stelle nimmt Aristoteles Gedanken der vorplatonischen und sophistischen Anthropologie auf, in der Bildung und Erziehung als eine in der Linie der Naturanlage liegende Vervollkommnung, nicht etwa Entfremdung gefasst wurden. Ich zitiere als ein Beispiel ein Diktum Demokrits: „Natur und Erziehung sind etwas Ähnliches. Denn die Erziehung formt zuvor den Menschen um, aber durch diese Umformung schafft sie Natur.“14 So erhalten wir den Grund für die Überzeugungskraft alles Natürlichen, dafür also, dass die Natur zum Beweistopos für alle möglichen Zweifelsfragen bis in politische Werbung und Propaganda unserer Gegenwart werden konnte, und ihr Gegenteil, die Unnatur, das Gemachte, Gefertigte, Technische sich mit geringerer Überzeugungskraft begnügen musste. Dass es in der Rhetorik dann gerade das pragmatische Herstellen im Vollzug der Regeln, also die ars ist, die dem Adressaten eine Sache zur natürlichen macht, kommt in dem paradoxen Grundsatz zum Ausdruck, den ich als Titel gewählt habe: ars est artem celare. Er ist viel älter als seine lateinische Formulierung. So versteht es sich für Aristoteles, dass die Téchné, also die Kunstfertigkeit nach der Natur sich richtet und zusammen mit entsprechender Bildung (paideía) „nur die Lücken ausfüllen soll, welche die Natur noch gelassen hat.“15 Wir dürfen uns das ruhig wie bei einem Bilde vorstellen, in dem die Kunst das, was noch fehlt, ganz natürlich einträgt. Oder auf die Rede bezogen: „Daher ist es erforderlich, die Kunstfertigkeit anzuwenden, ohne daß man es merkt und die Rede nicht als verfestigt, sondern als natürlich erscheinen zu lassen – dies nämlich macht sie glaubwürdig […].“16 Und dann folgt an dieser Stelle noch eine Ergänzung, die wir für meine weitere Gedankenführung jetzt schon im Kopfe behalten sollten. Wenn die Technik der Herstellung (hier dürfen wir den Ausdruck „Technik“ verwenden, weil er in diesem Kontext schon die Bedeutung annimmt, die uns heute geläufig ist) wenn also die Technik sichtbar, vielleicht dominierend erscheint, dann macht das die Rede unglaubwürdig, „denn die Zuhörer nehmen wie gegen jemanden, der etwas im Schilde führt, Anstoß daran […].“17 Müssen wir diesen Schein der Natürlichkeit, der durch das Verbergen der Kunst zustande kommt, jetzt aber nicht als eine Lüge bezeichnen, da ja täuschende Absicht dahinter steht und der Redner sich dessen sehr wohl bewusst ist? Ich komme jetzt zu einem weiteren und zwar höchst wichtigen Diskussionspunkt. Dem Redner geht es nicht um wahre Erkenntnis, sondern um glaubwürdige, überzeugende Wirkung. Indem er (um es an den partes orationes zu illustrieren) dem natürlichen Redeaufbau folgt und z.B. die Einleitung nicht mitten in die Argumentation oder die peroratio, die

13 ARISTOTELES, Rhetorik, S. 10 (1355a). 14 Ibid., S. 11 (1355b). 15 Demokritos, in Hermann DIELS, Walther KRANZ (Hrsg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin, Weidmann, 1951, Bd. 2, S. 68 (B 33). 16 ARISTOTELES, Politik, Reinbek, Rowohlt, 1994, S. 339 (1337a). 17 ARISTOTELES, Rhetorik, S. 170. DIE LÜGE ALS RHETORISCHE KUNST BETRACHTET 79

Schlussrede, an den Anfang stellt, auch in seinem Redefortgang keine Stockungen oder Umkehrungen zulässt, weil die Natur keine Sprünge kennt, bewirkt er eine Glaubhaftigkeit, die für den Adressaten überzeugungskräftiger ist als das Abweichen vom natürlichen Gang der Rede. Die bleibt aber, wie sehr auch immer sie sich an der Natur orientieren mag, Sprachwerk; niemals kann ihr gelingen, was man an Zeuxis rühmte, der auf einem Bilde die Weintrauben so natürlich gemalt hatte, dass lebendige Tauben danach pickten. (Was Hegel zu der treffenden Bemerkung veranlasste: „anstatt Kunstwerke zu loben, weil sie sogar Tauben […] getäuscht, gerade nur die zu tadeln sind, welche […] nur eine so niedrige Wirkung […] als das Letzte und Höchste zu prädizieren wissen.“)18 Ich wiederhole es: indem die Rede Sprachwerk ist, kann ihre Wirkung auch nicht über die der Sprache mögliche hinausgehen. Adornos philosophiekritische Bemerkung zielte schon in diese Richtung. Deren Quintessenz war schon sehr früh rhetorischer Gemeinbesitz. Eines der ersten Zeugnisse stammt von dem völlig zu Unrecht von Platon verlästerten Gorgias aus Leontinoi. „Denn was man sah, wie sollte man dies durch Rede aussprechen? […] Und es spricht, wer spricht – aber nicht eine Farbe und auch kein Ding.“19 Diese Stelle aus dem Fragment über das „Nichtseiende“ ist auch deshalb interessant, weil sie wohl die Sprachtheorie des frühen Nietzsche mit inspiriert, vielleicht angestoßen hat. Bei Worten komme es „nie auf die Wahrheit an“20, ist ja seine These. Dann folgt die Begründung: „Ein Nervenreiz wird zuerst übertragen in ein Bild! Erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einen Laut! Zweite Metapher.“21 In Metaphern formt Sprache aber nichts anderes als Eindrücke nach. „Nicht die Dinge treten ins Bewusstsein“, so lautet an anderer Stelle das konzise Resümee ganz nach Gorgias‘ Vorgabe, „sondern die Art, wie wir zu ihnen stehen“22. Oder mit anderen Worten: unsere Meinung über sie.23 Womit ich nach einem kleinen Umweg wieder bei der Hauptsache gelandet bin. Denn die Rhetorik hat es mit Meinungen zu tun, nicht mit Wissen, das ist schon in der Definition enthalten, die ich anfangs ausführlich zitierte, und in der Aristoteles hervorhob, dass nämlich von rhetorischem Belang „nur solche Dinge [sind], welche sich allem Anschein nach auf

18 Ibid. 19 Georg Wilhelm Friedrich HEGEL, Ästhetik, Hg. v. F. BASSENGE, 2 Bde., Frankfurt/ M., o.J., Bd. 1, S. 52. 20 Gorgias von LEONTINOI, Reden, Fragmente und Testimonien, Hamburg, Meiner, 1989, S. 51. 21 Friedrich NIETZSCHE, Ueber Wahrheit und Luege im außermoralischen Sinne, in Friedrich NIETZSCHE, Kritische Studienausgaben in 15 Bänden, München, Dtv, 1999, Bd. 1, S. 879. 22 Ibid., S. 879. 23 Friedrich NIETZSCHE, Werke. Großoktavausgabe in 19 Bdn, Leipzig, 1894ff, Bd. 18, S. 249. Einen sehr guten Überblick über Nietzsches Gedankenentwicklung gibt: Josef KOPPERSCHMIDT, “Nietzsches Entdeckung der Rhetorik”, in Josef KOPPERSCHMIDT, Helmut SCHANZE, Nietzsche oder „Die Sprache ist Rhetorik“, München, Fink, 1994, S. 39ff. 80 GERT UEDING zweierlei Weise verhalten können“24. Ohne dass er es nach Philosophenweise ausdrücklich hervorhebt, vernehmen wir im Hintergrund Protagoras, der das nicht anders gesehen und kaum anders formuliert hatte, dass sich nämlich die Rhetorik mit Themen beschäftige, über die man mit gleichem Rechte nach beiden Seiten (also in einander entgegengesetztem Sinne) disputieren könne.25 Das hier jeweils zugrunde gelegte Modell scheint mir das der Gerichtsrede zu sein, die als Gattung auch historisch am Anfang der Redekunst steht. Die Vielfalt gleichberechtigt nebeneinander bestehender Meinungen ist ihr Lebenselement, und es ist von entscheidender Bedeutung, dass jede nur eine Vermutung vorschlägt oder eine Widerlegung hervorbringt, die bessere oder treffendere Alternative sich aber nicht von selber zeigt. Im Gerichtsverfahren schlägt sich musterhaft und übersichtlich nieder, was den Normalfall unseres Lebensvollzugs in allen öffentlichen und privaten Angelegenheiten ausmacht. Auch die Wissenschaften sind da nicht ausgenommen. Der von Thomas S. Kuhn in seiner Untersuchung wissenschaftlicher Revolutionen so genannte „Paradigmenwechsel“ verweist auf die bloße Wahrheitsähnlichkeit und Zustimmungsabhängigkeit sogar naturwissenschaftlicher Theorien. Es liegt in dem germanistischen Kontext, in dem wir uns in diesem Colloquium bewegen, nahe, auf die Auseinandersetzung zwischen Goethe und Newton zu erinnern oder daran, dass sowohl die Korpuskel – wie die Wellentheorie des Lichts jeweils plausible Erklärungen liefern. Auch für Meinungsdivergenzen dieser Art hatte übrigens Protagoras Aufschluss gegeben, der ganz modern anmutet. Im Stoff der Materie selber liege der Grund, sie sei (und hier ist Heraklit nicht weit) ständig „im Fluß begriffen“, so dass verschiedene Zustände dicht nebeneinander existieren. „Die Menschen“, so vermutete er, „erfaßten bald das eine, bald das andere [davon], entsprechend ihren eigenen verschiedenen Zuständen.“26 Das ist ersichtlich ein unsicherer Boden, dessen weiterer Erkundung sich ein ganzer Seitenzweig der Rhetorik (die Wissenschaftsrhetorik) widmet. Ich möchte unsere Aufmerksamkeit aber auf die eigentümlichen Merkmale der Meinung zurücklenken, die der Lüge Vorschub leisten. In einer Sprichwortsammlung von 1810 steht das bezeichnende Exempel: „Der Meyner und der Lügner sind zwey Brüder.“27 Die Meinung, doxa nannten sie die Griechen, kann wie wir ja wissen, nur zu wahrscheinlichen, wahr scheinenden, Schlüssen kommen, deswegen sind gleichberechtigte Meinungen möglich, die ein evidentes Urteil ausschließen würde. Das scheint eine negative Bestimmung und führt uns doch auf eine positive Spur: die Meinung ist offen, sozusagen durchlässig, sie zieht Gegenmeinungen heran, provoziert sie auch, muss auf jeden Fall immer mit ihnen rechnen, weil ihr die

24 ARISTOTELES, Rhetorik, S. 16 (1357a). 25 Protagoras, in CAPELLE, Die Vorsokratiker, S. 326. 26 Ibid., S. 330f. 27 Johann Michael SAILER, Die Weisheit auf der Gasse. Deutsche Sprichwörter, 1810, ND, Nördlingen, Greno, 1987. DIE LÜGE ALS RHETORISCHE KUNST BETRACHTET 81 eigene Relativität innewohnt. Unser Sprachgebrauch ist in diesem Falle ein guter Wegweiser. Wir reden davon, dass sich die öffentliche Meinung im Fluss befinde, dass wir unter den gegebenen Verhältnissen diese oder jene Meinung favorisieren oder dass jeder halt seine eigene Meinung habe. „Alles Meinen“, so fasst Ernst Bloch ihr wichtigstes Merkmal in einem Satz zusammen, alles Meinen „schießt über das Feste hinaus, worin es sich gerade befindet.“28 Diese Deutung schlägt vor, das Meinen als produktiven Denkvorgang zu betrachten, prozesshaft auf Verbesserung, Bereicherung, Vermehrung durch andere, gerade gegenteilige Meinungen angelegt. Ich glaube, dass die klassischen Autoren nichts anderes im Sinne hatten, wenn sie von Meinung sprachen. Als ein Beispiel zitiere ich Cicero, und zwar aus dem 2. Buch von De oratore, in dem immer wieder aus der Gerichtsrede heraus allgemeine Folgerungen gezogen werden. „Die ganze Tätigkeit des Redners“, lässt der Autor Antonius ausführen, „gründet sich auf Meinungen (opiniones) und nicht auf Wissen (scientia). Denn einmal reden wir

vor einem Publikum, das nicht Bescheid weiß, und zum anderen sprechen wir von Dingen, die wir selbst nicht wissen. Darum empfinden und urteilen die Zuhörer in denselben Angelegenheiten einmal so und einmal so, und wir verorten häufig gegensätzliche Standpunkte, nicht nur in der Weise, daß zuweilen Crassus gegen mich spricht und ich gegen Crassus, wobei zwangsläufig einer von uns etwas Falsches sagt, sondern auch so, daß jeder von uns beiden in derselben Frage bald die, bald jene Auffassung vertritt, obwohl unmöglich mehr als eine wahr sein kann. So, wie es einer solchen Sache angemessen ist, die sich auf Täuschung gründet, die nicht oft zu einem Wissen vordringt und die es auf Meinungen des Publikums, oft auch auf seine 29 Irreführung abgesehen hat, so will ich also reden […].

Was ich da von Cicero so ausführlich zitiert habe, könnte nun jede Denunziation aus platonischem Geiste bestätigen, und Cicero scheint es geradezu darauf angelegt zu haben. Liest man aber genau, so fasst er auch an dieser Stelle das Meinen als ein dialektisches Fortschreiten durch Widersprüche auf. Dazu ist freilich eine Voraussetzung nötig, über die schon in der Antike viel diskutiert wurde. Meinung und Gegenmeinung (um den Pluralismus der Meinungen modellhaft zu vereinfachen) müssen sich nämlich in einem Verhältnis zueinander befinden, der das Konkurrieren überhaupt fruchtbar macht und einen Fortschritt in der Lösung eines, sagen wir juristischen oder politischen Problems bringt. Sie müssen sich, um es mit einer uns geläufigen Metapher zu sagen, auf Augenhöhe begegnen, und das ist oftmals nicht von vornherein gegeben. So befindet sich nicht nur der Redner im Nachteil, der eine sehr viel schwächere Meinung vertritt als sein Gegner, weil er z.B. die herrschende Gesetzesauslegung gegen sich hat oder der im Publikum herrschenden Meinung entgegen treten muss. Auch die Problemlösung selber gerät in Gefahr, nicht zum optimalen Ergebnis zu

28 Ernst BLOCH, Logos der Materie. Eine Logik im Werden, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 2000, S. 387. 29 CICERO, De oratore. Über den Redner, Stuttgart, Reclam, 1976, S. 225 (II, 30). 82 GERT UEDING finden. Protagoras, der darüber nachgedacht hatte, verlangte daher vom Redner eine eigene Kunstfertigkeit, nämlich „die schwächere Sache zur stärkeren“30 machen zu können. Damit war eine Debatte entfacht, über deren Heftigkeit sogar ihr an Widerworte gewohnter Urheber wohl selber verwundert war. Denn hieraus resultiere doch, so lautete ein gewichtiges Widerwort, „daß die Menschen mit Recht das Anerbieten des Protagoras unwillig zurückweisen; denn es ist Lüge […].“31 Die Invektive stammt ausgerechnet von Aristoteles, der schon ganz zu Beginn seines „Rhetorik- Buches“ doch so unmissverständlich fordert: „Weiterhin muß man in der Lage sein, eine gegenteilige Ansicht (doxa) überzeugend darzulegen […].“32 Bleibt zu fragen, wie das gelingen soll, wenn nicht derjenige, der die schlechtesten Karten hat, sie so einsetzt, dass sie dennoch das gegnerische Blatt zu übertrumpfen vermögen? Sehen wir uns aber die Verhältnisse an drei Beispielen an. Die beiden ersten entnehme ich Manfred Fuhrmanns Analyse von Ciceros prozesstaktischem Geschick.33 Die früheste Rede Ciceros, die uns überliefert ist, behandelt einen zivilrechtlichen Streitfall, und zwar das „Plädoyer ‚Pro Quinctio‘“. Es geht um Erbschaftsangelegenheiten ziemlich komplizierter Natur und Cicero benutzt deren Schwierigkeit, indem er vorgibt sie sachlich klären zu wollen, zu anderen Zwecken; mit Fuhrmanns Worten:

Die Zuhörer sollen einen bestimmten, durchaus negativen Eindruck vom Charakter des Gegners, des Naevius, gewinnen. Ciceros taktischer Plan bestand […] offenbar darin, dem Gericht zunächst dieses negative Charakterbild zu suggerieren, um sich dann erst den für den konkreten Rechtsfall wichtigen 34 Argumenten zuzuwenden.

Wir dürfen das durchaus als bewusstes Täuschungsmanöver bewerten, ebenso wie das zweite Beispiel, das ein noch extremeres Vorgehen zeigt. Es ist eine der berühmtesten Reden Ciceros: „Pro Milone“ gehalten, d.h. für einen Mann, den zu verteidigen den schwierigsten Vertretbarkeitsgrad bedeutete. Die äußeren Umstände waren höchst prekär, die Republik rückte ihrem Untergang immer näher, Bandenkämpfe waren im Jahr 52 längst an der Tagesordnung in Rom. Milo und Clodius waren konkurrierende Bandenführer, die sich auf offener Straße befehdeten, bei einem ihrer Gefechte blieb Clodius auf der Strecke und Milo wurde des Mordes an ihm angeklagt. Erschwerend kam für Cicero hinzu, dass Clodius, wie jedermann wusste, auch sein Erzfeind gewesen war. Hören wir, wie Fuhrmann Ciceros Vorgehen beschreibt:

30 Protagoras, in CAPELLE, Die Vorsokratiker, S. 325. 31 ARISTOTELES, Rhetorik, S. 161 (1402a). 32 Ibid., S. 10 (1355a). 33 Manfred FUHRMANN, Redekunst am Beispiel Ciceros, Stuttgart/ Düsseldorf/ Leipzig, Klett, 1997. 34 Ibid., S. 57. DIE LÜGE ALS RHETORISCHE KUNST BETRACHTET 83

Der Vorwurf (Clodius erschlagen zu haben) bestand zu Recht, und der Einwand des Verteidigers, Milo habe in Notwehr gehandelt, ließ sich, wie zuverlässig überliefert ist, mit dem tatsächlichen Ablauf des Geschehens nicht in Einklang bringen. Die taktischen Kunstgriffe, mit denen Cicero der heillosen Lage zu begegnen suchte, laufen auf zweierlei heraus. Er gab ein entstelltes Bild vom Sachverhalt und war umso mehr darauf bedacht, für Stimmigkeit innerhalb der Rede, zwischen Sachverhaltsschilderung und Beweisführung, zu sorgen; er suchte die Schwächen der rechtlichen Argumentation durch eine politische Deutung des Falles zu überspielen, die er als extra causam befindlich (etwa: über 35 den rechtlichen Aspekt der Sache hinausführend) ausgab […].

Das dritte Beispiel dürfte vielen von uns vertrauter sein, so dass ich nur darauf anzuspielen brauche. Es ist die 4. Catilinarische Rede, eine politische Rede also, die Cicero vor dem Senat am 5. Dezember 63 gehalten hat. Sie galt der Frage, was nun mit den in Rom verhafteten Verschwörern zu geschehen habe, zwei Anträge lagen vor: Caesar plädierte für Verbannung, Iunius Silanus, der schon gewählte nächste Konsul, für die Todesstrafe. Der noch amtierende Konsul Cicero legt vor den „versammelten Vätern“ (den Senatoren) die Anträge scheinbar unparteiisch dar, malt dann aber wie in einer Vision die von den Vaterlandsverrätern beabsichtigte Zerstörung des Staats und den Untergang Roms höchst drastisch aus mit den Mitteln des ad oculos ponere, des Vor-Augen-Stellens: die brennende Stadt, die gemetzelten Bürger, die geschändeten Frauen, Kinder, Priesterinnen.36 Die große Mehrheit der Senatoren entschied sich für die Todesstrafe. Das sind auf Anhieb höchst irritierende Beispiele und man könnte sie leicht vermehren. Sie haben wesentlich zu dem negativen Charakterbild beigetragen, das Cicero zumal in der deutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts verpasst wurde. Eines Jahrhunderts freilich, das von der Rhetorik kaum noch mehr als die Figurenlehre und vielleicht den Redeaufbau (dispositio) wusste. Die dialektischen Anteile (Topik) hatte schon in der Renaissance die Philosophie sich angeeignet, das geschieht auch im 19. Jahrhundert, ist aber bis heute noch nicht ausreichend gewürdigt worden. Ciceros rhetorisches Vorgehen ist ja einer doppelten Auslegung fähig. Moralisch zunächst, im Sinne des ersten und wohl wirkungsmächtigsten Lügentheoretikers Augustinus, der bekanntlich vor seiner Bekehrung ein berühmter Rhetor gewesen war und sich als Redelehrer betätigt hatte. Lüge hatte er definiert als „eine bewußt unwahre, mit der Absicht zu täuschen gemachte Aussage“.37 Eine zweite Auffassung von Ciceros persuasiven Verfahren geht von der rhetorischen Wirkung aus, die – besonders extrem im Streitfalle – die widersprechende Meinung im Interesse eines optimalen Ergebnisses zur Geltung bringt. Das persuasive Prinzip hatte Protagoras, hatte auch Aristotles beschrieben. Im 19. Jahrhundert – so meine These – bemächtigt sich seiner

35 Ibid., S. 69. 36 Vgl. CICERO, Die Politischen Reden, München, Artemis, 1993, Bd. 1, S. 477ff. 37 AUGUSTINUS, Die Lüge und gegen die Lüge, Würzburg, Augustinus Verlag, 1953, S. 7. 84 GERT UEDING auf eigenartige Weise Hegels Philosophie, des näheren seine Dialektik. Ich denke, dass ich ihr folgend, die rhetorische Situation genauer als bisher möglich beschreiben kann. Auch ist sie ja dadurch charakterisiert, dass keine Bestimmung schon endgültig genannt werden kann, und das unmittelbar jeweils Angenommene, so Hegel in seiner Würdigung des antiken Skeptizismus, „nichts Festes, nichts an und für sich ist.“38 Da „Meinung“, enthält dieses zunächst bloß Angenommene die eigene Vorläufigkeit und das anders Meinende, gegenteilig Meinende schon in sich. Zugespitzt formuliert, es ist Spruch und Widerspruch in einem, jedoch nicht um des artistischen Spieles, sondern um der bestmöglichen Lösung eines Problems willen, ob es sich nun um ein juristisches oder politisches Problem handelt. In einem seiner schönen Gleichnisse hat Hegel den Widerspruch auch als Verstellung des Geistes, seines versteckten Wühlens sogar geschildert. „Bisweilen erscheint dieser Geist nicht offenbar, sondern treibt sich, wie die Franzosen sagen, sous terre herum. Hamlet sagt vom Geiste, der ihn bald hier-, bald dorthin ruft: du bist mir ein wackerer Maulwurf, denn der Geist gräbt oft wie ein Maulwurf unter der Erde fort und vollendet sein Werk. Wo aber das Prinzip der Freiheit sich erhebt, da tritt Unruhe, ein Treiben nach außen, ein Erschaffen des Gegenstandes ein, an dem der Geist sich zu zerarbeiten hat.“39 Hegels Diktum von der „List der Vernunft“40 hat es sogar zum geflügelten Wort gebracht. Ich will mich nun nicht in eine Diskussion der Hegelschen Geschichtsdialektik vertiefen und verlieren und nur soviel festhalten, dass mit Hegel der Geist des Widerspruchs auf eine Art gedacht wird, wie ihn sich die Rhetorik seit Protagoras dienstbar gemacht hat. Und dies durchaus schon in einem bewusst außermoralischen Verständnis, das aber nicht etwa auf eine Herrschaft der Lüge abzielt, sondern deren unterirdisch wirkende Kraft ausnützt. Gleich jenem Gesellen, „der (wie es im Prolog im Himmel des Faust-Dramas heißt als habe Hegel es diktiert) „der reizt und wirkt und muß als Teufel schaffen.“41 Derart erscheint auch die Lüge eingesetzt, um für offene Fragen oder strittige Probleme ein bestmögliches Ergebnis zu erzielen. Sie wird zum Mitproduzenten der Wahrscheinlichkeit und arbeitet dann an ihrer eigenen Aufhebung. Denn sie hilft, das, was dunkel und verworren ist, zur Klarheit zu führen, um es noch einmal in der Sprache des Goethe-Stücks zu sagen.42 Es gibt auch bei einem anderem uns zeitlich (und hier in Aix auch geographisch) näher liegenden Autor eine Stelle, die wie eine Erläuterung unseres Themas nach rhetorischem Gesichtspunkt wirkt. Ich meine Camus‘ La Chute (Der Fall), und zwar des näheren den Beginn des letzten Kapitels, in dem der „Buß-Richter“ Clamence seinem Zufallsbekannten aus dem „Mexico-City“ erzählt, wie er zum Papst gewählt wurde.

38 Georg Wilhelm Friedrich HEGEL, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in ders., Werke in 20 Bdn, Frankfurt/M., Suhrkamp, 1969, Bd. 2, S. 395. 39 Georg Wilhelm Friedrich HEGEL, Werke, Gesamtausgabe 1832-1845, Bd. 9, S. 73. 40 HEGEL, Werke in 20 Bdn, Bd. 6., S. 452. 41 Johann Wolfgang GOETHE, Sämtliche Werke, Zürich, Artemis, 1977, Bd. 5, S. 152. 42 Ibid., S. 151, so Hegel. DIE LÜGE ALS RHETORISCHE KUNST BETRACHTET 85

Sehen Sie, ein Bekannter von mir pflegte die Menschen in drei Gruppen einzuteilen: die einen möchten lieber nichts zu verbergen haben als lügen müssen; die anderen möchten lieber lügen als nichts zu verbergen haben; und die Dritten schließlich lieben das Lügen und das Verbergen gleichermaßen. Ich überlasse es Ihnen, die Kategorie zu wählen, in die ich am besten passe. Was tut’s übrigens? Bringen die Lügen einen nicht letzten Endes auf die Spur der Wahrheit? Und zielen meine Geschichten, die wahren so gut wie die unwahren, nicht alle auf den gleichen Effekt ab, haben sie nicht alle den gleichen Sinn? Was hat es da zu besagen, ob ich sie erlebt oder erfunden habe, wenn sie doch in beiden Fällen für das bezeichnend sind, was ich war und was ich bin? Man durchschaut den Lügner manchmal besser als einen, der die Wahrheit spricht. Die Wahrheit blendet wie grelles Licht: Wohingegen die Lüge ein milder Dämmerschein ist, der jedem Ding Relief verleiht. Nun, ob Sie es glauben oder 43 nicht, ich wurde in einem Gefangenenlager zum Papst gewählt.

Wenn Camus seinen Protagonisten an dieser Stelle die Lüge als eine Art Ferment der Wahrheit begreifen lässt, so befindet er sich offensichtlich im Einklang mit einer bis in ihre Anfänge zurückreichenden rhetorischen Tradition, die gelegentlich verschüttet, von der Philosophie denunziert, aber nie ganz unwirksam geblieben ist. Als rhetorische Kunst betrachtet und im artem-celare-Prinzip aufgehoben, vermag sie zwar im strengen und logischen Sinne nicht Wahrheit zu produzieren, denn die ist, mit Lessings Wort, nur bei Gott allein44, auf jeden Fall allem menschlichen Wissen unzugänglich. Doch entfaltet sie, wie die Cicero-Beispiele zeigen sollen, ihre strategische Wirksamkeit im Prozess der Meinungsbildung. Insofern auch ihr, wie absolut sie immer auftreten mag, allein der Status einer Meinung zukommt, provoziert sie notwendig Gegenmeinungen und das umso energischer, je deutlicher ihre eigentliche Absicht der Täuschung sukzessive hervortritt. Da zuletzt alle rhetorische Anstrengung dem Ziel des gelingenden Lebens in politischer Gemeinschaft (der Polis nach aristotelischem Verständnis) dient und nur unter dieser Voraussetzung auch berechtigterweise aus der Zustimmung der Adressaten den Prüfstein ihrer Sätze und Urteile beziehen kann, hat die allein dem individuellen Vorteil dienende Lüge in der Tat nur kurze Beine und scheitert, wie vollkommen die egoistische Absicht auch immer kaschiert wurde. Doch muss man hier wohl noch kritisch fragen, ob dieses Resümee nicht im schlechten Sinne idealistisch, also abstrakt, mindestens realitätsfern und somit uneinlösbar bleibt. Tatsächlich gewinnt es praktische Plausibilität erst im Kontext mit einem Rhetorik-Begriff, der nicht zu jeder Zeit und unter allen Bedingungen auch gegeben war und ist. Daher müssen wir uns daran erinnern, dass die Rhetorik ein Kind demokratischer Verhältnisse ist und auch Aristoteles sie so gesehen hat: im Kontext seiner Politik und ihrer Lehre von der besten Staatsverfassung (eine „authentische bürgerliche Verfassung“, hat

43 Albert CAMUS, Der Fall, Reinbek, Rowohlt, 2012, S. 99f. 44 Gotthold Ephraim LESSING, Werke, München, Hanser, 1979, Bd. 8, S. 32f. 86 GERT UEDING sie Sternberger genannt45). Der alte Topos von der Zusammengehörigkeit von Rhetorik und Republik gewinnt in meiner Fragestellung neue und, denke ich, tiefere Bedeutung. Er verweist die Rhetorik auf die Praxis, in der Redner- Interesse und Adressaten-Interesse übereinkommen: auf das Herausprozessieren der bestmöglichen Handlungsmaxime durch die argumentative Prüfung der Optionen von allen Seiten. Woraus eine Rhetorik-Konzeption folgt, die trotz Protagoras und Aristoteles selten unangefochtene Geltung besaß und auch heute landläufigem Verständnis widerspricht: die Gründung der Rhetorik auf den Dialog, nicht auf den Monolog. Das ist viel mehr als eine bloß instrumentelle Unterscheidung. Schon in der Antike schälten sich beide Modelle erkennbar deutlich heraus, und wenn man, wie es bei Modellen nicht anders sein kann, auf vereinfachende Weise ihre geschichtliche Verortung bestimmen will, so favorisierte die griechische Rhetorik das dialogische, die römische Rhetorik das monologische Modell. In der einen Kultur ist der Redner Mitproduzent in einem umfassenden Meinungsbildungsprozess, im anderen fungiert er als Meinungs- und Handlungsführer.46 Die beiden Rhetorikkonzepte überschneiden sich an manchen (vor allem redepraktischen) Stellen, auch gibt es prominente (Cicero ist dafür ein Beispiel) Synthetisierungsversuche, ohne dass aber ihr fundamentaler Unterscheid eingeebnet werden könnte. Er radikalisiert sich kritisch bis zum Antagonismus, konnte aber aus mehreren Gründen lange verdeckt bleiben. Dazu gehört auch die bis in die Französische Revolution und die Gründung der USA reichende Dominanz der römischen Rhetorik. Doch in der Adelsrepublik Roms finden wir eine andere gesellschaftliche und politische Struktur vor als in den griechischen Stadtstaaten. Hegel hat den „Räuberfang“ des römischen Staates, seine auf Überwältigung der Nachbarn, auf Gewalt und Krieg beruhende Stiftung dafür verantwortlich gemacht, dass „nicht ein sittlicher, liberaler Zusammenhang [wie in Athen], sondern ein gezwungener Zustand der Subordination“47 den Zusammenhalt der Menschen zu gewährleisten hatte. Wie auch immer man zu solchen idealtypischen geschichtsphilosophischen Modellbildungen stehen mag, in unserem Fall schärfen sie den Blick für das Verhältnis des römischen Redners zu seinem Publikum. Wobei ich sogleich hinzufügen möchte, dass auch in der griechischen Polis verschiedene Konzepte der rhetorischen Lebensordnung miteinander konkurrierten. Sie reichten vom Anspruch des Redners, einer

45 Dolf STERNBERGER, Drei Wurzeln der Politik, Frankfurt/M., Springer, 1978, Bd. 1, S. 156. 46 Ich folge in diesem Zusammenhang meinen Ausführungen in Gert UEDING, “Das Konzept des Redners als Meinungsführer in der römischen Rhetorik”, in Christina KUHN, Politische Kommunikation und öffentliche Meinung in der antiken Welt, Stuttgart, Steiner, 2012, S. 151 ff. Sowie: Gert UEDING, “Dialogrhetorik”, in Gert UEDING/ Gregor KALIVODA (Hrsg.), Wege moderner Rhetorikforschung. Klassische Fundamente und interdisziplinäre Entwicklung, („Rhetorik-Forschungen 21“), Berlin/ Boston, de Gruyter, 2013, S. 701. 47 Georg Wilhelm Friedrich HEGEL, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in ders., Werke in 20 Bänden, Bd. 12, Frankfurt/M. 1985, S. 346. DIE LÜGE ALS RHETORISCHE KUNST BETRACHTET 87 politischen Elite anzugehören und über eine Technik zu gebieten, die in jeder Lage und vor jedem Gremium Zustimmung erzwingen kann, bis hin zu der protagoreischen Auffassung, dass Handlungsorientierung erst aus dem Wettstreit gleichberechtigter Meinungen zu gewinnen sei. Was diese gleichsam liberale Seite anbelangt, so blieb es Aristoteles vorbehalten, ein komplexes Rhetorikmodell nach dem Muster seiner Polis, „des menschlich vereinbarten Staates“, zu entwerfen. Der Bürger ist darin „immer ein potenzieller Staatsmann“ und umgekehrt der Staatsmann einer, der „abwechselnd regiere und gehorche“.48 Ich will mir in Anbetracht des Themas, das ich hier zu behandeln habe, wohl eine nähere Erörterung der staatsphilosophischen Grundsätze des Aristoteles ersparen, doch wenn wir von ihnen aus seine berühmte Definition der Rede im 3. Kapitel des ersten Buches der Rhetorik lesen, können wir auch das Verhältnis der drei an einer Rede beteiligten Instanzen besser verstehen. Redner, Redegegenstand und Publikum verhalten sich demnach so, dass die Richtung der Rede vom Adressaten bestimmt wird, der mitdenkt und miturteilt, also sich nicht als Teil eines passiv empfangenden Auditoriums versteht.49 Offensichtlich verkörpert jeder Bürger die Rollen des Redners und des Zuhörers in seiner Person: der Redner ist Mitzuhörer und der Zuhörer Mitredner. Die übliche Redehandlung vor Gericht in den staatlichen Gremien lief ganz entsprechend den aristotelischen Vorstellungen ab. Während seiner Rede bezog der Redner den dafür bestimmten Platz innerhalb seines Auditoriums und räumte ihn wieder für den nächsten Bürger, der sich zu Worte gemeldet hatte. Auch als wahrscheinlich der Pnyx genannte Hügel zum Ort der Volksversammlung wurde, in kleisthenischer Zeit, saßen die zuhörenden Bürger zuerst sogar etwas höher als der Standort des Redners, später befanden sie sich fast auf gleicher Höhe mit ihm. Derartige Dispositionen von Redner und Publikum wirken wie eine Metapher auf das herrschende Rhetorik-Verständnis. So wird es uns kaum verwundern, wenn wir in Rom ein anderes Schema erblicken. Welcher Versammlungsort in Rom und anderen römischen Städten auch immer vorgesehen war, wie Forum oder Tempelplätze oder der Circus Flaminius, der Redner stand immer deutlich höher als die Versammlung, zu der er sprach – ob auf den Rostra oder den Tribünen der Tempel. Pragmatischer Grund (nämlich die bessere Akustik) und symbolische Zeichenbedeutung (nämlich der rhetorischen Einwegkommunikation) ergänzen einander. „Die Gleichheit, auf die die Athener stolz waren“, resümiert Francisco Pina Polo, dem ich hier ein Stück weit gefolgt bin, diese Gleichheit „bezeichnet Cicero als iniqua, da sie nicht die dignitas berücksichtige, die die Bürger voneinander unterscheide und jedem einen anderen Platz innerhalb der Gemeinschaft zuweise.“50

48 Dolf STERNBERGER, Herrschaft und Vereinbarung. Schriften III, Frankfurt/M., Suhrkamp, 1980, S. 118. 49 Vgl. UEDING, „Dialogrhetorik“, S. 703. 50 Francisca Pina POLO, Contra arma verbis. Der Redner vor dem Volk in der späteren römischen Republik, Stuttgart, Steiner, 1996, S. 25. 88 GERT UEDING

Um schon etwas mehr von der Reichweite zu ermessen, die Ciceros Begriff der Rhetorik von dem griechischen Vorbild entfernt, braucht man nur in das einleitende Gespräch zu blicken oder besser zu hören, mit dem Cicero die Lehr-Dialoge Über den Redner eröffnet. „In meinen Augen“, so lässt er Crassus sprechen, dem er hauptsächlich die eigenen Ansichten in den Mund gelegt hat, „in meinen Augen gibt es ja auch nichts Herrlicheres, als wenn man es vermag, die Menschen durch die Rede in seinen Bann zu schlagen, ihre Neigung zu gewinnen, sie zu verleiten, wozu man will, und abzubringen, wovon man will.“51 Da scheinen wir beinahe bei dem Gegensatz zum aristotelischen Rhetor gelandet zu sein. Kein Zweifel, dass Ciceros Redner-Ideal die Verhältnisse der Adelsrepublik und seine eigenen politischen Ambitionen durchaus widersprüchlich reflektiert. Sobald er freilich den Musterfall des Gerichtsverfahrens anvisiert, ändern sich gerade auch für ihn Aufgabe und Selbstverständnis des Redners und zwar im Sinne klassischer griechischer Auffassung. Juristische Rhetorik verzichtet auch für Cicero keineswegs auf den Überzeugungsprozess, in ihrem Rahmen skizziert er bereits die Umrisse eines – dialogischen – Verhandlungsmodells. Antonius formuliert das in De oratore mit dem Satz: „So übernehme ich […] vollkommen unparteiisch drei Rollen in einer einzigen Person, die meine, die des Gegners und die des Richters.“ Der lateinische Text nennt die drei Rollen „tris personas“52. Offensichtlich also fasst der Advokat Cicero den Redner als ein Ensemble von Verhältnissen auf, die er in seiner Rede zum Sprechen bringt. Alles zusammen genommen oszilliert der rhetorische Begriff der Rede bei den klassischen Theoretikern zwischen Merkmalen, die ihn von der dialogischen Dialektik unterscheiden oder ihr naherücken, ihr zumindest analog sind. Dass in der Rhetorik-Geschichte bis heute das monologische Verständnis von Rede als Gegenstand der Theorie und Unterweisung vorherrschen sollte, hat seine Gründe auch in der politischen Geschichte Europas. Öffentliche Rede verwirklichte sich in der Predigt, im Herrscherlob oder in der Kriegsrede, drei Gattungen, die keinen beratenden, sondern apodiktischen, auch propagandistischen Charakter haben: in ihnen konnte jede Lüge unwidersprochen bleiben, sie produzierte nichts als sich selber. Das Gespräch blieb dem lehrhaften, akademischen Dialog vorbehalten, der zwar für die Tradierung des Konzepts und seiner Techniken sorgte, aber praktisch folgenlos bleiben musste. Womit ich zum Abschluss noch auf ein historisch besonders radikales Exempel monologischer Rhetorik-Theorie und -Praxis hinweisen möchte, worin die Eliminierung der Alternativen die Lüge aus allen produktiven Bindungen entfesselte und das artem-celare-Prinzip in psychische Gewalt übersetzte. Ich meine die nationalsozialistische Rhetorik, lange vorbereitet durch Rhetoriker wie Carl Schmitt, Ewald Geissler oder Maximilian Weller,

51 CICERO, De oratore, 130. 52 CICERO, De oratore, 28. DIE LÜGE ALS RHETORISCHE KUNST BETRACHTET 89 die die Rhetorik total auf das Orator-Prinzip gründeten. „Das Endziel aber, dem der Redner über alle Widerstände hinweg zudrängt, ist: dass die Hörer so werden, wie er sie haben will. So denken, so fühlen, so wollen, so handeln.“53 Derart werden „die Hörer der Stoff des Redners“54, er selber zum „Kampfredner“55. Das alles sind Maximen Geisslers. Im Mittelpunkt der Theorie Wellers steht gleichfalls die Macht des Orators, die „seelenbezwingende, magische, dem künstlerischen, ja der Suggestion verwandte Wirkung“56, die nichts anderes will als „eine Tat oder eine tatbereite Gesinnung hervorzurufen“57. Erfolgreichster Schüler solcher Lehren war Adolf Hitler, in Mein Kampf kann man ihre Spuren zum Teil wörtlich nachlesen. Ich zitiere ein Beispiel: „Die Macht aber, die die großen historischen Lawinen religiöser und politischer Art ins Rollen brachte, war seit urewig nur die Zauberkraft des gesprochenen Worts.“58 Vom Eingehen auf den Zuhörer, der Vertrautheit mit ihm, spricht auch Hitler, doch ist kein Dialog damit gemeint. Die andere Meinung kennen bedeutet allein, den Schlachtplan eines Gegners kennen, den es zu schlagen gilt, mit Hitlers Worten: „Ich habe […] gelernt, […] dem Feinde die Waffe seiner Entgegnung gleich selber aus der Hand zu schlagen.“59 Die wenigen Belege mögen genügen, um die nationalsozialistische Rhetorik als den Exzess einer auf dem Orator-Prinzip fußenden Rede-Theorie zu decouvrieren. Womit wir uns von einem Extrem rhetorischen Handelns wieder auf das Prinzip des „disputare in utramque partem“ verwiesen sehen, in dem (und darin liegt seine Stärke) noch die betrügerische Lüge dazu gebracht werden kann, als Kunstmittel zur Produktion ihres Gegenteils und damit zu ihrer Aufhebung zu wirken. Wie ein Sauerteig treibt sie hervor, was sie nicht wollte. Als Beispiel habe ich uns Cicero vorgestellt, ich hätte auch Sokrates, sogar den platonischen Sokrates nehmen können, der sich ständig einem Gesprächspartner in täuschender Absicht nähert, nämlich nichts oder weniger oder Falsches zu wissen und daher vorgeblich seiner Belehrung zu bedürfen. Man hat Sokrates mit seinen höheren pädagogischen Zwecken moralisch entlasten wollen. Dessen bedarf es nicht. Gibt es einen größeren Triumph über die Lüge als sie zum „Moment der treibenden Dissonanz“60 des Denkens, Redens, Handelns zu machen und derart gegen die Stilllegung menschlicher Tätigkeit einzuspannen? Die praktisch grundlegende

53 UEDING, „Dialogrhetorik“, S. 710. 54 Ewald GEIßLER, Rhetorik. Zweiter Teil, „Deutsche Redekunst“, Leipzig, Teubner, 1918, S. 17f. 55 Ewald GEIßLER, „Das Kampfgespräch“, in ders., Das gesprochene Wort, 3. Jg. 1940, S. 53f. 56 Maximilian WELLER, Das Sprechlexikon. Lehrbuch der Sprechkunde und Sprecherziehung, Düsseldorf, Econ, 1957, S. 57. 57 Maximilian WELLER, Die freie Rede, Berlin, Der Deutschen Arbeitsfront, 1939, S. 94. 58 Adolf HITLER, Mein Kampf, München, Zentralverlag der NSDAP, 1943, S. 116. 59 Ibid., S. 522. 60 Ernst BLOCH, Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel, Frankfurt/M., Suhrkamp, 1962, S. 93. 90 GERT UEDING

Voraussetzung dafür liegt freilich außerhalb rhetorischer Kompetenz: in der demokratischen Verfassung des Staates und den ihr entsprechenden Institutionen.

Une critique du mensonge par-delà le bien et le mal

Jochen MECKE Université de Regensburg

Il ne saurait y avoir de doute : aucune pratique linguistique ou sémiotique ne se trouve être condamnée avec tant d’insistance, tant de mépris et tant d’émotion que le mensonge. Chaque fois qu’un sportif, un chercheur, un journal ou un homme politique est accusé de mensonge, la condamnation est unanime et une véritable déferlante médiatique s’abat immédiatement sur la personne en question. Les exemples sont légion : G. W. Bush et Colin Powell pour les prétendues armes de destruction massive en Irak, l’ancien ministre Cahuzac pour ses comptes cachés en Suisse, et puis la kyrielle de déclarations de gouvernements de tout bord, pour leurs fausses promesses pré- ou postélectorales, du type : « Il n’y aura pas de suppressions d’emplois chez Areva », « Les rétrocommissions de Karachi : une fable ! », « Si la gauche gagne, nous rétablirons la retraite à 60 ans », « Les hausses d’impôts ? Jamais tant que je serai président ! » etc., etc.1 Dans tous ces cas de mensonges politiques, les tempêtes médiatiques déclenchées montrent bien que la condamnation du mensonge est beaucoup plus radicale et catégorique que celle d’autres pratiques sémiotiques ou linguistiques pourtant aussi graves, comme les insultes publiques, les dénonciations, les atteintes à la vie privée ou bien les campagnes médiatiques orchestrées contre certains personnages publics. Parfois, on a l’impression que le mensonge est jugé d’une manière beaucoup plus sévère que le délit qu’il essaie de cacher2. Ainsi, le fait que Jérôme Cahuzac dispose de comptes en banque en Suisse était considéré comme une pratique assez courante et presque acceptée, mais c’est pour avoir nié publiquement et devant le Parlement posséder de tels comptes à l'étranger qu’il a déclenché le véritable scandale.

1 Pour une liste des mensonges politiques des dernières années, cf. la documentation rassemblée par Jean-François KAHN, Menteurs !, Paris, Plon, 2012. 2 Gaspard DHELLEMMES, « Cahuzac : vers un délit de parjure à l’américaine ? », Le Journal du Dimanche, 5 avril 2013. 92 JOCHEN MECKE

Pourquoi cette condamnation catégorique du mensonge ? À première vue, les motifs semblent évidents. Car, à la différence d’autres pratiques ou attitudes linguistiques ou sémiotiques répréhensibles et socialement sanctionnées, le mensonge comporte un aspect négatif supplémentaire, puisqu’il semble détruire la confiance mutuelle et, partant, la cohésion sociale. Il n’est donc pas étonnant que le reproche le plus efficace que l’on puisse adresser à un homme politique ne consiste pas à lui faire grief d’avoir des idées erronées sur les possibilités de faire baisser le chômage ou bien de ne pas savoir comment fonctionne l’économie du pays, mais à l’accuser de mentir aux électeurs, vu que ce reproche détruit non pas sa compétence, mais sa crédibilité. Il ne s’en prend pas à une simple erreur momentanée, mais à l’être même de l’adversaire politique, car il ne relève pas du domaine du savoir ou du savoir-faire, mais de la morale. Ainsi, lors des élections présidentielles de 2012, le journal Le Point titrait avec grand succès « Qui ment le plus ? » pour trancher entre les deux candidats Nicolas Sarkozy et François Hollande3. Ces effets du mensonge semblent également la cause d’une longue tradition de désapprobation à son endroit. L’un des commandements du décalogue ne dit-il pas : « Tu ne mentiras point ? » Et même des courants de pensée en principe opposés au dogmatisme théologique, comme la philosophie des Lumières, dont on peut espérer un jugement désintéressé, pesant le pour et le contre au-delà de la morale chrétienne, sont unanimes à condamner le mensonge ; le point culminant de ce rejet est sans doute l’interdiction de mentir absolue et catégorique prononcée par Immanuel Kant, même au cas où le mensonge pourrait sauver la vie d’une victime. Les parents, quant à eux, n’enseignent-ils pas à leurs enfants de ne pas mentir ? Cependant, cette vision du mensonge est peut-être trompeuse car, d’un autre côté, les statistiques montrent que le commun des mortels ment en moyenne deux fois par jour4 ; dans certaines expériences menées par des psychologues, le chiffre s’élève à trois mensonges en dix minutes si les personnes ne se connaissent pas5, et selon d’autres recherches, nous mentons à un interlocuteur sur trois6, tandis que d’autres encore affirment qu’on nous ment à peu près deux cents fois par jour7. Indépendamment du bien-fondé de telles statistiques, force est de constater que tout le monde ment et, qui plus est, que les mêmes citoyens qui condamnent leurs hommes politiques avec

3 Le Point, n° 2058, 23 février 2012. 4 Bella M. DEPAOLO et al., « Lying in everday life », Journal of Personnality and Social Psychology, n° 70, 1996, p. 979-995. 5 Robert FELDMAN et al., « Self-Presentation and Verbal Deception : Do Self-Presenters Lie More ? », Journal of Basic and Applied Social Psychology, vol. 24, n° 2, 2002, p. 163-170. 6 DEPAOLO, « Lying », p. 979-995. 7 James GEARY, « How To Spot A Liar », Time Europe, vol. 155, n° 10, 13 mars 2000, (http://www.time.com/time/europe/magazine/ 2000/313/lies.html [12 avril 2014]). La différence entre toutes ces statistiques s’explique évidemment en partie par les différentes acceptions du mensonge. Ainsi, la définition de Geary semble très large et inclut des pratiques comme la politesse, qui ne font pas partie du mensonge selon d’autres définitions. Nous y reviendrons. UNE CRITIQUE DU MENSONGE PAR-DELA LE BIEN ET LE MAL 93 véhémence considèrent les petites tricheries de la déclaration d’impôts comme quelque chose de tout à fait normal, mentent à leurs conjoints ou conjointes et ne disent pas la vérité à leurs enfants à qui ils enjoignent pourtant de ne jamais mentir. Quelles conséquences faut-il en tirer ? Peut-on, comme le suggèrent certains auteurs, avoir une attitude décomplexée par rapport au mensonge ? Car lorsqu’on passe en revue à la fois les derniers scandales qui ont marqué les sociétés allemande et française et les récentes publications plutôt populaires sur l’éthique du mensonge, on ne peut qu’être frappé par une contradiction entre théorie et pratique éthiques : alors que les journaux, les informations télévisées et les blogs sur Internet ne cessent de dénoncer le mensonge comme le grand fléau de notre société, des articles et des livres souvent consacrés à la pratique quotidienne du mensonge semblent être marqués par une relativisation considérable de cette condamnation. Ainsi, la journaliste Claudia Meier prône le mensonge dans son livre Lob der Lüge. Warum wir ohne sie nicht leben können8, se faisant l’écho de Peter Stiegnitz9, « mentiologue » auto-proclamé qui est allé jusqu’à développer une théorie appliquée du mensonge dans Lügen – aber richtig ! Die angewandte Theorie der Lüge10, un ouvrage qui défend et enseigne, comme son titre l’indique, le droit au mensonge et invite ouvertement à mentir chaque fois qu’on en a besoin. Le dernier exemple est le livre tout récent du germaniste Wolf Schneider intitulé Die Wahrheit über die Lüge. Warum wir den Irrtum brauchen und die Lüge lieben11. Compte tenu de ces contradictions, la seule certitude est que nous retrouvons dans notre attitude envers le mensonge la même ambiguïté que celle qui caractérise le mensonge lui-même. C’est peut-être pour cette raison que depuis deux mille ans, pour le monde occidental, le mensonge n’a rien perdu de sa fascination. L’intérêt général pour le personnage du menteur, tels Ulysse, le héros picaresque du roman Lazarillo de Tormes, les imposteurs comme Tartuffe, Tonio Kröger ou Bardolino, la séduction exercée par Pinocchio, qui ment du reste très peu, et le succès de séries télévisées comme Lie to me12 prouvent que le mensonge exerce depuis toujours une attraction considérable sur la culture occidentale. Cela soulève de multiples questions. Pourquoi une société, des institutions comme l’Église catholique, des partis politiques, l’État et des individus condamnent-ils avec autant de radicalité ce qu’ils pratiquent eux-mêmes aussi

8 Claudia MAYER, Lob der Lüge. Warum wir ohne sie nicht leben können, Berlin, List, 2007. 9 Peter STIEGNITZ, Lügen lohnt sich. Lüge, Wahrheit, Wirklichkeit, Frankfurt am Main, Haag & Herchen, 1991. 10 Peter STIEGNITZ, Lügen – aber richtig! Die angewandte Theorie der Lüge, Wien/ Klosterneuburg, Va Bene, 2008. 11 Wolf SCHNEIDER, Die Wahrheit über die Lüge. Warum wir den Irrtum brauchen und die Lüge lieben, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 2012. Du côté francophone, Marie-France Cyr arrive au même constat : Marie-France CYR, La vérité sur le mensonge, Montréal, Éditions de l'Homme, 2003. 12 Brian GRAZER, David NEVINS, Samuel BAUM, Lie to me, USA, Fox, 2009-2011. 94 JOCHEN MECKE souvent ? Est-ce un exemple de plus de la différence classique entre théorie et pratique, exigence morale et comportement réel, soi-même et les autres, qui nous fait condamner chez autrui un comportement que nous acceptons tacitement pour nous-mêmes ? Ou bien y aurait-il à ce refus des raisons spécifiques, qui relèveraient de la structure même du mensonge ? Pour répondre à ces questions, il faut essayer de jeter un regard étranger et étrange sur le mensonge, et en particulier s’abstenir de tous les jugements préalables suggérés par la tradition judéo-chrétienne occidentale. L’on doit tenter d’examiner le mensonge à partir d’une perspective se situant au-delà du bien et du mal afin d’analyser son véritable fonctionnement au sein de la société. Ce parti pris nous permettra également de décrypter non seulement les fonctions du mensonge, mais aussi celles de sa condamnation catégorique. En somme, ce que nous allons entreprendre ici correspond d’une certaine manière à une « critique du mensonge »13. Pour ce faire, il faut relever trois défis : d’abord, le défi éthique, pour savoir s’il y a une éthique du mensonge en général. Mais ce défi est intimement lié à un autre, d’ordre sémantique, car le jugement éthique porté sur le mensonge dépend évidemment de la définition de ce dernier. En dernier lieu, il s’agit de relever un défi culturel, celui de savoir pourquoi une société condamne aussi catégoriquement d’un côté ce qu’elle pratique aussi fréquemment de l’autre. Notre hypothèse est que cette contradiction, ou bien cette ambiguïté, est directement liée à la structure et la fonctionnalité du mensonge même.

Éthiques du mensonge

L’histoire de l’éthique occidentale est marquée par une condamnation catégorique du mensonge qui peut se ramener à l’interprétation que l’Église catholique a donnée au huitième commandement : ainsi, saint Augustin, pour qui le mensonge revêt une importance tellement capitale qu’il y consacre deux monographies, De mendacio (395) et Contra mendacium (420), paraît se borner à reprendre ce commandement et à le justifier par une série d’arguments supplémentaires. Certes, saint Augustin développe, pour la première fois, toute une typologie et une casuistique du mensonge, mais pour finalement condamner tous les mensonges d’une manière catégorique et indifférenciée14. Déjà, saint Augustin discute l’exemple célèbre du mensonge adressé à un malfaiteur pour protéger sa victime potentielle. Selon ce Père de l’Église, même dans ce cas-là, un mensonge n’est point permis car, par ce mensonge mortel, nous sacrifions notre propre vie éternelle et céleste15, tout

13 Il s’agit ici d’une critique au sens extra-moral du terme, qui essaie d’examiner les fonctions, les pouvoirs et les limites du mensonge. 14 Aurelius AUGUSTINUS, Die Lüge und Gegen die Lüge, trad. par Paul KESELING, Würzburg, Augustinus-Verlag, 1953, p. 11-16. 15 Ibid, p. 32. UNE CRITIQUE DU MENSONGE PAR-DELA LE BIEN ET LE MAL 95 en protégeant la vie temporaire et terrestre de la victime. Plus tard, Kant, à l’occasion d’un débat avec Benjamin Constant et se plaçant évidemment dans une perspective tout à fait différente, rejoindra saint Augustin dans la condamnation absolue, car il pense qu’un mensonge contrevient au droit de tout homme, et de l’humanité entière, à la véracité16. Le Père de l’Église catholique et le philosophe des Lumières, en dépit de leurs avis généralement opposés, sont donc unis dans la conviction que le mensonge est entièrement répréhensible. Depuis la Bible, en passant par saint Augustin et Kant, pour arriver à ce qui semble être, en ce moment, le discours socialement reconnu sur le mensonge, nous trouvons donc une condamnation générale et de principe, la seule différence consistant en l’acceptation ou non des exceptions qui permettent de mentir dans quelques cas bien particuliers. Mais quand on élargit un peu l’horizon pour prendre en considération d’autres cultures et d’autres temps, il apparaît clairement que cette condamnation de principe est loin de faire l’unanimité. Dans l’Iliade et l’Odyssée, le rusé et menteur Ulysse est à l’honneur et se trouve loué par une déesse, même quand il ment apparemment sans nécessité aucune. C’est Pallas Athéna elle-même qui approuve les ruses et mensonges de son protégé, car – comme elle le souligne – il ressemble à la déesse17. On pourrait objecter à cet argument qu’il est tout à fait relatif car il semble que la littérature ne fasse ici que plaider sa propre cause. Mais même Platon, qui selon la vulgate voudrait pourtant exclure les poètes de la Cité parce qu’ils mentent18, considère le mensonge comme légitime pour le chef d’État19. Néanmoins, quand on examine les textes antiques de plus près, il s’avère que la Bible elle-même est loin de rejeter le mensonge de manière catégorique. Certes, de nombreux passages le condamnent, mais les Saintes Écritures font preuve envers lui de la même ambiguïté que la société actuelle. Ainsi, en de nombreux endroits, l’Ancien Testament raconte des mensonges sans commentaires ni jugements, surtout quand ces mensonges sont dus à des personnages en principe positifs, considérés de surcroît comme des ancêtres et des fondateurs du peuple juif. C’est par exemple le cas de Jacob, qui ment à son père Isaac pour prendre la place de son frère, et se faire ainsi bénir et choisir comme héritier20. Le mensonge peut également recevoir l’approbation divine, comme le montre l’exemple des sages-femmes juives qui mentent au pharaon et sont récompensées par Dieu21. Il arrive même à Jésus de mentir,

16 Immanuel KANT, « Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen », in Immanuel Kant, Werke in zehn Bänden. éd. par Wilhelm WEISCHÄDEL, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1984, p. 637-643, ici p. 35 sq. 17 HOMÈRE, Odyssee, trad. par Johann Heinrich VOSS, München, Goldmann, 1980, vers 290-299, p. 156 sq. 18 PLATON, « Der Staat » in Sämtliche Dialoge, t. V, traduit et commenté par Otto APELT, Hamburg, Meiner, 1988, p. 404. 19 Ibid., p. 91. Avec cette exigence, Platon anticipe les justifications du mensonge qu’un Machiavel développera plus tard à la Renaissance. 20 La Bible, Ancien Testament, Genèse 27, 1-39. 21 La Bible, Ancien Testament, Exode, 1, 15-20. 96 JOCHEN MECKE comme lors de la fête juive des cabanes, quand il commence par annoncer qu’il n’y assistera pas, pour finalement y prendre part quand même22. Certes, Dieu hait le mensonge et ne saurait mentir lui-même, mais il envoie néanmoins un « esprit de mensonge » au roi Achab pour l’induire en erreur et lui faire perdre une bataille23. Et le fameux huitième commandement n’ordonne pas, comme on le croit d’ordinaire : « Tu ne mentiras point ! », mais «Tu ne témoigneras pas faussement contre ton prochain 24». Le huitième commandement ne condamne donc pas le mensonge en tant que tel, mais son usage pour nuire à autrui, par exemple lors d’un procès. Ainsi, force est de constater que ce qui semble déterminer le discours dominant toute une tradition occidentale – la condamnation du mensonge en tant que tel, indépendamment des effets qu’il peut produire – est loin d’être une évidence quand on regarde d’autres temps et d’autres cultures. Au contraire, tout porte à croire que la condamnation du mensonge en soi et indépendamment de ses objectifs, effets et conséquences est une attitude bien propre à la tradition chrétienne et catholique, qui paraît remonter à saint Augustin et dont les motifs demandent une explication.

Pour une définition extra-morale du mensonge

Saint Augustin semble être le véritable fondateur du discours occidental sur le mensonge au sens foucaldien du terme, non seulement parce que l’évêque d’Hippone a, le premier, consacré deux monographies au mensonge, mais aussi parce qu’il jette les bases d’un changement de paradigme dans la définition et la théorie du mensonge25. « Ainsi donc mentir», écrit-il, « c'est avoir une chose dans l'esprit, et en énoncer une autre soit en paroles, soit en signes quelconques. »26. Le changement par rapport à Platon et à la philosophie grecque ne saurait être plus radical.

1. En plaçant le mensonge dans « l’âme » ou dans « l’esprit », Augustin sépare nettement le mensonge de l’erreur. Ainsi, la mesure du mensonge n’est plus la vérité, mais l’opinion ou la conviction personnelles. C’est là procéder par subjectivisation et intériorisation du mensonge.

22 La Bible, Nouveau Testament, Évangile selon saint Jean, 7, 2-10. 23 La Bible, Ancien Testament, Rois, 1, 22, 22, TOB, Paris, Éd. du Cerf/ Les Bergers et les Mages, 1987, p. 673. Du point de vue littéraire, il s’agit là évidemment d’un simple transfert métonymique. 24 La Bible, Ancien Testament, Exode, 20, 16, TOB, Éd. du Cerf/ Les Bergers et les Mages, 1987, p. 167. 25 Cf. Luc-Thomas SOMME, « La vérité du mensonge », Revue d’Éthique et de Théologie morale, 2005, HS, n° 236, p. 33-54. 26 Augustinus, Lüge, chap. 3, p. 2 sq. ; tr. française, Saint Augustin, « Du mensonge », in Œuvres Complètes, traduction de M. l'abbé DEVOILLE, traduites pour la première fois en français sous la direction de M. RAULX, t. XII, Bar-le-Duc, L. Guérin, 1866, p. 195-217, ici p. 196. UNE CRITIQUE DU MENSONGE PAR-DELA LE BIEN ET LE MAL 97

2. De ce fait, Augustin fait sortir le mensonge du domaine de la connaissance et de l’épistémologie pour le placer uniquement dans le domaine de la volonté humaine, et donc de l’éthique. Dorénavant, le mensonge consiste en une contradiction entre « opinion » – et non pas vérité – et « expression ». En cela, Augustin s’oppose clairement à la théorie de Platon qui avait distingué deux types de pseudos (« mensonge ») : le premier, qu’il appelle également le « vrai mensonge » ou « le mensonge de l’âme » et qui correspond à l’erreur, lui paraît beaucoup plus condamnable que le second, qu’il nomme le « mensonge par des paroles » et qui correspond au mensonge au sens propre du terme27. Avec saint Augustin, le contraire du mensonge n’est plus la vérité, mais la véracité. Dans sa réponse à B. Constant, Kant précise la nécessité d’une telle distinction, car la vérité n’est pas assujettie à notre volonté, elle ne saurait lui être soumise, puisque nous pouvons toujours nous tromper quand nous affirmons quelque chose, tandis que nous sommes tout à fait libres de décider si nous voulons dire ce que nous considérons comme la vérité ou non. Ce qui relève du domaine de notre volonté n’est donc pas la vérité, mais notre conviction ou notre opinion. Contrairement à la vérité, la véracité ou la sincérité peuvent faire l’objet de notre décision, nous avons le choix de dire ou de dissimuler ce que nous pensons. Le véritable antonyme du mensonge n’est donc pas – comme le suggère notre usage quotidien du mot – la vérité, mais la véracité28. 3. Le troisième élément du discours augustinien sur le mensonge a également déterminé la tradition occidentale, mais, cette fois-ci, en la chargeant d’une lourde hypothèque. Car, pour le Père de l’Église, le mensonge se fait toujours dans le but de tromper l’autre. Dans le 5e chapitre de De mendacio il écrit : « Une déclaration fausse [ici il faut comprendre “tenue pour fausse”, n. d. J. M.] qui est faite dans le dessein de tromper est un mensonge.29»

Cette « voluntas fallendi » se trouve encore de nos jours dans la plupart des définitions du mensonge, non seulement dans le catéchisme catholique ou dans la théologie morale, mais également chez des auteurs contemporains. Or, ce « dessein de tromper », qui constitue l’un des rares consensus de la théorie du mensonge, doit son existence à une métonymie discursive qui fait subrepticement passer un élément de la structure du mensonge pour son objectif principal. Car si le mensonge consiste en une divergence entre ce que l’on pense ou ressent d’une part et ce que l’on exprime de l’autre, il va de soi que cette divergence doit rester cachée pour que le mensonge puisse fonctionner. Mais s’il est vrai que la dissimulation de la différence entre

27 PLATON, « Der Staat », p. 84. 28 KANT, « Über ein vermeintes Recht », p. 36. 29 AUGUSTINUS, Lüge, chap. 5, p. 7. 98 JOCHEN MECKE opinion et expression est un élément nécessaire du mensonge, cela ne veut pas dire qu’elle en soit forcément l’objectif. Si nous opérons une distinction entre la dissimulation de la divergence entre opinion et énonciation d’une part, et les différents objectifs que peut avoir cette dissimulation de l’autre, il apparaît clairement que le mensonge peut servir une multiplicité d’objectifs, dont la tromperie constitue seulement une possibilité parmi d’autres. Certes, Augustin ne nie pas que le mensonge puisse poursuivre d’autres buts que celui de tromper, mais pour lui, celui de tromper est toujours et déjà donné. Des réflexions précédentes, il ressort que le mensonge consiste en un acte linguistique ou bien sémiotique caractérisé par les points suivants30 :

1. Dans chaque mensonge, il y a une divergence entre ce que l’on pense et ce que l’on dit, c’est-à-dire entre opinion et énonciation ou bien sentiments et expression. 2. Cette divergence est dissimulée. 3. La dissimulation de la divergence entre opinion et expression peut servir différents objectifs qui, en général, restent également cachés.

Cette définition entraîne plusieurs conséquences, dont la première a déjà été évoquée. Elle consiste en une distinction nette entre l’erreur et le mensonge, deux notions que le mot grec de pseudos incitait encore à confondre. Notre définition réduit donc l’ambiguïté sémantique de la notion de mensonge et fait définitivement sortir le mensonge de l’épistémologie pour le placer dans le domaine de l’éthique. Or, c’est justement dans le domaine de l’éthique et de la morale que la définition entraîne un changement de perspective radical. Car si nous avons éclairci le statut de la tromperie et mis en évidence qu’elle ne constitue point l’objectif du mensonge mais se réfère uniquement à la dissimulation de la divergence entre opinion et expression, il s’ensuit que le mensonge, une fois libéré de la relation nécessaire avec le but de tromper, peut devenir le moyen de réaliser une multiplicité d’objectifs différents. Le jugement moral sur le mensonge ne saurait donc être émis de manière catégorique, mais – toujours dans la terminologie de Kant – de manière « hypothétique », c’est-à-dire en fonction des objectifs dont le mensonge est le moyen de réalisation. Si l’on peut, grâce au mensonge, atteindre un nombre considérable d’objectifs différents, le jugement moral sur le mensonge dépend uniquement de ces objectifs. Certes, un mensonge peut servir à tromper autrui ou bien à ruiner sa renommée, mais il peut également être employé pour inspirer confiance en soi à quelqu’un ou lui donner de l’espoir31, pour encourager un ami ou bien – c’est le cas le plus spectaculaire, discuté déjà par Augustin, et plus tard par B. Constant et Kant – pour sauver des vies. Ce jugement non-catégorique mais relatif ou hypothétique porté sur

30 Cf. Simone DIETZ. Die Kunst des Lügens. Eine sprachliche Fähigkeit und ihr moralischer Wert, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 2003, p. 25. 31 Cf. Jakob der Lügner (Jurek BECKER, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1969). UNE CRITIQUE DU MENSONGE PAR-DELA LE BIEN ET LE MAL 99 le mensonge correspond par ailleurs à notre pratique dans la vie quotidienne, où nous évaluons les mensonges en fonction des buts que nous poursuivions. De ce fait, le contraire du mensonge, la sincérité, perd également le statut d’attitude irréprochable qu’elle avait jusque-là. Avec la sincérité, on peut, certes, créer de la confiance, renforcer l’amitié et la confidence, mais on peut aussi détruire l’estime de soi de quelqu’un, en lui disant par exemple ce que l’on pense vraiment de ses compétences, ou encore agresser autrui, toujours en faisant croire que tout ce qui nous intéresse, c’est d’être absolument sincère ou bien – pour reprendre l’exemple cher à saint Augustin, Kant et B. Constant – dénoncer une victime et être complice d’un assassinat. Walter Benjamin a, dans une esquisse pour un travail sur le mensonge, dénoncé le caractère problématique de la sincérité de certaines personnes qui racontent sans gêne tout ce qu’elles pensent ou ressentent, en assimilant ce comportement à un manque de retenue, de souci de soi et même d’hygiène personnelle32. Si notre définition nous permet donc de libérer le mensonge de l’idée erronée qu’il est toujours lié à un dommage pour autrui et d’ouvrir une voie pour un jugement plus différencié et équitable en fonction des objectifs que l’on veut atteindre grâce à lui, elle permet également une plus grande précision et un discernement accru dans l’usage du mot. En fait, certains chiffres exorbitants dans les statistiques sur le mensonge reposent sur un manque de précision sémantique. La définition augustinienne, par exemple, devrait en toute rigueur inclure les compliments dans le mensonge, car toutes les conditions fixées par celle-ci s’y retrouvent, à savoir une contradiction entre opinion et expression et le dessein de tromper l’autre ; nous ne voulons certainement pas, en effet, que ce dernier sache que nous pensons le contraire de ce que nous venons de dire et que nous trouvons en vérité la nouvelle coiffure de notre amie horrible. Pourtant, dans la vie quotidienne, personne ne considère les compliments et les formes de politesse comme un mensonge. La raison en est évidente : tout le monde sait qu’il s’agit là non pas d’une expression de nos pensées personnelles, mais plutôt de formules auxquelles nous obligent les règles de la bonne conduite. Elles obéissent d’une manière évidente et visible pour tous à un code imposé. Mais si un mensonge est annoncé et attendu, il lui manque l’élément de la dissimulation et il n’en est donc plus un. Ce qui annonce ici le mensonge, c’est le code de la communication même, à savoir une situation concrète qui nous signale qu’un énoncé n’est pas l’expression d’une opinion personnelle, mais qu’il est dû au respect des exigences de la situation. Il en est de même pour toutes les formes de communication indirecte où le contexte ou des signes spécifiques indiquent qu’il s’agit d’un usage « impair » (Frege) de la langue – comme pour les métaphores, les hyperboles,

32 Walter BENJAMIN, « Notizen zu einer Arbeit über die Lüge », in Walter BENJAMIN, Gesammelte Schriften, t. VI, éd. par Rolf TIEDEMANN et Hermann SCHWEPPENHÄUSER, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1985, p. 62-64. 100 JOCHEN MECKE les métonymies et tous les tropes et autres figures de rhétorique. Ici, ce sont les signes littéraires eux-mêmes qui révèlent au destinataire du message qu’il y a une divergence entre opinion et expression et que le message n’est pas à prendre au pied de la lettre, mais au sens figuré. Un cas peut-être encore plus courant dans la vie quotidienne est celui de l’ironie. Si son emploi est facile entre amis, c’est parce qu’en cette circonstance, tout le monde connaît les opinions véritables de celui qui parle et que la contradiction entre ses convictions et un énoncé ponctuel est d’emblée visible. Mais avec des inconnus, il est beaucoup plus malaisé de rendre l’ironie perceptible. La tâche de révéler la divergence entre opinion et expression revient alors à la forme de l’expression elle-même. Ainsi, des figures rhétoriques, des tropes ou bien une prosodie ou une tonalité différentes doivent signaler au destinataire de ne point prendre l’énoncé au premier, mais au second degré. Dans tous ces cas de figure, la divergence entre opinion et expression n’est pas dissimulée, mais manifestée grâce à des signes supplémentaires. C’est pour cette même raison que la littérature – et ce malgré le soupçon général que Platon a formulé contre elle dans La République – n’est pas susceptible de mentir. En effet, là aussi, le mensonge est annoncé et ne saurait plus fonctionner comme tel. Friedrich Nietzsche a insisté sur cette caractéristique non mensongère de tout art33. L’art et la littérature exposent donc volontairement le caractère inventé et fictif de leurs créations, ils dénoncent leur propre mensonge et ne sauraient donc point mentir, du moins pas au sens propre du terme.

Les fonctions du mensonge

Nous avons jusqu’ici décrit la structure du mensonge. Mais quelles sont les fonctions du mensonge pour les individus et pour la société ? Pourquoi exerce-t-il une fascination si grande ? Et pourquoi les sociétés et cultures occidentales condamnent-elles d’une manière si véhémente ce qu’elles pratiquent avec autant d’insistance ? Pour l’individu, le mensonge est certainement une technique classique pour apparaître comme ce qu’il n’est pas. En effet, ce que les romans racontent à titre d’exceptions remarquables, c’est-à-dire les faits et méfaits d’imposteurs célèbres, tels Guzman de Alfarache, Martin Guerre, le lieutenant de Köpenick, Mr. Ripley ou Felix Krull, est en réalité une pratique quotidienne. Ainsi, le psychologue Robert Feldman a pu constater lors d’une expérience que des personnes qui ne se connaissent pas mentent en moyenne deux ou trois fois pendant un entretien de dix minutes. L’objectif de ces

33 « Kunst behandelt den Schein als Schein, will also gerade nicht täuschen, ist wahr » (Friedrich NIETZSCHE, « Nachlass 1869-1874 », in Kritische Studienausgabe, éd. par Giorgio COLLI et Mario MONTINARI, München, dtv, 1999, p. 632 sq). UNE CRITIQUE DU MENSONGE PAR-DELA LE BIEN ET LE MAL 101 mensonges est chaque fois le même : se montrer sous un jour flatteur, pour se faire apprécier davantage de l’interlocuteur34. Cette technique consistant à simuler un statut social, une force ou une compétence supérieurs, n’est en fait que la manifestation spécifique d’une fonction plus générale du mensonge, qui sert à compenser des faiblesses ou une position sociale subalterne. Il existe toute une tradition dans laquelle le mensonge est un moyen de se soustraire aux normes et aux valeurs dominantes et à leur contrôle permanent sans risquer toutefois de sanction immédiate. Même si le prince, selon une longue tradition de théorie politique qui s’étend de Platon à Machiavel, a le droit, contre les adversaires de l’État, d’employer le mensonge, celui-ci était en réalité avant tout un instrument des subalternes, des dominés et opprimés, car il leur permettait d’échapper à la surveillance du pouvoir en place. Comme le montre le roman picaresque, la ruse, la simulation, la dissimulation et le mensonge sont surtout des techniques de survie des « hommes infâmes », sans pouvoir ni moyens de subsistance. Ils servent à déjouer le contrôle d’un pouvoir souverain qui ne laisse aucun « jeu », aucun espace à ses sujets. En particulier, il est un moyen classique dans des situations où le pouvoir exige de ses sujets une adhésion inconditionnelle aux dogmes et à l’idéologie dominante : la dissimulation des convictions et des sentiments ainsi que le mensonge sont les seuls moyens de survie pour les subalternes. Ainsi, l’obligation faite aux juifs et aux musulmans espagnols, soit de quitter le pays, soit de se convertir, crée une injonction paradoxale qui aboutit à un mensonge structurel – “une conversion forcée de bon gré” – provoquant de son côté un soupçon généralisé de mensonge dirigé contre tous les convertis, et contre lequel on ne saurait se défendre que par des mensonges supplémentaires35. De la sorte, la surveillance systématique et la délation généralisée créent une structure dans laquelle le mensonge est ancré d’emblée et où le mensonge individuel n’est qu’une réaction particulière à une situation mensongère en elle-même. Dans une note intitulée « Notizen über “Objektive Verlogenheit” », W. Benjamin a introduit une nouvelle catégorie ou bien un nouveau type de mensonge qui permet, entre autres, de décrire la particularité de la situation évoquée ci-dessus36. Benjamin appelle « mensonge objectif » un type de mensonge qui ne réside plus dans l’individu et où ce dernier n’a aucune responsabilité personnelle, mais est plutôt de bonne foi, tandis que le cadre dans lequel se place cette sincérité est lui-même mensonger37. Dans ce cas de figure, la sincérité individuelle et subjective se situe dans un contexte de

34 Robert FELDMAN et al., « Self-presentation and Verbal Deception: Do Self-Presenters Lie More? », in Basic and Applied Psychology, n° 24, p. 163-170. Cf. également Robert FELDMAN, Lügner. Die Wahrheit über das Lügen, Berlin/ Heidelberg, Springer Spektrum, 2012. 35 e e Cf. Bartolomé BENNASSAR, L’Inquisition espagnole. XV -XIX siècles, Paris, Hachette, 2009. 36 Walter BENJAMIN, « Notizen über “Objektive Verlogenheit” », in BENJAMIN, Gesammelte Schriften, t. VI, p. 60-62. 37 Ibid., p. 60. 102 JOCHEN MECKE mensonge objectif et collectif. Pour bien expliquer à quoi Benjamin se réfère, il est peut-être utile de mentionner aussi le cas contraire, où le mensonge individuel se transforme en sincérité objective. Il en est ainsi dans une situation où l’on arrive, grâce à un mensonge subjectif, à révéler une véracité objective, par exemple quand nous mettons quelqu’un à l’épreuve en nous accusant nous-même d’un méfait d’une manière mensongère pour permettre à cette personne de pardonner, ce qui n’aurait pas été possible sans cette astuce38. Cela est également le cas quand nous essayons, par un mensonge, de construire un piège pour que quelqu’un avoue ses véritables opinions ou pour qu’il énonce une vérité dissimulée. Certes, le texte de Benjamin, par son caractère fragmentaire, reste à plusieurs égards énigmatique. Mais nous trouvons d’autres indices pour mieux comprendre son approche si nous tenons compte d’une distinction supplémentaire. En fait, comme Hannah Arendt qui différencie les vérités de fait et les vérités de raison39, Benjamin établit une distinction entre une « véracité » relative aux faits (« Wahrheit/ Falschheit in den Angaben ») et une sincérité qui se réfère à une vérité supérieure (« Wahrheit/ Unwahrheit »)40. Or, cette distinction donne lieu à une combinatoire intéressante : de même qu’une fausseté des faits, selon Benjamin, est tout à fait compatible avec une sincérité supérieure, la véracité des faits l’est avec un mensonge supérieur. Benjamin illustre sa thèse par l’exemple de l’éducation sexuelle des enfants, où la véracité des faits peut quelquefois correspondre à un mensonge supérieur, simplement parce que certains faits ne sont pas encore intéressants ou compréhensibles pour un enfant d’un certain âge et vice-versa41. Le même chiasme est à l’œuvre quand, dans le cadre d’un régime autoritaire, des insurgés ou des rebelles mentent pour vaincre un système politique mensonger lui-même et imposent de cette manière une vérité supérieure, tandis que la sincérité serait ici un mensonge objectif, car elle serait suicidaire et s’inscrirait dans le cadre d’un système objectivement mensonger42. De la même manière, un juif converti qui opterait, dans le contexte de l’inquisition espagnole, pour la sincérité en avouant avoir toujours pratiqué sa religion d’origine est certainement sincère sur le plan subjectif, mais si nous plaçons cette sincérité dans la situation d’oppression et d’extermination des autres religions, il se transforme en mensonge objectif, car les juifs ont été forcés à se convertir «de bon gré». L’affaire Lewinsky illustre un autre cas de figure : dans le contexte des accusations contre Bill Clinton, à qui l’on reprochait d’avoir eu des rapports sexuels avec la stagiaire Monica Lewinsky, l’affirmation du président américain disant « I had no sexual relations with that woman » était, certes, un mensonge subjectif, mais proféré dans une situation qui consistait à

38 BENJAMIN, « Lüge », p. 62. 39 Hannah ARENDT, Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays, München, Piper, 2013, p. 48 sq. 40 BENJAMIN, « Lüge », p. 63. 41 Ibid., p. 62 sq. 42 Ibid., p. 63. UNE CRITIQUE DU MENSONGE PAR-DELA LE BIEN ET LE MAL 103 introduire dans le domaine de la politique des critères moraux s’appliquant uniquement à la vie privée. Le mensonge individuel de Bill Clinton servait donc à se protéger contre une ingérence illégitime dans sa vie privée et était de ce fait plus légitime que les accusations dirigées contre lui. Par son mensonge, Bill Clinton défendait une vérité supérieure, la protection de la vie privée de chaque individu, conférant de cette manière au mensonge subjectif une véracité objective supérieure aux accusations soi-disant morales et en réalité mensongères. Cependant, à première vue, la théorie du mensonge objectif pourrait apparaître comme un retour à la confusion platonicienne entre mensonge et erreur, car dans les deux cas, la conviction subjective est fausse. Mais à la différence de l’erreur platonicienne, le mensonge objectif benjaminien est marqué par une divergence entre l’opinion et l’expression des souverains ou des dominants. Ainsi, les inquisiteurs espagnols savaient parfaitement que leurs accusations servaient, la plupart du temps, des intérêts particuliers, car les délateurs agissaient souvent par envie, antipathie personnelle, rancune ou bien dans le dessein de se débarrasser d’un concurrent43. Quant aux inquisiteurs eux-mêmes, leur motivation était souvent d’ordre économique, car l’Inquisition devait se financer au moyen des fortunes confisquées aux « hérétiques »44. Rien d’étonnant à ce que beaucoup d’hommes riches aient figuré parmi les accusés. La différence entre l’erreur chez Platon et le mensonge objectif chez Benjamin réside donc dans le fait que chez le philosophe allemand, la divergence ne concerne pas l’individu, mais le souverain ou bien la société entière. Benjamin rompt donc avec la limitation individualiste et subjectiviste de la théorie du mensonge et prend en considération la diversité et la multiplicité des fonctions qu’il peut avoir dans la société. L’une de celles-ci est en relation directe avec les processus de différenciation dont est issue la société moderne. Car si cette dernière peut se décrire, selon Niklas Luhmann, comme un ensemble de sous-systèmes auto-poïétiques relativement autonomes qui fonctionnent selon leurs propres règles, aucun individu ne sera plus capable de développer des compétences dans tous les domaines, mais chacun se voit forcé de faire appel à des spécialistes à qui il est contraint de faire confiance. La confiance mutuelle joue donc un rôle très important, car elle contribue à réduire la complexité d’une société différenciée et permet d’agir même là où un individu normal n’a pas les données nécessaires pour prendre une décision rationnelle45. Or, dans ce contexte, le mensonge est évidemment contre- productif car, s’il est employé à plusieurs reprises, il subvertit les bases de la confiance et donc également celles de la société moderne.

43 Henry KAMEN, La Inquisición española. Mito e historia, Barcelona, Crítica, 2013, p. 39, passim. 44 Henry KAMEN, The Spanish Inquisition. An historical revision, London, Weidenfeld & Nicolson, 1997, p. 153. 45 Niklas LUHMANN, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart, Lucius & Lucius, UTB, 2000. 104 JOCHEN MECKE

Mais il peut également contribuer à une réduction au moins momentanée de la complexité. En effet, la différenciation des sociétés modernes attribue à chaque individu différents rôles et fonctions qui entraînent une multiplication considérable de normes spécifiques de chaque domaine et de prises de positions qui en découlent. Ainsi, un homme politique doit peut-être défendre la position de son parti quant à la nécessité de réformes sociales, mais en tant que délégué local il est éventuellement de l’avis contraire, car il voit quelles conséquences de telles réformes auraient par exemple pour les plus démunis. En sa qualité de père de famille, par contre, il opterait plutôt pour une réforme des retraites, car celles-ci pèseront lourdement sur ses enfants. Si les différentes positions sont contradictoires et s’il n’est plus possible de « négocier » entre elles, le mensonge peut temporairement dissimuler ces contradictions internes et accorder à l’individu un délai qui lui permettra de trouver plus tard une attitude cohérente. Le mensonge, tout en masquant pendant un temps la contradiction entre des normes et des prises de positions différentes, sert alors – paradoxalement au même titre que la confiance – à réduire et à camoufler la multiplicité des valeurs et des normes, et contribue, certes de manière fictive, à la cohésion sociale. Mais si la variété de ces « convictions » « fonctionnelles » et imposées ne peut plus être réduite grâce à une négociation interne de l’individu avec lui- même et s’il refuse de surcroît de cacher ce conflit par un mensonge, il peut essayer de se mentir à lui-même. Or, ce type de mensonge constitue un problème théorique primordial, car si le mensonge consiste en une divergence dissimulée entre opinion et expression, il faudrait que l’individu occupe deux rôles en même temps, qu’il soit en même temps menteur et victime. Il s’ensuit que, dans ce cas, le menteur doit se dissimuler à lui-même sa véritable opinion tout en prétextant – encore une fois vis-à-vis de lui-même – qu’il en a une autre. On pourrait évidemment, pour résoudre le paradoxe, avoir recours ici à la psychanalyse et à la théorie freudienne du subconscient. Mais, comme Jean-Paul Sartre le souligne à juste titre dans le chapitre de L’Être et le Néant consacré à la mauvaise foi, cela ne saurait apporter une solution car, à ce moment-là, nous sommes confrontés à un autre paradoxe, celui d’un menteur inconscient de son mensonge46. Sartre insiste donc sur le fait que celui qui se ment à lui-même doit, lui aussi, être parfaitement conscient de son mensonge, sans pour autant expliquer davantage comment cela serait possible. Mais la conception de l’« individu » comme « dividu » réel que nous avons esquissée plus haut pourrait aider à résoudre ce paradoxe. Dans cette perspective, l’idée est concevable qu’une identité sociale liée à une certaine fonction ou position sociale dissimule à une autre sa prise de position particulière, de manière que la partie qui ment reste parfaitement consciente de la différence entre conviction et expression.

46 Jean-Paul SARTRE, L’Être et le Néant. Essai d'ontologie phénoménologique, Paris, Gallimard (coll. « Tel »), 1976, p. 85. UNE CRITIQUE DU MENSONGE PAR-DELA LE BIEN ET LE MAL 105

Sans le mensonge à soi-même, on ne saurait expliquer d’autres types de mensonges qui jouent un rôle considérable dans la société. En particulier, il serait impossible de saisir la collusion particulière qui peut s’installer entre le menteur et sa victime, par exemple quand un partenaire trompe l’autre “apparemment” sans que celui-ci s’en rende compte. Une telle collusion serait inconcevable si les victimes ne se mentaient pas à elles-mêmes. Cela rend possible une forme de communication où les deux instances du mensonge collaborent de manière cachée pour sa réussite. Si cette collaboration s’étend à une collectivité ou bien à une nation, il peut s’instaurer un mensonge structurel, qui consiste en la coopération permanente entre un ou plusieurs menteurs institutionnalisés d’une part, et ceux qui croient les mensonges tout en se mentant en partie à eux-mêmes de l’autre. Le cas le plus connu de ce type de collusion est évidemment celui des promesses électorales. On peut se demander pourquoi des électeurs intelligents croient chaque fois de nouveau à des promesses si souvent répétées de baisse du chômage, de réduction des impôts ou d’augmentation du pouvoir d’achat, alors que celles-ci ont déjà été démenties après les élections précédentes et que la situation économique rend fort improbable leur réalisation. Ce n’est compréhensible que si une partie de l’électorat est capable de se mentir à elle-même pour dissiper les doutes concernant les possibilités de tenir ce genre de promesses. Le gain d’un tel mensonge à soi-même est évident, car il permet à l’électeur de ne pas devoir prendre en considération la possibilité de sacrifices personnels, avec l’avantage supplémentaire de se faire plaindre comme quelqu’un qui a été trompé et trahi, tout en agissant de bonne foi. Les plaintes habituelles portées contre « les hommes politiques menteurs » font partie intégrante de ce jeu et montrent bien que la critique elle-même peut appartenir à une structure mensongère : si elle dénonce le mensonge de certains hommes politiques, elle garantit en même temps la continuité d’une collusion entre élus et électeurs qui peuvent, lors des prochaines élections, « tomber » dans le même piège. Par ailleurs, dénoncer quelques mensonges et s’en scandaliser permet en même temps le maintien du mensonge au niveau général, dont ils ne sont que des cas particuliers. Dans le contexte de ce mensonge structurel, les délimitations peuvent parfois être floues entre le mensonge à soi-même et le mensonge tout court. Il est tout à fait imaginable qu’un électeur ne se mente pas à lui-même quand il croit à des promesses tant de fois démenties, mais qu’il feigne simplement de le faire. Dans ce cas-là, la situation serait parfaitement symétrique et le mensonge serait partagé par tous les partenaires de la communication politique. Les mensonges des hommes politiques qui font des promesses qu’ils considèrent eux-mêmes comme irréalisables se trouveraient dans une harmonie préétablie avec les mensonges des électeurs qui feignent d’y croire, à tel point que la dénonciation de quelques menteurs particuliers n’est pas seulement complètement compatible avec ce système, mais qu’il en garantit même l’homéostasie. Cette structure particulière du mensonge structurel nous indique déjà en partie une réponse à la question 106 JOCHEN MECKE posée au début, à savoir pourquoi une société ou une culture condamnent d’une manière si catégorique ce que tout le monde semble pratiquer.

Les fonctions de la condamnation catégorique du mensonge

Une raison souvent citée pour la condamnation catégorique du mensonge est que le mensonge détruirait la confiance entre des personnes de manière radicale et permanente, comme le dit bien le proverbe allemand : « Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht47. » Ainsi, selon cette idée très répandue, il ne faut jamais mentir, même dans des situations où cela peut de prime abord paraître légitime. Dans le débat déjà évoqué avec B. Constant, Kant a présenté une version plus philosophique de cet argument général. Dans une critique de la position kantienne, Constant défend le droit de mentir dans la situation déjà évoquée par saint Augustin. Si des assassins poursuivent une victime, nous avons le droit de refuser de dire la vérité et de mentir, car selon Constant personne n’a droit à une vérité qui nuirait à autrui48. Contre cette position, Kant rectifie d’abord une erreur de Constant qui suppose que nous pouvons délibérément disposer de la vérité d’un énoncé car, en réalité, nous pouvons toujours nous tromper. En revanche, nous pouvons décider de dire ce que nous croyons49. Nous avons donc, par notre volonté, une emprise non sur la vérité, mais sur notre véracité. Après cette mise au point, Kant précise que personne n’a de droit à la véracité d’autrui, mais seulement à sa propre véracité. Et pour lui, ce droit-là n’est pas un droit personnel ou individuel, mais un droit de l’humanité entière, que personne n’a le droit de sacrifier pour des intérêts personnels. La raison que Kant donne pour cette thèse est fondée sur une théorie de la véracité comme condition sine qua non du droit.

Wahrhaftigkeit in Aussagen, die man nicht umgehen kann, ist formale Pflicht des Menschen gegen jeden, es mag ihm oder einem anderen daraus auch noch so großer Nachteil erwachsen ; und, ob ich zwar dem, welcher mich ungerechterweise zur Aussage nötigt, nicht unrecht tue, wenn ich sie verfälsche, so tue ich doch durch eine solche Verfälschung, die darum auch (obzwar nicht im Sinne der Juristen) Lüge genannt werden kann, im wesentlichsten Stücke der Pflicht überhaupt Unrecht : d.i. ich mache, soviel an mir ist, dass Aussagen überhaupt keinen Glauben finden, mithin auch alle Rechte, die auf Verträgen gegründet werden, wegfallen und ihre Kraft einbüßen ; welches ein Unrecht ist, welches der Menschheit überhaupt zugefügt wird. Die Lüge also, bloß als vorsätzlich unwahre Aussage gegen einen anderen Menschen definiert, bedarf nicht des Zusatzes, dass sie einem anderen schaden müsse ; wie die Juristen es zu ihrer Definition verlangen. Denn sie schadet jederzeit einem anderen,

47 L’équivalent français de cette expression serait à peu près : « Qui trop souvent crie au loup se fera dévorer. ». 48 Benjamin CONSTANT, Des réactions politiques, Seconde édition, s.l., 1796-1797, p. 75. 49 KANT, « Über ein vermeintes Recht », p. 35 sq. UNE CRITIQUE DU MENSONGE PAR-DELA LE BIEN ET LE MAL 107

wenngleich nicht einem anderen Menschen, so doch der Menschheit überhaupt, indem sie die Rechtsquelle unbrauchbar macht. […]50

Selon Kant, un mensonge détruit toute confiance en la véracité des affirmations et rend de ce fait une véritable communication impossible. En particulier, un mensonge invalide tous les contrats, car selon lui, ceux-ci ne seraient concevables sans l’obligation pour chacun à la véracité. La source du droit même serait dès lors invalidée. Kant part donc de l’idée que nous ne pouvons croire les déclarations des autres que si nous présupposons qu’elles sont toujours véridiques. Mais est-ce que cela correspond vraiment à notre expérience vécue ? En réalité, nous jugeons les mensonges de notre entourage non pas de manière catégorique, mais toujours en fonction des objectifs qu’il veut atteindre. Quand par exemple un ami nous dit que notre nouveau costume nous va très bien et quand nous apprenons plus tard qu’il nous a menti, c’est son dessein de nous épargner une déception ou de nous donner confiance en notre apparence qui détermine notre jugement. Mais même si, dans ce cas-là, nous condamnerions son mensonge, cela ne veut pas dire que notre confiance en cet ami est détruite à jamais. Nous ne lui ferons peut-être plus confiance pour des questions de style vestimentaire, mais cette réticence ne nous empêchera pas de nous fier à lui dans d’autres situations, comme par exemple quand il nous fait la promesse de nous prêter de l’argent. Donc, ce que Kant exclut d’emblée est une faculté humaine qui lui est par ailleurs très chère : c’est la faculté de juger chaque cas particulier qui nous permet de faire la part des choses et de décider de la crédibilité de quelqu’un ou si nous pouvons, dans une situation concrète, faire confiance à quelqu’un qui nous a peut-être menti dans une autre. Donc, un mensonge n’abolit nullement toute confiance en la crédibilité d’autrui. En fait, le manque notoire, chez Kant, d’un appel à la faculté de jugement fait apparaître un avantage considérable de toute condamnation catégorique du mensonge : il permet de renoncer à un examen détaillé des cas de figures concrets, des fonctions et des objectifs différents du mensonge et donc de réduire sa complexité à un schéma unique. Si l’on peut condamner le mensonge en tant que tel et en soi, nul besoin pour le théoricien de différencier et nul besoin non plus pour le praticien d’utiliser sa faculté de jugement. La condamnation catégorique du mensonge permettrait donc à chacun de faire l’économie d’un effort de jugement individuel et de se laisser aller à une paresse intellectuelle. Un autre argument pour une condamnation catégorique du mensonge provient de la théorie du langage. Dans sa critique du mensonge, saint Augustin s’était servi d’un argument comparable à celui de Kant. Mais à la différence de Kant qui puise ses arguments surtout dans la philosophie du droit, les arguments de saint Augustin relèvent de la philosophie du langage, soutenue par une argumentation théologique. Augustin part du principe que Dieu a créé le langage pour permettre aux hommes de se communiquer mutuellement leurs pensées. Celui qui utilise le langage pour tromper autrui

50 Ibid. 108 JOCHEN MECKE dénature le langage et en abuse : « Celui qui utilise le langage pour tromper et non pas dans un dessein pour lequel il a été créé, commet un péché »51. La thèse de saint Augustin fait preuve d’un réductionnisme qui a longtemps hypothéqué le discours occidental sur le mensonge tout en le doublant d’un jugement moral négatif. En fait, un simple regard sur l’usage que nous faisons du langage dans la vie quotidienne suffit pour se rendre à l’évidence : loin de servir uniquement à nous communiquer mutuellement nos véritables pensées, il peut servir des objectifs multiples. Grâce à lui, nous pouvons tromper un adversaire, attaquer quelqu’un verbalement, ouvrir un colloque, nommer quelqu’un professeur, déclarer un couple mari et femme, nous divertir ou divertir un public. C’est surtout la théorie pragmatique des actes de langage d’un Ludwig Wittgenstein ou d’un John L. Austin qui a débarrassé la philosophie du langage du réductionnisme affirmatif. Sur cette base, la théorie pragmatique aurait pu contribuer à une prise en compte de la variété des fonctions linguistiques dans toute son ampleur et par là-même à une description neutre et « par-delà le bien et le mal » de la structure linguistique du mensonge. En ce sens, Ludwig Wittgenstein avait constaté dans les Investigations philosophiques : « Le mensonge est un jeu de langage qui doit être appris comme un autre52. » Mais contrairement à ce que l’on pourrait attendre, la théorie des actes de langage fait montre de la même réticence vis- à-vis du mensonge que les théories précédentes. Pour Austin par exemple, le mensonge est un acte de langage « malencontreux »53. Toutefois, cette caractérisation du mensonge ne serait valable que si le menteur avait voulu faire une déclaration sincère. Or, ce n’est évidemment pas le cas. Tout au contraire, un menteur ne rate pas, mais réussit pleinement son acte linguistique, si son interlocuteur veut bien le croire. S’il contrevient, certes, à la règle de la sincérité, il maîtrise néanmoins parfaitement les règles qui établissent l’acte linguistique de mentir. Il n’est donc point possible de puiser dans une théorie pragmatique des arguments contre le mensonge. Néanmoins, un argument particulier peut nous aider à analyser une fonction de la condamnation catégorique du mensonge qui n’a pas encore été évoquée jusqu’à maintenant. Il s’agit d’un argument contre le mensonge utilisé, entre autres, par saint Augustin. Selon ce raisonnement, le mensonge est une contradiction en soi car le menteur présuppose chez le destinataire une croyance en la sincérité de la communication qu’il détruit lui-même54. De cette manière, tout menteur

51 Aurelius AUGUSTINUS, Enchiridion de Fide, Spe et Charitate, liber unus, in S. Aurelii Augustini omnia - editio latina, document online, http://www.sant- agostino.it/latino/enchiridion/ index.htm [12/03/2014], cité d’après la traduction allemande in Paul KESLING, Einführung, in AUGUSTINUS, Lüge, p. I – IL, ici p. XXVIII. 52 « Das Lügen ist ein Sprachspiel, das gelernt sein will, wie jedes andere. » (Ludwig WITTGENSTEIN, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt, Suhrkamp, 1971, p. 141). 53 John L. AUSTIN, How to Do Things With Words, Oxford/ London, Oxford University Press, 1975, p. 50. 54 AUGUSTINUS, De doctrina christiana, I, 36, 40, cité par Paul KESELING, « Einführung », in AUGUSTINUS, Lüge, p. VI-XLVIII, ici p. XXII. UNE CRITIQUE DU MENSONGE PAR-DELA LE BIEN ET LE MAL 109 détruirait les conditions de possibilité de son propre acte. Pour des raisons d’espace et de temps, nous ne sommes pas en mesure de discuter ici en détail le bien-fondé de cette thèse et nous devons nous contenter de renvoyer à un argument déjà avancé. Certes, un menteur présuppose chez son interlocuteur la croyance en la véracité de ce qu’il dit et s’il veut que son mensonge réussisse, il doit tout faire pour lui paraître crédible. Mais cette croyance ne s’étend pas automatiquement à tous les énoncés et un mensonge dans un cas particulier ne détruit point nécessairement la croyance en la sincérité en général. Si nous apprenons par hasard que quelqu’un nous a menti dans une situation concrète, nous n’en concluons nullement de ne plus jamais le croire, mais nous serons peut-être plus prudents dans des situations futures comparables à celle du premier mensonge. Toutefois, ce qui est faux sur le plan logique l’est beaucoup moins sur le plan pragmatique. Pour que le mensonge puisse fonctionner, le menteur doit faire en sorte que son interlocuteur croie en sa sincérité. Or, toute affirmation de sincérité a le même effet paradoxal qu’un démenti : il provoque le soupçon qu’il veut dissiper. Si quelqu’un insiste sans raison apparente sur sa véracité, nous sommes plutôt enclins à mettre en doute ce qu’il dit. Le menteur ne saurait donc inspirer de manière directe la croyance en sa bonne foi, dont il a cependant besoin pour que le mensonge puisse réussir. Mais le défaut de moyens directs pour augmenter la crédibilité ne veut pas dire qu’il n’en existe pas du tout. En effet, on peut renforcer sa crédibilité d’une manière indirecte en dénonçant le mensonge. Le procédé consiste en l’inversion du soi-disant paradoxe du mensonge. Si, selon la critique classique, tout menteur détruit la croyance en la sincérité sans laquelle son mensonge ne pourrait fonctionner, on peut conclure que le meilleur moyen pour faire croire à sa propre sincérité est une condamnation sans faille et catégorique du mensonge. Ce serait donc la condamnation du mensonge qui crée l’impression d’une sincérité inconditionnelle et fait en sorte que le mensonge peut mieux fonctionner. Évidemment, une telle technique connaît ses limites sur le plan individuel, car elle ne saurait marcher que jusqu’au moment où le menteur est découvert. Il s’ensuivrait une perte de crédibilité radicale de celui-ci. Mais ces limites n’existent pas si nous étendons notre raisonnement à des collectivités comme une société ou une culture. En effet, à ce niveau-là, la condamnation catégorique du mensonge, indépendamment des objectifs et effets particuliers, concourt d’une manière considérable à son meilleur fonctionnement. Dans cette perspective, la condamnation catégorique dans le domaine de la morale contribuerait à son fonctionnement dans la pratique quotidienne. Ainsi, le mensonge présupposerait un méta-mensonge ou mensonge sur le mensonge, par lequel une société ou une culture s’aveugle sur sa propre pratique. Au début de nos réflexions sur le mensonge, nous nous sommes demandé si la condamnation véhémente et catégorique d’une pratique aussi répandue dans une société ou une culture obéit à une raison qui ne relèverait pas de la divergence classique entre morale et pratique, mais qui serait spécifique du 110 JOCHEN MECKE mensonge. Il se pourrait que ce motif spécifique se trouve dans cette interprétation de la condamnation catégorique du mensonge comme une manifestation de sincérité collective. À ce propos, ce n’est probablement pas le fruit du pur hasard si la condamnation la plus radicale du mensonge et la tentative la plus dure et cruelle de forcer des êtres humains à la véracité par tous les moyens, y compris la torture, la menace de mort ou bien de condamnation éternelle, se trouvent justement dans des institutions autocratiques ou totalitaires qui se croient en possession d’une vérité absolue et qui sont en réalité mensongères. L’histoire de l’Inquisition et de l’Église catholique, du KGB et du communisme, de la Gestapo et du fascisme en dit long. Si l’on passe en revue cette histoire impressionnante du mensonge totalitaire, on ne saurait se soustraire au soupçon que la condamnation morale et catégorique du mensonge est peut-être la condition de possibilité de son meilleur fonctionnement.

Mensonge : textes et contextes

Zur Kritik der Ehrlichkeit

Rainer NÄGELE Yale University

Die Lüge ist nicht in den zehn Geboten untersagt Walter Benjamin1 N’allez pas vouloir être si honnête homme que vous donniez à autrui l’envie d’être méchant. Baltasar Gracián2

Was hier als Motto den folgenden Überlegungen vorangestellt ist, mag manche, die in der Kindheit mit christlichen Katechismen traktiert wurden, überraschen. Hatte man dort doch gelernt: achtes Gebot: „Du sollst nicht lügen“. Benjamins apodiktischer Satz im Kontext mehrerer Notizen zum Komplex der Lüge ist aber keineswegs aus der Unkenntnis der zehn Gebote geschrieben, sondern macht eine höchst problematische Verkürzung und Verallgemeinerung dessen, was in der hebräischen Bibel tatsächlich steht, rückgängig. Dort heißt es nämlich, im deutschen Wortlaut der Zürcher Bibel: „Du sollst nicht als falscher Zeuge aussagen gegen deinen Nächsten.“3 Das Gebot bezieht sich auf eine sehr spezifische sozial-juristische Situation und nicht auf das Lügen schlechthin, wie auch Martin Klopfenstein anmerkt:

Nicht umsonst untersagt der Dekalog nicht das Lügen im allgemeinen, sondern sozusagen das Paradigma, den gewichtigsten, härtesten, greifbarsten und häufigsten Fall davon: das Lügenzeugnis vor Gericht, wo es konkret um Recht, Ehre oder gar Leben des Nächsten geht. Eindrücklich bringt der Dekalog viel

1 Walter BENJAMIN, Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1991, Bd. VI, S. 63. 2 Baltasar GRACIÁN, Traités politiques, esthétiques, éthiques, présentés et traduits par Benito Pelegrín, Paris, Seuil, 2005, S. 351. 3 Exodus 20, 16 (Zürcher Bibel 2007). In seiner sehr detaillierten Analyse über den Begriff der Lüge in der hebräischen Bibel übersetzt Martin Klopfenstein die Stelle: Du sollst gegen deinen Nächsten nicht als Lügenzeuge (vor Gericht) aussagen (Martin KLOPFENSTEIN, Die Lüge nach dem alten Testament. Ihr Begriff, ihre Bedeutung und ihre Beurteilung, Zürich/ Frankfurt a.M., Gotthelf-Verlag, 1964, S. 18). 114 RAINER NÄGELE

direkter als Hammurapi den Nächsten zur Sprache. Der Nächste ist es, dem der Rechtsschutz gilt, der Nächste wiederum, dem durch falsche Zeugenschaft eben dieser Schutz entzogen wird.4

Lügen werden in der hebräischen Bibel höchst differenziert behandelt. Wenn das falsche Zeugnis vor Gericht, das Unschuldige um Recht und Leben bringen und Schuldige triumphieren lassen kann, dem Verbot verfällt, so können andererseits exemplarische Figuren und Patriarchen ungestraft lügen, darunter die Urväter des jüdischen Volkes Abraham und Jakob. Jakobs Lüge und List, die ihm an Stelle Esaus den väterlichen Segen für den Erstgeborenen einbringt, kann sich durchaus mit dem andern großen Helden der abendländischen Kultur, dem listigen, vielgewandten Odysseus messen. Und Jakobs zweitjüngster Sohn, Joseph, ist auch in dieser Hinsicht seines Vaters würdigster Sohn.5

Sogar Gott selbst kann sich zum Lügengeist machen, zumindest ihn benutzen:

Ich will hingehen und ein Lügengeist sein (od. werden) im Mund aller seiner (sc. Ahabs) Propheten.

Und nun, siehe, hat Jahwe einen Lügengeist in den Mund all dieser deiner Propheten gelegt...6

Erst in der späteren Tradition und dann vor allem im Christentum geraten Lüge und List unters absolute Verbot. Jesus selber freilich scheint da noch ambivalenter. Er, der sich die Wahrheit und das Leben nennt, gibt auch den Auftrag, nicht nur sanft wie die Tauben, sondern auch listig wie die Schlange zu sein. Eine Lebensweisheit, die der listenreiche Jesuit Baltasar Gracián auf seine Weise variiert (ich zitiere die ausgezeichnete französische Übersetzung von Benito Pelegrín):

Alternez la finesse du serpent avec la candeur de la colombe. Rien n‚est plus facile à tromper qu’un homme de bien; celui qui ne ment jamais est très crédule et celui qui ne trompe jamais est toujours confiant. L’on n’est pas toujours trompé parce que l’on est bête, mais souvent parce que l’on est bon.7

Bei Augustinus ist davon nicht mehr die Rede. Der Kirchenvater hat alle Mühe, mit Jakobs Lüge und List zurecht zu kommen. Er tut, was auch die Späthellenisten mit den ihnen peinlichen Geschichten Homers und anderer

4 Ibid., S. 19. 5 Zu einer ausführlichen Liste der Lügen, von denen die hebräische Bibel berichtet vgl. KLOPFENSTEIN, Die Lüge, S. 338-352. 6 1 Kön. 22, 22f (Übersetzung nach Martin KLOPFENSTEIN, Die Lüge, S. 96). Die Zürcher Bibel übersetzt: „Und er [der Geist] sprach: Ich werde hinausgehen, und ich werde ein Lügengeist sein im Mund aller seiner Propheten. Da sprach er: Überrede ihn, du kannst es! Geh hinaus und mach es so! Und nun sieh, allen diesen deinen Propheten hat der Herr einen Lügengeist in den Mund gelegt...“ 7 GRACIÁN, Traités politiques, S. 350. ZUR KRITIK DER EHRLICHKEIT 115

Mythenüberlieferungen taten: man darf das, so ihre Argumentation, nicht wörtlich nehmen, sondern muss es allegorisch und symbolisch umdeuten. Es kann hier nicht darum gehen, eine ausführliche Geschichte dieser Entwicklungen, die übrigens keineswegs linear verlaufen, zu geben. Das Interesse liegt hier sehr viel mehr an zwei entgegengesetzten Modellen, wo der Ort der Lüge im menschlichen Handeln und Sprechen anzusiedeln ist. Wenn im einen Modell die Lüge zwar nicht einfach valorisiert wird, aber ihren unabweislichen, wenn auch immer wieder wechselnden Ort hat, so will das andere Modell sie kategorisch ins Nichts und ins Böse verbannen. Dies hat dann besonders interessante Auswirkungen auf die Sprachtheorien: wenn im zweiten Modell die Lüge als Unterminierung und Verfälschung dessen auftritt, was Sprache wesentlich sein soll, so erscheint gerade die Möglichkeit der Lüge in einer linguistischen Weiterführung des ersten Modells als konstitutiv für die Struktur der Sprache.8 Die absolute Negation der Lüge und entsprechend die pathetische Rhetorik von Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit garantieren selbstverständlich keine entsprechende Praxis, weder im Christentum noch in der bürgerlichen Gesellschaft, wo diese Rhetorik sich besonders eingenistet hat und auch gegenwärtig von Politikern besonders privilegiert wird. Der Verdacht: je pathetischer die Rhetorik der Ehrlichkeit, desto verlogener die politische Praxis, ist nicht von der Hand zu weisen. Tatsächlich hat die Kritik an dieser Rhetorik ihre eigene Geschichte, von der hier, der Kürze wegen eher anekdotisch, einige Momente in Erinnerung zu rufen sind. Ich konzentriere mich zunächst auf das 18. Jahrhundert und hier wiederum vor allem auf das deutschsprachige, wo die Rhetorik und das Pathos der Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit besonders ausgeprägt sich zeigen. Es zeichnen sich dabei drei Ebenen ab: eine psychologische, wo eine intensiv verstandene Innerlichkeit gegenüber einer immer möglichen täuschenden Äußerlichkeit Garant der Wahrheit und Authentizität sein soll; eine soziologische, wo der ehrliche Bürger dem täuschenden und fintenreichen Aristokraten und Diplomaten entgegensteht; und schließlich eine nationalistische, besonders deutsche Entgegensetzung des aufrichtigen, groben und grad heraus sprechenden deutschen Biedermanns gegen die ach’ so gewandten, höflichen, täuschenden Welschen. Was hier als psychologische und soziologische Ebene differenziert wird, ist historisch gleichzeitig aufs engste verknüpft. Die Privilegierung der Innerlichkeit als Quelle und Garant der Wahrheit erreicht im bürgerlichen

8 Man vgl. etwa die witzige Definition der Semiotik bei Umberto Eco: „Also ist die Semiotik im Grunde die Disziplin, die alles untersucht, was man zum Lügen verwenden kann. Wenn man etwas nicht zum Aussprechen einer Lüge verwenden kann, so läßt es sich umgekehrt auch nicht zum Aussprechen der Wahrheit verwenden: Man kann es überhaupt nicht verwenden um ‚etwas zu sagen‘. Ich glaube, daß die Definition einer ‚Theorie der Lüge‘ ein recht umfassendes Programm für eine allgemeine Semiotik sein könnte.“ (Umberto ECO, Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, übersetzt von G. MEMMERT, München, Hanser, 1991, S. 26). 116 RAINER NÄGELE

18. Jahrhundert ihren Höhepunkt. Freilich hat sie eine lange Vorgeschichte. Impliziert ist diese Struktur bereits in der berühmten Definition der Lüge bei Augustinus: mendacium est enuntiatio cum voluntate falsum enuntiandi9. Lüge ist eine Aussage, die willentlich eine falsche Aussage macht. Bereits bei Augustinus also ist das Kriterium der Wahrheit eine gewisse Innerlichkeit, entscheidend die innere Intention, nicht die objektive Äußerung. Harald Weinrich, der diesen Satz von Augustinus zitiert, nimmt diese Definition mehr oder weniger als Leitfaden der Lüge, indem er das Meinen und die Meinung als Maßstab nimmt. Nietzsche freilich hat gegen diese letztlich sehr naive Auffassung seine Einwände erhoben:

Es ist schon lange von mir zur Erwägung anheimgegeben worden, ob nicht die Überzeugungen gefährlichere Feinde der Wahrheit sind als die Lügen (Menschliches, Allzumenschliches I, Aphorismus 54 und 483). Diesmal möchte ich die entscheidende Frage tun: besteht zwischen Lüge und Überzeugung überhaupt ein Gegensatz?10

Nietzsches (rhetorische) Frage nimmt vorweg, was dann bei Freud eines der Axiome der Psychoanalyse wird und bei Autoren wie Ibsen im Motiv der ‚Lebenslüge‘ zu einem der Leitmotive der Moderne wird. Nichts verlogener als die grundehrlichen Überzeugungen der bürgerlichen Stützen der Gesellschaft. Aber bleiben wir zunächst noch bei der Vorgeschichte dieser Verortung der Ehrlichkeit und Wahrheit – die Verknüpfung dieser beiden Konzepte ist selbst schon symptomatisch – in einem Authentizität gewährenden Innern. Aus den vielfältigen Zeugnissen seien hier nur drei evoziert. Emphatisch verteidigt Hamlet in der zweiten Szene des ersten Aktes die Authentizität seiner Trauer, zunächst in der traditionellen metaphysischen Entgegensetzung von Sein und Schein. Auf die Frage seiner Mutter, „Why seems it so particular with thee?“, antwortet Hamlet mit Entrüstung: „Seems, madam? Nay, it is. I know not ‚seems‘.“ Sogleich erhält aber diese Entgegensetzung von Sein und Schein eine spezifische Differenzierung zwischen bloßen äußern Zeichen und wahrem inneren Sein. Mit gekonnter rhetorischer Virtuosität entwirft Hamlet seine Konstruktion von scheinhafter Äußerlichkeit und wahrem Sein im Innern:

‘Tis not alone my inky cloak, good mother, Nor customary suits of solemn black, Nor windy suspiration of forc’d breath, No, nor the fruitful river in the eye, Together with all forms, moods, shapes of grief, That can denote me truly. These indeed seem, For they are actions that a man might play;

9 Zitiert in Harald WEINRICH, Linguistik der Lüge. (Kann Sprache die Gedanken verbergen?), Heidelberg, Lambert Schneider, 1966, S. 13. 10 Friedrich NIETZSCHE, Der Antichrist § 55, in Werke in drei Bänden, hrsg. von Karl Schlechta, München, Hanser, 1966, Bd. II, S. 1222. ZUR KRITIK DER EHRLICHKEIT 117

But I have that within which passes show Those but the trappings and the suits of woe. (I.2, 76-86)

Alle äußeren Zeichen der Trauer – Kleider, Mine, Tränen, Gestik – stehen unter dem Verdacht, sie könnten bloß gespielt sein. Hamlet dagegen beruft sich auf etwas „within that passes show“, ein Inneres jenseits aller Show. Freilich nimmt diese virtuose Rhetorik ironische Züge an in einem Stück, wo Theater und Schauspiel allgegenwärtig sind und nicht zuletzt den Charakter des Haupthelden ins Undurchsichtige verhüllen. Unentscheidbar wird im Verlauf des Stückes, was Hamlet spielt und was er ‚ist‘. Er selbst, wenn hier das Wort ‚selbst‘ noch anwendbar ist, muss später, nachdem er eine Schauspieltruppe eingeladen hat durch das Medium des Schauspiels, die Wahrheit ans Licht zu bringen, entscheiden, ob nicht die gespielte Trauer des Schauspielers um Hekuba vielleicht mehr Wahrheit hat als seine eigene jenseits der Show. Überraschender noch erscheint die Entgegensetzung von wahrem Innern und äußerm Schein in einer Zeit und Kultur, die vor allem in der deutschen bürgerlichen Welt des 18. Jahrhunderts als der Inbegriff des bloßen Scheins galt, nämlich in der französischen Aristokratie des 17. Jahrhunderts und deren Darstellung auf der klassischen französischen Bühne. Und doch stellt in Corneilles Le Menteur Clarice die Frage der Wahrheit in eben jener Terminologie, die dann im 18. Jahrhundert die dominierende sein wird:

Mais pour le voir ainsi qu’en pourrai-je juger? J’en verrai le dehors, la mine, l’apparence, Mais du reste, Isabelle, où prendre l’assurance? Le dedans paraît mal en ces miroirs flatteurs, Les visages souvent sont de doux imposteurs,11

Die Worte werden freilich in einer Komödie gesprochen, und am Ende kommt der Lügner, wenn auch nicht ganz ungestraft, doch beinahe glücklich davon. Derartige Ambivalenzen und Doppelbödigkeiten wie in Shakespeares Hamlet und Corneilles Le Menteur werden dann bei Kant radikal aufgehoben. Hier gibt es nichts mehr zu deuten und zu deuteln. Nicht ganz zufällig artikuliert Kant seine radikalste Position und Opposition gegen jede Form der Lüge in einer polemischen Schrift gegen den Franzosen Benjamin Constant.12 Kant polemisiert in seinem kurzen Text gegen eine gegen ihn gerichtete Polemik von Benjamin Constant, den er gleich am Anfang zitiert:

Der sittliche Grundsatz: es sei eine Pflicht, die Wahrheit zu sagen, würde, wenn man ihn unbdingt und vereinzelt nähme, jede Gesellschaft zur Unmöglichkeit

11 Pierre CORNEILLE, Le Menteur, II.2, v. 404-408, in Œuvres complètes, textes établis, présentés et annotés par Georges Couton, Paris, Gallimard, 1984. 12 Immanuel KANT, „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“, in KANT, Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1983, S. 637-643. 118 RAINER NÄGELE

machen. Den Beweis davon haben wir in den sehr unmittelbaren Folgerungen, die ein deutscher Philosoph aus diesem Grundsatze gezogen hat, der so weit geht zu behaupten: dass die Lüge gegen einen Mörder, der uns fragt, ob unser von ihm verfolgter Freund sich nicht in unser Haus geflüchtet, ein Verbrechen sein würde.

Und Kant zitiert Constant weiter mit folgender Überlegung: „Die Wahrheit zu sagen, ist also eine Pflicht; aber nur gegen denjenigen, welcher ein Recht auf Wahrheit hat. Kein Mensch aber hat Recht auf eine Wahrheit, die andern schadet.“13 In seiner Gegenargumentation verschiebt Kant zunächst den Begriff der Wahrheit auf den der subjektiven Wahrhaftigkeit:

Zuerst ist anzumerken, daß der Ausdruck: ein Recht auf die Wahrheit haben, ein Wort ohne Sinn ist. Man muß vielmehr sagen: der Mensch habe ein Recht auf seine eigene Wahrhaftigkeit (veracitas), d.i. auf die subjektive Wahrheit seiner Person. Denn objektiv auf eine Wahrheit ein Recht haben, würde so viel sagen als: es komme, wie überhaupt beim Mein und Dein, auf seinen Willen an, ob ein gegebener Satz wahr oder falsch sein solle; welches dann eine seltsame Logik abgeben würde.14

Es stellt sich freilich die Frage, ob nicht die ‚seltsame Logik‘ auf Kants Seite ist, denn es geht in Constants Argument keineswegs darum, dass ein Satz willkürlich als wahr oder falsch gilt, sondern ob es erlaubt ist, zum Schutz einer andern Person, einen falschen Satz zu sagen. Freilich kann man Kant logische Konsequenz nicht absprechen. Die Frage bleibt nur, was passiert, wenn logische Konsequenz unvermittelt auf praktische Konsequenz übertragen wird. Sie wird dann sehr schnell tödlich, wenn Kant tatsächlich fordert, dass eine Lüge auch dann nicht erlaubt ist, wenn man einen Freund in seinem Haus vor einem Mörder versteckt. Man muss das nur einmal konkretisieren und sich fragen, was das für jene bedeutet hätte, die in der Nazizeit Juden und andere Verfolgte vor den Nazimördern zu verstecken suchten. Kants geradezu halsbrecherische Kasuistik, sich da herauszureden, ist in ihrer kindlichen Naivität – aber Kinder sind grausam – geradezu rührend:

Es ist doch möglich, daß, nachdem du dem Mörder, auf die Frage, ob der von ihm Angefeindete zu Hause sei, ehrlichrweise mit Ja geantwortet hast, dieser doch unbemerkt ausgegangen ist, und so dem Mörder nicht in den Wurf gekommen, die Tat also nicht geschehen wäre; hast du aber gelogen, und gesagt, er sei nicht zu Hause, und er ist auch wirklich (obzwar dir unbewußt) ausgegangen, wo denn der Mörder ihm im Weggehen begegnete und sein Tat an ihm verübte: so kannst du mit Recht als Urheber des Todes desselben angeklagt werden.15

Freilich muss man dann die Frage stellen, ob das nicht letzten Endes genau die Logik von Goethes Iphigenie ist? Der Unterschied liegt aber darin,

13 Ibid., S. 637. 14 Ibid., S. 637f. 15 Ibid., S. 639. ZUR KRITIK DER EHRLICHKEIT 119 dass Goethes Schauspiel keine Maxime des Handelns aufstellt, sondern ein menschliches Ideal: wie schön wäre es, wenn es so etwas gäbe. Iphigenies Handeln vermeidet nur knapp die tödliche Tragödie. Nur ein letztlich kaum berechenbarer Zufall, Thoas’ im letzten Moment sich durchsetzende „Menschlichkeit“ rettet den Bruder. Wenn Kant dagegen in seinem halsbrecherischen Beispiel sich auf den Zufall beruft, der alles gut machen könnte, kann er das nur gegen seine eigene ethische Logik der Konsequenz tun. Es ist allerdings damit bei weitem noch nicht alles, und vielleicht sogar noch fast nichts, zu Kants radikaler Forderung gesagt, und gewiss nicht das letzte Urteil. Hier weiter zu denken und zu gehen, könnte auf seltsame Pfade führen, die möglicherweise in Regionen führten, die Kierkegaards religiösen Paradoxen näher sind als den von Kant geforderten rationalen Grenzen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts kommt zunehmend dann die selbstüberzeugte Ehrlichkeit, was Kant „Wahrhaftigkeit“ (veracitas) nannte, unter Verdacht. Baudelaire und Nietzsche, später dann Ibsen gehören zu den scharfsinnigsten Kritikern der bürgerlichen Ehrlichkeit. In einer fast unscheinbaren Verschiebung der Augustinischen Definition der Lüge verortet Nietzsche die Lüge genau da, wo die Ehrlichkeit sich zur Schau stellt:

Ich nenne Lüge: etwas nicht sehn wollen, das man sieht, etwas nicht so sehn wollen, wie man es sieht: ob die Lüge vor Zeugen oder ohne Zeugen statthat, kommt nicht in Betracht. Die gewöhnlichste Lüge ist die, mit der man sich selbst belügt, des Belügen andrer ist relativ der Ausnahmefall.16

Zwar scheint zunächst mit dem „nicht sehn wollen“ und dem „nicht so sehn wollen“ das Augustinische cum voluntate sich noch einmal zu bestätigen, indem es den Ort der Lüge in der Intention des Subjekts ansiedelt. Aber dieser Ort ist in Nietzsches Definition radikal verschoben. Das Wollen bei Nietzsche ist anderswo als die voluntas bei Augustinus, die Harald Weinrich symptomatisch mit dem Bewusstsein identifiziert: „Lüge ist erst da, wo das Andersreden von einer bewußten Täuschungsabsicht begleitet ist.“17 Was Nietzsche konstatiert, ist, mit Benjamin zu sprechen, eine objektive Verlogenheit, die durchaus mit einer grundehrlichen subjektiven Überzeugung Hand in Hand gehen kann. Carlyle ist für Nietzsche ein Paradebeispiel solch verlogener Ehrlichkeit:

Eine beständige leidenschaftliche Unredlichkeit gegen sich – das ist sein [Carlyles] proprium, damit ist und bleibt er interessant. – Freilich, in England wird er gerade wegen seiner Redlichkeit bewundert.18

16 NIETZSCHE, Der Antichrist § 55, S. 1222. 17 WEINRICH, Linguistik der Lüge, S. 13. 18 NIETZSCHE, Götzen-Dämmerung, „Streifzüge eines Unzeitgemäßen“ § 12, in Werke in drei Bänden, Bd. II, S. 908. 120 RAINER NÄGELE

Nietzsches Kritik der Ehrlichkeit nimmt vorweg, was Benjamin später von seinem Freund Heinle zitiert: „Ich verkehre nicht mit jemandem, der seine Ehrlichkeit nach außen verlegt.“19 In Nietzsches Version lautet das:

alles, was sich heute als „guter Mensch“ fühlt, ist vollkommen unfähig, zu irgendeiner Sache anders zu stehn als unehrlich-verlogen, abgründlich-verlogen, aber unschuldig-verlogen, treuherzig-verlogen, blauäugig-verlogen, tugendhaft- verlogen.20

Vorweggenommen ist Nietzsches Kritik in mancher Weise schon bei Heinrich Heine, der auf seine witzige Weise den sprichwörtlich gewordenen Satz des Baccalaureus in Goethes Faust – „Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist“ (v. 6771) – variiert:

Die Männer waren alle so höflich, und die schönen Frauen so lächelnd. Gab mir jemand unversehens einen Stoß, ohne gleich um Verzeihung zu bitten, so konnte ich darauf wetten, daß es ein Landsmann war, und wenn irgend eine Schöne etwas allzu säuerlich aussah, so hatte sie entweder Sauerkraut gegessen, oder sie konnte Klopstock im Original lesen.

Und von der deutschen Grobheit heißt es dann weiter:

so ein Flegel meint, er müsse uns das Angenehme verschweigen, und seine deutsche Offenheit verpflichte ihn, nur widerwärtige Dinge uns ins Gesicht zu sagen. In den Sitten und sogar in der Sprache der Franzosen ist so viel köstliche Schmeicheley, die so wenig kostet, und doch so wohltätig und erquickend. Meine Seele, die arme Sensitive, welche die Scheu vor vaterländischer Grobheit so sehr zusammengezogen hatte, erschloß sich wieder jenen schmeichlerischen Lauten der französischen Urbanität. Gott hat uns die Zunge gegeben, damit wir unsern Mitmenschen etwas Angenehmes sagen.21

Eigentümlich zwiespältig spielen in Grillparzers Weh dem der lügt höflicher Schein, den der Bischof Gregor von Chalon durchaus positiv von der Rohheit „Im Rheingau, über Trier weit hinaus“ abhebt, und eine Kantische ethische Rigorosität absoluter Wahrhaftigkeit zusammen.22 Auf Leons Einwand: „Und wenn nun Euer Neffe drob, [d.h. ohne List und Lüge] vergeht?“, antwortet der Bischof kompromisslos: „So mag er sterben und ich sterbe mit.“23 Gegen solche tödliche Wahrheitsliebe hat nicht nur Ibsen in der Wildente seinen Protest erhoben. Benjamin geht noch einen Schritt weiter und erhebt die Lüge unter Umständen geradezu zur Pflicht:

19 BENJAMIN, Gesammelte Schriften, Bd. VI, S. 61. 20 NIETZSCHE, Zur Genealogie der Moral III § 19, in Werke in drei Bänden, Bd. II, S. 878. 21 Heinrich HEINE, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke (DHA), hrsg. von Manfred Windfuhr, Bd. 15 („Geständnisse, Memoiren und kleinere autobiographische Schriften“), bearb. von Gerd Heinemann, Hamburg, Hoffmann und Campe, 1982, S. 24f. 22 Franz GRILLPARZER, Weh dem der lügt [1. Aufzug], in Werke in zwei Bänden, hrsg. von Friedrich Schreyvogel, Luzern, Schweizer Volks-Buchgemeinde, o.J, Bd. II, S. 654. 23 Ibid., S. 655. ZUR KRITIK DER EHRLICHKEIT 121

Andrerseits aber denunziert sich jedwede revolutionäre Bewegung, welche nicht die Lüge methodisch ihren Anhängern als Grundlage ihres Kampfes zur Pflicht macht als unfrei und von den gefährlichsten Suggestionen der Machthaber fasziniert. Diese sind die Anmutung der Ehrlichkeit sowie des sogenannten Mutes der Überzeugung an den Gegner. Beide laufen nur darauf hinaus, diesen wehrlos in ihre Hände zu liefern, […]24

Freilich ist der Benjaminsche Standpunkt komplex und kennt methodisch zwei radikale extreme Pole. Wenn einerseits die Lüge geradezu als Pflicht und „diätetische Lebensnotwendigkeit“ erscheint, scheint dahinter eine umso strengere Intention auf Wahrheit auf, die freilich nur in seltensten Fällen einlösbar ist. Wo dies letztere nicht der Fall ist, wird Ehrlichkeit in Benjamins Sicht unappetitlich:

Die Lüge ist diätetische Lebensnotwendigkeit für jeden Menschen, dem nicht ständig ohne Unterbrechung die letzte strenge Intention auf Wahrheit gegenwärtig ist. Werden ohne sie die Sachverhalte berührt, so entsteht eine Verschmutzung und Verstopfung des Lebens. Nicht zufällig, daß das schrankenlose Alles-Heraus-Sagen sich nicht selten bei Menschen findet, die auch äußerlich unreinlich sind (Vegetarier-Typus); Gegensatz hierzu der äußerlich gepflegte Typus des Diplomaten.25

Zugespitzt hat im zwanzigsten Jahrhundert noch einmal Heiner Müller in seiner Philoktet-Bearbeitung den Konflikt zwischen Ehrlichkeit, absoluter Treue zu sich selbst einerseits und List und Lüge andererseits inszeniert.26 Die Positionen sind hier aufgeteilt zwischen dem Wahrheitsfanatiker Philoktet und dem listigen Odysseus mit Neoptolemos als schwankende Figur zwischen den beiden. Die westdeutsche Kritik hat, zum Teil noch bis heute, fast durchgehend Philoktet zum tragischen Helden erhoben, der von einem stalinistischen Odysseus überlistet und in den Tod getrieben wird. Gegen diese moralisierende Allegorisierung des Stücks hat Müller mit Recht sich gewehrt. Wichtiger aber als die Selbstinterpretation des Autors sind Sprache und Konstruktion des Stücks, die einer genaueren Lektüre eine sehr andere Konstellation der Dinge eröffnen. Im Unterschied nämlich zu Philoktet, der in blinder Vernichtungswut alles zerstören möchte, alle Züge eines narzisstisch verwundeten Terroristen aufweist, möchte Odysseus vieles bewahren, sich selbst und andere, gerade weil er weiß, dass er mit den Seinen zu den Schlächtern gehört, und mehr noch weil er in uranfänglicher Traurigkeit von der unerbittlichen Sterblichkeit der Kreaturen weiß. Er weiß, dass für ihn ebenso gilt, was er Neoptolemos schon am Beginn des Stücks warnend entgegenhält: „Nicht von der Art die nachwächst ist dein Fleisch“.27

24 BENJAMIN, Gesammelte Schriften, Bd. VI, S. 63. 25 Ibid., S. 62. 26 Ausführlich dazu: Rainer NÄGELE, „Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn. Kleiner Kommentar zu Heiner Müllers Philoktet“ in Wolfgang STORCH/ Klaudia RUSCHKOWSKI (Hrsg.), Die Lücke im System, Berlin, Verlag Theater der Zeit, 2005. 27 Heiner MÜLLER, Werke 3. Die Stücke 1, hrsg. von Frank Hörnigk, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 2000, S. 293. 122 RAINER NÄGELE

Freilich geht es nicht darum, jetzt den listenreichen Odysseus zum strahlenden Helden zu verklären. Wir stehen hier am Schluss wieder, wie schon am Anfang bemerkt, nicht vor einer simplen Alternative zwischen Wahrheit und Lüge, sondern sind hineingezogen in deren dialektische Verschlingungen. Deren Logik kann vielleicht am besten in einer Struktur komprimiert ausgedrückt werden, die bei Freud und der von ihm begründeten Psychanalyse ihren prägnantesten Ausdruck gefunden hat, die in zwei paradoxen Axiomen sich artikulieren lässt: 1) Kein Mensch kann nicht nicht die Wahrheit sagen. Jeder Satz, jedes Wort, jede Silbe, wie verrückt sie auch sich geben mögen, sind wahr. 2) Jeder Satz, jedes Wort, jede Silbe, wie vernünftig, wie wahr, wie ehrlich sie sich geben mögen, sind gelogen. Es gibt keinen entschiedenen Ausweg aus diesem Paradox. Die beiden Axiome begründen in jedem Moment unser sprechendes Dasein. Über die „Wahrheit“ der weiblichen Natur und wie diese auf der Bühne des bürgerlichen Trauerspiels Lügen gestraft wird

Ingrid HAAG Aix-Marseille Université

Die Natur rüstete das weibliche Geschlecht zur Liebe, nicht zu Gewaltseligkeiten aus; es soll Zärtlichkeit, nicht Furcht erwecken; nur seine Reize sollen es mächtig machen; nur durch Liebkosungen soll es herrschen […].1

Wer hier spricht, ist Lessing. In vier Stücken seiner Hamburgischen Dramaturgie2 startet er im August 1767 eine regelrechte und äußerst folgenreiche Vernichtungsaktion gegen Corneille und insbesondere seine Tragödie Rodogune. Peter von Matt kommentiert: „In einer Prosa, die es so elegant, gelenkig, witzig und effektsicher bisher nicht gegeben hatte, wurde ein großer Autor und sein damals berühmtestes Werk in den Orkus geschickt.“3 Angelpunkt der Polemik ist eine bestimmte Theorie von der Natur der Frau, ein Grundmodell der Weiblichkeit, dem die Figur der Cleopatra in Corneilles besagter Tragödie radikal widerspreche.4 Diese Cleopatra ist eine Intrigantin höchsten Ranges, die „mit tückischem Groll“ und „hämischer Rachsucht“ ihren Mann umbringt, den einen ihrer Söhne erschießt, den andern mit Gift töten will. Bei Corneille, so Lessing, geschehe dies nicht etwa aus Eifersucht oder verschmähter Liebe wie etwa noch in der antiken Quelle, sondern aus purem Ehrgeiz, nämlich um sich den Thron zu sichern.5 Eine Frau, die so handelt, sei anzusehen wie „ein Ungeheuer ihres

1 Gotthold Ephraim LESSING, Hamburgische Dramaturgie, 30. Stück, Stuttgart, Reclam, 1981, S. 158. 2 Es handelt sich um die Stücke 29-33. 3 Peter VON MATT, Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist, München, Hanser Verlag, 2006, S. 350. 4 Wohlgemerkt, nicht die berüchtigte ägyptische Königin ist gemeint, sondern die Königin von Syrien, eigentliche Protagonistin der Tragödie, wie Corneille selbst betont. 5 Hier führt Lessing seine Attacke gegen Corneille mit großer Geschicklichkeit, da es um einen wichtigen Punkt seiner Frauentheorie und seiner Dramenästhetik geht: Wenn man nämlich den historischen Stoff betrachtet, wie er von Appianus Alexandrinus berichtet wird, 124 INGRID HAAG

Geschlechts“; ein solches Handeln sei ausschließlich Männersache und wider die Natur der Frau.6 Mit dem scheinbar unhinterfragbaren Stichwort „Natur“7 untermauert Lessing seine Argumentation, konstruiert ein allgemeingültiges Modell der Weiblichkeit, das er als allgemeingültige Wahrheit dekretiert, dies unter dem ausdrücklichen Beifall Schillers. Ohne Zweifel handelt es sich um ein bürgerliches Gegenmodell zur feudalen Weiblichkeitsvorstellung, wie sie Corneilles „Ungeheuer“ repräsentiert. Ihrer Natur gemäß gehöre die Frau ja sowieso nicht auf die öffentliche Bühne, wo öffentliche Angelegenheiten ausgetragen werden, ihr Wirkungsbereich sei der häuslich-familiäre Kreis, wo sie „schaltet und waltet“ mit Zärtlichkeit und Wahrhaftigkeit, denn sie kenne weder Verstellung noch List noch Gewalttätigkeit. Der Dramaturg Lessing schafft sich dann auch die Bühne, die bürgerliche Bühne, wo seine Theorie zur Darstellung gelangen soll, wo diese aber – und nur deshalb ist es für uns interessant – seltsam schillernd zweideutig wird, ja wir möchten so weit gehen und sagen: lügen gestraft wird. Das bürgerliche Trauerspiel Emilia Galotti (1772) stellt in besonders provokanter Weise folgendes Problem: Als geradezu gattungskonstitutives Merkmal gilt ja die demonstrative Kontrastmontage von höfischer Intrige und bürgerlichem Tugendideal. Zu hinterfragen wäre insbesondere letzteres. Erstens: inwiefern ist dieses Wahrheit und Wahrhaftigkeit, Reinheit und Unschuld zelebrierende Tugendideal keineswegs eine Naturgegebenheit, als die es sich ausgibt, sondern vielmehr ein Konstrukt; darüber hinaus ein Konstrukt, das – wie die höfische Kabale – eine bestimmte Strategie verfolgt. Zweitens wird uns interessieren, was diese Strategie anrichtet bei der Frau und Tochter, schwächstes Glied der patriarchalischen Ordnung. Ob es nicht so ist, dass Emilia Galotti, vorgestellt als Opfer der höfischen Intrige, ebenfalls (oder sogar wesentlich?) zugrunde gerichtet wird durch die väterliche Weiblichkeitsvorstellung samt deren Wahrheitspostulat. Glücklicher als Emilia ist Minna von Barnhelm, Protagonistin der gleichnamigen Komödie (1767). Vielleicht doch, weil sie sich aus der Zwangsjacke dieses Frauenbildes – zumindest ein Stück weit – befreit; weil dann findet man dort als Hauptantrieb die Eifersucht: „Ohne Zweifel folgte ein Verbrechen aus dem andern, und sie hatten alle im Grunde nur eine und ebendieselbe Quelle. Wenigstens lässt sich mit Wahrscheinlichkeit annehmen, dass die einzige Eifersucht ein wütendes Eheweib zu einer ebenso wütenden Mutter machte.“ (30. Stück, S. 156). 6 Wegen eines solchen naturwidrigen Verhaltens sei Corneilles Cleopatra noch ungeheuerlicher als eine Medea: „Alle Grausamkeiten, welche Medea begeht, begeht sie aus Eifersucht. Einer zärtlichen, eifersüchtigen Frau, will ich noch alles vergeben; sie ist das, was sie sein soll, nur zu heftig.“ (30. Stück, S. 159). 7 Man könnte hier dramenästhetische Betrachtungen anschließen, denen wir hier nicht nachgehen können: Nach Lessing widerspreche Corneilles Adaptation der weiblichen Natur aber auch gleichzeitig der „wahren“ Poetik des Dramatischen, die einem „natürlichen“ Ablauf des dramatischen Geschehens zu gehorchen habe, dem „natürlichen Gang“, wo alles natürlich „ineinander gegründet“ sein müsse; auch die Figurenrede und vornehmlich die weibliche, solle „natürlich“ sein, der spontanen „Sprache des Herzens“ entsprechend, und nicht rhetorisch- gekünstelt, also lügnerisch und falsch wie bei dem Franzosen (vgl. 30. Stück, S. 157). ÜBER DIE „WAHRHEIT“ DER WEIBLICHEN NATUR 125 sie sich die Freiheit nimmt, Verstellung, List und Täuschung einzusetzen und dank dieser „unweiblichen“ Mittel die Tragödie verhindert.

Der Hof – Schauplatz der Lügenkunst

[…] aus Barmherzigkeit, lieber Marinelli! Lügen Sie mir eines auf eigene Rechnung vor. Was kostet Ihnen denn eine Lüge? – (Orsina)

Mit der Darstellung des höfischen Bereiches intendiert Lessing zweifelsohne eine scharfe Kritik des feudalen Systems, seiner willkürlichen Gewalt, seiner Frivolität und Lasterhaftigkeit. Was nun die dramaturgische Darstellung angeht, so scheint sie mir nicht ganz frei von jenem Paradox, das die Repräsentation des Bösen in Literatur und Kunst seit jeher kennzeichnet: die Diskrepanz nämlich zwischen moralischer Verurteilung einerseits, ästhetischem Vergnügen und Kunstfertigkeit andererseits. Die brillante Inszenierung der Figur des Hofintriganten Marinelli mag dies bezeugen. Die von ihm geplante Entführung Emilias auf das Lustschloss des Prinzen just am Morgen ihres Hochzeittages ist ein wahres Bravourstück der Intrigenkunst: Der Überfall der Hochzeitskutsche wird als Raubüberfall getarnt, bei dem der Bräutigam leider umkommt; die Braut hatte mehr Glück, wird sie doch gerettet und in die Obhut des Prinzen auf dessen just nahegelegenes Lustschloss geführt. In der Darstellung der Ereignisse, wie sie Marinelli dem herbeigeeilten Vater Galotti präsentiert, demonstriert Lessing, mit welch perfider Raffinesse der Hofintrigant seine Lügenkunst einsetzt.

MARINELLI: Sie wissen, gnädiger Herr, wie sehr ich den Grafen Appiani liebte, wie sehr unser beider Seelen ineinander verwebt schienen – ODOARDO: Das wissen Sie Prinz? So wissen Sie es wahrscheinlich allein. MARINELLI: Von ihm selbst zu seinem Rächer bestellet – ODOARDO: Sie? MARINELLI: Fragen Sie nur Ihre Gemahlin. Marinelli, der Name Marinelli war das letzte Wort des sterbenden Grafen, und in einem Tone! in einem Tone! – Daß er mir nie aus dem Gehöre komme, dieser schreckliche Ton, wenn ich nicht alles anwende, daß seine Mörder entdeckt und bestraft werden! […] MARINELLI: Man hat Verdacht, daß es nicht Räuber gewesen, welche den Grafen angefallen. ODOARDO (höhnisch): Nicht wirklich nicht? MARINELLI: Daß ein Nebenbuhler ihn aus dem Wege räumen lassen. ODOARDO (bitter): Ei! Ein Nebenbuhler? MARINELLI: Nicht anders. ODOARDO: Nun dann – Gott verdamm’ ihn, den meuchelmörder’schen Buben! MARINELLI: Ein Nebenbuhler, und ein begünstigter Nebenbuhler – ODOARDO: Was? Ein begünstigter? – Was sagen Sie? MARINELLI: Nichts als was das Gerücht verbreitet. ODOARDO: Ein begünstigter? Von meiner Tochter begünstigter? MARINELLI: Das ist gewiß nicht. Das kann nicht sein. Dem widersprech ich, trotz Ihnen. – Aber bei dem allen, gnädiger Herr – denn das gegründetste 126 INGRID HAAG

Vorurteil wieget auf der Waage der Gerechtigkeit soviel als nichts – bei dem allen wird man doch nicht umhin können, die schöne Unglückliche darüber zu vernehmen. […] Und wo anders? Wo kann das anders geschehen als in Guastalla? (V, 5, 179)8

Die raffinierte Konstruktion des Lügengebäudes besteht darin, nicht irgendeine phantastische Geschichte zu erfinden; die Bausteine der Lügenkonstruktion sind Elemente der faktischen Wahrheit selbst, die dergestalt manipuliert und komponiert werden, dass sie die Wahrheit in ihr Gegenteil verkehren. Es stimmt sehr wohl, dass der sterbende Appiani den Namen Marinellis ausgesprochen hat, aber um ihn als Mörder zu denunzieren; es stimmt sehr wohl, dass der Überfall der Kutsche nicht das Werk von Räubern ist, sondern das eines Nebenbuhlers, des Prinzen selbst. Es gelingt dem Intriganten, diesen Nebenbuhler nicht nur als Retter auszugeben, sondern dazu noch als Beschützer des durch Gerüchte bedrohten tugendhaften Rufes seines Opfers, das darum seiner Schutzverwahrung anvertraut werden soll. Darüber hinaus führt Marinellis Rede eine zusätzliche Leistung der Lüge vor, die darin besteht, die erlogene Wirklichkeit, eben weil sie Produkt einer absichtlichen Konstruktion ist, als in hohem Grade wahrscheinlich erscheinen zu lassen, wahrscheinlicher als die wahre. In seinem Traité des vertus sieht Jankélévitch hier das besondere Machtpotential eines gut gefügten Lügengebäudes:

Le vrai […] est toujours invraisemblable; c’est le mensonge qui le rend vraisemblable! Véridique quand on le croit menteur, menteur quand on le croit sincère, le mensonge est imprévisible et insaisissable […].9

Der Lügner und Intrigant profitiere von einer Machtposition, die er seiner doppelten Kompetenz verdankt, kennt er doch die Wahrheit und gleichzeitig die Strategien, diese umzulügen. Shakespeares Jago war bereits ein Meister dieser Kunst, mit den Folgen, die wir kennen. Wie Othello so wird auch Odoardo Galotti in die Falle gehen; beiden ist gemeinsam, dass sie für das kodierte Maskenspiel des Hoflebens10 den Schlüssel nicht kennen. Orsina, die verschmähte Geliebte des Prinzen, kennt sich da aus11, sie wird Odoardo die Rede des Intriganten dekodieren, ihm die Wahrheit ins Ohr träufeln wie Gift:

8 Lessings Stücke werden zitiert nach: LESSING, Dramen, hrsg. von Walther KILLY, Frankfurt a. M., Fischer, 1962. Alle Seitenangaben nach dieser Ausgabe. 9 Vladimir JANKÉLÉVITCH, Traité des vertus II, tome 1, „Les vertus et l’amour“, Paris, Flammarion, 1986, S. 210f. 10 Vgl. Norbert ÉLIAS, Die höfische Gesellschaft , Frankfurt a. M., Suhrkamp, 2002. 11 Sie zeigt sogar eine ironische Distanz zu diesem Maskenspiel: So beklagt sie sich Marinelli gegenüber, dass dieser sie behandle wie „jeden Überlästigen, jeden Bettler“; dass er nämlich, um sie abzuweisen, sich nicht einmal mehr die Mühe gibt, eine richtige Lüge zu erfinden, so als sei sie dieser Mühe nicht mehr wert: „… aus Barmherzigkeit, lieber Marinelli! Lügen Sie mir eines auf eigene Rechnung vor. Was kostet Ihnen denn eine Lüge?“ (IV, 5, 57). Es ist, als ob in dem vom höfischen Codex geregelten Gesellschaftsspiel die Kunstfertigkeit der ÜBER DIE „WAHRHEIT“ DER WEIBLICHEN NATUR 127

ORSINA: […] glauben Sie mir: wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verlieret, der hat keinen zu verlieren. ODOARDO: Was soll ich denken? ORSINA: Dass Sie mich also nicht verachten! – Denn auch Sie haben Verstand, guter Alter; auch Sie. – Ich seh es an dieser entschlossenen, ehrwürdigen Miene. Auch Sie haben Verstand; und es kostet mich ein Wort, – so haben Sie keinen. ODOARDO: Madame! – Madame! – Ich habe schon keinen mehr, noch ehe Sie mir dieses Wort sagen, wenn Sie mir es nicht bald sagen. – Sagen Sie es! sagen Sie es! […]. ORSINA: So merken Sie auf! – Was wissen Sie, der Sie schon genug wissen wollen? Dass Appiani verwundet worden? Nur verwundet? – Appiani ist tot! ODOARDO: Tot? Tot? – Ha, Frau, das ist wider die Abrede. Sie wollten mich um den Verstand bringen: und Sie brechen mir das Herz. ORSINA: Das beiher ! – Nur weiter. – Der Bräutigam ist tot, und die Braut – Ihre Tochter – schlimmer als tot. ODOARDO: Schlimmer? schlimmer als tot? – Aber doch zugleich auch tot? – Denn ich kenne nur ein Schlimmeres – (IV, 7, 171f.)

Nicht aus Wahrheitsliebe tut sie dies, sondern um Galotti zum Instrument ihrer Intrige zu machen, ihrer Rache an dem Prinzen. Verweilen wir kurz bei der Rede dieser weiblichen Figur, um zu zeigen, wie nuanciert Lessing die Skala der lügenhaften Reden in Szene setzt. Ein Ausdruck im Munde Odoardos, der sie „die gute Sibylle“ nennt (V, 5, 181), lässt uns aufhorchen. Tatsächlich unterhält sie ein ganz besonderes Verhältnis zu Wahrheit und Lüge. Ihre Rede, mit der sie Galotti zur Rache am Verführer treiben will, hat nichts gemein mit einem Lügengebäude à la Marinelli. Zwar setzt sich auch ihre Rede aus Elementen der faktischen Wirklichkeit zusammen, aber die Wirksamkeit ergibt sich aus der enigmatischen Struktur, dem klug- kalkulierten Einsatz von schrittweisem Enthüllen und Verschweigen; eine Strategie, die darauf abzielt, die Einbildungskraft des Partners anzuheizen, dergestalt dass er die Wahrheit selbst entdeckt, aber verzerrt, in Form der schlimmsten Ausgeburten seiner eigenen Phantasie. Innerhalb der Typologie lügenhafter Reden, haben wir es hier mit einer besonders subtilen Manipulation der Wahrheit zu tun.

Die bürgerliche Familie – Hort der Tugend

Ich habe Blut, mein Vater; so jugendliches, so warmes Blut als eine. Auch meine Sinne sind Sinne. (Emilia)

Es schien mir wichtig, diese variantenreiche Inszenierung der Hofintrige vorzustellen und dies nicht nur als Bravourstück. Ihr kommt eine bedeutende dramaturgische Funktion zu, und zwar als Negativ-Folie für jenen anderen, den bürgerlichen Bereich, dem mein vorrangiges Interesse gilt. Wenn ich von

Lügenkonstruktion in einem proportionalen Verhältnis stehe zu Rang und Bedeutung der Mitspieler. 128 INGRID HAAG

Negativ-Folie spreche, dann möchte ich damit sagen, dass es sich hier nicht um eine beliebige antagonistische Gegenüberstellung handelt, sondern, wie bereits erwähnt, um einen gattungsspezifischen Aspekt: Der Gegenbereich zur Hofintrige, repräsentiert durch die bürgerliche Familie, wird als ein Hort der Wahrheit, Reinheit und Durchsichtigkeit allein schon mittels der dramaturgischen Kontrastmontage ausgestellt – in der Perspektive des Stückeschreibers ausgestellt – und somit durch die Formgebung selbst legitimiert. Wir haben es also mit einer dank dieser dramaturgischen Strategie bewerkstelligten Wertung des bürgerlichen Bereichs zu tun, die es gilt in Frage zu stellen. Es geht darum, das als so natürlich und wahrhaftig ausgestellte Gesicht der bürgerlichen Tugend ebenfalls als Maske zu entlarven, als soziale Maske, hinter der sich Gewaltstrategien verstecken, die um so gefährlicher sind, als sie im Gegensatz zu den höfischen als solche eben nicht signalisiert sind. Letztendlich stellt sich die Frage nach der repressiven Funktion oder zumindest des repressiven Potentials des Wahrheitspostulats in diesem bürgerlichen Diskurs. Als Pendant dazu ergibt sich die Gegenfrage, inwiefern Lüge und Verstellung eine positive, befreiende Rolle spielen können. Tatsächlich gibt es ja, bekannterweise, in der Lügenforschung einen Aspekt – man könnte ihn zu den Lobreden über die Lüge zählen – der uns diesbezüglich interessiert: Lüge und Verstellung aufgefasst und aufgewertet als eine notwendige Strategie der Subjektwerdung. Geht man davon aus, dass der Akt des Lügens durch eine doppelte Struktur gekennzeichnet ist, nämlich durch die Differenz zwischen dem, was gesagt und dem was verschwiegen, zwischen dem, was gezeigt und dem, was versteckt wird, so wird deutlich, in welchem Maße er unseren Bezug zum Anderen bestimmt. In diesem Kontext besteht die Funktion der Lüge – denken wir zum Beispiel an die Verheimlichungslüge – darin, dem sprechenden Subjekt die Möglichkeit zu geben, sich gegen den anderen abzugrenzen, „nicht durchsichtig [zu sein] für den anderen, kein ‚aufgeschlagenes Buch’“, wie Klaus-Jürgen Bruder formuliert.12 Diese durch die Lüge gebotene Möglichkeit der Selbstbehauptung wird für das Individuum besonders bedeutsam, wenn es sich in einer Situation der Ungleichheit, einer ungleichen Machtverteilung befindet. Es geht dann darum, so etwas wie einen Schutzraum für das Eigene zu schaffen, eine Abgrenzung gegen die Macht, gegen den Druck der herrschenden, für allgemeingültig erklärten Normen, Regeln, Gesetze. Ein solcher Ort der Ungleichheit kann die Familie sein. Freud macht seine Beobachtungen ja gerade in diesem Bereich13; für das Kind heißt Lügen

12 Klaus-Jürgen BRUDER, Friedrich VOSSKÜHLER, Lüge und Selbsttäuschung, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2009, S. 14. 13 „Mit dem Lügen imitiert das Kind die Erwachsenen, die ihm die sexuellen Tatsachen verbergen und ihm darüber lügnerische Auskünfte geben. Von daher nimmt sich das Kind das Recht zu lügen.“ (vgl. Sigmund FREUD, „Kommentar zum Vortrag von Otto Rank“, 7. April 1909, in Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, Bd. II, 1908-1910, hrsg. von ÜBER DIE „WAHRHEIT“ DER WEIBLICHEN NATUR 129 lernen soviel wie Erwachsenwerden, bedeutet eine Erfahrung der Emanzipierung. In der bürgerlichen Familie nun, wie sie das Trauerspiel vorführt, ist die Tochter das schwächste Glied des Familienverbandes. Um zu zeigen, was mit ihr da geschieht, müssen wir etwas weiter ausholen. Die Beziehung der Tochter vor allem zum Vater kann mit dem Begriff der „Hörigkeit“ bezeichnet werden. Unter der väterlichen Autorität soll sie nach dem Bild seines Tugendideals geformt werden. Eine Komponente dieses Ideals ist, was im Text leitmotivisch als „natürliche Unschuld“ apostrophiert wird. Sie impliziert die Repression jeglichen Sinnesgenusses, die Tabuisierung jeglicher erotischer Gefühle und natürlich jeglichen sexuellen Begehrens. Um all dies zu garantieren, ist es der Vater, der den Bräutigam aussucht, der seinen Wünschen entspricht. Appiani, der Erwählte, erfüllt voll und ganz die väterlichen Wünsche: von Brautschmuck, zum Beispiel, will er nichts hören, an seiner Emilia wird er eine „fromme Frau“ haben, wer würde da auf ihren Putz achten? Emilia hatte sich allerdings ein Brautkleid ausgedacht, genau wie das, welches sie bei ihrer ersten Begegnung trug, ob er es noch wisse, fragt sie:

APPIANI: Ob ich es noch weiß? Ich sehe Sie in Gedanken nie anders als so; und sehe Sie so, auch wenn ich sie nicht so sehe. EMILIA: Also ein Kleid von der nämlichen Farbe, von dem nämlichen Schnitte; fliegend und frei – APPIANI: Vortrefflich! EMILIA: Und das Haar – APPIANI: In seinem eignen braunen Glanze; in Locken, wie sie die Natur schlug – EMILIA: Die Rose darin nicht zu vergessen! […] (II, 7, 145)

Sagt er doch tatsächlich: „Und sehe Sie so, auch wenn ich Sie nicht so sehe“. Deutlicher kann es nicht ausgedrückt werden: Die Braut existiert für den Bräutigam lediglich als Bild, Bild der natürlichen Unschuld, dem sich Emilia zu fügen scheint. Aber die Rose im Haar, die Rose, auf der sie beharrt, ist nur eines der zahlreichen Zeichen dafür, dass die Fassade der musterhaften Tochter und Braut brüchig geworden ist; dass sich hinter ihr etwas gewaltig regt und drängt, etwas Unnennbares, Verbotenes. Dieses Etwas ist aufgebrochen und hat sie überwältigt an dem nämlichen Morgen an der „heiligen Stätte“ der Kirche, als der Prinz ihr verführerische Liebesworte zuflüsterte. Wie sie der Mutter berichtet, hörte sie ihren Namen, ihren eigenen Namen, den Namen Emilia; „[e]s sprach von Schönheit, von Liebe …“, „[e]s klagte …“, „[e]s beschwor …“ (II, 6, 141). Es sprach in ihr, etwas sprach in ihr, und was ihr hier geschieht, ist das Erwachen ihrer Sinnlichkeit, ihres sinnlichen Begehrens, ihres eigenen Begehrens. Das Erlebnis dieses Aufbrechens ihrer eigenen Wünsche ist überwältigend. Emilia

Herbert NUNBERG, Ernst FEDERN, Frankfurt a. M., Fischer, 1977, S. 182). Vgl. ebenfalls: Heinz KOHUT, Wie heilt die Psychoanalyse?, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1987. 130 INGRID HAAG flüchtet „außer Sinne geraten“, wie wahnsinnig, auf die Straße, ins Haus und die Arme der Mutter. In diesem Moment der Ver-rückheit war Emilia bei sich, er dauert nicht lang: Die Mutter begibt sich nun daran, Emilias Sinne zurechtzurücken, das heißt, sie mit dem Bild in Einklang zu bringen, das sie vorzustellen hat. Verweilen wir kurz bei folgender Wechselrede, sie trifft ins Zentrum meiner Überlegungen:

CLAUDIA: Rede meine Tochter! – Mach’ meiner Furcht ein Ende. – Was kann dir da, an heiliger Stätte, so Schlimmes begegnet sein? EMILIA: Nie hätte meine Andacht inniger, brünstiger sein sollen, als heute: nie ist sie weniger gewesen, was sie sein sollte. CLAUDIA: Wir sind Menschen, Emilia. Die Gabe zu beten ist nicht immer in unserer Gewalt. Dem Himmel ist beten wollen, auch beten. EMILIA: Und sündigen wollen, auch sündigen. CLAUDIA: Das hat meine Emilia nicht wollen! EMILIA: Nein, meine Mutter, so tief ließ mich die Gnade nicht sinken. […] (Herv. I. Haag, II, 6, 140)

Es ist, als stehe Emilia unter so etwas wie einem Geständnis- oder Beichtzwang; sie kann nicht anders als dem mütterlichen Rede-Gebot zu gehorchen; es gelingt ihr nicht, ihr Eigenes zu verbergen und somit zu schützen. Das Geständnis ist allerdings unerhört: „sündigen wollen“, so nennt Emilia in der Sprache, die nicht die ihrige ist, das Erwachen ihres sinnlichen Begehrens. Wie sollte sie, die Unmündige, eigene Worte finden, um dies zu sagen? So gießen sich die Worte der Tochter in die vorgeprägte Form der mütterlichen Rede: beten wollen/ sündigen wollen. In den beiden folgenden Repliken können wir dann beobachten, wie Emilias Wollen und das Wollen der Mutter buchstäblich in eins gesetzt werden, wie ihr eigener Wunsch mit der Vorschrift gleichgeschaltet und damit zunichte gemacht wird. Wegen des tief in ihr verinnerlichten Wahrhaftigkeitsgebots kennt Emilia die Verstellung nicht; wie ‚ein aufgeschlagenes Buch’ ist sie der Gewalt der Mutter, Stellvertreterin des Vaters, ausgesetzt, von der sie sich nicht abzugrenzen vermag. Unzählige Deutungs-Hypothesen mit verschiedenen Schuldzuschreibun- gen sind über Emilias Tod formuliert worden, es handelt sich hier keineswegs darum, diesen eine weitere hinzuzufügen; es geht uns ja um etwas anderes. Wenn wir von Emilias Zerstörung sprechen, ist damit nicht nur ihr Tod gemeint. Ihre Geschichte denunziert die skandalöse Lüge in Bezug auf die von den bürgerlichen Tugendwächtern dekretierte und proklamierte Wahrheit der weiblichen Natur, die nur die Wahrhaftigkeit kenne; denunziert ihre Funktion als repressive Strategie. Gibt sich diese Geschichte der Frau und Tochter doch zu erkennen als die einer ständigen Verhinderung ihrer Subjektwerdung und zwar durch Bildzuschreibungen. Wo im patriarcha- lischen Diskurs die Natur und das Natürliche beschworen werden, haben wir es in Wirklichkeit mit einem Bilderkabinett zu tun. Nur als Bild existiert Emilia, als Projektionsfläche der Wünsche des anderen, Projektionsfläche ÜBER DIE „WAHRHEIT“ DER WEIBLICHEN NATUR 131 männlicher Wunschphantasien: als erotisches Wunschbild des Prinzen, wurde doch sein Begehren beim Anblick des Portraits Emilias, Bild so bescheidener Reinheit und Unschuld, geweckt, das er im Atelier des Hofmalers entdeckte und das – nicht der Ironie des Schicksals folgend, sondern der hartnäckigen Logik des Begehrens – der Vater in Auftrag gegeben hatte, damit sein Wunsch- und Vorbild aller weiblichen Tugend verewigt werde. Wenn Emilia unter dieser Gewalt der Bilder den Tod von der Hand des Vaters verlangt mit den Worten „[…] Verführung ist die wahre Gewalt – Ich habe Blut , mein Vater, so jugendliches so warmes Blut als eine. Auch meine Sinne sind Sinne. Ich stehe für nichts […] – Geben Sie mir, mein Vater, geben Sie mir diesen Dolch.“ (V, 7, 183) – drängt sich der Verdacht auf, dass Emilia sich als Opfer anbietet, damit das väterliche Wunschbild der tugendhaften Tochter unbefleckt bewahrt bleibe.14

Minna von Barnhelm, Intrigantin aus Liebe

O, über die wilden, unbiegsamen Männer, die nur immer ihr stieres Auge auf das Gespenst der Ehre heften! Für alles andere Gefühl sich verhärten! — Hierher Ihr Auge! auf mich, Tellheim! (Minna)

Beim Wechsel vom Trauerspiel zum einige Jahre vorher verfassten Lustspiel, von Emilia Galotti (1772) zu Minna von Barnhelm (1763/1767), haben wir den Eindruck wie auf einen anderen Stern versetzt zu werden. „Am Abend des 21. August 1763 fuhr eine vierspännige Kutsche auf das Hallische Tor zu, den südlichen Durchlass in der Mauer, die die Residenzstadt Berlin- Kölln mit ihren Vorstädten Friedrichsstadt, Friedrichswerder und Neustadt umschloß„ – so beginnt Joachim Dyck seinen Aufsatz über Minna von Barnhelm.15 Zeit und Ort versetzen uns nicht wie im Trauerspiel in ein geographisch und zeitlich unklar zu bestimmendes Guastalla, sondern nach Berlin kurz nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges. Die Insassin der Kutsche ist das Fräulein von Barnhelm, allein in Begleitung ihrer Zofe: gesellschaftlich geradezu unerhört für die damalige Zeit und die damaligen Sitten. Noch schockierender: Das Fräulein ist ihrem Verlobten, dem Major Tellheim, nachgereist, um ihn in Sachen Liebe und Eheversprechen zur Rede

14 Vgl. Brigitte PRUTTI, Bild und Körper. Weibliche Präsenz und Geschlechterbeziehungen in Lessings Dramen: „Emilia Galotti“ und „Minna von Barnhelm“, Würzburg, Königshausen & Neumann, 1996, S. 5: „Der Dramatiker Lessing, dem das heroische Sterben und ein Märtyrertum christlicher Prägung gleichermaßen fremd geworden sind, setzt hier eine in der problematischen Beziehung zwischen Vater und Tochter verankerte Opferhandlung in Szene und kennzeichnet dieses Frauenopfer zugleich als sinnloses Sterben.“ 15 Joachim DYCK, Minna von Barnhelm, oder Die Kosten des Glücks, Berlin, Wagenbach Verlag,1981. 132 INGRID HAAG zu stellen. Das Hotel, in dem sie absteigt, ist auch zufällig das, in dem Tellheim zur Zeit wohnt. Worum geht es? In aller Kürze: Der Major von Tellheim hatte es für seine Pflicht empfunden, die Verbindung mit seiner Verlobten, dem Fräulein von Barnhelm, aufzulösen, nachdem er – in Wirklichkeit natürlich unschuldig – der Bestechung und Unterschlagung von Geldern während seiner Tätigkeit in der preußischen Armee beschuldigt wurde. Er habe seine Ehre verloren, sei zudem noch mittellos und einer Verbindung mit dem Fräulein von Barnhelm nicht mehr würdig. Er stellt seine Situation dar als eine tragisch unentrinnbare. Wohlgemerkt, Minna geht es nicht eigentlich darum, das Eheversprechen zu retten. Eigentlich geht es ihr um ihre Liebe, ihr ganz sinnliches Liebesbegehren, zu dem sie sich ohne Prüderie, direkt und begeistert bekennt. Wie gelingt ihr das? Eigentlicher Antrieb, könnte man sagen, ist dieses erotische Begehren. Es macht erfinderisch und bedient sich gerade der Eigenschaften, die so gar nicht der von Lessing selbst kodierten, wahren weiblichen Natur zu entsprechen scheinen: Klugheit und List, Verstellung und Täuschung. Sind diese Eigenschaften im 18. Jahrhundert doch höchstens bühnenfähig in Gestalt der femme fatale, jener hasserfüllten, rachsüchtigen Intrigantin. Minna ist deshalb eine so unerhört bedeutsame und seltene Frauenfigur auf der deutschen Bühne des 18. Jahrhunderts als sich bei ihr Klugheit und List nicht mit Hass und Rache sondern mit Liebesfähigkeit verbinden: Sie ist eine Intrigantin aus Liebe. Intrigantin auch in dem Sinne, als sie die Fäden der dramatischen Intrige entschlossen in die Hand nimmt, und beherrscht wenn nicht manipuliert.16 In der Komödie nun sind diese Fäden dabei, sich bei dem geliebten Mann zum tragischen Knoten zu verknüpfen, zum klassisch-tragischen unauflösbaren Konflikt zwischen Ehre und Liebe. Aber Minna ergibt sich nicht in das Schicksal. Nachdem sie sich in einer Art Verhör Tellheims Liebe vergewissert hat, geht sie daran, mit witzigem Verstand den Knoten zu lösen. Hier sei gleich ein gattungsspezifischer Aspekt angemerkt: Das glückliche Ende ist nicht einfach Ergebnis einer Gattungsnorm, sondern Werk einer klugen gewitzten Spielleiterin. Es muss errungen werden, und der Erfolg des Spiels ist keineswegs von vornherein garantiert. Erstes Instrument unserer Spielleiterin ist die Sprache, ihre rhetorische Sprachgewandtheit, mit der sie Tellheim zum Dialog geradezu herausfordert:

V. TELLHEIM: Ich brauche keine Gnade; ich will Gerechtigkeit. Meine Ehre – DAS FRÄULEIN: Die Ehre eines Mannes wie Sie –

16 Das Verhältnis von Intrige im Sinne von Kabale einerseits und Intrige als dramaturgische Kategorie andererseits ließe sich in beiden Stücken als interessantes Thema verfolgen. Im Trauerspiel liegen die Fäden der dramatischen Handlung ausschließlich in der Hand des Hofintriganten. Gegenüber der Hofkabale erscheinen die bürgerlichen Gestalten vollkommen handlungsunfähig. Die einzige Handlung, deren Galotti fähig ist, richtet sich gegen die eigene Tochter. ÜBER DIE „WAHRHEIT“ DER WEIBLICHEN NATUR 133

V. TELLHEIM: Nein mein Fräulein, Sie werden von allen Dingen recht gut urteilen können, nur hierüber nicht. Die Ehre ist nicht die Stimme unsers Gewissen, nicht das Zeugnis weniger Rechtschaffener –– DAS FRÄULEIN: Nein, nein ich weiß wohl. – Die Ehre ist – die Ehre. V. TELLHEIM: Kurz mein Fräulein, – Sie haben mich nicht ausreden lassen. – Ich wollte sagen: wenn man mir das Meinige so schimpflich vorenthält, wenn meiner Ehre nicht die vollkommenste Genugtuung geschieht; so kann ich, mein Fräulein, der Ihrige nicht sein. […] Das Fräulein von Barnhelm verdienet einen unbescholtenen Mann. Es ist eine nichtswürdige Liebe, die kein Bedenken trägt, ihren Gegenstand der Verachtung auszusetzen. Es ist ein nichtswürdiger Mann, der sich nicht schämet, sein ganzes Glück einem Frauenzimmer zu verdanken, dessen blinde Zärtlichkeit – DAS FRÄULEIN: Und das ist Ihr Ernst, Herr Major? Indem sie ihm plötzlich den Rücken wendet. (IV, 6, 88)

Tellheim verrennt sich und beharrt mit trotzigem Stolz in seiner tragischen Haltung, die allein schon durch das Pathos der Sprache als Pose entlarvt wird. An dieser Stelle attackiert Minna, übrigens scheut sie sich keineswegs den monologisierenden Redepartner zu unterbrechen: Mit der rhetorischen Figur des Pleonasmus – die Ehre ist, ja was ist sie eigentlich? „Die Ehre ist… die Ehre“ – versucht sie, Tellheim aufzuklären darüber, wie leer, wie substanzlos sein Ehrbegriff ist, eine leere Worthülse; dieses „Gespenst der Ehre“, wie sie es auch nennt (IV, 6, 87), macht blind für jegliches andere Gefühl. Die kurze Probe zeigt uns schon, dass Minna, ganz im Gegensatz zu Emilia, fähig ist, eine autonome Rede zu führen, eine echte Gegenrede gegenüber dem Mann, mit Klugheit, Witz und Ironie. In diesem Sinne ist sie mündig. Im Gegensatz zu Emilia, will Minna etwas für sich, hat ihr eigenes Wollen, ihren eigenen Glücksanspruch. Ihr Sprechen und Handeln zeugt von einem Freiraum gegenüber den Normen der patriarchalischen Gesellschaft und ihrer Weiblichkeitsbestimmungen. Einen Freiraum, den sie noch ausdehnen wird, indem sie, da sie mit klugen Worten nicht zum Ziel kommt, zu List, Verstellung und Täuschung greift und damit erfolgreich wird. Die Transgression des Lügenverbots ließe sich hier als die „Kosten des Glücks“ verbuchen, um die Titel-Formel des Aufsatzes von Joachim Dyck aufzugreifen, aber es geht keineswegs um eine bittere Rechnung: Das Vergnügen an diesem Spiel seitens der Spielleiterin wie auch des Zuschauers ist offensichtlich. Da gibt es das Vertauschen der Ringe: als keckes Täuschungsspiel absoluter Gegenpart zur ernsthaft belehrenden Ringparabel im Nathan. Dazu gesellt sich das Verstellungsspiel in Form des Rollentausches, einer wahren Verkehrung der Rollen: Gegenüber der Pose des so unglücklichen Mannes schlüpft sie nun in die Rolle der noch unglücklicheren, nämlich vom Oheim enterbten Frau. Eine schlaue Lügenfiktion, die an die väterlich schützende Rolle des Mannes appelliert. Und es trifft. (Tellheim: „Bin ich nicht Manns genug ihr einmal alles zu ersetzen?“ (V, 3, 93). Interessant ist vor allem, wie sich dieser Rollentausch auf der Ebene der Rede spiegelt. Minna führt genau 134 INGRID HAAG die Reden in ihrem Mund, die Tellheim gegen sie geführt hatte, und sie treibt ihr ironisches Spiel mit ihnen:

DAS FRÄULEIN: […] Es ist eine nichtswürdige Kreatur, die sich nicht schämet, ihr ganzes Glück der blinden Zärtlichkeit eines Mannes zu verdanken! V. TELLHEIM: Falsch, grundfalsch! DAS FRÄULEIN: Wollen Sie es wagen, Ihre eigene Rede in meinem Mund zu schelten? V. TELLHEIM: Sophistin! […] (IV, 9, 101)

Tellheim schimpft sie „Sophistin“; als eine, die dem Redepartner die Worte im Mund verdreht, erscheint sie Tellheim. In Wirklichkeit geht es hier aber nicht um Verdrehung der Worte, sondern um deren kritische Prüfung auf Gültigkeit. Sie nimmt die „männliche“ Rede in ihren Mund, um die dort formulierte, und wieder mal als Wahrheit über die weibliche Natur dekretierte Rollenfixierung von „schwächerem“ und „stärkerem Geschlecht zu entlarven und aufzubrechen. Woher nimmt sie diese Autonomie und Freiheit? Die Voraussetzungen sind günstig: da ist keine repressive Familienstruktur; kein Vater, der die Tochter zum Wunsch- und Idealbild seines Tugendsystems bilden will; allenfalls ist da ein aufgeklärter Adoptivvater, der zum Schluss als deus ex machina auftaucht, denn ganz ohne väterlichen Segen ist das happy-end dann doch nicht denkbar. Minna, jene liebenswürdige Aufklärerin, hat eine Heerschar vor allem männlicher Bewunderer entflammt. Wie zählebig allerdings bestimmte Vorstellungen von der Wahrheit der weiblichen Natur im bürgerlichen Denken sein können, bezeugt folgendes Urteil von Thomas Mann, in seiner Rede über Lessing, gehalten 1929 an der preußischen Akademie der Künste:

Das Maskuline liegt seinem [Lessings] Gestaltungstalent ungleich besser als das Weibliche; er zeichnet es richtiger, tiefer, stärker. Man fand von jeher, dass Tellheim, in seiner schwierigen Ehrliebe und Melancholie, als Figur die Minna bei weitem überrage. Vor allem ist er männlicher, als sie weiblich.17 (Herv. I. Haag)

Ausblick

Gemäß der Regel des Lustspiels wird unsere Minna auf dem Weg ins glückliche Eheleben entlassen. Wir möchten die Leistung der anmutigen Aufklärerin keineswegs schmälern, zumal sie ziemlich alleine auf der Bühne des 18. Jahrhunderts steht; die Leistung, die für uns hier insbesondere darin besteht, dass sie es unternimmt, den männlichen, mit dem Anspruch der herrschenden Wahrheit sich brüstenden, Ehr- und Tugenddiskurs mit Witz und Klugheit, List und Täuschung zu demontieren. Aber nicht die lebendige

17 Zitiert in PRUTTI, Bild und Körper, S. 171. ÜBER DIE „WAHRHEIT“ DER WEIBLICHEN NATUR 135

Minna, sondern die tote Emilia, nicht das glückliche Leben, sondern der skandalöse Tod ist es, der weiterhin subversives Potential freigibt. Unter der Bedingung allerdings, dass dieser Skandal, genauer der Text, der davon spricht, nicht einer sich aufgeklärt gebärdenden, reduzierten Lektüre zum Opfer fällt, dass Lessing und sein Text nicht sozusagen zur Gipsbüste erstarren und als solche zelebriert werden. Man höre Albrecht Schöne: „Wenn irgendwo der geometrische Geist der Aufklärung, wenn je die Algebra sich zur Höhe des Dichterischen erhoben hat, dann geschah das mit der Emilia Galotti.“ Und weiter: Das Stück sei frei vom „dunkle[n] Strom der Untertöne“, „ohne Geheimnis“, die Rechnung gehe da überall auf, und daraus resultiere „die großartige Notwendigkeit des tragischen Verlaufs“.18 Emilias Leben und Sterben einer tragischen Notwendigkeit anheimzugeben, die dazu noch als großartig apostrophiert wird – eine solche Lektüre erscheint mir in gewisser Hinsicht wie ein zweiter Dolchstoß in die Brust Emilias. Aber: tot ist nicht tot. Heiner Müller: „[…] der Dialog mit den Toten darf nicht abreißen, bis sie herausgeben, was an Zukunft mit ihnen begraben worden ist.“19 Er lässt Emilia wieder auferstehen, reiht sie ein in den Reigen der zerstörten Frauen: Neben Ophelia, „die der Fluß nicht behalten hat“, neben „die Frau am Strick“, „die Frau mit dem Kopf im Gasherd“20 – stellt er Emilia, die Frau mit dem Dolch des Vaters in der Brust; gibt ihnen, den mundtot gemachten, als Rächerinnen eine Stimme, ihre eigene Stimme.21 LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI22: Auf einem Autofriedhof in Dakota lässt Müller Lessing auftreten – „brustkrank vom Staub der Archive und von der Asche, die aus den Büchern weht“ (S. 34f.), einen Lessing, der anfängt seine eigenen Texte zu vergessen: „Ich bin ein Sieb. Immer mehr Worte fallen hindurch.“ (S. 35) Emilia Galotti betritt die Bühne, rezitiert noch einmal ihre tragische Situation, wohlgemerkt: die ihr zubereitete tödliche Ausweglosigkeit:

Gewalt! Gewalt! Wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heißt ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt! Ich hab Blut, mein Vater, so

18 Nachwort zu Lessings Dramen, Frankfurt a. M., Fischer, 1962, S. 324. 19 Heiner MÜLLER, Gesammelte Irrtümer 2, Interviews und Gespräche, Frankfurt a. M., Verlag der Autoren, 1990, S. 64. 20 Heiner MÜLLER, DIE HAMLETMASCHINE, 2 DAS EUROPA DER FRAU, in Mauser, Berlin, Rotbuch Verlag, 1978, S. 91. 21 Die sybillinische Orsina, diese seltsam schillernde Außenseiterfigur in Lessings Trauerspiel, hatte bereits in einer zwischen Prophezeiung und Wunschphantasie oszillierenden Rede Rache verkündet im Namen aller zerstörter Frauen: „Wann wir einmal alle, – wir, das ganze Heer der Verlassenen, – wir alle in Bacchantinnen, in Furien verwandeln, wenn wir alle ihn unter uns hätten, ihn unter uns zerrissen, zerfleischten, sein Eingeweide durchwühlten, – um das Herz zu finden, das der Verräter einer jeden versprach, und keiner gab! Ha! Das sollte ein Tanz werden! Das sollte!“ (IV, 7, 64). Hiermit präfiguriert diese Lessingsche Frauenfigur all jene Rächerinnen – Salomo, Elektra –, die schon vor Heiner Müller die Literatur der Jahrhundertwende wiederbelebt haben. 22 Heiner MÜLLER, LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI, in Herzstück, Berlin, Rotbuch Verlag, 1989 (alle Zitate und Seitenangaben nach dieser Ausgabe). 136 INGRID HAAG

jugendliches, so warmes Blut als eine. Auch meine Sinne sind Sinne. […] Geben sie mir, mein Vater, geben sie mir diesen Dolch […] (S. 36).

Aber ihre Rede wird durchkreuzt durch eine andere, die des weisen Nathan, der gleichzeitig den Schluss der Ringparabel aufsagt: „Es eifre jeder seiner unbestochnen,/ Von Vorurteilen freien Liebe nach!/ Es strebe von euch jeder um die Wette…“.23 Ein Stimmengewirr, eine Kakophonie entstehen, welche die beiden Figurenreden ins Sinn-lose verzerren. Danach vertauschen die beiden Lessingschen Figuren ihre Köpfe, „entkleiden umarmen töten einander“ (S. 36). Dem Lessingdarsteller wird dann zum Schluss eine bronzene Lessingbüste übergestülpt, aus welcher er vergeblich versucht sich zu befreien. Aber tot ist nicht tot. Als verzerrte Rede wird Emilias Rede ihre Rede, die wenn sie nicht von ihrer Wahrheit spricht, so doch von der Lüge, die sie zerstört hat. Diese nistet im aufgeklärt-bürgerlichen Diskurs selbst, wo die humanistische väterliche Botschaft nebst ihren Postulaten der Reinheit, der Unschuld und Wahrhaftigkeit – Edel sei der Mensch, hilfreich und gut24 – das Trauerspiel der Frau und Tochter begründet und legitimiert. Durch den Missklang der beiden sich durchkreuzenden Reden, bringt Müller – unendlich besser als ich es konnte – den Skandal dieser Lüge zur Sprache.

23 „Nathan der Weise“, in LESSING, Dramen, Anm. 8, S. 263. 24 GOETHE, Das Göttliche, Hamburger Ausgabe, Bd. 1, Hamburg, Christian Wegner Verlag, 1964 (7. Aufl.), S. 147. Nicht das berühmte Goethe-Zitat ist gemeint, sondern das geflügelte Wort zu dem jenes im bürgerlichen Diskurs geworden ist. Wallenstein – Selbsttäuschung und Identitätsbrüche im Spannungsfeld der Politik

Gert SAUTERMEISTER Universität Bremen

Die folgende Analyse der Wallenstein-Gestalt1 versteht unter Selbsttäuschung eine zwischen den Polen Wahrheit und Lüge mehrdeutig schillernde Haltung. Charakteristisch für sie ist ein Bewusstseinsmangel, aufgrund dessen das Subjekt die Wahrheit über sich selbst verkennt, ohne deshalb zu lügen – denn Lügen setzt eine Absichtlichkeit voraus, die der Selbsttäuschung fehlt. Sie lässt sich vielmehr als eine unbewusste Selbstverkennung bezeichnen, bei der das Subjekt die Konsequenzen seines Tuns und Lassens vor dem eigenen Bewusstsein verhüllt. Wallenstein macht zwar aus seinen Gedanken, Affekten und Stimmungen kein Geheimnis, aber er scheut sich davor, ihre Folgen zu bedenken. Er spielt mit Möglichkeiten, ergeht sich in Träumen – bis letztere ihn überspielen. Er dreht und wendet seine Identität nach vielen Richtungen, probiert verschiedene Entwürfe aus, ohne sich zu fragen, ob er sie miteinander und mit sich selbst vereinbaren kann. So gerät er in den Raum der Selbsttäuschung. Im Privatleben mag die Selbsttäuschung unerfreuliche Kreise ziehen und einen in Schuld verstricken, vielleicht auch ohne schwerwiegende Folgen zerrinnen; im Feld der Politik und der Macht kann sie ein Verhängnis von überpersönlicher geschichtlicher Tragweite zeitigen. Das demonstriert Schillers Wallenstein, eines der bedeutendsten deutschen Geschichtsdramen2, nicht zuletzt dank seiner scharfsichtigen Psychologie der Selbsttäuschung. Ihr ist noch wenig Aufmerksamkeit zuteil geworden, umso lohnender erscheint der Versuch

1 Mein Versuch ist die Umarbeitung eines Aufsatzes, der an entlegener Stelle erschienen ist: Gert SAUTERMEISTER, „Das Spannungsverhältnis von Politik und Moral. Zur Modernität der Gestalt Wallensteins“, in Friedrich v. Schiller zum 200. Todestag, hrsg. v. Ortsvereinigung Hamburg der Goethe-Gesellschaft in Weimar (E.V. Jahresgabe 2006), S. 55-84. 2 Über die bewundernswerte „Architektur der Trilogie“ unterrichtet differenziert Peter- André ALT, Schiller. Leben – Werk – Zeit, München, C. H. Beck, 2004, 2. Bd., S. 428-438. 138 GERT SAUTERMEISTER einer Analyse. Sie könnte der Wallenstein-Figur, die ihrer umstrittenen Vieldeutigkeit wegen Schiller besonders fesselte, neue Seiten abgewinnen.3 Wallensteins Selbsttäuschung beruht auf heterogenen Antriebskräften, auf einer Vielzahl undurchschauter Widersprüche, die der geschichtliche Prozess miterzeugt hat. Diese geschichtlich-politische Bedingtheit eines dissoziierten Selbst verweist auf ein für die deutsche Klassik ungewöhnliches Menschenbild, von dem die Forschung noch kaum Kenntnis genommen hat.4 Goethe hatte die Entwicklung der Person als eine organische aufgefasst: aus einem Wesenskern entfaltet sie harmonisch die ihr eingeborenen Anlagen und führt sie zur Synthese. Gegenüber diesem Prozess der Integration menschlicher Grundkräfte mutet die Desintegration persönlicher und historisch veränderlicher Wesenszüge im Wallenstein modern an. Im Kräftefeld der Politik und Moral vereinfacht jedoch der Protagonist seine widerspruchsvolle Identität radikal. Er isoliert einen Kern dieser Identität als sein Lebensgesetz von den ethischen Prämissen politischen Handelns. Gegen diese Halbwahrheit einer geschichtlichen Existenz behauptet Max Piccolomini im Namen der Moral eine bedingungslose ‚tödliche’ Wahrheit. Im Medium seines Todes erkennt Wallenstein am Ende den Substanzverlust seines eigenen Lebens.

Wallensteins Trauma. Seine heterogenen Projekte

Ich rolle mein Thema von einem finalen Stadium der Selbsttäuschung auf, als Wallenstein sich erstmals mit ihr konfrontiert sieht und versuche dann ihre

3 Zu Schillers Annäherungen an den historischen Wallenstein und damit an seine Quellen für das Drama vgl. Norbert OELLERS, „Wallenstein“, in Schiller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hrsg. v. Matthias LUSERKE-JAQUI unter Mitarbeit von Grit DOMMES, Stuttgart/ Weimar, Metzler, 2005, S. 126ff. 4 Eine Haupttendenz der Forschung zum Wallenstein zielt darauf, den Protagonisten als Charakter mit feststehenden Eigenschaften zu erfassen. So auch die bedeutenden Monographien von Peter-André Alt (Anm. 2) und von Dieter BORCHMEYER, Macht und Melancholie. Schillers Wallenstein, Neckargemünd/ Wien, Mnemosyne, 2003, überarbeitete Neuauflage des 1988 im Athenäum Verlag erschienenen Buches. Borchmeyer deutet Wallenstein als melancholischen Charakter mit vielfältigen aufschlussreichen Eigenschaften, während Alt ihn als „bedenkenlosen Machtmenschen“ mit „düster-abweisenden Charakterzügen“ darstellt (S. 441), dem überpersönliche Zielsetzungen fremd sind; eine „Kette der persönlichen Irrtümer“ (S. 445), die mit seinem Sternenglauben „verbunden“ sind (S. 446), führen diesen „pragmatischen“ Materialisten (vgl. S. 440f.) und an sich klugen Strategen „Graciánscher Prägung“ (S. 442) in die Katastrophe. Unbeschadet etlicher treffender Charakteristika im einzelnen vermisse ich an den Darstellungen der Gestalt Wallensteins den Nachweis der verschiedenen Stadien, die sie durchläuft, also ihre im geschichtlich-politischen Prozess eintretenden Veränderungen. Einen Wandel in der Gestalt des Feldherrn stellt dagegen Walter MÜLLER-SEIDEL in Rechnung: Friedrich Schiller und die Politik. „Nicht das Große, nur das Menschliche geschehe“, München, C. H. Beck, 2009, vgl. S. 122-146. WALLENSTEIN 139

Anfänge und Steigerungen zu erfassen. Zu Beginn von „Wallensteins Tod“5 – dem erwähnten finalen Stadium – besichtigt Wallenstein mit erregter Hoffnung die eben eingetroffene, glückverheißende Konstellation der Gestirne. Zu Seni, seinem Astrologen, gewandt, bemerkt er triumphierend, dass seine „Segenssterne, Jupiter und Venus“, endlich „den tückschen Mars in ihre Mitte“ nehmen und ihn, „den alten Schadensstifter“, zwingen, „mir zu dienen“. (Tod, V. 11-14). „Jetzt muß / Gehandelt werden, schleunig“, entfährt es Wallenstein (Tod, V. 32f.), der sein Handeln lange aufgeschoben hat. Just in diesem Augenblick – Schillers dramatische Ironie fährt ernüchternd in den „glückseligen Aspekt“ (Tod, V. 9) – unterbrechen Wallensteins Vertraute die Sternenschau mit der Nachricht, dass der Unterhändler Sesin, ein Verbindungsmann Wallensteins, der an seiner Stelle geheime Verhandlungen mit den Reichsfeinden, den Schweden und Sachsen, führt, gefangen genommen wurde und dem Kaiser am Wiener Hof, dem Reichsoberhaupt und Kriegsherrn, überstellt wird. Der Hof wird Sesin das Geständnis über Wallensteins Verhandlungen mit den Feinden des Reichs abpressen, was die schimpfliche Absetzung des Feldherrn als eines „Landesverräters“ zur Folge hätte (Tod, V. 107). Der Gedanke ist für Wallenstein unerträglich, hat er doch einen Verrat nie verbindlich beschlossen und Verhandlungen mit den Reichsfeinden nur zum Schein geführt, um diese für seine persönlichen Zwecke auszunützen und schließlich an die Wand zu spielen. „Ein böser, böser Zufall –“, so kommentiert er den Umschwung der Dinge (Tod, V. 98). Mit diesem Zufall ist Wallensteins Sternenschau und Sternenglaube als Täuschung entlarvt, als eine Selbsttäuschung des Helden, die umso verhängnisvoller ist, als Wallenstein unter Berufung auf die ausbleibende günstige Sternenkonstellation ein gezieltes Handeln bisher aufgeschoben hat. Er, das Musterbild des raschen entschlossenen Tathelden, hat über längere Zeitstrecken hinweg sich als Zögerer und Zauderer aufgeführt, zum Verdruss seiner Vertrauten und Verwandten. Einer von ihnen, Feldmarschall Illo, ist seines Zögerns längst überdrüssig und verweist ihn auf die Konstellation nicht der Gestirne, sondern der historisch-politischen Gegebenheiten, die das Handeln zum dringenden Gebot machen: „O du wirst auf die Sternenstunde warten,/ Bis dir die irdische entflieht! Glaub mir,/ In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne./ Vertrauen zu dir selbst, Entschlossenheit/ Ist deine Venus!“ (Picc., V. 960ff.) Nun ist in der Tat dem Sternenseher und Zögerer die „irdische“ Stunde entflohen. Was nötigte Wallenstein zu seinem astrologischen Glauben, dieser Selbsttäuschung, die sich als Verhängnis herausstellt? Das Drama liefert zur Lösung der Frage einige Fingerzeige, die auf frühere Erfahrungen des Feldherrn zurückführen, namentlich auf den sogenannten Regensburger Fürstentag. Wallenstein hatte „vor Jahren“ Erstaunliches zustande gebracht,

5 Zitiert werden Die Piccolomini und Wallensteins Tod nach Friedrich SCHILLER, Sämtliche Werke, Bd. 2, Dramen II, hrsg. von Gerhard FRICKE und Herbert G. GOEPFERT in Verbindung mit Herbert STUBENRAUCH, München, Carl Hanser, 1974. 140 GERT SAUTERMEISTER hatte „ein Heer wie aus dem Nichts hervorgerufen“ (Tod, V. 289f.), hatte den Kaiser aus höchster Bedrängnis befreit, indem er die „Landeshoheit“ der Fürsten niedergetreten, die rechtmäßigen „Ordnungen des Reichs“ rücksichtslos verletzt und der „Stärke fürchterliches Recht“ geübt hatte (Tod, V. 606ff.) – sehr zum Gefallen des Kaisers, der „diesen Freveltaten/ Sein kaiserliches Siegel“ aufdrückte (Tod, V. 613f.). Den Dank, genauer: den Undank für seine Dienste stattete ihm der Kaiser auf dem Regensburger Fürstentag ab, als er seinen Feldherrn den Klagen der Landesfürsten preisgab und ihn seines Postens enthob. Es war ein Akt politischer Unmoral mit traumatischen Folgen für Wallensteins Psyche und seine politische Mentalität. Erst als der Kaiser Jahre später erneut in „herbe Not“ geriet, berief er Wallenstein wieder zum obersten Befehlshaber (Tod, vgl. V. 570ff.). Doch diese Berufung konnte das Trauma nicht auflösen, das Wallenstein seit dem Fürstentag verfolgt. Es ist das Trauma des Argwohns gegenüber der Loyalität des Kaisers, des Bedürfnisses nach Rache für die erlittene Schmach und der Furcht vor einer neuen Absetzung. Wallensteins Gattin kommentiert im Dialog mit ihrer Tochter das veränderte Seelenleben Wallensteins wie folgt:

[…] Auch wir, Ich und dein Vater, sahen schöne Tage, Der ersten Jahre denk ich noch mit Lust. Da war er noch der fröhlich Strebende, Sein Ehrgeiz war ein mild erwärmend Feuer, Noch nicht die Flamme, die verzehrend rast, Der Kaiser liebte ihn, vertraute ihm, Und was er anfing, das mußt ihm geraten. Doch seit dem Unglückstag zu Regenspurg, Der ihn von seiner Höh herunter stürzte, Ist ein unsteter, ungesellger Geist Argwöhnisch, finster, über ihn gekommen. (Tod, V. 1394ff.)

Die Auskunft der Herzogin verdeutlicht ein Grundelement der dramatischen Figurengestaltung Schillers – sein Verständnis der menschlichen Psyche als eines dynamischen Kräftefelds, das geschichtlichem Wandel unterworfen ist. Der Herzogin zufolge hat das Trauma des Regensburger Fürstentags eine neue Seite in Wallensteins geistig-seelischer Existenz hervorgebracht – seinen vielzitierten Sternenglauben:

Ihn floh die Ruhe, und dem alten Glück, Der eignen Kraft nicht fröhlich mehr vertrauend Wandt er sein Herz den dunklen Künsten zu, Die keinen, der sie pflegte, noch beglückt. (Tod, V. 1406f.)

Wallenstein teilt zu dem Zeitpunkt, da die Herzogin diese Aussage macht, ihre Skepsis keineswegs. Ihm scheint seine Erkundung der Gestirne vielmehr die Erkenntnis der „Tiefen der Natur“ und der „Geisterleiter“ zu verbürgen, die, so glaubt er, „aus dieser Welt des Staubes/ Bis in die Sternenwelt […]/ Hinauf sich baut“. (Picc., V. 977ff.) Es ist eine kosmische Wesensschau, die WALLENSTEIN 141

Wallenstein anstrebt, eine Schau mit platonischem und mystischem Einschlag, die auf das Erkennen einer „zentralischen Sonne“ ausgerichtet ist, eines Urbilds, das nur einem im Sternzeichen des Jupiter Geborenen zugänglich ist, einem der „hellgebornen, heitern Joviskinder“ (vgl. Tod, V. 983ff.). Wallensteins Enthusiasmus an dieser Stelle ist der eines Auserwählten, eines Aristokraten unter der Masse all derjenigen, die unter anderen, trivialen Sternzeichen geboren wurden, im Zeichen des „bleichen, bleifarbnen“ Saturn beispielsweise (Tod, V. 971f.). Schiller verleiht der Gestalt seines Helden eine neue, interessante Facette, er gesellt der vita activa Wallensteins die vita contemplativa zu, und es lässt sich unschwer erkennen, dass Wallenstein an dieser Stelle durch die Kraft der Phantasie sich entschädigt für die im politisch-geschichtlichen Prozess erlittene Demütigung. Er adelt seine Person und überwölbt seine Schmach durch die „heitere“ Wesensschau eines vom Jupiter-Gestirn ausgezeichneten Metaphysikers. So führt er beispielhaft die Selbstbehauptung eines Menschen vor, dessen Selbstbewusstsein gekränkt wurde, führt sie vor durch die Entfaltung seiner kompensatorischen Phantasie. Es sind hundert andere Möglichkeiten der Selbstbehauptung in existentiellen Krisensituationen denkbar – wesentlich ist hier die Einsicht, dass es dem Menschen gemäß ist, sich einer Lebenskrise durch ein verändertes Selbstverständnis und eine neue Sinngebung zu erwehren. Doch damit begnügt sich Wallenstein keineswegs. Er möchte aus der kosmischen Sternenschau auch einen politisch pragmatischen Nutzen ziehen. Mittels der Gestirne will er eine gezielte Strategie gegen die Wechselfälle in der geschichtlichen Welt entwickeln. Das Verhängnis, das ihn einmal betroffen hat, soll ihn kein zweites Mal heimsuchen. Überraschungen, missliebige Zufälle, Schicksalsschläge – all das soll künftig ausgeschaltet werden. Die „Gestirne“, so glaubt er, bezeichnen dem politisch Handelnden den Zeitpunkt, an dem er zur Tat schreiten darf, zu einer erfolgreichen und von Glück gesegneten Tat. Auf die entsprechende Sternenkonstellation wartet Wallenstein. Sie ist es, die sein Zögern bedingt.6 Das mag manchem befremdlich scheinen, mag ein Lächeln hervorrufen. Man bedenke jedoch, dass hier ein zutiefst Verunsicherter am Werk ist, der eine verlässliche Orientierung sucht, eine sichere Prognose. Und man bedenke ferner, dass Prognosen als sinngebende Orientierungsmarken bis heute nichts Ungewöhnliches sind. In der Epoche Schillers stellte der Prediger und Philosoph Lavater anhand von physiognomischen Merkmalen Prognosen über den Charakter der Menschen auf. Ganze Generationen nahmen seine fahrlässigen Schlüsse ernst und vertrauten ihnen blind, von der Hoffnung angestachelt, sie könnten so Wegweiser für ihre Menschenkenntnis erhalten. Heute erlassen noch immer Sterndeuter Prognosen für die

6 Unter diesem (textadäquaten) Aspekt nimmt sich Safranskis These, Wallenstein mache „in keinem Fall [...] seine Entscheidungen von der Sternenkonstellation abhängig“, als Fehlurteil aus. Rüdiger SAFRANSKI, Friedrich Schiller oder die Erfindung des deutschen Idealismus, München, Carl Hanser, 2004, S. 460. 142 GERT SAUTERMEISTER unmittelbar bevorstehende Zukunft, prognostizieren fünf Wirtschaftsweise ökonomische Entwicklungen, die sie im Handumdrehen zu korrigieren pflegen, prophezeien Fachleute die nächsten Phasen auf den Aktienmärkten, die nur selten eintreffen, errechnen Kultusministerien den zukünftigen Bedarf von Lehrerstellen, die nie oder nur teilweise geschaffen werden. Durch den Weltlauf kursiert eine Flut von Voraussagen, auf die man seine Sicherheit glaubt gründen zu können. Die Irrationalität des Lebens und der Geschichte soll durch Rationalität, durch Vorausberechnungen kalkulierbar werden. Wallensteins Sternendeutung ist dafür nur ein besonders auffälliges Beispiel, erwachsen aus einer traumatischen Verunsicherung. Schiller, so darf man folgern, sieht im politisch Handelnden keineswegs nur einen Repräsentanten von Sachzwängen, eine heute sehr verbreitete Unterstellung. Sie unterschlägt, dass in politisches Tun stets auch die persönlichen Affekte und biographischen Erfahrungen der Akteure hineinwirken können – bis zur Selbsttäuschung. Eben davon weiß der Dramatiker Schiller Eindringliches zu erzählen. Dem Regensburger Fürstentag entstammt aber auch ein sublimierter Rachegedanke Wallensteins, den er in ein politisches Gewand kleidet – seine neue Reichsidee. Als zu Beginn der Piccolomini ein Kriegsrat des Kaisers, von Questenberg mit Namen, in Wallensteins Feldlager auftaucht und ihm kaiserliche Befehle überbringt, weist der ihn, eingedenk der Regensburger Schmach, in die Schranken. Er, der für den Kaiser auf Kosten der Reichsfürsten zu Felde gezogen war, hat inzwischen einen neuen Kurs eingeschlagen:

[…] Seitdem es mir so schlecht bekam, Dem Thron zu dienen, auf des Reiches Kosten, Hab ich vom Reich ganz anders denken lernen. Vom Kaiser freilich hab ich diesen Stab, Doch führ ich jetzt ihn als des Reiches Feldherr, Zur Wohlfahrt aller, zu des Ganzen Heil, Und nicht mehr zur Vergrößerung des Einen! (Picc., V. 1177ff.)

Wallenstein riskiert mit dieser offenen Rede viel. Er stellt die allgemeinen Interessen des Reichs provokativ über die besonderen des Kaisers und scheut nicht länger die Konfrontation mit dem Wiener Hof. Indem Schiller ihn – vor seinen Generälen – zum Sprecher für die „Wohlfahrt aller“, für „des Ganzen Heil“ macht, knüpft er an eine seiner bevorzugten Gestaltungstendenzen an: er weist der Heldenrolle die Verantwortung für das allgemeine Beste zu. Insofern scheint Wallenstein das Regensburger Trauma glücklich aufzulösen und sein persönliches Bedürfnis nach Rache am Kaiser in einer überindividuellen politischen Idee aufheben zu können. „Mich soll das Reich als seinen Schirmer ehren,“ lässt er einen seiner engsten Vertrauten wissen: „Reichsfürstlich mich erweisend, will ich würdig/ Mich bei des Reiches Fürsten niedersetzen.“ (Picc., V. 835ff.) WALLENSTEIN 143

Insgeheim zehrt an dieser schönen Utopie des Ideenpolitikers jedoch ein egozentrisches Interesse des Machtpolitikers Wallenstein. Wiederholt führt Schiller, wie wir wissen, in seiner Dramatik den Widerstreit von Idee und Macht vor, aber nirgendwo hat er ihn so hintergründig und so vieldeutig ausgearbeitet wie im Wallenstein. Der Held und Kriegsfürst will seine Hausmacht erweitern und begehrt nicht mehr und nicht weniger als eine Königskrone für seine aufwendigen militärischen Mühen. Seiner Tochter will er eines Tages „den Kranz des kriegerischen Lebens [...] in einen königlichen Schmuck verwandelt“ um die „schöne Stirne flechten“ (Picc., V. 748ff.). Der „königliche Schmuck“ soll die böhmische Krone sein, auf die das Machtverlangen Wallensteins zielt. Sein Traum ist es, als des Reiches Schirmherr zugleich König von Böhmen zu sein, und dergestalt das Allgemeine mit seinen besonderen Interessen zu verschränken. Des Kaisers besondere Interessen dagegen zielen auf die Erhaltung Böhmens unter seinem Szepter, seiner Regierungsgewalt, die durchaus auch die Gewalt gegen Böhmens protestantische Majorität einschließt. Octavio Piccolomini, der vermeintliche Freund Wallensteins, der sich als sein Intimfeind enthüllen wird, bringt den Konflikt prägnant auf den Punkt, wenn er seinem Sohn Max die Absichten Wallensteins deutet:

Nichts will er, als dem Reich den Frieden schenken; Und weil der Kaiser diesen Frieden haßt, So will er ihn – er will ihn dazu zwingen! Zufriedenstellen will er alle Teile, Und zum Ersatz für seine Mühe Böhmen, Das er schon innehat, für sich behalten. (Picc., V. 2333ff.)

Das zentrale Problem, das sich hiermit Wallenstein stellt, lautet: Wie kann er in den Besitz der Krone Böhmens gelangen? An diesem heiklen Punkt setzt nun Schiller ein Machtspiel in Szene, das seinesgleichen sucht in der Geschichte des deutschen Dramas. Schiller hebt am Beispiel seines Helden einen Grundzug der Macht hervor: ihre Verführungskraft. Es liegt in der Dynamik der Macht, dass sie ihren Träger in die Versuchung zu größerer Machtfülle führt. Dass sie sich seiner Egozentrik andient und seinem Narzissmus schmeichelt. Und dass sie ihn zum Spieler macht. Davon erzählt Wallensteins Monolog – diese grandiose Selbstdurchleuchtung eines Liebhabers, eines Träumers und eines Beischläfers der Macht (Tod, I, 4). Er habe sich, bekennt Wallenstein, bloß „in dem Gedanken“ der Macht gespiegelt, habe nur „an dem Gaukelbilde […] der königlichen Hoffnung“ sich ergötzt, und doch auch „das Herz genährt mit diesem Traum“. Es sei ein unwiderstehlicher Reiz gewesen, die „Freiheit“ zum Spiel mit der Macht auszukosten, einem zum Abenteurertum verlockenden Spiel. Das wird schon vor Wallensteins Monolog deutlich. Aus den verschiedenen Äußerungen des Feldherrn gegenüber seinen Vertrauten, Illo und Terzky, wird der Abenteurer Wallenstein als Maskenspieler kenntlich, der sich die Reichsfeinde, Schweden und Sachsen, mit dem Ziel 144 GERT SAUTERMEISTER der Machterweiterung zunutze machen will, um sie schließlich aus dem Land zu jagen: „Es soll im Reiche keine fremde Macht/ Mir Wurzel fassen“ (Picc., V. 838f.) – Die potentiellen Bündnispartner durchschauen jedoch Wallensteins Täuschungsmanöver nach und nach und drohen die fruchtlosen Verhandlungen mit seinen Gefährten abzubrechen. Entnervt halten Illo und Terzky dem Feldherrn seine „krummen Wege“ und wechselnden „Masken“ vor (Picc., V. 847ff.) und drängen auf einen entschiedenen Seitenwechsel zugunsten der Schweden, worauf Wallenstein seine übergeordnete Reichsidee ins Feld führt: „Mich soll das Reich als seinen Schirmer ehren.“ (Picc., V. 835) Gleichzeitig will er sich seine Machtspiele offenhalten und kontert den Vorwurf der Freunde, er habe den schwedischen Verhandlungspartner bloß „zum besten“, in der Manier des arroganten Souveräns:

Und woher weißt du, daß ich ihn nicht wirklich Zum besten habe? Daß ich nicht euch alle Zum besten habe? Kennst du mich so gut? Ich wüßte nicht, daß ich mein Innerstes Dir aufgetan – Der Kaiser, es ist wahr, Hat übel mich behandelt! – Wenn ich wollte, Ich könnt ihm recht viel Böses dafür tun. Es macht mir Freude, meine Macht zu kennen; Ob ich sie wirklich brauchen werde, davon, denk ich, Weißt du nicht mehr zu sagen als ein andrer. (Picc., V. 861ff.)

Das ist die Sprache des Machtpolitikers, der sich das Schauspiel der Undurchdringlichkeit leistet. Und der sein Ich selbst Freunden gegenüber bis zur Unkenntlichkeit vermummt. Aber es ist auch die Sprache des Abenteurers, der sich überschätzt und seinen Realitätssinn einzubüßen droht. Warum? Ein zusammenfassender Rückblick auf Wallensteins verschiedene Strategien und Projekte kann das verdeutlichen. Erkennbar wird damit zugleich das ganze Ausmaß seiner Selbsttäuschung.

Wallensteins Selbsttäuschung

Der Protagonist will 1. einer übergeordneten Reichsidee Realität verschaffen 2. seine Machtfülle durch die böhmische Königskrone steigern 3. die Feinde für seine Zwecke benutzen, gegeneinander ausspielen und hinters Licht führen 4. das Eintreffen einer günstigen Sternenkonstellation erwarten und dann alle drei Vorhaben in die Tat umsetzen 5. bis zu diesem Zeitpunkt auch die engsten Mitstreiter in Schach halten und auf sein Zögern verpflichten. Fünf Vorhaben auf einmal – wie will Wallenstein sie koordinieren? Sie effektiv ineinandergreifen lassen? Ist er nicht überfordert durch die widerspruchsvolle Pluralität seiner politischen Ziele und mentalen WALLENSTEIN 145

Einstellungen? Der Ideenpolitiker, der ein übergeordnetes Allgemeininteresse anvisiert, der Träumer, der sich in seiner Machtfülle spiegelt, der auf Kriegsfuß mit seinem Kaiser lebende Machtpolitiker, der die eigene Machterweiterung verfolgt, der schillernde Taktierer und schauspielende Abenteurer, der die Feinde an sich binden und in die Irre führen will, der Metaphysiker und Pragmatiker schließlich, der eine kosmische Wesensschau betreibt und zugleich auf die stellare Empfehlung zur Tat wartet – wo wäre der Integrationspunkt dieser divergierenden Haltungen und Selbstrepräsentationen aufzufinden? Es scheint, als sei Wallensteins Identität in den Piccolomini aufgespalten in einander durchkreuzende Ichfragmente. Schiller hat seinen Helden in einer bestimmten Lebensphase mit einer diskordanten Vielstimmigkeit von politischen Mentalitäten ausgestattet, hat ihm ein heterogenes Selbst verliehen, wie es sich eher in moderner als in klassischer Literatur, eher in Werken des 20. als des 18. Jahrhunderts findet. An keiner Stelle im Drama wird sich Wallenstein der widersprüchlichen Pluralität seiner politischen Ziele und mentalen Einstellungen, seiner heterogenen Identität in einer konkreten geschichtlichen Situation bewusst. Man könnte ebenso gut sagen, dass eine derartige Bewusstwerdung gerade durch seine Widerspruchsfülle verhindert wird. Wallensteins Bewusstseinsmangel ist das Einfallstor für seine Selbsttäuschung. Das Phantasma seiner königlichen Souveränität – „Es macht mir Freude, meine Macht zu kennen“ – tritt in bewusstlosen Widerspruch zum zeitweiligen Eindruck eines baldigen Handlungszwangs. Als seine Gemahlin von einem Besuch des Wiener Hofs zurückkehrt und ihm von den dortigen Intrigen berichtet, die offenbar auf eine „zweite Absetzung“ Wallensteins zielen, „schimpflicher“ als die erste beim Regensburger Fürstentag (Picc., V. 700), ist Wallenstein in seinen Grundfesten erschüttert: „O! sie zwingen mich, sie stoßen/ Gewaltsam, wider meinen Willen, mich hinein“ (Picc., V. 702f.). Der vor ihm auftauchende Handlungszwang ist das verbindliche Bündnis mit den Reichsfeinden, den Schweden oder Sachsen. Zwar kontert Wallenstein kurzfristig die ihm drohende Absetzung, indem er ein Schriftstück zirkulieren lässt, das seine Generale zu unbedingter Gefolgschaft ihm gegenüber verpflichtet (Picc. II, 6), doch darüber hinaus unternimmt er nichts, macht er von seiner Macht keinen weiteren Gebrauch, wird ihm ihre Infragestellung nicht bewusst. Dem Drängen seiner Berater, endlich entscheidende Schritte zu unternehmen, erteilt er einen abschlägigen Bescheid: „Die Zeit ist noch nicht da“ (Picc., V 958) und verweist in episch breiter Rede auf die „Sternenwelt“ und „rechte Sternenstunde“ (Picc., V. 966-1002). Allem Anschein nach möchte er die desintegrativen Handlungsimpulse und - interessen, die sein Bewusstsein nicht selbstkritisch zu überblicken vermag, in seiner Astrologie als übergeordneter Instanz vereinigen, ideell und praktisch. Ideell, insofern sie ihm als metaphysische „Geisterleiter“ von den „Tiefen der Natur“ hinauf zu den „himmlischen Gewalten“ dient (Picc., V. 978ff.), praktisch, insofern sie ihm die „Saatzeit“ für „des Menschen Tun“ angeben soll (Picc., V. 990ff.). Schillers dramatische Ironie ist an dieser Stelle 146 GERT SAUTERMEISTER zwingend. Octavio, den Wallenstein für seinen verlässlichsten Weggefährten hält, trägt schon „den kaiserlichen Brief“ bei sich, der die Entmachtung und Ächtung Wallensteins anordnet (Picc., V, 1). Obgleich die Freunde ihren Feldherrn vor Octavio warnen, verteidigt Wallenstein ihn astrologisch: „Wir sind geboren unter gleichen Sternen –“ (Picc. V. 889). Mitten in seiner Sternenschau ist Wallenstein blind für die Realität – und verharrt in dieser Blindheit wie unter einem Zwang, dem traumatischen Zwang eines Gedemütigten, der sich an eine private Sinngebung klammern muss. So belügt er sich selbst. Auch als die verheißungsvolle Sternenkonstellation endlich eintrifft, jedoch mit der Gefangennahme Sesins, des Unterhändlers Wallensteins, kollidiert, zweifelt Wallenstein nicht einen Augenblick an der Richtigkeit der astrologischen Aussagekraft. Und als wenig später die engsten Ratgeber ihn auf Octavios heimliche Machenschaften hinweisen und ihn unter Aufbietung aller Rednerkünste als seinen Gegner entblößen, ignoriert Wallenstein ihre Gründe mit der Behauptung, seine Astrologie entspringe der „tiefsten Wissenschaft“, und diese bürge fraglos für Octavio: „Lügt er, dann ist die ganze Sternkunst Lüge.“ (Tod, V. 891f.) Lüge ist sie an dieser Stelle in der Tat. Sie mag Wallensteins dramatische Verunsicherung dämpfen, doch als praktische Anleitung zum Handeln ist sie untauglich. Widerrufen wird sie nicht nur durch die Gefangennahme Sesins und davor schon durch Octavio, den Geheimagenten des Kaisers, widerrufen wird sie auch durch die Strategie der Reichsfeinde. Ihnen dünkte sich Wallenstein stets überlegen7, und als der „glückselige Aspekt“ der Gestirne endlich eintrifft (Tod, V. 9), darf er hoffen, sie seinen Interessen nachdrücklich zu unterwerfen. Narzisstisch sich spiegelnd in seinem Traum von der eigenen Größe, befangen in der Illusion, die Reichsgegner seien seiner Strategie nicht gewachsen, hatte er sie hingehalten und auf die verheißungsvolle „Sternenstunde“ gewartet. In der Zwischenzeit hatten die Gegner das Katz-und-Maus-Spiel des politischen Traumwandlers und Sterndeuters mit einem ausgeklügelten Schachzug hintertrieben; als Wallenstein aufgrund der Gefangennahme Sesins mit den Schweden eine Gegenstrategie zu den Intrigen des Wiener Hofs entwickeln will, hält das schwedische Heer einen Teil Prags, der Hauptstadt Böhmens, bereits besetzt; auch die strategisch wichtige Stadt Eger soll sich dem Reichsfeind „öffnen“ (Tod, V. 390ff.). Die böhmische Königskrone, von der Wallenstein inständig träumte, kann der Schwede ihm nach Belieben vorenthalten. Abermals hat die konkrete Sternenkonstellation ihn getäuscht; als sie ihm endlich den Zeitpunkt des Handelns verheißt, ist ihm das Gesetz des Handelns schon abhanden gekommen. Der narzisstische Träumer und Zögerer hat die Realität so lange verkannt und sich selber so lange in Illusionen gewiegt, bis aus dem Traum von der eigenen Macht der Alptraum von der Teilung der Macht mit dem Reichsfeind geworden ist.

7 Zu den Schwächen des Wallensteinschen Sternenglaubens vgl. die scharfsinnige Kritik bei Peter-André Alt (Anm. 2), S. 445ff. WALLENSTEIN 147

Monologische Wahrheitssuche

Erst jetzt, in dieser Zwangslage, stellt sich Wallenstein seiner Selbsttäuschung und versucht ihr auf den Grund zu gehen. Er tut dies bezeichnenderweise in der Redeform des Monologs. Monologe zeichnen etliche Helden Schillers aus – von den Brüdern Moor in den Räubern über Fiesco zu Maria Stuart, zur Jungfrau von Orleans und zu Wilhelm Tell zieht sich ein respektabler Bogen von Selbstbefragungen, in denen die Hauptfigur sich zur Rechenschaft zieht. Das pietistische Erbe Schillers meldet sich da zu Wort und verschafft der Gewissensstimme Gehör – der Wahrheit zu Ehren, die das Gespinst der Selbsttäuschung zerreißen soll. Es sind krisenhafte Grenzsituationen, wie sie im 20. Jahrhundert von der Existenzphilosophie eines Jaspers, eines Camus und eines Sartre offengelegt wurden. Das für sich selbst verantwortliche Individuum steht in der Freiheit der Entscheidung über Wahrheit oder Selbsttäuschung, über Moral oder Unmoral. Schillers Hauptfiguren zählen zur Avantgarde einer selbstkritischen, mit der Gewissensstimme ringenden Moderne. Wallenstein zögert denn auch nicht, seine „Versuchung“ zu bekennen: seinen „Traum“ von einer gesteigerten Machtfülle und seine „königliche Hoffnung“ auf eine Krone — weitausgreifende Wünsche, die er bedenkenlos dem freien Wort anvertraute; verführt von der Leidenschaft der Affekte und vom „Überfluß des Herzens“, öffnete er die Schleusen der Sprache und erging sich in rebellischen Gedankenspielen: „Kühn war das Wort, weil es die Tat nicht war.“ (Tod, V. 170) Wallenstein geht mit sich selbst als einem Macht-Träumer und Macht-Spieler offen ins Gericht, er gesteht die Gedankenspiele, die offensichtlich auf Landesverrat gemünzt waren, doch er beharrt auf der Unterscheidung zwischen Spiel und Ernst, zwischen „unverführtem Willen“ und ausgeführter Tat: „Beim großen Gott des Himmels! Es war nicht/ Mein Ernst, beschloßne Sache war es nie./ In dem Gedanken bloß gefiel ich mir“. (Tod, V. 146ff.) Diese feine Unterscheidung hält nicht ganz der Überprüfung stand. Lag da in Wahrheit nicht eine Grenzverwischung vor? Ist ein mit Dokumenten versorgter Unterhändler wie Sesin denn nicht mehr als nur ein Gedankenspiel, das da unverbindlich-folgenlos durch den politischen Raum dahintreibt? Ist er nicht die Fleischwerdung dieses Spiels, seine Überführung in die Realität? Wohl erkennt Wallenstein klarsichtig, dass Reden, die er „planlos“ und im Affekt führte, beispielsweise vor Sesin, nun vom Wiener Hof und dessen Anhängern „planvoll“ zu einem „künstlichen Gewebe“ verknüpft werden, zu einer Anklage, gegen die er „verstummen muß“ (Tod, V. 171ff.). Aber er verschließt sich der Einsicht, dass sein Spiel schon Züge des Ernsts hatte und sein Gedankenexperiment in die Realität übergriff.8 Offenbar benötigt er zu seiner Selbstverteidigung ein Zeugnis moralischer Integrität: „Der Unschuld,/ Des unverführten Willens mir bewußt“, beteuert

8 Treffend formuliert Safranski (Anm. 6): „Wallenstein hat mit dem Verrat gespielt, halb noch in seinem Herzen, halb schon in der Wirklichkeit.“ (S. 460). 148 GERT SAUTERMEISTER er, habe er Bedenkliches und Verräterisches geäußert: „Gab ich der Laune Raum, der Leidenschaft –“ (Tod, V. 167ff.). Wenn jedoch derartige Äußerungen einem Mittelsmann und Boten anvertraut werden, der zwischen Wallenstein, seinen Ratgebern und dem Reichsfeind hin und her pendelt, so werden die Grenzen zwischen „Wort“ und „Tat“, mündlichem Spiel und faktischem Tun, sprachlichem Probehandeln und realer Handlung durchlässig. Auch in seinem Monolog, der die Wahrheit über das eigene Selbst erkunden soll, streift Wallenstein den Schleier der Selbsttäuschung nicht vollkommen ab. Es fällt auf, dass Wallenstein in dieser Selbstbefragung nur einen Teil seines jüngsten Soldatenlebens in Betracht zieht, namentlich seine angebliche Verantwortung für den Reichsverrat, den man ihm zur Last legen wird. Er wirft darüber hinaus noch einen kritischen Blick auf die Mentalität seiner Zeitgenossen, die er als Parteigänger des „ewig Gestrigen“ und der „Gewohnheit“ geißelt, dem Herkommen verschworen, der herrschenden „Macht“, der „sicher thronenden“, gedankenlos treu, abgeneigt jeder Neuerung und Neuordnung der bestehenden Verhältnisse, die er, Wallenstein, offenbar anstrebt (Tod, V. 192ff.). Was er unter seinem Angriff auf die überkommene „Macht“ versteht, bleibt ungesagt. Eine neue Friedensordnung zugunsten des Reichs und zu seinen eigenen Gunsten? Ebenso wenig bringt er seinen Sternenglauben mit seinen vielfältigen Implikationen zur Sprache. Die Widerspruchsfülle seiner politischen Interessen und seiner Persönlichkeit insgesamt bleibt verborgen. Sie ist zu komplex, als dass sie sich in einem einzigen, monologischen Bewusstseinsakt erfassen ließe. Statt dessen kreist Wallensteins Selbstdurchleuchtung, die Schiller mit einem glänzenden rhetorischen Aufwand an Metaphern, Antithesen und variantenreichen Wiederholungen ausgestattet hat, zentral um die Frage, ob er den Reichsverrat verbindlich geplant hat und ihn nun auch, notgedrungen, begehen müsse, um ein Gegengewicht gegen die ihm drohende Absetzung zu schaffen. Den schwedischen Oberst Gustav Wrangel erwartend, der mit ihm ein definitives Bündnis erörtern will, formuliert Wallenstein, „den Blick nachdenkend auf die Türe geheftet“, die entscheidungsschweren Sätze:

Noch ist sie rein – noch! Das Verbrechen kam Nicht über diese Schwelle noch – So schmal ist Die Grenze, die zwei Lebenspfade scheidet! (Tod, V 220ff.)

Die Wahrheit auf dem Prüfstand. Politik contra Moral

Wenn Wallenstein am Ende seines Monologs sich vor den Widerstreit zweier „Lebenspfade“ gestellt sieht, so rücken damit auch die Wahrheit und die Moral seiner künftigen Existenz in sein Blickfeld. Kann er, der sich wiederholt als Maskenspieler inszeniert hat, aber auch der Selbsttäuschung erlegen ist, zu einer Wahrheit finden, die den Ansprüchen humanitärer Moral genügt? Oder muss er sich dem Gebot einer amoralischen Politik beugen und WALLENSTEIN 149 ein „Verbrechen“ auf sich laden? Und ist dieses Verbrechen nicht mit einer eigentümlichen, auf Wallenstein persönlich zugeschnittenen ‚Wahrheit’ verschränkt, gleichsam seinem Lebensgesetz? Schillers dramatischer Vorgang besitzt eine hohe moralische und existentielle Spannung. Das „Verbrechen“, das vor Wallensteins Augen heraufzieht, wäre ein Krieg, den er gemeinsam mit den Schweden und mit Teilen des kaiserlichen Heers – den ihm ergebenen Teilen – gegen den Kaiser und damit gegen das Reich führen müsste. Es wäre ein Bürgerkrieg, den er im Reichsheer selbst entfesseln würde. Davor schreckt er zurück. Es wäre Hochverrat. Es wäre das militärische „Verbrechen“ schlechthin, die radikale Verwerfung des moralischen Gesetzes. Im Namen der Moral hält Wallenstein Gericht über die bevorstehende Untat, stellt er sich selbst elementar in Frage, malt er sich den Fluch aus, den er sich damit einhandeln, die allgemeine Ächtung, die er auf sich ziehen würde:

Wie wars mit jenem königlichen Bourbon, Der seines Volkes Feinde sich verkaufte, Und Wunden schlug dem eignen Vaterland? Fluch war sein Lohn, der Menschen Abscheu rächte Die unnatürlich frevelhafte Tat. (Tod, V. 419ff.)

Schiller hat die Selbstdarstellung der Moral als Stimme des Gewissens wiederholt erprobt, sie zieht sich leitmotivisch durch sein Werk. Wallenstein wird nachgerade zum Organ der Moral, wenn er seine ihn bedrängenden, ihn zum Verrat drängenden Freunde in Schach hält, wenn er ihnen eine Lektion erteilt im Namen der Treue: der Treue, die für die Integrität zwischenmenschlicher Beziehungen bürgt, der Loyalität, ohne die keine Gemeinschaft gedeihen kann:

Die Treue, sag ich euch, Ist jedem Menschen wie der nächste Blutsfreund, [...] denn ganz Kann ihn die eigne Klugheit nicht beschirmen. Nur an die Stirne setzt’ ihm die Natur Das Licht der Augen, fromme Treue soll Den bloßgegebnen Rücken ihm beschützen. (Tod, V. 424ff.)

Wallenstein formuliert eine Grundregel jeder Zivilisation, eine moralische, überzeitliche Wahrheit: eine menschliche Gemeinschaft kann sich vielleicht nicht schützen gegen die Angriffe eines äußeren Feinds, wohl aber muss sie sich schützen gegen Überfälle, Totschlag und Mord in ihren eigenen Reihen. Sonst ist zivilisiertes Leben nicht möglich. Die Sicherheit jeder persönlichen Existenz und des Alltagslebens wäre unter der permanenten Gefahr heimtückischer Anschläge aufgehoben. Einen derartigen Anschlag, geführt gegen sein eigenes Heer, gegen Kaiser und Reich, fürchtet Wallenstein zu begehen. Daher eröffnet er, im Namen der moralischen Wahrheit, den Kampf gegen sich selbst und das drohende militärische Unternehmen. Er sucht nach 150 GERT SAUTERMEISTER

Alternativen, verzweifelt, will die Freveltat und die mit ihr gesetzte Schuld vermeiden, unter allen Umständen:

Wenn eine Wahl noch wäre – noch ein milderer Ausweg sich fände – jetzt noch will ich ihn Erwählen, und das Äußerste vermeiden. (Tod, V. 482 ff.)

Wallenstein zögert – doch diesmal ist es kein berechnetes, unter dem Einfluss der Sterne stehendes Zögern, sondern ein von Moral und politischer Norm bestimmtes. In dieser Situation gewinnt er eine menschliche Größe wie nie zuvor. Paradigmatisch lebt er vor, was jeder Politiker von Rang und von Verantwortungsbewusstsein nachvollziehen müsste: die Überprüfung schwerwiegender Entscheidungen unter dem Gesichtswinkel des moralischen Gesetzes. Dieses Gesetz existiert, es hat die Zeit der deutschen Klassik überdauert und ist in aktueller Gestalt niedergelegt in ethischen Instanzen wie den Menschenrechten und dem Völkerrecht, mögen auch einzelne Großmächte bzw. deren Machtpolitiker solche Instanzen geringschätzen.

Die Attraktivität der Halbwahrheit

Es macht die Tragik Wallensteins aus, dass er die von ihm selbst formulierte normative Wahrheit nicht respektieren kann. Auf der Suche nach Alternativen zum Reichsverrat trifft er auf die Gräfin Terzky – und diese Frau präsentiert ihm den einzig möglichen Ausweg: den Rückzug in den Ruhestand als harmloser Schlossherr und ruhmloser Mäßiggänger. Sie präsentiert ihn mit so spitzer Ironie, dass Wallenstein sich mit einem Schlag bewusst wird: ein Privatleben, das abseits der politischen Öffentlichkeit verläuft und allem politischen Handeln fern steht, würde den Kern seiner Identität angreifen. Und Wallenstein besitzt, unbeschadet seiner Vielheit an wechselnden Ich-Gestalten, einen Identitätskern. Er fasst ihn in einen einzigen Satz: „Wenn ich nicht wirke mehr, bin ich vernichtet“ (Tod, V. 528). Dem moralischen Gesetz stellt er das Gesetz seiner Existenz gegenüber, jenes „Gesetz“, wonach er „angetreten“, um mit Goethe zu sprechen9, und dieses Gesetz lautet: Wirken im Sinne von wirkungsvoll handeln gemäß dem ihm eingeborenen Genius. Kann, muss einer seinen Genius verleugnen, sein Lebensgesetz auslöschen um der moralischen Wahrheit willen? Wallenstein jedenfalls vermag gerade das nicht:

Nicht Opfer, nicht Gefahren will ich scheun, Den letzten Schritt, den äußersten, zu meiden; Doch eh ich sinke in die Nichtigkeit,

9 In den „Urworten. Orphisch“ heißt es: „Bist alsobald und fort und fort gediehen/ Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.“ (GOETHE, Gedichte, herausgegeben und kommentiert von Erich TRUNZ [Sonderausgabe von Bd. 1 der „Hamburger Ausgabe“], München, C. H. Beck, 1974, S. 359). WALLENSTEIN 151

So klein aufhöre, der so groß begonnen, […] Eh spreche Welt und Nachwelt meinen Namen […] Mit Abscheu aus […].(Tod, V. 528ff.)

Wallenstein ist nach innerem Kampf entschlossen, die Erfüllung seines individuellen Gesetzes um jeden Preis zu erreichen. Schiller zeigt an seinem Protagonisten kritisch die Gefahr auf, die in der Individualitätsidee verborgen ist: die Selbstüberhebung ohne Rücksicht auf die „Wohlfahrt aller“, auf „des Ganzen Heil“, wie es Wallenstein einmal vorschwebte.10 Die moralischen Skrupel, die ihn an diesem Wendepunkt seines Lebens heimsuchen, zerstreut die Gräfin Terzky. Diese Dame besitzt eine bemerkenswerte Intelligenz und verfügt über die Kunst einer unwiderstehlichen Rhetorik. Gescheiter und wortgewandter als die Männer in Wallensteins Umfeld gehört sie in die Reihe jener weiblichen Gestalten Schillers, welche die traditionelle Frauenrolle in seiner Zeit sprengen. Die Gräfin verweist Wallenstein zunächst auf das Naturgesetz der Notwehr, die jedem bedrängten und bedrohten Subjekt zustehe, sie erinnert ihn dann an die ihm vom Kaiser zugefügte „Kränkung“ in Regensburg (Tod, V. 554), ruft ihm ins Gedächtnis, dass nicht etwa das Vertrauen, sondern allein die „herbe Not“ des Kaisers ihm sein gegenwärtiges „Amt“ verschafft habe (Tod, V. 570) und dass er dem Kaiser menschlich zu nichts verpflichtet sei; sie überzeugt ihn schließlich davon, dass er immer schon als Feldherr „der Stärke fürchterliches Recht“ ausgeübt habe (Tod, V. 607), vor allem auch in Kaisers Diensten, und sie triumphiert mit der glänzend formulierten Pointe:

[…] Was damals Gerecht war, weil dus für ihn tatst, ists heute Auf einmal schändlich, weil es gegen ihn Gerichtet wird? (Tod, V. 614ff.)

Geflissentlich verwischt die Gräfin den Unterschied zwischen „damals“ und „heute“: Damals hat Wallenstein zwar wie eine Kriegsfurie, aber im Namen des Kaisers, das Land durchzogen, heute soll er als Hochverräter gegen Kaiser und Reich zu Felde ziehen. Indem die Gräfin diese Differenz einebnet und das moralische Gesetz zum Schweigen bringt, kann sie noch eine Trumpfkarte ziehen. Sie redet dem Feldherrn die Kontinuität seines „Charakters“ seit damals bis heute ein und verpflichtet ihn darauf:

Denn Recht hat jeder eigene Charakter, Der übereinstimmt mit sich selbst, es gibt Kein andres Unrecht, als den Widerspruch. (Tod, V. 600ff.)

10 In seinem bedeutenden Schiller-Buch verkennt Müller-Seidel (Anm. 4) diese Entwick- lungsphase Wallensteins, wenn er seine Friedensidee als sein zentrales politisches Projekt bezeichnet; mit dem Entschluss zum Reichsverrat setzt Wallenstein an dieser Stelle nachgerade einen Bürgerkrieg in Gang. 152 GERT SAUTERMEISTER

Die Idee des mit sich selbst übereinstimmenden Charakters ist für sich betrachtet durchaus plausibel. Sie wird im Kontext der dramatischen Situation jedoch zu einer destruktiven Halbwahrheit. Die Gräfin vereinfacht damit das widerspruchsvolle Ich Wallensteins radikal – sie stellt sein Lebensgesetz, die politische Tatkraft, wieder her, befreit ihn jedoch von moralischen Skrupeln und vom Ethos einer überpersönlichen politischen Zielsetzung. Doch gerade diese Halbwahrheit besitzt eine hohe Suggestionskraft. Eine von Skrupeln freie Identität, wie die Gräfin sie fingiert, ist ein verführerisches Wunschbild für jemanden, der eben noch mit den Ansprüchen politischer „Treue“ und den Anfechtungen der Moral zu ringen hatte, ja, von der Moral gleichsam mit sich selbst entzweit wurde. An ihre Stelle und an die Stelle der Selbstentzweiung zaubert die Gräfin dem Zögernden und Zweifelnden die amoralische Übereinstimmung mit sich selbst vor Augen und gewinnt ihn für das Bündnis mit dem Reichsfeind. So macht denn Wallenstein unter dem Zwang seines individuellen Lebensgesetzes und der geschichtlichen Verhältnisse erneut eine Wandlung durch: die vom komplexen und widerspruchsvollen Ich zum einschichtigen Charakter, der sowohl die moralische Wahrheit wie sein übergeordnetes politisches Ethos preisgibt. Solche zugleich psychologisch und geschichtlich motivierten Veränderungen einer Person gehören zu den modernen Zügen der Figurengestaltung Schillers. Man kann als Leser der Gräfin wohl kaum einen leisen ästhetischen Applaus versagen. Obgleich sie bar jeder Moral argumentiert, ja, der Unmoral die Zunge leiht, macht sie das mit Geist und mit psychologischem Scharfsinn. Gegen die Widerspruchsfülle Wallensteins spielt sie mit glanzvoller Überredungskunst die Halbwahrheit eines vereinfachten, mit sich identischen Selbst aus. Das individuelle Lebensgesetz, dem Wallenstein folgt, und die Wahrheit der Moral bzw. einer überpersönlichen Idee, der er folgen sollte, weisen unversöhnlich auseinander. Die Antinomie, in die Schiller seinen Helden verstrickt, ist wahrhaft desperat. Im Zuge seiner Selbsttäuschung hat Wallenstein, wie er in seinem Monolog klarsichtig erkannte, „mit eignem Netz verderblich mich umstrickt“ (Tod, V. 178), doch ebendiese Verstrickung hat bereits Octavio besorgt. Ihm, dem langjährigen „Waffenbruder“ (Picc., V. 357), hatte er bedingungslos vertraut, während Octavio den arglosen Freund gleichzeitig zu Fall brachte. Verstellung, Missdeutung, Halbwahrheiten, Denunziation – alle Halbschwestern der Lüge hat Octavio im Dienst des Kaisers virtuos eingesetzt.11 Zu spät durchschaut Wallenstein den kaltblütigen Gegenspieler:

Am Sternenhimmel suchten meine Augen, Im weiten Weltenraum den Feind, den ich Im Herzen meines Herzens eingeschlossen. (Tod, V. 2105ff.)

Wallenstein formuliert damit explizit seine astrologische Selbsttäuschung, die Octavios Verrat erst ermöglichte. In ihm zeichnet Schiller den

11 Zur Gestalt Octavios vgl. meine Ausführungen im Aufsatz von 2006 (Anm. 1). WALLENSTEIN 153 skrupellosen Politiker par excellence, der frei von menschlichen und moralischen Bedenken, weitsichtig und einfallsreich agiert. Eben damit stürzt er seinen Sohn Max in Verzweiflung, wird er mitschuldig an seinem Tod, gemeinsam mit Wallenstein, dem zweiten „Vater“ des jungen Offiziers.

Reduzierte Identität und die Wahrheit zum Tode. Wallenstein und Max Piccolomini

Im Namen der Wahrheit stellt Max Piccolomini den Feldherrn, sein väterliches Vorbild, zur Rede. Unter Berufung auf ethische Normen versucht er Wallenstein vom Hochverrat im letzten Augenblick fernzuhalten. Der junge General kommt Wallenstein großzügig, erstaunlich großzügig entgegen, würde er doch eine „offene Empörung“ seines Feldherrn gegen den Kaiser noch tolerieren (Tod, V. 770ff.). Der Reichsverrat jedoch, das Bündnis mit dem Reichsfeind, den Schweden, ist für ihn das schlechthin Unverzeihliche, der Affront gegen das moralische Gesetz, beispiellos, unter der Würde jeden Politikers. Wallenstein hält der Moral seines jugendlichen Anklägers nüchtern die unvermeidliche Unmoral des Realpolitikers entgegen. Ihr will er zuletzt auch den jungen Freund zynisch unterwerfen:

[…] Gehörst Du dir? Bist du dein eigener Gebieter, Stehst frei da in der Welt wie ich, daß du Der Täter deiner Taten könntest sein? Auf mich bist du gepflanzt, ich bin dein Kaiser, Mir angehören, mir gehorchen, das Ist deine Ehre, dein Naturgesetz. (Tod, V. 2179)

Es ist die Rhetorik des moralfreien Machtpolitikers, die Wallenstein anstimmt. Die neue, vereinfachte und verkürzte Identität, die er sich angeeignet hat, verführt ihn dazu, einer anderen Person die eigene Identität streitig zu machen und sie zum Exekutivorgan seiner Untat zu bestimmen. Die Existenz des jungen Piccolomini würde damit der Unwahrheit preisgegeben – der vollständigen Selbstentfremdung. Wallensteins täuschende Rede zielt auf den Missbrauch einer langjährigen Freundschaft für eine politische Katastrophe. Der junge Piccolomini widersteht jedoch der monströsen Egozentrik des Freundes und zweiten Vaters. Die „Stimme der Wahrheit“ (Tod, V. 2295f.) gebietet ihm die Trennung vom Reichsverräter Wallenstein. So wird er „mündig“, wie er von sich selber sagt (Tod, V. 711). Er wird es unter Schmerzen, weil er dem Widerstand leisten muß, der bis jetzt „wie der feste Stern des Pols“ ihm „als die Lebensregel vorgeschienen“ (Tod, V. 734f.). Piccolomini muss sich von einem wesentlichen Teil seiner Ich- Identität emanzipieren, jenem, der sich um die Person Wallensteins kristallisiert hat. Schiller durchdringt die Emanzipation des jungen Offiziers mit scharfsichtiger Psychologie. Zwar „befreit“ sich die Seele Piccolominis 154 GERT SAUTERMEISTER von ihrer Vatergestalt und ihrem Lebenszentrum, dennoch sind seine „Sinne“ noch in den „Banden“ Wallensteins, dessen „Angesicht“ ihm bis zur Stunde „eines Gottes Antlitz“ war (Tod, V. 739ff.). Dass die sinnliche Ausstrahlung eines lange geliebten Menschen die mentale und psychische Entscheidung gegen ihn überdauern kann, zeigt die Abgründigkeit der Vater-Ablösung Piccolominis an. Die Sinne können ihre eigene Sprache reden – im Widerstreit mit der Erkenntnis der Wahrheit. Schiller greift noch einmal die Vater-Sohn-Problematik seiner Jugenddramen von den Räubern über Kabale und Liebe bis zu Don Carlos auf. Greift sie auf und verankert sie noch einmal im Konfliktfeld von Politik und Moral. Verankert und verdoppelt sie zugleich, indem er der Vatergestalt Wallensteins die noch problematischere des Octavio zugesellt. Mit dem Pathos einer unverbrüchlichen Moral und seiner aussichtslosen Liebe zu Wallensteins Tochter Thekla klagt Max „der Väter Doppelschuld und Freveltat“ an, die „uns gräßlich wie ein Schlangenpaar umwinden“ (Tod, V. 2138f.). Er sieht keinen Ausweg aus dieser Umklammerung, weder einen als politisch Handelnder, noch einen als Liebender. Bestürzt über Octavio, seinen leiblichen Vater, der an Wallenstein, dem Vater seines Herzens, zum Verräter geworden ist, verzweifelt über den Reichsverräter Wallenstein, gegen den er gleichwohl nicht zu Felde ziehen möchte, sucht er den Tod in der Schlacht. Aber vor lauter Treue zum eigenen moralischen Selbst missbraucht auch er seine Macht, und setzt in obsessiver Ichbezogenheit sein ganzes Heer dem Untergang aus. In seiner bedingungslosen Negation der väterlichen Welt muss er dieser gleichwohl seinen Tribut entrichten. Schillers dialektische Gestaltung verklammert subtil die drei Hautfiguren miteinander. Die Väter jedoch verrechnen sich gründlich. Mit der Nachricht von seiner Erhebung in den Fürstenstand erhält Octavio zugleich die vom Tod seines Sohns. Der Fürst Piccolomini, der keinen Erben mehr besitzt, hat seine neue Würde teuer erkauft. Und Wallenstein? Seine Todesklage gehört zu den ergreifendsten in der deutschen Literatur. Der Real- und Machtpolitiker erkennt durch den Untergang seines jugendlichen Weggefährten die Armut seines neuen, flacheren Selbst: erkennt, was er in Max Piccolomini verloren hat, verloren auf immer: das Ideal, die Poesie, das Feuer des Empfindens und Liebens, die eigenen Jugendträume, die Sehnsucht, die hinausweist über die nüchterne Pragmatik des Kampfes, des Erfolgs, des Alltags. Mit dem Tod Piccolominis hat Wallenstein all das eingebüßt, was das Leben lebenswert macht. Indem er über diesen Verlust so beredt Klage führt, rührt er noch einmal an die menschliche Größe, die er im politischen Handeln verdrängen musste:

Verschmerzen werd ich diesen Schlag, das weiß ich, Denn was verschmerzte nicht der Mensch! Vom Höchsten Wie vom Gemeinsten lernt er sich entwöhnen, Denn ihn besiegen die gewaltgen Stunden. Doch fühl ichs wohl, was ich in ihm verlor. Die Blume ist hinweg aus meinem Leben, WALLENSTEIN 155

Und kalt und farblos seh ichs vor mir liegen. Denn er stand neben mir, wie meine Jugend, Er machte mir das Wirkliche zum Traum, Um die gemeine Deutlichkeit der Dinge Den goldnen Duft der Morgenröte webend – Im Feuer seines liebenden Gefühls Erhoben sich, mir selber zum Erstaunen, Des Lebens flach alltägliche Gestalten. - Was ich mir ferner auch erstreben mag, Das Schöne ist doch weg, das kommt nicht wieder, Denn über alles Glück geht doch der Freund, Ders fühlend erst erschafft, ders teilend mehrt. (Tod, V. 3438ff.)

Es ist kein Zufall, wenn diesem Bekenntnis eine Verwechslung vorausgeht, die das sinnvolle Ineinanderspiel zweier Fixsterne im Leben Wallensteins bedeutet. In die Betrachtung des Nachthimmels versunken, hielt er vergeblich nach Jupiter Ausschau –

Es ist der Stern, der meinem Leben strahlt, Und wunderbar oft stärkte mich sein Anblick. (Tod, V. 3417)

– worauf er, „in eine tiefe Zerstreuung“ fallend, unbewusst Jupiter mit der Gestalt des toten Piccolomini assoziierte. Die in dieser Gestalt verkörperte Poesie und Idealität, Ideenwelt und seelische Intensität sind Teil der Sehnsuchtsbilder, die Wallenstein in seinem Idealstern symbolisiert sah.12 Der zuletzt im Banne Saturns, des ernüchternden Realitätsprinzips, agierende Feldherr bleibt trauernd auf das Traumbild bezogen, das er im „Notzwang der Begebenheiten“ (Picc., V. 1367) verraten musste. Wallensteins Trauer angesichts des Untergangs des „Schönen“ berührt sich mit der Klage Theklas über den Tod des Geliebten: „– Das ist das Los des Schönen auf der Erde.“ (Tod, V. 3180) – Das Schöne als Person hat in der vom Krieg heimgesuchten Geschichte kein Existenzrecht. Aber es überlebt den Tod der Person als Idee. Die von Max Piccolomini anfangs entworfene Friedensvision enthält das Attribut „schön“ als Hinweis auf jene Utopie, die es – alternativ zur Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs und aller nachfolgenden Kriege – herzustellen gilt: „O schöner Tag, wenn endlich der Soldat/ Ins Leben einkehrt, in die Menschlichkeit“ (Picc., V. 534f.). Die Wahrheit dieser Utopie ist dem Wallenstein-Drama als Geheimschrift eingezeichnet – in stummer Opposition zur vielzitierten Rede von der nihilistischen und „fatalistischen Stimmung“, die Hegel zur eigentlichen Botschaft dieser Tragödie erklärte.13

12 Vgl. dazu Verf.: Idyllik und Dramatik im Werk Friedrich Schillers. Zum geschichtlichen Ort seiner klassischen Dramen, Stuttgart, W. Kohlhammer, 1971 (3. Kap.). 13 Zit. nach ALT, Schiller, S. 461. Mit Recht weist dagegen Müller-Seidel (Anm. 4) auf den „‚Trost‘ des Erkennens“ am Ende der Tragödie hin (S. 143).

La Chauve-souris de Johann Strauss : une valse de mensonges

Yasmin HOFFMANN Université de Montpellier 3

Je désire être ramené vers les dioramas dont la magie brutale et énorme sait m’imposer une utile illusion. […] Ces choses, parce qu’elles sont fausses, sont infiniment plus près du vrai ; tandis que la plupart de nos paysagistes sont des menteurs, justement parce qu’ils ont négligé de mentir. Charles Baudelaire, Salon de 1859

Pour parler d’une opérette dans le cadre d’une réflexion sur le mensonge, mieux vaut situer le débat d’emblée en dehors d’une catégorie morale, d’un binôme vrai-faux, et focaliser l’interrogation sur une convention théâtrale. En effet, le vaudeville, la comédie, le genre dit léger, ne vit que de mensonges en cascade qui, au sens propre, constituent le moteur de l’action. En l’absence de déguisements, de ruse avec le réel, de travestissement de la vérité, d’un jeu avec les apparences, il n’y aurait pas d’intrigue, pas de quoi rire, et pas de malin plaisir chez le spectateur. La Chauve-souris, comme tout vaudeville, n’y fait pas exception : elle a pour unique ressort dramatique un jeu de dupes dans lequel chaque manipulateur est manipulé par un autre. C’est un jeu de la mauvaise foi individuelle et collective dans lequel personne n’a intérêt à dire la vérité, car dire la vérité reviendrait à dévoiler la vérité de son statut social, une pulsion que la morale réprime. En même temps, c’est aussi un véritable jeu de société dans lequel toutes les mystifications peuvent s’épanouir parce que seul le dérèglement semble avoir force de loi. Mentir signifie dans La Chauve-souris affirmer sa place dans un ordre construit sur le refoulement, l’oubli, l’illusion. Mentir, c’est le refus de savoir, de se plier au principe de réalité, c’est à la fois une négation du réel et un accélérateur de l’action. 158 YASMIN HOFFMANN

« La plus viennoise des opérettes »

Mais avant de s’interroger sur cette censure à l’œuvre, sur l’inavouable occupé par le mensonge par lequel le réel est éliminé, il nous faut revenir sur le contexte de la création de La Chauve-souris1 le 5 avril 1874 au , afin de rétablir quelques vérités occultées par l’étiquette « la plus viennoise des opérettes ». Si l’on se penche sur la genèse de l’œuvre, qu’il s’agisse du livret ou de la composition, l’on s’aperçoit très vite que cette appellation s’apparente à une tromperie sur la marchandise, et dans une certaine mesure à une usurpation d’identité (attribuant à Johann Strauss seul toutes les qualités de l’œuvre) ; mais l’étiquette est difficile à corriger, tant elle sert de label de qualité. Elle trouve son point d’orgue dans l’affirmation selon laquelle Vienne aurait autant contribué à la composition de La Chauve- souris qu’à la Flûte enchantée de Mozart ou à la Pastorale de Beethoven2. Or il suffit de retracer le parcours de sa création pour s’apercevoir qu’elle est avant tout le produit d’un transfert culturel compliqué entre l’Allemagne, la France et l’Autriche.

La toute première version de l’intrigue est due à Roderich Bendix, auteur allemand originaire de Leipzig, qui en 1851 créa à Berlin une comédie intitulée : Das Gefängnis (La Prison). Bien que la pièce soit entrée au répertoire du Burgtheater la même année, où elle fut donnée régulièrement, c’est son adaptation française, réalisée par les deux librettistes de , et Ludovic Halévy sous le titre Le Réveillon, qui servit de base à l’élaboration du livret de La Chauve-souris3. , le directeur du Theater an der Wien, à la recherche d’une pièce capable d’attirer autant de spectateurs que le vaudeville à Paris, avait chargé son dramaturge-auteur-traducteur maison, , de réaliser une version allemande du Réveillon, qui était déjà une traduction de l’allemand. Ironie de l’histoire, alors que le but recherché était explicitement le modèle français, le texte de Haffner est jugé trop français. Trop d’allusions à la vie sociale française, comme la nuit du réveillon précisément, le rendent inexploitable pour un public viennois, selon le directeur du Theater an der Wien. Steiner propose alors « la traduction » à son rival Franz Jauner,

1 Pour les citations : Johann STRAUSS II, Die Fledermaus, livret accompagnant l’enregistrement de 1955 sous la direction de , version re-masterisée par EMI Classics, 1999. Livret en allemand, anglais et français contenant également les parties parlées souvent supprimées dans les éditions françaises. 2 « Die Floskel, Wien habe an der Fledermaus ebenso mitkomponiert wie an Mozarts Zauberflöte, Beethovens Pastorale und Schuberts C-Dur-Symphonie, begegnet uns in den überlieferten Rezensionen mehrmals. » Cité dans Michael JAHN, « Die Fledermaus in Wien », Veröffentlichung der Wiener Staatsoper, Programmheft 1979, texte repris dans l’édition de 2011, p. 67. 3 Pour la genèse de l’œuvre, cf. Robert BRAUNMÜLLER, « Genée und Genie. Die beiden Komponisten der Fledermaus », in Strauss, « Die Fledermaus », München, Veröffentlichung der Bayrischen Staatsoper, 1997, p. 30. LA CHAUVE-SOURIS DE JOHANN STRAUSS : UNE VALSE DE MENSONGES 159 directeur du qui fait la part belle au répertoire français dans son programme. Mais Jauner refuse, lui aussi, le texte. La traduction est sur le point de disparaître dans un placard quand Gustav Lewy, éditeur et agent de théâtre, et surtout camarade de classe de Johann Strauss, parvient à convaincre Steiner de transformer le vaudeville en un livret pour Strauss4. La version trop “française” est alors confiée à Richard Genée, librettiste, traducteur, compositeur et chef d’orchestre au Theater an der Wien, qui avait fait ses armes à Cologne, Düsseldorf, Amsterdam et Prague avant d’arriver à Vienne à l’âge de 45 ans, et qui surtout avait bien plus d’expérience dans le domaine de l’opérette que le « roi de la valse » qui, en 1873, n’avait que deux œuvres à son actif : Indigo et les 40 brigands et Le Carnaval à Rome5. Grâce aux travaux du musicologue Fritz Racek, il est aujourd’hui établi que seule l’ouverture et la czardas ont été composées par Johann Strauss seul. Tout le reste relève d’une méthode, d’un système hérités du père de la dynastie – l’on serait tenté de dire de “l’usine-Strauss” –, qui n’écrivait pour ainsi dire jamais de partitions et notait à peine ses esquisses. La plupart de ses compositions ont été directement écrites avec les musiciens de son orchestre. « Strauss fournissait surtout les mélodies et la majeure partie de l’instrumentation6 ». Il connaissait le talent de Genée et savait qu’il avait du métier, aussi abandonnait-il volontiers le travail “manuel” de la composition à son collaborateur. Ce va-et-vient de propositions, corrections et ajouts entre les deux hommes pourrait passer pour une coopération exemplaire, si elle n’était ternie par une omission. Genée avait touché 300 Gulden pour le livret et seule la peur du scandale avait poussé Strauss à lui verser des droits d’auteur à partir de 18927 – versements qui d’ailleurs cessèrent avec sa mort. Dès lors, la première des vérités à rétablir pour la plus « viennoise » des opérettes consiste à souligner qu’elle est avant tout l’aboutissement d’une série d’acculturations : une comédie allemande se transforme en un vaudeville français, qui est ré-encodé dans une culture musicale et théâtrale autrichienne. Comme toutes les opérettes dites « de l’âge d’or », La Chauve- Souris « prend son autonomie musicale par la valse » et tire son intrigue « du boulevard parisien8 ». À Vienne, on admire « la veine anarchique » d’un Jacques Offenbach, « l’impertinence » et « la frivolité de la capitale culturelle concurrente9 », mais les directeurs de théâtres viennois envient surtout le succès financier que représentent les pièces qu’Offenbach fait jouer

4 Franz MAILER, « Vom Vaudeville zur Fledermaus », in Strauss, « Die Fledermaus », Wien, Veröffentlichung der Wiener Staatsoper, 2011, p. 21. 5 Indigo und die vierzig Räuber, Theater an der Wien, 1871 ; Carneval in Rom, Theater an der Wien, 1873. 6 BRAUNMÜLLER, « Genée und Genie », p. 31. 7 Ibid., p. 38. 8 Cf. l’excellente introduction de Louis OSTER et de Jean VERMEIL au Guide raisonné et déraisonnable de l’opérette et de la comédie musicale, Paris, Fayard, 2008. 9 Gottfried MARSCHALL, « Champagne, Dépolitisation, Gemütlichkeit. Présence et effacement des traces françaises dans l’opérette de Franz von Suppé et Johann Strauss », in « L’opérette viennoise », Études réunies par Jeanne BENAY, Austriaca, n° 46, 1998, p. 87. 160 YASMIN HOFFMANN simultanément dans la capitale autrichienne. C’est avant tout par souci de rentabilité économique que le modèle français s’impose et non par son audace, ou par sa liberté de ton. Le jeu madré avec un modèle obéit en premier lieu à une logique financière, car il faut au plus vite rentabiliser les sommes investies dans la rénovation ou la construction de nouvelles salles à Vienne. Dans le langage d’aujourd’hui, c’est une coproduction – qui ruse jusqu’au bout avec les droits d’auteur, car lorsque Strauss obtient un contrat de trois ans au Théâtre de la Renaissance à Paris en 1876, il engage de nouveaux adaptateurs (Alfred Delacour et Victor Wilder) qui réimplantent le texte en français sous le titre La Tzigane pour ne pas avoir à verser de droits aux créateurs français, Meilhac et Halévy.

Un modèle multiculturel

Si en revanche l’on entend par « la plus viennoise des opérettes » son ancrage dans des aires culturelles multiples, « un système culturel complexe » avec « une multiplicité de codes10 », l’on peut en effet voir dans La Chauve- souris un genre esthétique multiculturel dont l’exploitation sur scène est toutefois strictement cantonnée à la distraction et à l’amusement, comme le genre auquel cette culture est assimilée. L’on a souvent souligné que l’opérette viennoise, et La Chauve-souris en particulier, mettait en valeur la diversité musicale et ethnique de l’Empire austro-hongrois à travers l’intégration des danses hongroises ou bohémiennes et de la czardas, ainsi qu’à travers la mise en scène de personnages étrangers, des “marginaux” comme les tziganes. Ainsi Moritz Csáky estime-t-il qu’à travers cette valorisation l’opérette aura au moins réussi là où la monarchie danubienne a toujours échoué : à rapprocher la Hongrie de l’Autriche11. Cela n’est vrai que dans la mesure où l’on accepte l’idée que l’étranger est acceptable, appréciable sous la forme du cliché qu’il renvoie au spectateur. Lorsqu’on examine le rôle qui lui est dévolu, on s’aperçoit qu’il est davantage du côté de l’ornementation, du décor et du costume. La reconnaissance de l’altérité, l’appréciation et l’acceptation de l’étranger ne fonctionnent que dans la mesure où l’étranger apporte une plus-value, est synonyme de richesse, de promesse, d’exotisme mystérieux – dans la mesure où il sert les clichés et stéréotypes attachés à son pays. Si l’on examine de plus près dans quelles conditions, sous quels signes, les divers rapprochements s’opèrent dans La Chauve-souris, l’on peut cependant s’interroger sur la valeur réelle accordée à l’élément étranger. En effet, dans la « Ville de la musique ! », ce ne sont pas les apports extérieurs ou la nouveauté que l’on goûte de

10 Cf. Moritz CSÀKY, « Funktion und Ideologie der Wiener Operette », in BENAY, « L’opérette viennoise », p. 145. 11 Ibid., p. 144-145. LA CHAUVE-SOURIS DE JOHANN STRAUSS : UNE VALSE DE MENSONGES 161 préférence. « Dans cette ville », écrit Elfriede Jelinek cent ans plus tard, « seul ce qui jusqu’ici a su s’imposer s’imposera encore12 ». Par rapport aux opérettes d’Offenbach, il est indéniable que La Chauve- souris vise avant tout à flatter le goût et les attentes du public viennois de 1873 qui voulait voir ce qu’il connaissait le mieux : « la farce merveilleuse et […] la pièce locale, telles que Raimund et Nestroy les avaient cultivées13 ». Ce public était composé d’une grande bourgeoisie libérale, politiquement muselée et impuissante, mais influente sur la place financière et la scène culturelle où elle prenait sa revanche sur l’aristocratie dont elle était exclue. En investissant dans la pierre, en spéculant en bourse et en se faisant mécène des arts, le but ultime restait cependant d’intégrer la forteresse réputée imprenable de la Cour en obtenant un anoblissement. Pouvoir orner son nom d’une particule représentait la plus-value suprême. Que le personnage principal de La Chauve-souris s’appelle Gabriel von Eisenstein n’est pas un détail anodin à cet égard, car en l’absence de la particule il n’aurait jamais eu accès au bal du deuxième acte qui se déroule chez le prince Orlofsky. Que les autres personnages se présentent sous le masque d’un « chevalier » ou d’un « marquis » obéit à cette même logique. Un nombre considérable de fonctionnaires, d’officiers, de banquiers et d’industriels fut anobli entre 1848 et 1914, mais ces “parvenus” ne récoltaient que du mépris de la part de la vieille noblesse. Rien d’étonnant donc à ce que le seul personnage issu d’une noblesse russe, le prince Orlofsky, n’ait pas besoin de masque. Il est le mécène de la soirée qui, dans la tradition aristocratique, accueille chez lui « une farce » et qui, en attendant la représentation, distribue de l’argent à ses invités afin qu’ils s’amusent à sa table de jeu. Il n’a, lui, rien à cacher parce que son statut social le place au sommet de la hiérarchie des titres. Il peut exhiber son ennui/ mépris à visage découvert et il peut, sans mentir, jouer franc jeu :

Je voudrais tout d’abord que vous fassiez connaissance avec les traditions de mon pays ! Je convie volontiers des invités chez moi, et l’on y vit plutôt bien […]. Je ne m’y ennuie pas moins cependant, quoi que l’on fasse, quoi que l’on dise ; mais ce que je m’autorise comme maître de maison, je ne puis le souffrir de la part de mes invités ! Et si je vois quelqu’un chez moi s’ennuyer, je le saisis sans me gêner et je le fiche à la porte. Et demandez-moi, je vous prie – pourquoi j’agis ainsi ? C’est ainsi, chez moi, une habitude, chacun à son goût.14

12 Elfriede JELINEK, La Pianiste, trad. par M. Litaize et Y. Hoffmann, Nîmes, Éd. J. Chambon, 2004, p. 11. (« Wien, Stadt der Musik ! Nur was sich bisher bewährt hat, wird sich in dieser Stadt auch hinkünftig bewähren. », Reinbek, Rowohlt, 1983, p. 18). 13 MARSCHALL, « Champagne, Dépolitisation, Gemütlichkeit », p. 94. 14 « Ich muss Sie vor allen Dingen mit meinen nationalen Eigenheiten bekannt machen ! Ich lade gern mir Gäste ein, man lebt bei mir recht fein […]. Zwar langweil’ ich mich stets dabei, was man auch treibt und spricht ; indes, was mir als Wirt steht frei, duld’ ich bei Gästen nicht ! Und sehe ich, es ennuyiert sich jemand hier bei mir, so pack’ ich ihn ganz ungeniert, werf’ ihn 162 YASMIN HOFFMANN

« C’est bien là un moyen des plus russes ! […] Ce sont là de fait des coutumes nationales qu’il convient d’observer15 ! », conclut Eisenstein, qui n’accepte les rudes manières de l’étranger que parce qu’il allie titre de noblesse et largesses, parce qu’il met sans compter son argent au service du jeu et de l’ivresse. Jusque dans la célébration de la boisson, servie à profusion par le prince-despote, qui ne ménage pas sa peine pour se donner des allures d’un libertin féodal, est célébrée la hiérarchie :

Trinquez, trinquez […] au roi de tous les vins ! […] Sa majesté est consacrée, consacrée dans tout le pays ; et acclamé le roi Champagne deviendra le premier du nom ! Vive Champagne 1er.16

Il n’y a de valorisation de l’élément exogène que s’il répond à un idéal du moi qui correspond à l’idée que l’on se fait de la réalité. Et il n’y a que sous l’égide de l’alcool, dans un état d’ébriété avancée, que peut s’exprimer l’idée d’une fraternité : « aussi devenons tous une grande assemblée faite de sœurs et de frères ! [… ] Petit frère et petite sœur, c’est ce que tous nous voulons être17. » Même si l’on peut rattacher ces couplets à la tradition des chansons à boire, il s’agit néanmoins d’un des plus gros mensonges. Car frères et sœurs, ils ne le sont que de façon incestueuse dans leurs rapports sociaux, entre gens “de la haute”, qui jamais ne frayent avec le commun ; c’est dans des cercles fermés qu’ils se rêvent, qui le frère, qui la sœur d’un prince, qui la fille d’un père protecteur des arts. La fraternité qu’ils appellent de leurs vœux sous l’influence de la boisson n’a aucun lien avec une solidarité sociale : c’est un pur fantasme, foncièrement incompatible avec leur mode d’existence.

La transgression

Le seul terrain où les différentes couches sociales désirent entrer en contact, c’est celui de l’érotisme et de la sexualité. Et au vu des nombreux obstacles qui se présentent chaque fois que les conditions d’un passage à l’acte semblent réunies, l’on peut aussi s’interroger sur la réalité de ce désir, ou plutôt sur la possibilité de passer outre le code moral que cette société envisage sans cesse d’enfreindre. Comme par hasard, au moment décisif, le temps joue toujours contre les séducteurs. Soit qu’un personnage fasse irruption dans la pièce, soit qu’une intervention mécanique, sous la forme d’une grande horloge, sonne le glas de tout. Les tentatives d’adultère ne sont hinaus zur Tür. Und fragen Sie – ich bitte, warum ich das denn tu’ ? ‘s ist mal bei mir so Sitte, chacun à son goût ! » (II,3). 15 Gabriel von Eisenstein : « Das ist ein echt russisches Mittel ! [...] Das sind allerdings nationale Eigentümlichkeiten, die man beachten muss ! » (II, 3, 4). 16 « Die Majestät wird anerkannt, anerkannt rings im Land, jubelnd wird Champagner der Erste sie genannt. Es lebe Champagner der Erste ! » (II,14). 17 « Drum lasset uns alle ein großer Verein von Schwestern und Brüdern sein ! […] Brüderlein und Schwesterlein wollen alle wir sein. » (II, 14). LA CHAUVE-SOURIS DE JOHANN STRAUSS : UNE VALSE DE MENSONGES 163 pas encore aussi névrotiques que chez Labiche ou Feydeau, où la machinerie technique assume les fonctions d’un sur-moi en refusant de fonctionner, mais les signes perturbateurs sont déjà présents. Dans La Chauve-souris, c’est la domestication de l’adultère qui frappe, son intégration dans les affaires courantes en quelque sorte : il relève davantage d’un passe-temps que d’une transgression, d’un jeu avec l’interdit, à l’instar d’enfants qui jouent à se faire peur. La scène dans laquelle Rosalinde est surprise avec son amant en est un bel exemple. Alfred, qui n’a pas vu sa maîtresse depuis de longues années, à peine entré dans le salon, s’empare aussitôt de la robe de chambre et du bonnet de nuit du mari, posés sur un fauteuil, pour se mettre à son aise. Ainsi vêtu, il compte d’abord dîner avant de passer à autre chose. Lorsqu’arrive le directeur de la prison pour arrêter Gabriel von Eisenstein, Rosalinde n’a aucun mal à faire passer Alfred pour son mari :

Tel un pacha vous l’avez trouvé, en robe de chambre avec moi, et le bonnet bien sur la tête. Qu’en présence d’un tel tableau l’on puisse douter, ne serait-ce qu’un peu, vraiment, jamais je ne l’aurais cru. Mais voyez donc comme il bâille, et comme à se reposer le malheureux aspire. Avec moi si tard, en tête à tête, il est de fait près de s’endormir ; s’ennuyer à ce point – être si blasé –, mais ce ne peut être qu’un mari.18

L’accoutrement d’Alfred n’est pas un déguisement, ce n’est pas une ruse pour se sortir d’affaire : il était venu chanter sous les fenêtres « Ma colombe envolée, apaise mon désir19 », et à peine est-il admis au salon qu’il se rue sur les attributs d’un tue-l’amour, se propulse de son plein gré dans le rôle d’un mari, bonnet de nuit. Il en va de même pour tous les autres personnages : on les voit flirter avec l’idée d’une transgression, se déguiser en fonction sans la moindre imagination (il n’y a ici ni bohémienne, ni pirate, ni voyou, aucun imaginaire débridé ne se traduit dans leur travestissement), on les voit consommer friandises et alcool, mais l’adultère, lui, ne se consomme pas. Quant au grand coureur de jupon, Gabriel von Eisenstein, cela fait des années qu’il use d’un même stratagème mécanique pour séduire, une petite montre de poche qu’il balance tel un pendule devant les jeunes filles. Eisenstein et ses escapades, Rosalinde et Alfred sont bien des amants d’opérette, c’est-à- dire représentatifs d’une domestication de l’inquiétude, du danger et de la menace – et par là représentatifs d’un vide laissé par le déclin du genre tragique. Alfred, ténor belcantiste de son métier, n’est plus qu’une caricature de ce qui dans le grand opéra conduisait au meurtre et au suicide et qui s’intègre ici dans une thématique carnavalesque réduite à un jeu de costumes.

18 « Gleich einem Pascha fanden Sie ihn, mir im Schlafrock vis-à-vis, die Mütze auf dem Haupt. Dass man bei solchem Bilde noch ein wenig zweifeln könnte doch, das hätt’ ich nie geglaubt. Sehen Sie nur, wie er gähnt, wie er sich nach Ruhe sehnt. Mit mir so spät, im Tête-à- tête, schlief er beinah schon ein ; so ennuyiert – und so blasiert – kann nur allein ein Ehmann sein. » (II,17). 19 « Täubchen, das entflattert ist, stille mein Verlangen... » (I, 1). 164 YASMIN HOFFMANN

Carnaval signifie dans ce contexte, non pas un renversement des valeurs, mais un jeu costumé avec l’interdit, au service d’un comique de situation.

Les masques du désir

Dans la salle de bal du deuxième acte, tous les personnages sont venus sous une fausse identité, bal masqué oblige, et tous sont là, sans le savoir, parce qu’une main invisible les a conduits jusqu’à ce palais où ils ne sont rien d’autre que les pantins d’un scénario vengeur. Tous ont reçu un signe, par lettre ou de vive voix, qu’ils ont interprété comme un appel du désir puisque leur présence est souhaitée et toute la journée ils ont manigancé pour participer à ce vertige collectif. Chacun est venu en suivant l’appel de sa propre ambition, de sa pulsion. En arborant des masques qui les démasquent dans leur idée fixe de promotion sociale – Adèle, la bonne, se fait passer pour actrice et porte la robe de sa patronne, la patronne se fait passer pour une comtesse hongroise aux talents lyriques exceptionnels, le mari pour un marquis séducteur et ainsi de suite –, chacun est venu dans l’intention de satisfaire un désir. Désir de scène et besoin de mécène pour Adèle, désir de vengeance pour Rosalinde et Falke, désir de jeunesse et de chair fraîche pour Eisenstein. On peut certes voir en eux les victimes d’une machination, mais ils sont en premier lieu les victimes de leur propre illusion. La raison pour laquelle le maître du jeu, le docteur Falke, victime lui-même trois ans auparavant d’une mauvaise plaisanterie dont il veut se venger, n’a eu aucun mal à attirer tout le monde dans ce traquenard, c’est qu’il ne se fait, lui, aucune illusion sur leur besoin d’illusion. Ce collectif qui n’a qu’une seule devise : « Heureux celui qui oublie ce que l’on ne peut changer20 » n’a, contrairement à Falke, aucun traumatisme à effacer, il souhaite par l’oubli passer outre les conventions d’une vie en société. Que, par l’oubli, la pièce aborde en creux la thématique du temps, le spectateur finit par l’oublier à force de suivre les personnages dans leur course contre la montre pour arriver à temps au bal. Il ignore autant que les protagonistes, jusqu’au dénouement, que toute la pièce n’est en fait qu’une anamnèse pour venger et réactualiser une offense commise dans un passé oublié de tous, sauf d’un. Il ignore que le bal n’est qu’une expédition punitive, le montage d’un piège qui a demandé des années de préparation. « La vengeance d’une chauve-souris » est le titre que Falke a donné à son spectacle et qu’il fera exécuter par les participants. L’offense dont il a été victime est somme toute anodine. Lui, le notaire de la petite station thermale où se déroule l’action, l’homme du registre et de la mémoire écrite, s’était rendu à un bal masqué en compagnie de son ami, Gabriel von Eisenstein. Lui, en costume de chauve-souris, Eisenstein déguisé en papillon. Une fois de plus, ils avaient trop bu. Au petit matin, la chauve-souris n’avait souvenir de

20 « Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist. » ( I, 15). LA CHAUVE-SOURIS DE JOHANN STRAUSS : UNE VALSE DE MENSONGES 165 rien, mais s’était retrouvée abandonnée à l’orée d’un bois, obligée de traverser la ville dans son déguisement. Pour Eisenstein, c’était une façon de prolonger la plaisanterie de la nuit : il trouvait amusant de proposer à Falke, en état d’ivresse avancée, de le ramener chez lui, puis de le laisser quelque part en route. « Des gamins de la rue » s’étaient ri de lui en le voyant rentrer ainsi déguisé et, depuis, toute la ville ne l’appellait plus que « docteur chauve- souris ». Voilà pour l’offense. Le mal qui réclamait réparation, ce n’était pas l’abandon – qu’un ami puisse se moquer de lui à ce point –, mais la risée à laquelle il a été exposé. Lui, le rieur de la nuit, était devenu risible, ridicule en plein jour. Le docteur Falke a bien été la victime d’un rire assassin ; une partie de sa vie sociale est morte – de rire – et, pour tuer en lui tout désir de vengeance, il eût fallu en effet qu’il fût du côté des puissants auxquels il n’appartenait sûrement pas : comment des rires d’enfants auraient-ils pu atteindre la dignité d’un homme jouissant du respect de tous ? En un sens, il y a eu mort d’homme, un homme mort de honte ; mais ce n’est pas une tragédie, ce sera tout au plus l’objet d’une « petite plaisanterie dramatique » qui, au lieu de s’appeler : « la vengeance de la Chauve-souris », aurait pu s’appeler : à coquin, coquin et demi. À partir de cet affront, l’idée de la vengeance n’a plus quitté Falke qui pour savoir se venger, a su savoir rester en souffrance. Pendant trois ans, il l’a méditée, il a mis au point un stratagème qui consiste à instrumentaliser les faiblesses de ses contemporains selon un procédé assez simple : demandez à un tiers d’organiser un bal masqué auquel tout le monde voudra assister, faites-le sous le seau du secret en sorte que chaque personne croit être la seule à être invitée. Mettez le mari déguisé en marquis en face de sa femme de chambre déguisée en actrice, puis en face de sa femme déguisée en comtesse hongroise doublée d’une chanteuse, et ainsi de suite. Puis observez. C’est cela la vengeance de la chauve-souris. Une vengeance construite selon les règles de l’art dramatique, avec tous les éléments hérités du modèle tragique de la vengeance, mais intégrée dans un carnaval permanent. Comme tous les vengeurs, Falke est avant tout un grand metteur en scène. Il a su créer la scène, étudier des stratagèmes, et il a fait preuve de la qualité première du vengeur, la patience, car il faut du temps pour bercer la victime dans l’illusion de l’oubli ou de la confiance regagnée. Ne jouissant pas de l’instant, il a su remettre au lendemain, attendre dans l’ombre et multiplier les préambules. Durant trois années il a épié le comportement de ses victimes et, contrairement aux autres, il a su, lui, mettre le temps à son profit : c’est le seul personnage à avoir une conscience du temps sous son double aspect de Chronos et de Kairos. Comparé à ses grands frères et sœurs tragiques, le docteur Falke fait évidemment pâle figure. Si sa vengeance ne recourt ni aux armes, ni au poison, si elle ne fait couler aucun sang, elle n’en est cependant pas moins perfide, et fondée sur une parfaite connaissance des mœurs de ses contemporains. Si la notion carnavalesque au sens bakhtinien est impliquée par les scènes évoquées, elles ne la réalisent cependant pas. Tous les jeux de passe-passe, toutes les tentatives de fraude, jeux de rôles et jeux de masques sont somme 166 YASMIN HOFFMANN toute des affaires qui restent dans l’ordre des choses. Eisenstein, qui a bâti sa réputation sur un procédé mécanique de séduction (la petite montre à gousset pour appâter les jeunes rats de l’opéra lui vaut le sobriquet de « Rattenfänger »), n’ébranle en rien l’ordre bourgeois en séduisant sa femme déguisée en comtesse hongroise. Frank, le directeur de la prison, ne fait que perpétuer la longue tradition du seigneur féodal qui, « tel un ami et père » (III, 26) prendra en charge la soubrette Adèle pour lui « faire suivre des cours de théâtre », et gageons que Rosalinde vaincra « toute résistance » devant le prochain « contre-ut » (I, 5) sans pour autant mettre en danger son mariage. Le carnaval que nous présente La Chauve-souris est à prendre au sens d’un cadre qui permet de mettre en scène un fantasme de punition. Cette punition aura consisté à engendrer un désordre d’identité mais, vu l’appauvrissement imaginaire, ces “fausses” identités n’ont rien ébranlé. Rosalinde n’est pas venue en tzigane mystérieuse, elle est venue en comtesse hongroise, et ce n’est pas parce que l’œuvre se clôt sur la prison pour tous (mais seulement pour rire, rire du gardien Frosch, un numéro dont le public viennois raffole, aujourd’hui encore, puisqu’il est dévolu par tradition au meilleur comique du moment) qu’un seul des participants aura réellement tremblé un instant. Ils n’ont joué qu’à être un cran au-dessous de leur statut social. Ce bal masqué là n’est plus qu’une lointaine réminiscence de ce que fut la charge subversive du “vrai” carnaval. D’un point de vue dramatique, il est encore porteur de ses éléments menaçants, mais il ne fait sauter aucune soupape de sécurité, aucun verrou : ce n’est pas une boîte de Pandore d’où s’échappe le refoulé, c’est une boîte à musique d’où s’échappe une musique séduisante, bien rôdée, nostalgique, exotique à souhait.

La perte de la substance subversive est sans doute à chercher dans la fonction même dévolue aux scènes de bal dans l’opérette, qui devaient faire valoir les danses de société à la mode. Les bals masqués au milieu du dix- neuvième siècle ne sont plus, comme dans le grand opéra, des lieux où se cristallise la catastrophe, un terrain d’enjeux tragiques, mais plutôt une piste de danses où l’on peut se moquer ouvertement des mœurs de ses contemporains. C’est une scène sur la scène où se produisent les mensonges d’une époque, dont le démasquage n’apporte cependant rien de plus par rapport à l’action qui l’a précédée. Comme le fait remarquer Volker Klotz, « ce qui est décisif, c’est qu’une fois le subterfuge percé à jour il n’engendre pas de déception. […] [L]es victimes restent subjuguées par la beauté endiablée de la duperie et par ceux qui mentent comme ils respirent21. » Le rire que cette reconnaissance provoque chez le spectateur n’est pas un rire qui permet une décharge pulsionnelle, un rire transgressif par lequel il libère une

21 « Ausschlaggebend ist dabei, dass die Täuschungen, sobald durchschaut, keine Enttäuschungen hervorrufen. […] Nein, die Opfer sind auch dann noch hingerissen vom schönen Furor der Gaukelei und von jenen, die sie so unermüdlich erzeugen. » (in Operette, Portrait einer unerhörten Kunst, Kassel, Bärenreiter-Verlag, 1991, erweiterte und aktualisierte Auflage 2004, p. 106). LA CHAUVE-SOURIS DE JOHANN STRAUSS : UNE VALSE DE MENSONGES 167 pulsion violente. C’est un rire apprivoisé, inoffensif, à l’image des mutations opératiques : les sujets se réduisent de plus en plus à des histoires inoffensives qui n’ébranlent pas les acquis culturels sur lesquels reposent les valeurs de la bourgeoisie d’affaires européenne. On rit du miroir à peine déformé, de l’habileté de la satire sociale rusant avec la censure politique, on rit des galipettes extra-conjugales, qui sont au rire ventral d’un Falstaff ce que sont les bulles de champagne au philtre d’Isolde22. Une petite griserie, dont on se remet le lendemain. Si La Chauve-souris est bien le spectacle d’une sexualité inhibée par le mariage bourgeois, elle est aussi l’expression d’un inconscient collectif qui se manifeste à travers des symptômes comme l’oubli et le mensonge. Le mensonge dans sa fonction psychique, c’est la face visible d’une « logique qui cherche à éliminer le réel23 ». Il occulte un vide, une impossibilité à dire, non pas la vérité, mais l’existence de l’inavouable. Le mensonge, c’est le déguisement sous lequel se présente l’inavouable de la pulsion, c’est un compromis et l’illusion consiste à se laisser abuser par ce déguisement qui cherche à se faire passer pour la réalité. Dans le contexte de l’opérette viennoise, cette construction mensongère qui fait écran rappelle étonnamment ce que Broch disait de Vienne à l’époque de Hofmannsthal. « Une métropole du kitsch », ou encore une « métropole du vide des valeurs de son époque », dont les façades offrent un « décor de théâtre permanent » qui n’est qu’un « décor autour du vide24 ». Broch, qui n’avait que du mépris pour les opérettes de Strauss dans lesquelles il voyait une forme toute particulière du vide (« ein spezifisches Vakuum-Produkt »), allait jusqu’à affirmer que leur succès mondial était un avertissement fatidique annonçant le naufrage de tout un monde happé par le vide sans cesse grandissant des valeurs25. C’est peut-être surestimer la valeur et la portée de La Chauve-souris que de l’assimiler au chant du cygne de la perte universelle des valeurs, tout au plus a-t-elle partie liée avec un divertissement qui fait figure de substitut édulcoré à l’angoisse du vide et de la mort.

22 Cf. la pertinente analyse de Barry EMSLIE, « The domestication of opera », in Cambridge Opera Journal, vol. 5, n° 2, 1993, p. 167. 23 Patricia LEÓN LOPEZ, « Le mensonge », in Psychanalyse, n° 1, Éditions Érès, Toulouse 2004, p. 39. 24 Cité par Christine MONDON, « L’essai Hofmannsthal et son temps de H. Broch ou la démystification de la Vienne 1900 », in « Vienne 1900. Réalité et/ou Mythes », Études réunies par Felix KREISSLER et Jean-Marie WINKLER, Austriaca, n° 50, 2000. 25 Hermann BROCH : « So wurde die von Strauss begründete Operettenform ein spezifisches Vakuum-Produkt, […] ihr späterer Welterfolg kann geradezu als Menetekel für das Versinken der Gesamtwelt in das unaufhaltsam weiterwachsende Wert-Vakuum genommen werden. » (in BROCH, « Hofmannsthal und seine Zeit » [1947/1948], Schriften zur Literatur, vol. 1, « Kritik », Frankfurt/Main, Suhrkamp, 1975, p. 152-153).

« Eines ist mir klar : Daß die Weiber auch in der Hypnose lügen ». Mensonge et genre chez Arthur Schnitzler

Susanne BÖHMISCH Aix-Marseille Université

L’ambivalence entre une revalorisation du mensonge au sens nietzschéen et un refus du mensonge pour des raisons éthiques parcourt l’œuvre de Schnitzler et demeure irréductible. D’un côté, ses personnages se livrent aux plaisirs troubles de l’illusion. La vérité est une fiction, la véracité une supercherie et le mensonge une nécessité psychique qui rend la vie plus intense, voire tout simplement supportable. De l’autre côté, l’auteur dénonce les mensonges intimes, sociaux, ceux du langage, ainsi qu’un dire et agir irresponsable. En premier lieu, le mensonge opère chez Schnitzler dans le champ de l’amour et de la jalousie. Ses hommes ne supportent pas l’idée d’être trompés par une femme, bien qu’ils accordent à celle-ci, théoriquement, le même droit à l’épanouissement sexuel. Les Trois Élixirs (Die drei Elixiere, 1890) est sans doute le texte schnitzlérien qui illustre le mieux cette jalousie, ce fantasme de possession, cette profonde inquiétude de l’homme face à l’opacité de la femme1. Avec l’inflation du mensonge dans la modernité viennoise, l’énigme femme semble devenir encore plus obscure, et les mensonges de la part des femmes inquiètent davantage. A travers le jeu littéraire autour du mensonge, s’articulent ainsi des rapports de pouvoir entre les genres. Nous commencerons, dans une première partie, par un rappel de la sémantique du mensonge autour de 1900 et de ses interactions avec le genre, afin d’apporter un éclairage sur le lien discursif complexe entre mensonge et différence sexuelle qu’évoque brièvement Jacques Derrida dans son Histoire du mensonge : « il y aurait plus d’une conférence à consacrer à ce qui lie

1 Le protagoniste, dans Die drei Elixiere, est convaincu que sa fiancée ment et il ne supporte pas l’idée qu’elle échappe à son emprise. Le premier élixir oblige alors la femme à dire ce qu’elle pense, mais cette vérité lui est encore insupportable. Le deuxième lui fait oublier tout ce qu’elle a vécu avant lui, tous les amants qu’elle a eus, mais il reste la menace de l’avenir. Le troisième fait qu’elle n’aimera aucun autre après lui. Par conséquent, elle meurt. 170 SUSANNE BÖHMISCH l’histoire du mensonge à l’histoire de la différence sexuelle, de son érotique et de ses interprétations2 ». Dans une seconde partie, nous analyserons le lien entre mensonge et genre dans quelques œuvres choisies de Schnitzler.

Le mensonge et ses avatars autour de 1900

On peut repérer deux tendances majeures dans la modernité viennoise : d’une part, un vaste mouvement de démasquage, soutenu par la quête d’une vérité autre dans l’art, Nuda Veritas (1899). Comme dans le tableau de Gustav Klimt et selon ce que Jacques le Rider a nommé la féminisation dans la modernité esthétique3, cette nouvelle vérité est souvent associée au féminin. D’autre part, on assiste à une revalorisation du mensonge suivant une lecture nietzschéenne, avec l’idée majeure que toute vérité est fiction. Simultanément, de nombreuses théories misogynes réaffirment le cliché de la nature mensongère et hypocrite de la femme. Le démasquage – la première tendance – vise les mensonges de l’historicisme et de la génération des pères qui les soutient (on peut citer l’exemple de la Ringstraße4), ainsi que les mensonges sociaux et existentiels. La réception de Henrik Ibsen est ici primordiale. Christine Lubkoll la qualifie à juste titre de « phénomène générationnel décisif5 ». Le langage également est démasqué. On dénonce sa nature mensongère, le fait qu’il déforme le réel au lieu de le représenter. « Les mots mentent, les sentiments mentent, même la conscience de soi ment6 », écrit Hugo von Hofmannsthal en 1891. Certains s’enflamment dans leur combat contre le mensonge et pour une vérité plus subjective, comme Hermann Bahr :

2 Jacques DERRIDA, Histoire du mensonge. Prolégomènes, Paris, Galilée, 2012, p. 45. 3 Jacques LE RIDER, Modernité viennoise et crises de l’identité, Paris, PUF, 1990. 4 À partir de 1861, Vienne bâtit le vaste glacis militaire au pied des anciens remparts qui était resté non loti : ce sera le boulevard circulaire, la Ringstraße, qui deviendra une sorte de vitrine de la capitale, où la nouvelle classe dirigeante – la bourgeoisie libérale – va imprimer sa marque. L’architecture historiciste de la Ringstraße fera l’objet par la suite d’une forte polémique : sont critiquées l’importance accordée à la façade, à la belle apparence, à la fonction représentative, ainsi que la mise en scène de soi conjuguée à l’appropriation de quelques codes architecturaux de l’aristocratie. Le mouvement de la Sécession viennoise prend son essor dans la contestation de l’architecture de la Ringstraße, vécue par la jeune génération comme hypocrite et passéiste. Elle leur opposera un art nouveau entièrement tourné vers la modernité, beau, fonctionnel et “vrai”, censé régénérer la société autrichienne. Cf. le chapitre « Die Ringstraße, ihre Kritiker und die Idee der modernen Stadt », in Carl E. SCHORSKE, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, München, Piper, 1994, p. 23-109. 5 « Ein entscheidendes Generationenerlebnis », Christine LUBKOLL (dir.), Das Imaginäre des Fin de siècle. Ein Symposion für Gerhard Neumann, Freiburg, Rombach, 2002, p. 52 (traduit par nous-même). Ibsen n’a pas seulement déconstruit les mensonges intimes et sociaux de son époque, il a aussi démontré que le mensonge peut avoir une fonction vitale : s’illusionner pour supporter l’existence. 6 « Worte lügen, Gefühle lügen, auch das Selbstbewusstsein lügt ». Hugo von HOFMANNSTHAL, « Zur Physiologie der modernen Liebe » (1891), in Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze I (1891-1913), Frankfurt/M, Fischer, 1979, p. 95 (traduit par nous-même). MENSONGE ET GENRE CHEZ ARTHUR SCHNITZLER 171

Wir wollen nur, daß das Lügen aufhöre, das tägliche Lügen, in den Schulen, von den Kanzeln, auf den Thronen, welches häßlich und schlecht ist. […] Ja, nur den Sinnen wollen wir uns vertrauen […]. Bis die Lüge in uns [...] erwürgt ist.7

En citant la poétesse castillane Emilia Pardo Bazan, Hermann Bahr oppose un « besoin masculin de mentir » à une sorte de privilège féminin qui mettrait les femmes à l’abri du logos, donc aussi à l’abri du mensonge : « Son sexe l’a préservée des mutilations de la vérité à travers les systèmes ; elle ne connaît pas le besoin masculin de mentir, […] de mentir pour des raisons de cohérence et de clarté8 ». Soudainement, les valeurs dans le binôme traditionnel corps/ esprit, femme/ homme semblent s’inverser au profit du féminin. Placé du côté de la nervosité et de la sensibilité moderne, le féminin est transformé en nouveau paradigme esthétique par lequel Bahr et ses confrères tentent d’échapper aux mensonges du logos. Cette thèse de la féminisation est toutefois contestée par des chercheurs féministes comme Lisa Fischer ou Agatha Schwartz puisqu’elle ne mettrait pas en cause le clivage rationalité masculine/ irrationalité féminine9. Au contraire, par une transformation de la nervosité, voire de l’hystérie féminine – sensibilité exacerbée, puissance imaginaire, simulation –, en un « art des nerfs masculin », se constitue un groupe d’auteurs exclusivement masculin qui sera canonisé comme étant les représentants de la modernité viennoise. Urte Helduser y reconnaît un processus d’appropriation de ce qui est connoté féminin10. La revalorisation massive du mensonge – la deuxième tendance – conduit Mathias Meyer à formuler le concept d’un « potentiel dynamique du mensonge11 » qui ravirait les esprits décadents et le sujet en crise. On pourrait le rapprocher de ce que Derrida appelle la « puissance performative » du mensonge12, à savoir sa capacité d’agir sur le réel et d’en produire un nouveau. Forts de cette conscience, les écrivains de la modernité viennoise expérimentent ce nouveau mode de rapport au réel, au langage, et nous

7 Hermann BAHR, « Die Moderne » (1890), in Claus PIAS (dir.), Hermann Bahr. Kritische Schriften II, Weimar, VDG, 2004, p. 14. 8 « Ihr Geschlecht hat sie vor den Vergewaltigungen der Wahrheit durch Systematik bewahrt : sie kennt nicht das männliche Bedürfnis, […] um der logischen Klarheit willen zu lügen. » Ibid., p. 34 (traduit par nous-même). 9 Lisa FISCHER, « Über die erschreckende Modernität der Antimoderne der Wiener Moderne oder über den Kult der toten Dinge », in Lisa FISCHER, Emil BRIX (dir.), Die Frauen der Wiener Moderne, Wien, Verlag für Geschichte und Politik, 1997, p. 208-217. Agatha SCHWARTZ, « Austrian Fin-de-siècle Gender Heteroglossia : The Dialogism of Misogyny, Feminism, and Viriphobia », German Studies Review, vol. XXVIII, n° 2, mai 2005, p. 347-366. 10 « Durch ihre Wahrnehmung als künstlerische Leistung statt als geschlechtliche Disposition wird aus der weiblichen Nervosität die männliche Nervenkunst. » Urte HELDUSER, Geschlechterprogramme. Konzepte der literarischen Moderne um 1900, Köln/ Weimar/ Wien, Böhlau, 2005, p. 312. 11 « Energische Kapazität der Lüge », Mathias M EYER, « Die Rhetorik der Lüge – Beobachtungen zu Nietzsche und Hofmannsthal », in LUBKOLL, Das Imaginäre des Fin de siècle, p. 45 (traduit par nous-même). 12 DERRIDA, Histoire du mensonge, p. 60. 172 SUSANNE BÖHMISCH assistons à une véritable inflation du mensonge, avec tous ses avatars comme l’illusion, la dissimulation, le simulacre. Trois penseurs ont fortement contribué à cette effervescence autour de 1900 : Friedrich Nietzsche, Ernst Mach et Sigmund Freud. L’essai de Nietzsche, « Vérité et mensonge au sens extra-moral » (« Über Wahrheit und Lüge im Außermoralischen Sinn »), est capital. Nietzsche affranchit le mensonge du sens moral dans lequel il a été confiné depuis la christianisation du concept. Si Kant avait encore refusé tout mensonge de façon inconditionnelle puisque le langage devait rester garant de vérité et source du droit13, Nietzsche opère l’inversion en postulant que le désir de vérité n’est que fiction : les hommes sont avant tout vaniteux, ils aiment tromper, voire être trompés à condition de ne subir aucun préjudice.

Der Intellekt, jener Meister der Verstellung, ist so lange frei und seinen sonstigen Sklavendiensten enthoben, als er täuschen kann, ohne zu schaden […]. Nie ist er üppiger, reicher, stolzer, gewandter und verwegener : mit schöpferischem Behagen wirft er die Metaphern durcheinander und verrückt die Grenzsteine der Abstraktionen […].14

Nietzsche relègue le désir de vérité au rang de simple nécessité, celle d’établir un cadre social, de proposer de l’identique là où il n’y a que du non- identique et du singulier. Les hommes finissent par en oublier le caractère fictionnel : « les vérités sont des illusions dont on a oublié qu’elles le sont, des métaphores usées qui ont perdu leur force sensible »15. À force de mentir par convention, ils pensent dire le vrai. En revanche, du côté du mensonge, il y a créativité et plaisir16. Nietzsche reconnaît une puissance à celui qui sait tromper puisqu’il est maître de l’imaginaire. A l’homme dont Nietzsche avait souligné la vanité (« le perpétuel badinage qui partout folâtre pour le seul amour de la vanité »17), répond dans la modernité viennoise l’homme narcissique. Chez Mach, on ne trouve pas de réflexion explicite à propos du mensonge, mais son œuvre principale, Beiträge zur Analyse der Empfindungen (1886), qui a eu un impact considérable sur les écrivains viennois, va déterminer la

13 Immanuel KANT, « Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen » (1797), in Werkausgabe, t. VIII, éd. par Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M, Suhrkamp, 1977, p. 637-643. 14 Friedrich NIETZSCHE, « Über Wahrheit und Lüge im Außermoralischen Sinn » (1873), in Werke in drei Bänden, t. III, München, Hanser Verlag, 1960, p. 309-322, ici p. 320. 15 « Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind ». Ibid., p. 314 (« Vérité et mensonge au sens extra-moral », in NIETZSCHE, Œuvres philosophiques complètes, t. I, 2 : Écrits posthumes 1870-1873, traduit par Michel Haar et Marc B. de Launey, Paris, Gallimard, 1975, p. 282). 16 « Lust an der Lüge », Friedrich NIETZSCHE, Menschliches, Allzumenschliches I, in Werke in drei Bänden, t. I, p. 435-733, ici § 154, p. 549. Mensonge et fiction sont ainsi pour Nietzsche la voie royale du vertige symbolique. Cf. « die Lust am Lügen, am Ungenauen, am Symbolischen, am Rausche, an der Exstase », ibid., § 234, p. 590. 17 « [D]as fortwährende Herumflattern um die eine Flamme Eitelkeit », ibid., p. 310 (« Vérité et mensonge au sens extra-moral », p. 278). MENSONGE ET GENRE CHEZ ARTHUR SCHNITZLER 173 mutation du concept puisqu’elle ébranle la notion de sujet, et donc la possibilité de dire vrai ou de mentir18. Partant du constat que le sujet est une constellation de sensations et perceptions éphémères, de traces mémorielles, Mach affirme que ce que nous éprouvons comme continuité du sujet n’est qu’une fiction. Comme chez Nietzsche, le langage nomme afin de tromper le discontinu et le non-identique. A chaque instant les choses meurent, de nouvelles constellations se créent. Dans cette perspective, il ne peut plus y avoir de vérité ni de véracité. Une étude détaillée de ce qui arrive au mensonge dans la pensée psychanalytique dépasserait le cadre de cette contribution. Disons simplement qu’à partir du moment où l’on reconnaît l’existence de l’inconscient et les méandres de l’activité psychique, il devient difficile de distinguer les ressorts multiples et secrets d’un acte comme mentir. Comment différencier une part intentionnelle dans le mensonge, comment démêler ce qui relève de l’illusion du moi, du fantasme, de la projection ? Et comment reconnaître les limites entre dire vrai et mentir si l’entrée dans l’ordre symbolique s’opère sur un clivage du sujet et si on n’est même pas sûr de penser ce qu’on dit ? Il est certain que l’inflation et la dilatation du concept finissent par le rendre moins pertinent, du moins si l’on veut rester dans une définition classique du mensonge. « Pour mentir, au sens strict et classique de ce concept, il faut savoir la vérité et la déformer intentionnellement », rappelle Derrida. Et il ajoute : « Il faut donc ne pas se mentir à soi-même19 ». Tout le problème est là, puisque vérité et sujet sont devenus suspects20. Chez Schnitzler, avec l’effacement des frontières entre réalité, rêve et fantasme, le concept devient parfois flou, opaque. Ce n’est d’ailleurs pas seulement la possibilité d’un dire vrai mais aussi d’un souvenir vrai qui est mise en question, puisque notre mémoire est sujette aux mécanismes de falsification. Venons-en aux théories misogynes de l’époque. Le cas Otto Weininger montre comment le cliché sur la nature mensongère de la femme est intégré dans un système pseudo-logique. Certes, Geschlecht und Charakter est un ouvrage aberrant, dont il est facile de mettre les contradictions en évidence. Mais à l’époque, il s’agit d’un bestseller. Publié en 1903, il connaît à peine six ans plus tard son onzième tirage. Des messieurs aussi honorables que Karl Kraus, Ludwig Wittgenstein ou August Strindberg l’apprécient. Ce sont des idées qui circulent dans la Vienne de l’époque et qui sont alors vivement

18 Ernst MACH, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1985 (le livre a été réédité sous ce titre dès 1900). 19 DERRIDA, Histoire du mensonge, p. 71. 20 D’où la difficulté, aux yeux de Derrida, d’écrire une histoire du mensonge : « sans la prise en compte, notamment, de mutations techniques dans l’histoire de la conscience et de l’inconscient, dans la structure du simulacre ou du substitut iconique, on échouera toujours à penser le mensonge lui-même, la possibilité de son histoire, la possibilité d’une histoire qui l’engage intrinsèquement, et sans doute la possibilité d’une histoire tout court ». Ibid., p. 102- 103. 174 SUSANNE BÖHMISCH discutées, voire partagées. Schnitzler note dans son journal en 1920 : « au lycée il n’y a quasiment que des exilés juifs de l’Est, intelligents mais désagréables, tous les garçons ont lu Weininger, disent à leurs petites camarades : ‘toi, tu n’es qu’une fille’21 ». L’argumentation de Weininger est la suivante : la femme ne penserait qu’à une chose, le coït. Pour dissimuler sa soif sexuelle et donc sa vraie nature, elle se dote d’une apparence vertueuse. Elle le fait aussi parce qu’elle est profondément influençable et qu’elle s’adapte à ce que l’homme veut voir en elle. Mais de tout cela, elle n’a pas conscience22. Lorsque la dissimulation de sa pulsion sexuelle ne réussit plus, lorsque le conflit éclate entre son vrai moi, nymphomane, et son faux moi, vertueux, c’est la crise hystérique23. Weininger reconnaît lui-même à un moment donné qu’on ne peut pas dire que les femmes mentent puisque cela supposerait qu’elles puissent aussi dire vrai, qu’elles aient une conscience et une mémoire, alors qu’elles n’en ont pas24. Seul l’homme saurait distinguer entre vérité et vérité manipulée, seul l’homme, donc, saurait mentir. C’est pourquoi, après avoir d’abord affirmé que toutes les femmes mentent, il préfère dire qu’elles sont d’une nature profondément mensongère dont elles n’auraient même pas conscience25. Jacques le Rider avait interprété le système Weininger comme mécanisme de défense contre une époque érotomane et en pleine mutation. Une tentative de lutter contre la dissolution de l’identité masculine et juive, et de s’armer contre le féminisme naissant, bref d’exorciser la peur du continent noir26. Nous constatons, premièrement, que le sens moral du mensonge reste collé à l’image de la femme, entraînant une condamnation morale de la menteuse ; deuxièmement, que la variante pathologique du mensonge est considérée comme étant la caractéristique de la femme. Trois ans avant la publication de Weininger, on pouvait déjà lire dans le pamphlet du psychiatre Paul Möbius, De la bêtise physiologique de la femme

21 « im Gymnasium fast lauter ostjüd. Flüchtlinge, gescheidt, aber unangenehm, die Buben haben alle Weininger gelesen, sagen zu den Colleginnen : ‘Du bist ja nur ein Mädel’ ». Arthur SCHNITZLER, Tagebuch 1920-1922, Wien, Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften, 1993, p. 21 (traduit par nous-même). 22 « Aber die Lüge, die es begeht, wenn es sich das männliche gesellschaftliche Urteil über die Sexualität, über Schamlosigkeit, ja über die Lüge selbst, einverleiben läßt und den männlichen Maßstab aller Handlungen zu dem seinigen macht, diese Lüge ist eine solche, die ihm nie bewußt wird, es erhält eine zweite Natur, ohne auch nur zu ahnen, daß es seine echte nicht ist, es nimmt sich ernst, glaubt etwas zu sein und zu glauben, ist überzeugt von der Aufrichtigkeit und Ursprünglichkeit seines moralischen Gebarens und Urteilens : so tief sitzt die Lüge, die organische, ich möchte, wenn es gestattet wäre, am liebsten sagen : die ontologische Verlogenheit des Weibes. » Otto WEININGER, Geschlecht und Charakter, Wien/ Leipzig, Braumüller, 1920, p. 349. 23 « Hysterie ist die organische Krisis der organischen Verlogenheit des Weibes ». Ibid., p. 352. 24 Ibid., p. 362. 25 Ibid., p. 187-188. 26 Jacques LE RIDER, Der Fall Otto Weininger. Wurzeln des Antifeminismus und des Antisemitismus, Wien, Löcker Verlag, 1985. MENSONGE ET GENRE CHEZ ARTHUR SCHNITZLER 175

(Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, 1900) : « La dissimulation, donc le mensonge, est l’arme la plus naturelle de la femme, une arme qui lui est indispensable et à laquelle elle ne peut absolument pas renoncer27 ». Et avant Möbius et Weininger, il y a eu Arthur Schopenhauer et Nietzsche. Selon Schopenhauer, la nature aurait doté les hommes de force physique ; les femmes, en l’absence de celle-ci, et pour compenser ce manque, seraient passées maîtres dans l’art de la dissimulation. Leurs armes seraient le mensonge et la ruse. Leur duplicité serait innée. Son argumentation révèle une contradiction intéressante :

[S]ie, als die schwächeren, [sind] von der Natur nicht auf die Kraft, sondern auf die List angewiesen [...] : daher ihre instinktartige Verschlagenheit und ihr unvertilgbarer Hang zum Lügen. Denn, wie Löwen mit Klauen und Gebiß, den Elephanten mit Stoßzähnen, den Eber mit Hauern, den Stier mit Hörnern und die Sepia mit der wassertrübenden Tinte, so hat die Natur das Weib mit Verstellungskunst ausgerüstet, zu seinem Schutz und Wehr, und hat alle die Kraft, die sie dem Manne als körperliche Stärke und Vernunft verlieh, dem Weibe in Gestalt jener Gabe zugewendet. Die Verstellung ist ihm daher angeboren, deshalb auch fast so sehr dem dummen, wie dem klugen Weibe eigen. Von derselben bei jeder Gelegenheit Gebrauch zu machen ist ihm daher so natürlich, wie jenen Thieren, beim Angriff, sogleich ihre Waffen anzuwenden. Darum ist ein ganz wahrhaftes, unverstelltes Weib vielleicht unmöglich. Eben deshalb durchschauen sie fremde Verstellung so leicht, daß es nicht rathsam ist, ihnen gegenüber, es damit zu versuchen.28

Experte en matière de dissimulation, la femme reconnaît aisément tout mensonge d’autrui. On subodore déjà la menace qu’elle constitue ainsi pour l’homme : lui-même pourrait être démasqué. La contradiction réside dans le fait de maintenir la thèse de l’infériorité intellectuelle de la femme tout en la plaçant du côté du mensonge et de la ruse, à savoir des opérations mentales nécessitant bien plus d’esprit, d’imaginaire et d’inventivité que la sincérité. Chez Nietzsche, on trouve la même thèse et la même contradiction, toutefois plus nuancée. S’il situe la femme du côté du mensonge, il avoue aussi que les hommes aiment se bercer de ces mensonges :

Nichts ist von Anbeginn an dem Weibe fremder, widriger, feindlicher als Wahrheit, – seine große Kunst ist die Lüge, seine höchste Angelegenheit ist der Schein und die Schönheit. Gestehen wir es, wir Männer : wir ehren und lieben gerade diese Kunst und diesen Instinkt am Weibe : wir, die wir es schwer haben und uns gerne zu unsrer Erleichterung zu Wesen gesellen, unter deren Händen,

27 « Verstellung, d.h. lügen ist die natürlichste und unentbehrlichste Waffe des Weibes, auf die sie gar nicht verzichten kann ». Paul MÖBIUS, Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, Hamburg, Mattheus & Seitz, 1990 [1908], p. 40 (traduit par nous-même). 28 Arthur SCHOPENHAUER, Über die Weiber [1851], in Parerga und Paralipomena. Schopenhauers Werke in fünf Bänden, t. V, Zürich, Haffmanns Verlag, 1988, p. 527-535, ici p. 529-530. 176 SUSANNE BÖHMISCH

Blicken und zarten Thorheiten uns unser Ernst, unsre Schwere und Tiefe beinahe wie eine Thorheit erscheint.29

Le mensonge des femmes comme remède à la souffrance métaphysique des hommes... En plus, elles seraient rusées pour appâter les hommes, car si le propre de la femme, selon Nietzsche, est d’être plus méchante et plus intelligente que l’homme30, le comble est qu’elle dissimule son intelligence afin de ne pas effrayer les hommes et de rester désirable : « c’est comme si elles étendaient autour d’elles l’invite d’un doux crépuscule31 ». La psychanalyste Joan Rivière développera quarante ans plus tard (1929) sa thèse de la mascarade féminine, censée masquer le potentiel castrateur de la femme, notamment lorsqu’elle est intellectuellement brillante. Que le mensonge sollicite les capacités de l’esprit, Nietzsche l’affirme nettement :

Wesshalb sagen zu allermeist die Menschen im alltäglichen Leben die Wahrheit ? – Gewiss nicht, weil ein Gott das Lügen verboten hat. Sondern erstens : weil es bequemer ist ; denn die Lüge erfordert Erfindung, Verstellung und Gedächtniss. (Wesshalb Swift sagt : wer eine Lüge berichtet, merkt selten die schwere Last, die er übernimmt ; er muss nämlich, um eine Lüge zu behaupten, zwanzig andere erfinden.) Sodann : weil es in schlichten Verhältnissen vortheilhaft ist, direct zu sagen : ich will diess, ich habe diess gethan, und dergleichen ; also weil der Weg des Zwangs und der Autorität sicherer ist, als der der List.32

Tout comme Schopenhauer, Nietzsche reconnaît indirectement aux femmes un art supérieur du fait de leur recours au mensonge et à la ruse, mais il les condamne moralement comme menteuses et considère leur art de la dissimulation comme une entrave pour accéder aux vérités universelles, lesquelles restent réservées aux hommes.

Mensonge et genre chez Schnitzler

Comment s’inscrit le rapport entre mensonge et genre dans les textes de Schnitzler, et dans quelle mesure Schnitzler reproduit, s’approprie ou modifie-t-il les idées qui circulent à ce propos à son époque ? Selon Jenneke

29 Friedrich NIETZSCHE, Jenseits von Gut und Böse, in Werke in drei Bänden, t. II, p. 563- 760, ici § 232, p. 698. 30 Friedrich NIETZSCHE, Ecce Homo, in Werke in drei Bänden, t. II, p. 1063-1160, ici p. 1105. 31 « [E]s ist, als ob sich eine einladende sanfte Dämmerung um sie verbreite ». Friedrich NIETZSCHE, Menschliches, Allzumenschliches II, in Werke in drei Bänden, t. I, p. 737-1009, ici « Der Wanderer und sein Schatten », § 270, p. 980 (Humain, trop humain, in Friedrich NIETZSCHE, Œuvres, édition dirigée par Jean LACOSTE et Jacques LE RIDER, traduit par A. M. Desrousseaux et Henri Albert, traduction révisée par Jean Lacoste, Paris, Robert Laffont, 1993, p. 928). 32 Ibid., § 54, p. 488. MENSONGE ET GENRE CHEZ ARTHUR SCHNITZLER 177

A. Oosterhoof, on peut constater dans l’œuvre de Schnitzler chez la plupart des hommes un consensus sur le fait que les femmes sont toutes des menteuses33. Jusqu’ici, rien de nouveau. Schnitzler semblerait transposer le cliché sur la nature mensongère de la femme dans la fiction. La citation figurant dans le titre de ma communication, tirée de la première pièce du cycle Anatol, La question au destin (Die Frage an das Schicksal, 1889), en constitue d’une certaine manière le summum : « Une chose est claire : les femmes mentent même sous hypnose…34 ». Weininger ne semble pas loin, avec sa conception de la femme qui ne saurait même pas qu’elle ment. Mais comment déterminer le statut de cette phrase ? Schnitzler retranscrit-il cette idée afin de la réaffirmer, ou la tourne-t-il en dérision ? Ou encore se moque- t-il des hommes qui, dans leur tentative d’explorer l’énigme de la femme, se heurtent à leurs propres idées reçues sur la femme à qui on ne saurait faire confiance et sont condamnés à échouer dans leur quête ? Ces réflexions s’inspirent de la thèse d’Imke Meyer sur la rigidité des représentations du genre chez l’homme schnitzlerien. Lorsque celui-ci projette ses images traditionnelles sur les femmes qui, elles, évoluent et d’ailleurs ne s’inscrivent plus dans une infériorité biologique, il est confronté à un impossible35. Elle repère dans le comportement névrosé, voire hystérique, de quelques figures masculines, par exemple Felix dans le récit Mourir (Sterben) ou Albert dans L’étrangère (Die Fremde), un mode de narration mélodramatique par lequel Schnitzler mettrait le trouble dans le genre36. Si de nombreuses figures masculines meurent à la fin des récits, c’est aussi un type d’homme qui se meurt. C’est, pour Imke Meyer, « la crise du regard masculin qui a perdu sa force pénétrante37 ». C’est donc une thèse plus nuancée que celle qui consiste à juste repérer une « morale sexuelle dominée par les hommes38 ». Schnitzler montre comment l’homme tente de retrouver une domination à un moment où il est en train de la perdre. On peut transférer

33 « Die Männer in Schnitzlers Werk sind sich zumeist darin einig, dass Frauen lügen. » Jenneke A. OOSTERHOFF, Die Männer sind infam, solang sie Männer sind. Konstruktionen der Männlichkeit in den Werken Arthur Schnitzlers, Tübingen, Stauffenburg, 2000, p. 13. 34 « Eines ist mir klar : Daß die Weiber auch in der Hypnose lügen ». Arthur SCHNITZLER, Die Frage an das Schicksal, in Anatol, Frankfurt/M, Fischer, 2004, p. 48. Les traductions en français sont tirées d’une œuvre collective disponible en ligne: http://fr.wikisource.org/wiki/ La_question_au_destin (consultée le 23 décembre 2013). 35 Imke MEYER, Männlichkeit und Melodram. Arthur Schnitzlers erzählende Schriften, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2010, p. 45. 36 « Schnitzler sprengt die binäre Opposition der Geschlechterrollen des fin de siècle auf, indem er einen Erzählmodus, der normalerweise im Zusammenhang mit der Darstellung von Frauenfiguren erwartet wird, zur Zeichnung der Felix-Figur in Sterben verwendet. » Ibid., p. 12. Imke Meyer démontre qu’il s’agit là d’un mode de narration qui traverse toute l’œuvre de Schnitzler. 37 « Krise des männlichen Blicks, der seine penetrierende Kraft verloren hat ». Ibid., p. 49 (traduit par nous-même). 38 « Repräsentanten einer von Männern dominierten kulturellen Sexualmoral ». OOSTERHOFF, Die Männer sind infam, p. 3 (traduit par nous-même). 178 SUSANNE BÖHMISCH ce constat au mensonge. Car, avec l’inflation du mensonge, l’autre devient encore plus opaque et moins maîtrisable. Revenons à la citation de notre titre. Qui parle? C’est Max qui prononce une des dernières phrases de la pièce. En amont, il y a une autre phrase, son pendant, le projet initial, formulé cette fois par Anatol. En discutant avec son ami Max de la possibilité d’hypnotiser Cora, son aimée, il s’exclame : « On pourrait devenir un magicien ! On pourrait faire sortir une parole de vérité d’une bouche de femme…39 ». Le désir de vérité n’est autre ici que le désir de savoir si elle lui a été fidèle. Mais non, aucune vérité ne sort de la bouche d’une femme. Rappelons qu’entre le projet initial et cette fin, Anatol ne réussit pas à poser la question à Cora hypnotisée. Certes, il a peur de la réponse. Il est aussi conscient de la défaillance du langage, car toute formulation implique la possibilité d’un malentendu du fait de l’imprécision verbale, ce qui pourrait fausser la réponse à la question posée. Et puis, il est conscient du mécanisme des projections, lesquelles ruinent toute possibilité de dire vrai. Pour exemple : Cora, consciente de l’extrême jalousie d’Anatol, pourrait avoir intériorisé celle-ci et se sentir infidèle rien qu’en regardant un autre homme, se déclarer alors infidèle sous hypnose, alors qu’il n’en est rien dans ses actes40. Mais ce n’est pas tout. Dans ce dispositif, s’articule aussi un rapport de pouvoir. Nous voudrions en isoler trois passages. Premièrement, lorsque Cora apparaît sur scène et apprend que les deux hommes discutent de l’hypnose, elle exprime tout d’abord sa lassitude à propos de ce sujet à la mode avant de se raviser et de demander elle-même à Anatol s’il veut bien l’hypnotiser, anticipant ainsi la requête d’Anatol41. Soit Cora est un écran de projection pour Anatol et elle exprime, dans sa demande, son désir à lui, tandis que lui se dégage de toute responsabilité. Soit Cora figure ici la femme plus active, plus sujet, ce qui relativiserait la position de pouvoir d’Anatol. Deuxièmement, les deux hommes repèrent dans les réponses de Cora sous hypnose davantage une confirmation de l’hypocrisie féminine qu’une quelconque vérité, par exemple à propos de la différence d’âge entre ses prétendus 19 ans et les 21 ans qu’elle déclare sous hypnose42. Et, troisièmement, à la fin de la pièce, au lieu de lui poser la question qui le préoccupe tant, Anatol demande à Cora de l’embrasser : au lieu de se confronter à une vérité qui pourrait être désagréable, il impose un geste qui le confirme dans son illusion. Cela nous rappelle la vanité dont parle Nietzsche.

39 « Man könnte ein Zauberer sein ! Man könnte sich ein wahres Wort aus einem Weibermund hervorhexen. » SCHNITZLER, Die Frage an das Schicksal, p. 39. 40 Ibid., p. 45. 41 « CORA O schon wieder die Hypnose ! Man wird schon ganz dumm davon./ ANATOL Nun.../ CORA Du, Anatol, ich möchte, daß du einmal mich hypnotisierst./ ANATOL Ich... dich... ? » Ibid., p. 41. 42 « ANATOL Cora... DU wirst mir nun in allem die Wahrheit sagen... Was wirst Du tun, Cora ?/ CORA Ich werde die Wahrheit sagen. […]/ M AX Wie alt ist sie denn ?/ ANATOL Neunzehn... Cora, wie alt bist du ? CORA Einundzwanzig Jahre./ MAX Haha./ ANATOL Pst... das ist ja außerordentlich... Du siehst daraus.../ MAX O, wenn sie gewußt hätte, daß sie ein so gutes Medium ist ! » Ibid., p. 42. MENSONGE ET GENRE CHEZ ARTHUR SCHNITZLER 179

Mais c’est aussi clairement une tentative pour rester maître de l’énigme femme. Gerhard Neumann a montré comment Schnitzler revisite dans cette pièce le topos romantique : un narrateur masculin sonde l’énigme de la femme, mais au lieu de fixer une vérité, Schnitzler montre le dispositif, l’invention de l’autre, le jeu de rôles, ainsi que l’impossibilité de distinguer entre vérité et mensonge43. Si Anatol, en tant qu’hypnotiseur, jouit d’un certain pouvoir – manipuler, inventer, contrôler la femme44 –, Cora, en tant que femme hypnotisée et potentiellement hystérique, donc simulatrice, jouit d’un contre- pouvoir. Pour Gerhard Neumann, ce sont bien les rôles sociaux de sexe qui sont mis en scène, et non une quelconque vérité métaphysique45. En donnant à Cora l’ordre de l’embrasser, au lieu de poser la question, Anatol verrouille la bouche et donc la parole de la femme. C’est lui qui continue à inventer la femme. La thèse de Max sur la nature mensongère des femmes révèle alors que les deux hommes se réfugient dans de vieux stéréotypes à un moment historique où l’opposition vérité/ mensonge vacille tout autant que les catégories masculin/ féminin. Cela rejoint la thèse de Gabriele Brandstetter, selon qui cette pièce montre que le magicien, loin de faire émerger la vérité de la bouche d’une femme, n’en sort que les images d’elle qu’il a depuis longtemps46. Dans la nouvelle Les Comédiennes (Komödiantinnen, 1893), nous rencontrons de nouveau une sensibilité masculine blessée car trompée par une femme. Helene, figure de l’actrice émancipée, avoue à Richard que son baiser de la veille n’était que simulé, un exercice pour savoir si elle sait représenter de façon convaincante quelque chose qu’elle ne ressent point. Richard, vexé, lui répond alors que de nombreuses femmes excellent dans cet art sans qu’elles soient pour autant de grandes artistes. Tandis qu’elle cherche donc à s’approprier le mensonge pour son art, comme de nombreux auteurs de la modernité viennoise (Schnitzler y compris), lui classe et déclasse aussitôt ces mensonges sous la rubrique “hypocrisie féminine” et dénie à Helene toute performance artistique. C’est encore la même vanité masculine que celle d’Anatol qui est démasquée ici, la disposition à préférer une illusion agréable (être aimé d’une femme) à une vérité désagréable (être trompé par une femme) :

43 « Lüge und Wahrheit erweisen sich als ununterscheidbar, als doppelte Masken derselben Leere ». Gerhard NEUMANN, « Die Frage an das Schicksal. Das Spiel von Wahrheit und Lüge in Arthur Schnitzlers Einakter-Zyklus Anatol », Austriaca, n° 39, 1994, p. 49-67, ici p. 52. 44 « Anatols Selbstermächtigung besteht darin, sich zugleich als Analytiker und Erfinder der Frau, die er hypnotisiert, in Szene zu setzen : und sie in diesem paradoxen Akt zum Verschwinden zu bringen ». Ibid., p. 54. 45 Ibid., p. 55. 46 Gabriele BRANDSTETTER, « Körper-Maske – Sprach-Maske. Inzenierungen von Weiblichkeit in Werken von Arthur Schnitzler, Rebecca Horn, Maguy Marin », in Elfi BETTINGER, Julika FUNK (dir), Maskeraden. Geschlechterdifferenz in der literarischen Inszenierung, Berlin, Erich Schmidt Verlag, 1995, p. 338-363, ici p. 340. 180 SUSANNE BÖHMISCH

Helene : Einmal haben Sie mir sogar gesagt, daß Sie in jedem Worte, das eine Frau zu ihnen spricht, die Lüge herausspüren. […] Wenn Sie schon bei den anderen die Lüge gemerkt haben, so hätten Sie bei mir, nach dem ersten Worte, zusammenschauern oder lachen müssen./ Richard : Daß man geliebt wird, glaubt man doch immer wieder !47

Dans un autre récit de la même époque, La Petite Comédie (Die kleine Komödie, 1895), Schnitzler nous présente d’abord un dispositif symétrique, une sorte d’égalité du sexe face au mensonge. Alfred et Josefine, chacun las de sa vie de bourgeois désœuvré, se déguisent, lui en pauvre artiste, elle en süßes Mädel (la « gentille petite »). Ils se rencontrent sous cette mascarade et vivent alors une belle relation d’amour. Dès leur première rencontre, ils évoquent l’immense plaisir que procure l’invention d’un rôle dont l’autre ignore tout, plaisir qui nous rappelle les thèses nietzschéennes. Très vite, les frontières entre réel et fiction s’effacent. Tant que l’une et l’autre ignorent tout de leur simulation réciproque, ils vivent leur histoire d’amour comme étant plus intense, plus vraie. Les choses s’inversent même et leur fausse identité leur paraît plus authentique, leur vraie identité un masque : « Alfred : Sais-tu que je me dis parfois que j’allais déguisé par le monde, ces dernières années, et que je viens de poser mon masque maintenant ?48 ». Le mensonge est justifié ici par l’argument hédoniste : il est légitime s’il nous aide à optimiser notre plaisir et notre bonheur dans la vie, en tant que « sel de la vie », comme dit le sociologue Peter Stiegnitz49. Quant au lecteur, il observe le jeu de rôles à distance, à travers des lettres adressées par les deux protagonistes à leurs amis. Ce dispositif met constamment en rapport leur jeu de rôles et la “vraie vie” : « Josefine : Oui, j’ai déjà été amoureuse et j’ai souvent menti... mais autant que cette fois-ci et aussi amoureuse, ça jamais !50 ». S’il montre le mensonge qui opère dans l’amour ainsi que la force de nos projections, il montre aussi que tout sentiment d’intimité est fondé sur une illusion : Alfred raconte à son ami que Josefine et lui se sont avoués leurs pires moments de misère dans le passé, que leur pauvreté – laquelle fait toujours partie du rôle inventé – créerait intimité et complicité51. Arrive toutefois le moment où les deux ressentent le besoin de se démasquer, simultanément. Les raisons évoquées sont de nature pragmatique : il devient de plus en plus compliqué de maintenir le mensonge, notamment quand il s’agit de raccompagner l’autre chez soi. Mais une autre

47 Arthur SCHNITZLER, Komödiantinnen, in Arthur Schnitzler. Gesammelte Werke, t. I, Frankfurt/M, Fischer, 1981, p. 208-219, ici p. 211. 48 « Weißt Du, daß ich zuweilen glaube, ich bin die letzten Jahre verkleidet durch die Welt gegangen und habe die Maske abgelegt ? » Ibid., p. 196 (La Petite Comédie, in Arthur SCHNITZLER. Romans et nouvelles I. 1885-1908, traduit par Pierre Gallissaires, Paris, La Pochothèque (coll. « Classiques modernes »), 1994, p. 336). 49 Peter STIEGNITZ, Die Lüge. Das Salz des Lebens, Wien, Va Bene, 1997. 50 « Josefine : Na, ich war doch schon früher verliebt und hab’ oft gelogen – aber so viel gelogen und so verliebt doch noch nie ! » Arthur SCHNITZLER, Die kleine Komödie, p. 199 (La Petite Comédie, p. 339). 51 Ibid., p. 197. MENSONGE ET GENRE CHEZ ARTHUR SCHNITZLER 181 cause devient audible : la solitude du menteur52. Une fois démasqués, les deux acteurs rient et fêtent leur découverte par un souper au champagne mais, tandis qu’elle est disposée à poursuivre leur relation, lui se retire. La cause semble être à nouveau la vanité masculine ainsi que l’horreur d’être trompé :

Das Abenteuer mit der kleinen Stickerin ist aus. An jenem Abend, wo ich die Maske abwarf, ging es zu Ende. Wir haben damals viel gelacht, denn sie hat mir eine ähnliche Komödie vorgespielt wie ich ihr. Oh, Theodor, sie hat ebensowenig je gestickt, als ich gedichtet habe. […] Sie hat Brillanten und Perlen. Sie hat eine sehr bewegte Vergangenheit hinter sich. Ich fahre mit ihr nach Dieppe und zahle ihre Rechnungen. Ich halte sie aus, und übermorgen wird sie mich betrügen.53

Le dispositif narratif est donc dans un premier temps parfaitement symétrique et semble dépasser le rapport de pouvoir entre les deux sexes. L’homme et la femme mentent à égalité et éprouvent un immense plaisir à le faire. Mais l’amour ne fonctionne que tant que l’homme pense être le seul menteur. La possibilité d’être lui-même trompé le fait fuir. Une asymétrie des sexes face au mensonge clôt dès lors le récit54. Schnitzler, qui a si bien sondé les mécanismes du désir, reste très ambivalent dans le traitement du mensonge. Dans ces textes écrits avant 1900, plusieurs dispositifs, dont ceux cités ici, sont comme un terrain où expérimenter le mensonge au sens nietzschéen. Mais il met aussi en scène la difficulté qu’a l’homme accorder à la femme le droit de mentir qu’il s’octroie, ainsi que ses tentatives pour reprendre le pouvoir d’interprétation et de contrôle. Les figures masculines paraissent effectivement assez rigides, comme si le mensonge au sens extra-moral était réservé aux hommes, et que le mensonge des femmes devait entraîner une condamnation morale. Dans quelques écrits ultérieurs, notamment dans Comédie des Mots (Komödie der Worte, 1915), Fink et Fiederbusch (Fink und Fiederbusch, 1917) ou Le mot (Das Wort)55, pièce inachevée, le mensonge est inspecté avec plus de scepticisme. Konstanze Fliedl a montré que la critique du langage chez Schnitzler dans cette période aboutit non pas au relativisme, mais précisément à une responsabilité renforcée de la part de l’écrivain56. Il s’agit de mentir « le moins possible », comme le formule Schnitzler dans un commentaire sur Le mot :

52 Ibid, p. 204. 53 Ibid., p. 207. 54 En raison de cette fin, il faudrait donc nuancer la thèse fréquemment soutenue de l’égalité des deux sexes dans ce récit. Cf. Sibylle SAXER, Die Sprache der Blicke verstehen. Arthur Schnitzlers Poetik des Augen-Blicks als Poetik der Scham, Freiburg i.Br./ Berlin/ Wien, Rombach, 2010, p. 57. 55 Arthur SCHNITZLER, Das Wort. Tragikomödie in fünf Akten. Fragment. Aus dem Nachlaß, éd. par Kurt BERGEL, Frankfurt/M, Fischer, 1966. 56 Konstanze FLIEDL, Arthur Schnitzler, Stuttgart, Reclam, 2005, p. 184-188. 182 SUSANNE BÖHMISCH

Unsere ganze Moral besteht vielleicht nur darin, aus diesem unpräzisen Material, das uns das Lügen so leicht, so verantwortungslos, so entschuldbar macht, aus der Sprache etwas Besseres zu machen. Mit Worten so wenig zu lügen als möglich ist.57

Dans deux pièces du cycle Komödie der Worte, c’est la femme qui condamne l’excès du mensonge, là où calcul froid et stratégie mensongère déshumanisent : dans La Grande scène (Große Szene), Konrad doit affronter un ami. Il a eu une aventure avec la fiancée de ce dernier. Son ami, qui se croit trompé, veut connaître la vérité. Peu avant, l’épouse de Konrad, Sophie, qui est au courant et pratique elle-même quelques petits mensonges bien utiles dans sa vie amoureuse, avait imploré son mari concernant l’avenir de leur relation : « Konrad, parle vrai ! […] je t’en supplie, juste une chose : ne joue pas la comédie. Pas devant moi58 ». Mais, avant la rencontre entre les deux hommes, elle lui accorde le droit de mentir encore une fois : « Une fois encore tu peux – tu dois mentir59 ». Lors de la grande scène, Konrad ment et il ment si bien qu’il est ravi de ses propres mensonges, qu’il y croit presque lui-même, tout comme les figures masculines dans des écrits antérieurs à 1900 : « Pendant quelques moments j’étais si emporté, j’ai failli croire moi- même toute cette histoire60 ». Mais cette fois, Sophie, qui écoute tout dans la chambre à côté, est effrayée, dégoûtée par cette avalanche de mensonges. Le rapport de confiance est brisé, plus aucune entente n’est désormais possible : « Nous parlons deux langages différents, il n’y a même plus de médiation possible entre nous61 ». Dans L’Heure de Vérité (Stunde des Erkennens), le mari Eckold avoue à sa femme Klara qu’il lui a menti pendant dix ans sur ses vrais sentiments envers elle, à savoir haine et jalousie plus qu’amour, et sur son projet ancien de la quitter, dès que leur fille serait mariée. Klara, choquée par la durée de ce mensonge et par l’esprit de vengeance de son mari, le quitte sans rien dire ni écrire, car, dit-elle, « les mots mentent62 ».

Les figures schnitzlériennes se frottent à une modernité caractérisée par l’inflation du mensonge, le trouble dans le genre et le retour de théories misogynes. Elles témoignent du combat que livre l’homme pour retrouver une domination à un moment où il est en train de la perdre. Tout porte à croire que Schnitzler ait été tenté, à l’instar de ses contemporains, par la

57 Cité par Jacques LE RIDER, Arthur Schnitzler oder die Wiener Belle Epoque, Wien, Passagen Verlag, 2008, p. 23-24. 58 « Konrad, sei wahr ! […] nur um das eine fleh’ ich dich an, spiele keine Komödie. Vor mir spiele keine. » Arthur SCHNITZLER, Große Szene, in Komödie der Worte, Frankfurt/M, Fischer, 1993, p. 67 (traduit par nous-même). 59 « Einmal noch darfst du – mußt du lügen ». Ibid., p. 69 (traduit par nous-même). 60 « Es gab Momente, in denen ich so hingerissen war – es hat nicht viel gefehlt und ich hätte die ganze Geschichte selber geglaubt ». Ibid., p. 80 (traduit par nous-même). 61 « Wir sprechen verschiedene Sprachen, zwischen uns gibt es auch keinen Dolmetsch mehr ». Ibid., p. 83 (traduit par nous-même). 62 « Worte lügen » Arthur SCHNITZLER, Stunde des Erkennens, in Komödie der Worte, p. 41 (traduit par nous-même). MENSONGE ET GENRE CHEZ ARTHUR SCHNITZLER 183 revalorisation hédoniste, nietzschéenne, du mensonge, mais qu’il prend une certaine distance par la suite. On constate une forme de dépit à l’égard du fait qu’avec le mensonge généralisé, c’est le rapport de confiance à l’autre qui est radicalement mis en échec, isolant le sujet. La solitude croissante qu’on a pu constater dans l’univers schnitzlérien est aussi celle du menteur. Elle rappelle ce que Jankélévitch a nommé l’aspect « insociable » du mensonge, lequel accentue la solitude de l’être puisqu’il « échange contre de la fausse monnaie la confiance du partenaire63 ». Cette perte de confiance est comme amplifiée par le fait que les femmes aussi, et surtout, mentent si bien.

63 Jankélévitch distingue entre un aspect « sociable » et un aspect « insociable » du mensonge : sociable, puisqu’il facilite nos échanges sociaux (il « arrondit les angles, concilie en apparence les incompatibles et rend moins douloureux l’entrecroisement des intérêts ») ; insociable, puisqu’il accentue la solitude de l’être (il « échange contre de la fausse monnaie la confiance du partenaire »). Cf. Vladimir JANKÉLÉVITCH, Les vertus et l’amour. Traité des vertus II, t. I, Paris, Flammarion, 1986, p. 198.

Die letzten Masken Zum Problem der Lüge bei Arthur Schnitzler

Gerhard NEUMANN München und Berlin

Was ist Wahrheit? Pilatus

Was sind Worte? Konrad Herbot

I

Die Frage nach der kulturellen Funktion der Lüge gehört im Werk Arthur Schnitzlers zu den am häufigsten aufgeworfenen; und sie wird in der Regel mit einer anderen Frage in Verbindung gebracht: der Frage nach der Liebe, der Erotik nämlich und der mit dieser zusammenhängenden Thematik von Eifersucht, Seitensprung, Untreue und Betrug. Derjenige Text Schnitzlers, der diese thematische Konstellation von Lüge und Liebe vielleicht am differenziertesten vergegenwärtigt, ist der Einakter Die große Szene (1914/1915), der dem Zyklus Komödie der Worte angehört.1 Dieser Text soll mir zum Vorwand dienen, um das soziale Phänomen der Lüge, wie Schnitzler es auffasst, zu exponieren. In einem zweiten Schritt werde ich dann – im Vergleich mit diesem ‚Satyrspiel’ – wenn man es so nennen will – die eigentliche ‚Tragödie’ Die letzten Masken (1900/1901)2 einer Betrachtung unterziehen. Dabei soll deutlich werden, dass Schnitzler in seinen beiden Einaktern, einem „Experimentalgenre“, wie Hans-Peter

1 Arthur SCHNITZLER, Gesammelte Werke. Die dramatischen Werke, zweiter Band, Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag, 1962, Große Szene, S. 491-529. Zitatbelege künftig nach dieser Ausgabe im laufenden Text. 2 Arthur SCHNITZLER, Gesammelte Werke. Die dramatischen Werke, erster Band, Frankfurt am Main, 1962, Die letzten Masken, S. 719-735. Zitatbelege künftig nach dieser Ausgabe im laufenden Text. 186 GERHARD NEUMANN

Bayerdörfer es genannt hat, das Problem der Lüge in den doppelten Kontext von Erotik und Tod gestellt hat.3 Zunächst also zum Einakter Die große Szene. Diese ist im Theater- und Schauspieler-Milieu angesiedelt und spielt in einem Hotelzimmer in Berlin direkt dem Theater gegenüber. Der Schauplatz des Geschehens ist also gewissermaßen exterritorial in der Grenzzone zwischen Privatheit und Öffentlichkeit angesiedelt, genau wie das Thema der Lüge, das in ihm verhandelt wird. Es sind Theaterleute, um die es geht; und um ihre Einstellung zum Kulturthema Lüge. Da ist zunächst Dr. Falk, ein Theaterdirektor (in dem man Otto Brahm hatte erkennen wollen). Und da ist der geniale Schauspieler Konrad Herbot (als dessen Vorbild Josef Kainz gilt). Herbot, das Genie, ist in einer Schaffenskrise, weil seine Frau Sophie ihn verlassen hat. Der Grund: Er hat sie, wie schon so oft, mit einer anderen Frau betrogen. Diesmal mit Daisy, einer Tochter aus gutem Hause und Braut eines gewissen Edgar Gley. Man hat Herbot nachts am Fenster Daisys beobachtet – und das Gerücht von seinem Ehebruch hat sich verbreitet und auch den Bräutigam erreicht. Der Anfang des Stücks zeigt Sophie, seit deren Abwesenheit Herbot ‚nicht mehr gut spielt’; die nun, um die Situation zu verbessern, auf Bitten des verzweifelten Dr. Falk, wieder zu ihrem Mann zurückgekehrt ist. Im Gespräch mit dem Theaterdirektor zeigt sie sich aber entschlossen, Herbot mehr zu verzeihen. Ihr Argument: er habe diesmal nicht mit einem ‚Philinchen’ (II, 501) Ehebruch begangen, wie des öfteren, sondern mit einer behüteten Tochter, einem unschuldigen Mädchen, einer jungen Braut, deren Leben nun zerstört sei. Das erstere sei entschuldbar gewesen, das letztere unverzeihlich und infam. Ein Disput über den Stellenwert der Lüge in der Kultur entspinnt sich zwischen Sophie und dem Theaterdirektor. Dr. Falk plädiert für die Unschuld des Genies. Ein großer Künstler, in seinem Egoismus, wisse gar nicht, was er dem anderen antue. Und er versteigt sich zu der Behauptung: „Es gibt überhaupt keine Lüge auf der Welt. Es gibt nur Leute, die sich anschmieren lassen. Und zu denen haben Sie doch nie gehört.“ (II, 498) Und dann direkt an Sophie gerichtet: Es gebe nur eine ‚unumstößliche Wahrheit’, und das sei die Liebe (die zum Beispiel ihr Mann für sie empfinde). Dies führt ihn aber zugleich zu seiner These von den zwei ‚Moralsystemen’ zurück: Es gebe das Genie, das immer die Hauptrolle spielt; und es gebe die Betrogenen, denen das Recht bleibt, sich ihrerseits durch Untreue zu rächen. Er spreche hier als, „unmoralischer Moraltheoretiker“ (II, 504), erklärt Dr. Falk und gibt sich so als Nietzsche-Leser zu erkennen.4 Die Genies seien

3 Vgl. Gerhard N EUMANN, Artikel „Einakter“ in Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte gemeinsam mit Harald FRICKE, Klaus GRUBMÜLLER und Jan-Dirk MÜLLER, herausgegeben von Klaus WEIMAR, Band 1 A-G, Berlin/ New York, De Gruyter, 1997, S. 409-422, hier S. 421b. ZUM PROBLEM DER LÜGE BEI ARTHUR SCHNITZLER 187 stets von Abgangsapplaus begleitet, die Statisten stürben klanglos hinter der Szene. Sophie, angesichts des betrogenen Bräutigams, kommentiert denn auch: „Ja, sie haben schon etwas für sich, diese Menschen, die keine Genies sind, sondern ganz einfach brave Leute.“ (II, 505) Nun verlässt Falk den Raum und das Ehepaar Sophie und Konrad Herbot beginnt mit der Aufarbeitung der Daisy-Geschichte. Herbot behauptet, er habe erwogen, dem betrogenen Bräutigam die Wahrheit zu sagen, um dem ‚ewigen Lügenmüssen’ zu entgehen. Er habe aber schließlich eingesehen, ‚dass er es nicht tun durfte, schon wegen Daisys Familie’ nicht (II, 511), Lügen also als Schonung der anderen. Sophie widerspricht zunächst. „Sei wahr“, beschwört sie ihn. „Ich könnte ja alles verstehen, alles verzeihen, nur um das eine fleh ich dich an, spiele keine Komödie“. (II, 512) Und sie nimmt ihn dabei in Schutz mit Berufung auf das anthropologische Modell des guten Wesenskerns, der durch die Maske der kulturellen Rolle, die man spielt, nur verdeckt wird: „Was du da jetzt geredet, das warst ja nicht du. Es war manchmal ein Schein von dir, – der durch deine Maske leuchtet, aber du, du selbst, du warst es nicht.“ (II, 512) In diesem Augenblick lässt sich Edgar Gley, der Bräutigam Daisys, melden. Sophie erschrickt: Hat Daisy ihm vielleicht alles gestanden? Und sie schwenkt auf die Position ihres Mannes ein. Ja sie nimmt, als Betrogene, Partei für das ehebrecherische Paar. „Ihr wart unvorsichtig, gewiß“, sagt sie. „Du bist durchs Fenster eingestiegen in der Nacht. Man hat dich gesehen. –“ „Er nicht“, stellt Herbot klar, „sonst wäre er nicht erst heute da.“ (II, 513) Da wird Sophie zur Komplizin: „Einmal noch darfst du – mußt du lügen“, gesteht sie ihm zu. Herbot schickt Sophie aus dem Zimmer und lässt Edgar Gley eintreten. Dieser fällt mit der Tür ins Haus: „Ich habe eine Frage an Sie zu stellen, Herr Herbot. Antworten Sie einfach mit Ja oder Nein. Waren Sie Daisys Geliebter?“ (II, 514) „Herr Gley, ich bin fassungslos“ (II, 514), erklärt der Schauspieler – und lässt, ganz gegen diese Behauptung, alsbald ein Sprach- Feuerwerk von Lügen und halben Wahrheiten aufsprühen. Er erklärt sich bereit zu einem Duell. Aber Gley insistiert auf dem Bekenntnis der Wahrheit: „Wir wollen hier keine Szene mit großen Worten spielen, Herr Herbot, wir wollen […] miteinander reden wie zwei Männer […], wie zwei Menschen […], begreifen Sie endlich, daß hier ein Mensch vor Ihnen steht, Herr Herbot, der nichts anderes verlangt, als die Wahrheit, die Wahrheit, wie immer sie laute.“ (II, 515) Alles sei er zu ertragen imstande, nur nicht den Zweifel; alles könne er verzeihen, nur die Lüge nicht. Nicht als Rächer, nicht als Geck komme er, sondern als Mensch zu einem Menschen. Und Gley besteht darauf: „Die Wahrheit! Die Wahrheit!“ Und Konrad Herbot, gleichsam Pilatus parodierend, erwidert: „Was sind Worte?“ (II, 516)

4 Nietzsches Text „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“, 1883 entstanden, ist in der von Peter Gast besorgten Ausgabe aus dem Nachlass 1903 veröffentlicht worden. Friedrich NIETZSCHE, Werke in drei Bänden, dritter Band, hrsg. von Karl SCHLECHTA, München, Hanser, 1956, S. 309-322. 188 GERHARD NEUMANN

Und hierauf wiederum Herbot: „Menschenskind, wie einfach sehen Sie noch die Welt! Ja und Nein! Und Wahrheit und Lüge! Und Treue und Untreue! - Wenn es so einfach wäre, junger Fr – Herr Gley“ korrigiert er seinen gönnerhaften Versprecher. (II, 517) Zuletzt holt Herbot einen Brief Daisys vom Tag seiner Abreise aus der Tasche, in dem sie ihn abweist und fortschickt. Durch Herbots Rede und schließlich durch den Brief, den Herbot verliest, zeigt sich Edgar von der Unschuld des Schauspielers überzeugt. Er wirft den Brief nach genauer Prüfung ins Feuer und zieht sich zurück. Da taucht Sophie wieder auf. Sie hat die ‚große Szene’ Herbots vom Nebenzimmer aus verfolgt. „Jetzt kann ich dir’s ja gestehen“, sagt Herbot und charakterisiert damit die Szene einzig und allein als schauspielerisches Virtuosenstück, zuerst war ich auch recht schwach, „ich hab ein wenig Lampenfieber gehabt im Anfang, trotzdem ich nicht ganz unvorbereitet war“ (II, 522) – aber danach sei er zu großer Form aufgelaufen. Sophie stimmt ihm zu. Sie habe es sich wohl anders vorgestellt, fügt er hinzu: „Du hast dir gedacht, dass ich alles ableugnen werde.“ – „Und lügen“, fügt sie hinzu. „Lügen? Nein, Sophie. „Nur Dummköpfe leugnen.“ (II, 522) Und er fährt fort:

Nein, Sophie, es war nicht ausschließlich Lüge, es war mancherlei Wahres dabei. Das war gerade das Köstliche, wie es durcheinander gemengt war, das Wahre und das Falsche. Dadurch wurde es so absolut wahrscheinlich. Na, Gott sei Dank, jetzt kann man wieder ruhig atmen. (II, 522)

Nun stellt sich heraus: Das Datum des Briefes von Daisy war gefälscht. Es war der Anfangsbrief Daisys, den Herbot als Abschlussbrief zum besten gab. „Und der Brief – ich hab ihn schön gelesen, was? Der Brief, der in Wirklichkeit die Sache natürlich erst zum Klappen brachte, der war geradezu wie geschaffen, uns – wie soll ich sagen – als ein Alibi zu dienen.“ (II, 523) Und Herbot beteuert noch einmal den Kunstcharakter der ganzen Szene: „Es gab Momente, in denen ich so mitgerissen war – es hat nicht viel gefehlt und ich hätte die ganze Geschichte selber geglaubt.“ (II, 523) „Nein. Es fängt nicht an, es hört auf“, erklärt Sophie dem wieder erschienenen Dr. Falk. „Endgültig hört es auf […] Ich reise ab“ (II, 524) Das Ganze habe sie mit Ekel erfüllt: „Daß ein Mensch so lügen kann, das hab ich nie geahnt.“ (II, 524) Und wieder revidiert sie zuletzt ihren Trennungs- Entschluss um des Genies ihres Mannes Herbot willen. Als dieser erklärt, ohne ihre Anwesenheit in der Loge werde er nicht spielen, und vor ihr niederkniet und sie fragt: „Kommst du?“ antwortet Sophie zwar nicht; aber es heißt in der Bühnenanweisung: „nur ihre Miene drückt ihre Zustimmung aus.“ (II, 528) Das Paar verlässt das Hotel in Richtung Theater. ZUM PROBLEM DER LÜGE BEI ARTHUR SCHNITZLER 189

II

Zu diesem Text ist einiges zu sagen. Dieser Teil der Szene, die ich jetzt skizziert habe, bildet das Herzstück des Einakters, es ist die Inszenierung einer Theorie der Lüge und ihrer Rolle im kulturellen Feld. Dabei ist eine ganze Reihe von Beobachtungen hervorzuheben. Da ist zunächst die Zwiespältigkeit des Begriffs der Lüge: ‚Lüge ist nicht Lüge’, heißt es da. Für das Genie und den Durchschnittsmenschen gelten nicht die gleichen Regeln. Das Genie – in diesem Fall der Schauspieler – ist ein Virtuose der Lüge. In seinem Mund, in seinem Körperausdruck ist sie nicht mehr ein moralisches, sie wird zum ästhetischen Phänomen: sie wird zur kunstvollen Lösung eines Dilemmas! Ein Drittes sodann: Die Szene zeigt Spuren der Nietzscheschen Theorie von der Lüge, wie er sie in seinem Aufsatz „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ entwickelt hat. Es ist die Auffassung, dass der Mensch nur Sprache, nur Metaphern besitzt und keinen Zugang zur Wahrheit hat, mithin sein reden auch nicht als lügen verwerflich sein kann. „Wir wissen immer noch nicht, woher der Trieb zur Wahrheit stammt“, schreibt Nietzsche. „Denn bis jetzt haben wir nur von der Verpflichtung gehört […], nach einer festen Konvention zu lügen, herdenweise in einem für alle verbindlichen Stile zu lügen.“5 Nietzsches Sprachrohr ist Dr. Falk, der sich selbst als ‚unmoralischen Moraltheoretiker’ bezeichnet. Eine vierte These ist zu formulieren: Lüge erweist sich als ein Problem und notwendiges Element des Rollenspiels, als das Schnitzler jede soziale Kommunikation angelegt sieht. Es ist das Problem einer unausweichlichen theatralen Struktur in der Kultur, in der das Phänomen Lüge als Motiv und Triebfeder des Handelns notwendige Bedingung ist. Dies wird, als ein weiteres Argument, unter dem Aspekt der Lüge in der Paarbeziehung, genauer markiert: Komplizenschaft, die in der sozialen Rolle begründet ist, reicht weit über persönliche Kränkung hinaus. Ein letzter, besonders wichtiger Punkt betrifft aber dann die Machtspiele, die beim souveränen Verfügen über den Diskurs, aber auch beim Spielen und Zusammenspielen verschiedener Diskurse, Anwendung finden – zum Schaden der Schwächeren und weniger Erfolgreichen; der ‚braven’, wie Sophie sie nennt. „Wir Komödianten“, sagt Herbot an einer Stelle und beruft damit ein elitäres ästhetisches Modell, das in das Leben der Kultur und ihrer Wertewelt einwirkt. In der Großen Szene wird dieses Verhalten zum Erfolgsmodell. In den Letzten Masken, die im Folgenden zu behandeln sind, erweist es sich als Muster des Versagens, der Wirkungslosigkeit: ob Lüge oder Wahrheit, das ist nicht mehr relevant. Aus anderen Gründen als denen im Erfolgsmodell, wie zu zeigen sein wird. Das Kernstück des Einakters Die große Szene ist jene Situation, in der es Konrad Herbot durch Anzettelung einer ‚Komödie der Worte’ gelingt, den

5 Ibid., S. 314. 190 GERHARD NEUMANN betrogenen Bräutigam von seines, des Schauspielers Herbot, Unschuld zu überzeugen. Dies geschieht durch das geschickte, von Herbot virtuos gehandhabte Inszenieren und Überblenden verschiedener Diskurse. Der gefälschte Liebesbrief, den Herbot vorweist und der im Grunde dem sexuellen Diskurs zwischen ihm selbst und Daisy, zwischen Verführer und Verführter entspringt, dient ihm als Libretto eines empfindsamen Gegendiskurses zu diesem. Das corpus delicti wird so gewissermaßen verschüttet und mutiert, wie Herbot selbst sagt, zu seinem Gegenteil, einem alibi. Wo Herbot dem Bräutigam ‚in Wahrheit’ das ius primae noctis raubt, wird, ‚in der Lüge’, der Schleier der Unberührtheit über das sexuelle Faktum gelegt. Dies geschieht durch ein virtuoses doppelzüngiges Umcodieren des sexuellen Diskurses in einen empfindsamen Seelen-Diskurs: Dies ist die ‚große Szene’, die Herbots genialer Strategie entspringt: „ich war nicht ganz unvorbereitet“! Daisy wird in die Unschuld zurückdefiniert. Zwischen Herbot und Gley findet, von dem Schauspieler inszeniert, ein Kunstakt statt, der die fatale Situation durch virtuoses Reden bereinigt, den Künstler Herbot eine „Männerhochzeit“ (Wilhelm Raabe) mit Gley zelebrieren lässt. Die Frauen sind aus der Situation herausgedrängt: entweder als Zeugin, wie Sophie, oder als – freilich frivoles – Opfer dieses Vorgangs, wie die Braut Daisy. Das Argument der Leidenschaft dient paradoxerweise dazu, das Sexuelle zu verdecken. Es ist eine kunstvolle Strategie der Zweckentfremdung des empfindsamen Diskurses – eine ‚Komödie der Worte’. Es mag diese in der Ambivalenz der Sprache begründete Diskursverfälschung und die aus ihr herausinszenierte skrupellose Frivolität gewesen sein, die Schnitzler für seine Zeitgenossen so anstößig machte, dass sie ihn, anlässlich des Reigens, vor Gericht zitierte.

III

Schnitzlers Einakter sind Experimente auf exemplarische Fälle, ähnlich Mussets Proverbes dramatiques. Schnitzler arrangiert sie gern in Zyklen, die sie ins Licht einer kulturellen Leitvorstellung versetzen: in den von mir gegebenen Beispielen ins Zeichen der Lüge. So wie die Große Szene im Zyklus mit dem Titel Komödie der Worte steht, so erscheint der Einakter Die letzten Masken unter dem Thema Lebendige Stunden. Wie der gleichnamige Text, nämlich der Einakter Lebendige Stunden, deutlich macht, versteht Schnitzler darunter ein Aufscheinen der Lebenskraft, des authentischen, vitalen amoralischen Lebenswillens, jenseits der Differenz von Wahrheit und Lüge. Ist der Einakter Die große Szene eine Auseinandersetzung um Liebe, Lüge und Wahrheit, so das Stück Die letzten Masken eine solche um den Hass, den Tod und die angesichts seiner noch mögliche oder unmögliche Option für das, was man die ‚Wahrheit’ nennt. ZUM PROBLEM DER LÜGE BEI ARTHUR SCHNITZLER 191

Der erfolg- wie mittellose Journalist Karl Rademacher liegt im Sterben; in der Klinik, in welcher Dr. Halmschlöger Stationsarzt ist. Rademacher sitzt im sogenannten „Extrakammerl“ und dämmert dem Tod entgegen. Die erste Person, die auf der Bühne zu Wort kommt, ist der Schauspieler Florian Jackwerth, wie Rademacher dem Tod geweiht; er weiß es nur noch nicht. Was ihn als Schauspieler brennend interessiert, ist die Wahrnehmung und Darstellung des Todes. Er beobachtet die Sterbenden in der Klinik und erschreckt die Nachtschwester, indem er die Grimassen der Moribunden nachspielt. Als er sich über Rademacher beugt, um ihn zu studieren, ist er unsicher: „Meiner Seel’, ich hab’ gemeint, er ist schon tot!“ (I, 719) Aber Rademacher öffnet die Augen und Jackwerth gesteht ihm: „Ich hab’ einfach allen Leuten, auf die ich einen Zorn gehabt hab’, innerlich die fürchterlichsten Grobheiten g’sagt. Oh, das erleichtert, das erleichtert, sag’ ich Ihnen!“ (I, 722) Inzwischen ist Visite. Rademacher ist stark erregt. Er habe noch einen Wunsch, erklärt er dem Arzt: Er wolle seinen Jungendfreund noch einmal wiedersehen, den erfolgreichen und begüterten Alexander Weihgast. Es stellt sich heraus, dass Dr. Halmschlöger den berühmten Dichter persönlich kennt. Er erklärt sich bereit, ihn zu holen. „Meiner Ansicht nach sind gerade solche Dinge das Allerinteressanteste in unserm Beruf“ (I, 726: zugleich die Stimme des Autors Schnitzler!). Jackwerth fragt Rademacher nach dem Grund für seinen letzten Wunsch. Rademachers Antwort: Er habe einen tödlichen Hass auf Weihgast, der immer sein Rivale war und alles erreicht habe, was ihm, Rademacher, versagt geblieben sei. Er habe aus Rache Weihgasts Frau verführt und wolle ihm vor seinem Tod diese ganze Wahrheit ins Gesicht schleudern; ihn dadurch regelrecht vernichten. Es sei, so bekennt er, Jackwerth gewesen, der ihn auf die Idee mit der erleichternden Hass-Rede gebracht habe. Und der Schauspieler hat einen Einfall: Rademacher solle doch die Hass-Rede proben, bevor er sie ‚in Wahrheit’ halte. Er, Jackwerth, werde die Rolle des Rivalen Weihgast spielen; er sei vorzüglich, gerade im Extemporieren. Die Probe gelingt. Jackwerth schmettert pflichtschuldig: „Ha, Elender, du lügst!“ Die Hassorgie Rademachers zeigt sich so vollkommen wie es Herbots Redeschwall in der Großen Szene war, mit dem er den betrogenen Bräutigam Gley über die Wahrheit hinwegtäuschte. Weihgast kommt, die beiden sprechen miteinander. Rademacher erkundigt sich höflich nach Weihgasts Gemahlin und den Kindern. (I, 732) Er fügt ein Cliché an das andere – „So wird man alt, und das Leben nimmt seinen Lauf“ (I, 733) – und verabschiedet sich zuletzt von Weihgast mit den Worten: „Ich hab’ dich nur noch einmal sehen wollen, mein alter Freund, – das ist alles. Ja.“ Eine Lüge zuletzt. Er hat die ‚Wahrheit’ nicht über die Lippen gebracht. Rademacher zu Jackwerth: „Was hat unsereiner mit den Leuten zu schaffen, die morgen noch auf der Welt sein werden?“ (I, 735) Die letzten Masken ist ein Experiment auf die Lüge angesichts des Todes. Wie die Große Szene die Virtuosität der Lüge zeigt, die als Kunstwerk den 192 GERHARD NEUMANN

Triumph der Erfindung sogar über den Redenden und sein Besser-Wissen erzielt, so bleibt die Wahrheit, die im Angesicht des Todes, wie die gängige Meinung ist, durch nichts mehr aufgehalten werden kann, ungesagt. Die Differenz zwischen Wahrheit und Lüge ist erloschen. Beide Male sind es also Inszenierungen, die stattfinden, ein unausrottbares Insistieren auf dem Theater, als welches das Leben gespielt wird; die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge verwischend, die moralischen Unterscheidungen auflösend: einmal im Zeichen der genialen Schauspielkunst, das andere Mal im Zeichen der Gleich-Gültigkeit des Lebens im Todesaugenblick.

IV

Was die beiden Einakter, um die es hier geht, verbindet, ist, dass jeder von ihnen um das Theaterritual der Probe kreist. Herbot probt nicht, aber ist gut vorbereitet, improvisiert und erzielt einen gelungenen Auftritt. Rademacher macht eine Probe, um für das Gelingen vorbereitet zu sein, und verzichtet zuletzt auf die Aufführung. Die Probe markiert die Differenz zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Wahrheit und Erfindung. Dem genialen Herbot dient die Improvisation (und das sie stützende richtige Requisit, der Brief) zur Erreichung seines Ziels, nämlich der Umcodierung der erotischen Rede in eine empfindsame. Rademacher wird von einem Schmierenkomödianten eine Probe angedient, welche durch ihr Gelingen seiner Rache-Rede die ‚Wahrheit’ sichern soll. Aber er ist nicht professionell genug, diese Rede als ‚gelernte’ im Ernstfall zu reproduzieren. Und er ist als Sterbender nicht in der Lage, ihr moralisches Kapital auszumünzen. Was die Gegenüberstellung der beiden Einakter aus sich entlässt, ist das Repertoire aller möglichen Auffassung von dem, was ‚Lüge’ ist und sein kann. Diese reichen von der Infamie der Lüge bis zur Wohltat der schonenden Unwahrheit, der Empathie des Verschweigens. Einen Fächer dieser Möglichkeiten könnte man öffnen, aber dann auch gleich wieder schließen. Erstens: Lüge, wenn sie etwas Kostbares zerstört, ist infam. Es ist ein Standpunkt, den Sophie vertritt. Zweitens: Von maßgeblicher Bedeutung ist die – außerhalb der Moral gestellte – Frage, wer es ist, der lügt; also die Qualität des Lügners. Es gibt im Feld der Lüge hierbei zwei Positionen: einerseits die des Genies, das durch virtuose Strategien sein Ziel – mag es gut oder böse sein – erreicht; andererseits die des ‚Angeschmierten’, der die Wahrheit nicht verdient. Drittens: Der Umgang mit der Lüge ist in besonderer Weise das Tun des Schauspielers. Durch geschicktes Manipulieren gelingt es ihm, Diskurse in ihr Gegenteil zu verwandeln, sogenannte ‚Lüge’ in sogenannte ‚Wahrheit’ zu übersetzen. Die perfekte Intrige kann so weit führen, dass der ‚Lügende’ seine ZUM PROBLEM DER LÜGE BEI ARTHUR SCHNITZLER 193 eigene Geschichte für wahr hält. Es ist ein Musterfall der Selbstüberredung. (Konrad Herbot) Eigentlich sind wir alle Schauspieler. Viertens: In der Nachfolge Nietzsches gibt es den ‚unmoralischen Moraltheoretiker’, wie ihn Dr. Falk vertritt. Er hat die Lüge aus dem ethischen Feld herausgenommen, betrachtet sie aber in kulturkritischer Perspektive. In dieser zwiespältigen theoretischen Position unterscheidet er sich von jenen Theoretikern, die sich auf die Virtuosität der Lüge konzentrieren und diese allein im ästhetischen Feld ansiedeln. Fünftens: Daraus leitet sich ein weiterer Fall ab. Es ist der Standpunkt des Rhetorikers unter den Lügnern. Er stellt – mit Herbot – die Frage: ‚Was sind Worte’ und insistiert auf der Ambiguität der Sprache, die bei geschickter Behandlung Wahres und Falsches mischt und dadurch das beliebig ‚Wahrscheinliche’ plausibel macht. Sechstens: Noch einen Schritt weiter geht die antike Überlieferung, die im Sinne Platons Dichtung als Lüge verwirft. Hier wird auch das Argument der Metapher als unzuverlässiger Mimesis wirksam: eine Frage, die schon Aristoteles bei der Erörterung vom Menschen als dem Wesen stellt, das gerne nachahmt, und dem Wesen, das Lust am Ähnlichen hat. Die negative Seite dieses Gedankens – Nachahmung ist nicht das Original und Ähnlichkeit ist nicht Identität – wird dann zur Voraussetzung von Nietzsches Diffamierung der Metapher. Siebtens: Ein weiterer Punkt ist die Funktion der Lüge im Feld der Lebensarchitektur, des Aufbaus einer Karriere des Subjekts und der Krisen, die sich daraus ergeben: Goethe hat dies benannt, im Titel seiner Autobiographie. Hier hat die Lüge eine ästhetische, eine ethische, und eine empathische Funktion. Dies gilt namentlich auch für Biographien von Hochstaplern, wo die Lüge zum Inspirationsorgan wird. (Felix Krull) Achtens: Eine wichtige Position nimmt die Lüge im Kontext des ‚sich etwas von der Seele Redens’ ein. Dies geschieht durch Aufhebung der Lüge so gut wie durch neue, erfundene, die Situation bessernde Lügen, die so eine diätetische Funktion gewinnen. (Es ist die Position des schlechten Schauspielers Florian Jackwerth und in der Folge diejenige Rademachers.) Neuntens: Die Lüge ist ein Mittel der Schonung, des Mitleids, der (ärztlichen) Menschenfreundlichkeit – vielleicht auch der Bequemlichkeit. Schnitzler hat mit Bedacht das Sterbezimmer einer Klinik zum Ort solcher schonenden Lügen gemacht. Zehntens: Zuletzt sind diejenigen – als äußerstes Ende der Skala – zu nennen, die stricte auf Lügen verzichten, die Wahrheit zur Lebensform erheben, ‚in ihr wohnen’: Sophie nennt sie die ‚einfach Braven’ und der betrogene Bräutigam Gley verkörpert diese Spezies. Hinter all diesen aufgesplitterten Varianten der Lüge stehen in der Moderne wohl zwei deutlich unterscheidbare Theorien. Die erste fußt auf der Auffassung von der Metaphorizität der menschlichen Sprache, ihrer 194 GERHARD NEUMANN fortgesetzten, nicht arretierbaren Verschiebung der Referenz.6 Hier gibt es keine Instanz, die auf die Dichotomie von Lüge und Wahrheit rekurrieren oder sie gar sichern könnte. Die zweite Theorie nimmt Bezug auf ein anthropologisches Faktum, den unbändigen Drang des Menschen nach Inszenierung.7 Man hat dies das Argument von der Theatralisierung des Lebens genannt. Das Drama wäre dann, wie schon Aristoteles glaubhaft macht, die Urform der Kommunikation, der Mensch als Schauspieler ihr Protagonist. Auf beide Theorien nimmt Schnitzler implizit Bezug, in beide Traditionen stellt er seine Texte hinein: die Idee von der Theatralität und die Idee von der Ambiguität der Sprache. Wollte man eine Formel für Schnitzlers Umgang mit der Lüge finden, so müsste man sie im Feld der Ästhetik suchen, nicht der Ethik. Am lakonischsten ist eine solche Formel wohl Giuseppe Verdi gelungen. In einem Brief an Clara Maffei vom 20. Oktober 1876 schreibt er: „Die Wahrheit nachzuahmen mag eine gute Sache sein; aber es ist noch viel besser, wenn man die Wahrheit erfindet.“

6 Jaques Derridas Konzept der déconstruction und der différance beruht auf dieser Annahme. 7 Roland Barthes Kulturtheorie beruht im wesentlichen auf einer solchen Vorstellung der Inszenierung. Vgl. sein Buch S/Z, in dem er eine Novelle Balzacs unter dem Gesichtspunkt ubiquitärer Inszenierungen von der Geschlechterrolle bis zum Kunstakt analysiert: Roland BARTHES, S/Z, Paris, Éd. du Seuil, 1986. Un faux mensonge contre un vrai ? Imagination et réalité dans Amoralische Kinderklapper (1969) de Barbara Frischmuth

Hélène BARRIÈRE Aix-Marseille Université

Cinq enfants de trois à six ans, Robert, Lydia, Paula, Melchior et Leo ; une nurse, Annemarie ; une auberge, son grand jardin et ses alentours boisés, quelque part en Autriche ; un couple d’hôteliers, absorbés par leurs affaires : tels sont le décor et les personnages d’Amoralische Kinderklapper (Hochet amoral) de Barbara Frischmuth. Préciser tant soit peu cette épure exige de recouper les rares indications dispersées dans les dix-neuf petits textes de prose qui composent le livre, sans que la moindre continuité narrative en ordonne la succession. L’on obtient deux fois deux frères et sœurs, plus un petit orphelin : Paula (alias « Poppa, die lange Python ») et Leo, les enfants de la maison, hébergent leurs cousins Robert et Lydia (dits « Rhesus » et « Libby-Kuh ») ainsi que leur ami Melchior (surnommé « Freund Mowglie »), qui, pareil au héros de Kipling, a perdu ses parents1. Le lecteur doit se contenter de ces données parcimonieuses. L’équation conserve beaucoup d’inconnues, comme si l’univers de ces enfants devait se refuser à toute mise en formules. Tel est bien, en effet, le propos de l’ouvrage. Sous cet angle, la question du mensonge revêt un tour particulier, qu’un premier extrait va nous permettre d’esquisser. Un après-midi, à la belle saison, Annemarie est chargée de retenir les enfants au jardin tandis que l’on prépare en secret une gâterie pour leur goûter. Elle a bien du mal à les occuper :

1 À l’exception de Leo (mais son prénom contient déjà l’animal qui lui correspond et renvoie d’emblée au rôle de meneur de jeu dévolu à l’aîné de la petite troupe), le texte désigne toujours les enfants par leur surnom, sauf lorsqu’il rapporte les paroles qu’un adulte leur adresse. Singe (le Macacus rhesus est un macaque du nord de l’Inde), python et vache relèvent du même univers que Mowgli. En 1969, Le Livre de la jungle de Kipling (1894) jouit d’un regain de popularité : il a été porté à l’écran deux ans plus tôt par . 196 HÉLÈNE BARRIÈRE

Ich versteh nicht, was ihr im Haus wollt, sagt Annemarie, wo es doch so schön ist hier draußen. Wenn ihr wollt, können wir Kirschen vom Baum pflücken Es gibt keine Kirschen mehr, sagt Freund Mowglie. Die hat alle der Hagel gefressen, schreit Rhesus. Du lügst wie gedruckt, sagt Libby-Kuh, der Hagel kann gar nicht fressen. Du lügst, schreit Rhesus. Es heißt drücken. Ich kenn das Wort nur mit drücken. Mit dir kann man nicht reden, sagt Libby-Kuh.2

Rhesus, le mangeur de cerises, se trahit en appliquant à la grêle le verbe qui désigne sa propre voracité (« fressen »). Libby-Kuh pointe le mensonge de Rhesus, mais le syllogisme qu’elle emploie est tronqué : entre la conclusion « Du lügst wie gedruckt »3 et la prémisse « der Hagel kann gar nicht fressen » (Libby-Kuh bouleverse au passage l’ordre logique), manque le maillon « Du bist’s, der die Kirschen gefressen hat ». Par le biais de cette omission s’établit dans l’énoncé une équivalence entre mentir et contrevenir à l’usage, ici lexical. Libby-Kuh a en outre recours à la tournure « lügen wie gedruckt », dont l’origine est ainsi définie par les dictionnaires : l’écriture manuscrite trahit l’auteur, tandis que l’anonymat des caractères d’imprimerie, joint au respect qu’ils inspirent, protège le coupable et encourage le mensonge4. Pour qu’un mensonge passe inaperçu et produise les effets escomptés, il faut que l’infraction au code se dissimule sous l’autorité de la chose établie, que la voix du menteur se fonde dans un consensus. Libby-Kuh a donc déjà adopté, par mimétisme, la conviction dominante qui fait du mensonge un accroc au tissu du discours usuel ; mais pareil emploi de l’expression consacrée déroge à ce qui la fonde, puisque le mensonge incriminé est un échec. Son frère de trois ans, prenant à son tour modèle sur son aînée, dénonce comme « mensonge » l’entorse supposée à la formule toute faite, et commet, de même, une erreur de langage : « Du lügst, schreit Rhesus, es heißt drücken ». Selon un mécanisme proche de la règle mathématique des signes5, ces deux conformismes conjugués, auxquels l’ironie du texte confère la forme d’une double impropriété, débouchent sur la

2 Barbara FRISCHMUTH, Amoralische Kinderklapper, Frankfurt/ Main, Suhrkamp (st 224), 1975 [1re éd. Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 1969], « Windspiele », p. 47. Par la suite, le texte sera toujours cité dans l’édition de 1975, sous la forme : AKK page. L’orthographe est celle de l’éditeur. Les petits textes qui constituent l’ouvrage ne sont pas numérotés, conformément à une logique de refus du déroulement narratif. 3 La traduction française de cette expression ne saurait être littérale, elle exige le recours à une équivalence (« Tu mens comme tu respires »). Une telle transposition rendrait toutefois impossible l’analyse qui suit. Pour des raisons semblables, nous nous verrons contrainte, dans l’ensemble de cet article, de fonder notre propos exclusivement sur le texte allemand. 4 « Wer wie gedruckt lügt, der versteht es, seinen Lügen so gut den Schein der Wahrheit zu geben, dass man seinen Worten ebenso vertraut wie dem gedruckten Wort » (DUDEN 11, Redewendungen, Mannheim/ Leipzig…, Dudenverlag, 1992, p. 465). Ou encore : « Gemeint ist, dass die Handschrift ihren Urheber verrät, während die Druckerpresse anonym arbeitet : sie drückt auch die schlimmsten Lügen aus, und niemand kann sie dafür haftbar machen » (Heinz KÜPPER, Wörterbuch der deutschen Umgangssprache, Stuttgart/ München…, Klett, 1997, p. 508). 5 « Moins par moins donne plus » : le produit de deux nombres affectés d’un signe moins est une valeur positive. AMORALISCHE KINDERKLAPPER (1969) DE BARBARA FRISCHMUTH 197 mise en cause de la norme : « Es heißt drücken ». Le nouveau dérapage lexical du petit Rhesus (du lügst wie gedrückt) fait basculer le mensonge du côté de la soumission à l’usage, imposée par la pression exercée sur l’individu dès le plus jeune âge. L’enfant contestataire est en effet privé de voix, au nom de son immaturité linguistique : « Mit dir kann man nicht reden », telle est la conclusion sans appel de Libby-Kuh, reprenant la stratégie des adultes.

Nous voici au cœur du questionnement qui se déploie dans Amoralische Kinderklapper. Temps de l’apprentissage linguistique et social, l’enfance est aussi le terrain privilégié du jeu. Elle n’est pas encore tout à fait réduite à appliquer des règles ; elle parvient quelquefois à s’en saisir pour les faire jouer, elles aussi, et en desserrer l’étau. L’amoralité présente dans le titre renvoie non à la neutralité morale d’une nature opposée à la culture, mais à la force subversive d’une imagination qui fait fi des normes. L’intitulé choisi se réfère en effet au Moralische Kinderklapper (Hochet moral, 1794) de Karl August Musäus, plus connu pour ses Volksmärchen der Deutschen (1782- 1786). Pour guider son lecteur sur cette piste, B. Frischmuth reprend en tête de son ouvrage l’exergue dont Musäus a pourvu le sien : « Mais les maximes morales les mieux venues sont pour la jeunesse nulles et non avenues »6. Même si des travaux récents rectifient ce jugement7, Musäus possède la réputation d’un écrivain rationaliste qui n’accorde droit de cité au merveilleux que pour mieux le dissoudre dans la satire et l’ironie. À l’instar d’Eckart Herrmann8, nous sommes donc en droit de supposer que l’amoralité dont B. Frischmuth défend la cause est celle d’une imagination qui refuse de se laisser dicter la loi de l’opinion commune. Nous nous proposons de dégager les objectifs, les modalités et la portée de cette rébellion dont le pivot, comme nous l’avons entrevu, est la question du mensonge.

6 « Jedoch die treflichen Moralen sind bey der Jugend Nullen ohne Zahlen ». 7 Évelyne Jacquelin, par exemple, s’attache à revaloriser la place du merveilleux dans la littérature de l’Aufklärung et à montrer que le fantastique en émerge sans solution de continuité (« Merveilleux et fantastique allemands », in Valérie TRITTER (dir.), Encyclopédie du fantastique, Paris, Ellipses, 2010, p. 599-606, ici p. 599). Stefan Neuhaus observe que la stratégie narrative de Musäus ouvre la voie à E.T.A. Hoffmann et au Kunstmärchen (Märchen, Tübingen/ Basel, A. Francke Verlag, 2005, p. 78-88). 8 « Wenn Musäus sich über die Naivität und Wundergläubigkeit der Märchenerzählung lustig machte, indem er das Erzählte ironisch auflöste und es verstandesmäßig erklärte, so bemüht sich Barbara Frischmuth gerade um das Gegenteil, nämlich um die Auflösung der kalten, sterilen, merkantilen Verstandeswelt der Erwachsenen » (Eckart HERRMANN, « Bücher für uns. Ein literarisch-musikalisches Magazin, zusammengestellt und präsentiert von Ekkehart Rudolph », Süddeutscher Rundfunk [Stuttgart], SF II, jeudi 5.2.1970, p. 8 du script de l’émission). Document consulté au Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung der Karl- Franzens-Universität Graz (« Schwarzbauer »-Zeitungsausschnittssammlung). Cet institut abrite le Vorlass (don du vivant de l’auteur) de B. Frischmuth (manuscrits, correspondance…). 198 HÉLÈNE BARRIÈRE

Forum Stadtpark et le mensonge autrichien

Le passage que nous venons de lire suffit à le prouver : Amoralische Kinderklapper n’appartient pas à la littérature de jeunesse, mais s’adresse aux adultes. B. Frischmuth, par ailleurs auteur d’une douzaine de livres pour enfants, s’en est expliquée très clairement. Dans cet ouvrage, elle a pour ambition de donner à l’enfant une consistance littéraire, en le libérant de son statut fictionnel le plus courant : celui, autobiographique, d’incarnation du passé de l’auteur ou celui de personnage secondaire9. Pour autant, offrir aux enfants une voix véritable ne signifie pas reproduire le contenu des échanges enfantins, mais épier les mécanismes qui gouvernent ceux-ci et les faire jouer sous les yeux des adultes, afin de mettre en lumière les potentialités que la socialisation émousse et de défendre la légitimité de ces pistes abandonnées. B. Frischmuth souligne que ses enfants sont des « constructions », des « personnages de langage »10. Un tel vocabulaire rend un son connu: il renvoie, bien sûr, à Ludwig Wittgenstein. Non tant au philosophe du Tractatus logico-philosophicus (1921) qu’à celui des Philosophische Untersuchungen (1953), qui comprend le langage en sa totalité comme un jeu, fragmenté en de multiples jeux de langage, et invente des « jeux de langage » fictifs auxquels il assigne un double objectif : éclairer, par comparaison, le fonctionnement du langage ordinaire, et nous permettre de « relativiser nos concepts, [de] […] comprendre qu’ils ne sont ni les seuls possibles ni les meilleurs »11. L’on sait, en outre, que la critique de la conception augustinienne du langage qui forme le point de départ des Philosophische Untersuchungen se fonde pour partie sur les processus d’acquisition du langage par l’enfant12.

9 « Ich habe in einigen meiner Bücher, die keine Kinderbücher sind, versucht, das Kind als literarischen Gegenstand zu emanzipieren. Zu emanzipieren von der rein autobiographischen Rolle (das Kind, das der Autor einmal war) und von der Anhängsel- und Statistenrolle, indem ich Kinder als literarisch gleichrangige Personen behandelte. In meinen Kinderbüchern […] kommen oft gar keine Kinder vor. […] Während in meinem […] vor 20 Jahren erschienenen, nicht an Kinder adressierten Buch Amoralische Kinderklapper fast ausschließlich Kinder vorkommen, die auch gelegentlich aus Kinderbüchern zitieren » (Barbara FRISCHMUTH, « Lieb und ungestüm wie der Wind! », Die Welt, n° 286, 7 décembre 1990, p. XIII, Archiv des Franz- Nabl-Instituts für Literaturforschung, S-Publ.7.4.1.1.1.2.5, Mappe « Primärtexte : über eigene Werke »). 10 « [E]s ist halt wichtig, daß das Kind […] nicht nur als erinnertes, sondern auch als Konstrukt vorkommt. […] [I]n der Amoralischen Kinderklapper [habe ich] einmal versucht, die Kinder in ihrer Sprachwertung zu zeigen. Also erfundene Kinder, Kinder als Sprachfiguren » (« Gespräch mit Barbara Frischmuth », in Barbara FRISCHMUTH, Jahre. Zeit, Tschechow zu lesen. Unzeit. Bleiben lassen, textes choisis et présentés par Gisela ULRICH, Stuttgart, Klett, 1983, p. 108). 11 Christiane CHAUVIRÉ, Jérôme SACKUR, Le vocabulaire de Wittgenstein, Paris, Ellipses, 2003, p. 36. 12 Le § 6, notamment, met en évidence par l’emploi du mot « Abrichtung » le lien entre apprentissage linguistique et conditionnement social (Ludwig WITTGENSTEIN, Philosophische Untersuchungen, in Werkausgabe, vol. I, Tractatus logico-philosophicus, Tagebücher 1914- 1916, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 2006, p. 240). AMORALISCHE KINDERKLAPPER (1969) DE BARBARA FRISCHMUTH 199

Des enfants, Wittgenstein en a eu beaucoup. À la fin des années soixante, sa postérité comprend une part non négligeable de l’avant-garde littéraire autrichienne, au sein de laquelle B. Frischmuth se trouve en bonne compagnie : à dix-neuf ans, en 1960, elle a participé à la fondation du Forum Stadtpark de Graz, aux côtés d’un Alfred Kolleritsch ou d’un Peter Handke. Forum Stadtpark tente de soulever la chape de plomb du conservatisme politique et culturel qui pèse sur les premières décennies de l’après-guerre. Au mépris de l’irréparable césure du nazisme, l’establishment proclame la pérennité de l’Autriche millénaire, héritière de l’Empire romain et du Saint- Empire romain germanique, dont l’aptitude supposée à concilier les contraires est appelée à faire référence dans l’édification européenne à venir. Cet avatar affadi de « l’idée d’Autriche » hofmannsthalienne13 fonctionne comme modèle identificatoire, ciment de la reconstruction nationale et pivot de l’activité touristique qui la soutient14. À la faveur du Traité d’État de 1955 dont le préambule exonère le pays de sa responsabilité dans la Seconde Guerre mondiale, responsables politiques et culturels s’emploient à effacer les traces des années brunes. Tout ensemble maquillage délibéré et “simple” silence, ce mensonge opère par action et par omission. Le terme de Vergangenheitsverdrängung dont on l’a désigné depuis suggère en outre la complexité d’un phénomène auquel concourent motivations conscientes et inconscientes, mensonge d’État et besoin individuel d’échapper à la culpabilité. Les jeunes auteurs de Graz s’attaquent aux mécanismes profonds qui enrayent tout changement de paradigme politique et culturel. Ils pointent du doigt la « mythification », au sens barthésien, des structures existantes. « [L]e mythe », affirme Roland Barthes « est une parole choisie par l’histoire »15. Et de préciser :

Ce que le monde fournit au mythe, c’est un réel historique, défini, si loin qu’il faille remonter, par la façon dont les hommes l’ont produit ou utilisé ; et ce que le mythe restitue, c’est une image naturelle de ce réel. […] Le monde entre dans le langage comme un rapport dialectique d’activités, d’actes humains : il sort du mythe comme un tableau harmonieux d’essences. Une prestidigitation s’est opérée, qui a retourné le réel, l’a vidé d’histoire et l’a rempli de nature […].16

Les écrivains de Forum Stadtpark s’élèvent contre l’imposture d’une réalité donnée comme immuable, alors qu’elle n’est, selon eux, qu’une

13 Cf. Hugo von HOFMANNSTHAL, « Die Idee Europa » (1917) et « Die österreichische Idee » (1917), in Gesammelte Werke, vol. II, Reden und Aufsätze II 1914-1924, Frankfurt/ Main, Fischer, 1979, p. 43-54 et p. 454-458. 14 Cf. Albert BERGER, « Zur Funktion des Begriffs der “österreichischen Literatur” », in Sigurd Paul SCHEICHL, Gerald STIEG (dir.), Österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts. Französische und österreichische Beiträge, Innsbruck, Institut für Germanistik der Universität Innsbruck, 1986, p. 25-40. 15 Roland BARTHES, « Le mythe, aujourd’hui », in Mythologies, Paris, Seuil (« Points », 10), 1970 [1re éd. 1957], p. 194. 16 Ibid., p. 230 (c’est Barthes qui souligne). 200 HÉLÈNE BARRIÈRE construction langagière congruente à une forme de société qui entend se perpétuer à travers elle. Pour dénoncer ce mensonge, ils s’en prennent au fonctionnement usuel du langage. Imposé à l’enfant dès l’âge le plus tendre, le carcan des formules toutes faites l’empêche de penser ses expériences de façon autonome et le contraint à rester dans le rang :

Unhintergehbar ist […] den « Grazer » Autoren […] die Erfahrung, daß experimentelle Einstellung zur Sprache eingefahrene, verordnete Weisen der Wirklichkeitsaneignung und Wirklichkeitsinterpretation, Absolutheitsansprüche geschlossener Ideologien, naiven Sprachrealismus zu unterlaufen vermag und daß diese Art von Subversivität eine eigene, wenn auch sehr vermittelte Form öffentlichen, ja politischen Handelns darstellt.17

L’un des paradoxes de cette bataille qui se veut avant-gardiste est qu’elle s’inscrit dans toute une tradition. Celle qui va de Kraus et Wittgenstein (le premier ayant influencé le second18) au Groupe de Vienne, en passant par les avant-gardes historiques telles l’expressionnisme, le dadaïsme ou le surréalisme. Sans parler du “père fondateur”, Nietzsche, pour qui le langage est une convention rendue nécessaire par l’instinct grégaire de l’homme, la vérité une conformité à la désignation convenue des choses, et le mensonge un détournement des codes :

[W]eil […] der Mensch zugleich aus Noth und Langeweile gesellschaftlich und heerdenweise existieren will, braucht er einen Friedensschluss und trachtet darnach dass wenigstens das allergröbste bellum omnium contra omnes aus seiner Welt verschwinde. […] Jetzt wird […] das fixirt, was von nun an „Wahrheit“ sein soll d. h. es wird eine gleichmässig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge erfunden und die Gesetzgebung der Sprache giebt auch die ersten Gesetze der Wahrheit. […] [Der Lügner] missbraucht die festen Conventionen durch beliebige Vertauschungen oder gar Umkehrungen der Namen.19

Nous n’entrerons pas ici dans les débats menés par la critique sur la spécificité autrichienne que constitue cette avant-garde littéraire tardive20 – si l’on peut oser l’oxymore – ou sur la légitimité de l’étiquette avant-gardiste revendiquée par Forum Stadtpark21, qui subit l’influence décisive du Groupe

17 Kurt BARTSCH, « Damals vor Graz : Die verspätete Aneignung von Moderne und Avantgarde in der Literatur aus dem Umkreis von Forum Stadtpark Graz und der Zeitschrift manuskripte », Études Germaniques, 50e année, n° 2, avril-juin 1995, p. 300. 18 Cf. Allan JANIK, « Kraus, Wittgenstein et la philosophie du langage », Austriaca, n° 49, décembre 1999, p. 67-83. 19 Friedrich NIETZSCHE, « Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne », in Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV. Nachgelassene Schriften 1870-1873, éd. par Giorgio COLLI et Mazzimo MONTINARI, München, dtv, 1999, p. 877-878. 20 Cf. Klaus KASTBERGER, « Wien 50/60. Eine Art einzige österreichische Avantgarde », in Thomas EDER, Klaus KASTBERGER (dir.), Schluß mit dem Abendland ! Der lange Atem der österreichischen Avantgarde, Wien, Zsolnay (« Profile », 5), 2000, p. 5-7. 21 e Cf. Gunter FALK, Alfred KOLLERITSCH, « marginalie », manuskripte, 4 année, n° 12, 1964, p. 1 (cité dans Kurt BARTSCH, « Das Forum Stadtpark Graz und seine Zeitschrift AMORALISCHE KINDERKLAPPER (1969) DE BARBARA FRISCHMUTH 201 de Vienne né quelque dix ans avant lui22. Qu’il nous suffise de mentionner les fructueux échanges entre les jeunes écrivains de Graz et leurs aînés viennois : les premiers offrent aux seconds, dans leur revue manuskripte, une tribune qui leur permet de sortir de la quasi-confidentialité ; les seconds font profiter leurs cadets des pistes ouvertes par une rigueur programmatique et une radicalité littéraire qui font défaut à Forum Stadtpark. Ainsi, certains aspects d’Amoralische Kinderklapper ne sont pas sans rappeler la démarche de Hans Carl Artmann, l’une des figures de proue de l’avant-garde viennoise, dont l’écriture foisonnante et protéiforme échappe toutefois assez vite aux contraintes de groupe. C’est, du reste, le fils d’Artmann qui dessine la couverture de la première édition de l’ouvrage23. Peu encline, tout comme Artmann, au positionnement théorique, B. Frischmuth baigne toutefois dans cette effervescence littéraire, dont les préoccupations anticipent sur certains points le combat anti-autoritaire mené par les étudiants à la fin des années soixante. C’est en 1967 que la jeune femme, qui a déjà publié quelques textes dans manuskripte, fait ses véritables débuts : elle effectue une lecture remarquée du récit Meine Großmutter und ich lors de l’une des dernières réunions du Groupe 47. Un an plus tard paraît Die Klosterschule, qui la révèle au grand public. Dans le premier texte, B. Frischmuth dénonce le brouillage psychique que provoquent, chez l’adolescent, des principes éducatifs fondés sur un catholicisme à la fois férocement coercitif et d’une sensiblerie exacerbée ; dans le second, elle fustige la soumission aux structures patriarcales inculquée dans les internats catholiques de filles. Les jeunes enfants d’Amoralische Kinderklapper viennent compléter et élargir cette critique. L’ouvrage s’attaque cette fois au “formatage” social de la petite enfance et se penche sur des mécanismes plus généraux, moins étroitement liés à l’idéologie religieuse. Les armes de la dénonciation diffèrent. Die Klosterschule assemble à joints vifs des bribes de quotidien et des fragments de discours éducatif. Cette absence de liant narratif met à nu le mensonge d’un tout immuable et harmonieux, idéologie religieuse, politique et sociale autant qu’esthétique. Cependant, citation et montage condamnent l’écriture à ne pouvoir se dégager, dans le fond comme dans la forme, de ce

manuskripte in den 1960er Jahren. Eine Avant-Garde ? », in Kurt BARTSCH, Gerhard MELZER (dir.), Trans-Garde. Die Literatur der « Grazer Gruppe ». Forum Stadtpark und « manuskripte », Graz, Droschl, 1990, p. 12). 22 Certains, tel Reinhard Priessnitz, font ainsi grief aux premières productions des jeunes écrivains de Graz de n’être que « post-expérimentales », c’est-à-dire synthèse commercialement réussie entre expérimentation langagière calquée sur celle du Groupe de Vienne et modes de narration conventionnels (Reinhard PRIESSNITZ, Mechthild RAUSCH, « tribut an die tradition. aspekte einer postexperimentellen literatur », in Peter LAEMMLE, Jörg DREWS (dir.), Wie die Grazer auszogen, die Literatur zu erobern. Texte, Porträts, Analysen und Dokumente junger österreichischer Autoren, München, dtv, 1979, p. 126-152). 23 Cf. Reinhard URBACH, « AMORALISCHE KINDERKLAPPER », Wort und Wahrheit, n° 25, 1970, p. 89 (Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung, « Schwarzbauer »-Zeitungsausschnitts- sammlung). 202 HÉLÈNE BARRIÈRE qu’elle stigmatise24. Amoralische Kinderklapper défend, comme nous l’avons vu, les droits d’une imagination aux potentialités sinon intactes, du moins à peine altérées par l’éducation. Instrument de dénonciation, l’imagination est aussi outil de création. Non content de mettre au jour le mensonge d’un usage linguistique qui se donne pour LA vérité, le texte s’emploie à dessiner des constellations expressives inédites qui sont autant de mondes possibles.

Contre le mensonge de l’usage : le chatoiement fantastique du langage

Ces “débordements de langage” prolongent le rôle de trublion séculaire joué par l’imagination. Depuis l’Antiquité, la « folle du logis » constitue une menace pour la codification du discours. La rhétorique l’a placée au cœur des débats sur le possible et l’impossible, l’admis et l’interdit, le vrai et le faux ; elle l’a consignée dans les limites du raisonnable et du vraisemblable, plus ou moins étroites selon les époques. Ces discussions, trop vastes pour être retracées ici, ont été abondamment et excellemment étudiées, notamment par Renate Lachmann25. C’est au tournant du XIXe siècle, observe-t-elle, que l’imagination s’affranchit assez de ce qui la bride pour donner naissance à un nouveau mode d’écriture, le fantastique. Cependant, même alors, elle ne peut se déprendre entièrement des codes de la représentation mimétique. Ils lui demeurent nécessaires pour s’en démarquer. Ainsi le fantastique apparaît-il à R. Lachmann comme une intensification du régime fictionnel, poussé au-delà de ses limites – comme une hérésie :

[D]as Reale [kann] als die Präsenz einer funktionierenden Kultur […] interpretiert werden […]. Das Phantastische […] kann trotz seiner Aufkündigung der fiktionalen Darstellungsregeln und der versuchten Desintegration des Bestehenden nicht ohne die Welt des Realen, Möglichen, Rationalen bestehen.26

Vielleicht läßt sich sagen, daß die Phantastik als literarische Häresie auftritt, indem sie mit den Regeln spielt, die eine Kultur für ihren Fiktionsdiskurs geltend macht. In der Entstellung der Kategorien von Zeit, Raum und Kausalität überschreitet die Phantastik die Normen der mimetischen Konvention […]. Das Phantastische erscheint als eine Art “verschärfter Fiktion”.27

24 Il en est de même pour beaucoup d’écrivains de Forum Stadtpark à leurs débuts. On en a fait notamment reproche à Alfred Kolleritsch en sa qualité d’éditeur de la revue manuskripte : « Elisabeth Wiesmayr […] kritisiert, […] [n]egativ sei Kolleritsch […] selbst den Positionen verhaftet, die er anprangert » (BARTSCH, « Damals vor Graz », p. 293-294). 25 Renate LACHMANN, Erzählte Phantastik. Zur Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 2002. 26 Ibid., p. 10. 27 Renate LACHMANN, « E.T.A. Hoffmanns Phantastikbegriff », in Gerhard NEUMANN (dir.), “Hoffmanneske Geschichte”. Zu einer Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2005, p. 140. AMORALISCHE KINDERKLAPPER (1969) DE BARBARA FRISCHMUTH 203

Dans Amoralische Kinderklapper, l’« hérésie » fantastique n’opère pas au niveau de la fiction, mais s’installe à l’intérieur même du langage. Certes, là n’est pas l’originalité de B. Frischmuth :

Innerhalb einer weit gefaßten Konzeption hat jede Irrealisierung von Sprache ein phantastisches Moment, wie es etwa für die « kühne Metapher », generell für die sogenannte dunkle Lyrik und jedes sprachliche Erzeugnis einer nicht realitätsbezogenen Einbildungskraft gilt. note R. Lachmann28. Ce qui fait l’intérêt du texte, c’est la mise en bouches enfantines de ce langage fantastique : elle redouble l’offensive de l’imagination contre la mise en mots convenue du “réel”29. Nous voudrions à présent observer comment cet objectif est mis en œuvre. Afin de respecter le cadre imparti à cet article, nous nous limiterons à un petit nombre d’exemples. Il n’épuise pas toutes les pistes que l’ouvrage de B. Frischmuth ouvre à la réflexion sur le mensonge.

Monstres lexicaux

Le mode de distanciation intralinguistique qui rend le discours usuel « infamilier », pour emprunter à Philippe Forget le néologisme par lequel il traduit l’adjectif « unheimlich »30, prend la forme de monstres lexicaux. Ainsi dans le chapitre « Als die Wünsche noch an den Bäumen hingen », où Libby- Kuh et Freund Mowglie confrontent leurs goûts culinaires :

Magst du denn Blutwurst ? fragt Libby-Kuh. Es geht, sagt Freund Mowglie, aber lieber esse ich Hornochsenfilet […] und dazu ein Glas Essigundöl mit einem Eiszeitwürfel zu fünfzig Millionen.31

28 LACHMANN, Erzählte Phantastik, p. 13. Cf. aussi Christine LUBKOLL, Inge STEUTZGER, « Einleitung », in Christine LUBKOLL (dir.), Das Imaginäre des Fin de siècle. Ein Symposium für Gerhard Neumann, Freiburg im Breisgau, Rombach, 2002, p. 8 : « In der Literatur wird das Imaginäre vor allem über phantasmatische Bildwelten entbunden, aber auch über […] Experimente mit der Materialität der Sprache : Klang, Rhythmus, anti-mimetische Ausdruckskunst ». 29 L’adjectif « fantastique » apparaît sous la plume de certains critiques, mais sans mise en perspective historique ni justification plus poussée : « Erstaunlich ist die Sprachphantasie dieser jungen Autorin, erstaunlicher noch die Sicherheit, mit der sie im ganzen Buch den Sprechton der Kinder beherrscht und festhält : herb und phantastisch zugleich, hart an der Realität und dann wieder die Realität überspringend » écrit par exemple Elsbeth Pulver (« Barbara Frischmuth : Amoralische Kinderklapper », Schweizer Monatshefte [Zürich], 49e année, n° 9, décembre 1969, Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung, « Schwarzbauer »-Zeitungs- ausschnittssammlung). 30 Philippe FORGET, « Présentation : Hoffmann l’infamilier », in E.T.A. HOFFMANN, Tableaux nocturnes, vol. I, Paris, Imprimerie nationale, 1999, p. 47. Le terme est généralement rendu par « étrangement inquiétant », depuis la traduction par Marie Bonaparte de l’essai de Freud Das Unheimliche. 31 AKK 30. 204 HÉLÈNE BARRIÈRE

Les menus concoctés par les enfants comportent, dans leur incongruité, une bonne dose de poétique surréaliste. Mais alors que celle-ci érige l’arbitraire en valeur absolue32, les recettes enfantines prennent pour cible, avec plus de méthode qu’il n’y paraît, les repères du quotidien. Le texte lexicalise, par exemple, des partenariats culinaires consacrés par l’usage (« Essigundöl »). Il fige ainsi en mariages des alliances occasionnelles, mettant à l’index le carcan de l’habitude. Ou, au contraire, il disloque un composé lexicalisé (Eiswürfel) en y enfonçant le coin d’un substantif nouveau (Zeit), qui entre à son tour en composition avec l’un des éléments initiaux (Eiszeit) et fait éclater les distinctions espace-temps, concret-abstrait (« Eiszeitwürfel »). Ou bien encore il brouille les lois de la composition elles- mêmes, comme dans « Hornochsenfilet », où Ochse paraît osciller entre Horn et Filet, sans parvenir à trouver sa place dans le trio. Allié potentiel de l’un comme de l’autre, il est pourtant malvenu au milieu des deux : le composé ainsi formé fonctionne non comme un exhausteur de goût, mais de bêtise : le filet d’un corniaud (Hornochse) n’en est-il pas le meilleur morceau ? Éliminer Ochse s’avère tout aussi impossible (Hornfilet), sous peine d’un oxymore qui annihile l’opposition dur-tendre. Dans cette altération des catégories du temps et de l’espace, cet anéantissement des distinctions logiques, cette irrésolution, l’on aura reconnu bien des éléments qui, de l’avis des spécialistes, caractérisent le fantastique33. Quant à l’oxymore, il est au cœur de l’une de ses définitions récentes :

Das Phantastische basiert auf einem Verfremdungsverfahren, das ein reguläres Realitätssystem durch ein zweites, wunderbares Realitätssystem in Frage stellt. […] Das Phantastische als “kosmologisches Oxymoron” ist Konkurrenz und Negation. Es setzt sich aus Realitätssystemen zusammen, denen es sich gleichzeitig verweigert.34

Principe de fonctionnement du fantastique, la contradiction est aussi, selon Harald Weinrich, celui de toute métaphore. Contrairement à l’opinion reçue, les métaphores les plus audacieuses ne sont pas, à ses yeux, celles qui possèdent l’« amplitude métaphorique » (Bildspanne) la plus grande, mais celles où comparant et comparé sont sémantiquement peu éloignés. Le « lait noir de l’aube »35 de Paul Celan recèle d’après lui plus d’audace que les

32 « Pour moi, la plus forte [image surréaliste] est celle qui présente le degré d’arbitraire le plus élevé […] ; celle qu’on met le plus longtemps à traduire en langage pratique » (André re BRETON, Manifeste du surréalisme, Paris, Gallimard (« Idées », 23), 1977 [1 éd. 1924], p. 52. 33 Ce constat est à présent assez consensuel. Nous n’évoquerons ici que l’étude de Tzvetan Todorov, parfois controversée mais à maints égards pionnière, et sa formule demeurée célèbre : « Le fantastique, c’est l’hésitation éprouvée par un être qui ne connaît que les lois naturelles, face à un événement surnaturel » (Introduction à la littérature fantastique, Paris, Seuil (« Points », 73), 1976 [1re éd. 1970], p. 29 ; voir aussi p. 122-126). 34 Uwe DURST, Theorie der phantastischen Literatur, Münster, LIT Verlag, 2010, p. 116. 35 « Schwarze Milch der Frühe » (Paul CELAN, « Todesfuge », in Ausgewählte Gedichte, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 1979, p. 18). AMORALISCHE KINDERKLAPPER (1969) DE BARBARA FRISCHMUTH 205

« parfums pourpres du soleil des pôles » de Rimbaud36, car la métaphore de Celan ne nous transporte pas en territoire inconnu, mais déroge simplement à la couleur d’un breuvage familier37.

Gerade die Nahmetaphern sind befremdend und verfremdend und erscheinen uns als kühn. Fernmetaphern sind ungefährlich. Wir sind in der Sprache Rechtgläubige, die Heiden eher verzeihen als Häretikern.38

Les composés métaphoriques de B. Frischmuth relèvent de cette hérésie impardonnable. Ils constituent de véritables « outils démiurgiques »39. Le contexte culinaire les ancre dans un quotidien que leurs pirouettes sémantiques redessinent à plaisir. Ils soumettent les références religieuses et culturelles à un traitement linguistique inédit qui les désacralise et les prive de leur fonction de repères. Libby-Kuh, en quête d’une boisson propre à accompagner son plat favori, reçoit de Mowglie le conseil : « Dazu paßt am besten leberfarbener Puschkinfäustesaft mit einem Drechsel-Löffel zum Umspiralen40. » La Scène de Faust de Pouchkine (1828), cachée sous un pluriel qui dément l’unicité de l’œuvre d’art et lui confère la violence d’un coup de poing, se métamorphose en jus de fruit à la sombre couleur – version light de la vodka auquel le poète russe fut contraint de prêter son nom41. Libby-Kuh et Mowglie, que Poppa met ensuite au défi de deviner le cadeau d’anniversaire qu’elle désire, poursuivent leur recomposition du paysage culturel :

[D]iesmal wünsch ich mir […] was[, sagt Poppa]. Was denn ? fragt Libby-Kuh. Etwas Extraartiges. […] [E]inen Rosmarien-Kranz oder einen Thymerjahn ? fragt Freund Mowglie.42

Rosenkranz, le courtisan qui trahit l’amitié de Hamlet et dont le nom signifie « rosaire », s’ensauvage et revêt les senteurs provençales du romarin (Rosmarin) ou du serpolet (Marienkranz, appellation populaire du Quendel). Le Turnvater Jahn, symbole d’un nationalisme aux relents racistes et xénophobes fustigé par Heinrich Heine, voit son patronyme changé en prénom exotique (Erdjan) et fleurant bon le thym (Thymian) de la garrigue43.

36 Arthur RIMBAUD, « Métropolitain » (Illuminations), in Œuvres, éd. par Suzanne BERNARD, Paris, Garnier, 1960, p. 291. 37 Harald WEINRICH, « Semantik der kühnen Metapher » [1963], in Anselm HAVERKAMP (dir.), Theorie der Metapher, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1983, p. 325-328. 38 Ibid., p. 328. 39 « demiurgische Werkzeuge » (ibid., p. 331). 40 AKK 30. 41 « Puschkin » est depuis 1959 une marque de vodka dont la recette, importée en Allemagne par des émigrés fuyant la révolution russe, remonte aux années 1920. 42 AKK 31. 43 Nous tenons à remercier Ch. Januel, K. Wimmer, H. Berke et W. Fink d’avoir attiré notre attention sur la proximité entre Thymerjahn et Dummerjan (imbécile), dont l’équivalent 206 HÉLÈNE BARRIÈRE

Le rattachement à la sphère sensorielle des saveurs et des odeurs charge les repères culturels ainsi détrônés d’une vitalité qui les déploie dans des directions nouvelles.

La lettre morte ressuscitée : propre et figuré

Cette dynamique habite le texte de bien d’autres manières encore. À Poppa qui raille l’incapacité de Libby-Kuh et Mowglie à trouver ce qui lui ferait plaisir, ce dernier propose pour finir : « Oder eine Faß-Taube oder einen Pech-Vogel […]44 ? » La substitution d’une seule lettre à une autre dote l’inanimé d’une vie étrange, transformant une douve45 (Fassdaube) en pigeon (Taube). L’imagination enfantine insuffle vie à la lettre “morte” du sens abstrait : le « Pech-Vogel »46, placé sur le même plan grammatical que « Faß-Taube », redevient oiseau. Le trait d’union permet en quelque sorte d’en visualiser l’envol libérateur hors de la cage du mot composé, figé dans son sens figuré. T. Todorov, qui au cœur de la vague structuraliste du début des années soixante-dix est le premier à s’intéresser au fantastique comme discours, voit dans ce jeu sur le propre et le figuré l’un de ses ressorts : le fantastique « naît souvent de ce qu’on prend le sens figuré à la lettre »47. Ainsi en va-t-il par exemple dans Vera de Villiers de l’Isle-Adam, où le récit réalise le sens propre de l’incipit « [l]’Amour est plus fort que la Mort », inspiré du Cantique des Cantiques48, et redonne vie à une femme éperdument aimée. Le chapitre d’Amoralische Kinderklapper intitulé « Wie die Rede auf den Tod kommt » repose sur ce mécanisme. Les enfants, en révolte contre le programme de jeu imposé par Annemarie, se roulent dans l’herbe du jardin et la mordent à belles dents (« die Kinder […] beißen ins Gras »49). “Mourir” les place hors d’atteinte, tout en leur laissant le loisir de tourmenter d’une façon ou d’une autre les “vivants”. Mais tel est pris qui croyait prendre : Annemarie, laissant tomber sur eux quelques poignées de terre, leur donne une sépulture. Les voici condamnés à trouver le calme et le repos – éternel de préférence ! Se voyant devinés, ils parviennent à lui faire enjamber une vieille

autrichien est Dummian. Cette parenté, qui nous avait échappé, ne contredit cependant pas l’interprétation que nous proposons, ainsi que l’indiquent le choix du terme allemand et le h de « Thymerjahn ». 44 AKK 31. 45 Planche servant à la fabrication des tonneaux. 46 Le terme « Pechvogel » désigne un être malchanceux. La formule « avoir la poisse », à laquelle ne correspond aucun substantif français, relève de la même image que l’allemand « Pech haben ». 47 TODOROV, Introduction à la littérature fantastique, p. 82. 48 « Fort comme la Mort est Amour » (Ancien Testament, TOB, Paris, Éd. du Cerf, 1987, p. 1610). 49 AKK 8. L’équivalent français de cette figuration imagée de la mort est « mordre la poussière ». AMORALISCHE KINDERKLAPPER (1969) DE BARBARA FRISCHMUTH 207 lame de rasoir dissimulée sous un livre et l’attirent ainsi dans la mort, lui assignant la condition subalterne dévolue à la moindre ancienneté :

Wir haben dich über die Klinge springen lassen50 [, sagt Leo,] und jetzt bist du

genauso tot wie wir, nur daß dich noch niemand beerdigt hat. […] [U]nd du hast überhaupt nichts zu reden, denn du bist noch lang nicht so lang tot wie wir.51

Une situation concrète (« ins Gras beißen », « über die Klinge springen ») s’est au fil du temps dématérialisée en figuration abstraite, euphémique, de la douleur mortelle. Pareille édulcoration tient la mort à distance ; sa fécondité (leitmotiv des mythes, dans lesquels la mort accouche de la vie au rythme d’un temps circulaire) est bridée par ce processus. La remise en “jeu” d’expressions figées permet aux enfants de prendre possession de la mort, de la réintégrer à la vie.

Faux- et “vrai”-semblant

Abolir la frontière entre propre et figuré conduit, pour finir, à effacer celle qui sépare imagination et réalité. C’est ce qu’illustre la suite du chapitre, où, une fois “morts”, les enfants trouvent le temps long :

Und jetzt spucken wir, sagt Rhesus, ja? und spuckt sich einen Spuckerling vor die eigenen Füße. Das können wir erst um Mitternacht, fährt Leo ihn an. Und was machen wir, bis es Mitternacht wird ? […] Ich weiß was […]. Annemarie steht vom Boden auf und holt den Wecker von der Kommode. Es genügt doch, wenn wir den Zeiger nach vor richten. Du mogelst, sagt Freund Mowglie, und Tote sollten sich wirklich schämen, so etwas zu tun. Da räkelt sich Poppa, die lange Python, und sagt, ich weiß […] was Besseres, wir spielen als ob. Als ob was ? fragen die anderen. Hört her. Es ist als ob es schon finster wäre, als hätte es eben zwölf geschlagen und wir wären auferstanden. Es ist aber nicht als ob, sagt Annemarie, wir wollen doch nur so tun als ob. Wenn wir so tun als ob, dann ist es als ob, sagt Leo […].52

Chez Leo, l’aîné des petits compagnons, l’assimilation des codes de représentation usuels (mimétiques et non mimétiques) est plus avancée que chez Rhesus, de trois ans son cadet. Contrairement à ce dernier, il entend respecter la tradition qui fait de minuit l’heure où s’éveillent les fantômes. Mais Leo n’a pas encore renié la cause de l’imagination. Il prend la logique commune à son propre piège : le « tun » du « tun als ob », restauré dans toute

50 L’expression française correspondante est « passer au fil de l’épée ». 51 AKK 10-11. 52 AKK 11. 208 HÉLÈNE BARRIÈRE son intensité de verbe d’action, ancre dans la réalité les virtualités envisagées : « Wenn wir so tun als ob, dann ist es als ob ». Dans la bouche de Leo, s’inverse l’opération gouvernée d’ordinaire par « als ob » : au lieu de substituer du virtuel à du réel, il change le virtuel en réel. Ce faisant, Leo radicalise aussi l’usage habituel de cette locution conjonctive dans les récits fantastiques. T. Todorov range en effet « comme si » au nombre des formules modalisantes (« on eût dit », « il semblait que », etc.) destinées à favoriser la concurrence entre une interprétation des faits conforme à la représentation convenue du réel et une explication qui y contrevient53. Leo, lui, fait de l’imagination en action (le jeu) un territoire du réel extensible à l’infini. L’adulte se “prête” au jeu des enfants, mais ne se “donne” jamais : sa participation repose sur le faux-semblant. En avançant le réveil, Annemarie se livre en effet à une manipulation superficielle (« Es genügt doch, wenn… »), qui s’exerce sans risques sur la figuration arbitraire d’une réalité impalpable, le temps. Mowglie dénonce ce respect de pure façade à la règle du jeu (« [d]u mogelst »), peu compatible avec la droiture que l’on suppose aux morts. Selon l’adage que Mowglie semble avoir déjà fait sien, la mort ne sonne-t-elle pas pour tout vivant l’heure de vérité ? En jouant à « comme si », l’enfant se réclame, pour sa part, de ce que l’on pourrait nommer le “vrai-semblant”, opposé à la vraisemblance : la seconde se définit, si l’on suit Gérard Genette, par la conformité à l’opinion commune, comprise comme « un corps de maximes et de préjugés qui constitue tout à la fois une vision du monde et un système de valeurs »54 ; le premier comme l’exploration concrète des pistes ouvertes par l’imagination.

Raconter des histoires

Les enfants d’Amoralische Kinderklapper, campés comme les défenseurs d’une juste cause, ne sont-ils pas trop beaux pour être vrais – et même pour être inventés ? Non pas : nous les avons pris en flagrant délit de mensonge, les avons vu peu à peu contaminés par le discours dominant. L’ouvrage les montre en outre, dans le chapitre « Der Leichenschmaus », se repaissant de corps dépecés, béants ou atrocement boursoufflés – détails macabres dont Poppa agrémente son récit de la mort violente de ses grands-parents. Dans le chapitre « Die Wildnis », ils sont des Indiens en chasse mettant à mort un chat baptisé pour l’occasion « bête sauvage » (« wildes Tier »), à la grande indignation d’auditrices horrifiées55 qui alertent presse écrite et société protectrice des animaux56. Et les adultes, tous des menteurs ? Il conviendrait

53 TODOROV, Introduction à la littérature fantastique, p. 85-86. 54 Gérard GENETTE, « Vraisemblance et motivation », in Figures II, Paris, Seuil (« Points », 106), 1979, p. 73. 55 L’Österreichischer Rundfunk (Ö 1) diffuse le 11 mai 1970 la lecture de cet extrait. 56 Cf. la lettre de Benita Bammer au Kurier (11 mai 1970) et celle de Grete Nemec au Wiener Tierschutzverein, dont le vice-président Dr. A. Huber proteste à son tour le 14 mai 1970 AMORALISCHE KINDERKLAPPER (1969) DE BARBARA FRISCHMUTH 209 de s’interroger sur leur part de conscience et de responsabilité dans l’élaboration et la transmission de la doxa qu’ils imposent à leur progéniture. Les éducateurs ne sont-ils pas tous des éduqués ? Et la langue, comme le pense toute une lignée de théologiens, philosophes, théoriciens et écrivains, qui va de saint Augustin aux groupes de Vienne et de Graz, en passant bien sûr par Wittgenstein57, ne ment-elle que par l’usage qui en est fait ? Ne faudrait-il pas par exemple confronter l’optimisme professé à cet égard par H. Weinrich dans Linguistik der Lüge58 aux réserves émises par Friedrich Kainz dans Über die Sprachverführung des Denkens59 ? L’intentionnalité du mensonge est un critère de définition dont le maintien, ainsi que le remarque Jochen Mecke dans son essai « Lüge und Literatur. Perspektivenwechsel und Wechselperspektive »60, resserre par trop l’acception du terme, mais dont l’abandon l’élargit à l’excès. Qu’on le conserve ou l’élimine, qu’on fasse des tournures usuelles un mensonge ou non, délibéré ou pas, il convient en tout cas de nuancer les fondements de la bataille engagée par les auteurs de Forum Stadtpark contre phrases toutes faites et formules figées. L’on se doit aussi d’observer qu’elle débouche sur l’aporie d’un langage dynamité, inutilisable pour communiquer. Les écrivains de Graz sortiront de cette impasse, chacun à sa manière61. Ainsi que le note G. Melzer, B. Frischmuth demeurera fidèle à l’enfance, comprise non comme tranche initiale de la vie humaine, mais comme force d’ébranlement de la chose établie, fluidité qui métamorphose à l’infini une réalité donnée pour intangible62. Renonçant à l’aura avant-gardiste qui nimbe les jeunes auteurs

auprès de la direction des programmes de l’ÖRF (Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung, « Schwarzbauer »-Zeitungsausschnittssammlung). 57 Cf. les paragraphes 241 et 249 des Philosophische Untersuchungen : « “So sagst du also, daß die Übereinstimmung der Menschen entscheide, was richtig und was falsch ist ?” – Richtig und falsch ist, was die Menschen sagen ; und in der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform » ; « (Das Lügen ist ein Sprachspiel, das gelernt sein will, wie jedes andre.) » (WITTGENSTEIN, Philosophische Untersuchungen, p. 358 et 356, c’est Wittgenstein qui souligne). 58 re Harald WEINRICH, Linguistik der Lüge, München, Beck, 2000 [1 éd. 1966]. 59 Friedrich KAINZ, Über die Sprachverführung des Denkens, Berlin, Duncker & Humblot, 1972. 60 Jochen MECKE, « Lüge und Literatur. Perspektivenwechsel und Wechselperspektive », in Jörn MÜLLER, Hanns-Gregor NISSING (dir.), Die Lüge. Ein Alltagsphänomen aus wissenschaftlicher Sicht, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2007, p. 67. 61 Pour Peter Handke, par exemple, le tournant se situe en 1972 avec Wunschloses Unglück, texte dans lequel il tente d’écrire sur sa mère qui vient de se suicider (cf. Wendelin SCHMIDT- DENGLER, Bruchlinien, Salzburg/ Wien, Residenz, 1995, p. 254-268). 62 « [S]o geht es […] darum, dem Prinzip der Verfestigungen und verhärteten Geltungsansprüche einen Zustand permanenter Verwandlung entgegenzusetzen. Frischmuth faßt diese Polarität als Gegensatz von Herrschaft und Kindschaft […] : nicht den biologischen Lebensabschnitt will sie festhalten, sondern die Offenheit und Wandlungsfähigkeit, die ihn kennzeichnet » (Gerhard MELZER, « Die Flügel der Kinder. Herrschaft und Kindschaft bei Barbara Frischmuth », in Daniela BARTENS, Ingrid SPÖRK (dir.), Barbara Frischmuth. Fremdgänge. Ein illustrierter Streifzug durch einen literarischen Kosmos, Salzburg/ Wien…, Residenz, 2001, p. 130, c’est G. Melzer qui souligne). 210 HÉLÈNE BARRIÈRE de Forum Stadtpark, B. Frischmuth renouera dans les années soixante-dix avec le récit et avec des modes d’écriture inscrits dans une tradition, tel le merveilleux. “Raconter des histoires”… Élargir l’éventail des possibles… N’est-ce pas, au fond, la plus belle preuve de respect envers le réel que la littérature puisse donner ?

Segensbetrug oder Spaß? Thomas Manns Die Geschichten Jaakobs und die Genesis

Charlotte JANUEL Aix-Marseille Université

Eine der bekanntesten Lug- und Truggeschichten der Weltliteratur dürfte wohl die Erschleichung des Erstgeburtsrechts durch Jakob im Alten Testament sein (1. Mose 27). Abraham, seinem Großvater, war von Gott versprochen worden, dass er Urvater eines großen Volkes werden solle, zahlreich „wie die Sterne am Himmel” (1. Mose 22, 17) und seinen Feinden überlegen. Isaak, sein Sohn, bekommt mit seiner Frau Rebekka Zwillinge: Esau und Jakob. Die Zwillinge könnten unterschiedlicher nicht sein: Esau, schon bei der Geburt „rötlich und rauh wie ein Fell” wird zum Jäger, Jakob, „ein sanfter Mann”, bleibt „in den Hütten“ (1. Mose 25, 25-27). So ungleich wie die Eigenschaften ist auch die Elternliebe zwischen den Geschwistern verteilt: „Und Isaak hatte Esau lieb, und aß gern von seinem Weidwerk; Rebekka aber hatte Jakob lieb“ (1. Mose 25, 28). Der Konflikt ist also vorprogrammiert: Durch Geburt ist Esau – wenn auch nur ganz geringfügig – der Ältere. Er wird außerdem von seinem Vater, auf dem der Segen Gottes liegt, vorgezogen. Er hat das Recht auf seiner Seite. Andererseits zeigen uns die Informationen, die wir zu seinem Lebenswandel bekommen, dass er dieses Erbe nicht so recht verdient, selbst wenn er formal der Ältere ist. Unsere Sympathie gilt also eher dem Jüngeren. Um das Ganze auf die Spitze zu treiben, erzählt uns die Bibel, dass Esau seine Erstgeburtsrecht um das sprichwörtlich gewordene Linsengericht an Jakob verkauft hat, wobei die völlig absurde Relation von Ware und Kaufpreis sofort ins Auge springt. Als Isaak alt und inzwischen fast blind geworden ist, will er seinen Erstgeborenen segnen. Er ruft Esau zu sich, bittet ihn, ein Wild zu jagen und daraus ein Mahl zu kochen. Dies hört Rebekka. Sie ruft Jakob sofort zu sich und hat auch schon einen Plan: Jakob soll zwei Böcklein schlachten, und sie wird ihrem Mann dann ein Essen zubereiten, wie er es liebt. (1. Mose 27, 9). Damit soll Jakob zu seinem Vater gehen, sich für Esau ausgeben, und so den 212 CHARLOTTE JANUEL

Segen erschleichen. Dieser hat zunächst Bedenken, die allerdings nicht grundsätzlicher Art sind: „Siehe, mein Bruder Esau ist rauh, und ich glatt; so möchte vielleicht mein Vater mich betasten und ich würde vor ihm geachtet, als ob ich ihn betrügen wollte; und brächte über mich einen Fluch und nicht einen Segen“ (1. Mose 27, 12). Aber Rebekka hat auf alles eine Antwort; sie zieht ihrem Sohn Esaus beste Kleider an, so dass er wie sein Bruder riechen wird. Damit er sich auch anfühlt wie Esau, der Behaarte, legt Rebekka ihm vorsorglich das Fell des Böckleins um Hände und Hals. Mit möglichst allen ihm zur Verfügung stehenden Sinnen soll Isaak fühlen, riechen, schmecken, dass hier der Richtige seinen Segen erbittet. Einzig sein Gehör (sehen kann er ja nicht mehr) kann ihn noch zweifeln lassen – kann sich Jakob auch die Stimme Esaus zu eigen machen? Der Plan funktioniert, obwohl Isaak Zweifel an der Identität seines Sohns anmeldet: „Die Stimme ist Jakobs Stimme, aber die Hände sind Esaus Hände“ (1. Mose 27, 22). Zweimal muss Jakob versichern, dass er wirklich Esau ist, bevor sein Vater ihn segnet. Als kurze Zeit später Esau mit dem von ihm gekochten Mahl beim Vater eintrifft, kann Isaak nur konstatieren: „Dein Bruder ist gekommen mit List, und hat deinen Segen hinweg“ (1. Mose 27, 35). So wie diese Geschichte erzählt wird, kann sie als Schulbeispiel der Lüge verstanden werden. Peter von Matt widmet ihr ein Kapitel in seinem Buch Die Intrige – Theorie und Praxis der Hinterlist: „Diese Geschichte ist in höchstem Maße skandalös. Sie ist ein Bericht über Lug und Trug, wobei die göttliche Macht diesen Lug und Trug offensichtlich anerkennt.“1 Als Thomas Mann in den Zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts anfing, seinen großen Josephroman zu schreiben, konnte er davon ausgehen, dass die biblische Geschichte jedem seiner deutschen Leser bekannt war. Wie sie im Roman erzählt wird, finden wir in den Geschichten Jaakobs im vierten Hauptstück unter dem Titel „Der große Jokus“, das mit den Worten „in Wahrheit wurde niemand betrogen, auch Esau nicht“ beginnt.2 „Jokus“? „Niemand wurde betrogen“? Wie kann Thomas Mann das behaupten, ohne seine zeitgenössischen Leser zu schockieren? Werden sie nicht diesen offensichtlichen Widerspruch zur Bibel als Verfälschung eines allseits bekannten Textes wahrnehmen? Wie wird es möglich, den Leser glauben zu machen, dass es sich hier um einen großen Spaß handelt, bei dem „die Leute johlen vor Lachen“? (S. 157). Welche Kniffe und Listen wendet der Autor an, um seinen Leser dahin zu lenken, wohin er ihn haben will? Im Folgenden soll gezeigt werden, wie es in den Geschichten Jaakobs gelingt, dem Leser diese Umschreibung der biblischen Geschichte nicht nur glaubhaft zu machen, sondern ihn dahin zu führen, sie als eigentliche Version

1 Peter VON MATT, Die Intrige – Theorie und Praxis der Hinterlist, München, dtv, 2008, S. 110. 2 Thomas MANN, Joseph und seine Brüder, Ausgabe in einem Band, Frankfurt/Main, S. Fischer Verlag, 1964, S. 148. Im folgenden wird auf diesen Text nicht durch Fußnoten, sondern durch Seitenangaben im Text verwiesen. THOMAS MANNS DIE GESCHICHTEN JAAKOBS UND DIE GENESIS 213 anzunehmen, soll gezeigt werden, wie aus einer Lüge ein ungeheurer Spaß, aus den Folgen einer Betrugsgeschichte ein großer Jokus werden kann. In dieser Perspektive werden das Verhältnis von Mythos und Individualität, die Charakterisierung der Hauptpersonen, die Rolle des Erzählers und die Erzählstruktur des Romans untersucht.

Mondgrammatik

Der Mond ist das dominierende Gestirn in diesem Roman. Sein weiches, diffuses Licht erzeugt eine andere Klarheit als die der Sonne. Er ist auch das Symbol der Wanderung; er begleitet Abraam, als dieser aus Ur auswandert, in seinem Licht sehen wir Joseph zum ersten Mal, und auch der Erzähler fühlt sich dem Mond verbunden: „Des Erzählers Gestirn – ist es nicht der Mond, der Herr des Weges, der Wanderer, der in seinen Stationen zieht, aus jeder sich wieder lösend?“ (S. 39) Der Mond ist aber auch Mittler zwischen Oben und Unten, zwischen Sonne und Erde. „Sonne und Erde sind, jeweils für sich genommen, feindliches Gebiet ohne des Mondes Vermittlung. Zum Sonnenbereich gehört die Wüste, zum Erdbereich der Acker, zum Mond aber der Hirte und seine ziehende Herde.“3 Von Anfang an wird klargestellt, dass die Identität der Roman-Figuren nicht fest umrissen ist, dass die individuellen Züge von Jaakob und Esau sich vermischen mit Überlieferungen aus älteren Zeiten, in denen ähnliche Personen gleichen oder anderen Namens existierten und handelten und so den Nachfahren ihre Existenz und Handlungen gleichsam vorgaben. Dieses Verfahren wird in einem eigenen Kapitel im zweiten Hauptstück erklärt, das „Mondgrammatik“ überschrieben ist (S. 89-90). Die Klarheit der Sonne, in der alles eindeutig erscheint, wird hier der Klarheit des Mondes gegenübergestellt, „die damals und dort dem Geist als wahre Klarheit erschien“ (S. 89). Die Identität, die Individualität der handelnden Personen vermischt sich nämlich mit der ihrer Vorgänger, ihrer Ahnen, ihrer Urväter, und wenn sie von sich selbst sprechen, kann es durchaus sein, dass dieses Ich nicht so genau definiert war, wie es die grammatische erste Person glauben macht,

sondern gleichsam nach hinten offenstand, ins Frühere, außer seiner eigenen Individualität Gelegene überfloß und sich Erlebnisstoff einverleibte, dessen Erinnerungs- und Wiedererzeugungsform eigentlich und bei Sonnenlicht betrachtet die dritte Person statt der ersten hätte sein müssen (S. 90).

Im Roman wird diese „Mondgrammatik“ am Beispiel Eliezers erklärt. Dieser Eliezer ist Hausvogt und erster Knecht Jaakobs, aber seine Identität vermischt sich mit der eines anderen, viel älteren in der Bibel erwähnten

3 Hermann KURZKE, Mondwanderungen – Wegweiser durch Thomas Manns Joseph- Roman, Frankfurt/Main, Fischer-Verlag, 2008, S. 19. 214 CHARLOTTE JANUEL

Eliezer, Knecht Abraams. Auch Jaakobs Vater Jizchak ist nicht identisch mit dem Sohn Abrahams, selbst wenn er dessen Geschichte als die seinige erzählt, sei es, dass es sich um eine Imitation seines Urvaters handelt, oder weil er sie als seinem eigenen Leben zugehörig betrachtete. Die Hauptpersonen in der Genesis erreichen alle ein „biblisches Alter“, so war zum Beispiel Abraham bei seinem Tod „hundert und fünf und siebzig Jahre“ (1. Mose 25, 7). Natürlich geht die Bibelforschung zur Entstehungszeit des Romans nicht mehr von solchen Altersangaben aus. Zwischen der Urvätergeschichte und der Ansiedlung eines Stammes Israel in Ägypten müssen ungefähr 600 Jahre gelegen haben. Die „Mondgrammatik“ macht diesen Zeitsprung deutlich, lässt ihn aber gleichzeitig wieder verschwimmen. Jedenfalls unterscheiden die handelnden Personen „zwischen Ich und Nicht-Ich weniger scharf […] als wir es zu tun gewohnt sind […]“ (S. 94). Diese Imitation, Wiederholung, Nachfolge nennt Thomas Mann „Mythus“. „Das Mythus vergegenwärtigt ein Urgeschehen. Einst hat irgendein Kain wirklich seinen Bruder Abel erschlagen. Die mythische Erzählung […] bietet in der Folgezeit das Paradigma, das für alle ähnlich gelagerten Fälle als Modell dient.“4 Gleichzeitig bietet die „Mondgrammatik“ aber auch die Möglichkeit, durch die Überlagerung verschiedener Identitäten den handelnden Personen Eigenschaften und Verhalten zuzuschreiben, die in der biblischen Vorlage so nicht gegeben sind und ihr vielleicht sogar widersprechen.

Esau, Jaakob und Isaak

Besonders deutlich und eindeutig negativ wirkt sich dieses Verfahren für Esau aus. Im biblischen Text wird Esau beschrieben als „rötlich, rauh wie ein Fell“, „Edom der Rote“, ein Jäger und Liebling seines Vaters. Zum Leidwesen seiner Eltern hat er sich sehr jung mit kanaanitischen, d.h. ungläubigen, anderen Göttern anhängenden Frauen vermählt. Gegen eine warme Mahlzeit verschleudert er sein Erstgeburtsrecht und damit den Segen Gottes, da er mit dem auf Transzendenz ausgerichteten Glauben seiner Ahnen nichts anfangen kann: „Siehe, ich muss doch sterben; was soll mir denn die Erstgeburt“? (1. Mose 25, 32) Insgesamt erscheint er uns als etwas tumber, ungeschlachter, aber nicht bösartiger Mann. Diese Vorgaben werden im Roman erklärt, erweitert, differenziert, aber auch durch entsprechende Charakterisierungen so zugespitzt, dass eigentlich kein gutes Haar an Esau bleibt und er von Anfang an als die lächerliche Person dargestellt wird, als die er sich dann im entscheidenden Kapitel „Der große Jokus“ erweist. Als Jaakob ihn 25 Jahre nach dem Segensbetrug wiedersieht – die Brüder sind inzwischen 55 Jahre alt –, hat er sich weder physisch noch psychisch stark verändert. Seine Person scheint weder lern-

4 Ibid., S. 24. THOMAS MANNS DIE GESCHICHTEN JAAKOBS UND DIE GENESIS 215 noch entwicklungsfähig. Er spielt auf einer Rohrpfeife und tanzt dazu, und er wirkt dabei so lächerlich, dass man Jaakobs Gefühle von „Geringschätzung, Scham, Erbarmen und Abneigung“ (S. 108) gegen seinen Bruder nur teilen kann. Jaakob war „gründlich angewidert von Esau’s Worten, fand sie höchst peinlich, hirnlos und liederlich“ (S. 110) und überlegt nur, wie er diesen Bruder so schnell wie möglich wieder los wird, während Esau ihn herzt und küsst, so dass auch der Leser die Liebesbezeigungen des Älteren als unangenehm und ekelerregend empfindet. Esau steht den Edomitern nahe, den „Leuten von Edom, zu denen Esau von früh an Beziehungen unterhalten hatte und zu denen er später vollends überging“ (S. 98). Später wird von ihm gesagt, dass er „Edom, der Rote“ ist (S. 140). Mit dieser Gegenwartsform wird die „zeitlose und über-individuelle Zusammenfassung des Typus“. erklärt. Diese Beziehungen führen – für den Erzähler logisch – dazu, dass er nicht gesegnet, sondern verflucht wird: „Das beweist, dass es sich bei Segen oder Fluch nur um Bestätigungen handelt, dass sein Charakter, das heißt seine Rolle auf Erden, von langer Hand her festgelegt“ war (S. 99). Diese Rolle „als sonnverbrannter Sohn der Unterwelt“ muss er spielen, „aus mythischer Bildung und Gehorsam gegen das Schema“ (S. 99). Natürlich ist er auch in Glaubensdingen ein Paria. Schon dass er seine Frauen unter den Kanaaniterinnen suchte – „Baalsanbeterinnen“ (S. 98) schreibt der Erzähler –, empört und betrübt seine Eltern. Mit fortschreitendem Alter entfernt er sich immer weiter vom Glauben an Abraams Gott. Bei seiner Begegnung mit Jaakob wird er durch sein Flötenspiel in die Nähe von Pan gerückt. Auch sein Verhältnis zu Ismael, seinem Onkel, wird äußerst kritisch gesehen. In der Bibel wird es nur mit einem Vers erwähnt (er ging „zu Ismael, und nahm […] Mahalath, die Tochter Ismaels, des Sohnes Abrahams […] zum Weibe“, 1. Mose 28, 9). Im Roman werden daraus Mordpläne, die Ismael seinem Neffen und Schwiegersohn vorschlägt: Esau solle seinen Vater Isaak ermorden, dann werde er, Ismael „dem Jaakob einen Pfeil so genau in den Nacken schießen, dass er durch den Kehlkopf wieder herauskomme“ (S. 159). Dieses Komplott gelangt allerdings nicht zur Ausführung, weil Esau dann doch Bedenken kommen. Aber auf diese Weise gelingt es dem Erzähler, Esau nicht nur als in Glaubensdingen Abtrünnigen, sondern auch als potentiellen Mörder darzustellen, der in die Fußstapfen des ersten biblischen Mörders tritt. „Fasste man sein Verhältnis zu Jaakob gebildet auf [...], so war es die Wiederkehr und das Gegenwärtigwerden – die zeitlose Gegenwärtigkeit – des Verhältnisses von Kain zu Abel; und in diesem war Esau nun einmal Kain“ (S. 99). Dieser Kain trägt aber in der biblischen Geschichte weitaus problematischere Züge als Esau: Weil sein Opfer nicht so freundlich angenommen wird wie das seines Bruders Abel, ermordet er ihn. Esau schmiedet zwar Rachepläne, nachdem er das ganze Ausmaß der brüderlichen Infamie verstanden hat, er 216 CHARLOTTE JANUEL versöhnt sich aber, durch die Zeit besänftigt, ohne weitere Ansprüche mit Jakob. Sooft wir Esau im Roman begegnen – und wir begegnen ihm einige Male in den ersten Kapiteln –, wird diese negative Einschätzung, die der Erzähler mit Jaakob teilt, verstärkt. Ein ähnliches Vorgehen, mit umgekehrten Vorzeichen, wird für Jaakob angewendet. Schon bei der ersten Begegnung ist er ein würdiger Patriarch, er erscheint, begünstigt durch das Mondlicht, „von majestätischer und fast übermenschlicher Größe. […] Noch eindrucksvoller […] wurde seine Gestalt durch ihre Haltung […]“ (S. 49). Er macht Eindruck auf alle, die ihn sehen: „Das war ein Herr und Gottesfürst, vornehm durch Geistesgaben, die auch seine gesellschaftliche Person veredelten“ (S. 119). Was ihn aber besonders auszeichnet, ist sein Bewusstsein vom „Segen Gottes“, dessen Bedeutung er, im Gegensatz zu Esau, von Anfang an nicht hoch genug einschätzen kann. Wann immer er ängstlich, feige oder unterwürfig erscheint – z.B. in der Begegnung mit Eliphas, Esaus Sohn – (S. 97-103), so ist es, um „sein kostbares Verheißungsleben, für Gott und die Zukunft“ (S. 103) zu retten. Der Verlauf seiner späteren, genauso angstbesetzten Begegnung mit Esau, in der er, um seine „Unterordnung und Selbsterniedrigung“ (S. 108) zu demonstrieren, den Bruder schon im voraus mit Geschenken überhäuft, erklärt sich ebenfalls aus Jaakobs Bewusstsein um seine göttliche Auserwähltheit, in der er jeweils durch eine unmittelbar vorhergehende (Esau) oder nachfolgende (Eliphas) „Haupterhebung“ (S. 103) bestätigt wird. Jede weltliche Erniedrigung Jaakobs wird also begleitet durch eine „Erhöhung“, durch die seine Auserwähltheit, der göttliche Segen, bestätigt und bestärkt wird. Selbst seine unrühmliche Rolle beim Blutbad zu Sichem, bei dem er zunächst vorgibt, nicht zu wissen, was seine älteren Söhne planen, um sie dann nach getaner Tat zu verfluchen, weil sie sein „Haus samt Abraams Segen“ (S. 134) gefährdet hätten, vermag es nicht, das im Leser entstandene positive Bild von Jaakob ernstlich in Frage zu stellen. Bei Jizchak wird eine andere Verschiebung vorgenommen. In der Bibel ist unbestritten, dass der Vater Isaak den göttlichen Segen auf Esau übertragen wollte, dass er aber, weil er blind war, die Intrige von Rebekka und Jakob nicht bemerkte. In dem Kapitel „Von Jizchaks Blindheit“ (S. 144) suggeriert uns der Erzähler, „daß Esaus kleiner und ertrotzter Lebensvorsprung von den Eltern niemals als ausschlaggebend verstanden worden“ (S. 146) war. Isaak „wollte es gern mit dem Erstling halten“ (S. 146), das war „die Übereinkunft, die Isaak mit den Worten gegründet hatte und im Worte aufrechterhielt, ein kleiner Mythus innerhalb eines viel größeren und mächtigeren“ (S. 147) und – diesem widersprechend. Die Konstellation von zwei zur gleichen Zeit geborenen Söhnen hat es in der Geschichte seiner Familie noch nicht gegeben; den Segen bekam immer der Erstgeborene, der legitime Sohn der rechten Frau. Aber weder Charakter noch Lebenswandel Esaus sind geeignet, des Vaters ursprüngliche Bereitschaft, dem Älteren den Vorzug zu geben, die er „mechanisch, in spruchhaft feststehenden Wendungen“ (S. 146) äußert, zu THOMAS MANNS DIE GESCHICHTEN JAAKOBS UND DIE GENESIS 217 verstärken. Schon im Vorfeld scheint also Jizchak unbewusst bereit, die Mechanik, den älteren nur wegen seines Erstgeburtsrechts zu segnen, zugunsten einer anderen Ahnenreihe zu unterbrechen, die über die Hirten Abel, Sem und Usir zu ihm selbst geht, und den Glatten und Häuslichen, nämlich Jaakob zu segnen. Dass Jizchak deshalb erblindet war, „weil er sich wohler in einem Dunkel fühlt, worin gewisse Dinge geschehen können, die zu geschehen haben“ (S. 147), ist eine Behauptung, die der Erzähler ins Spiel bringt, selbst wenn er sie nicht abschließend zu werten scheint. Jizchak leidet zu sehr unter Esaus Lebenswandel, „unter dem, was er mit ansehen oder wovor er die Augen verschließen musste, um es nicht zu sehen“ (S. 147). Der „kleine“ Mythus, wonach der Ältere Vaters Liebling und der Segensträger zu sein hatte, muss dem „großen Mythus“ weichen, in dem der „wahrhafte“ Sohn gesegnet wird, und Isaak „lag im Dunkeln, auf dass er betrogen werde samt Esau, seinem Ältesten“ (S. 148).

Die Rolle des Erzählers

Der Erzähler ist im Josephsroman omnipräsent, dennoch ist seine Rolle durchaus nicht eindeutig. Er erzählt nicht nur, er bringt sich ein, wertet, kommentiert von einer zeitgenössischen Position her. „Im Unterschied zu dem traditionellen geschichtlichen und bibelgeschichtlichen Roman macht er sozusagen ‚wissenschaftlichen Ernst’ mit der Beschaffenheit seiner Quelle als eines auszulegenden, zu kommentierenden Textes [...].“5 Selbstverständlich ist der Erzähler völlig bibelfest; der Text ist gespickt mit Verweisen auf andere Bücher des Alten Testaments, auf die Psalmen, sogar auf neutestamentarische Stellen. Er zeigt sich als wissenschaftlich bewandert und durchaus auf dem Stand der zeitgenössischen kritischen Bibelforschung. Schon auf den ersten Seiten des Romans setzt er sich von einem naiven Verständnis der Urvätergeschichte ab: „Die Überlieferung will wissen“ schreibt er, um kurze Zeit später einzuschränken: „Das ist mit Vorsicht aufzunehmen oder jedenfalls recht zu verstehen. Es handelt sich um späte und zweckvolle Eintragungen, die der Absicht dienen, politische Machtverhältnisse, die sich auf kriegerischem Wege hergestellt, in frühesten Gottesabsichten rechtlich zu befestigen“ (S. 10). Er spricht von „Zusammenziehungen, Verwechslungen und Durchblickstäuschungen, welche die Überlieferung beherrschen“ (S. 22).

Jene Überlieferung, die den gelehrten Kommentar eines Urtextes bildet, der seinerseits die späte schriftstellerische Fassung von Hirten-Wechselgesängen und schönen Gesprächen darstellt, weiß Übererfreuliches zu melden […] Sie läßt sich um der Verherrlichung willen Übertreibungen zuschulden kommen, von

5 Käte HAMBURGER, Der Humor bei Thomas Mann, Zum Joseph-Roman, München, Nymphenburger Verlagshandlung, 1969, S. 55. 218 CHARLOTTE JANUEL

denen aber wir, zur endgültigen Klarstellung der Geschichte auch wieder nicht allzuviel abziehen dürfen, um nicht die Wahrheit neuerdings zu verrücken (S. 207).

Etwas herablassend übermittelt er andere biblische Geschichten, die er auch als „Hirtenmärlein“ (S. 128) bezeichnet: „Genau ist hier die wahre Reihenfolge der Geschehnisse zu beachten, die anders war, als später die Hirten im ‘Schönen Gespräch’ sie anordneten und weitergaben“ (S. 126). Aber nicht immer werden die Hirten korrigiert : „Ja, das alles stimmt nachprüfbar überein mit sich selbst und bezeugt auf die Dauer, dass kein Falsch ist in den Liedern der Hirten und ihrem schönen Gespräch“ (S. 270).

Überall (verrät) der Dichter die umfassenden Studie, die er, wie jeder historische Romancier, zur Realisierung der Begebenheit benötigte, andererseits aber auch das heimliche „Blinzeln“ […] mit dem er den Ernst solcher Realisierung und eben damit auch die Überlieferung belächelt. 6

Manchmal stellt der Erzähler etwas fest, um es gleich darauf wieder zu relativieren. So sagt er über Esaus Person: „Hiermit ist seine Persönlichkeit zweifellos fehlerfrei bestimmt, – zweifellos in gewissem Sinn, fehlerfrei unter Vorbehalt, denn die Genauigkeit dieser ‘Bestimmung’ ist die Genauigkeit des Mondlichts, der viel foppende Täuschung innewohnt [...]“ (S. 139).

Die Erörterung gehört hier zum Spiel, sie ist eigentlich nicht die Rede des Autors, sondern die des Werkes selbst, sie ist in seine Sprachspäre aufgenommen, ist indirekt, eine Stil- und Scherzrede, ein Beitrag zur Schein- Genauigkeit, der Persiflage sehr nahe und jedenfalls der Ironie: denn das Wissenschaftlichen, angewandt auf das ganz Unwissenschaftliche und Märchenhafte, ist pure Ironie.7

So erlaubt sich der Erzähler zu Esau die Bemerkung, dass ihn „die Lehrer und Wissenden viel heftiger beschimpften, als seine bürgerlich-irdische Person beschimpft zu werden verdiente“ (S. 143) – dabei ist es doch der Erzähler selbst, der in demselben Abschnitt Esau in die Nähe Ismaels, und diesen durch Austausch einer Silbe in die Nähe Samaels, d.h. des Teufels, rückt. Dieses Erzählerverhalten hat natürlich Auswirkungen auf die Rezeption des Lesers. Der Erzähler ist nicht nur jemand, der es besser weiß als seine schriftlichen oder vorgeblichen mündlichen Vorlagen, er lässt auch dankenswerterweise den Leser an diesem Wissen teilhaben, er weiht ihn ein, erklärt und vermittelt. Seine Sprache ist „eine Sprache, wie ,du und ich’ sie eben benutzen: Alltagssprache, nur eben etwas besser.“8

6 Ibid., S. 65. 7 Thomas MANN, Gesammelte Werke in 12 Bänden, Bd. XI , Reden und Aufsätze 3, Frankfurt/Main, S. Fischer Verlag, 1960, S. 655. 8 Bernd Jürgen FISCHER, Handbuch zu Thomas Manns „Josephsromanen“ , Tübingen/ Basel, Francke, 2002, S. 125. THOMAS MANNS DIE GESCHICHTEN JAAKOBS UND DIE GENESIS 219

Eine besondere Rolle spielt hier die unterschiedliche Verwendung des „wir“, bzw. „uns“. „Das ‚Wir’ des pluralis narratoris umfasst nicht nur jenen Erzähler, der manchmal fast alles und dann wieder kaum mehr weiß, als was auch schon in der Bibel steht.“9 In vielen Fällen handelt es sich um ein auktoriales Erzähler-Wir: „Wir geben uns keiner Täuschung hin über die Schwierigkeit, von Leuten zu erzählen, die nicht recht wissen, wer sie sind“ (S. 94). Über die Geschichten Jaakobs kann er, im Bewusstsein seiner besseren Erkenntnis, schreiben: „Manches haben wir schon ausgebreitet und endgültig richtig gestellt“ (S. 233). Aber nicht immer will der Erzähler ein abschließendes Urteil treffen: „Wir behaupten nicht, daß solche Ursache solche Wirkung zeitigen könne; wir begnügen uns damit, festzustellen, daß solche Ursachen vorhanden waren“ (S. 147). Manchmal muss der Erzähler zugeben, dass er auch nicht schlauer ist als seine Quellen: „Der Buchstabe der Überlieferung ist der einzige Anhalt, der sich uns bietet […] Dennoch käme es uns nur zu, jene Deutung zu verwerfen und eine andere dafür einzusetzen, wenn wir eine bessere wüßten, was nicht der Fall ist“ (S. 235). An anderer Stelle impliziert dieses „wir“ den Leser, macht ihn zum Komplizen: „Darum sei unter uns gesagt und zugegeben“ (S. 89) – mit diesen Worten vertraut der Erzähler dem Leser sozusagen als Insiderwissen an, dass der Eliezer Jaakobs, wenn er von sich selbst als dem Diener Abraams spricht, nicht wirklich die gleiche Person meinen kann. Manchmal geht es um eine allgemeine Feststellung, die Erzähler und Leser teilen: „Sie genossen den schelmischen Übermut mit jener pädagogischen Verantwortungslosigkeit, die unser Verhältnis zu anderer Leute Kinder bestimmt“ (S. 283) heißt es zum Verhalten der Leute von Luz gegenüber Jaakob. Den vielleicht schönsten Kommentar zu seinem oszillierenden Selbstverständnis liefert uns der Erzähler, als er von den Auswirkungen des Segens auf Jaakob und Laban schreibt:

Was wir hier zu berichten haben, würde uns, wenn wir Geschichtenerfinder wären und es, in stillem Einvernehmen mit dem Publikum, als unser Geschäft betrachteten, Lügenmärlein für einen unterhaltsamen Augenblick wie Wirklichkeit aussehen zu lassen, sicherlich als Aufschneiderei und unmäßige Zumutung ausgelegt werden, und der Vorwurf bliebe uns nicht erspart, wir nähmen den Mund zu voll von Fabel und Jägerlatein, nur um noch einen Trumpf aufzusetzen und eine Lauschergutgläubigkeit zu verblüffen, die dann doch ihre Grenzen habe. Desto besser also, daß dies unsere Rolle nicht ist; daß wir uns vielmehr auf Tatsachen der Überlieferung stützen, deren Unerschütterlichkeit nicht darunter leidet, daß sie nicht allen bekannt ist, sondern daß einige davon einigen wie Neuigkeiten lauten. So sind wir in der Lage, unsere Aussagen mit einer Stimme abzugeben, die, gelassen, wenn auch eindringlich und ihrer Sache sicher, solche sonst zu befürchtenden Einwürfe von vornherein abschneidet (S. 208).

9 Eckhard HEFTRICH, „Joseph und seine Brüder“, in Thomas-Mann-Handbuch, hrsg. von Helmut KOOPMANN, Stuttgart, Kröner, 2001, S. 466. 220 CHARLOTTE JANUEL

Der Erzähler fordert Glaubwürdigkeit ein, gleichzeitig lässt er den Leser wissen, dass er das alles vielleicht doch nicht so ganz genau nehmen müsse. Er treibt ein schelmisches Spiel mit seinen Lesern, kokettiert mit seinem Wissen, das er auch dann als gesichert ausgibt, wenn dies nicht eindeutig ist, oder es dies’ sogar eindeutig nicht ist.

Die Genauigkeit, die Realisation sind Täuschung, ein Spiel, ein Kunstschein, eine mit allen Mitteln der Sprache, der Psychologie, der Darstellung und noch dazu der kommentierenden Untersuchung erzwungene Verwirklichung und Vergegenwärtigung, deren Seele, bei allem menschlichen Ernst, der Humor ist.10

Romanaufbau und Erzählstrategie

Damit die Umwertung der Segensintrige zum „großen Jokus“ gelingt, müssen aber zunächst alle die Elemente ausgebreitet werden, die zu dieser Umwertung beitragen. Der Leser muss bereit sein, dem Erzähler zu folgen, wenn dieser die Geschichte als vergnüglichen Vorgang hinstellt. Das wäre bei einem chronologischen Erzählen recht schwierig, steht doch diese Geschichte in der Bibel fast ganz am Anfang der Jakobsgeschichten. Dort ist der Ablauf wie folgt: Die Zwillinge werden geboren (1. Mose 25, 20-28); Esau verkauft sein Erstgeburtsrecht (1. Mose 25, 29-34), es folgt ein Kapitel über Isaaks Leben, an dessen Ende zwei Verse über die Hethiter- Frauen Esaus stehen (1. Mose 26, 27), und dann wird auch schon der Segensbetrug erzählt, dem ein ganzes, vergleichsweise langes Kapitel gewidmet ist (1. Mose 27, 1-46). Der Aufbau des Romans folgt diesem chronologischen Schema nicht, zumindest nicht in seinem ersten Teil. Das Kapitel „Der große Jokus“ steht an zentraler Stelle in den Geschichten Jaakobs, im vierten Kapitel des mittleren Hauptstücks. Es ist auch auffällig, dass es bis zu diesem Kapitel große Zeitsprünge vorwärts und rückwärts gibt, dass aber nach diesem Kapitel die Geschichten linear und chronologisch weitererzählt werden. Dass diese Erzählanordnung nicht zufällig ist und mit dem Sinn des Erzählten eng zusammenhängt, unterliegt keinem Zweifel. Sicher geht es zunächst darum, die „Grundzüge der Psychologie des mythischen Bewusstseins“ darzulegen, wie Hamburger schreibt.11 Aber der Erzähler benötigt auch Zeit, um die zentralen Personen so darzustellen, dass seine Interpretation des Segensbetrugs glaubhaft und logisch wird. Welche Begebenheiten werden also vorrangig erzählt und wie erscheinen die Personen? Das erste Hauptstück beinhaltet ein „Schönes Gespräch“ zwischen Jaakob und Joseph. Jaakob ist hier schon ein ehrwürdiger Greis von 67 Jahren, der sein Leben Revue passieren lässt. Im Kapitel „Der Name“ (S.65) erinnert er sich an den langen Kampf am Jabbok und an den Namen

10 MANN, Gesammmelte Werke, Bd. 11, S. 655. 11 HAMBURGER, Der Humor bei Thomas Mann, S. 153. THOMAS MANNS DIE GESCHICHTEN JAAKOBS UND DIE GENESIS 221

„Jisrael“, den er sich dabei errang. Im zweiten Hauptstück geht es zunächst um Abraam, der seine Frau Sara gegenüber dem ägyptischen Pharao als seine Schwester ausgibt, eine Geschichte, die im Buch Genesis in drei Varianten erzählt wird. Sie steht in unmittelbarer Nachbarschaft zum Kapitel „Mondgrammatik“. Der Erzähler beweist so, wie wir gesehen haben, dass die Identität der erwähnten Personen nicht fest umrissen ist, sondern sich in „Imitation und Nachfolge“ (S. 94) verschränkt. Im nächsten Kapitel sehen wir Jaakob gleich nach seinem Segensbetrug auf der Flucht; er wird von Eliphas, einem Sohn Esaus, gestellt und erniedrigt, so dass er nur sein nacktes Leben retten kann (S. 97). Diese Episode findet sich übrigens nicht im Buch Genesis; dort wird nur erwähnt, dass einer der Söhne Esaus Eliphas heißt. Bevor Jaakob zu seinem Onkel Laban weiterzieht, folgt eine Bestätigung des göttlichen Segens. Dann folgt ein Erzählsprung von ungefähr 25 Jahren, vermittelt durch Jaakobs Erinnerungen. Zum ersten Mal nach dem Segensbetrug stehen sich Jaakob und Esau gegenüber. Esau ist noch immer der „gedanken- und bedeutungslose, zwischen Geheul und tierischem Leichtsinn schwankende Naturbursch von ehemals“ (S. 108). Er macht seinem Zwillingsbruder ein großherziges Versöhnungsangebot, auf das Jaakob scheinbar eingeht, das ihm aber unannehmbar ist. Nach dem Zwischenspiel bei Sichem wird am Anfang des vierten Hauptstücks der Tod Isaaks geschildert. Am Totenlager des Vaters treffen Esau und Jaakob noch einmal aufeinander. Esau ist inzwischen völlig zu Edom, dem Roten geworden, und obwohl von seinem Versöhnungsverrsuch mit Jaakob schon die Rede war, wird hier noch einmal breit seine vorgebliche Annäherung an Ismael und das von diesem vorgeschlagene Doppelmordkomplott erzählt (S. 143). Ein Kapitel über „Jizchaks Blindheit“ (S. 144), dass das Verhältnis Jizchaks zu seinen Söhnen in einer für Jaakob sehr positiven Weise schildert, schließt mit den Worten: „Er lag im Dunkeln, auf daß er betrogen werde samt Esau, seinem Ältesten“ (S. 148). Die Auslegung des Segensbetrugs als Riesenspaß ist nunmehr gut vorbereitet. Der Leser hat alles erfahren, was er zu Jaakobs Gunsten und insbesondere zu Esaus Ungunsten wissen muss. Jaakob ist durch den Segen reich geworden, reich nicht nur an Gütern und Söhnen, reich auch an Weisheit, Wissen und religiöser Überzeugung. Esau dagegen, zwar frühreif, doch entwicklungslos, ein grober Klotz ohne jegliches Bewusstsein einer göttlichen Sendung, steht in direkter Nachfolge zu den in der Bibel Verstoßenen, zu Kain und zu Ham. „Hier wurde der geistig Prädestinierte der Erbe, wenn es auch gewisser Umwege bedurft hatte, um den Segen von Esau, dem ‚rechten Falschen’, auf das Haupt des ‚falschen Rechten’, des Gesegneten selbst, zu lenken.“12 Rebekka, die Mutter, eine dominierende Frau, die ihrem Liebling Jaakob öfter das Wort abschneidet, bereitet das verlangte Essen vor und verkleidet

12 Ibid., S. 155. 222 CHARLOTTE JANUEL

Jaakob, so dass er wie Esau wirken kann. Mit vor Angst klappernden Zähnen nähert sich Jaakob seinem Vater, und diese Angst ist gerechtfertigt, denn der Vater erkennt die Stimme nicht als Esaus Stimme. Jaakob versucht, so wenig wie möglich zu sprechen, aber er muss dem zweifelnden Vater Rede und Antwort stehen, bis dieser ihn „mit sehenden Händen“ (S. 154) als Esau anerkennt. Und als er schon gegessen hat, äußert er nochmals Zweifel: „Solltest du wirklich Esau sein, mein größerer Sohn?“ (S. 155) Mit letzter Kraft kann Jaakob antworten. Zur Farce wird dieses Kapitel aber durch das Verhalten Esaus, der im Bewusstsein der auf ihn zukommenden Ehre alle Welt an seinem Stolz teilhaben lässt, bevor er das Wild für seinen Vater jagt. Bei seiner Rückkehr hat er natürlich, im Gegensatz zu allen anderen, nichts von dem Unheil mitbekommen. „In freudigem Dünkel und hochgebläht kam er daher [...]“ (S. 156). Alle sollen zusehen, wie er, der schon so gut wir Gesegnete, das Wildbret zubereitet. Und alle sehen ihm zu, nur dass ihr Lachen nicht Freude und Zustimmung ausdrückt, sondern Schadenfreude und Häme. Der Moment der Anagnorisis wird für Esau zum schrecklichen, demütigenden Erwachen. Nicht nur, dass der Segen für immer von ihm fortgenommen wurde, dies geschah vor aller Augen, vor den Augen eines mitleidlosen, triumphierenden Publikums, in dessen scheinbarer Anerkennung sich Esau soeben noch gesonnt hatte. Am Ende des Kapitels „Der große Jokus“ stehen die Leute um den um sein Erbe heulenden Esau herum und „hielten sich die Nieren“ vor Lachen, „so schmerzte sie der große Jokus, wie Esau, der Rote, geprellt ward um seines Vaters Segen“ (S. 158). Und der Leser lacht mit ihnen. Man gönnt diesem Esau seine Niederlage, als ob sie „eine angemessene Strafe für übles Tun wäre“.13 Dabei ist dem Leser in diesem Moment sicher nicht bewusst, dass er an den geschickt geführten Fäden eines Erzählers genau mitten in den Kreis der lachenden Leute geleitet wurde, um mit ihnen den armen Teufel Esau auszulachen, der doch eigentlich nichts anderes getan hat, als sich ein wenig zu früh zu freuen.

13 VON MATT, Die Intrige, S. 124. „Mundus vult decipi“. Warum man sich den Hochstapler als einen glücklichen Menschen vorstellen muss1

Dorothee KIMMICH Universität Tübingen

Einleitung: Der „Karneval der Identitäten“

Hochstapler sind nicht gerade die Lieblingsgestalten der bürgerlichen Presse, sie taugen nicht zum Erziehungsvorbild und auch nicht zum Modell für den netten Schwiegersohn. Hochstapler sind verschrien, weil sie charakterlos sind – was selbstverständlich stimmt. Das ist gewissermaßen ihre Definition. Sie verachten den Wert der bürgerlichen Biographie und haben nichts übrig für das, was wir eine Identität nennen – weder für die im Pass ausgewiesene, noch für Identität im emphatischen Sinne: Ihre Person ist mimetisch und nicht identisch. Hochstapler haben multiple Persönlichkeiten und keinen Glauben. Sie sind Verführer, aber niemals Familienväter (Mütter schon gar nicht) – und: Hochstapler sind die einzigen freien und glücklichen Menschen, die die moderne Literatur kennt. Daher lohnt es sich, einen Blick auf Hochstaplergeschichten zu werfen. Es gibt sie in allen Jahrhunderten und in allen Literaturen der Welt, hier soll es jedoch vor allem um Texte der klassischen Moderne gehen. Selbstverständlich werde ich auf den bekanntesten von ihnen, auf Thomas Manns Felix Krull eingehen. Ein Hochstapler ist aber auch Andreas Zumsee aus Heinrich Manns Schlaraffenland; es finden sich weitere bei Otto Julius Bierbaum, bei Hermann Bang, bei Frank Wedekind, Carl Zuckmayer, Jean Cocteau und Walter Serner. Auch den Erfinder Tobler aus Robert Walsers Gehülfen und den Vorsteher des Dienerinstituts Benjamenta aus seinem Roman Jacob von Gunten kann man als Hochstapler bezeichnen, ebenso wie Franz Xaver Zenobi, Efraim Frischs Hochstapler aus seinem gleichnamigen Roman. Hochstapler finden sich natürlich auch bei Joseph Roth – Franz

1 Die Formulierung lautet: „Mundis vult decipi, ergo decipiatur“, sie wird ursprünglich Petronius zugeschrieben. 224 DOROTHEE KIMMICH

Tunda aus Die Flucht ohne Ende wird so bezeichnet und in einem Entwurf zu einer Autobiographie, „Erdbeeren“, sagt Roth von sich:

Ich bin eine Art Hochstapler, so nennt man in Europa die Menschen, die sich für etwas anderes ausgeben, als sie sind. Alle Westeuropäer tun dasselbe. Aber sie sind keine Hochstapler, weil sie Papiere haben, Pässe, Ausweise und Taufscheine. Manche haben sogar Stammbäume. Ich aber habe einen falschen Pass, keinen Taufschein, keinen Stammbaum. Man kann also sagen, Naphtali Kroj ist ein Hochstapler.2

Roths Hochstapler sind nicht nur ohne Pass, also ohne „Identitätsnachweis“, sie sind auch die typischen „Osteuropäer“, die im „Karneval der Identitäten“3 die Rolle der Verlierer spielen. Nicht nur für den Beginn des 20. Jahrhunderts, sondern auch für die Literatur nach dem 2. Weltkrieg lassen sich viele Hochstaplergestalten ausmachen. Hingewiesen sei etwa auf Wolfgang Hildesheimers Romane, so wimmelt es z.B. im Paradies der falschen Vögel von verschiedensten Hochstaplern und sogar von – den sehr seltenen – Hochstaplerinnen. Sie sind Spioninnen, Kunstfälscher und falsche Politiker, denen es allerdings gelingt, trotz aller Gefahren ein fröhliches, ausgefülltes Leben zu führen. Berühmt geworden ist auch Natalie Zemon Davis’ Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre.4 Der jüngste Hochstaplerroman, den ich ausmachen konnte, stammt aus dem Jahr 2012: Michael Köhlmeiers Die Abenteuer des Joel Spazierer.5 Die literatur- und kulturwissenschaftliche Forschungsliteratur zum Thema Hochstapler widmet sich meist der Interpretation einzelner Werke. Oft handelt es sich auch um historische Dokumentationen, etwa Untersuchungen zum berühmten Fall des rumänischen Heiratsschwindlers Manolesco,6 dessen zweibändige Memoiren Thomas Mann für seinen Krull verwendete. Es finden sich allerdings vereinzelt auch Vorschläge, den Hochstapler als kulturtheoretischen Kommentar zur Moderne oder auch kulturkritische Figur

2 Joseph ROTH, „Erdbeeren“, in ders., Romane und Erzählungen 1916-1929, Bd. 4, Köln, Kiepenheuer & Witsch, 1989, S. 1008-1036, hier S. 1008. 3 Sighard NECKEL, „Bluffen, Täuschen und Verstellen, Bemerkungen zu einer Variante des Leistungsprinzips“, in ders., Die Macht der Unterscheidung. Essays zur Kultursoziologie der modernen Gesellschaften, Frankfurt am Main, Campus, 2000, S. 60-66, S. 61. 4 Nathalie Zemon DAVIES, Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre, Berlin, Klaus Wagenbach, 2004. 5 Selbstverständlich gibt es auch im Film eine bedeutende Anzahl von Hochstaplern: Dazu gehören Steven Spielbergs Catch me if you can von 2002, wo Leonardo DiCaprio einen schwindelnden Piloten spielt; auch die Verfilmungen von Patricia Highsmiths Der talentierte Mr. Ripley von 1960 und 2000 gelten Hochstaplern. Der allerlustigste Hochstapler ist natürlich unübertroffen immer noch Charlie Chaplins „Charlot“. 6 Vgl. Hans WYSLING, Narzissmus und illusionäre Existenzform. Zu den ‚Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull‘, Bern/ München, Francke, 1982, S. 153-170; Joachim Joe LYNX, The Prince of Thieves. A Biography of Manolesco alias H.E. Prince Lahovary alias the Duke of Otranto, London, Casell, 1963, S. 86. „MUNDUS VULT DECIPI“ 225 der Modernisierung zu lesen.7 Diese Vorschläge möchte ich hier aufgreifen und den Hochstapler dabei verstehen als überraschend kritische Herausforderung der Moderne, oder besser ihrer Konzepte von persönlicher „Identität“ und historischem bzw. kulturellem „Fortschritt“. Helmuth Plessner liefert in seiner Anthropologie der Nachahmung8 wichtige Hinweise für das Verständnis hochstaplerischen Verhaltens und der Bedeutung, die es für anthropologische Reflexionen haben kann: So konstatiert er, dass Imitation eine grundlegende menschliche Eigenschaft sei: „Ihre Möglichkeit gründet in der unaufhebbaren Fernstellung des Menschen zu sich, welche in Verkleidung, Verstellung wie überhaupt in dem Grundzug seines Wesens: eine Rolle zu spielen, sich kundgibt.“9 Ähnliche Thesen – d.h. die vom ‚natürlichen‘ Ursprung der Hochstapelei im kindlichen Spiel und der wichtigen Funktion von Nachahmung und Mimesis für die Entwicklung – finden sich nicht nur im soziologischen, sondern auch im kriminalistischen Diskurs der 1920er Jahre. So etwa in der kleinen Studie des Berliner Staatsanwaltes Erich Wulffen zur Psychologie des Hochstaplers von 1923.10 Peter Sloterdijk greift die zeitgenössische Debatte über die Hochstapelei in seiner Reflexion über den modernen „Kyniker“ auf und geht in seinem zweibändigen Essay zur Kritik der zynischen Vernunft (1983)11 ausführlich auf die Konjunktur der Hochstapler in der Weimarer Republik ein. Sighard Neckel dagegen hält Hochstapelei eher für ein Symptom von Dekadenz und

7 Vgl. z. B. Sander BROUWER, „Imposture in Nineteenth-Century Russian Literature (with special regard to Gogol’)“, in Essays in Poetics, Nr. 23, 1998, S. 96-121; Marion DUFRESNE, „La Figure de l'imposteur dans la littérature de langue allemande au XXe siècle“, in Germanica, Nr. 35, 2004, S. 35; Debbie LEE, Obscure Women who Became Impostors and Challenged, New York, Palgrave Macmillian, 2006; Rolf-Peter JANZ, „Schwindelnde Männer oder die Liebe zum Betrug. Krull, Schwejk, Gunten, ,Rotpeter’“, in Rolf-Peter JANZ, Fabian STÖRMER, Andreas HIEPKO, Schwindelerfahrungen. Zur kulturhistorischen Diagnose eines vieldeutigen Symptoms, Amsterdam, Rodopi, 2003, S. 99-116; Rohan MCWILLIAM, „Unauthorized Identities. The Impostor, the Fake and the Secret History in Nineteenth-Century Britain“, in Margot FINN, Michael LOBBAN, Jenny Bourne TAYLOR, Legitimacy and Illegitimacy in Nineteenth-Century Law,Literature and History, Basingstoke, Palgrave Macmillan, 2010, S. 67-92; vgl. allgemein Stephan PROMBKA, Felix Krulls Erben. Zur Geschichte der Hochstapelei im 20. Jahrhundert, Berlin, Bostelmann und Siebenhaar, 2001; Jürgen W. SCHMIDT, „Eine Hochstaplerin in Erfurt. Martha Barth alias ‚geschiedene Kronprinzessin von Griechenland‘ bzw. ‚Prinzessin Margarethe von Preußen‘“, in Jahrbuch für Erfurter Geschichte, Nr. 5, 2010, S. 149-180; Vgl. auch: Philippe DI FOLCO, Petit traité de l'imposture, Paris, Larousse, 2011; ders., Les Grandes Impostures littéraires, Paris, Écriture, 2006; Aleksandra KROH, Petit traité de l'imposture scientifique, Paris, Belin, 2009; Andrée BAUDUIN, Psychanalyse de l'imposture, Paris, Presses Universitaires de France, 2007; besonders wirksam war die Kritik postmodernen Wissenschaftsgebarens bei Jean BRICMONT, Alain SOKAL, Impostures intellectuelles, critique de la philosophie postmoderne des sciences à travers sa rhétorique, Paris, biblio, 1997. 8 Helmuth PLESSNER, „Zur Anthropologie der Nachahmung“, in ders., Ausdruck und menschliche Natur. Gesammelte Schriften, Bd VII, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1982, S. 389-398. 9 Ibid., S. 398. 10 Erich WULFFEN, Die Psychologie des Hochstaplers, Leipzig, Verlag für Kulturforschung, 1923. 11 Peter SLOTERDIJK, Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1983. 226 DOROTHEE KIMMICH

Korruption gesellschaftlicher Verhältnisse. Er konstatiert eine bemerkenswerte „Umwertung jener Strategien, deren nunmehr in die Alltagssprache eingesickerter Sammelbegriff der Bluff ist.“12 Es handle sich um ein „Eindrucksmanagement“, bei dem die Kunst der Verstellung selbst „zur Leistung geworden sei“.13

Mimetische Existenzen: Das Spiel mit dem Ich

Zunächst gilt es aber, das Phänomen ‚Hochstapelei‘ etwas genauer zu betrachten. Der Begriff stammt aus dem Rotwelsch, der Gaunersprache, und ist Mitte des 18. Jahrhunderts zum ersten Mal nachgewiesen – und zwar in Schwaben. „Stapeln“ bedeutet ursprünglich Betteln.14 Eine exakte Definition des heutigen Wortgebrauchs ist nicht leicht, da die Abgrenzungen zum Betrüger, zum Lügner, zum Dieb, zum Dandy, zum Heiratsschwindler, zum Fälscher, zum Schelm, zum Erotomanen und zum Spieler nicht immer eindeutig zu ziehen sind. Der Hochstapler hat von allem etwas. Manchmal wird die kriminelle Aktivität, manchmal die psychologische Komponente, manchmal die erotische Verführungskraft und manchmal die Abenteurerseite seiner Existenz mehr hervorgehoben. Eine allgemeine Definition soll hier nicht versucht werden, vielmehr geht es darum, den Hochstapler in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts als Typus genauer zu charakterisieren. Dabei sind besonders die zeitgenössischen Kommentare zum Phänomen des Hochstaplers hilfreich: Sie zeigen, dass es sich um einen Zeittypus handelt, der die paradoxen Züge moderner Identitäten markiert. Exemplarisch sei hier der Essay von Erich Wulffen zitiert. Er betont gleich zu Beginn, dass der Hochstapler keineswegs ein „Atavismus“ sei, also keine besondere und dem Normalen ganz fremde Form der psychischen Disposition besitze. Wulffen grenzt sich hier explizit gegen Cesare Lombroso ab und fährt fort:

Vielmehr behaupten wir neueren Kriminalisten, daß die Charaktere der Verbrecher in ihrer Umgebung sich bilden und körperlich wie seelisch, genau oder modifiziert, je die Grundeigenschaften der Gesellschafts- und Volksklasse wiedergeben, in der sie geboren wurden.15

Die Psychologie des Hochstaplers zu ergründen, so wird damit deutlich, ist also auch eine Art Diagnose der eigenen Zeit und der eigenen Gesellschaft. Wulffen untersucht daher zunächst – ganz im Sinne Plessners und im Übrigen auch Freuds – die entwicklungspsychologische Motivation von kindlichen Verhaltensweisen wie der Nachahmung, dem Nachäffen, der Verstellung,

12 NECKEL, „Bluffen, Täuschen und Verstellen“, S. 60f. 13 Ibid. 14 Roland GIRTLER, Wörterbuch des Rotwelschen. Deutsche Gaunersprache, Mannheim, Bibliographisches Institut, 1956, S. 316. 15 WULFFEN, Psychologie, S. 5. „MUNDUS VULT DECIPI“ 227 spielerischer Verkleidung etc., um dann die besondere Disposition bestimmter Berufe für hochstaplerische Verhaltensweisen nachzuweisen: Jäger, Sportler, Offiziere, Künstler, Professoren und Studenten sind besonders anfällig für ständige Hochstapelei: Das Selbstverständnis dieser Berufe und Existenzweisen sei genuin hochstaplerisch.16 Zum Schluss seiner Ausführungen widmet Wulffen dem Verhältnis von Kunst und Hochstapelei ein eigenes Kapitel: „Es besteht ganz gewiss eine psychologische Verwandtschaft zwischen dem dichterischen Vermögen und der hochstaplerischen Veranlagung.“17 Von der Odyssee über Goethe, Schiller, Keller, Daudet, Ibsen, Wagner und Nietzsche nennt Wulffen eine lange Liste an verschiedenen – unterschiedlich überzeugenden – Beispielen. Es sei das Leben in „Möglichkeitswelten“, „seitwärts der Wirklichkeit“, das die Dichter mit den Hochstaplern verbinde. Mimesis, Nachahmung, Schwindel, Fiktion, Imagination und Hochstapelei unterscheiden sich nur graduell voneinander. Je nach Kontext, Medium, Hinsicht und Blickwinkel können sie als Kunst oder als Verbrechen erscheinen. So endet der aufschlussreiche Text von Wulffen in einer emphatischen Apologie der künstlichen bzw. künstlerischen Möglichkeitswelten, des schönen Scheins, der Welt als Maskenball. Mittendrin steht der Hochstapler als der Meister des Scheins:

Sucht zu glänzen, werfen wir ihm vor, zu blenden, im Golde zu wühlen, im Lichtermeere von Juwelen zu wandeln, durch äußeren Schein zu täuschen, ohne innere Berechtigung hohe Personen und Aufgaben vorzugeben. Ist er damit nicht ein Kind der Zeit? der Welt? der Geschichte? ‚So wie ich bin, seid ihr alle!‘, ruft er uns zurück [...]. Der Hochstapler, der Schelm, hält euch den Spiegel vor!‘18

Dem Juristen ist unter der Hand der Verbrecher zum Moralisten geworden.

16 Vgl. ibid., S. 16. Wulffen geht interessanterweise auf den ausgeprägt männlichen Charakter dieser Berufe ein und untersucht, als einer der wenigen, die Frage nach dem Geschlecht von Hochstaplern oder besser die Frage, ob auch Frauen Hochstaplerinnen sein können. Er sieht eine besondere Affinität zwischen weiblicher Putzsucht und hochstaplerischer Verkleidung. „Die Dame“ – so Wulffen – „ist immer kostümiert“. Frauen, so könnte man schließen, sind die wahren Verkleidungskünstlerinnen und also von Natur aus Hochstaplerinnen. In der Kriminalgeschichte tauchen sie meist als Heiratsschwindlerinnen auf und Wulffen hat aus eigener Erfahrung eine Anzahl amüsanter Anekdoten zu berichten. In der Literatur finden sich erstaunlich wenige Hochstaplerinnen. In den hier verhandelten Texten etwa tauchen sie nur als Randfiguren auf. Dabei sind sie regelmäßig viel korrupter als ihre männlichen Kollegen, in keiner Weise berechenbar, halten keine Versprechen und haben keinen Funken Moral. Die erotische Ausstrahlung, die alle männlichen Hochstapler auszeichnet und die bei ihnen einen Großteil ihrer schillernden Anziehungskraft ausmacht, wirkt bei den Frauen in jeder Hinsicht disqualifizierend. Eine Hochstaplerin ist immer eine Prostituierte, niemals eine „Panerotikerin“ (vgl. Walter SERNER, Letzte Lockerung. Ein Handbrevier für Hochstapler und solche, die es werden wollen, München, Klaus G. Renner, 1981, S. 102). 17 WULFFEN, Psychologie, S. 78. 18 Ibid., S. 90. 228 DOROTHEE KIMMICH

Es bedarf keines ausführlichen Kommentars, um hier die Grundzüge von Nietzsches Ästhetik wiederzuerkennen.19 Gerade weil die Kunst keinen Anspruch auf absolute Wahrheit erhebt, sondern nicht mehr als Schein, als eine Interpretation sein will, ist sie in Übereinstimmung mit dem perspektivischen Charakter des Daseins und damit wahrer als alle Wahrheit.20 Für die Zeitgenossen war das Schwindelgefühl, das einen angesichts solcher Umwertungen der Werte, solcher Konstruktionen und Dekonstruktionen erfasst, nicht nur ein intellektuelles Erlebnis, sondern ganz konkreter Alltag: 1923, als die kriminalistische Studie erschien, erreichte die Inflation in Deutschland ihren ersten Höhepunkt. Die Umwertung oder Entwertung der Werte ist in dieser Zeit nicht nur eine Frage philosophischer Spekulation und dadaistischer Wut, sondern eine der Finanzen und der Politik. „In einer so ‚verunsicherten‘ Welt wuchs der Hochstapler zum Zeittypus par excellence heran“, konstatiert Peter Sloterdijk. „Im Blick auf den Hochstapler“, so begründet er seine These, „kam das Bedürfnis, sich dieses zweideutige Leben, wo stets alles anders herauskommt, als es ‚gemeint‘ war, anschaulich zu machen, am besten auf seine Rechnung.“21 Hochstapler sind also nicht nur unterhaltsame Abenteurer, sondern in einem viel weiter reichenden Sinne ein Typus, der auf die Herausforderungen der Moderne antwortet. Sie sind Lebenskünstler, Artisten, ja Philosophen der Existenz, die das Schwindelgefühl der anderen nicht kennen oder zumindest nicht fürchten. Sie leben ohne echten Namen, ohne Herkunft und Familie, kennen kein bürgerliches, erreichbares Lebensziel, erlernen keinen Beruf. Sie sind einsame Menschen, immer fremd, nirgends zuhause und oft auf Reisen. Trotzdem fühlen sie sich nie verlassen, kennen kein Heimweh; sie sind seltsam furchtlos, sie haben ein unerschütterliches Vertrauen in die Welt und in ihr Schicksal. Sie genießen ohne Rücksicht auf die Folgen – für sich und für andere. Sie sind Glückskinder und sie sind glücklich.

Hochstapelei als Kulturkritik oder: Geschichten von glücklichen Schwindlern

Felix Krull ist ein solches Glückskind.22 Er ist ein Sonntagskind und trotz seiner nicht gerade vielversprechenden Herkunft fest davon überzeugt, dass

19 Vgl. dazu Luc FERRY, Nietzsche. Homo ästheticus. L'invention du goût à l'âge démocratique, Paris, biblio, 1991, S. 217ff. 20 Gilles Deleuze formuliert dies – einen Aphorismus Nietzsches kommentierend – folgendermaßen: „Die Kunst ist die größte Macht des Falschen, sie preist die Welt als Irrtum, sie heiligt die Lüge, sie macht aus dem Willen zu täuschen ein höheres Ideal [...]. Wahrheit nimmt also vielleicht eine neue Bedeutung an. Wahrheit ist Erscheinung. Wahrheit bedeutet Verwirklichung der Macht.“ (Gilles DELEUZE, La philosophie de Nietzsche, Paris, Presses Universitaires de France, 1962, S. 117). 21 SLOTERDIJK, Kritik, S. 850. 22 Holger PILS, „Die Begegnung der Hochstapler oder Von der Vertracktheit der Aggression: Robert Neumanns ‚Olympia‘ als Parodie auf Thomas Manns Bekenntnisse des „MUNDUS VULT DECIPI“ 229 das Leben nur Gutes mit ihm vorhabe. Diese Vorstellung scheint sich im Laufe seines Lebens nicht geändert zu haben, obwohl er doch zum Zeitpunkt der Erzählung nicht nur ein schnell gealterter 40jähriger ist, sondern auch seinen Reichtum verloren hat und wohl sogar im Gefängnis sitzt. Es fehlt ihm die Sorge. Er ist zwar vorsichtig, aber doch gewissenlos.

Ich kann mein inneres Verhalten zur Welt nicht anders als widerspruchsvoll bezeichnen. Bei allem Verlangen nach Liebesrausch mit ihr eignete ihm nicht selten eine sinnende Kühle, eine Neigung zu abschätzender Betrachtung, die mich selbst in Erstaunen setzte.23

Felix hat eine leidenschaftliche Affäre mit der Welt, mit schönen Frauen, schönen Kleidern, mit ausgesuchtem Essen etc., und doch betrachtet er das Ganze wie ein großes Spektakel, in dem alle bloß eine Rolle spielen, ihre Kostüme und Masken zuweilen ablegen oder vertauschen. Ein explizites Beispiel für diese Haltung gibt er selbst:

[D]er Gedanke, der mich zuweilen beschäftigte, wenn ich gerade einige Minuten müßig stand, […] war der Gedanke der Vertauschbarkeit. Den Anzug, die Aufmachung gewechselt, hätten sehr vielfach die Bedienenden ebenso gut Herrschaft sein und so mancher von denen, welche, die Zigarette im Mundwinkel, in den tiefen Korbstühlen sich rekelten – den Kellner abgeben können. Es war der reine Zufall [...].24

Krull entwirft sich Möglichkeitswelten, indem er die gesellschaftlichen Rollen vertauscht. Seine Einbildungskraft zeigt ihm andere Welten, die die eigentliche Wahrheit seiner Wirklichkeit – nämlich deren Beliebigkeit – erst deutlich machen. Die Möglichkeitswelt, die er dann durch Rollenwechsel zu seiner eigenen Welt erklärt, erweist sich tatsächlich als nicht weniger wirklich als die Wirklichkeit, die bisher als solche gegolten hatte. „Mundus vult decipi“, der Wahlspruch der Hochstapler, ist für Felix Krull nicht die enttäuschte Haltung eines Gläubigen, der sich von der Welt abwendet, sondern die Aufforderung zur Teilnahme am großen Spektakel. Das theatrum mundi ist ein Betrug, der mit Zustimmung der Beteiligten stattfindet. Das hat der junge Felix bei seinem ersten Besuch im Theater

Hochstaplers Felix Krull“, in Germanica, Nr. 35, 2004, S. 91-104; Joelle STOUPY, „Félix Krull, l'imposteur ou l'aimé de Dieu“, in Germanica, Nr. 35, 2004, S. 69-80; vgl. auch Jürgen JACOBS, „Der Liftboy als Psychopompos? Zur Deutung von Thomas Manns“, in Euphorion, Nr. 88, 1994, S. 236-241. 23 Thomas MANN, Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, Der Memoiren erster Teil, Gesammelte Werke, Bd. VII, Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag, 1974, S. 491. Die Metapher des „kühlen Blicks“ erinnert an die Ästhetik der neuen Sachlichkeit, die bekanntlich mit dieser Vorstellung operierte. Vgl. Helmut LETHEN, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1994; vgl. auch Dorothee KIMMICH, „Coole Lover oder: ‚die Wand zwischen Netzhaut und Seele‘. Bemerkungen zu Joseph Roths ‚Flucht ohne Ende‘“, in Ingrid HAAG/ Karl Heinz GÖTZE (Hrsg.), „L’amour entre deux guerres, 1918-1945. Concepts et représentations“, Cahiers d’Études Germaniques, Nr. 55, 2008, S. 79- 92. 24 MANN, Felix Krull, S. 491f. 230 DOROTHEE KIMMICH bereits erkannt. In der Garderobe des abgeschminkten Startenors ist er schockiert von dessen abstoßender Hässlichkeit, die unter der Maske hervorkommt.

Wussten die Zuschauer, wem sie da huldigten? Oder achteten sie in stillschweigendem Einverständnis den Betrug nicht für Betrug? Letzteres wäre möglich; denn genau überdacht: wann zeigt der Glühwurm sich in seiner wahren Gestalt, – wenn er als poetischer Funke durch die Sommernacht schwebt, oder wenn er als niedriges, unansehliches Lebewesen sich auf unserem Handrücken krümmt? Hüte dich, darüber zu entscheiden!25

Das ist das Bekenntnis des Hochstaplers zur Erscheinung, zum Schein, zur Oberfläche der Dinge. Die einzige Wahrheit liegt in den Erscheinungen und davon gibt es immer viele, immer verschiedene, aus jeder Perspektive eine andere. Die Lüge beginnt dort, wo man versucht, eine Wahrheit als die einzige zu etablieren. „Hüte dich, darüber zu entscheiden!“, das ist auch die Lehre, die Krull seiner Geliebten Zouzou in Lissabon zu erklären versucht. „Der Mensch, wie schön er sei, wie schmuck und blank, ist innen doch Gekröß’ nur und Gestank“, mit diesem dummen Vers hatte sie ihn provozieren wollen. „Das ist ein garstiges Verschen“, antwortet er ihr herablassend, weil es

den Glauben zerstören will an Schönheit, Form, Bild und Traum, an jedwede Erscheinung, die natürlich wie es im Worte liegt, Schein und Traum ist, aber wo bliebe das Leben und jegliche Freude, ohne die ja kein Leben ist, wenn der Schein nichts mehr gelte und die Sinnenweide der Oberfläche? […]26

Er redet sich in Schwung und seine recht gedrechselte und überhebliche Ansprache endet in einer Anspielung auf Zouzous Vater, ein Professor der Paläontologie wie viele andere, die „die Wahrheit erblickten in Form und Schein und Oberfläche und sich zu deren Priester machten und auch sehr oft Professor dafür wurden“27. Auch der Professor ist ein Liebhaber des Scheins, also ein typischer Hochstapler. Professor Kuckuck ordnet die Dinge nach ihrem Aussehen, ihrer Erscheinung und nach den jeweiligen Ähnlichkeiten. Er orientiert sich dabei selbstverständlich an ihrer Oberfläche, am Außen.28 Krull sammelt andere Dinge: teure Kutschen, gute Zigarren, schöne Kleider, schöne Frauen.29

25 Ibid., S. 294. 26 Ibid., S. 633. 27 Ibid., S. 634. 28 Vgl. zu „Ähnlichkeit“ als Paradigma des Wissens in der Moderne Anil BHATTI, Dorothee KIMMICH, Albrecht KOSCHORKE, Rudolf SCHLÖGL, Jürgen WERTHEIMER, „Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma“, in Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Nr. 36, 2011, S. 233–247. 29 Kann er ein Paar eines Exemplars bekommen, etwa Mutter und Tochter, Zaza und Zouzou oder Schwester und Bruder, so entfaltet sich ihm die eine schöne Oberfläche gewissermaßen in eine ‚kubistische‘ Vervielfältigung und garantiert vielfachen Genuss. „MUNDUS VULT DECIPI“ 231

Was Professor Kuckuck an seinen Studien fasziniert und auch Felix in Bann schlägt, ist nicht nur die Schönheit der Dinge, der Phänomene und Lebewesen. Offenbar verbirgt sich in der Faszination durch die Oberfläche eine Weltanschauung. Das unendliche, unbegrenzbare Spiel der Ähnlichkeiten erweist sich als Lebensphilosophie und als episteme zugleich. Es ist die elegante Verabschiedung geschichtsphilosophischer Fortschritts- modelle. So hatte Kuckuck Felix bereits im Zug nach Lissabon auseinandergesetzt, dass

immer alles versammelt [sei], alle Zustände der Kultur und Moral, alles vom Frühesten zum Spätesten, vom Dümmsten bis zum Gescheitesten vom Urtümlichsten, Dumpfesten, Wildesten bis zum Höchst- und feinstentwickelten bestehe allezeit nebeneinander in dieser Welt [...].30

Es gibt keine Unterscheidung in mehr oder weniger entwickelt, in fortschrittlich oder primitiv, in modern oder vormodern. Kuckuck plädiert für ein Universum ohne Unterscheidung oder besser, ohne Diskriminierung. Er ist viel eher ein Archäologe im Sinne Foucaults als ein Darwinist. Die „Allsympathie“, die Kuckuck angesichts dieser unendlich vielen Erscheinungen der Materie fordert, ist die wissenschaftliche Form hochstaplerischer Panerotik, die Felix betreibt, wenn er nicht nur alle Frauen liebt, sondern dies am liebsten auch noch gleichzeitig täte. Die Wissenschaft ist die sublimierte Form von Felix’ Liebe zur Liebe und Kuckuck damit nicht der Gegenentwurf zu Krull, sondern sein Doppelgänger. Hochstapler sind also in einer doppelten Hinsicht eine Herausforderung der Moderne: Sie verweigern sich dem Prinzip des mit sich selbst identischen Ich, das nicht durch Nachahmung entsteht, sondern auf der Basis individueller Selbstkonstitution zu stehen hat. Zugleich provozieren sie aber auch eine Geschichtsphilosophie, die einem Fortschritts- und Perfektibilitätsmodell verpflichtet ist, die Moderne privilegiert und alles andere diskriminiert. Sie sind weder Idealisten noch Marxisten und eben auch keine Anhänger Darwins. Vielmehr sind sie Sammler im Sinne Walter Benjamins, Archäologen im Sinne Michel Foucaults und huldigen einer Art epikureisch grundiertem Rollenspiel.

Exkurs über die unglücklichen Hochstapler

Es gibt selbstverständlich auch weniger erfolgreiche, weniger fröhliche Hochstapler als Krull. Ich werde diese ganz kurz streifen, um dann wieder zurückzukehren zu den glücklichen Schwindlern. Der Marquis von Keith in Frank Wedekinds gleichnamigem Stück (1899) etwa ist ein skrupelloser Betrüger, ein geldgieriger Aufschneider, Ausbeuter, ein Feigling ist er zudem und am Ende ein schlechter Verlierer. Sein Jugendfreund Ernst Scholz nennt

30 Ibid., S. 633f. 232 DOROTHEE KIMMICH ihn ein „Ungeheuer an Gewissenlosigkeit“31 und hält ihn zu Recht für einen Zyniker.32 Franz Pander aus einer der Exzentrischen (1905/14) von Hermann Bang kommt ebenfalls wie der falsche Marquis aus kleinen Verhältnissen. Es gelingt ihm, eine Stelle in einem großen Hotel zu bekommen und er verspürt eine „trunkene Verliebtheit“, als er zum ersten Mal die luxuriösen Säle des Grandhotels betritt. Anders als Felix Krull wird ihm seine Liebe zur Welt, zu Galanteriewaren, zu gutem Essen und zu den Frauen zum Verhängnis. Er geht buchstäblich an unbefriedigter Lust zugrunde. Das Essen, das er nicht essen darf und die Frauen, die er nicht bekommt, treiben ihn in den Selbstmord. Er erhängt sich im Ballsaal des Hotels. Auch Andreas Zumsee aus Heinrich Manns Roman Schlaraffenland ist am Ende ein verbitterter Verlierer. Sein Erfolg als Geliebter einer Bankiersgattin und Pseudopoet war kurz und so sehr er sich gewünscht hatte, in der Berliner Gesellschaft zu reüssieren, waren seine Genüsse doch schal. Schnell konnte nichts mehr seinen Gaumen kitzeln, sein Interesse erregen, seine Lust wecken. Alle diese Hochstaplerfiguren sind Repräsentanten einer zynischen Welt und sie sind selbst Zyniker. Wirklichen Genuss kennen diese unkultivierten Materialisten nicht. Ihre Gewissenlosigkeit ist nicht spielerisch, sondern infam. Wenn sie sich nicht entscheiden können, dann nicht aus Liebe zur Schönheit, aus kukukscher „Allsympathie“33, sondern aus dekadentem Überdruss. Die bitter-ironische Anleitung zu einem solchen Leben, gewissermaßen den ästhetischen Kommentar zu diesen Gestalten, legt Walter Serner in seinem Handbrevier für Hochstapler und solche, die es werden wollen (1927) vor.34 Hier wird der Zynismus zum Programm einer wütenden postdadaistischen Zerstörungsästhetik.35 Das praktische Handbrevier beginnt wie seine moralistischen Vorbilder mit diätetischen Tipps, das heißt Vorschriften für Essen, Trinken und Kleidung des Hochstaplers. Die ersten 50 Regeln enthalten „Elementares“, dann folgen Anweisungen zur allgemeinen „Menschenkenntnis“, für das Verhalten in Hotels und auf Reisen, für den Umgang mit Frauen (der Hochstapler ist auch hier selbstverständlich ein Mann), „Trucs“, „Training“ und „Warnungen“. Die 49. Regel lautet: „Sprich nicht zu oft zynisch. Sei es immer.“36 Und die „Schlussnummer“ – Regel Nr. 591 – liefert gewissermaßen die Rechtfertigung für diesen Zynismus: „Die Welt will betrogen sein, gewiss.

31 Frank WEDEKIND, „Ein gefallener Teufel. Der Marquis von Keith“, in ders., Kritische Studienausgabe in 8 Bänden, Bd. 4, Darmstadt, Häusser, 1999, S. 149-229, S. 164. 32 Ibid. 33 MANN, Felix Krull, S. 548. 34 Vgl. SERNER, Letzte Lockerung. 35 Der erste Teil des Bandes war bereits 1920 erschienen und damals ein dadaistisches Manifest gewesen, 1927 – nach der Trennung von den Dadaisten – erscheint es mit einem zweiten „praktischen“ Teil. 36 Ibid., S. 76. „MUNDUS VULT DECIPI“ 233

SIE WIRD ABER SOGAR ERNSTLICH BÖSE, WENN DU ES NICHT TUST.“37 Alle diese Hochstapler haben eine andere literarische Funktion als Felix Krull. Sie dienen einer Gesellschaftskritik, die sich gegen die korrupte Society der wilhelminischen Ära und der Weimarer Zeit wandte. Diese Hochstapler sind zugleich Produkte, Schmarotzer, Tyrannen und Opfer dieser Gesellschaft. Von einer schelmischen Hingabe an die Schönheiten dieser Welt, wie wir sie von Krull kennen, kann hier nicht die Rede sein. Dass Krull aber wiederum auch keine Ausnahme ist, sondern vielmehr einen bestimmten ‚Typ‘ von Hochstapler verkörpert – eben den philosophischen Hochstapler –, lässt sich anhand meiner letzten Beispiele zeigen. Davon werde ich eines – Jean Cocteaus Thomas l’imposteur (1923)38 – nur streifen. Das andere ist Efraim Frischs Zenobi. Cocteaus Guillaume Thomas (de Fontenoy) ist wie Krull unter einem guten Stern geboren: „Guillaume betrog ohne Boshaftigkeit“39. Er ist ein Träumer, der in vielen verschiedenen Welten lebt, immer „halb im Traum“40, wovon auch seine doppelte Lebenslinie zeugt, was eine handlesende Zigeunerin mit Überraschung feststellt. Thomas ist schön, er ist geschickt, furchtlos und auch wieder ein großer Liebender. Er genießt sein Leben ohne Sorgen bis zu seinem Tod, und so merkt er auch nicht, dass es mit ihm zu Ende geht: „‚Eine Kugel‘, sagte er sich, ‚wenn ich mich nicht tot stelle, bin ich verloren‘. Bei ihm allerdings waren Realität und Fiktion eines geworden. Guillaume Thomas war tot“.41 Der Hochstapler hat gewissermaßen seinen eigenen Tod versäumt, weil er damit beschäftigt war, sich zu verstellen. Damit hat er die alles bedrohende Angst vor dem Tod überlistet und das Ziel aller Lebenskünstler erreicht. Von Efraim Frischs42 Zenobi ist nicht einmal bekannt, ob er überhaupt gestorben ist. Er ist wie viele Hochstapler früh verwaist und schlägt sich mühsam durch, bis er von einem Gönner in die Hauptstadt des Reiches – man darf Wien vermuten – geholt wird. Er reist als falscher Baron von Stauff

37 Ibid., S. 162. 38 Jean COCTEAU, Thomas l´imposteur [1923], Paris, Gallimard, 1973. 39 Ibid., S. 32: „Guillaume dupait sans malice“ (Übersetzung DK). 40 Ibid., S. 31: „à moitié dans le songe“ (Übersetzung DK). 41 Ibid., S. 174: „‚Une balle‘, se dit il. Je suis perdu si je ne fais pas semblant d’être mort. Mais en lui, la fiction et la réalité ne formait qu’un. Guillaume Thomas était mort.“ (Übersetzung DK). 42 Der galizische Jude Efraim Frisch ist heute fast vergessen. Dabei war Efraim Frisch – anders als heute – seinen Zeitgenossen keineswegs ein Unbekannter. Er leitete viele Jahre den Neuen Merkur in München (1914-1916, 1919-1925) und schrieb eine große Anzahl von Artikeln und Essays für die Frankfurter Zeitung. 1933 wanderte er in die Schweiz, nach Ascona aus, wo er 1941 starb. Frisch hat in den 1920er Jahren neben seiner Redaktionsarbeit vor allem aus dem Französischen übersetzt, neben Werken von Jean Giraudoux und André Gide auch Cocteaus Enfants Terribles. Wahrscheinlich kannte er also auch Thomas l’imposteur. Seine Frau übersetzte aus dem Russischen und kannte daher sicher Hochstaplerfiguren wie Iwan Turgenjews „Rudin“. Vgl. Eva HENLE, „Efraim Frisch (1873-1942)“, in Literatur und Kritik, Nr. 327/328, 1998, S. 103-108. 234 DOROTHEE KIMMICH durch Italien, befreit als verkleideter Irrenarzt einen Delinquenten aus der Gefängnispsychiatrie, taucht auf jeder großen Gala auf, unterhält sich mit dem König, wird wiederholt für einen Diplomaten gehalten, hält vor einer ergriffenen Trauergemeinde die Grabrede für einen ihm völlig Unbekannten und antwortet mit großer Begeisterung auf Gesuche in Kleinanzeigen, wobei er sich wahlweise als Wohnungsmakler oder als Großgrundbesitzer ausgibt. Zenobi wird kurz vor Ausbruch des ersten Weltkriegs in einem Duell schwer verletzt, seitdem gibt es, wie uns der Epilog berichtet, nur noch ungesicherte Nachrichten von seinem Über- oder Weiterleben. Zenobi war „kein Kämpfer und kein Realist, der wirkliche Hindernisse wahrnimmt, mit Bedacht ihre Überwindung erwägt oder an seiner Schwäche verzweifelt“ 43, so heißt es auf den ersten Seiten.

Er war einer von den seltenen Glücklichen […]. Er hatte das große Staunen in sich, das ursprünglich allen Menschen eigen ist, dazu aber ein beglückendes Horchen auf ferne Musik, und er wäre in einer Welt, die auf solche Zwecklosigkeit die Todesstrafe setzt, vielleicht schon bald dem Untergange verfallen [...].44

Zenobi liebt – wie alle seine Kollegen – das Theater; die Bühne übrigens genauso wie die Kulissen: Er macht keinen Unterschied zwischen vor oder hinter dem Vorhang, zwischen Spiel und Wirklichkeit. Auch Zenobi interessiert an seiner Umgebung nur die Oberfläche: „Wie ein Magnet nur Eisen und Eisenartiges an sich zieht, so zog sein Wesen aus den mannigfachen Inhalten menschlichen Lebens und Tuns [...], nur das an sich, was sich unmittelbar als Geste und Ausdruck ihm mitteilte.“45 Die Nachahmung, Mimesis oder sogar Mimikry ist sein Lebensprinzip und sie erschöpft sich keineswegs in simpler Assimilation an die Macht. Im Gegenteil: Die kritische, ja zerstörerische Kraft der Mimesis und ihrer Ironie wird in Zenobis großartiger Exerzierszene deutlich. Zenobi ist – anders als Krull – gerne Soldat und liebt vor allem das Exerzieren. Er fällt dabei mit seiner Begeisterung für die militärische Massenästhetik aus dem Rahmen und exerziert mit so viel Hingabe, dass sein Auftritt dem Ganzen den Charakter eines Schauspiels verleiht, oder besser gesagt: Der soldatisch-ernsthafte Aufmarsch wird dadurch als Varieté entlarvt. Wie in einer Pantomime von Charlie Chaplin – etwa in Modern Times – oder in Robert Walsers Berliner Dienerschule im Roman Jakob von Gunten erregt sein Verhalten zunächst Erheiterung, provoziert dann bei den Vorgesetzten aber Wut und schließlich die Relegation. In die Schreibstube versetzt, langweilt er sich, reüssiert dafür aber in der feinen Wiener Gesellschaft. Dabei bekommt er wie alle Hochstapler die Gelegenheit, über Kleider zu philosophieren und über die Frage, ob Kleider Leute oder vielmehr – wie Krull behauptet – der Mann das Kleid mache.

43 Efraim FRISCH, Zenobi, Olten/ Freiburg im Breisgau, Walter Verlag, 1981, S. 12. 44 Ibid. 45 Ibid, S. 27. „MUNDUS VULT DECIPI“ 235

Zenobi kommt zu dem Schluss, dass beides nicht mehr stimme in einer Zeit, „in der die Menschen nicht mehr das sind, was sie darstellen [...]“.46 Kleider repräsentieren nämlich keinen Stand und keinen Beruf mehr. Sie sollen nun vielmehr das ‚Individuum als solches‘ kennzeichnen, die Persönlichkeit unterstreichen, aber je mehr das versucht wird, desto deutlicher wird, dass es gar keine Persönlichkeiten, ja nicht einmal Personen gibt. Die Individualisierung der Mode – so stellt Zenobi ganz richtig und bis heute gültig fest – befördert das Stereotype und führt erst recht zur Verwechslung. Zenobi ist – wie Felix Krull – ein kühler Beobachter und trotzdem begeistert von dem, was er sieht. Er ist ein Fremder, distanziert, auf seine Freiheit bedacht und trotzdem immer wieder hingerissen von dem, was die Welt ihm bietet. Zenobi ist ein Genießer, aber er ist nicht dekadent. Er kennt keine Sorge, aber er ist doch nicht gewissenlos. Vergangenheit und Zukunft, Erfahrung und Entwicklung, Persönlichkeit und Charakter sind Bestimmungen, die auf Zenobi nicht passen. Er hat durchaus Energie, aber keinen Willen. Er ist ein raffinierter Verführer und lässt sich doch mit Freuden selbst verführen.47 Zenobi weiß selbst nicht, wer er ist. Zenobi lebt in einer zynischen Welt, ist aber selbst kein Zyniker. Kein Zyniker – so sollte man präzisieren – im üblichen Wortsinne wie es etwa für Wedekinds Marquis von Keith oder Walter Serners Hochstapler stimmt, aber vielleicht in dem Sinne, in dem Nietzsche den Begriff mehrfach verwendet hat. In der „Zweiten unzeitgemäßen Betrachtung. Über den Nutzen und Nachtheil der Historie“ heißt es vom Zyniker:

Wenn ein Glück, wenn ein Haschen nach neuem Glück in irgendeinem Sinne das ist, was den Lebenden im Leben festhält und zum Leben fortdrängt, so hat vielleicht kein Philosoph mehr recht als der Zyniker. [...] [W]er sich nicht auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheiten vergessend, niederlassen kann, wer nicht auf einem Punkte wie eine Siegesgöttin ohne Schwindel und Furcht zu stehen vermag, der wird nie wissen, was Glück ist, und noch schlimmer: er wird nie etwas tun, was andere glücklich macht.48

Die Schwindler sind die einzigen, denen im „Karneval der Identitäten“49 nicht schwindelig wird. Zenobi, Krull und Thomas sind wie Nietzsches Zyniker und Sloterdijks Kyniker50: schwindelfrei und furchtlos, bereit, auf

46 Ibid., S. 44. 47 Zenobi ist ein hingebungsvoller Verehrer schöner Frauen, wirbt geduldig um sie, genießt seine Erfolge und vergisst Misserfolge sofort. Er gerät selbst an eine Hochstaplerin, die allerdings auf dem Weg ins Verbrecherische einen Vorsprung hat und ihn dann zu seiner Erleichterung verlässt. Zenobi ist kein moralischer Mensch, hat aber ein Herz für Arme. Seine letzte Rolle spielt er als großartiger Rächer gefallener Mädchen. 48 Friedrich NIETZSCHE, „Zweite unzeitgemäße Betrachtung. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie“, in ders., Werke, hrsg. v. Karl Schlechta, Bd. 1, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1983, S. 212. 49 NECKEL, „Bluffen, Täuschen und Verstellen“, S. 61. 50 Vgl. dazu auch Peter SLOTERDIJK: „[...] Strategie und Taktik, Verdacht und Enthemmung, Pragmatik und Instrumentalismus – dies alles im Griff eines zuerst und zuletzt an sich selbst denkenden politischen Ichs, das innerlich laviert und äußerlich panzert.“ So 236 DOROTHEE KIMMICH

Vergangenheit, Geschichte und „Stammbäume“ zu verzichten oder sie immer wieder neu zu erfinden. Der Lebensgenuss, den uns diese Hochstapler vorleben, hat die Faszination des Verbotenen. Er ist mit einem bestimmten Gestus der Befreiung verbunden und beweist die Macht des Spiels, die Kraft der Phantasie und den Erfolg der Lüge. Die Einbildungskraft der Hochstapler verweigert sich dem Realitätsprinzip. Sie sind die Glücklichen, die den Augenblick genießen können – und zwar ohne Teufelspakt. Sie repräsentieren damit den Gegenentwurf zu all den Faustgestalten, den strebenden Männern, die verzweifelt, grausam und erfolglos dem Glück nachjagen, ohne es auch nur je zu sehen. Diese sind angewiesen auf Erlösung, die Hochstapler nicht. Sie haben nicht einmal Angst vor dem Tod.

beschreibt er Nietzsches Kynismus. Er unterscheidet auch weiterhin Kynismus als philosophische Haltung und Zynismus als dekadenten Zustand einer Gesellschaft (SLOTERDIJK, Kritik, S 10). Das von Sloterdijk hier beschriebene Individuum weist starke Ähnlichkeit mit Plessners modernem „honnête homme“ in seinem Essay über die ‚Grenzen der Gemeinschaft‘ auf. Strategie und Panzerung sind Stichworte, die dies nahelegen. Über einige Versuche Brechts, die Lüge zu erkunden

Karl Heinz GÖTZE Aix-Marseille Université

Warum Brecht, wenn es um die Lüge geht? In Peter von Matts weit ausgreifender Strukturuntersuchung der literarischen Intrige1 kommt Brecht nicht vor, wohl deshalb, weil Lügen zwar in den vielfältigsten Formen von Brecht dargestellt werden, aber kaum der Stolperstein sind, an dem die dramatische Weltordnung in Unordnung gerät und dann in die Katastrophe treibt, wie die Lüge des Jago den Othello. Bei Brecht ist die Lüge nicht die Ausnahme, sondern alltäglich, allemal eingebunden in ein verzweigtes Geflecht von Bedingungen, Zwängen und zweifelhaften Folgen. Man kann es genauer sagen, warum es aussichtsreich erscheint, den Dichter, aber auch den Philosophen Brecht über die Lüge zu befragen: Jeder, der sich heute mit dem Thema beschäftigt, gerät in ein seltsames Dilemma. Einerseits ist der Begriff der Lüge nach wie vor alltäglich und unverzichtbar. Unverzichtbar nicht nur im religiös-moralischen Bereich, sondern eigentlich überall, im Privaten, also in Liebe, Freundschaft, Familie, wo die Lüge nicht ohne Grund als zersetzend gilt, aber auch in Politik und Gesellschaft, wo es alle Reputation kosten kann, bei einer Lüge erwischt zu werden. „Lüge“ ist hier einer der wichtigsten Kampfbegriffe; Lüge, ein Wort das sich, wie man in unzähligen Internet-Einträgen leicht sehen kann, zu immer neuen Komposita verbindet, aber nicht sein darf, zumindest kaum straflos zugegeben werden darf. Andererseits ist der Begriff der Lüge seit, sagen wir es grob, Marx und Nietzsche und Freud theoretisch höchst fragwürdig, weil er ohne Metaphysik auf schwachen Beinen steht. Was bleibt noch von der moralischen Verurteilung der Lüge, wenn man nicht mehr glaubt an eine religiöse oder moralische Instanz absoluter Natur? Wenn man nicht mehr die Objektivität der Wahrnehmung und ihrer Instrumente voraussetzt? Wenn man vom Unbewussten redet oder von Ideologie als objektiv falschem Bewusstsein?

1 Peter von MATT, Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist, München/ Wien, Hanser, 2006. 238 KARL HEINZ GÖTZE

Wo die Grenze ziehen zwischen absichtlicher Falschaussage, Selbstlüge, Lebenslüge, Fehlwahrnehmung, Bornierung und vielen anderen Begriffen dieses Feldes? Die meisten Philosophen verzichten also seit dem 20. Jahrhundert gern auf diesen so unscharfen Begriff und suchen genauere, die freilich nicht die gleiche Funktion haben. So entsteht eine interessante Spaltung, die kaum ihresgleichen kennt: Allüberall wird mit einem Begriff operiert, dessen theoretische Haltbarkeit fundamental in Frage steht. Wir sollten beides ganz ernst nehmen: die Tatsache, dass wir nicht mehr auf der Höhe der Zeit eine Ethik (und darin das Lügenverbot) begründen können, die, wie Ernst Tugendhat formuliert, „irgendwie absolut über uns lastet, wie eine säkularisierte Stimme Gottes“2, und die Tatsache, dass wir alle in der Wirklichkeit nicht ohne den Begriff der Lüge auskommen. Da liegt die ganze Schwierigkeit, jedenfalls wenn man nicht den ethischen Bereich zugunsten des ästhetischen ganz ausklammert. Wer sich für die philosophische Artikulation des Problems interessiert, dem seien übrigens Tugendthats Vorlesungen über Ethik von 1993 wärmstens ans Herz gelegt, ein Versuch, den Verpflichtungscharakter von Moral ohne jeden Rückgriff auf Metaphysik zu begründen. Er zeigt glänzend, dass selbst noch Kants „Vernunft-fettgedruckt“3, so nennt er es, eine Nachfolgerin der Gottesvorstellung ist, er zerpflückt die Begründungen der Utalitaristen und der Kontraktualisten, verwirft die Idee eines eingeborenen moralischen Sinns – und gerät bei der Begründung seiner ganz diesseitigen „Moral der universellen Achtung“4 in aufschlussreiche Schwierigkeiten, die zu verfolgen hier nicht der Ort sein kann. Jedenfalls verdient festgehalten zu werden, dass das apriorische Lügenverbot, das zwischen Augustinus und der Aufklärung, vielfältig modifiziert und aus Menschenliebe amputiert, Geltung hatte und in der deutschen Tradition durch Kants Idealismus und Goethes klassischen Humanismus der Zeit der Iphigenie noch einmal mit diesseitiger Begründung universalisiert wurde, im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert seinen extramundalen Bezugspunkt verliert und damit seine fraglose Legitimität.5 Gefragt ist also keine neue, schlüssige Moralphilosophie, eine Aufgabe, die den klügsten Köpfen des 20. Jahrhunderts offenbar unüberwindbare Schwierigkeiten entgegen gesetzt hat (den dümmsten allerdings nicht).6 Gefragt ist eine (Lügen-)Moral, die auskommt ohne den starren Dualismus von Gut und Böse, ohne den Glauben an eine „vorgegebene, über das

2 Ernst TUGENDHAT, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1993, S. 25. 3 Ibid, S. 45. 4 Ibid., S. 80. 5 Vgl. dazu Maria BETTETINI, Eine kleine Geschichte der Lüge. Von Odysseus bis Pinocchio, Berlin, Wagenbach, 2003. 6 Nichts lag Brecht ferner als eine Betrachtung der Lüge aus abstrakt-ethischen Gesichtspunkten. Insofern ist die einzige Studie, die sich bisher explizit dem Thema der Lüge bei Brecht gewidmet hat, schon im Ansatz verfehlt. Svea OBERG, Die Lüge bei Bertolt Brecht und die Lüge, eine ethische Betrachtung, Norderstedt, Grin Verlag, 2005. ÜBER EINIGE VERSUCHE BRECHTS, DIE LÜGE ZU ERKUNDEN 239 menschliche Sein verhängte Ordnung von Geboten und Verboten“7 eine praktische Moral, also eine kritische, eine wandelbare. Hier ist die Stelle, wo wir von Brecht Vorschläge erwarten dürfen. Beim Umfang seines Werks kann das hier natürlich nur stichprobenartig geschehen. Stichprobenartig und in großem Maßstab. Bevor ich mich der ersten Stichprobe zuwende, Brechts Baal von 1919, sei eines noch ganz allgemein voraus geschickt: Man kann Brecht einen Immoralisten nennen, als solchen loben oder tadeln, aber jedenfalls ist er kein Agnostiker, einfach gesprochen: er ist davon überzeugt, dass man die Wahrheit herausbekommen kann. Sicher nicht eben auf einfache Weise, nicht von jedem ohne Anstrengung überall, nicht jede Wahrheit zu jeder Zeit, schon, weil sie sich mit der Zeit verändert. Längst ist es aus vielfältigen, wechselnden Gründen nicht leicht, sie zu schreiben, zu verbreiten, für ihre Wirksamkeit zu sorgen. Das alles ändert nichts daran, dass Brecht, wie praktisch auch wir selbst und wie sogar die Philosophen in ihrem Alltagsleben, davon ausgeht, dass es Wahrheiten gibt und Lügen und Strategien ihrer Unterscheidung. Vielleicht fehlen ihm manche schulphilosophische Argumente gegen erkenntnistheoretischen Relativismus, aber gewiss wüsste er ein unabweisbares vorzubringen: Wer a priori bestreitet, dass man die Dinge zuverlässig erkennen könne, der lässt sie auch so, wie sie sind – und so wie sie sind, sollten sie nicht bleiben.

Baal und die tierische Freiheit, nicht zu lügen

Brechts Baal ist ein übler Bursche, ein feister, gefräßiger Säufer, faul, geil, ohne Religion, ohne Rücksicht, ohne Grenzen, egoistisch – mit allen Lastern geschlagen. Er verführt die unschuldige, minderjährige Freundin seines Freunds Johannes, stößt und verstößt sie dann, bis sie ins Wasser geht wie Ophelia und mit besseren Gründen. Er ist unverschämt und schamlos. Die Frau seines Bürochefs macht er hörig. Auf Baal „ist kein Verlaß“8, er schädigt seine Arbeitskollegen, den Toten noch raubt er die Schnapsvorräte. Er schwängert die Opernsängerin Sophie Dechant, zerstört ihr Karriere und Leben. Er betrügt sogar den Neger John, seinen Impresario, was politisch bekanntlich nicht korrekt ist. Er lästert Gott, verdirbt alle Seelen, auch die seines Freundes Ekart, dem er erst seine abgelegten Weiber zuführt, derer er überdrüssig ist, mit dem er dann selbst schläft und den er schließlich ermordet. Am Ende sehen wir Baal sterben, kriechen jedenfalls, fertig, aber nicht bußfertig. Das unter unserem Gesichtspunkt Bemerkenswerte ist, dass Baal, dieser völlig amoralische Baal, fetter Körper aller Laster dieser Welt, dass Baal

7 So Wolfgang Fritz Haug über Brecht. Wolfgang Fritz HAUG, Philosophieren mit Brecht und Gramsci, Berlin, Argument, 2. Aufl. 2006, S. 128. 8 Bertolt BRECHT, Baal [1919], in Bertolt BRECHT, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Stücke 1, Frankfurt am Main/ Weimar, Aufbau- und Suhrkampverlag, 1989, S. 39. 240 KARL HEINZ GÖTZE nicht lügt.9 Dieser absolut egoistische Mensch ist absolut ehrlich. Schon die erste Szene zeigt es. Während die Dichterlesungssoirée im bürgerlichen Hause, als deren Star Baal als junger Poet geladen ist, ihren üblichen Lauf nimmt, füllt der sich den unmäßigen Bauch und säuft sich dazu die Hucke voll. Derart abgefüllt, äußert er sich despektierlich zu allerlei Gedichten, die vorgelesen werden: „Das ist Quatsch“10 um sich dann lachend und trinkend die kunstsinnigen Gäste vorzunehmen: „Die da ist dumm und gewöhnlich und leer wie ein Bordell, aber sie hat weiche Lenden und wird nie satt. Der befleckt sich selber und kauft sich reizende Bilder dazu. Die betrügt den, der ein Scheusal ist, mit dem, der ein Geck ist. […] tut nicht so, ihr seid auch Säue, und das gefällt mir. Es ist noch das Beste an euch, glaubt mir, das Allerbeste.“11 Der Skandal bleibt nicht aus, der gewaltsame Rausschmiss auch nicht: „Muss ich euer Geschwätz mitfressen, um meinen Bauch vollstopfen zu können? Leckt mich am Arsch.“12 Und so weiter, in allen Situationen, auch denen zwischen den Schenkeln. Ich erspare uns die Beispiele. Kurz: Baal ist ein Tier: „Der liebste Ort/ Auf Erden war ihm immer der Abort.“13 Seine Strategie ist: „Man muss das Tier herauslocken!“14 „Sie sind ein Viech, Herr Baal!“15 sagen die Fuhrleute. „Die eigene Mutter aussperren! Das ist viehisch!“16 sagt seine Mutter. „Ich dachte, er sei ein Orang-Utan“17, sagt die Opernsängerin, bevor sie sich ihm hingibt. „Sie lästern Gott. Sie sind ein Tier. Sie sind d a s Tier. Das Urtier! Ein schmutziges, hungriges Tier, das schön ist und gemein“18, sagt der Geistliche. Baal ist ein Viech, eine Sau, was man moralisch beim Jüngsten Gericht für ihn ins Feld führen könnte gegenüber allen Fuhrleuten, Müttern, Opernsängerinnen und Geistlichen dieser Welt, wäre allein die Tatsache, dass er nicht lügt. Dies wäre freilich ein Missverständnis vor Gott. Er verzichtet nicht auf die Lüge, weil dort für ihn eine moralische Grenze wäre, sondern deshalb, weil vertierte Menschen, die ihren unmittelbaren Bedürfnissen leben, nicht lügen müssen. Die Starken bedürfen der Lüge nicht, meinte schon

9 Wenn man ganz genau hinschaut, dann könnte man das bestreiten. Es gibt eine Passage, in der er mit den Bauern eine Art Eulenspiegelei anstellt, um sie zu foppen. Es gibt auch die Passage, wo er seiner sterbenden Mutter und vielleicht auch sich selbst vorlügt, er werde bald als Dichter viel Geld verdienen. Das ändert aber nichts am grundlegenden Befund seiner Ehrlichkeit. Jedenfalls lügt er nie dort, wo bürgerlich-wohlerzogene Menschen lügen würden, seine Lügen sind die Lügen des Tricksters oder der Schonung, denen wir weiter unter noch begegnen werden. 10 BRECHT, Baal, S. 24. 11 Ibid., S. 24f. 12 Ibid., S. 26. 13 Ibid., S. 31. 14 Ibid., S. 33. 15 Ibid. 16 Ibid., S. 35. 17 Ibid. S. 44. 18 Ibid., S. 55. ÜBER EINIGE VERSUCHE BRECHTS, DIE LÜGE ZU ERKUNDEN 241

Achill.19 Der starb freilich, während Odysseus, stark, aber eben auch schlau, den Trojanischen Krieg überlebte. Baal ist nur fett, nicht körperlich stark, aber er wird stark in seiner Amoralität, nicht zuletzt, weil er die Lüge verweigert. Seine Verführungskraft rührt genau daher. Er ist das Negativbild des adeligen Libertins à la Valmont oder Don Giovanni. Er erlegt seine eitel- naiven weiblichen Opfer nicht dadurch, dass er sie mit überlegener, höfischer Rhetorik in Knie und Lenden zittern macht, sondern dadurch, dass er auf alle Rhetorik und damit auch auf alle Lüge verzichtet und sagt, was er will:

EMMI: Du bist unverschämt. BAAL: Das weißt Du.20

Scham hängt mit Gewissen eng zusammen. Freud hat ein paar Jahre später in Das Unbehagen in der Kultur21 freigelegt, was Baals Faszination ausmacht: Er ist unbeschadet von Kultur, von Scham, von Reue und Gewissen, er lebt säuisch seine Lust und zieht damit die Bewunderung all’ derer auf sich, die gequält sind von der Zivilisation, von der Zivilisation, die allemal auch das Lügen einschließt. Baal ist gemein im unmittelbaren Wortsinn, aber er ist auch Allegorie des aller Kreatur Gemeinen, Primitiv- Elementaren. Es bleibt der simple Befund, dass das sicherste Mittel gegen die Lüge die Regression auf den Status des Tieres bleibt. Die Lüge ist, ob wir es wollen oder nicht, eine Errungenschaft der Zivilisation. Selbst da, so haben jüngere Forschungen ergeben, ist freilich die Differenz zwischen Mensch und Tier nicht so groß, wie wir sie gerne sehen möchten. Nicht unbegründet beginnt Peter von Matt sein schon zitiertes Buch über die Intrige mit Reflexionen über die afrikanische Teufelsmantis, Idolum diabolicum, über Pflanzen und Tiere, die sich der Täuschung bedienen, um zu überleben bzw. sich einen Evolutionsvorteil zu verschaffen. Tiere und Pflanzen sind auch nur Menschen. „Dennoch“, so gibt von Matt zu, „wird das Monopol der Lüge seit alters dem Menschen zugesprochen.“22 Jedenfalls im Lügen haben wir es doch weiter gebracht als die Tiere und Pflanzen, das dürfen wir uns zu Gute halten, wenn wir denn wollen. Reinecke Fuchs muss beinahe Mensch werden, damit er schlau sein darf. Unübersehbar sind freilich auch die Aporien der Baal-Haltung. Sie ist nicht verallgemeinerbar, schon, weil sie gebunden ist an eine starke Individualität. Nicht jeder ist François Villon, einer der Inspiratoren von Brechts Jugendwerk, nicht jeder ist, sagen wir, Rainer Werner Fassbinder.

19 „Denn der Mann ist mir so verhasst wie die Pforten des Hades,/ Der ein anderes birgt im Sinn und ein anderes ausspricht.“ HOMER, Ilias. Neue Übersetzung. Nachwort und Register von Roland Hampe, Stuttgart, Klett, 1999, S. 170 (9. Gesang, Vers 312f.). 20 BRECHT, Baal, S. 30. 21 Freuds Text erschien zuerst im Jahre 1930. Sigmund FREUD, Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften, Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag, 1994. 22 Von MATT, Intrige, S. 21. 242 KARL HEINZ GÖTZE

Vor dem Kantschen kategorischen Imperativ hätte Baals Haltung keine Chance auf Geltung. Das könnte ihr egal sein. Ein anderer Einwand uns aber nicht. Er käme von der Seite der Opfer her. Darf vitales, glücksorientiertes Leben unbekümmert sein um die Flurschäden, die es anrichtet? Selbst wenn man das bejahte, bliebe eine existentielle Frage: Wie kann verhindert werden, dass das Tier scheitert an der Zivilisation, mächtig, wie sie nun einmal ist? Vergessen wir nicht: am Ende liegt Baal auf den Knien, bußfertig nicht, aber doch auf den Knien. Und er sagt: „Ich bin keine Ratte.“23 Der anarchistischen Radikallösung des Lügenproblems, aller ethischen Probleme stellen sich Denkwürdigkeiten in den Weg. Brecht hat das allmählich gesehen, aber noch Kragler, die Mittelpunktfigur von Trommeln in der Nacht, sagt am Ende den Revolutionären, die ihn zum Mittun bewegen wollen: „Mein Fleisch soll im Rinnstein verwesen, dass Eure Ideen in den Himmel kommen? Seid ihr besoffen?“ Und am Ende kommt wieder die Schweinemetapher: „Ich bin ein Schwein und das Schwein geht heim.“24 In den Schweinestall namens Welt, aber lebendig immerhin. Der Baal hat Brecht jedenfalls nicht los gelassen. 1926 versucht er eine weitere Fassung, die vierte insgesamt bis dahin (Lebenslauf des Mannes Baal). In der Zeit um 1930 verfasst er Skizzen zu einer fünften, in Form eines Lehrstücks. Der böse Baal der asoziale sollte das Stück heißen. 1938 beugt er sich für das Projekt seiner Gesammelten Werke noch einmal über den Text: „Baal überflogen […]. Schade drum. […] Baal, der Provokateur, der Verehrer der Dinge, wie sie sind, der Sichausleber und der Andreausleber. Sein ‚Mach, was dir Spaß macht!’ gäbe viel her, richtig behandelt.“25 1955 überarbeitet Brecht für die Aufbau-Ausgabe das Stück ein letztes Mal. In diesem Zusammenhang entsteht der Aufsatz „Bei Durchsicht meiner Stücke.“ Dort heißt es über Baal: „Das Stück Baal mag denen, die nicht gelernt haben, dialektisch zu denken, allerhand Schwierigkeiten bereiten. Sie werden darin kaum etwas anderes als die Verherrlichung nackter Ichsucht erblicken. Ich lasse es, wie es ist, da ich nicht die Kraft habe, es zu verändern; ich habe nicht einmal Lust, es zu erklären. Ich gebe zu, dem Stück fehlt Weisheit.“26 Zur Weisheit gehört das Sich-abfinden mit dem, was man nicht ändern kann. Der wichtigste, der tiefste, der einzig zuverlässige Motor von Veränderung aber ist der Wunsch, endlich das tun zu können, was Spaß macht. Tugenthat kommt in seinen schon erwähnten Vorlesungen zur Ethik zum Schluss, „dass das Wollen der Individuen der einzig denkbare nicht- transzendente Hintergrund ist, von dem her Praktisches begründbar ist.“27 So

23 BRECHT, Baal, S. 82. 24 Bertolt BRECHT, Trommeln in der Nacht, in Bertolt BRECHT, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Stücke 1, Frankfurt am Main/ Weimar, Aufbau- und Suhrkampverlag, 1989, S. 228f. 25 Vgl. die Darstellung der Entstehungsgeschichte des Baal, S. 516. 26 Ibid., S. 517. 27 TUGENTHAT, Ethik, S. 203. ÜBER EINIGE VERSUCHE BRECHTS, DIE LÜGE ZU ERKUNDEN 243 reden Philosophen. Brecht sieht das Gleiche eher von einer ästhetischen Perspektive her und denkt es energetisch: „Das ästhetische Vergnügen darf sich auch vom Spaß nicht allzu sehr emanzipieren; dieser nimmt in einer materialistisch gesinnten Gesellschaft eine genügend hohe Stellung ein. Und wenn der Schauspieler zu brav wird, wie soll er dann die dunklen Vorräte an Vitalität (noch nicht sozialisierter Lebenskraft) heben, die im Asozialen liegen.“28 Wir sehen, warum Brecht, der Marxist Brecht, vom überhaupt nicht marxistischen Baal nicht lassen will. Zugleich aber müssen wir konstatieren, dass es ihm nicht gelingt, dessen egoistische Vitalität mindestens ästhetisch mit einer materialistisch gesinnten Gesellschaft zu vermitteln. Ihm kam es so vor, als habe ihm nur die Zeit dazu gefehlt. Sicher ist das nicht, denn Brecht scheitert auch an dem zwischen 1926 und 1932 verfolgten Lehrstückprojekt Der Untergang des Egoisten Johannes Fatzer, von dem nur umfangreiche Fragmente existieren. Fatzer, auch ein „Sichausleber“ und „Andereausleber“, ein Egoist eben, schafft es, dem Krieg den Rücken zu kehren, der nicht seiner ist, aber er geht unter, weil er allein bleibt und somit schwach, auch, weil er den Glücksanspruch nicht aufschieben mag. Der Text ist, wie Heiner Müller schreibt „ein Jahrhunderttext, von der sprachlichen Qualität her, von der Dichte.“29 Müller hat daraus eine Bühnenfassung gebastelt30 und den „Fatzer“ als erstes Brecht-Stück unter seiner Intendanz am Berliner Ensemble aufführen lassen.31 Die wahrlich ungelöste Frage, wie vitaler Glücksanspruch und sozialistische Gesellschaft vermittelbar seien, das war Müller zufolge die theoretisch und theatertechnisch avancierteste Frage, die Brecht uns hinterlassen hat, jenseits der Rhetorik der klassisch gewordenen Exilstücke, die allzu häufig den Eindruck machen, die Antwort auf die gestellten Fragen je schon zu wissen.

Lügen, getötet werden oder töten. Über die Pflicht, um der sozialistischen Zukunft willen zu lügen (Die Maßnahme)

Brecht hat sich bekanntlich gegen Ende der zwanziger Jahre unter dem Einfluss von Karl Korsch dem Marxismus angenähert und versucht, eine dem neuen Denken entsprechende neue Theaterform zu entwickeln, das Lehrstück. Von Rainer Steinweg wissen wir, dass Brecht es für die technisch fortgeschrittenste Form seines Theaters hielt.32 Das bekannteste der

28 Bertolt BRECHT, Arbeitsjournal, Zweiter Band 1942 bis 1955, hrsg. v. Werner Hecht, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1973, S. 810. 29 Heiner MÜLLER, Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen, Köln, Kiepenheuer und Witsch, 1992, S. 309. 30 Bertolt BRECHT, Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer, Bühnenfassung von Heiner Müller, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1994. 31 Als Montage eigener Texte und Texten von Brecht, 1993. 32 Reiner STEINWEG, Das Lehrstück. Brechts Theorie einer politisch-ästhetischen Erziehung, Stuttgart, Klett, 1972. 244 KARL HEINZ GÖTZE

Lehrstücke ist Die Maßnahme, von der es zwei, 1930 und 1931 entstandene Fassungen gibt.33 Die Handlung des kurzen Stücks ist ebenso einfach wie schrecklich: Eine kleine Gruppe von Genossen geht klandestin aus dem sowjetischen Russland über die Grenze ins von brutalster Ausbeutung bestimmte China, um die dortigen Arbeiter zu agitieren. Sie werden von einem ortskundigen jungen Genossen im Auftrag der Partei begleitet. Sie löschen mit Masken an der Grenze ihre Identität aus, um nicht erkannt werden zu können. Der junge Genosse ist einverstanden mit der Lehre des Kontrollchors, einer Art Parteigericht: „Wer für den Kommunismus kämpft, der muss kämpfen können und nicht kämpfen; die Wahrheit sagen und die Wahrheit nicht sagen [...] Versprechen halten und nicht halten. [...]. Wer für den Kommunismus kämpft, hat von allen Tugenden nur eine: dass er für den Kommunismus kämpft.“34 Die Unterdrückung in China ist brutal, die Niedertracht groß und das Leiden der Arbeiter auch. Der junge Genosse schafft es mehrfach nicht, sich im Dienste der Sache taktisch zu verhalten, sein Mitleid und seine Hilfsbereitschaft zu camuflieren und bringt dabei die Mission in Gefahr. Am Ende zerreißt er seine Maske. „DIE VIER AGITATOREN Und wir sahen hin und in der Dämmerung/ Sahen wir sein nacktes Gesicht/ Menschlich, offen und arglos.“35 Diese Offenheit, der Verzicht auf Lüge und Verstellung bringt nun aber die Agitatoren in Lebensgefahr und die Mission in die Gefahr des Scheiterns. Also beschließen sie, den jungen Genossen zu töten und in eine Kalkgrube zu werfen, um ihn völlig auszulöschen. Der belehrte junge Genosse, der ungewollt-üblen Folgen seines moralischen Tuns schließlich inne, bittet darum, ihn zu töten. Die vier Agitatoren töten ihn und überleben deshalb, mit ihnen ihre Sache und sie legen dem Kontrollchor – damit auch den Schauspielern und den Zuschauern – die Frage vor, ob ihr Handeln richtig war. Das Stück ist von seinen Verächtern sofort als zynische Selbstentlarvung kommunistischer Moral begriffen worden,36 vergessend dabei, dass bisher wenige historische Bewegungen an die Macht gekommen sind, ohne zu lügen und ohne zu töten. Brecht hat jedenfalls gegenüber den frühen Stücken zwei radikale Wendungen vorgenommen: Baal wie Kragler bestehen anarchistisch auf dem Hier und Jetzt und Sofort des Glücks, verweigern allen Lustverzicht zugunsten des Glücksversprechens in einer fernen Zukunft. Die letzte Instanz ist das Ich und sein Wohlleben, der Rest Moral und Religion und Illusion. Die Maßnahme schreibt sich hingegen ein in eine ganze Serie von Brecht-Stücken aus der Zeit am Ende der Weimarer Republik, die mit der Ich-Aufgabe experimentieren. Vitalismus wird abgelöst durch Disziplin bis zum

33 Bertolt BRECHT, Die Maßnahme, in Bertolt BRECHT, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Stücke 3, Frankfurt am Main/ Weimar, Aufbau- und Suhrkampverlag, 1988, S. 73ff. 34 Ibid., S. 78. 35 Ibid., S. 93. 36 Siehe Klaus-Detlev MÜLLER, Brecht-Kommentar zur erzählenden Prosa, München, Winkler, 1980, S. 116. ÜBER EINIGE VERSUCHE BRECHTS, DIE LÜGE ZU ERKUNDEN 245

Äußersten, Anarchismus durch Einverständnis. Brecht versucht, den Aporien des radikalen Individualismus durch die Unterordnung des Einzelnen in das Kollektiv zu entkommen, Anti-Ethik durch Geschichtsphilosophie zu ersetzen.37 Spätestens die Moskauer Prozesse von 1936 haben blutig gezeigt, dass kommunistische Lügen zur Selbstbehauptung gegenüber überlegener Gewalt die fatale Tendenz haben, umzuschlagen in mörderische Lügensysteme. Lügen wollen nun mal, ewig fortgebärend, weitere Lügen. Brechts theoretisches Modell ist stimmig, aber nur dann, wenn Lüge und Gewalt und Verzicht auf unmittelbares Glück, wenn sogar der Mord transitorisch gedacht werden können, nein, nicht nur gedacht werden können, sondern wirklich transitorisch sind: „Noch ist es uns, sagten wir/ Nicht vergönnt, nicht zu töten.“38 Und nicht zu lügen, könnte man ergänzen, soll man ergänzen. Wir machen es uns freilich zu leicht, wenn wir die blutigen Aporien der Maßnahme allein verstockter spezifisch kommunistischer Heilshoffnung zuschreiben, wie unsere Analyse von Kleists Die Hermannsschlacht ergeben hat, ein Drama ganz anderer Art, dem die Kosten der totalen patriotisch- germanische Mobilmachung im Freiheitskrieg gegen die Römer eingeschrieben sind.39 Aller Absolutismus der Ziele, sei er religiös oder politisch, patriotisch oder kommunistisch, hat den Keim des Mordes in sich. Unsere Situation ist das nicht mehr, zum Glück. Ich glaube, wir, die Teilnehmer dieser Tagung über die Lüge, haben das Glück, zwar gelogen, aber damit niemand ums Leben gebracht zu haben. Wir sollten das nicht vorschnell unserer Tugend zuschreiben. Wir haben ja die Zöllner vor Lampedusa, die uns derlei vom Halse halten.

Lügen, um die Gewalt zu überleben. Exilzeit. Spaltung (Der gute Mensch von Sezuan) / Jasagen (Schweyk) / Die Unmöglichkeit, der Lüge zu entgehen („Die jüdische Frau“) / Nein sagen, später (Die Keuner-Geschichte von Herrn Egge)

Brechts Texte der Exilzeit spielen immer wieder Szenarien durch, wie man die Gewalt überleben kann. Das einzig ihnen Gemeinsame ist die Gewissheit, dass man sie ohne Lüge nicht überleben kann und ohne physisches Überleben auch kein Überleben der Idee möglich ist, dass man ohne Gewalt leben könne. Die Wahrheit braucht bei Brecht Menschen, Wahrheitswisser und Wahrheitsweitersager, sonst ist sie nur eine Schimäre.

37 Ibid., S. 110ff. 38 BRECHT, Die Maßnahme, S. 97. 39 Karl Heinz GÖTZE, „Der Preis der Lüge. Kleists Mobilisierung für den totalen Volkskrieg“, Das Argument, Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, Nr. 300 (54. Jg., H.6/2012), S. 810-833. 246 KARL HEINZ GÖTZE

Im Parabelstück Der gute Mensch von Sezuan (1938-1940)40 kommen die Götter auf die Erde um den Beweis zu finden, dass man auf der von Ihnen geschaffenen Erde als guter Mensch leben kann. Sie finden Shen Te, eine Prostituierte, die gut sein will und sich doch dabei immer erneut ruiniert, so dass sie sich schließlich spaltet in die gute Shen Te und ihren rücksichtlosen Vetter Shui Ta. Nur lügenhafte Ich-Spaltung ermöglicht es ihr, mindestens die Hälfte ihres Gutseins zu retten. Am Ende wird deutlich, was alle wissen, aber die Götter nicht wissen wollen, dass „gut zu sein und doch zu leben“41, ja sogar gut sein und doch zu lieben auf der Welt (noch?) nicht möglich ist. „Wir wären gut – anstatt so roh, doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.“42 In Schweyk (1943) greift Brecht eine elementare Überlebensstrategie auf, die der Figur des völlig amoralischen, unendlich wandelbaren Tricksters,43 die vom tschechischen Schriftsteller Jaroslav Hasek in seinem Roman Der brave Soldat Schwejk in die Literatur des 20. Jahrhunderts gebracht wurde. Schweijks Überleben beruht auf der Technik des unbedingten Ja-Sagens zu dem, was die Macht ihm befiehlt, welche Macht auch immer: „In solchen Zeiten muss man sich unterwerfen. Es ist Übungssache.“44 Alle Fragen welcher Moral auch immer bleiben ausgeblendet aus seinem Horizont, demzufolge auch die des Lügens. Shen-Tes Problem hat er nicht und längst nicht das des jungen Genossen aus Die Maßnahme. Deswegen endet er auch nicht in der Kalkgrube, sondern isst Gulasch im „Kelch“. Der k.u.k. Soldat und Hundfänger ist in keiner Situation, in der er sich irgendwelche Moral leisten könnte, auch keine gebrochene. Da liegt auch der entscheidende Unterschied zu Figuren wie Baal und Fatzer. Schwejk hat keinen Charakter und keine Individualität, er besteht nur aus Beispielen, Geschichten und Jasagen, häufig mit katastrophalen Folgen für diejenigen, die auf ihrem Ich bestehen.45

40 Bertolt BRECHT, Der gute Mensch von Sezuan, in Bertolt BRECHT, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Stücke 6, Frankfurt am Main/ Weimar, Aufbau- und Suhrkampverlag, 1989, S. 175ff. 41 Ibid., S. 275. 42 Bertolt BRECHT, Die Dreigroschenoper, in Bertolt BRECHT, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Stücke 2, Frankfurt am Main/ Weimar, Aufbau- und Suhrkampverlag, 1988, S. 263. 43 Vgl. dazu von M ATT, Intrige, S. 277ff. Haug analysiert den Schweyk in dieser Perspektive: „Wie der freundlich lächelnde, kindliche Gott in der Antike ist er ein märchenhaftes Wesen des Volkes, unfassbar und unsterblich.“ Bestimmte Negation. Das umwerfende Einverständnis des braven Soldaten Schwejk und andere Aufsätze”, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1973, S. 68. 44 Bertolt BRECHT, Schweyk, in Bertolt BRECHT, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Stücke 7, Frankfurt am Main/ Weimar, Aufbau- und Suhrkampverlag, 1991, S. 202. 45 Wir erkennen hier ein Motiv wieder, das wir in Hinblick auf die Lehrstücke analysiert haben, das der Ich-Auslöschung zugunsten des Kollektivs. Nicht zufällig fand Brechts erste Auseinandersetzung mit dem Schwejk 1928 statt, als er sich an einer Bühnenfassung des Romans von Hasek durch Piscator beteiligte. Aber in Schwejks Horizont ist keine Partei, kein Kollektiv und längst keine Revolutionshoffnung. Er muss sein Ich nicht auslöschen, er hat keins. Deswegen eben wird er nicht ausgelöscht. ÜBER EINIGE VERSUCHE BRECHTS, DIE LÜGE ZU ERKUNDEN 247

Zivilisiert, aber elend gelogen wird unter dem Druck der Gewalt des Nationalsozialismus nur im bürgerlichen Milieu, wo man nicht zu arm ist für Moralität, aber zu feige, um sie sich zu leisten. Davon erzählt die beste Szene aus Furcht und Elend des III. Reiches mit dem Titel „Die jüdische Frau.“ Sie zeigt eine bürgerliche Frau, „eine von diesen Bourgeoisweibern, die Dienstboten halten usw., und jetzt sollen nur noch die Blonden das sein dürfen?“46, wie sie im imaginären Dialog mit ihrem arischen Gatten über sich selbst sagt, während sie die Koffer packt, um ins Exil zu gehen, allein. Alles ist hier von Lüge geschlagen. Zunächst wird die Geschichte ihrer Abreise für „ein paar Wochen“47 telefonisch vier Gesprächspartnerinnen immer wieder anders erzählt, aber immer doch so, dass die Wahrheit höflich versteckt bleibt: die Wahrheit, dass die jüdische Frau ins Exil geht, um zu überleben und ihrem arischen Gatten Schwierigkeiten in seiner Klinik zu ersparen. Dann zwei imaginäre Abschiedsdialoge mit eben diesem Gatten, in denen dann doch ein Stückchen Wahrheit unter der rücksichtsvollen Selbstlüge hervorlugt, genau an der Stelle, wo sie zu ihm sagt: „Ich bin übrigens nicht böse“. Und dann folgt sofort darauf der Satz: „Doch ich bin’s. Warum soll ich alles einsehen.“48 Die einzige Hoffnung, die ihr bleibt, ist eine sehr reduzierte, sehr private: „Ja, ich packe. Du musst nicht tun, ob Du es nicht gemerkt hättest die letzten Tage, Fritz, alles geht, nur eines nicht: dass wir uns in der letzten Stunde, die uns bleibt, einander nicht in die Augen sehen. Das dürfen sie nicht erreichen, die Lügner, die alle zum Lügen zwingen.“49 Aber „sie“ erreichen es. Als der Mann schließlich eintritt („Du weißt, Dass ich unverändert bin, weißt Du das, Judith?“50), und sich der reale Abschiedsdialog entwickelt, da tritt auch die Lüge ein und nimmt den ganzen Platz. Es ist „sind ja nur ein paar Wochen“ sagt er zum Schluss und reicht ihr den Pelzmantel für den nächsten Winter.51 Unser Gefühl ist auf Seiten der jüdischen Frau, deren höfliche, von Konventionen bürgerlicher Rücksichtnahme und diskursiver Verschleierung bestimmte Haltung seltsam unangemessen wirkt. Sie hat keine andere, nur ansatzweise im Selbstgespräch. Ihn finden wir feige und verlogen, den Oberarzt, der ihr Mann noch ist und doch kein Mann. Brecht hat das gewusst und gewollt. Das Recht auf die Lüge zum Überleben, zur Abwendung von Schaden zwar nicht am eigenen Leibe, aber doch am sozialen Wohlsein, das er lachend Schweyk zubilligt, gilt für den arischen Gatten der jüdischen Frau nicht. Der Lüge zum Überleben ist nicht egal, wer belogen wird und warum, wer überlebt und wie.

46 Bertolt BRECHT, Furcht und Elend des III. Reiches, in Bertolt BRECHT, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Stücke 4, Frankfurt am Main/ Weimar, Aufbau- und Suhrkampverlag, 1988, S. 388. 47 Ibid., S. 385. 48 Ibid., S. 388. 49 Ibid. 50 Ibid., S. 389. 51 Ibid., S. 390. 248 KARL HEINZ GÖTZE

Die jüdische Frau und ihr Mann können beide nicht wahr sagen und vor allem nicht nein sagen, zivilisiert wie sie sind. Nein sagen zu können ist aber wichtig, manchmal lebenswichtig. Wir kommen damit zur bekanntesten Keuner-Geschichte, die eigentlich aus zwei Geschichten besteht, genauer gesagt, einer Allegorie und einem Märchen52:

Als Herr Keuner, der Denkende, sich in einem Saale vor vielen gegen die Gewalt aussprach, merkte er, wie die Leute vor ihm zurück wichen und weggingen, blickte um und sah hinter sich stehen – die Gewalt. „Was sagtest Du?“ fragte ihn die Gewalt. „Ich sprach mich für die Gewalt aus“, antwortete Herr Keuner. Als Herr Keuner gegangen war, fragten ihn seine Schüler nach seinem Rückgrat. Herr Keuner antwortete: „Ich habe kein Rückgrat zum Zerschlagen. Gerade ich muss länger leben als die Gewalt.“ Und Herr Keuner erzählte folgende Geschichte: In die Wohnung des Herrn Egge, der gelernt hatte, nein zu sagen, kam eines Tages in der Zeit der Illegalität ein Agent, der zeigte einen Schein vor, welcher ausgestellt war im Namen derer, die die Stadt beherrschten, und auf dem stand, dass ihm gehören solle jede Wohnung, in die er seinen Fuß setze; ebenso solle ihm auch jedes Essen gehören, das er verlange; ebenso solle ihm auch jeder Mann dienen, den er sähe. Der Agent setzte sich in einen Stuhl, verlangte Essen, wusch sich, legte sich nieder und fragte mit dem Gesicht zur Wand vor dem Einschlafen: „Wirst Du mir dienen?“ Herr Egge deckte ihn mit einer Decke zu, vertrieb die Fliegen, bewachte seinen Schlaf, und wie an diesem Tage gehorchte er ihm sieben Jahre lang. Aber was immer er für ihn tat, eines zu tun hütete er sich wohl: das war, ein Wort zu sagen. Als nun die sieben Jahre um waren und der Agent dick geworden war vom vielen Essen, Schlafen und Befehlen, starb der Agent. Da wickelte ihn Herr Egge in die verdorbene Decke, schleifte ihn aus dem Haus, Wusch das Lager, tünchte die Wände, atmete auf und antwortete: „Nein“. (18, 14)

Der erste Teil der Geschichte ist eigentlich banal. Es wird unter Lebensgefahr gelogen. Das darf man wohl dürfen, obgleich offenbar die Schüler nicht so ganz überzeugt sind, weshalb ihnen Keuner eine weitere Geschichte zu seiner Rechtfertigung erzählt. Denn man kann es auch anders sehen: Ist nicht das Rückgrat auf jeden Fall gebrochen, im einen Fall körperlich, im andern Fall symbolisch, aber mit Folgen für die Idee, die viel weiter reichen kann als nur ein Menschenleben lang? Keuner/Brecht kennen den Einwand, sonst stünde da nicht „gerade ich muss länger leben als die Gewalt.“ Ihr Einwand ist stichhaltig und problematisch zugleich. Sollen nur die Träger des Wissens wie Herr Keuner das Recht auf die Überlebenslüge haben? Welchen Wissens? Warum? Das wird nicht durchgespielt. Aber Brecht wusste auch, dass da ein Zweifel bleibt. Er hat die Geschichte in die

52 MÜLLER, Brecht-Kommentar, S. 118f. ÜBER EINIGE VERSUCHE BRECHTS, DIE LÜGE ZU ERKUNDEN 249 erste Fassung seines Galilei übernommen und dort sagt Galileis Schüler Andrea: „Mir gefällt die Geschichte nicht, Herr Galilei.“53 Die zweite Geschichte in der Geschichte ist wohl so bekannt und beliebt, weil sie suggeriert, es sei durch List auch unter der Herrschaft der Gewalt Versöhnung möglich zwischen legitimen Überlebenswillen und Treue zur Idee, Treue zum Lügenverbot. Kant hätte wohl Herr Egge gefallen. Aber war der nicht über sieben Jahre der Bodygard der Gewalt, beflissen ihr Wohlsein garantierend? Was verschlägt gegenüber dem Gehorsam der Gewalt der Gehorsam gegenüber dem Lügenverbot? Wem hat die Achtsamkeit auf die moralische Reinheit genützt? Die Geschichte hat jedenfalls Fallstricke, ob sie Brecht bewusst einbaute oder nicht. Wenn wir von heute aus schauen, dann erregen uns die meisten der von Brecht dargestellten Haltungen zur nationalsozialistischen Gewalt nicht mehr so richtig. Das lässt sich an der Aufführungsgeschichte verifizieren, die sich ausdünnt. Einerseits ist das ohnzweifelhaft sehr gut. Wir haben in Deutschland, in Frankreich, ja in Westeuropa diese Problemstellung so nicht mehr. Aber es gibt noch einen zweiten Grund, der auch genannt, aber hier nicht weiter verfolgt sei. Uns interessiert das kantische Problem, ob man aus Menschenliebe, ja selbst zum eignen Überleben lügen dürfe, nicht mehr prinzipiell. Wir haben es für uns entschieden: Ja, man darf, unter manchen Bedingungen, über die es freilich in der Öffentlichkeit keine Einigung gibt. Im Streit zwischen Kant und Constant sind wir aber unterdes eher auf der Seite von Constant, auch die meisten Deutschen.54 Ein sicheres Zeichen ist unsere juristische Ordnung, die, wenn auch keineswegs neutral, einen gewissen gesellschaftlichen Konsens codifiziert. Nur wenn es zum Eid kommt, dann droht der Lüge auch empfindliche Strafe. Aber der Eid wird geleistet auf eine höhere Instanz unbezweifelbarer Geltung, letztlich auf Gott und das in einer Gesellschaft, in der nur noch eine kleine Minderheit an denselben und seine Satzungen glaubt. Einen besseren Beweis für die These, dass sich das absolute Lügenverbot ohne Rekurs auf Gott letztlich nicht begründen lässt, kann es kaum geben.

53 Bertolt BRECHT, Leben des Galilei, in Bertolt BRECHT, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Stücke 5, Frankfurt am Main/ Weimar, Aufbau- und Suhrkampverlag, 1988, S. 73. 54 Die Frage der absoluten oder eingeschränkten Geltung des Lügenverbots war im Jahre 1797 Gegenstand einer Kontroverse zwischen dem französischen Schriftsteller und Politiker Benjamin Constant und Immanuel Kant. Constant erörterte in seiner Schrift „Über politische Reaktion“ das Problem der Anwendung abstrakter moralischer Prinzipien in der politischen Praxis und provoziert damit Kant, der sich (wohl zu Unrecht) angegriffen fühlte, zu einem Aufsatz, der als der dichteste Versuch der deutschen idealistischen Philosophie gelten kann, dem strengen augustinischen Lügenverbot jenseits religiöser Argumentation noch einmal absolute Geltung zu verschaffen. Immanuel K ANT, „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“, Werke, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. VIII, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1981, S. 637f. Vgl. dazu auch Simone DIETZ, Die Kunst des Lügens. Eine sprachliche Fähigkeit und ihr moralischer Wert, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Taschenbuchverlag, 2003, S. 91ff. sowie Kant und das Recht der Lüge, hrsg. u. eingel. V. Georg Geismann und Hariolf Oberer, Würzburg, Königshausen und Neumann, 1986. 250 KARL HEINZ GÖTZE

Jedenfalls: Es ist offenbar nicht egal, wer lügt und wofür. Das meint nicht nur Brecht. Der Lügen-Text von Jankélévitch, einer der wenigen Denker französischer Sprache, die sich die Lüge im 20. Jahrhundert direkt zum Denk- Vorsatz nehmen, kommt zum gleichen Resultat. Das, so scheint mir, kann man (mit Vorsicht, aber doch) als allgemeines Resultat unserer Überlegungen festhalten.55 Peter Sloterdijk, der einst ein wirklich kluges Buch geschrieben hat, die Kritik der zynischen Vernunft56, unterscheidet den Zynismus der Herrschenden vom Cynismus der Beherrschten seit Diogenes, die der herrschenden Moral, ja aller Moral, fröhlich auf dem Marktplatz den nackten Arsch zeigen. Es müsste ein sprachliches Zeichen der Lüge geben, das diesen Unterschied zwischen zynischen Herrenlügen und selbsterhaltenden, fröhlichen Lügen der Beherrschten auch linguistisch deutlich machte. Wir haben es aber nicht.

Galilei und die unaufhebbare Ambivalenz der Lüge. Die Lüge um des guten Lebens willen/ Die Lügen der Verkäufer/ Die Lügen aus Barmherzigkeit/ Die Lügen des Überlebens halber// Und die Lüge als Verrat am Wissen wie am sozialen Fortschritt für die Vielen

Brechts Stück Leben des Galilei ist gleichfalls im Exil entstanden, es behandelt gleichfalls den Umgang des Wissens mit der Macht, also gleichfalls das Problem der Lüge. Dennoch nimmt es aufgrund seiner Komplexität eine Sonderstellung ein, eine Art von Synthese von vielen Lügen-Figuren, die wir schon besichtigt haben. Synthese aber nicht im Sinne von Lösung, sondern von Akkumulation von Fragen, die dem Zuschauer aufgehalst werden. Brecht erzählt die Geschichte des Galilei nicht in der klassischen Dramenform, sondern als Szenenfolge. Galilei lebt im Italien des 17. Jahrhunderts, ist ein genialer Physiker, der mit Hilfe seines Fernrohrs das heliozentrische kopernikanische Weltbild und damit die Unhaltbarkeit des überkommenen geozentrischen ptolemäischen Weltbildes beweist, kurz, er beweist, dass sich die Erde um die Sonne dreht und nicht das Universum um die als Scheibe gedachte Erde. Wenn aber der Himmel leer ist und zentrale Lehren der kirchlichen Autorität falsch, ist damit auch die Basis der Macht der Kirche, ja die Basis aller Macht gefährdet. So kommt es zum Konflikt mit der Kurie, die ihn verhaften und von der Inquisition die Folterinstrumente zeigen lässt, die auf ihn warten, wenn er nicht widerruft. Er widerruft zur großen Enttäuschung seiner jungen Schüler, überlebt streng überwacht einsam in seinem Landhaus, vollendet dort aber heimlich sein physikalisches Hauptwerk, die Discorsi, die in der letzten Szene sein Schüler Andrea

55 Vladimier JANKÉLÉVITCH, Du mensonge, Lyon, Confluences, 1942. 56 Peter SLOTERDIJK, Kritik der zynischen Vernunft, 2 Bde., Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1983. ÜBER EINIGE VERSUCHE BRECHTS, DIE LÜGE ZU ERKUNDEN 251 heimlich über die Grenze bringt. Zuvor haben Lehrer und Schüler ihr großes Gespräch, in dem es um Taktik, Lüge zum Überleben (des Wissenden und damit des Wissens) und damit auch um Verrat geht. Bevor wir uns dieser Kernfrage zuwenden, sei immerhin angedeutet, dass das Stück vielerlei Arten von Lügen zeigt, keineswegs nur Varianten der großen Lüge, die im Mittelpunkt steht. So die schlaue Lüge des genussfreudigen und lebenslang unter Geldnöten leidenden Wissenschaftlers Galilei, der ein in Holland erfundenes Teleskop als eigene Erfindung ausgibt und sich von der venezianischen Republik teuer bezahlen lässt. Eine ganz andere Art des Lügens wird von Galilei angesprochen, wo er Vernunft und Schlauheit unterscheidet: „Ich rede nicht von ihrer Schlauheit. Ich weiß, sie nennen den Esel ein Pferd, wenn sie ihn verkaufen, und das Pferd einen Esel, wenn sie es einkaufen wollen.“57 Hier wird ein Verhalten angesprochen, das schon Marx in seiner Warenanalyse frei gelegt und mit dem Begriff der „Charaktermaske“ bezeichnet hat. Menschen machen nicht nur Märkte, sondern Märkte auch Menschen und ihre Lügen und Dissimulationen.58 Es sind nicht nur Gebrauchtwagen- und Eselverkäufer, die in der Rolle des Verkäufers die Qualität der Ware herausstreichen, ihre Schwächen vertuschen, in der Rolle des Käufers hingegen die Qualität möglichst herabzusetzen versuchen. Wer nicht so handelt, handelt gewiss nicht schlau. Schließlich gibt es im Galilei eine dritte Kategorie von Lügen, die sich selten bei Brecht findet, die Lügen aus Barmherzigkeit. Sie bilden den Kernpunkt des Disputs zwischen Galilei und dem kleinen Mönch, der, nachdem er die Konsequenzen der von Galilei gefundenen Wahrheit inne wird, des Zweifels also an der göttlichen Lenkung der Welt, die Folgen für seine Eltern bedenkt, die als arme Bauern in der Campagna leben und denen durch die neue Wahrheit der einzige Trost in ihrem Elend genommen würde: „Es liegt also kein Auge auf uns, sagen sie. […] Kein Sinn liegt in unserem Elend, Hunger ist eben Nichtgegessenhaben, keine Kraftprobe; Anstrengung ist eben Sichbücken und Schleppen, kein Verdienst. Verstehen Sie da, dass ich aus dem Dekret der Heiligen Kongregation ein edles mütterliches Mitleid, eine große Seelengüte herauslese?“59 Was die Motive der Kongregation angeht, die Galileis Lehre inkriminiert, da täuscht er sich, aber trotzdem bleibt für mich die Rede des kleinen Mönchs die ergreifendste Passage des ganzen Stücks. Wir können hier Galileis Antwort nicht verfolgen, die endet in dem Satz: „Soll ich ihre Leute anlügen?“60 Brecht gibt Galilei gegen den

57 Bertolt BRECHT, Das Leben des Galilei, (Fassung 1955/56, nach der im Folgenden auch, soweit nicht anders vermerkt, zitiert wird), in Bertolt BRECHT, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Stücke 5, Frankfurt am Main/ Weimar, Aufbau- und Suhrkampverlag, 1988, S. 210f. 58 Vgl. zum Zusammenhang von Marktgeschehen und Bewusstseinsformen bei Marx Wolfgang Fritz HAUG. Vorlesungen zur Einführung ins ‚Kapital’, Köln, Pahl-Rugenstein, 1974, XI. Vorlesung, S. 164-178. 59 BRECHT, Galilei, S. 244. 60 Ibid., S. 245. 252 KARL HEINZ GÖTZE kleinen Mönch recht und lässt den schließlich doch Physiker werden, aber erledigt ist sein Problem der Lüge aus Barmherzigkeit damit nur hier. Wer einmal einen Krebskranken in den Tod begleitet hat, der weiß es: „Du bist kein Arzt, Du musst nicht lügen“61 sagt in der Schlussszene von Heiner Müllers Germania Tod in Berlin der krebskranke alte Maurer Hilse zum jungen Genossen, der ihn am Krankenbett besucht. Aber er muss denn doch. Kommen wir zurück zum Kernkonflikt und zur Frage, wie Brecht ihn anlegt: Es geht um den Umgang mit der Wahrheit, eine neue, große, eine wahrlich revolutionäre, revolutionierend jedenfalls die Astronomie, die Physik, aber auch die Religion und tendenziell die soziale Ordnung: „GALILEI: Ich sage Ihnen: Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß und eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher!“62 Der Satz wird übrigens später von Galileis Schüler Andrea zitiert, als er sich versichern will, Galilei werde trotz der Inquisition nicht widerrufen. Er widerruft aber. Halten wir fest: Es geht hier nicht um Wahrheiten nach der Art des Baal, dass auch vornehme Frauen unter dem Rock feucht sein können, obgleich auch da eine allgemeine Wahrheit mitschwingt, eben die, mit der Freud, der Wissenschaftler, seine Zeitgenossen provozierte, die Wahrheit von der Macht der Sexualität über uns, die sich im Baal in der Tiermetapher verdichtet, es geht von vornherein um die unbestritten ganz großen und wichtigen unter den Wahrheiten. Aber Galilei widerruft sie wider besseres Wissen, ein Lügner und Verbrecher. Er widerruft sie vor der Gewalt aus zwei Gründen, die wir auch schon kennen. Der erste: Er ist ein Genießer: „Groß ist nicht alles, was ein großer Mann tut/ Und Galilei aß gern gut.“63 Der Genuss ist geradezu die Voraussetzung seiner Produktivität: „Bei gutem Essen fällt mir am meisten ein.“64 Galilei, dieser Renaissancemensch, hat manches von Baal, nur ein bisschen subtiler. Der Unterschied, um ihn schematisch zu benennen, liegt darin, dass er weiß, dass auch Forschen ein Genuss sein kann, wozu Baals elementares Glücksverlangen keine Geduld hat. Der andere Unterschied sei auch nicht verschwiegen. Von des berühmten Professors Sexuallust erfahren wir im Gegensatz zu der Baals nichts, umso mehr von seinen kulinarischen Genüssen. So war das vielleicht mit älteren Professoren in der Zeit der Renaissance. Jedenfalls ist Galilei ein Charakter. Ohne den wäre seine wissenschaftliche Leistung nicht denkbar. Auf seinem Gesicht klebt keine Maske, wie es vom jungen Genossen in Die Maßnahme erwartet wird. Im Gegenteil. Die Masken legen sich die Vertreter der Kurie an: „Gut, nehmen wir uns wieder unsere Masken vor. Der arme Galilei hat keine.“65

61 Heiner MÜLLER, Germania Tod in Berlin, Der Auftrag, ausgewählt und eingel. Von Roland Clauß, Stuttgart, Klett, 1983, S. 45. 62 BRECHT, Galilei, S. 248f. 63 Ibid., S. 201. 64 Ibid., S. 208. 65 Ibid., S. 240. ÜBER EINIGE VERSUCHE BRECHTS, DIE LÜGE ZU ERKUNDEN 253

Aber Galilei will leben, will leben wie Schweyk leben will. Nur ist der kein weltbekannter Wissenschaftler, sondern ein k.u.k. Soldat ohne Alternative. Schweyk hat keine, Galilei hat eine, die, seine Haut zu retten und mit einer öffentlichen Lüge seine Wahrheit zu verraten, oder zum Märtyrer zu werden. Die Legitimität des Genussanspruchs und die Legitimität des Überlebenwollens eines, der Träger des Wissens ist, werden dramaturgisch losgelassen auf die Forderung, um der Vielen willen Wahrheit zu sagen und zu verbreiten. Das ist der Kernkonflikt des Galilei. Die Antwort fällt nicht eindeutig aus. Die erste Fassung, die von 1939, hält die Balance zwischen Verurteilung des Verrats an der Wahrheit und der klugen Taktik des Überlebens, die es ermöglicht hat, die Discorsi für die Menschheit zu retten. Mit den amerikanischen Fassungen, mit Laughton erarbeitet, gleitet das Stück in Richtung auf Verurteilung des Verrats, der Lüge mithin.66 Die letzte Fassung, die von 1955/56, hat ihren Schwerpunkt auf der Selbstkritik des Galilei am Ende des Stücks, in der viel zitierten Passage: „Ihr mögt mit der Zeit alles entdecken, was es zu entdecken gibt, und Euer Fortschritt wird doch nur ein Fortschreiten von der Menschheit weg sein. Die Kluft zwischen euch und ihr kann eines Tages so groß werden, dass euer Jubelschrei über eine neue Errungenschaft von einem universalen Entsetzensschrei beantwortet werden könnte.“67 Galilei, so sagt er in seiner Selbstanklage, hatte Unrecht, aus legitimer Lust am guten Leben, aus legitimer Angst vor der Folter, den Zusammenhang zwischen technischem und gesellschaftlichem Fortschritt aufzukündigen.

Man kann die Geschichte des Galilei-Stücks als allmähliche Remoraliserung des Brechtschen Diskurses sehen. Ganz falsch ist das nicht. Man kann sie allerdings auch interpretieren als sehr konkrete Reaktion auf den Schock von Hiroshima, Nagasaki, und die Strategien der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und die damit zusammen hängenden Fragen der Verantwortung des Wissens gegenüber der Macht. Eines jedenfalls scheint mir sicher: Brecht hat die Frage der Lüge immer wieder aus dem Zusammenhang absoluter Moral gelöst, sie in vielen Extremen ausgeleuchtet – aber gelöst hat er sie nicht, weder theoretisch noch politisch. Er hat sie uns zurück gegeben als konkrete, historische, als unsere.

66 Bertolt BRECHT, Galileo (engl. Fsg.), in Bertolt BRECHT, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Stücke 5, Frankfurt am Main/ Weimar, Aufbau- und Suhrkampverlag, 1988, S. 117-187. 67 BRECHT, Galilei, S. 284.

Lüge, Fälschung, Plagiat. Über Formen und Verfahren prekärer Autorschaft

Jörg DÖRING Universität Siegen David OELS Universität Mainz

Alle Dichter lügen. Manchmal. (So wie wir alle). Als Franz Kafka einmal in seiner Berliner Zeit kurz vor seinem Tod im Steglitzer Park ein kleines Mädchen traf, das den Verlust einer geliebten Puppe nicht verwinden konnte, da soll er ihm erzählt haben, dass die Puppe kurzfristig und überraschend für alle zu einer längeren Reise aufgebrochen sei. Diese pädagogische Not- oder Zuwendungslüge musste dann durch weitere Lügen elaboriert werden. Im Namen der Puppe schrieb Kafka dem Mädchen nun Briefe, in denen die Gründe für den überstürzten Aufbruch und der Verlauf der Reise dargelegt wurden. Da das kleine Mädchen noch nicht lesen konnte, musste Kafka ihr die Briefe laut vorlesen. Darin lernt die Puppe einen jungen Mann kennen, verliebt sich, heiratet schließlich und beschließt daher förmlich die Korrespondenz: Sie bitte um Verständnis, unter diesen neuen Umständen nicht weiter Briefe schreiben zu können. „Die Lüge musste also durch die Wahrheit der Fiktion in Wahrheit verwandelt werden“, urteilt Dora Diamant, Kafkas letzte Freundin, die diese Anekdote überliefert hat.1 (Wenn sie gar nicht wahr sein sollte, ist sie wenigstens schön erfunden.2) Von solcher Kunst der Lüge handelt bekanntlich alle Dichtung. Und so wie für das kleine Mädchen mag es für uns Leser stets gute Gründe geben, an die Wahrheit der Fiktion zu glauben. Und dafür winkt den Dichtern Ruhm und Anerkennung. Was aber, wenn wir noch darum belogen werden? Wenn wir jemand die

1 Wer sie ganz nachlesen will: Dora DIAMANT, „Mein Leben mit Franz Kafka“, in Hans- Gerd KOCH (Hrsg.) „Als Kafka mir entgegenkam…“ Erinnerungen an Franz Kafka, Berlin, Wagenbach, 1995, S. 174-185. 2 Bereits Ende der 1950er Jahre wurde in einer Steglitzer Stadtteilzeitung nach dem Mädchen mit der verlorenen Puppe gesucht. Doch leider vergeblich. Auch neuerliche Nachforschungsversuche führten nicht ans Ziel. So müssen Kafkas Puppenbriefe bis auf weiteres als verschollen gelten. Vgl. http://www.franzkafka.de/franzkafka/fundstueck_archiv/ fundstueck/457439 (Stand: 13. März 2014). 256 JÖRG DÖRING und DAVID OELS schöpferische Leistung der Lüge wohlmeinend und in gutem Glauben zusprechen, der sie gar nicht erbracht hat? Wenn wir uns unter falschem Namen belügen lassen? Um in solcher Weise prekäre Autorschaft soll es im Folgenden gehen. Die literarische Fiktion kann als eine Sonderform der Lüge gelten, die über viele Jahrhunderte stabile Formen und Verfahren ausgebildet hat, um sozial zugelassen, mehr noch: sogar prämiert zu werden. Gelogen wird hier im außermoralischen Sinne. Fälschung und Plagiat hingegen sind die hässlichen bösen Stiefschwestern der literarischen Fiktion: Wer derart lügt, dem glaubt man nur mehr ungern. Und der literarische Fälscher muss auch den sozialen Preis der Lüge entrichten. Obwohl sein Text sich möglicherweise gar nicht verändert hat.

I

Zunächst ein vorläufiger Versuch der begrifflichen Klärung: Das Plagiat gilt als Aneignung einer fremden schöpferischen Leistung, veröffentlicht unter eigenem Namen. Demgegenüber versteht man unter Fälschung, dass die eigne schöpferische Leistung als die eines anderen Urhebers ausgegeben wird.3 Dieser andere Urheber kann ein erfundener sein oder ein berühmter, bekannter, jedenfalls einer, der man selbst nicht ist. Letzteres gilt für einen Großteil der Fälschungen im Bereich der bildenden Kunst.4 Der Fall der Erfindung einer Urheberschaft kann Aspekte der Selbststilisierung beinhalten, wenn z.B. der Urheber sich eine andere Vita andichtet, ohne dass damit notwendigerweise gleich eine andere namentliche Identität behauptet würde.5 Während von Plagiaten die Texte selbst betroffen sind – sowohl die plagiierenden als auch die plagiierten – sind Fälschungen an den Rändern und Rahmungen der Texte, an den Paratexten im Sinne Gérard Genettes, angesiedelt, deren Ensemble erst den Werkzusammenhang stiftet, in dem ein Text vor die Leser tritt.6 Auch in juristischem Sinne lassen sich Fälschung

3 Vgl. aus der Fülle an Literatur v.a. Anne Kathrin REULECKE (Hrsg.), Fälschungen. Zu Autorschaft und Beweis in Wissenschaften und Künsten, Frankfurt/M., Suhrkamp, 2006. Melissa KATSOULIS, Telling Tales. A History of Literary Hoaxes, London, Constable, 2009. Philipp THEISON, Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte, Stuttgart, Kröner, 2009. Barbara POTTHAST, Das Spiel mit der Wahrheit. Fälschungen in Literatur, Film und Kunst, Berlin, Lit, 2012. 4 Vgl. zuletzt den Fall des Ehepaars Beltracchi: Helene und Wolfgang BELTRACCI, Selbstporträt, Reinbek, Rowohlt, 2014. 5 Vgl. zum Beispiel den Fall des DDR-Autors Stephan Hermlin, der es unwidersprochen ließ, dass Kritiker und Literaturwissenschaftler ihn für einen Kämpfer im spanischen Bürgerkrieg und in der französischen Résistance hielten, weil seine Prosasammlung Abendlicht (Berlin, Wagenbach, 1979) als autobiographische Selbstmitteilung verstanden wurde. Vgl. dazu Karl CORINO, Außen Marmor, innen Gips. Die Legenden des Stephan Hermlin, Düsseldorf, Econ, 1996. 6 Gérard GENETTE, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt/M., Suhrkamp, 2001. Vgl. auch Georg STANIZEK/ Klaus KREIMEIER (Hrsg.), Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen, Berlin, Akademie, 2004. ÜBER FORMEN UND VERFAHREN PREKÄRER AUTORSCHAFT 257 und Plagiat als Gegensätze begreifen. Bei Plagiaten geht es primär um Fragen des geistigen Eigentums, wobei hier das Urheberrecht einschlägig ist. Bei der Fälschung hingegen wird vor Gericht meist um die Frage gestritten, ob und in welchem Sinne es sich dabei um ein Betrugsdelikt handelt. Nicht selten dreht sich ein solcher Prozess um Fragen des Markenrechts, des unlauteren Wettbewerbs oder der Produkthaftung – wie auch im Fall der Autobiographie des Radsportlers Lance Armstrong7, von der sich Leser getäuscht fühlten, weil das Buch wohl von der Überwindung einer Krebserkrankung, nicht aber von der (mittlerweile erwiesenen) Einnahme leistungsfördernder, wettbewerbswidriger Substanzen handelte. Umstritten war hier die Ausschnittswahrhaftigkeit einer Lebensdarstellung, mit anderen Worten: die autorseitig zu verantwortende Selektivität bei der Auswahl erzählenswerter biographischer Tatsachen. Juristisch rechtfertigen musste sich Armstrong dafür, dass er (bzw. seine Co-Autorin Sally Jenkins) nur einen Teil seines Lebens erzählt hatte – aus Sicht der Kläger in betrügerischer Absicht. Sie verlangten Schadensersatz (allerdings vergeblich).8 Mit der Produkthaftung und dem Wettbewerbsrecht steht der im weiteren Sinne literarische Text auf einer Stufe mit falsch deklarierten Bio-Eiern oder Tiefkühlgerichten, die Pferdefleisch beinhalten. Selbst im renommierten Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte heißt es: „Heute fällt die literar. Fälschung wie jede andere unter den Begriff des Betruges. Ferner verstößt der Fälscher durch Deklarierung seiner ‚Ware‘ mit einer falschen Ursprungs- oder Herkunftsbezeichnung gegen das Gesetz betr. unlauteren Wettbewerb“.9 Probehalber ließe sich das Verhältnis von Plagiat und Fälschung mit dem zwischen Produkt- und Markenpiraterie vergleichen: Bei der Produktpiraterie wird das Produkt eines anderen Herstellers unter eigenem Markennamen verwendet (wenn z.B. ein kosmetisches oder pharmazeutisches Produkt mit identischen Inhaltsstoffen unter neuem Produktnamen vertrieben wird). Hier macht man sich in erster Linie das technische oder Entwicklungs-Know-How (als Analogon zur eigenschöpferischen Leistung im Bereich des Urheberrechtes) und die Gebrauchtswerteigenschaften des kopierten Produktes zunutze. Wenn aber bei einem fliegenden Händler auf dem Markt von Rabat eine nachgeahmte Gucci-Handtasche angeboten wird, bei der die Original-Verpackung und das Gucci-Logo möglichst naturgetreu imitiert werden, soll der Kaufinteressierte um den Entstehungszusammenhang,

7 Lance ARMSTRONG (zs. m. Sally JENKINS), Tour des Lebens. Wie ich den Krebs besiegte und die Tour de France gewann, Bergisch-Gladbach, Lübbe, 2001. 8 Vgl. zum Ausgang des Prozesses: „US-Richter: Armstrong durfte in seinem Buch lügen“, in Zeit online vom 11. 9. 2013. http://www.zeit.de/news/2013-09/11/radsport-us-richter- armstrong-durfte-in-seinem-buch-luegen-11121803 [13.3.2014]. 9 Elisabeth FRENZEL, „Fälschungen, literarische“, in Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, begr. v. Paul MERKER, hrsg. von Werner Kohlschmidt und Klaus Kanzog, Bd 1: A-K, Berlin u.a., de Gruyter, 1958, S. 444-450, hier S. 445. 258 JÖRG DÖRING und DAVID OELS gleichsam die „Produktionsgeschichte“10, der angebotenen Ware getäuscht werden. Deren Wert gründet vielleicht weniger in Gebrauchswert- als vielmehr in ästhetischen Eigenschaften, die im Markennamen, also in erster Linie der Produktauszeichnung, zum Ausdruck kommen. (Dabei müssen die verwendeten Materialien bzw. die Verarbeitung des Produktes gar nicht notwendigerweise minderwertig sein, um die Tauschwertdifferenz zwischen einer Gucci-Tasche und ihrem Imitat auf dem Markt von Rabat zu rechtfertigen.) Übertragen auf den Begriff der literarischen Fälschung: Die Fälschung täuscht über eine bestimmte Produktionsgeschichte des Werkes, insbesondere über die behauptete Kongruenz von Autor und Werk. Jenes hermeneutische Grundvertrauen der Lesenden, dass das Werkganze auch einer behaupteten und paratextuell beglaubigten Autorschaftsindividualität zurechenbar sei, wird durch die Fälschung (freilich nur im Moment ihrer Entdeckung) empfindlich gestört, auch wenn der Text, jene Folge von Zeichen und Wortkörpern, vollkommen identisch bleibt. Soll diese Kongruenz zwischen Autor und Werk intakt bleiben, beinhaltet der Nachweis der Fälschung auch eine Wertminderung der in Rede stehenden Autorschaftsleistung. „Echte“ Autoren schöpfen ihre Werke auf natürliche Weise, sie empfangen sie von der Muse, tragen sie aus und bringen sie zur Welt. Auch diese unterstellte Geschichte einer Produktion ist Voraussetzung ihrer ästhetischen Wertschätzung. Der Fälscher hingegen konzipiert sein Werk als rationales Fabrikat und berechnet es auf Erfolg, was – im Falle seiner Überführung – unmittelbar sich auswirkt auf das ästhetische Urteil. Am Beispiel der Markenpiraterie verdeutlicht: Die Fälschung stellt in Frage, ob der hohe Tauschwert einer echten Gucci-Tasche durch deren intrinsische Qualitäten gedeckt ist. Auch bei literarischen Fälschungen kann man beobachten, dass ästhetische Bewertungsmaßstäbe für solche literarische Produkte irritiert werden, die sich als einfach zu fälschen erwiesen haben. Dies aber interessanterweise nur kurzfristig. Denn zumeist werden genau diese Bewertungsmaßstäbe bald neuerlich befestigt, in dem man dem gefälschten Text mangelnde literarische Qualität zuschreibt, die von der verlogenen Autorschaft eben doch gänzlich unabhängig sei. Allein im Werk begründet sein sollen die Maßstäbe des ästhetischen Urteils. Ganz so wie Käufer echter Markenprodukte gern auf deren innere Qualitäten verweisen, um deren Wert und Preis zu rechtfertigen. Dieser Revalorisierungsbefund im Umgang mit literarischen Fälschungen soll hier an einer losen Reihe von drei Fallbeispielen aus der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts erörtert werden.

10 Vgl. Maria REICHER, „Vom wahren Wert des Echten und Falschen“ in Julian NIDA- RÜHMELIN/ Jakob STEINBRENNER (Hrsg.), Original und Fälschung, Ostfildern, Hatje Cantz, 2011, S. 51-70, hier S. 54. ÜBER FORMEN UND VERFAHREN PREKÄRER AUTORSCHAFT 259

II

Im Jahre 1952 wurde dem westdeutschen Lesepublikum ein bis dato unbekannter Autor mit folgendem Biogramm ans Herz gelegt:

George Forestier

Sohn eines Franzosen und einer Deutschen, wurde 1921 in der Nähe von Kolmar im Elsaß geboren. Nach einer schweren Kindheit, die unter der Zerrissenheit des Elternhauses litt, studierte er in Straßburg und Paris. Kaum zwanzigjährig, meldete er sich freiwillig und nahm in Rußland an den Kämpfen um Wjasma, Woronesch und Orel teil. Der Zusammenbruch bringt ihn vorübergehend in amerikanische Gefangenschaft. Er flieht und hält sich einige Zeit unter falschem Namen in Marseille auf, wird von der Polizei gestellt und meldet sich 1948 „freiwillig“ zur Fremdenlegion, die ihn nach Indochina abkommandiert. In der Garnison beginnt er einen Roman; einige Erzählungen entstehen und dazwischen die wenigen Gedichte, die er den Briefen an seine Freunde in Frankreich und Deutschland beilegt. Seine letzten Verse finden sich zwischen Gedicht-blättern Gottfried Benns in einer kleinen schmutzigen Kladde, die er einem Kameraden übergibt, bevor seine Truppe im Herbst 1951 erneut in Marsch gesetzt wird. Seit diesem Zeitpunkt fehlt von ihm und seiner Vorpostengruppe jede Spur.11

Der Lebenslauf ist kunstvoll auf die Vorlieben des westdeutschen Lesepublikums der 1950er Jahre hin konstruiert: Ein Mischlingskind im Zeichen der Erbfeindschaft, die Kriegserfahrung an der Ostfront – „Wjasma, Woronesch und Orel“ als mythische Schlachtorte des Zweiten Weltkriegs zwischen 1941 und 1943; die amerikanische Kriegsgefangenschaft – ästhetisches Kapital nicht zuletzt der Gruppe 47-Autoren wie Hans Werner Richter und Alfred Andersch; der Mythos von der Fremdenlegion (nicht zuletzt als legendäres Auffangbecken ehemaliger SS-Angehöriger12). Exakt mit dem „Zusammenbruch“ wechselt der Lebenslauf sein Tempus: vom epischen Präteritum ins Verlebendigungs-Präsens der Nachkriegsgegenwart. Der Krieg in Indochina, in dem insbesondere die deutschen unfreiwillig- Freiwilligen helden- und opferreich den Zweiten Weltkrieg weiterkämpfen, war überaus präsent in der Öffentlichkeit der frühen 1950er Jahre. Dann Gottfried Benn als Hochwertreferenz, der zunächst verfemte, dann glanzvoll rehabilitierte, soeben mit dem Büchner-Preis 1951 geadelte, unbestritten anerkannteste Dichter der westdeutschen Gegenwart als Vorbild; schließlich Forestiers Verschwinden auf dem Vormarsch und die Insinuation eines lyrischen Vermächtnisses: Ein Dichter an der Front, der nun nicht wie Benn in seiner Lieblingskneipe „Dramburg“ Lyrik auf Bierdeckel schrieb, sondern dessen Blut den Dschungelboden tränkte. Die Schreibweise seines

11 Karl Friedrich LEUCHT, „George Forestier“, in George FORESTIER, Ich schreibe mein Herz in den Staub der Straße, hrsg. von Karl Friedrich LEUCHT, Düsseldorf, Diederichs, 1952, S. 48. 12 Vgl. Eckard MICHEL, Deutsche in der Fremdenlegion 1870-1965. Mythen und Realitäten, Paderborn, Schöningh, 2006. 260 JÖRG DÖRING und DAVID OELS

Vornamens (George statt dt. Georg oder frz. Georges) zuletzt ein linguistisches Indiz für die Existenz zwischen den Fronten, für die Heimatlosigkeit eines poète maudit der 1950er Jahre. Dieses sorgsam komponierte Biogramm findet sich auf der letzten Seite des im Eugen Diederichs Verlag erschienenen Gedichtbandes Ich schreibe mein Herz in den Staub der Straße. Das Bändchen hatte bescheidenen Umfang (48 Seiten) und – für Lyrik – einen geradezu schwindelerregenden Erfolg. Bis zum Sommer 1955 sollen in sieben Auflagen angeblich 21 000 Exemplare davon verkauft worden sein.13 Auch die Literaturkritik reagierte euphorisch auf diesen „deutschen Rimbaud“ (Stefan Andres). Der Rheinische Merkur rühmte, „die erschütternde Deutlichkeit des poetischen Ausdrucks“ sei „dichterisch“ wie Mörike […] Eliot, Kafka, Valery und Garcia Lorca.“ Auch Vorbild Benn ließ sich vernehmen (in der Neuen Zeitung): „Wunderbar zarte, gedämpfte melancholische Verse“. Und brieflich an den Verlag: „Zweifellos stehen wir vor einer dichterischen Begabung.“14 Und im Spiegel – in jener Ausgabe mit dem berühmten Cover der jungen Ingeborg Bachmann als Postergirl – wurde Forestier mit ebendieser Bachmann, mit Paul Celan und Walter Höllerer in eine Reihe der zeitgenössischen Lyrik-Begabungen gestellt.15 Ein zweiter Gedichtband erschien bei Diederichs: Stark wie der Tod ist die Nacht, ist die Liebe (Diederichs 1954). Im gleichen Jahr tauchte Forestier dann erstmals in einer bedeutenden Anthologie auf, Benno von Wieses Deutsche Gedichte. Geadelt wurde der Leichtsinn des verschollenen Autors nun auch durch Ermahnung und Abgrenzung von kulturkonservativer Seite: Kritikerpapst Hans Egon Holthusen schrieb vom „poetische[n] Vagabund und Bänkelsänger, der gelegentlich herrliche Treffer erzielt“, auch wenn er „grundsätzlich von der Strenge des dichterischen Berufes kaum etwas weiß.“16 Holthusen raunt von der unterstellten Autor-Werk-Kongruenz eines Unbekannten abschließend in prunkenden Genetiv-Metaphern: Forestier habe „in der Unrast und Bitterkeit seines Erdenlebens einige echte Goldkörner der Poesie ans Licht gehoben.“17 Um den dritten Forestier-Band (Briefe an eine Unbekannte) zu publizieren, wurde 1955 gar ein eigener Verlag, der Georg Büchner Verlag, aus der Taufe gehoben. Da der deutsche Rimbaud nach wie vor nicht aus dem indochinesischen Dschungel zurückgekehrt war und neue

13 Vgl. zu Forestier und dem Gedichtband Jürgen REULECKE, „Ich möchte einer werden so wie die...“. Männerbünde im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M., Campus, 2001, S. 233-248; Niels WERBER, „Ein Fall der Hermeneutik. George Forestier – Leben, Werk und Wirkung“, in komparatistik online (2010), S. 26-37. http://www.komparatistik-online.de/2010-1-2 (Stand: 14.3.2014); David OELS, „George Forestier: Ich schreibe mein Herz in den Staub der Straße“, in Elena AGAZZI/ Erhard SCHÜTZ (Hrsg.), Handbuch Nachkriegskultur. Literatur, Sachbuch und Film in Deutschland (1945-1962), Berlin/ Boston, de Gruyter, 2013, S. 234-237. 14 Vgl. Christian STURM, „Abrechnung mit einem Pseudonym“, in George FORESTIER Am Ende der Straßen bleibt jeder allein, Opladen, Argus, 1974, S. 7-19. 15 (anonym): „Stenogramm der Zeit“, Der Spiegel, Nr. 34 vom 18. August 1954, S. 26-29. 16 Hans Egon HOLTHUSEN, „Fünf junge Lyriker“, in Merkur 74 (1954), S. 378-390, hier S. 382. 17 Ibid., S. 384. ÜBER FORMEN UND VERFAHREN PREKÄRER AUTORSCHAFT 261

Werke immer unwahrscheinlicher wurden, publizierte man nun Briefe aus Russland – gewissermaßen aus dem Vorlass des Verschollenen – und bildete auf dem Cover Forestiers Handschrift ab. Erst jetzt, wo der letzte Schritt zur Auratisierung der Autor-Werk-Kongruenz vollzogen schien, ließ Verleger Peter Diederichs die Bombe platzen und bekannte dem Buchhandel, dass es sich bei Forestier um das Pseudonym eines Lebenden handelte, ohne freilich schon den Ghostwriter zu enthüllen. Und nicht ohne List versuchte er bereits präventiv dem zu erwartenden Betrugsvorwurf zu entgegnen:

Der Ruhm einer solchen Leistung […] ist nicht an das Zufällige des Persönlichen gebunden. Er bleibt auch dann bestehen, wenn sich nun – zu unserer eigenen Überraschung – herausgestellt hat, dass der Name Forestier nur das Symbol für das Werk eines Ungenannten ist.18

Schnell hatte der Spiegel die Geschichte recherchiert: Hinter dem Pseudonym stand Karl Emrich Krämer, ehemals Lektor und Hersteller im Diederichs Verlag, der den Krieg als „Sonderbeauftragter“ im Oberkommando der Wehrmacht überlebt hatte und nach Entlassung aus dem Internierungslager mit Schreibverbot belegt war, 1949 an der Universität Bonn promovierte und der ab 1953 im Düsseldorfer Karl Rauch Verlag als Prokurist einen anderen literarischen Bestseller der westdeutschen Nachkriegszeit zu verbreiten half: Antoine de Saint-Exupérys Der kleine Prinz. Nach seiner Enttarnung veröffentlichte er weiter unter dem Pseudonym George Forestier Gedichtbände, ohne freilich an den Erfolg von Ich schreibe mein Herz in den Staub der Straße anknüpfen zu können. Unter seinem Klarnamen schrieb der vermeintliche Fremdenlegionär nur mehr heimatkundliche Bücher über das Bergische Land und Westfalen. Nach seinen Motiven für das literarische Versteckspiel als Forestier befragt, gab Krämer zu verstehen, das von den Alliierten verhängte Schreibverbot sei ein Ausgangspunkt gewesen, verschiedene Pseudonyme und Autorschaftskonstruktionen zu erproben. Provokant verteidigte er die Erfindung seines Biogramms als Gesamtprojekt eines gewieften Autor- Managers, für den es stets darum gehe, wie ein Buch bestmöglich zu verkaufen sei: „Ich gehöre einer Generation an, die genau weiß, was Managertum wert ist. Deshalb Forestier und nicht Förster.“ In den Gedichten sei es ihm darum zu tun gewesen, den „Hemingway-Stil“ in die Lyrik einzuführen, und dafür habe er eigene Texte aus der Schublade dem unterstellten Zeitgeschmack von Publikum und Kritik angepasst und umgeschrieben.19 Damit hatte der Literaturbetrieb der westdeutschen Nachkriegszeit einen veritablen Skandal, obschon Gerüchte über eine gefälschte Autorschaft schon seit längerem im Umlauf gewesen waren. Instruktiv ist das Diskursprofil dieses Skandals mit seinen spezifischen

18 Zit. nach: (Anonym) „Hinter einer frischen Leiche“, Der Spiegel, Nr. 41 vom 5. Oktober 1955, S. 39-45, hier S. 39. 19 Ibid, S. 44. 262 JÖRG DÖRING und DAVID OELS

Nachkriegs-Sagbarkeitsregeln und einer für den Umgang mit literarischen Fälschungen typischen Verlaufsform20: Die professionelle Literaturkritik beeilte sich zu versichern, dass der Autor bei der Beurteilung eines literarischen Kunstwerks niemals eine Verstehens- oder gar Bewertungsgröße darstellen dürfe – hier ganz im Sinne der werkimmanenten Interpretation als einer dankbar selbstauferlegten Kontextabstinenz der Textlektüre, die gerade mit dem New Criticism aus den amerikanischen Colleges kulturimportiert worden war. Eine Methode, die insbesondere dazu geeignet schien, die Verstrickung in manche Kontexte zwischen 1933 und 1945 methodisch auszuklammern. Die vorübergehende Forestier-Emphase konnte da zum Gegenstand einer vorsichtigen Selbstkritik werden, gegen die eigenen Grundsätze der Textimmanenz verstoßen zu haben und einer kalt kalkulierten Autor-Werk-Kongruenz leichtfertig zum Opfer gefallen zu sein. Aber auch dafür wollte insbesondere die kulturkonservative Kritik zeitbedingte Gründe ins Feld führen dürfen. So rechtfertigte sich Friedrich Sieburg in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:

Einen Autor mit einer so drohenden Biographie, die eine einzige Anklage gegen die Zeit darstellt, kritisch unter die Lupe zu nehmen, ist heutzutage eine heikle Sache. Das Schlagwort von der ‚verlorenen Generation’ lässt jeden Kritiker, der es wagen sollte, unbeirrt sein Amt auszuüben, zum „restaurativen“ Kritiker herabsinken.21

Die Angst vor dem Vorwurf der Restauration habe die kleinmütigen Kritiker daran gehindert, ihr Wächteramt im Fall Forestier wahrzunehmen und bewegt, auf die konstruierte Autor-Werk-Kongruenz hereinzufallen. Ungeniert den Vorwurf der Restauration auf sich ziehend, nutzte Sieburg die Gelegenheit, gleich nicht nur mit dem Manager-Dichter Forestier, sondern auch mit dem Literaturbetrieb und den Autoren der jüngeren Generation, hier in Person des Kahlschlag-Poeten Wolfgang Borchert, abzurechnen. Auch bei Borchert sei berechtigte Kritik aus Pietät vor dem früh Verstorbenen voreilig verstummt. In dem Maße, in dem hier die Autor-Werk-Kongruenz diskurspraktisch verabschiedet werden sollte, wurde sie recht eigentlich erst bestätigt. Denn jetzt sollten die Gedichte immer schon schlecht gewesen sein. Ebenso wie die Biographie ihres Autors falsch. Hugo Hartung etwa fragte sich, „ob Leben und Persönlichkeit des Autors bei der Beurteilung seines Werkes in Ansatz zu bringen sind […] Wir möchten diese Frage ohne langes Zögern verneinen.“ Allerdings sei dies bei Forestier getan worden:

20 Vgl. zum Diskursprofil, den Resonanzkonstellationen und Verlaufsformen von Skandalen v.a. Klaus LAERMANN, „Die grässliche Bescherung. Zur Anatomie des politischen Skandals“, in Kursbuch 77 (1984), S. 159-172; Georg BOLLENBECK/ Clemens KNOBLOCH (Hrsg.), Resonanzkonstellationen. Die illusionäre Autonomie der Kulturwissenschaften, Heidelberg, Synchron, 2004. 21 Friedrich SIEBURG, „In einer kleinen schmutzigen Kladde“, in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. August 1959. ÜBER FORMEN UND VERFAHREN PREKÄRER AUTORSCHAFT 263

Dem naiven Leser verfließt die Aura des Namens und Schicksals des Autors mit dem künstlerischen Gebilde, und wenn er etwa bei Forestier vom „Schicksalswind“ las, wird er unwillkürlich das Schicksal des verschollenen Legionärs mitgedacht und mitempfunden haben. Es kann also wohl sein, daß er sich nun, da die Mystifikation aufgedeckt ist, ein wenig als das Opfer eines literarischen Betrugs vorkommt. In Wahrheit aber müßte er sich eingestehen, daß seine naive Einstellung erst die Voraussetzung für diesen Betrug geschaffen hat. Er hätte zu begreifen, daß der Legionär auf den Kampffeldern Indochinas immer bedeutungslos war, wenn der literarische Wert seiner Lyrik zur Diskussion stand [...]. Was das Gedicht schuldig bleibt, dafür kann das Leben nicht einstehen.22

Als misreading einer naiven identifikationsbereiten Lektüre der anderen wird hier getadelt, was doch das Problem der Literaturkritik selbst gewesen war. Denn während manche Leser den Wert der Gedichte trotz gefälschter Autorschaftsbehauptung verteidigten, stand für Hartung immer schon fest, dass Forestiers Lyrik „gewiss nicht außerordentlich“ sei.23 Benno von Wiese entfernte die Gedichte gleich wieder aus seiner Anthologie und bekräftigte damit ebenfalls den Zusammenhang von falschem Autor und unwertem Werk.24

III

Beim renommierten Zsolnay Verlag in Wien erschien 1990 eine kurze Erzählung mit dem Titel Winterende. Eingesandt hatte sie eine bis dahin auch beim Verlag völlig unbekannte Autorin mit dem Namen Luciana Glaser. „Mit wachsender Freude und Begeisterung“ sei das unverlangt eingegangene Manuskript gelesen worden, man wollte es sofort herausbringen. Nur 17 Tage nach Einsendung wandte sich die Lektorin Anita Pollak per Telegramm an die unbekannte Autorin, sie möchte bitte „ehebaldigst“ telefonisch mit dem Verlag Kontakt aufnehmen.25 Gewiss nicht allen unverlangt eingesandten Manuskripten wird soviel und so rasch Aufmerksamkeit zuteil. 30 000 österreichische Schilling bekam Glaser als Vorschuss. Die Erzählung war reichlich kurz für eine Separat-Veröffentlichung, aber mit Blocksatz und 14 pt-Schrift brachte man sie auf 88 Seiten. Im Klappentext hieß es dazu:

Vom glücklosen Leben und frühen Ende eines Dichters berichtet eine junge Autorin. Die literarische Indiziengeschichte, die verhüllend die Biographie des früh verstorbenen Südtiroler Lyrikers Norbert C. Kaser enthüllt, ist ein seltenes Beispiel hoher zeitgenössischer Prosakunst und eine literarische Entdeckung.26

22 R[UDOLPH] H[ARTUNG], „Der Legionär und der Dichter“, in Kritische Blätter 1 (1955/56) 1, S. 1f. 23 Ibid, S. 1. 24 Vgl. STURM, „Abrechnung“, S. 14. 25 Zit. n. Willi WINKLER, „Markt der Körper“, Der Spiegel, Nr. 27 vom 2. Juli 1990. 26 Luciana GLASER, Winterende. Erzählung, Wien, Zsolnay, 1990, U 4. 264 JÖRG DÖRING und DAVID OELS

Das Objekt dieser literarischen Biographie, der Lyriker Norbert C. Kaser (1947-1978), ein entlaufener Mönch, Mittelschullehrer im Vinschgau und Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens, der 1978 an den Folgen einer Leberzirrhose gestorben war (nachdem er sich noch erfolglos in Bad Berka/seinerzeit DDR einer Alkoholentziehungskur unterzogen hatte) und dessen letztes Gedicht den Titel „ich krieg ein kind“ trug, galt zumindest im österreichischen Literaturbetrieb um 1990 als Avantgardist und repräsentativer Vertreter einer kritischen Südtiroler Literatur. Zu Lebzeiten waren seine Gedichte samt und sonders im Selbstverlag erschienen. Erst posthum entdeckte den Außenseiter die österreichische literarische Avantgarde. Man nannte ihn den „Dylan Thomas von Bruneck“. Glasers Stoff jedenfalls war klug gewählt. Zur unbekannten Autorin vermeldete der Zsolnay-Klappentext nur die dürren objektiven Daten: „Luciana Glaser wurde 1958 in Rovereto als Tochter eines österreichischen Vaters und einer italienischen Mutter geboren. Sie wuchs in Bozen auf und studierte in Wien. Winterende ist ihre erste größere Prosaarbeit.“ In der Verlagsvorschau gab es noch den Hinweis, sie lebe so zurückgezogen, dass ein Foto leider nicht zur Verfügung stünde27 Inhalt und Autorinnenbiografie umspielen das Thema Südtirol, das die Verfasserin – als äußerer Beleg für die innere Zerrissenheit – auch in ihrem italienisch-deutschen Namen trägt. Der Text selbst handelt dann von der Karwoche des sterbenden Dichters Kaser, der, von Welt und Mitmensch enttäuscht, hungernd seinem Dasein mit Zigaretten und Alkohol ein Ende macht:

Den Körper zermürbt und endlich zerstört und den Geist mit zerstört, er hatte es nicht wissen können, sie hatten es ihm nicht gesagt, vielmehr indem sie ihm die angestammte Religion beibrachten, ihn vom Gegenteil überzeugt, dass nämlich für die Reinigung und Erhöhung des Geistes (sie sagten SEELE und nannten diese UNSTERBLICH und er hatte das in seine selbstgemachte oder sich heimlich angeeignete Kunst-Religion übersetzt als GEIST, GENIE und dieses war eben wiederum UNSTERBLICH) der Körper nicht nur keine Rolle spiele, sondern es vielmehr notwendig, unabdingbar sei, den Körper zu zerstören, das sündige Gebäud.28

Auch die Verzweiflung am Katholizismus gehört mithin zu den Ingredienzien dieser Figuren-Konstruktion. Winterende erhielt daraufhin einige positive Rezensionen im Qualitätsfeuilleton. Die Autorin wurde mit Ingeborg Bachmann, Norbert Gstrein oder Thomas Bernhard, ihr Buch mit

27 Vgl. zum Fall ausführlicher und mit weiteren Literaturhinweisen: Stefanie HOLZER/ Walter KLIER, Luciana Glaser. Eine Karriere. Dokumentation des Experiments „Winterende“, Innsbruck, Edition Löwenzahn, 1991; David OELS, „Luciana Glaser: Das Fräuleinwunder ohne Fräulein. Weibliche Autorschaft um 1989“, in Christiane CAEMMERER/ Walter DELABAR/ Helga MEISE (Hrsg.), Fräuleinwunder literarisch. Literatur von Frauen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Frankfurt/M., Lang, 2005, S. 213-229. 28 GLASER, Winterende, S. 73. ÜBER FORMEN UND VERFAHREN PREKÄRER AUTORSCHAFT 265

Büchners Lenz verglichen.29 Fast übereinstimmend rühmte man die „souveräne“ Sprachbeherrschung dieser „Wortbegnadeten“, erkannte eine Prosa, „die stets über dem Schwerpunkt ihrer formalen und stilistischen Möglichkeiten“ sei.30 Ende März 1990 wurde Winterende zum Buch des Monats April der Darmstädter Jury gewählt.31 Drei Monate später folgte die Offenlegung der eigentlichen Autorschaft öffentlichkeitswirksam im Spiegel. Den Text verfasst und das Pseudonym Luciana Glaser erfunden hatte Walter Klier (beteiligt an der Ausarbeitung war auch Stefanie Holzer), ein regional bekannter Innsbrucker Schriftsteller und Publizist, mithin ein versierter und erfahrener Schreiber, der mit Winterende laut eigener Auskunft hatte beweisen wollen, dass es für ihn kein Problem sei, ein erfolgreiches und von der Kritik angenommenes Buch zu schreiben. Den Text bezeichnete der Autor nun als „hochgestochene Trivialität“, die absichtsvoll berechnet gewesen und in einer Woche „hingesülzt“ worden sei: konstruierter Kitsch.32 Der Literaturkritiker Willi Winkler konstatierte daraufhin – ebenfalls im Spiegel, dort wo die literarische Fälschung enthüllt worden war – an dem Buch sei kein Wort „echt“, und fügte zur Erläuterung an:

Die Erzählung bietet nichts über das hinaus, was jeder Baukasten für die Literatur unserer Zeit bereithält: ein leidender Künstler, der am eigenen und dem Elend der Welt zugrunde geht, die Einsamkeit der Berge, dazu der Schnee, der jeglichen Tag fällt, eine Prosa, hingetupft von einer sensiblen Autorin, die in ihr Idol fast hineinkriecht.33

Ein gemachtes, aus Versatzstücken des „Baukastens für die Literatur“ zusammengesetztes Buch, das in der Folge nicht mehr als Literatur gelten gelassen werden konnte. Für große Beunruhigung sorgte der Fall trotzdem nicht, da der Text ja nun sogar vom Autor selbst diskreditiert worden war. Umgehend setzte der Re-Valoriserungsvorgang ein, den wir schon bei dem Fall Forestier beobachten konnten: Da versicherte die seriöse Literaturkritik, beispielsweise Sigrid Löffler, dass nur „ein paar leichtgläubige Kritiker“ das rundweg schlechte Buch („Kitsch as Kitsch can“) gelobt hätten.34 Die Autoren Klier und Holzer jedoch – darauf aus, den Literaturbetrieb, die Kritik und deren leicht zu beliefernde Beuteschemata bloßzustellen, hatten selber

29 Vgl. Brigitte HABERER, „Todeslauf eines Dichters. ‚Winterende’ - eine Erzählung rätselhafter Herkunft“, in Süddeutsche Zeitung vom 19. Mai 1990; K.K. [= Kurt KAHL], „Der Todeslauf eines Dichters“, in Kurier vom 12. Februar 1990. Letzteres zitiert nach HOLZER/ KLIER, Karriere, S. 44. Der Hinweis auf Lenz findet sich bereits im Klappentext. 30 Rüdiger GÖMER, „Dichterlegende. Luciana Glasers Erzählung Winterende“, in Neue Zürcher Zeitung vom 22. Februar 1990; Gerald SCHMICKL, „Grausame Tiroler Hackordnung. Ein literarischer Ratekrimi aus Österreich: Wer ist Luciana Glaser?“ in Die Weltwoche , Nr. 7 vom 15. Februar 1990. 31 Vgl. HOLZER/ KLIER, Karriere, S. 49f. 32 Zit. n. WINKLER, Markt der Körper, S. 166. 33 Ibid., S. 165. 34 Sigrid LÖFFLER, „Kitsch as Kitsch can”, in Profil, Nr. 27 vom 9. Juli 1990, S. 83. 266 JÖRG DÖRING und DAVID OELS eine Bibliografie zur Dokumentation ihres Falles zusammengestellt, aus der hervorging, dass Winterende in nicht weniger als 80 Zeitungsartikeln, Pressenotizen und ähnlichem vor der Selbstenthüllung der Fälschung besprochen worden war – allermeist positiv, darunter eine überaus lobreiche und ausführliche Rezension in der Süddeutschen Zeitung.35 Die literarische Fälschung Winterende und die Dokumentation ihrer Resonanzgeschichte, so schrieb Hermann Luger, sei ein „überaus gelungenes und aufschlussreiches literatursoziologisches Experiment“, mit dem das Funktionieren des Literaturbetriebs veranschaulicht worden sei.36 Zu dessen Betriebsbedingungen gehörte weiterhin, die Autor-Werk-Kongruenz durch nachträgliche Abwertung des Textes als gefälschtem intakt zu halten.

IV

Was aber, wenn der prekäre Autor einer solchen literarischen Fälschung kein alter Nazi mit Schreibverbot ist und kein Innsbrucker Verstellungsvirtuose, der dem Literaturbetrieb einen Spiegel vorhalten will? Sondern wenn der Fälscher selbst in subjektiver Überzeugung lebt, nicht getäuscht und gelogen, sondern die autobiographische Wahrheit geschrieben zu haben. Das macht den letzten unserer Fälle – die Skandalgeschichte um Binjamin Wilkomirskis Bruchstücke, die sich zwischen 1995 und 1999 abspielte – ungleich vertrackter. Der Fall und seine Skandalisierung insbesondere in Deutschland gehören diskursgeschichtlich in den Horizont einer besonderen Vorwurfsfigur, die der amerikanische Politikwissenschaftler Norman Finkelstein im Jahr 2000 auf den Begriff brachte (nicht ohne den Vorwurf auf Wilkomirski auszudehnen): die so genannte „Holocaust- Industrie“.37 Das Gedenken an den Holocaust werde von jüdischer und anderer interessierter Seite insbesondere deshalb so leidenschaftlich kultiviert, weil sich mit dem Schuldgefühl der Täternachkommen gutes Geld verdienen lasse. (Mitteilbar war dieser Vorwurf allein deshalb, weil er selber aus jüdischem Munde geäußert wurde). Zum inneren Kontext des Skandals Wilkomirski gehört dann auch die so genannte Walser-Bubis-Debatte: Die Resonanz auf eine Rede Martin Walsers im Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche, der sich ausgerechnet die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels zum Anlass genommen hatte, die „Dauerrepräsentation“ der deutschen NS-„Schande“ anzuprangern, hinter der das Motiv der „Instrumentalisierung“ dieser Schande zu je „eignen Zwecken“

35 Vgl. HOLZER/ KLIER, Karriere, S. 101-105. 36 Hermann LUGER, „Literaturkritiker, die Zentral-Sonnen der Intelligenz. Polemische Anmerkungen zur Literaturkritik, anläßlich der „Affäre Luciana Glaser“, in HOLZER/ KLIER, Karriere, S. 84-100, hier S. 89. 37 Norman FINKELSTEIN, The Holocaust Industry. Reflections on the Exploitation of Jewish Suffering, New York, Verso, 2000. ÜBER FORMEN UND VERFAHREN PREKÄRER AUTORSCHAFT 267 vermutet werden müsse.38 Vordergründig betrachtet, schien der Fall Wilkomirski, dessen Skandalisierung im Sommer 1998 begann, solche Ressentiments zu bestätigen. Was war geschehen? Der Fall beginnt drei Jahre zuvor. 1995 erschien im zu Suhrkamp gehörenden Jüdischen Verlag das Buch Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948 unter dem Autornamen Binjamin Wilkomirski.39 Auf der U4 der Erstausgabe war zu lesen:

Binjamin Wilkomirski weiß nicht, wann genau er geboren ist, er kennt seine Herkunft nicht und hat keinen einzigen Verwandten. Was ihm von seiner Kindheit blieb, sind „Bruchstücke“, Bilder aus Majdanek, aus dem „Kinder- und Frauenfeld“ des Vernichtungslagers, aus dem Waisenhaus in Krakau, aus den ersten Jahren bei schweizerischen Pflegeeltern. Das Kind wuchs unter fremde Namen auf. Heute lebt Binjamin Wilkomirski als Musiker und Instrumentenbauer in der Schweiz. Erst als Fünfzigjähriger gibt der Autor seinen eigentlichen Namen preis. Er fertigt aus dem Gedächtnis Pläne und Zeichnungen der Lager an, reist nach Majdanek und forscht nach den Spuren seiner Kindheit, seiner Herkunft. Die Bilder von Ereignissen, Begegnungen seiner frühen Jahre hat er nun in Prosastücke gefasst […].40

Für den Klappentext der späteren Taschenbuchausgabe wurde ein blurb des Historikers Daniel Goldhagen benutzt. Goldhagen selber war von 1996 an Gegenstand öffentlicher Debatten in Deutschland gewesen – wegen seines Buches Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust.41 Er ließ sich mit folgendem Satz zu Bruchstücke zitieren: „Dieses fesselnde Buch belehrt auch jene, die mit der Literatur über den Holocaust vertraut sind. Es wird jeden tief bewegen.“42 In dem blurb soll im Sinne der Überredungsabsichten des Klappentextes bereits einer gewissen Ermüdung vorgebeugt werden: Auch Zeugnisliteratur-erfahrene Leser würden sich von diesem Text ansprechen lassen. Das Neue – so kann extrapoliert werden – sei hier die Kinderperspektive auf das Lager, eine Erzählposition, die erst dem sprach- und erinnerungslos machenden Trauma abgetrotzt werden musste.43

38 Zu der Rede Walsers mit dem Titel „Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede“ und der heftigen öffentlichen Debatte, die sich daran anschloss vgl. v.a. Frank SCHIRRMACHER, Die Walser-Bubis-Debatte. Eine Dokumentation, Frankfurt/M., Suhrkamp, 2000 u. Salomon KORN, „Als Sekundant im Walser-Bubis-Streit“ in Jörg DÖRING/ Clemens KNOBLOCH/ Rolf SEUBERT (Hrsg.), Antisemitismus in der Medienkommunikation, Frankfurt/M., GAFB, 2005, S. 27-50. 39 Binjamin WILKOMISKI, Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948, Frankfurt/M., Suhrkamp, 1995. 40 Ibid., U4. 41 Daniel Jonah GOLDHAGEN, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin, Siedler, 1996, (engl. Hitler’s willing Executioners. Ordinary Germans and the Holocaust, New York, A. A. Knopf, 1996). 42 Zit. n. dem Klappentext der Taschenbuch-Erstausgabe von 1998 (st 2801). 43 Noch während die Debatte um das Wilkomirski-Buch tobte, wurde diese Erzählposition dann – mit großem Erfolg beim deutschen Lesepublikum – von dem Roman eines Schicksallosen von Imre KERTESZ eingenommen (Reinbek, Rowohlt, 1999). Aus der Perspektive eines pubertierenden Jungen wird darin die Deportation der Budapester Juden nach 268 JÖRG DÖRING und DAVID OELS

Dieses Resonanzkalkül erwies sich zunächst als tragfähig. Zu Bruchstücke finden sich mehrere positive Rezensionen. Insbesondere in der Neuen Zürcher Zeitung konnte man von einem „schmalen Buch“ lesen, das „das Gewicht dieses Jahrhunderts“ trage. „Ohne literarischen Anspruch, hält es in seiner Dichte, Unabänderlichkeit und Bildkraft dennoch allen literarischen Kriterien stand“.44 Das Buch erhielt einige Preise und wurde in mehrere Sprachen übersetzt, der Autor trat – teils mit seiner Klarinette, teils ohne – vor Schulklassen und Opferverbänden auf und stellte sich für Dokumentationen im Fernsehen zur Verfügung. Namentlich mit Zeugnisliteratur befasste Wissenschaftler verschiedener Disziplinen stellten den Wert der Bruchstücke heraus. Symbolischer und ökonomischer Erfolg waren also unverkennbar, jedoch keinesfalls so groß, wie später oft unterstellt.45 In der New York Times wurde beispielsweise gemutmaßt, dass Bruchstücke „the biggest global success for a Swiss book since ‚Heidi‘“ gewesen sei. Dabei waren von der deutschsprachigen Ausgabe 1998 gerade einmal 10 000 Exemplare verkauft, mittlerweile sollen es weltweit 67 000 sein.46 Im Sommer 1998 erschien dann in der Schweizer Weltwoche eine Recherche des Journalisten Daniel Ganzfried, selbst Sohn von Überlebenden des Holocaust, der der Identität Wilkomirskis nachgegangen war und aus der Rezeptionsgeschichte der Bruchstücke den Fall und Skandal Wilkormirski machte: Ganzfried konnte belegen, dass die lückenlos dokumentierte Lebensgeschichte Bruno Dössekkers, so der amtliche Name Wilkomirskis, für die in Bruchstücke geschilderten Erlebnisse keinen Raum lasse.47 Diese Recherche hatte u.a. zur Folge, dass die Zürcher Literaturagentur Liepmann, die den Wilkomirski-Text an den Jüdischen Verlag vermittelt hatte, bei dem Historiker Stefan Mächler ein Gutachten in Auftrag gab, das die Ergebnisse Ganzfrieds im wesentlichen bestätigte. Des weiteren konnte Mächler glaubhaft machen, wie die Erzählung Bruchstücke hatte zustande kommen können: Auslösender Impuls könnte eine Therapie nach der Methode der Recovered-Memory-Therapy gewesen sein, in der Dössekker verdrängte Kindheitserinnerungen zu reaktualisieren versucht haben soll. Mächler betätigte sich dabei praktisch als Tiefenhermeneut des Wilkomirskischen Traumatextes: Er konnte unter anderem zeigen, dass die Beschreibungen eines Bauernhofs in Bruchstücke exakt jenem Schweizer Bauernhof entsprachen, auf dem der kleine Bruno die Zeit vom Juni 1944 bis März 1945 als 4-jähriges Pflegekind zugebracht hatte. Der Traumatext hatte offenbar

Auschwitz und Buchenwald und der Lageralltag geschildert. Beglaubigt wurde die Romanhandlung durch die Biographie des Autors, selber ein Holocaust-Überlebender. 44 Taja GUT, „Mit nichts zu verbinden“, in Neue Zürcher Zeitung vom 14. November 1995. 45 Vgl. dazu: David OELS, „‚A real-life Grimm’s fairy tale‘, Korrekturen, Nachträge, Ergänzungen zum Fall Wilkomirski“, in Zeitschrift für Germanistik, N.F. 14 (2004) H. 2, S. 373-390. 46 Doreen CARVAJAL, “A Holocaust Memoir in Doubt. Swiss Records Contradict Book on Childhood Horror” in The New York Times vom 3. November 1998. 47 Vgl. Daniel GANZFRIED, „Die geliehene Holocaust-Biographie“ in Die Weltwoche vom 27. August 1998. ÜBER FORMEN UND VERFAHREN PREKÄRER AUTORSCHAFT 269 tatsächlich einen authentischen Erinnerungsort rekonstruiert, ihn allerdings im narrativen Vollzug ortsversetzt, um ihn erzählbar zu machen. Nach diesem Bericht Mächlers nahm der Jüdische Verlag das Buch im Herbst 1999 vom Markt. Im Zuge der Walser-Bubis-Debatte schien der Fall jene Vorwürfe zu bestätigen, dass ein literarischer Fälscher sich eine Holocaust-Biographie andichten könne, um insbesondere jene schuldbereiten Leser mit ihrer Fixierung auf von Deutschen verursachtes Leid zu täuschen – und das gewissermaßen in einer Alice-Miller-Variante: „Der Holocaust-Erinnerungs- Boom hat sich im Fall Wilkomirskis mit Therapiegläubigkeit kurzgeschlossen“, schrieb Ina Hartwig in der Frankfurter Rundschau.48 Und Thomas Steinfeld in der FAZ, der den Vorwurf gleich auf die gesamte (fiktionale) Erinnerungsliteratur der so genannten „zweiten Generation“ ausdehnte:

Nie war Erinnerung redseliger. Plötzlich erinnern sich Zeitgenossen an Dinge, die sie nicht erlebt haben […] Die fiktive Erinnerung erzeugt Monstren von beklemmender Genauigkeit […] Wilkomirskis Bruchstücke sind auf eine Erinnerungskultur berechnet, die von Erinnerung nicht genug bekommen kann. Der neue historische Roman bringt seine Lügenbarone hervor.49

Mit der Münchhausen-Analogie war der Vorwurf einer geradezu leichtsinnig-gefälligen Art der Fälschungserzählung erhoben, mit der hier wohl berechnete Zutaten zu einer Autobiographie zusammengerührt worden seien, die bei einem leichtgläubigen Publikum auf offene Ohren stoßen musste (welches zudem diversen Frageverboten unterworfen zu sein schien). Auch die Tatsache, dass Dössekker im Rahmen seiner Therapie viel Holocaust-Literatur studiert hatte und sogar als Tourist nach Majdanek gereist war, um seine Erinnerungserzählung zu stimulieren, wurde von einer düpierten literarischen Öffentlichkeit als Fälschungsbeleg herangezogen. Dass Dössekker/Wilkomirski von der Aufrichtigkeit seiner Selbstmitteilung nach wie vor überzeugt war, mochte man hier als Entschuldigung keineswegs gelten lassen. Für ihn war die Erfindung einer Holocaust-Opferidentität Ausdruck eines neuen narrativen Selbst, das psychische Beschädigungen aus der eigenen frühen Kindheit im Rahmen einer Deckerzählung mitteilbar gemacht hatte. Er hatte – um es mit den Worten von James E. Young zu sagen – „die Metapher des Holocaust […]“ zur Darstellung eigenen seelischen Leides genutzt.50 Das ist prekäre Autorschaft noch einmal auf einem neuen Niveau. Für die subjektiv empfundene Gelungenheit einer Deckerzählung jedoch wollte das deutsche Lesepublikum seinen Beifall nicht gespendet haben. Jetzt war wieder – nach dem uns schon bekannten Re-

48 Ina HARTWIG, „Falsches Leben im richtigen. Die heikle Affäre um Binjamin Wilkomirski/Bruno Dössekker“, in Frankfurter Rundschau vom 10. September 1998. 49 Thomas STEINFELD, „Der bittere Geschmack des Augenblicks. Leibhaftige Zeugen und erfundene Gefährten: Nach sechzig Jahren schreiben Schriftsteller über eine Geschichte, die sie nicht erlebt haben“ in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Oktober 1998. 50 James E. YOUNG, Beschreiben des Holocaust, Frankfurt/M., Suhrkamp, 1997, S. 164. 270 JÖRG DÖRING und DAVID OELS

Valorisierungsmuster im Umgang mit literarischen Fälschungen und gestörter Autor-Werk-Kongruenz – mit einem Mal der Text selber immer schon von schlechter Qualität gewesen, was nur eine „denkfaule“ und „politisch überkorrekte Kritik“, „von ästhetischen Kriterien anscheinend vollkommen unberührt“, dafür aber von einer erschütternden Biografie geblendete Literaturkritik übersehen konnte, die Bruchstücke mit einer „Flut hymnischer Besprechungen“ zum „Bestseller“ hochgejubelt habe.51 Nun erst sehe man, womit man es eigentlich zu tun habe: mit „gnadenlose[m]Kitsch“.52 Wiederum kann der falsche Autor nur einen schlechten Text fabriziert haben. Die rechtliche Bewertung dieser literarischen Fälschung fiel differenzierter aus: Die Klage eines Schweizer Lesers im Jahr 2002 auf Entschädigung für entgangene Lebenszeit und Rückerstattung des Kaufpreises von Bruchstücke aufgrund von intentionaler Lesertäuschung wurde nicht zur Verhandlung zugelassen. Der Zürcher Bezirksstaatsanwalt teilte mit:

Es haben sich keine Anhaltspunkte finden lassen, wonach Bruno Dössekker mit arglistiger Vorgehensweise darauf hingewirkt hätte, seine amtliche Identität zu verheimlichen oder Abklärungen dazu zu vereiteln. […] [Wilkomirski/ Dössekker] setzte seiner amtlichen Identität seine Erinnerungen entgegen, die er auch zu untermauern suchte.53

Subjektiv aufrichtig habe Dösseker/Wilkomirski erzählt – fast wie die lügenden Dichter. Seit Platon und auch im Schweizer Staat kein Straftatbestand.

51 Zitate aus: Andreas BREITENSTEIN, „Auschwitz als Therapie?“ in Neue Zürcher Zeitung vom 9. September 1998; HARTWIG, Falsches Leben; Silke MERTINS, „Von der Sehnsucht Opfer zu sein“ in Tageszeitung vom 10. Oktober 1998. 52 Jörg LAU, „Lebensroman“, in Die Zeit vom 10. September 1998. 53 Lucienne FAUQUEX, Medienmitteilung der Bezirksstaatsanwaltschaft V für den Kanton Zürich vom 12. Dezember 2002. Über Wahrheit und Lüge jenseits des deutsch-französischen Sinns

Thomas KELLER Aix-Marseille Université

Deutsch-französische Kontrastbildung: Wahrheitspflicht und Authentizität oder Courtoisie und Beistand

Mit Beispielen aus der Literatur lässt sich schön beginnen. So heißt es bei Stendhal: „Le général quoique parlant sans cesse ne mentait point, c’était un bavard à l’allemande“1. Die Wahrheit sagen erscheint hier als deutsche Tugend, dies ist im Blickwinkel des französischen Autors freilich auch gebrochen, nämlich zugleich kenntlich gemacht als Provinzialismus. Im deutsch-französischen Verhältnis sind Wahrheit und Lüge auf zwei verschiedenen Ebenen kodiert – als Tugendgefälle zwischen Menschen und Menschengruppen und als mehr oder weniger pragmatische Verhaltenslehre. Dies zeigt bereits der „Grundtext“, der die Lüge deutsch-französisch dekliniert, nämlich die Kontroverse zwischen Kant und Benjamin Constant.2 Kant hatte sein absolutes Postulat der Pflicht zur Wahrheit noch vor der Französischen Revolution in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) vorgebracht. Zehn Jahre später behauptet Constant, die Lüge sei zuweilen zulässig, um gesellschaftliches Miteinander zu ermöglichen: „le principe moral, par exemple, que dire la vérité est un devoir, s’il était pris d’une manière absolue et isolée, rendrait toute société impossible.“3

1 STENDHAL, Le Rose et le Vert, Toulouse, Éditions Ombres, 1994, S. 8. Siehe auch: „Mathilde, qui n’avait jamais quitté l’Allemagne, était surprise de s’adapter aisément aux habitudes françaises. On mentait plus aisément en France, selon elle, et on exagérait davantage, mais, une fois le pourcentage connu, ce n’était plus gênant du tout“, Henri-Pierre ROCHE, Jules et Jim (1953), Paris, Gallimard, 2010, S. 197. 2 Er ist im französischen Kontext bekannter als im deutschen; Kants Lügenverbot gilt hier immer wieder als Beweis für eine gewisse Weltfremdheit und Überspanntheit des deutschen Idealismus. Auf Deutsch jüngst wieder in Erinnerung gerufen durch Peter VON MATT, Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist, München, Hanser Verlag, 2006. 3 Benjamin CONSTANT, Des réactions politiques (April 1797), Kap. 8: „Des Principes“, Paris, Flammarion, 1988, S. 135-137, S. 135. 272 THOMAS KELLER

Constant stellt das Gefälle in zivilen Umgangsformen fest. Die krasse Zumutung Kants, selbst Häschern gegenüber bei der Wahrheit zu bleiben, fügt allerdings eine weitere Logik hinzu. Die Plausibilität, ja die Notwendigkeit zu lügen nimmt proportional zur Repression zu und wird damit von der konkreten Situation abhängig:

Nous en avons la preuve dans les conséquences très directes qu’a tirées de ce principe un philosophe allemand, qui va jusqu’à prétendre qu’envers des assassins qui vous demanderaient si votre ami qu’ils poursuivent n’est pas réfugié dans votre maison, le mensonge serait un crime […].4

Beide Codes sind verbunden durch die Einsicht in sozialen Kitt: würden wir uns gegenseitig transparent sein und jeden Kontakt zu uns unsympathischen Menschen, sogar das Gutentagsagen ablehnen, würden unerträgliche Tage anbrechen; würden wir Verfolgten den Beistand verweigern, ginge das Vertrauen in verpflichtende Menschlichkeit, zwischenmenschliche Hilfe und Freiheitsliebe verloren. Kant nun ist durchaus ein Anhänger der Geselligkeit. Er trennt allerdings in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht die Lüge kategorial von der Höflichkeit. Nur letztere zivilisiert. Höfliche Verhaltensformen sind kein Betrug, da jedem klar ist, dass sie nicht eine dahinter liegende Gesinnung abbilden. Sie sind, so würde man heute sagen, „leere Zeichen“, die die illokutionäre Funktion ausblenden. Kant lehnt hingegen Pragmatismus grundsätzlich ab, sofern er das Wahrheitsprinzip aushöhlt. Der Primat der Wahrheit muss in jeder Situation gelten, damit eine Gesellschaft auf moralischen Grundsätzen gründen kann. Constant widerspricht, da die beistehende Lüge das Leben des unschuldig Verfolgten rettet. Die Wahrheit sagen würde hier die unrechte Sache stützen. Auch dies zerstört die Grundlagen von Gesellschaft. Hinzu tritt nun eine konkrete Aufladung im historischen Kontext. Zwischen der Moralschrift von Kant und der Entgegnung von Constant liegen die Revolution und die Terrorphase unter Robespierre. Constant steht der Tod von Condorcet, einem guten Bekannten, vor Augen, der sich vor den Häschern verstecken muss und auch seine Helfer in Gefahr bringt. Condorcet verlässt sein Versteck, um seine Helfer zu schützen, und bezahlt mit dem Tod. Dass Kant auch nach der Terrorherrschaft in seiner Replik auf Constant in den Berlinischen Blättern von 1797 an seinem Postulat festhält, macht seine Haltung besonders realitätsfremd, ja empörend.5 Im Königsberg von

4 Ibid. 5 Madame de Staël, die während der Terrorphase ihren Geliebten Mathieu de Montmorency versteckt hatte, springt Constant bei. Sie wirft in De l’Allemagne (1810) Kant mangelnde Sensibilität vor. Er habe nicht bedacht, dass Tugenden wie Treue und Freiheit ebenfalls das private Interesse übersteigen und das Wahrheitsgebot außer Kraft setzen können: Germaine DE STAEL-HOLSTEIN, De l’Allemagne, Bd. 2, Paris, Garnier-Flammarion, 1968, S. 197. Vgl. Jules VUILLEMIN, „On lying: Kant et B. Constant“, in Kant-Studien 73 (1982), Berlin, de Gruyter, S. 413-424. ÜBER WAHRHEIT UND LÜGE JENSEITS DES DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN SINNS 273

Kant mag Lügen nicht nötig sein, wohl aber in extrem repressiven Verhältnissen, in Zeiten der wechselseitigen Okkupation oder eineinhalb Jahrhunderte später in Nazideutschland und unter der deutschen Besatzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg. So wird das absolute Lügenverbot innerdeutsch und innerfranzösisch, aber auch im deutsch-französischen Nah- und Sonderverhältnis auf harte Proben gestellt. Das Lügenverbot inkriminiert sowohl die Verfälschung von Tatsachen (die Aussage muss „wahr“ sein: der Verfolgte befindet sich im Haus) als auch die Verstellung (der Aussagende muss „wahrhaftig“ sein: der Befragte sagt, was er weiß und denkt). Beide verlieren in historischen Momenten der Gefahr an Plausibilität. Die Frage der Lüge wird, in gesellschaftliche und politische Kontexte kontextualisiert, eine Frage der Klugheit. Der Diskurs über Wahrheit und Lüge verknüpft so mehrere Ebenen: Faktizität, Authentizität, Moral und Pragmatismus, letzterer verstanden als kluge Reaktion auf brutale Gewalt. Neben der Gefahrensituation gibt es eine zweite Verknüpfung mit der Lüge, an der sich deutsche und französische Geister scheiden können. In der transkulturellen Diskussion über die Anciens und die Modernes nimmt die Tragödie von Hippolytos bzw. Phädra eine zentrale Stellung ein. In der Kontroverse geht es auch darum, wie extreme Gefühle Falschaussagen nach sich ziehen. Phädra lügt, als sie behauptet, Hippolytos hätte sie zu verführen versucht. August Wilhelm Schlegel missinterpretiert und verdammt den Rausch der Leidenschaft und die daraus folgende Lüge in der französischen Phèdre Racines als Galanterie. Mme de Staël hingegen, die ja so gern die Phèdre selbst gespielt hat, erkennt die Macht der Sinnlichkeit an. Mag sie auch das Festhalten an der Klassik noch unter Napoleon problematisieren, so erfasst sie doch eine eigene Legitimität des Begehrens, die sich über das Lügenverbot legt. Die Leidenschaft entschuldigt die Lüge nicht, aber sie wird doch als ihr Grund verständlich. Diese Verbindung ist in diesem Beitrag nicht Thema. Die Fehlinterpretation der Lüge demonstriert indes auch hier die bezeichnende deutsch-französische Verständnisbarriere, die auch in der Deutung der Kant/ Constant-Kontroverse wirkt. Dramatische Situationen können Formen der Verstellung rechtfertigen, sie bleiben aber von Bedingungen abhängig. Lügenfreundliche Einstellungen und Verhaltensweisen sind nicht schlechthin legitimiert. Sie sind auch keine originär französische, wenngleich hier Constant auf Französisch seine Kritik gegenüber einem deutschen Philosophen vorbringt. Die Kant’sche Bekräftigung des Verbots zu lügen und der Widerspruch hierzu laden allerdings zu zweifelhaften Folgerungen ein. Jetzt bietet sich ein Syllogismus an: Kant verdammt die Lüge ohne Ausnahme, Kant ist Deutscher, Deutsche lügen nicht. Dies verführt leider zu dichotomischen Verallgemeinerungen wie: Deutsche sagen die Wahrheit, Franzosen lügen. Wirklich überraschen kann diese Schwarz-Weiß-Malerei nicht. Die Vorstellung vom Aufrechten und Aufrichtigen, der nicht lügen kann, fügt sich gut in das Bild vom naiven Tacitus-Deutschen ein, das um 1800 virulent wird. Es beherrscht dann, 274 THOMAS KELLER vermittelt über de Staëls – auch kritische – Darstellung vom Volk der Dichter und Denker in De l’Allemagne, die Wahrnehmung des Nachbarn. Darin gespiegelt ist der Unterschied zwischen einer höfischen und weniger höfischen bzw. antihöfischen Kultur. Nur insofern die Courtoisie stärker verbreitet und anerkannt in Frankreich ist, scheint die Lüge hier zwar nicht unbedingt häufiger, aber doch leichter hinnehmbar zu sein. Es mag sich anbieten, auf die These von Elias zurückzugreifen, dass sich das höfische Verhalten in Frankreich auf das Bürgertum ausgedehnt habe, in Deutschland hingegen nicht. Dort tendiere bürgerliche Tugendethik dahin, im höfischen Code Verstellung zu sehen. Nun ist nicht nur Elias’ These von der steigenden Schamschwelle im Prozess der Zivilisation problematisch. Obwohl er eine reale Differenz benennt – der Hinweis auf Kants Herkunft aus dem pietistischen Milieu liegt nahe, indes kommt auch Constant aus einer protestantischen, allerdings calvinistischen Familie – birgt die Mentalitätssoziologie die Gefahr, dass zwei Dinge verwechselt werden: Franzosen lügen natürlich nicht mehr als Deutsche; gelogen wird zu allen Zeiten und überall; verschieden ist nur der Umgang mit der Lüge, vor allem die jeweilige Reaktion darauf. Anstatt völkerpsychologischen Schiffbruch zu erleiden (die Falle schnappt auch bei der Beschreibung sogenannter unterschiedlicher „Mentalitäten“ zu), sei folgende Formel vorgeschlagen: der Vorwurf, jemand aus einer anderen Kultur lüge bzw. eine Kultur sei lügenhaft, wird erhoben, sobald jemand nicht in der Lage oder nicht willens ist, den ihm fremden Habitus, hier den Code des höfischen und politisch klugen Verhaltens, zu dechiffrieren. Die folgenden Überlegungen stellen weniger die Haltung des Helfenden in der Gefahr vor als diejenige des Verfolgten, des Klugen, der die Verfolger durch Lügen austrickst, oder des Blutzeugen, der sich stolz zum Widerstand bekennt und dafür mit dem Leben bezahlt. Dabei lässt sich zeigen, dass Wahrheit und Lüge zwar immer wieder kulturellen Essenzen zugeordnet werden, dann aber in deutsch-französischen Übertragungen mehrdeutige Bezüge gewinnen und sich dabei die Bedeutung von Lüge zu einer komplexen Pseudologie ausdifferenziert.

Von Pragmatikerinnen und Märtyrern

Die Sichtweise, einer deutschen Pflichtethik des Lügenverbots eine französische Verhaltenslehre der Verstellung entgegenzusetzen, ist von Anfang an aufgelockert. Dies zeigen Szenarien kurz nach der Terrorherrschaft. Isabelle de Charrière, eine aus den Niederlanden stammende, in der Schweiz verheiratete und auf Französisch schreibende Autorin, erfindet eine deutsch-französische Interaktion, die auf Kulturkontakt folgt. Ihr Roman Trois femmes/ Drei Weiber (1798), der ins Deutsche übersetzt von Ludwig Ferdinand und Therese Huber (d.i. die Witwe von Georg Forster) vor dem französischen Original erschienen ist, weicht den ÜBER WAHRHEIT UND LÜGE JENSEITS DES DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN SINNS 275

Gegensatz im Kontakt von emigrierten französischen Frauen zu Deutschen auf.6 Der Text spiegelt die Diskussionen zwischen de Charrière, Constant und dem Ehepaar Huber. De Charrière klagt die Notwendigkeit ein, von den Maximalpositionen des Postulats der absoluten Wahrheitspflicht bzw. der Verstellung herunterzukommen. Die angemessene Lösung liegt dazwischen. Vermittlung ist nötig. Dies besorgen im Roman die emigrierten Französinnen, die etwa durch eine Notlüge einer geschwängerten Dienerin zum Ehemann verhelfen, mit einem unrecht erworbenen Vermögen Gutes tun und den westfälischen Gutsherren von seinen rigiden Moralvorstellungen abbringen. Die List ist hier zugelassen. Mme de Charrière steht für eine dritte pragmatische Position. Im Kontrast zu der realitätstüchtigen Haltung von Frauen steht das wahrhaftige Bekenntnis des Märtyrers. Mit zunehmender Repression in der Despotie Napoleons lassen sich stolze Selbstbehauptung wie auch listige Verstellung legitimieren. Neben den militärischen mit offenem Visier gegen Napoleon kämpfenden Militärs (Schill, Dörnberg) treten geistige Widersacher wie Palm und Staps auf. Im Mai 1806 erscheint die Flugschrift eines anonymen Verfassers, betitelt „Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung“. Die Schrift ist verlegt beim Nürnberger Buchhändler Johann Philipp Palm. Palm wird verhaftet und in Braunau vor ein französisches Kriegsgericht gestellt. Er gibt den Namen des Verfassers nicht preis und wird hingerichtet. Palm verrät den Autor des Flugblatts nicht, er bestreitet aber auch nicht den Widerstandsakt. Er lügt nicht und wird zum Märtyrer, zum Blutzeugen. Auch der Attentatsversuch von Friedrich Staps 1809 in Schönbrunn, Staps ist der Sohn eines protestantischen Pfarrers in Naumburg, signalisiert eine bezeichnende Widerstandsstimmung. Napoleon ist bereit, Staps zu begnadigen, wenn der Attentäter bereut. Der Dialog zwischen Napoleon und Staps geht in Kurzfassung so:

„Warum wollten Sie mich töten?“ – „Weil Sie das Unglück meines Landes sind.“ – „Habe ich Ihnen denn ein Leid zugefügt?“ – „Wie allen Deutschen.“ – „Von wem sind Sie abgesandt? Wer hat Sie zu diesem Verbrechen verleitet?“ – „Niemand. Nur die innerste Überzeugung, dass ich, wenn ich Sie töte, meinem Vaterlande und ganz Europa den größten Dienst erweise, hat mir die Waffe in die Hand gedrückt“.

6 „J’oserai presque dire qu’une belle éducation est bien mauvaise, si elle ferme les yeux sur ce qui se passe tous les jours dans le monde.“ (Isabelle DE CHARRIÈRE, „Trois femmes“, in Isabelle DE CHARRIÈRE, Œuvres complètes, Bd. IX, Amsterdam, G.A. van Oorschot, 1981, S. 46); „L’innocence est une forte belle chose […], mais ce n’est pourtant qu’une vertu négative, elle n’offre aucune ressource pour les occasions difficiles, elle n’amuse, ni console, elle ne donne ni conseil ni secours.“ (ibid., S. 72). Vgl. Christiane SOLLTE-GRESSER, „‚Cette différence prétendue’. Zur Problematik einer weiblichen Subjektivität in den Texten Isabelle de Charrières“, in Katharina HANAU/ Volker RIVINIUS u.a. (Hrsg.): Geschlechter-Differenzen, Tagungsband des 14. Nachwuchskolloquiums der Romanistik in Greifswald, Bonn, Hillen, 1999, S. 6-69. 276 THOMAS KELLER

Staps lehnt die Begnadigung ab: „Sie zu töten ist kein Verbrechen, sondern Pflicht.“7 Er wird hingerichtet. Ist er nicht naiv-dumm, da er sein Leben nicht rettet, da er nicht lügt? Staps wählt die Haltung des Märtyrers, des Selbstopfers, des Blutzeugen, die für andere einsteht. Er verbaut sich damit auch die Chance eines zweiten Anschlags. Seine Ehrlichkeit ist nicht politisch klug, hat aber öffentliche Wirkung. Sie schafft Prestige, sie produziert einen Nationalhelden. Es ist klar, dass sich hier auch ein deutsches Bildungsbürgertum selbst konstituiert und eine Kluft zu Franzosen schafft. Der Märtyrer vertritt nicht nur eine politische Idee, eine Wahrheit. Er ist auch wahrhaftig und zeugt leiblich. Seine Authentizität schließt jegliche Verstellung aus. Dieser bürgerliche Code ist in der Tat mit Courtoisie unvereinbar.

Vitalismus: Wahrheit ist nur für die Starken

Die Verwandlung des Landes der Dichter und Denker in einen modernen Staat und einen Ort innovativer Wirtschaft und Wissenschaft, aber auch in eine vor Kraft strotzende autoritäre Militärmacht im Laufe des 19. Jahrhunderts hinterlässt ihre Spuren. Krasse und naive ideologische Muster, wonach deutsche Charaktereigenschaften wie Spontaneität, Ehrlichkeit und Uneigennützigkeit der utilitaristischen Orientierung der Angelsachsen und der französischen Frivolität überlegen seien, koexistieren mit klugen Einsichten in die Erfordernisse und Zwänge menschlichen Zusammenlebens. Die Konjunktur lebensphilosophischer Denkformen um 1900 hinterlässt Spuren in der Haltung zur Lüge und Verstellung. Nietzsche zufolge lügen vor allem die Schwachen.8 Die – illusionäre – Suche nach Wahrheit entstehe hingegen durch den angestrebten Friedensschluss, der den Krieg aller gegen alle beenden soll. Auch Simmel begreift eine gewisse Unwahrhaftigkeit als Verhaltensform, die die gesellschaftlichen Antagonismen im Zaum hält, er unterstreicht auch die zivilisierende Wirkung von Höflichkeit. Darunter verbirgt sich das Leben selbst.

7 Zitiert nach Eckart KLESSMANN, Napoleon und die Deutschen, Berlin, Rowohlt, 2007, S. 173-177. 8 „Der Intellekt, als ein Mittel zur Erhaltung des Individuums, entfaltet seine Hauptkräfte in der Verstellung; denn diese ist das Mittel, durch das die schwächeren, weniger robusten Individuen sich erhalten, als welchen einen Kampf um die Existenz mit Hörnern oder scharfem Raubthier-Gebiß zu führen versagt ist. Im Menschen kommt diese Verstellungskunst auf ihren Gipfel: hier ist die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen, das Hinter-dem-Rücken- Reden, das Repräsentieren, das im erborgten Glanze Leben, das Maskirtsein, die verhüllende Convention, das Bühnenspiel vor anderen und vor sich selbst, kurz das fortwährende Herumflattern um die eine Flamme Eitelkeit so sehr die Regel und das Gesetz, daß fast nichts unbegreiflicher ist, als wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte.“ Friedrich NIETZSCHE, „Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn“, in Friedrich NIETZSCHE, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 1, München, dtv/ de Gruyter, 1980, S. 875-890, S. 876. ÜBER WAHRHEIT UND LÜGE JENSEITS DES DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN SINNS 277

Um die Wende zum 20. Jahrhundert erschüttert die lebensphilosophische Strömung das kant’sche Wahrheitspostulat. Romain Rolland liest die Aufwertung des Lebens schematisch-binär im Sinne von Komplementarität von Deutschen und Franzosen: sie bilden „die zwei Flügel des Westens“9. Dabei kehrt er in Jean-Christophe vorgebliche deutsche und französische Verhaltensmuster um: der Franzose Olivier ist wahrheitsliebend; der Deutsche Jean-Christophe behauptet mit Goethe, die Wahrheit sei nur für die Starken da. Ganz im Sinne Nietzsches steht das Leben gegen den Gegensatz von Wahrheit und Lüge auf.10 Die tragische Lebenshaltung des Deutschen wird korrigiert durch den wahrheitsliebenden Idealismus von Franzosen, der sich im Aufbruch um 1900 breitmacht. Olivier und Jean-Christophe teilen die Bewunderung für die neue revolutionäre Bewegung in Frankreich, die sich gegen den liberalen und positivistischen Geist des Bürgertums erhebt. Sie äußert sich im Renouveau catholique eines Péguy und im Anarchosyndikalismus eines Sorel. Sie bedeutet auch, dass sich das demokratische Frankreich eine aristokratische Kultur zulegt. Mögen diese aristokratischen Individualisten auch auf die Aktion verzichten, so doch nicht auf die Wahrheit. Dies zeigt folgender Dialog:

Olivier: On n’a pas le droit de fausser la vérité. Christophe: Mais on n’a pas non plus celui de dire toute entière la vérité à tous. Olivier: Et c’est toi qui parles? Toi qui ne cesses pas de réclamer la vérité…! Christophe: Oui, la vérité pour moi et pour ceux qui ont les reins assez forts pour la porter. Mais pour les autres, c’est une cruauté et une bêtise […] en Allemagne, ils n’ont pas, comme chez vous, la maladie de la vérité: ils tiennent trop à vivre; ils ne voient, prudemment, que ce qu’ils veulent voir. Je vous aime de ne pas être ainsi: vous êtes braves, vous y allez franc jeu. Mais vous êtes inhumains. […] Que vous préfériez la vérité à votre bonheur, je vous en estime […] Il faut aimer la vérité plus que soi-même, mais son prochain plus que la vérité. Olivier: Faut-il donc mentir? Christophe lui répondit par les paroles de Goethe: Nous ne devons exprimer parmi les vérités les plus hautes que celles qui peuvent servir au bien du monde. Les autres, nous devons les garder en nous; semblables aux douces lueurs d’un soleil caché, elles répandront leur lumière sur toutes nos actions. Mais ces scrupules ne touchaient guère ces écrivains français. […] C’est la raison principale pour laquelle cette élite s’occupait peu de politique.11

Anders als die dezisionistischen und aktionistischen Revolutionäre wählt Olivier eine gewaltlose Haltung, gerade auch, um die fremdenfeindlichen

9 „les deux ailes de l’Occident“ (Romain ROLLAND, Jean-Christophe, Roman, Paris, Albin Michel, 2007, S. 1454). Der Roman ist zwischen 1890 und 1912 geschrieben, zwischen 1903 und 1912 veröffentlicht worden. 10 „Il vit que la vie était une bataille sans trêve et sans merci, où qui veut être un homme digne du nom d’homme doit lutter constamment contre des armées d’ennemis invisibles: les forces meurtrières de la nature, les désirs troubles, les obscures pensées, qui poussent traîtreusement à s’avilir et à s’anéantir […]. Il vit que le bonheur et l’amour étaient une duperie d’un moment.“ (ibid., S. 223). 11 Ibid., S. 922. 278 THOMAS KELLER

Tendenzen eines Barrès und anderer Vertreter der Action Française zu vermeiden.12 Der lateinische Antiliberalismus von Olivier bleibt universell. Allerdings verbindet die lebensphilosophische Strömung auch Deutsche und Franzosen. Sie zieht Lebensintensität der realitätsfremden Wahrheitssuche vor.13 Der Glaube verdrängt die Vernunft. Die Komplementarität von Deutschen und Franzosen ist nötig. Das moderne, militaristische und materialistische Deutschland braucht das gelehrsame und gefühlvolle Denken im harmonischeren und nuancierenden Frankreich, aber der heilige Christophorus, der „den neuen Tag trägt“14, ist der dynamische Deutsche. Hier ist die Lüge mehr auf die deutsche Seite gegangen, allerdings ist Interaktion im Sinne der Komplementarität gefragt. Das binäre Denken ist nicht kontrastiv, aber Übertragung findet nicht statt. Dass Gide im Vergleich zur binären Anlage von Jean-Christophe komplexer denkt, zeigt bereits die metaphorische Ebene. Nicht die „zwei Flügel des Westens“, sondern deutsche „Geschenke“ an Franzosen und französische „Hefe“, die den dicken (deutschen) Teig aufgehen lässt15, stellen die einschlägigen Bilder Gides für deutsch-französische Interaktion dar.

Gefangene und Verbrecher

Die Perspektive des Beistands für den unschuldig Verfolgten ist verschoben zur Perspektive des Gesetzesübertreters bei André Gide. Gide will den Grenzen seines rigiden calvinistischen Herkunftsmilieus entkommen. Die lebensphilosophische Orientierung gewinnt eine neue Anbindung an die Lügenproblematik. In Prométhée mal enchaîné (1899) bestimmt ein Kellner den Menschen als das Tier, das zum desinteressierten Akt fähig ist („action gratuite“16). Gide zeichnet in Philoctète (1899) den acte gratuit als eine dritte Möglichkeit jenseits von List, die Ulysse/ Odysseus repräsentiert, und von Moral, die Néoptolème vertritt. Philoctète ist auf seiner Insel gefangen, aber im Besitz der Waffen von Héracles. Ulysse sieht sich durch das Interesse des griechischen Vaterlandes gerechtfertigt, Philoctète Bogen und Pfeil mit einem Schlaftrunk abzuluchsen, um Troja zu besiegen. Für Néoptolème hingegen ist die Lüge moralisch verwerflich. Philoctète wählt und inszeniert ein Drittes: er

12 „Olivier: La violence me répugne. Ce qui arriverait: Fuori Barbari! ou: la France aux Français! Mais en fait, c’est notre génie latin qui est impérial. Nous sommes les citoyens de la ville-Univers. Urbis. Orbis.“ (ibid., S. 927). 13 „Un nouvel ordre naissait. Une génération se levait, désireuse d’agir plus que de comprendre, affamée de possession plus que de vérité. Elle voudrait vivre, elle voulait s’emparer de la vie, fût-ce au prix du mensonge. Mensonges d’orgueil – de tous les orgueils: orgueil de race, orgueil de religion, orgueil de culture et d’art […]. (ibid., S. 1381). 14 „Saint Christophe porte le nouveau jour.“ (ibid., S. 1482). 15 André GIDE, „Réflexions sur l’Allemagne“, in Nouvelle Revue Française, Nr. 69, 1919, S. 35-46, S. 44. 16 André GIDE, „Le Prométhée mal enchaîné“, in GIDE, Romans, récits et soties, œuvres lyriques, Paris, Gallimard, 1958, S. 305. ÜBER WAHRHEIT UND LÜGE JENSEITS DES DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN SINNS 279 stellt sich schlafend und lässt sich den Bogen entwinden. Er lügt zwar nicht unmittelbar, aber er verstellt sich. Er ist desinteressiert. Seine Handlung, wird ein acte gratuit, eine uneigennützige Gabe im eigentlichen Sinne, d. h. eine Gabe ohne Erwartung einer Gegengabe. Da der Entwender des Bogens von der Verstellung nicht weiß, nicht weiß, dass er Empfänger ist, wird er auch nicht wiedergeben wollen. So findet kein Tausch statt. Die Unwahrhaftigkeit, die Verstellung wird somit als Bedingung für diese Gabe kenntlich. Der verbannte Philoctète und seine Besucher fixieren sich gegenseitig, aber die Beziehung ist asymmetrisch. Weder Ulysse noch Néoptolème wissen die Wahrheit über die Beweggründe von Philoctète, der im Verborgenen etwas konstituiert, das verschieden von List und Moral ist. Gides Haltung wurde zeitgenössisch als Position jenseits der Dreyfusards und der nationalistischen Anti-Dreyfusards verstanden. Entscheidend ist, dass der steile Konflikt zwischen Lüge und Moral aufgebrochen ist und damit auch die verengende Alternative zwischen den Vertretern der Laïcité und den Ultranationalisten der Action Française. Der acte gratuit, freigehalten von der List von Odysseus und von der Moral, wird nur in einem Bruch der bürgerlichen Normen möglich. Das Überschreiten der Schwelle bedroht allerdings auch Zivilität. Dies wird sofort aufgegriffen. Rudolf Kassner übersetzt das Stück von Gide. Pannwitz und Levetzow schreiben eigene Versionen des Philoktet. Gide demonstriert den Normenbruch auch in der Figur des Ménalque in Les Nourritures terrestres (1897). Für ihn zählt allein die Intensität des Lebens. Die antibürgerliche Attitude zeigt sich dann erneut in der Darstellung des absurden Prozesses von Ménalque in L’Immoraliste (1902). In Ménalque und der Hauptfigur Michel lassen sich Anleihen an Lebensgängen und Denkformen von verschiedenen Personen ausmachen: von Oscar Wilde, Nietzsche und Guyau. Das Spiel mit Normenverletzung erprobt Wilde. Nietzsche predigt gegen das Christentum die Gesundheit des Menschen ohne Ressentiment. Auch Jean-Marie Guyau (1854-1888), Verfasser der Werke Esquisse d’une morale sans obligation ni sanction (1885) und L’Irréligion de l’avenir (1887), könnte in manchem Pate gestanden haben. Er sucht geistige Gesundheit und Heilung im Süden und ist mit 33 Jahren im Midi an Tuberkulose gestorben. In L’Immoraliste führt die Hauptfigur Michel ihr Leben gegen die Erinnerung. Er will der Last der Geschichte und den Werten der christlichen Moral entkommen. Der Text setzt körperliche Gesundheit und Selbstdisziplin steil dem Verfall und der Krankheit entgegen.17 Der starke sexuelle Drang verbindet sich mit der Faszination durch Verhaltensweisen, die Überschreitungen wie Diebstahl, Lüge, Verstellung zulassen.

17 Vgl. Ulrich MÖLK, „Die Verabschiedung des bürgerlichen Jahrhunderts: André Gides L’Immoraliste“, in Ulrich MÖLK (Hrsg.), Europäische Jahrhundertwende. Wissenschaften, Literatur und Kunst um 1900, Göttingen, Wallstein, 1999, S. 113-129. 280 THOMAS KELLER

Findet auch kein direkter deutsch-französischer Dialog in L’Immoraliste statt, so liefert Gide eine kritische kulturelle Einordnung doch in einem anderen Text nach. Gide faltet ein schwindelerregendes Panorama der Lüge in „Conversation avec un Allemand quelques années avant la guerre“ auf. Der Text, auf Tagebuch-Aufzeichnungen beruhend, erscheint in der Nouvelle Revue Française von August 1919; das Gespräch mit einem Deutschen hat bereits vor dem Krieg stattgefunden. Gide warnt in seiner nach dem Ersten Weltkrieg hinzugefügten Einleitung vor völkerpsychologischen Zuordnungen. Der Deutsche möge eine beunruhigende Ähnlichkeit mit Eigenschaften aufweisen, die man seiner „Rasse“ zuschreibe.18 Dies ist wohl eine Anspielung auf Rivières Buch L’Allemand. Gide aber schreitet dagegen ein.19 Felix Paul Greve, der sich nach der Jahrhundertwende im George-Kreis bewegt, ist schnell berühmt-berüchtigt. Wolfskehl charakterisiert ihn als „Pseudologen“. Greve sucht Gide 1904 in Paris auf. Er kommt aus dem Gefängnis. Dort hat er in einem unglaublichen Rausch von Produktivität sehr verschiedene Autoren übersetzt. Greve, Betrüger und Hochstapler, feiert die Schönheit des Verbrechers, wie sie Oscar Wilde in seinem Dorian Gray zeigt. Greve übersetzt Wilde und veröffentlicht 1903 die Randarabesken zu Oscar Wilde und den Essay Oscar Wilde. In der „Conversation“ gibt Gide sehr genau den in seinem Tagebuch aufgezeichneten Dialog mit dem Deutschen wieder. Greve beschwört Gide, den Autor von L’Immoraliste, die Kunst müsse dem intensiven Leben geopfert werden, bis zum Kapitalverbrechen. Greve lobt L’Immoraliste, wo das Verbrechen als acte gratuit überhöht ist. Er erinnert an die Szene, in der Moktir die Schere stiehlt. Moktir glaubt sich unbeobachtet, aber das Verbrechen geschieht mit dem lächelnden heimlichen Einverständnis des Opfers, des Beobachters und Erzählers. Möge das Opfer auch mit dem Täter übereinkommen, so begeht der faszinierte Beobachter das Verbrechen doch nicht selbst. Greve ist enttäuscht, dass Gide nicht die Radikalität von L’Immoraliste durchgehalten habe. Er habe den Vorrang des Lebens über die Kunst verraten. Greve sucht in Gide den Bündnisgenossen für eine „intensive Handlung, die bis zum Mord geht“ („action intense jusqu’au meurtre“20), für den acte gratuit. Die äußere Erscheinung weist nicht auf einen Deutschen hin.21 Greve nun lügt und teilt dies mit. Das Lügen bekommt im Text vier Bedeutungen.

18 „inquiétante ressemblance avec ceux que certains nous baillent aujourd’hui pour les plus marquants de la race germanique“ (André GIDE, „Conversation avec un Allemand quelques années avant la guerre“, in André GIDE, Souvenirs et voyages, Paris, Gallimard (Pléiade), 2001, S. 71-77, S. 71). 19 „je doute qu’il soit prudent de s’attacher trop à la valeur représentative.“ (ibid.). 20 Ibid., S. 76. 21 „F.P.G. était parfaitement mis, paraissait plutôt Anglais qu’Allemand […]. Il me dit que sa mère était Anglaise.“ (ibid., S. 74). ÜBER WAHRHEIT UND LÜGE JENSEITS DES DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN SINNS 281

Die biographische Fiktion, d. h. der Verstoß gegen Faktizität: Greve erfindet biographische Informationen, die als unzutreffend entlarvt werden können. Er ist – konträr zu seinen Behauptungen – nicht Sohn eines Industriellen, seine Mutter ist nicht Engländerin (wohl aber kommt Herman Kilian, der ihn ins Gefängnis gebracht hat, mütterlicherseits aus Großbritannien). Die zutreffenden Fakten enthält er zu einem erheblichen Teil Gide vor oder verfälscht sie. Das Pseudonym, das ist der Verstoß gegen eindeutige Identität: er gebraucht mehrere Namen, was er Gide gegenüber erwähnt und erläutert.22 Er leiht sich verschiedene Lebensläufe. Seine Frau, der er seine Liebe erklärt, spielt dabei eine besondere Rolle. Den Namen Fanny Essler beansprucht er doppelt: gleichzeitig als Titel seiner gleichnamigen Novelle. Deren Handlung basiert auf dem Leben von Else Endell, seiner Geliebten, dann Ehefrau, der späteren Dada-Baroness Elsa von Loringhoven. Als Namen des Autors einer Sammlung von Gedichten, die er zusammen mit seiner Geliebten und späteren Ehefrau geschrieben hat, darunter eins über „den Mund“, den Sitz der Lüge. Damit vermischt er zugleich Geschlechter. Dass er „drei Personen“ sei, nämlich „Felix Paul Greve, Else Greve und Fanny Essler“, führt Greve in einem Brief an Gide näher aus.23 Die Körperlüge, der Verstoß gegen Authentizität: er setzt die Körpersprache ein, um verräterische Spontaneität auszuschalten.

Il faut que je vous avertisse, Monsieur Gide, que je mens constamment. – De cela aussi, Von M m’avait averti, lui dis-je. – Oui, mais il n’a jamais compris la valeur de mes mensonges [...] Tenez par exemple: quand quelqu’un entend un bruit subit à son côté, il tourne la tête: moi pas! Ou, quand je la tourne, c’est volontairement: je mens.24

Dies setzt eine gewisse Kontrolle über den Körper voraus. Der Körper kann doch lügen oder zumindest in Dienst genommen werden. Was Greve hier in Anspruch nimmt, ist das, was als Persona, Maske, bezeichnet wird und das, was Sartre später la mauvaise foi nennt, das Übernehmen einer Rolle, die Grazie bekommt, wenn sie mit Distanz und Können gespielt wird. Greve demonstriert dies ein weiteres Mal, um Leben über Kunst zu stellen:

Tenez (et il étend le bras d’un geste admirable) de seulement étendre mon bras j’éprouve plus de joie qu’à écrire le plus beau livre du monde.25

Mimikry/ Tarnung, das ist der Verstoß gegen Eindeutigkeit, Transparenz und Erkennbarkeit: Greves Wandlungsfähigkeit, seine Anverwandlung an Rollen, setzt Unauffälligkeit voraus. Er ist ein Chamäleon. Er hat keinen

22 „Je suis forcé maintenant de faire paraître sous la signature de ma femme ou sous des noms d’emprunt.“ (ibid., S. 73). 23 Felix Paul GREVE, „Lettre du 17 octobre 1904“, in Bulletin des Amis d’André Gide, Nr. 32, Oktober 1976, S. 39-41, S. 41. 24 GIDE, „Conversation“, S. 74. 25 Ibid. 282 THOMAS KELLER

Akzent, weder auf Französisch noch auf Englisch. Ähnlichkeit ist immer schon Täuschung. Greve lässt sich auf keine Position festlegen. Als Gide Greves Schrift über Oscar Wilde lobt, in der Greve den Gegensatz des Lebens und der Kunst herausgestellt hatte, widerspricht Greve. Er ziehe das Leben vor, er habe in seinem Wilde-Essai gelogen.26 Greve nimmt sich ein Widerstandsrecht gegen die Gesellschaft heraus, das selbst vor dem Mord nicht zurückschreckt; er vertraut auf seine Stärke.27 Er tut dies in der Pose des Dandys, der den Blick in ein Inneres, ein Selbst unmöglich macht, und mit Grazie, mit perfekten Umgangsformen und exquisiter äußerer Erscheinung, vom Etui bis zum Anzug, auftritt. Er leitet auch die aggressiv-gewalttätigen Tendenzen der historischen Avantgarden ab Anfang des 20. Jahrhunderts ein. Was das Verhalten von Greve so schwer einzuordnen lässt, ist diese Drittposition gegenüber Lüge und Wahrheit. Sie entspricht dem Paradoxon des Epimenides: sofern Greve ein Kreter ist, der sagt, dass alle Kreter lügen, können Wahrheit und Lüge nicht mehr festgestellt werden. Das Paradoxon hat einen komödiantisch-komischen und einen sehr ernsten Aspekt. Der Nonsens-Effekt entsteht dadurch, dass Greve warnt, er lüge ständig, und eine irritierende Vorführung abgibt. So kennzeichnet er gerade nicht seine Aussagen schlechthin als Lüge, sondern er verschleiert, ob er die Wahrheit sagt oder nicht. Im Gefolge der Studie von Harry G. Frankfurt kann dies auch als „Bullshit“ bzw. als „Humbug“ (Jörg Meibauer) bezeichnet und aufgefasst werden. Anders als Lügner positionieren Bullshit-Redner sich nicht im Widerspruch zur Wahrheit, sondern lassen die Gesprächspartner im Unklaren darüber, ob sie die Wahrheit sagen oder verbergen.28 Aber es wird auch ernst. Wenn Greve als undurchdringlicher Schauspieler handelt, nimmt er die Perspektive eines Gefangenen und Verbrechers ein.29 Mag Greve auch letztlich ungewisse, unverbindliche Aussagen produzieren, so zündelt er zugleich mit dem Feuer. Der Mord ohne Motiv ist ein Akt, der wohl mehr als jeder andere sich der Wahrhaftigkeit entzieht, ohne im engeren Sinne Lüge zu sein. Die Unauffälligkeit wird fatal. Dem Akt entsprechen keine Gefühle des Hasses, der Rache, der Gier nach der Beute. Er löst die Verbindung zwischen innerem Befinden und Handlung völlig auf. Der Akt ist für das Opfer unvorhersehbar, insofern wird es getäuscht und gerade dadurch Opfer. Erst die Desinteressiertheit macht die Effizienz und Grazie des Mörders doppelt: sie verhüllt und macht das arme Opfer ahnungslos. Insofern als einziges – ästhetisches – Motiv das Abgestoßensein durch die Hässlichkeit des Opfers bleibt, verbindet sich im Akt Schönheit mit Uneigennützigkeit und

26 Ibid., S. 76. 27 „tous les droits contre la société“, „je suis terriblement fort.“ (ibid., S. 75). 28 Jörg MEIBAUER, „Bullshit als pragmatische Kategorie“, in Linguistische Berichte, H. 235, Hamburg, Buske Verlag, 2013, S. 267-292. 29 Vgl. Helmut LETHEN, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt am Main, Suhrkamp,1994, S. 53. ÜBER WAHRHEIT UND LÜGE JENSEITS DES DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN SINNS 283 grausamer Kriminalität.30 In diesem Sinne ist der acte gratuit eine furchtbare Herausforderung für Denkformen berechenbarer Intentionalität. Er zieht den Boden unter den Füssen weg. So wie Greve Gide braucht (als Gesinnungsgenossen, als unterstützende Autorität, als Autor, der ihn zum Übersetzer wählt), benutzt Gide auch umgekehrt seinen Gesprächspartner. Im Dialog mit dem notorischen deutschen Lügner finden Stellvertretung und Übertragung statt. Drei Übertragungen lassen sich unterscheiden. Mittels der ersten findet Gide ein deutsches Publikum. Gide beauftragt Greve mit Übersetzungen; er hat seinem auserkorenen Übersetzer das Buch L’Immoraliste bereits beim Treffen mitgebracht, was er in der „Conversation“ verschweigt. Greve übersetzt in den folgenden Jahren Paludes (1895), Saül (1898), L’Immoraliste, La Porte étroite. Den vorliegenden übersetzten Texten liegt ein Akt der Einsetzung des Übersetzers voraus, der während des Treffens stattfindet. Gide unterdrückt in seiner Publikation der „Conversation“ seine Frage an Greve: „Êtes-vous pédéraste?“ und Greves Antwort: „Absolument pas“, wie das erst posthum veröffentlichte Tagebuch verrät.31 Gide hat sich bekanntlich erst nach dem Ersten Weltkrieg in Corydon (1923) öffentlich zu seiner Homosexualität bekannt. In seiner Beziehung zu Greve geschieht etwas, was Psychologen eine Umkehrung in der Übertragung nennen, das heißt Gide legt in Greve das, was er gern auch öffentlich wäre oder zu dem er sich gern bekennen würde. In der Unterhaltung mit seiner Thematisierung der Unwahrhaftigkeit ist somit auch die lange aufrecht erhaltene Lebenslüge des mit seiner Cousine verheirateten Gide verborgen. Die letzte Übertragung ist besonders explosiv. Gide gesteht Greve seine Faszination durch den acte gratuit, sagt ihm aber auch, dass er selbst diesen Akt nicht begehen will:

[…] l’action ne m’intéresse point tant par la sensation qu’elle me donne par ses suites, son retentissement […] si elle m’intéresse passionnément, je crois qu’elle m’intéresse davantage commise encore par un autre. J’ai peur […] de m’y compromettre. Je veux dire de limiter ce que je fais, ce que je pourrais faire […] J’aime mieux faire agir que d’agir.32

Dies ist ein recht ungeschminktes, zudem veröffentlichtes Eingeständnis, dass er gerne Normen in extremen Handlungen brechen würde, dies aber nicht als reales Geschehen wagt. Greve ist in einem weiteren Sinne Stellvertreter von Gide – in der Fiktion: Gide schafft die Figur des Lafcadio in Les Caves du Vatican (1914), zehn Jahre nach dem Treffen mit Greve veröffentlicht. Der schöne Lafcadio Wluiki, aus der Liaison von Comte Juste- Agénor de Baraglioul mit einer käuflichen Luxusdame entsprossen, ist allseits

30 Diesen Aspekt betont Iris ROEBLING, L’acte gratuit. Variationen einer Denkfigur von André Gide, München, Fink, 2009. 31 André GIDE, „La rencontre avec Felix Paul Greve“, in Bulletin des Amis d’André Gide, Nr. 32, Oktober 1976, S. 26-37, S. 37. 32 GIDE, „Conversation“, S. 76. 284 THOMAS KELLER beliebt. Mütterlicherseits Rumäne, über den Vater Halbfranzose mit italienischen Vorfahren, ist der polyglotte multinationale Verbrecher nicht fassbar. Der liebenswürdige Lafcadio begeht einen Mord ohne Motiv und Eigennutz, als verschwenderischen acte gratuit. Er stößt einen etwas ekelerregenden Unbekannten aus dem Zug. Das Verbrechen ist desinteressiert, völlig ohne Kalkül, ohne jeden eigenen Vorteil, ist Verausgabung. Lafcadio wird zum Romanschluss ein sich hingebender Liebender. Der Blick auf den schönen Lafcadio ist auch ein begehrender von Mann auf Mann. In ihm verbinden sich Liebe und Mord. Lafcadio ist Hermes und Eros, ein Trickster, der alle Normen bricht. Seine unbürgerliche Seinsweise bedroht Zivilität.33 Neben der hingebenden Seinsweise der Mystiker ist auch der verbrecherische acte gratuit völlig ohne Kalkül, ist Verausgabung. Auch die zweite skandalöse Romanfigur, Protos, signalisiert bereits im Namen die Vielförmigkeit, die eindeutige Identität ersetzt, aber Verbrechen, Großzügigkeit und Humor verbindet. Neben der Aktion selbst findet der acte gratuit in Les Caves du Vatican auch eine theoretische Vorstellung. Sie wird auf das 17. Jahrhundert mit seiner Moralistik und seinen höfischen Verhaltensweisen bezogen:

M’est avis que, depuis La Rochefoucauld, et à sa suite, nous nous sommes fourrés dedans; que le profit n’est pas toujours ce qui mène l’homme; qu’il y a des actions désintéressées… […] Par désintéressé, j’entends: gratuit. Et que le mal [...] peut être aussi gratuit que le bien […] par luxe, par besoin de dépense, par jeu. Le mépris de ce qui peut servir […] est signe d’une certaine aristocratie de l’âme… Donc échappée au catéchisme, à la complaisance, au calcul, admettrons-nous une âme qui ne tienne plus de comptes du tout? […] à le supposer gratuit, l’acte mauvais, le crime, le voici tout inimputable; et imprenable celui qui l’a commis.34

Dies sagt aber der Halbbruder Julius, nicht Lafcadio selbst. Julius hat einen Stellvertreter in seinem Halbbruder, der den Mord begeht. So wie Gide in Greve. Die Worte von Julius nehmen gewissermaßen die Worte von Greve – „l’action intense juqu’au meurtre“ – auf. Lafcadio begeht stellvertretend eine imaginäre Tat von Greve für Gide. In der Figur des Lafcadio, der Name einer griechischen Insel, verarbeitet Gide Elemente von mehreren realen Personen – Lafcadio Hearn, Arthur Cravan und Greve – zu einer verstörenden Gestalt. Lafcadio Hearn (1850- 1904), der Vater ist Ire, die Mutter Griechin, er selbst wird Japaner. Als Yakumo Koizumi schreibt er über Martinique und übersetzt u. a. Maupassant, Flaubert, Anatole France ins Englische. Auf Arthur Cravan weist die zweimalige Erwähnung von Lord Fabian in Les Caves du Vatican35. Cravan (1887-1918), geboren als Fabian Avenarius Lloyd, ist der Neffe von Oscar

33 Ulrich MÖLK, „Die Verabschiedung des bürgerlichen Jahrhunderts“, S. 113-129. 34 André GIDE, Les Caves du Vatican, Paris, Gallimard (Folio), S. 179-182. 35 Ibid., S. 54, S. 86. ÜBER WAHRHEIT UND LÜGE JENSEITS DES DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN SINNS 285

Wilde, dessen skandalöser Verausgabung er nacheifert. Auch er besucht vor dem Ersten Weltkrieg Gide. Er wiederholt damit einen Besuch Wildes bei Gide. Gide hatte Wilde als nicht sehr großen Schriftsteller bezeichnet. Cravan attackiert den schmächtigen Gide („petite nature“), er macht das Sichaufsparen, die gepflegten weißen Hände, die Nichtstun verraten („la retenue, qui se soigne méticuleusement“, „ses mains blanches de fainéant“36), des „stumpfsinnigen“ Dichters („Gide, cet abruti“37) lächerlich. Cravan, Boxer und Poet, Besitzer von unzähligen „Identitäten“, ist in Mexiko verschollen. Während des Ersten Weltkriegs ist Cravan in New York mit Henri-Pierre Roché, dem Freund Franz Hessels und späteren Autor von Jules et Jim, und mit der Dada-Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven in Kontakt. Sie ist niemand anderes als Elsa Endell, zu Anfang des Jahrhunderts Lebensgefährtin, dann Ehefrau von Felix Paul Greve. Felix Paul Greve täuscht 1909 einen Selbstmord vor, er verschwindet und verwandelt sich in den berühmten kanadischen Schriftsteller namens Frederick Philip Grove38 (er bewahrt darin die Initialen F.P.G.), der in seiner Autobiographie In Search of myself (1946) „Wahres“ und „Falsches“ auftischt, auf jeden Fall den deutschen Lebensabschnitt weitgehend durch einen britisch-skandinavischen ersetzt.39 Erst nach seinem Tod ist die „wahre“, das heißt die deutsche Vergangenheit von Grove/ Greve enthüllt worden. Gide entkommt in Les Caves du Vatican und in „Conversation“ jeglicher Versuchung, Normenbrüche wie Verbrechen und Lüge auf Entwurzelung oder Nationaleigenschaften zurückzuführen. Die Zersplitterung bzw. Vervielfältigung ist in die Person hineinverlegt. Hier verbirgt sich ein widersprechender Dialog mit Barrès und Rivière. Bereits 1903 hatte Gide Barrès widersprochen: Barrès hatte in Les Déracinés behauptet, die Entwurzelung sei dafür verantwortlich, dass die Lothringer in Paris in der Gasse landen oder wie Racadot zum Verbrecher werden. Gide betont, Racadot hätte ihn niemals interessiert, hätte er Lothringen nicht verlassen und wäre er nicht daraufhin Mörder geworden. Rivière hatte in L’Allemand (1918) ein sehr negatives Kollektivbild von den Deutschen gezeichnet. Der windige und lügende Greve in „Conversation avec un Allemand“ scheint Rivière zu bestätigen. Aber Greve ist a-typisch, nicht fassbar; er teilt mit Gide den Bruch mit dem Bürgerlichen. Greve ist auch Verbündeter für Gide. Der Nihilismus und Vitalismus sind transversale Phänomene, sie überspringen Kulturgrenzen und ebnen Schwellen ein.

36 Arthur CRAVAN, Maintenant, Nr. 2, Paris, Juli 1913, ohne Seitenangabe. 37 Arthur CRAVAN, Maintenant, Nr. 3, Paris, Okt.-Nov. 1913, S. 19. 38 Klaus MARTENS, Felix Paul Greves Karriere. Frederick Philip Grove in Deutschland, St. Ingbert, Röhrig Universitätsverlag, 1997. 39 Der wohl aus Deutschland stammende geheimnisumwitterte Autor Ret Marut bzw. B. Traven bzw. Hal Croves scheint mit diesen Brüdern im Geiste namentlich und buchstäblich zu spielen: aus A. Cravan wird B. Traven, aus Grove wird Croves. 286 THOMAS KELLER

Auch hier steht die Situation der Repression am Anfang. Greve kommt aus dem Gefängnis. Er hatte, bevor er seinem Freund August Endell seine Frau Else ausspannte, auch intime Kontakte zu Männern. Auch Gide ist der Kriminalisierung der Homosexualität ausgesetzt. Er gesteht nicht seine eigene Homosexualität, sondern projiziert sie auf Greve. Greve weist Homosexualität weit von sich, verschweigt hingegen den Gefängnisaufenthalt nicht, sondern antwortet auf die Beschämung mit Frechheit, mit einer offensiven Strategie. Die Inversion der Scham verändert die Übertragung, sie macht die Beziehung zwischen dem Deutschen Greve und dem Franzosen Gide, wenn nicht zu einem Schlagabtausch, so doch zu einem höchst aufgeladenen affektiven Geschehen. Die drei Übertragungen – die Einsetzung Greves als Übersetzer, die Frage nach der sexuellen Orientierung, das Bekenntnis zum acte gratuit, das Les Caves du Vatican zugrunde liegt – sind verborgen. Les Caves du Vatican bekommt durch die Lektüre der „Conversation“ einen neuen Sinn, nämlich als stellvertretendes Ausleben der Phantasie vom motivlosen Mord. Es finden so mehrere Übertragungen zwischen dem Franzosen und dem Deutschen statt, aber das Resultat ist kein geschecktes deutsch-französisches Mischwesen, sondern eine Figur, die sich allen Zuschreibungen entzieht. Die Veröffentlichung der „Conversation“ überbietet die in L’Immoraliste und in Les Caves du Vatican vorgeführte Einsicht in die Krise der bürgerlichen Kultur. Besitz, Geschichte, nationale und kulturelle Zugehörigkeit erlauben es nicht mehr, auf eine „Identität“ zu verweisen. Aber auch die Anrufung von Leben, Lebendigkeit und Leiblichkeit führt nicht zu Sinnangeboten. Die Übertragungen zwischen Gide und Greve annullieren Zugehörigkeit schlechthin, diejenige Greves und diejenige seines Gesprächspartners. Greve übernimmt Aussagen aus Gides Texten, zugleich überrascht er Gide ständig neu und löst dessen Botschaft radikal ein. Die Lüge übernimmt die Funktion, jeden Zugriff auf die Wahrheit oder auf Identität unmöglich zu machen. Gide seinerseits lässt sich auf Übertragung und Stellvertretung ein. So wie Greve in Gide einen Bündnisgenossen sieht, der in Texten wie L’Immoraliste den acte gratuit vorführt, so sucht Gide momenthaft in Greve einen Genossen in seiner schweifenden sexuellen Orientierung, fügt in seine Texte Erfahrungen mit Greve ein und lebt Verbotenes fiktional aus. Beide reagieren mit einem Spiel mit Kriminalität. Neu ist: anders als etwa der verfolgte, aber aufrechte und aufrichtige Condorcet motiviert hier ein vitalistisches Einverständnis mit dem Verbrechen Verhaltensweisen der Verstellung, die in der Zeit der Gefangenschaft und der Kriminalisierung entstanden sind. Unverschämt ist indes nur Greve. ÜBER WAHRHEIT UND LÜGE JENSEITS DES DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN SINNS 287

Man muss einige Jahre warten, bis 1924, als mit dem Fall Angerstein der motivlose Mord die deutsche Öffentlichkeit in der Realität und dann auch die Literatur beschäftigt.40

Schluss: Pseudologie

Deutsche wie Franzosen lügen. Der Umgang mit der Lüge indes scheint noch immer unterschiedlich zu sein. Anmaßende Missverständnisse wie diejenigen, Deutsche seien wahrhaftiger und lügten weniger als Franzosen, sind nie ganz erloschen. Noch immer haben sie ihren Grund in der Unfähigkeit, das unvermeidliche Rollenspiel in Rechnung zu stellen. Wie das Klischee vom aufrichtigen deutschen Dichter und Denker leben sie weiter. Allerdings wird die Kontrastbildung auch früh dezentriert, dekontextualisiert und neu zusammengesetzt. Dies gilt besonders für literarische Texte. Mme de Charrière nimmt die Möglichkeit an, den Gegensatz durch Interaktion abzumildern. Im deutsch-französischen Dialog zwischen Gide und Greve faltet sich die Lüge zu einem komplexen pseudologischen Fächer auf. Unschuld und Moral scheinen eher für die Philosophen zu sein. Aber auch die Philosophen müssen geschichtliche Situationen in Rechnung stellen, insbesondere Situationen der Gefahr. Verstellung ist im von der Wehrmacht besetzten Frankreich für Résistants nötig, woher immer die Résistants auch stammen; Verstellung rettet auch in Nazideutschland Widerständlern wie Werner Krauss das Leben. Aber auch das zunehmende Bewusstsein für die Notwendigkeit, in der Gesellschaft durch Masken bestehen zu müssen, macht einen Zwischenraum zwischen Wahrheit und Lüge bewusst. Dadurch wächst unser pseudologisches Wissen über das Spielen einer Rolle, das über den Begriff der Lüge hinausgeht. Wir finden es sprachlich manifestiert in mehrdeutigen Bezügen und Brüchen, die uns an unsere Nicht-Identität mit uns selbst erinnern. Heute mag man das spannungsreiche Verhältnis von Wahrheit und Lüge in sehr verschiedenen Vorbehalten und Reaktionsweisen finden. Hier drei davon. Die Empörung bzw. das Nichterstaunen angesichts der Behauptung von EDF-Verantwortlichen, die Tschernobyl-Wolke sei in Kehl stehengeblieben: Der Verstoß gegen Faktizität ist allen klar. Aber unterschiedlich ist das Verständnis dafür, dass die Macht ihre Rolle spielt. Klar lügen Vertreter von EON oder RWE genauso wie EDF-Sprecher. Der Unterschied liegt in der Reaktion, in der drohenden Sanktion, im Risiko. Der Entrüstung vorauseilend werden Situationen mehr oder weniger gemieden, in der Sprecher der Lüge überführt werden können.

40 Lethen deutet den Mordfall Angerstein so, dass die „Kreatur wiederum die Maske“ des Täters ist, wenn dieser im Gericht kein Motiv vorzuweisen hat. Vgl. Helmut LETHEN, Verhaltenslehren der Kälte, S. 256-262 (Kapitel „Der Fall Angerstein“), Zitat S. 261. 288 THOMAS KELLER

Das Erschauern vor den machiavellistischen Zügen von Mitterrand: Dass hier Verstellung, Unwahrhaftigkeit, mauvaise foi vorliegt, weiß jeder. Sicherlich hat Kohl ebenso gelogen wie Mitterrand. Dass der kluge Staatsmann auch über solche Fähigkeiten verfügen muss, ist unterschiedlich akzeptabel. Sicherlich konnte Kohl sich nicht mit derselben Erfolgsaussicht wie Mitterrand als Machiavelli verhalten und inszenieren. Der Vorwurf bzw. das Nichterstaunen, dass die Vichy-Vergangenheit lange nicht wahrheitsgemäß aufgearbeitet wurde und nicht kollektive Schamgefühle auslöst: Dass kollektive Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch in französischer Verantwortung stattfanden, wird von fast niemandem bestritten. Uneinigkeit besteht darin, wie damit würdig umzugehen sei. Hier geht es auch darum, einen Weg zwischen sich moralisch überlegen dünkenden Schuldbekenntnissen und Verschweigen zu finden. Die steile Alternative zwischen dem Innerlichkeits- und Authentizitätsdiskurs und dem Wahrheit und Wahrhaftigkeit ganz ausblendenden Verhaltenskodex ist nicht zwingend. Diese fortbestehenden Unterschiede sollten nicht verallgemeinert, aber auch nicht ganz unter den Teppich gekehrt werden. Infolge seiner Abhängigkeit von gefährlichen Situationen, die seit Jahrzehnten weniger werden, schwächt sich der Dissens nach 1945 im europäischen Frieden ab, ohne ganz zu verschwinden. Résumés en allemand

Hélène BARRIÈRE Eine falsche Lüge zur Aufdeckung einer wahren? Phantasie und Wirklichkeit in Barbara Frischmuths Amoralische Kinderklapper (1969)

B. Frischmuth, Gründungsmitglied von Forum Stadtpark (1960), beteiligt sich an dessen Kampf gegen den Nachkriegskonservatismus, der im Mythos der vom Nazismus kaum unterbrochenen, tausendjährigen Kontinuität Österreichs wurzelt. Im Anschluss an die Tradition österreichischer Sprachkritik prangern die jungen „Grazer“ den Absolutheitsanspruch der gegebenen Wirklichkeit als Lüge an, als Sprachkonstrukt, das auf die Erhaltung des Bestehenden abzielt. In Amoralische Kinderklapper, einem an die Erwachsenen adressierten Buch über Kinder, wird die Einbildungskraft, die seit der Antike eine zentrale Rolle in der Debatte um das Wahre, das Falsche und die Kodifizierung des Diskurses spielt, auf zwei einander potenzierende Weisen in den Dienst dieses Enthüllungsverfahrens gestellt: Die Waffe des Phantastischen wird Kindern anvertraut. Der Aufsatz untersucht an einigen Beispielen, wie die noch kaum beschnittene Phantasie des Kindes mit der hier nicht auf fiktionaler Ebene, sondern innerhalb der Sprache operierenden phantastischen „Häresie“ (R. Lachmann) im Bündnis steht, und stellt abschließend die Frage nach Tragweite und Grenzen eines solchen Versuchs.

Schlagwörter: Lüge, B. Frischmuth, Forum Stadtpark, Sprachkritik, Phantastik in Österreich nach 1945

Susanne BÖHMISCH « Eines ist mir klar: Dass die Weiber auch in der Hypnose lügen ». Lüge und Geschlecht bei Arthur Schnitzler

Die Wiener Moderne ist geprägt von einer Inflation der Lügensemantik, einer Infragestellung der bestehenden Geschlechterordnung und einem Wiederaufflammen misogyner Theorien über die Verlogenheit und Scheinheiligkeit der Frau (Nietzsche, Schopenhauer, Möbius, Weininger). Diese sind nicht frei von Widersprüchen, wenn sie Lüge und List als typisch weibliche Eigenschaften betrachten und dabei die These vom minderwertigen Geschlecht aufrecht erhalten, denn Lüge und List verlangen mehr Intellekt und schöpferischen Geist als Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit. Schnitzlers Texte sind eng mit den zu seiner Zeit vorherrschenden Ideen verbunden. Wir begegnen darin der hedonistischen, nietzscheanischen Wiederaufwertung der Lüge, sowie einem narrativen Dispositiv, das die Schwierigkeit des Mannes inszeniert, der Frau das gleiche Recht zur Lüge zuzuerkennen. Aufgrund der sich überall verbreitenden Lüge verliert der männliche Blick seine penetrierende Kraft, die Frau wird noch rätselhafter und weniger kontrollierbar. Viele männliche Figuren greifen auf das Klischee der Verlogenheit der Frau zurück, die sie moralisch verwerfen, um ihre gefährdete Machtposition zu stärken. Der Beitrag soll die diskursive Verschränkung zwischen einer Geschichte der Lüge und einer Geschichte der Geschlechterdifferenz um 1900 beleuchten.

Schlagwörter: Lüge, weibliche List, weibliche Scheinheiligkeit, Schnitzler, Gender 290 RÉSUMÉS

Jörg DÖRING/ David OELS Lüge, Fälschung, Plagiat. Über Formen und Verfahren prekärer Autorschaft

Der Text erörtert Fälschung und Plagiat als Sonderformen der literarischen Fiktion, in denen die Lüge der Dichter – ansonsten nicht nur zugelassen, sondern sozial bisweilen prämiert – im Moment ihrer Entdeckung einem Umwertungsprozess unterworfen wird. Was vorher gefiel, ist plötzlich Kitsch und immer schon schlecht gewesen. Die Autorschaft wird prekär, weil eine angenommene Kongruenz von Autor und Werk aufgekündigt scheint. Der Text diskutiert diese Umwertungsdynamik am Beispiel dreier literarischer Fälschungen: George Forestier Ich schreibe mein Herz in den Staub der Straße (1952); Luciana Glaser Winterende (1990) und Binjamin Wilkomirski Bruchstücke (1995).

Schlagwörter: Fälschung, Plagiat, Paratext, prekäre Autorschaft, Literaturbetrieb

Karl Heinz GÖTZE Über einige Versuche Brechts, die Lüge zu erkunden

Brechts Konzeption der Lüge will immer schon jenseits aller Moral sein und dort bleiben. Ihn interessiert nicht, ob das Lügen verwerflich ist, sondern er organisiert literarische Versuchsanordnungen zur Frage, wer, wann, warum und mit welchen Folgen lügt. Der Beitrag untersucht Brechts Lügenszenarien aus verschiedenen Schaffensperioden. Der frühe Brecht, der des Baal , erkundet den Zusammenhang zwischen Zivilisation und Lüge um dafür zu plädieren, der Mensch möge sich zugunsten seines Begehrens der Zivilisation entledigen, womit die Lüge verschwände, allerdings für einen hohen Preis. Der frisch zum Marxismus konvertierte Brecht der „Lehrstücke“ plädiert für die Notwendigkeit der politisch motivierten Lüge in der Perspektive der späteren Abschaffung allen Lügens. Die während des Exils entstandenen Texte kreisen immer wieder um die Lüge als Überlebensnotwendigkeit, freilich nie klassenneutral. Alle diese Formen der Lüge und noch einige mehr finden sich im abschließend analysierten Leben des Galilei, wo der Zuwachs an Komplexität der Reflexion über Lüge und Wahrheit damit bezahlt wird, dass die Dialektik letztlich ratlos bleibt.

Schlagwörter: Ehrlichkeit, Zivilisation, Lügenszenarien, Lehrstücke, Brecht

Ingrid HAAG Über die „Wahrheit“ der weiblichen Natur und wie diese auf der Bühne des bürgerlichen Trauerspiels Lügen gestraft wird

Dieser Beitrag hinterfragt das Problem der Wahrheit, genauer des Wahrhaftigkeitsgebots und insbesondere der darauf begründeten Vorstellung von der „Natur“ der Frau, wie sie das bürgerliche Tugendsystem des 18. Jahrhunderts konzeptualisiert hat. Lessings Trauerspiel Emilia Galotti provoziert die Frage, ob es nicht so ist, dass Emilia Galotti, vorgestellt als Opfer der höfischen Intrige, nicht ebenso (oder sogar wesentlich?) zugrunde gerichtet wird durch die väterliche Weiblichkeitsvorstellung samt deren Postulate von Reinheit und Wahrhaftigkeit. Diese Frage nach dem repressiven, destruktiven Potential eines gewissen Humanitätsdiskurses bleibt aktuell bis hin zu Heiner Müllers RÉSUMÉS 291

Inszenierungen. Glücklicher als Emilia ist Minna von Barnhelm in dem gleichnamigen Lustspiel. Gerade dank der im Namen dieser Weiblichkeitsvorstellung verurteilten Mittel – List und Verstellung – gelingt es ihr, die Tragödie zu verhindern.

Schlagwörter: Lessing, bürgerliches Tugendsystem, das Gebot der Wahrhaftigkeit, Strategien der Subjektwerdung, Humanitätsdiskurs

Yasmin HOFFMANN Johann Strauss : Die Fledermaus oder ein Lügenwalzer

Das Lügengewebe der Fledermaus zu analysieren, impliziert zum einen, auf die dem Vaudeville eigenen Konventionen einzugehen, in denen die Lüge, zum dramaturgischen Prinzip erhoben, die Handlung vorantreibt und zum anderen die Deck-Funktion der Lüge zu demaskieren, durch die die Realität eliminiert werden soll. Anhand der Entstehungsgeschichte sollen soziale Realitäten wieder an den ihnen gebührenden Platz gestellt werden, die sowohl durch das Etikett „die Wienerischste aller Operetten“, als durch die vermeintliche Aufwertung des Fremden verdrängt werden. Status und Funktion der Illusion stehen im Mittelpunkt einer Analyse, in der das Motiv des Ehebruchs, der Grenzüberschreitung, des Exotischen und der Rache als Symptome einer voranschreitenden Domestizierung des Gefährdenden, eine im Interesse des Bürgertums des 19. Jahrhunderts vorangetriebene Verharmlosungsstrategie, dargestellt werden.

Schlagwörter: Operette, Strauss, das französische Modell, die Deck-Lüge, Lüge als Wiederkehr des Verdrängten

Charlotte JANUEL Segensbetrug oder Spaß? Thomas Manns Die Geschichten Jaakobs und die Genesis

In Die Geschichten Jaakobs aus der Tetralogie Joseph und seine Brüder erzählt Thomas Mann eine der bekanntesten Lügen der Literatur, den in der Genesis beschriebenen Segensbetrug von Jakob an Esau, als «großen Jokus». In diesem Beitrag wird dargelegt, durch welche Kunstgriffe es dem Erzähler gelingt, diese Interpretation nicht nur als eine von vielen, sondern als einzig mögliche zu vermitteln. Dafür werden die Charakterisierung der Personen, das Erzählerverhalten und der Romanaufbau auf dem Hintergrund der biblischen Vorlage untersucht.

Schlagwörter: Thomas Mann, Erzählstrategie, Mythos, Individuum, Leser als Komplize

Jochen JORDAN Die Psychologie des Lügens

Die Lüge gehört zur Psychologie des Alltagsverhaltens. Sie ist in jedem sozialen Kontext einsetzbar und mit jeder denkbaren Motivstruktur zu verbinden. Definitorisch ist davon auszugehen, dass nur dann von einer Lüge gesprochen werden kann, wenn eine bewusste Entscheidung des Akteurs vorliegt (nicht vollständig aufrichtig zu sein) und das Opfer keine Zustimmung zu dieser Verhaltensvariante gegeben hat. So wie man nicht nicht 292 RÉSUMÉS kommunizieren kann (Watzlawick), so kann man demnach nicht leben ohne zu lügen und dennoch unterscheiden sich Menschen beträchtlich hinsichtlich der Häufigkeit sowie der eingesetzten Technik des Lügens und vor allem bezüglich der implizierten Destruktivität. Es werden bedeutende Motivstränge des Lügens sowie die gängigen Techniken und deren Vor- und Nachteile erläutert. Die beiden großen Forschungszweige der Psychologie zur Aufdeckung von Lügen werden skizziert (der Lügendetektor und die Analyse der Körpersprache).

Schlagwörter: Psychologie des Alltagsverhaltens, Definition der Lüge, Lügentechniken, Lügendetektor, Körpersprache

Thomas KELLER Über Wahrheit und Lüge jenseits des deutsch-französischen Sinns

Der Beitrag will die Kontrastierung einer deutschen Abwertung der Lüge und einer französischen Lügenfreundlichkeit durch eine Rekonstruktion von transkulturellen pseudologischen Debatten ersetzen. Er erinnert an die Kollision des Kant’schen Lügenverbots mit der repressiven historischen Situation um 1800; Pragmatismus vermeidet Blutzeugentum (Constant und de Charrière). Er zeigt die lebensphilosophische Aufladung von Wahrheit und Lüge um 1900 – in Rollands Jean-Christophe ist die Wahrheit nur für die Starken. Gide und Greve nehmen einen Dialog über die Lüge als acte gratuit auf: sie setzen in Szene und reflektieren den Reichtum der Lüge und der Verstellung, die Körpersprache eingeschlossen. Nicht die Häufigkeit der Lüge unterscheidet Kulturen, wohl aber der Umgang mit ihr.

Schlagwörter: Lügenverbot nach Kant, pragmatisches Lügen, Wahrheit und Leben, Dialog Gide-Greve, acte gratuit

Dorothee KIMMICH „Mundus vult decipi“. Warum man sich den Hochstapler als einen glücklichen Menschen vorstellen muss

Hochstapler sind Menschen ohne Identität, sie haben weder einen Charakter noch einen Beruf noch Familie und auch keine wirklichen Freunde. Sie sind Maskenträger und man würde erwarten, dass sie – auch in der Literatur – demaskiert werden. In der Literatur der Moderne – etwa bei Thomas Mann und Efraim Frisch – finden sich jedoch Hochstaplerfiguren, die sich der Demaskierung geschickt entziehen und dadurch selbst als Kritiker einer defigurierten Moderne auftreten.

Schlagwörter: Hochstapler, Moderne, Identität, Kulturkritik, Nachahmung RÉSUMÉS 293

Clemens KNOBLOCH Was man Sprach- und Kommunikationswissenschaftler über die „Lüge“ fragen darf – und was nicht

Der Beitrag referiert die Versuche der Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Analyse- und Beschreibungsmodelle für das Phänomen der „Lüge“ zu erarbeiten. Während die strukturalistische Sprachwissenschaft gar keinen professionellen Zugang zur Lüge findet, verwickelt sich die pragmatische Sprechaktlehre in Widersprüche, weil es einen konventionellen Sprechakt „Lügen“ nicht geben kann. Die sprachkritische und sprachskeptische Philosophie um 1900 verlegt sich auf die Behauptung, es seien die natürlichen Sprachen selbst insgesamt auf Lüge und Täuschung ausgelegt, was aber den Unterschied zwischen Wahrhaftigkeit und Lüge beim einzelnen Sprecher relativiert. Wenn schon die Sprache lügt, kommt es auf den Sprecher nicht mehr an. Die ebenfalls vorgestellte neoevolutionistische Signalkostentheorie der Lüge argumentiert, dass nur Kommunikationen, die dem Sender hohe Kosten verursachen, als aufrichtig und verlässlich angesehen werden können, was zu der paradoxen Konsequenz führt, dass die Evolution von Signalsystemen ein ewiger und eskalierender Rüstungswettlauf zwischen immer raffinierteren Betrügern und immer raffinierteren „Durchblickern“ wäre (was die Sprachevolution jedenfalls nicht bestätigt). Der semantisch-pragmatische Kern der „Lüge“ ist ein gesichtsbedrohender moralischer Vorwurf, der gegen Sprecher erhoben werden kann. Als analytische Kategorie taugt die „Lüge“ offenbar nicht.

Schlagwörter: Lüge, Sprechakttheorie, Sprachphilosophie, Signalkostentheorie, Rüstungswettlauf

Alain MALISSARD Von Homer zur Rhetorik. Eine gewisse Kunst des Lügens

In den Texten, die Iphigenie, Philoktetes, Odysseus oder das Trojanische Pferd inszenieren, findet man eine Apologie der Lüge, die stets in ihrer Wirksamkeit dargestellt wird, und sogar eine Kritik der Wahrheit. Anhand des Philoktetes von Sophokles und der Rede des Sinon im 2. Gesang der Aeneis des Virgil lassen sich die Gründe dafür wie auch die angewendeten Methoden analysieren. Die Rhetorik, die zeitgleich zur Demokratie entstanden ist und ihr die Möglichkeit vermittelte, das Pro- und Kontra vor einem Richter oder vor dem Volk vorzutragen, wird ihrerseits – von den Sophisten bis zu Cicero – die grundlegende Zweideutigkeit der Rede ausnutzen, um im Dienste des „guten“ Zweckes sowohl vom Wahren als auch vom Falschen zu überzeugen. Diese Kunst der Lüge, als eines der mit der Freiheit verbundenen Risiken, hinterfragt somit sowohl die Rhetorik an sich als auch die Ziele, die diese verfolgt.

Schlagwörter: Lüge, Rede, Sophisten, Rhetorik, Cicero 294 RÉSUMÉS

Jochen MECKE Eine Kritik der Lüge jenseits von Gut und Böse

Der Aufsatz unternimmt eine Kritik der Lüge im außermoralischen Sinn und untersucht deren unterschiedliche Funktionen für das Individuum und die Gesellschaft. Ausgehend von der Frage, warum eine Gesellschaft so kategorisch verurteilt, was sie so häufig praktiziert, werden unterschiedliche Formen der Lüge wie zum Beispiel die Kollusion oder die objektive Verlogenheit (Benjamin) und deren Funktionen ebenso untersucht wie die Funktion der kategorischen Verurteilung der Lüge.

Schlagwörter: Kritik der Lüge, objektive Verlogenheit, strukturelle Lüge, Kollusion, kategorische Verurteilung der Lüge

Rainer NÄGELE Zur Kritik der Ehrlichkeit

Die bürgerliche politische Rhetorik hat seit dem späten 18. Jahrhundert die Lüge als äußerst verwerflich, die Ehrlichkeit zur Tugend schlechthin erklärt. Dass sie sich damit die Unehrlichkeit als Basis gelegt hat, will sie, trotz hellsichtiger Kritiker seit Lessing und Nietzsche bis weit ins 20. Jahrhundert nicht eingestehen. Lügen gehört von Jakob in der hebräischen Bibel und Homers listigem Odysseus, zu den konstitutiven Bestandteilen der abendländischen Kultur. Der vorliegende Essay ist ein Versuch, darüber nachzudenken.

Schlagwörter: Lügenverbot, Diskursgeschichte der Lüge, Ehrlichkeitsrhetorik, Nietzsche, Benjamin

Gerhard NEUMANN „Die letzten Masken“. Zum Problem der Lüge bei Arthur Schnitzler

Zweierlei kennzeichnet das Problem der Lüge im Werk von Arthur Schnitzler: Es wirft die Frage nach der kulturellen Funktion der Lüge auf und darüber hinaus verbindet es sich mit der Thematik von Liebe und Erotik. Der Einakter Große Szene von 1914/1915, der dem Zyklus Komödie der Worte angehört, erweist sich als besonders geeignet, diese Konstellation zu exponieren. Im Theatermilieu angesiedelt, inszeniert der Text die Lüge als Bestandteil der „Komödie der Worte“, die sich dank ihrer rhetorischen Kunst als fähig erweist, Wahrheit als Lüge erscheinen zu lassen und umgekehrt. Im Vergleich zu diesem ‚Satyrspiel' setzt der zweite hier behandelte Text Die letzten Masken (1900/ 1901) eine eher tragische Variante in Szene: das Scheitern des Vorhabens, angesichts des Todes, zu sagen, was man die ‚Wahrheit’ nennt, oder nennen könnte. Die Betrachtung der beiden Texte ergibt, dass sich der Einakter exemplarisch in seiner Eigenschaft als „Experimentalgenre“ (Hans-Peter Bayerdörfer) erweist, insofern als er das reiche Repertoire der verschiedenen Auffassungen von Lüge auffächert und durchspielt.

Schlagwörter: Experimentalgenre, kulturelle Funktion, Komödie der Worte, Rhetorik, Ästhetik RÉSUMÉS 295

Gert SAUTERMEISTER Wallenstein – Selbsttäuschung und Identitätsbrüche im Spannungsfeld der Politik

Selbsttäuschung wird im Folgenden als eine Haltung verstanden, mit der Wallenstein sich unbewusst längere Zeit selbst belügt. Seine Selbsttäuschung beruht auf einer heterogenen Vielzahl von Interessen und Antriebskräften, die sein Bewusstsein nicht zu durchschauen vermag. Diese Auffassung seiner zeitweilig dissoziierten Person kontrastiert mit einer traditionellen opinio communis der Forschung, die den Protagonisten von Schillers bedeutendem Geschichtsdrama als fest umrissenen Charakter mit statischen Wesenszügen versteht. Im Verlauf der Handlung verengt sich die historisch-politische Konstellation für Wallenstein in einer Weise, die ihm eine verhängnisvolle Vereinfachung seiner Widerspruchsfülle nahelegt, unter Preisgabe jedes geschichtlichen Ethos. So verfehlt er die ‚Wahrheit’ einer überpersönlichen politischen Zielsetzung. In dieses Verhängnis versucht er auch seinen jugendlichen Weggefährten Max Piccolomini hineinzuziehen, der ihm einen moralisch fundierten Widerstand entgegensetzt und dafür den Tod in Kauf nimmt. Diesen Tod überlebt jedoch seine Utopie des Friedens – eine zur Realisierung aufgegebene überzeitliche Wahrheit.

Schlagwörter: Schiller, historisches Drama, Selbsttäuschung, Spaltung der Persönlichkeit, Utopie

Gert UEDING Ars est artem celare – Die Lüge als rhetorische Kunst betrachtet

Die Rhetorik hat Wahrheit und Lüge seit der Antike im außermoralischen Sinne reflektiert. Sie hat es nicht mit Evidenzen und absoluten Wahrheiten zu tun, sondern mit begründeten Meinungen und Wahrscheinlichkeiten. Musterfall ist die gerichtliche Auseinandersetzung. In einem dialektisch-dialogischen Kontext kann die Lüge sogar optimale Problemlösungen generieren helfen, wie Hegel und noch radikaler Nietzsche erkannten.

Schlagwörter: Meinung, Topik, Monolog, Dialog, Gerichtsrede 296 RÉSUMÉS

Résumés en français

Hélène BARRIÈRE Un faux mensonge contre un vrai? Imagination et réalité dans Amoralische Kinderklapper (1969) de Barbara Frischmuth

Membre fondateur du Forum Stadtpark (1960), B. Frischmuth participe à son combat contre le conservatisme de l’après-guerre, fondé sur le mythe d’une Autriche millénaire dont le nazisme n’aurait pas ébranlé la pérennité. Dans la tradition autrichienne de la critique du langage, les jeunes écrivains de Graz dénoncent le mensonge d’une réalité donnée pour immuable, alors qu’elle n’est selon eux qu’une construction langagière visant à perpétuer l’ordre existant. Ouvrage sur les enfants destiné aux adultes, Amoralische Kinderklapper lance l’imagination – placée dès l’Antiquité au cœur du débat sur vrai, faux et codification du discours – dans un double assaut contre la mise en mots convenue du “réel” : le texte confie à des enfants l’arme du fantastique. L’article étudie quelques modalités de l’alliance d’une imagination enfantine aux potentialités quasi intactes et de l’« hérésie » (R. Lachmann) fantastique, qui opère ici non au niveau de la fiction, mais à l’intérieur du langage. Il s’interroge en conclusion sur la portée et la viabilité d’une telle tentative.

Mots-clés : mensonge, B. Frischmuth, Forum Stadtpark, critique du langage, fantastique en Autriche après 1945

Susanne BÖHMISCH « Une chose est claire : les femmes mentent même sous hypnose ». Mensonge et genre chez Arthur Schnitzler

La modernité viennoise est caractérisée par l’inflation d'une sémantique du mensonge, le trouble dans le genre et le retour de théories misogynes sur la nature mensongère et hypocrite de la femme (Nietzsche, Schopenhauer, Möbius, Weininger). Celles-ci ne sont pas exemptes de contradictions, puisqu’elles considèrent le mensonge et la ruse comme la caractéristique du féminin mais maintiennent par ailleurs la thèse du sexe inférieur, alors que le recours au mensonge et à la ruse nécessite plus d’intellect et d’esprit créateur que la sincérité et la véracité. Les textes de Schnitzler font écho aux idées qui circulent à son époque. Nous y rencontrons la revalorisation hédoniste, nietzschéenne du mensonge, ainsi que des dispositifs narratifs mettant en scène la difficulté qu’éprouve l'homme à accorder à la femme le droit de mentir qu’il s’octroie. Avec le mensonge généralisé, le regard masculin perd sa force pénétrante et la femme devient encore plus opaque et moins maîtrisable. De nombreuses figures masculines ont recours au cliché de la nature mensongère de la femme, condamnée moralement, pour tenter de réinscrire leur domination à un moment où celle-ci est menacée. L’objectif de cette contribution est d'apporter un éclairage sur le lien discursif complexe entre l’histoire du mensonge et l’histoire de la différence sexuelle (Derrida) autour de 1900.

Mots-clés: mensonge, ruse féminine, hypocrisie féminine, Schnitzler, gender RÉSUMÉS 297

Jörg DÖRING/ David OELS Mensonge, falsification, plagiat. Formes et procédés de la paternité littéraire précaire

Cet article aborde la question de la falsification et du plagiat comme formes particulières de la fiction littéraire, dans lesquelles le mensonge de l’auteur – qui, sinon, est non seulement accepté, mais parfois aussi socialement valorisé – est soumis à un processus spontané de renversement des valeurs dès qu’il est découvert. Ce qui a plu au premier abord est soudain devenu kitsch et a d’ailleurs toujours été mauvais. La paternité littéraire devient précaire parce que la congruence que l’on suppose entre l’auteur et son œuvre semble invalidée. L’analyse de cette dynamique de renversement des valeurs est menée ici à partir de trois exemples de falsification littéraire : Ich schreibe mein Herz in den Staub der Straße (1952) de George Forestier, Winterende (1990) de Luciana Glaser et Bruchstücke (1995) de Binjamin Wilkomirski.

Mots-clés : falsification, plagiat, paratexte, paternité littéraire précaire, institution littéraire

Karl Heinz GÖTZE À propos de quelques tentatives de Brecht pour sonder le mensonge

Selon la conception brechtienne, le mensonge est et demeure depuis toujours au-delà de toute morale. Que le mensonge soit ou non répréhensible n’intéresse pas Brecht ; ce qui lui importe, c’est de mettre en place des protocoles expérimentaux pour savoir qui ment, quand, pourquoi et avec quelles conséquences. L’article analyse les manières dont Brecht met en scène le mensonge au cours de ses différentes périodes créatives. Le jeune Brecht, celui de Baal, explore la relation entre civilisation et mensonge et soutient l’idée que l’homme devrait se libérer de la civilisation au profit de ses désirs, ce qui éliminerait le mensonge, mais ni l’égoïsme ni la violence. Le Brecht fraîchement converti au marxisme, celui des « pièces didactiques », affirme la nécessité du mensonge politique pour que, plus tard, puisse être aboli tout mensonge. Les textes de l’exil tournent perpétuellement autour du mensonge comme condition sine qua non de la survie, mais jamais, il est vrai, indépendamment de la notion de classe. On retrouve toutes ces formes de mensonges et d’autres encore dans La Vie de Galilée, où la complexité grandissante de la réflexion sur le mensonge et la vérité se solde par le fait que la dialectique, pour finir, n’apporte plus de réponses.

Mots-clés : sincérité, civilisation, mises en scène du mensonge, pièces didactiques, Brecht

Ingrid HAAG La “vérité” de la nature féminine sur la scène du théâtre bourgeois, ou le mensonge dévoilé

Cette contribution interroge le problème de la vérité, plus exactement le postulat de véracité, tel qu’il a été codifié par le système des vertus bourgeoises au XVIIIe siècle. L'accent porte tout particulièrement sur la représentation de la « nature » féminine inhérente à ce système. La tragédie bourgeoise Emilia Galotti de Lessing soulève la question suivante : Emilia, présentée comme victime de l’intrigue de la Cour, n’est elle pas plutôt sacrifiée à l’image paternelle de la femme et à ses postulats de pureté et de véracité ? 298 RÉSUMÉS

Cette question visant le potentiel répressif et destructeur d’un certain discours humaniste reste d’actualité jusque dans les représentations d’un Heiner Müller. Plus « heureuse » qu’Emilia est Minna von Barnhelm dans la comédie éponyme : c’est précisément en dérogeant à cette image de la femme et en recourant à la ruse et au mensonge qu’elle réussit à déjouer la tragédie.

Mots-clés : Lessing, vertus bourgeoises, postulat de véracité, stratégies d’émancipation, discours humaniste

Yasmin HOFFMANN La Chauve-Souris de Johann Strauss : une valse de mensonges

Analyser les constructions mensongères dans La Chauve-Souris signifie d’une part s’interroger sur les conventions propres au vaudeville, qui érigent le mensonge en principe dramaturgique sur lequel repose toute action, et d’autre part examiner la fonction du mensonge-écran par lequel le réel doit être éliminé. Retraçant la genèse de l’œuvre, l’article se propose de faire remonter à la surface quelques réalités sociales occultées par l’étiquette « la plus viennoise des opérettes » tout autant que par la réputation usurpée d’une valorisation d’éléments étrangers. L’analyse porte sur le statut et la fonction de l’illusion et montre que les motifs de l’adultère, de la transgression, de l’exotisme et de la vengeance sont autant de symptômes révélateurs d’une domestication des dangers qui menacent l’ordre établi, menée dans l’intérêt de la grande bourgeoisie à la fin du dix- neuvième siècle.

Mots-clés : opérette, Strauss, modèle français, mensonge-écran, mensonge comme retour du refoulé

Charlotte JANUEL Imposture ou plaisanterie ? Les Histoires de Jaakob de Thomas Mann et la Genèse

Thomas Mann raconte dans son roman Les Histoires de Jaakob, premier volume de la tétralogie Joseph et ses frères, un des mensonges les plus connus de la littérature, l’imposture de Jacob au détriment d’Esaü pour obtenir la bénédiction du père, en lui conférant les allures d’une bonne plaisanterie. Cette contribution veut montrer comment le narrateur procède pour imposer cette lecture non pas comme une interprétation parmi d’autres, mais comme la seule possible. La description des personnages, la position du narrateur et la structure du roman sont examinées en comparaison avec la Genèse.

Mots-clés : Thomas Mann, stratégie narrative, mythe, individu, complicité du lecteur

Jochen JORDAN La psychologie du mensonge

Le mensonge est un comportement psychologique de la vie quotidienne qui peut donc apparaître dans tout contexte social et avoir un lien avec toutes les motivations possibles. La la présente analyse se fonde sur la définition suivante : le mensonge relève d’une RÉSUMÉS 299 décision consciente de son auteur (n’être pas tout à fait sincère), en l’absence de consentement de la victime. De même que l’on ne peut pas ne pas communiquer (Watzlawick), on ne peut pas vivre sans mentir. Toutefois, les humains sont très différents les uns des autres en ce qui concerne la fréquence de leurs mensonges, les techniques qu’ils utilisent et avant tout la destructivité impliquée. Sont abordées ici les motivations les plus importantes de l’acte de mentir et les techniques utilisées le plus couramment, dans leurs aspects positifs et négatifs. Sont ensuite évoqués rapidement deux grands domaines de recherche en psychologie sur le mensonge (détecteur de mensonge et analyse du langage corporel).

Mots-clés : psychologie du comportement quotidien, définition du mensonge, techniques du mensonge, détecteur de mensonge, langage corporel

Thomas KELLER De la vérité et du mensonge, par-delà le sens franco-allemand

La contribution se propose de reconsidérer le contraste entre la dévalorisation du mensonge en Allemagne et l’acceptation du mensonge en France, à la lumière d’une reconstruction des discussions pseudo-logiques transculturelles. Elle rappelle la situation vers 1800, quand l’interdiction du mensonge par Kant se heurte à un contexte historique répressif ; le pragmatisme évite le martyre (Constant, de Charrière). Elle montre la mobilisation vitaliste autour de 1900 – selon Jean-Christophe (Rolland), la vérité est réservée aux forts. Gide et Greve entament un dialogue sur le mensonge en tant qu'acte gratuit : ils mettent en scène et transmettent toute la richesse du mensonge et de la dissimulation, langage du corps compris. Ce n’est pas la plus ou moins grande fréquence du mensonge qui crée des différences entre les cultures, c’est le rapport qu’elles entretiennent avec ce dernier.

Mots-clés : Kant et le mensonge, fonction pragmatique du mensonge, vérité et vie, dialogue Gide-Greve, acte gratuit

Dorothee KIMMICH « Mundus vult decipi ». Pourquoi il faut imaginer l´imposteur heureux

Les imposteurs sont des personnes sans identité ; ils n´ont ni caractère, ni profession, ni famille, ni amis sincères. Ils sont toujours masqués et l’on s´attend à ce qu´ils soient démasqués, dans les textes comme dans la réalité. Mais dans la littérature moderne – chez Thomas Mann et Efraim Frisch – se trouvent des imposteurs qui évitent d´être démasqués et, de ce fait, deviennentt eux-mêmes des critiques d´une modernité défigurée.

Mots-clés : imposteur, modernité, identité, critique de la culture, imitation 300 RÉSUMÉS

Clemens KNOBLOCH Les questions sur le mensonge que l’on peut se permettre de poser aux spécialistes des sciences du langage et de la communication, et celles qu’il vaut mieux éviter

L’article rend compte de la manière dont les sciences du langage et de la communication tentent d’élaborer des modèles de description et d’analyse du phénomène du « mensonge ». Le courant structuraliste le situe hors de son champ d’investigation ; la théorie pragmatique des actes de langage s’enferre dans des contradictions, dans la mesure où ne peut exister un acte de langage « mentir » reposant sur une convention. Vers 1900, chez les philosophes, scepticisme envers le langage et critique de ce dernier s’articulent autour de l’affirmation que mensonge et tromperie sont inscrits dans la structure même des langues naturelles, ce qui relativise considérablement la différence entre véracité et mensonge chez le locuteur isolé. Si la langue ment, ce n’est plus le locuteur qui est en cause. La théorie néo-évolutionniste du signal coûteux (TSC) appliquée au mensonge avance l’argument que seuls les signaux de communication hautement coûteux pour l’émetteur peuvent être considérés comme sincères et fiables. Conséquence paradoxale de ce raisonnement : l’évolution des systèmes de signaux serait une perpétuelle course à l’armement, de plus en plus âpre, entre trompeurs de plus en plus roués et trompés potentiels de plus en plus clairvoyants (chose que l’évolution de la langue ne confirme pas). Ce qui constitue le noyau sémantique et pragmatique du mensonge, c’est un reproche moral menaçant pour la face (face threatening) pouvant être adressé au locuteur. Manifestement, le « mensonge » n’est pas une catégorie analytique valable.

Mots-clés : mensonge, théorie des actes de langage, philosophie du langage, théorie du signal coûteux, course à l’armement

Alain MALISSARD D’Homère à la rhétorique : un certain art du mensonge

On trouve dans les récits qui mettent en scène Iphigénie, Philoctète, Ulysse ou le cheval de Troie une apologie du mensonge, toujours présenté comme efficace, et même une critique de la vérité. À travers le Philoctète de Sophocle et le discours de Sinon, au chant deux de l’Énéide, on peut en analyser les raisons et les méthodes. Née avec la démocratie, qui lui offre la possibilité d’exprimer le pour et le contre devant un juge ou devant le peuple, la rhétorique utilisera à son tour, des Sophistes à Cicéron, l’ambiguïté fondamentale du discours pour persuader du vrai comme du faux, afin de toujours mieux défendre la « bonne » cause. Cet art du mentir, qui est un des risques de la liberté, pose ainsi autant la question de la rhétorique que celle des objectifs qu’elle s’assigne.

Mots-clés : mensonge, discours, sophistes, rhétorique, Cicéron

Jochen MECKE Une critique du mensonge par-delà le bien et le mal

L’article propose une critique extra-morale du mensonge tout en évaluant les fonctions de ce dernier et de sa condamnation catégorique pour l’individu et la société. En s'interrogeant sur les raisons pour lesquelles notre culture condamne d’une manière aussi RÉSUMÉS 301 radicale ce qu’elle pratique pourtant avec tant de fréquence, cette contribution développe une définition neutre et analyse plusieurs modalités du mensonge – la collusion, le mensonge objectif (Benjamin), le mensonge structurel – ainsi que leurs fonctions.

Mots-clés : critique du mensonge, mensonge au sens extra-moral, mensonge objectif, mensonge structurel, collusion

Rainer NÄGELE À propos de la critique de la sincérité

Depuis la fin du XVIIIe siècle, la rhétorique politique bourgeoise a fait du mensonge la chose la plus méprisable et de la sincérité la vertu par excellence. Or, elle ne veut pas admettre, malgré les critiques de penseurs éclairés – de Lessing jusqu’au XXe siècle en passant par Nietzsche –, qu’elle repose en cela sur l’insincérité. Depuis Jacob dans la Bible et le rusé Ulysse de l’Odyssée, le mensonge est l’un des éléments constitutifs de notre civilisation occidentale. Un constat qui suscite la réflexion et auquel le présent article est consacré.

Mots-clés : interdiction de mentir, histoire des discours sur le mensonge, rhétorique de la sincérité, Nietzsche, Benjamin

Gerhard NEUMANN Die letzten Masken. Réflexions sur le problème du mensonge chez Arthur Schnitzler

Dans l’œuvre d’Arthur Schnitzler, le traitement du problème du mensonge présente deux caractéristiques : il soulève, surtout, la question de sa fonction culturelle et, au-delà, celle des liens qu’il entretient avec les thèmes de l’amour et de l’érotisme. La pièce en un acte Große Szene (1914-1915), qui appartient au cycle Komödie der Worte, se prête tout particulièrement à l’exposé de cette configuration. Située dans le milieu théâtral, elle met en scène le mensonge comme partie intégrante de la « comédie des mots », au sein de laquelle l’art rhétorique parvient à lui conférer les traits de la vérité et inversement. Comparé à ce “drame satyrique”, le deuxième texte étudié ici, Die letzten Masken (1900- 1901), propose une variante plutôt tragique : l’échec, face à la mort, de la tentative de dire ce que l’on nomme (ou pourrait nommer) la vérité. À travers l’étude de ces deux textes, la pièce en un acte démontre ses qualités de « genre expérimental » (Hans-Peter Bayersdörfer) par excellence, dans la mesure où elle déploie et fait jouer jusque dans leurs moindres ressorts le large éventail des diverses conceptions du mensonge.

Mots-clés : genre expérimental, fonction culturelle, comédie des mots, rhétorique, esthétique 302 RÉSUMÉS

Gert SAUTERMEISTER Wallenstein – auto-aveuglement et fractures identitaires dans le champ de forces contradictoires de la politique

La notion de « Selbsttäuschung » (auto-aveuglement) est entendue ici au sens d’une attitude qui conduit Wallenstein à se mentir à lui-même, de façon inconsciente. Engendrée par une situation historique précise, elle se fonde sur une multitude d’intérêts et de motivations hétérogènes que sa conscience est incapable de pénétrer. Cette conception d’une personnalité par moments dissociée va à l’encontre de l’opinion généralement admise par la recherche, qui voit en ce héros du plus important des drames historiques de Schiller un personnage aux contours bien définis, au caractère structuré de manière immuable. Au cours de la pièce, la conjoncture historico-politique se rétrécit pour Wallenstein à un point tel qu’il se voit obligé de recourir à une simplification désastreuse de sa riche personnalité contradictoire en abandonnant toute éthique historique. Ainsi trahit-il la “vérité” de sa mission universelle. Il essaie d’entraîner dans ce destin fatal son jeune compagnon Max Piccolomini, qui, au prix de sa vie, lui oppose une résistance de nature morale. Cependant, l’utopie de la paix esquissée par le jeune Piccolomini survivra à sa mort – une vérité intemporelle qui requiert sa réalisation.

Mots-clés : Schiller, drame historique, auto-aveuglement, dissociation de la personnalité, utopie

Gert UEDING Ars est artem celare – Le mensonge considéré comme un art rhétorique

Depuis l’Antiquité, la rhétorique a réfléchi à la vérité et au mensonge au sens extra-moral. Elle ne s’occupe ni des évidences ni des vérités absolues, mais s’intéresse aux opinions vérifiées et au vraisemblable. Son modèle par excellence est le débat judiciaire. Dans un contexte dialectique et dialogique, le mensonge peut même contribuer à générer des solutions optimales à des problèmes donnés, comme l’a reconnu Hegel et, de façon plus radicale encore, Nietzsche.

Mots-clés : opinion, topique, monologue, dialogue, discours judiciaire RÉSUMÉS 303

Résumés en anglais

Hélène BARRIÈRE A false lie against a true one? Imagination and reality in Barbara Frischmuth’s Amoralische Kinderklapper (1969)

Co-founding Forum Stadtpark (1960), B. Frischmuth struggles against Austrian post-war conservatism based on the myth of a millennial country scarcely influenced by Nazism. Following the Austrian tradition of language criticism, young writers from Graz reject this lie: reality is not immutable; it is actually a language construction aiming at perpetuating the existing order. Amoralische Kinderklapper (1968), an adult book written about children, uses imagination - since Antiquity, imagination is a central question in the debate about truth, falsehood and codified discourse - as a two-pronged approach against conventional words meaning “reality”: this text places the weapon of the fantastic into children’s hands. The article analyses the link that exists between the potential of childhood imagination and fantastical « heresy » (R. Lachmann) which here operates not by means of fiction, but in the core of language itself. The conclusion questions the scope and viability of such a literary attempt.

Keywords: lie, B. Frischmuth, Forum Stadtpark, language criticism, post-1945 Austrian fantastic

Susanne BÖHMISCH “Of one thing I am sure: women lie also under hypnosis”. Lying and gender by Arthur Schnitzler

Viennese Modernism is characterised by an inflation of the semantics of lying, a perturbation of the existing gender order, and the return of misogynist theories on the mendacity and hypocrisy of women (Nietzsche, Schopenhauer, Möbius, Weininger). These are not free from contradictions: they consider falsehood and cunning to be typically feminine characteristics, and yet maintain their thesis of the inferior sex in spite of the fact that lies and deception require more intellect and creative spirit than honesty and sincerity. Schnitzler’s texts echo ideas that circulated in his time. We find therein the hedonistic, Nietzschean revaluation of lying, based on narrative devices that reveal how difficult it is for men to grant women the same right to lie that they allow themselves. In the generalisation of the lie, the male gaze loses its penetrating power, and women become even more enigmatic and less controllable. Many male figures hold fast to the cliché of the hypocritical nature of women, who are morally rejected for that reason, with the goal of reaffirming their own domination at moments when it is being threatened. The objective of this paper is to shed light on the discursive connection between the history of lies and the history of the differences between the sexes (Derrida) at the turn of the 20th century.

Keywords: lie, feminine ruse and wile, female hypocrisy, Schnitzler, gender 304 RÉSUMÉS

Jörg DÖRING/ David OELS Lie, falsification, plagiarism. On the form and procedures of precarious authorship

This paper discusses falsification and plagiarism as special forms of literary fiction in which the poet’s lie – mostly accepted, sometimes socially praised – is revalorized spontaneously if the lie is brought to light. What was supposed to be great art must have been ‘kitsch’ right from the outset. Authorship becomes precarious because the assumed congruity between author and his or her text and creation seems to be invalidated. The paper discusses this drama of revalorization using the following examples: George Forestier Ich schreibe mein Herz in den Staub der Straße (1952), Luciana Glaser Winterende (1990) und Binjamin Wilkomirski Bruchstücke (1995).

Keywords: falsification, plagiarism, paratext, precarious literary authorship, literary institution

Karl Heinz GÖTZE About some of Brecht’s attempts to explore lying

According to Brecht, lying always has been and will be beyond morals. What he is interested in is not to assess whether lying is reprehensible, but to establish experimental protocols to find out who is lying, when, why and with which consequences. The article analyses the ways Brecht stages lying throughout his different creative periods. Young Brecht, at the time he writes Baal, explores the relationship between civilisation and lying and supports the idea that man should free himself from civilisation to live out his desires – that would eliminate lying but neither egoism nor violence. Just after converting to Marxism Brecht, writing the “didactic pieces”, claims that political lies are necessary so as to abolish all lying at a later stage. The exile texts constantly hover over lying as conducive to survival, but always hand in hand with the “class” notion. All these forms of lying and more are to be found in the Life of Galileo, in which the growing complexity of Brecht’s reflexion on lying and truthfulness ends in the fact that dialectics, in the final analysis, does not give answers.

Keywords: sincerity, civilisation, staging of lying, didactic pieces, lying and survival, Galileo’s lie

Ingrid HAAG The “truthfulness” of the feminine nature and how lying is punished on the stage of “bourgeois theatre”

This contribution questions the problem of truth, or more accurately the postulate of truthfulness such as it has been codified by the system of bourgeois virtues in the 18th century. Its emphasis lay particularly on the representation of feminine “nature” inherent to this system. The bourgeois tragedy Emilia Galotti by Lessing raises the following question: Is Emilia, who is presented as a victim of the Court’s intrigue, not indeed sacrificed to the paternal image of womanhood with its postulates of purity and truthfulness? This question, which envisages the repressive and destructive potential of a certain humanist discourse, remains vivid up to Heiner Müller’s representations. “Happier” RÉSUMÉS 305 than Emilia is Minna von Barnhelm in the eponymous comedy: it is precisely through derogating to such an image of womanhood and recurring to ruse and lying that she manages to outplay the tragedy.

Keywords: Lessing, bourgeois virtues, truthfulness postulate, emancipation strategies, humanist discourse

Yasmin HOFFMANN Johann Strauss’ The Bat: a waltz of lies

To analyse the lying constructs in The Bat means to question on the one hand the specific conventions of vaudeville, which establish lying as the dramatic principle underlying the action and on the other hand to examine the function of lying as a screen designed to erase reality. In outlining The Bat’s genesis the article sets out to bring to the surface the social realities which have been covered up by both the labelling of the piece as “the most Viennese of operettas” and the supposed valorisation of foreign traits. The analysis focuses on status and function of illusion and shows that the motives of adultery, transgression, the exotic and vengeance are symptoms revealing the domestication of the dangers threatening the established order that is being conducted in the interest of the upper-middle classes at the end of the 19th century.

Keywords: operetta, Strauss, French model, lying as a screen, lying as the return of the repressed

Charlotte JANUEL Imposture or joke? Thomas Mann’s The Tales of Jacob against the background of the Book of Genesis

In the novel, The Tales of Jacob, the first volume in the tetralogy Joseph and his Brothers, Thomas Mann tells one of the best known lies in literature, namely that Joseph’s deception to Esau’s detriment in order to obtain his father’s benediction was a “good joke”. In this contribution, it will be shown how the narrator proceeds to impose this interpretation not as one possibility, but as the only one possible. The characters’ descriptions, the narrator’s position and the structure of the novel will be examined in comparison to the Book of Genesis.

Keywords: Thomas Mann, narrative strategy, myth, individual, reader’s complicity

Jochen JORDAN The psychology of lying

Lying is part of our everyday behaviour: it appears in every social context and is linked with all existing motivations. For our understanding of this kind of behaviour it is necessary to claim that lying is always a clear decision of the acting person (not to state the truth) and that the victim did not declare his agreement. As one cannot help communicating (Watzlawick), one cannot live without lying. Nevertheless people greatly 306 RÉSUMÉS differ as to the occurrence, the techniques and the destructiveness of their lies. This article discusses the most important motivations and techniques as well as their advantages and disadvantages. It also outlines the most important areas of scientific research (for example, lie detector, polygraph and body language).

Keywords: psychology of everyday behaviour, definition of a lie, lying techniques, lie detector, body language

Thomas KELLER Of truth and lying beyond their Franco-German meaning

This contribution proposes to reconsider the contrast between the devaluation of lying in Germany and the admittance of it in France, in the light of the reconstruction of pseudo- logical transcultural discussions. It reminds the reader of the situation around 1800, when Kant’s prohibition of lying collides with a repressive historical context; pragmatism prevents martyrdom (Constant, de Charrière). It shows how truth and lies assume vitalistic value around 1900 – according to Jean-Christophe (Rolland), truth is meant only for the strong. Gide and Greve enter into a dialogue about lying as a gratuitous act: they enact and mediate the whole richness of lying and dissimulation, including body language. The source of differences between cultures is not how frequently or how seldom they lie, but the kind of rapport they entertain with lying.

Keywords: Kant and lying, pragmatic function of lying, truth and life, dialogue between Gide and Greve, gratuitous act

Dorothee KIMMICH „Mundus vult decipi“. Why we have to imagine the impostor as achieving happiness

Impostors are people without identity._ They have neither character, nor profession or family. They do not even have real friends. They carry masks and one would expect them – especially in literature – to be unmasked at some point. In modern literature, though – as in Thomas Mann or Efraim Frisch – there are several impostors who can elude their own unmasking quite cleverly. This then, in turn, makes them into critics of a disfigured modernity.

Keywords: impostor, modernity, identity, culture critique, imitation

Clemens KNOBLOCH A few things you can ask a linguist about lying (and a few things you cannot)

This contribution presents various theoretical approaches taken by linguists, philosophers and communication experts when dealing with “lies”. While structural linguists lack professional access to lies altogether because of their exclusive focus on “systems of means” for communication, speech act theory gets mingled up in the paradox resulting from the fact that there cannot be a speech act of lying. Around 1900, sceptical philosophers of language claim that it is not individuals who lie. It is rather the natural RÉSUMÉS 307 languages themselves that are supposed to be faulty and deceptive – that in turn leaves the individual liar in a position of non-responsibility for what he or she claims. More recently it has been modern evolutionism that came to the fore with a model maintaining that only signals costly to the producer should be considered trustworthy by receivers, because cheap signals would tend to evolve for efficient deceit. Signal evolution thus would turn out to be to an escalating arms race between liars who tend to become ever more sophisticated and signal receivers who only survive by not getting trapped in an environment full of lies. The evolution of natural languages (which are rather cheap signalling systems) does not seem to confirm this view. All in all, what can be safely said about lying is merely that to accuse someone of a lie is a powerful and consequential attack on his moral integrity.

Keywords: Lie, speech act theory, philosophy of language, costly signalling, arms race

Alain MALISSARD From Homer to rhetoric: a certain art of lying

There is an apology of lies – always shown as effective – and even a criticism of truth in the narratives in which Iphigenia, Philoctetes, Odysseus or the Trojan Horse are staged. The reasons and the methods of such an apology can be analysed through Sophocles’ Philoctetes and Sinon's Speech in Book II of Virgil's Aeneid. Rhetoric was born with democracy, which allows anyone to express the supporting and opposing arguments before a judge or before the people; from the Sophists to Cicero, rhetoric uses the fundamental ambiguity of speech in order to convince one of truth or falsehood and to always better defend the “good” cause. This art of lying, as one of the risks of liberty, questions rhetoric as much as its objectives.

Keywords: lies, speech, sophists, rhetoric, Cicero

Jochen MECKE A critique of lying beyond good and evil

The article develops a critique of lying in an extra-moral sense and attempts to examine the functions of lying and its categorical condemnation for the individual and society. Starting with a neutral definition of lying, several forms and types of lying such as collusion or objective lying (Benjamin) or structural lies as well as their functions are analysed in order to give an answer to the question of why a society condemns in such a categorical way its frequent lying practices.

Keywords: critique of lying, objective lying, structural lies, collusion, categorical condemnation 308 RÉSUMÉS

Rainer NÄGELE On the critique of sincerity

Since the late 18th century, bourgeois rhetoric has declared lying as one of the most condemnable vices, and lifted up honesty to the pinnacle of bourgeois virtues. Despite the insightful critiques of this naive view by enlightened thinkers such as Lessing in the 18th and Nietzsche in the 19th century, the pathos and rhetoric of honesty still occupies much of public discourse today, even though it is based on insincerity. A historical-literary reflection on lying as a constitutive element of the self-understanding of Western culture is attempted here, through major figures such as Jacob in the Bible and the Homeric Odysseus, who embrace the necessity of lying. This essay is an attempt to think in a more differentiated way about truth and lies in our lives.

Keywords: prohibition of lying, history of discourses on lying, rhetoric of sincerity, Nietzsche, Benjamin

Gerhard NEUMANN Last Masks. Reflexions on the problem of lying in Arthur Schnitzler’s work

In Arthur Schnitzler’s work, the treatment of the problem of lying presents two characteristics: it asks the question of its cultural function and, above and beyond, that of the links it entertains with the themes of love and the erotic. The one act-play The Big Scene (1914-1915) belonging to the cycle Comedies of Words particularly lends itself to the analysis of these characteristics. Set in the milieu of theatre, it stages lying as part of the “comedy of words”, to which the rhetorical art lends the appearance of truthfulness, and vice versa. Compared with this “satirical drama”, the second text analysed here, Last Masks (1900-1901), offers a more tragic variation: the failure in the face of death to attempt to say what one calls, or could call, the truth. Through the analysis of these two texts, the one act-play demonstrates its qualities as an “experimental genre” (Hans-Peter Bayersdörfer) par excellence, because it unfolds and enacts the wide range of the different conceptions of lying in their utmost subtleties.

Keywords: experimental genre, cultural function, comedy of words, rhetoric, aesthetic

Gert SAUTERMEISTER Wallenstein – self-blinding and identity fractures in the contradictory force field of politics

The notion of « Selbsttäuschung » (self-blinding) is understood here as an attitude that leads Wallenstein to unconsciously lie to himself. Engineered by a specific historical situation, it rests upon a multitude of heterogenous interests and motivations that his conscience cannot penetrate. This notion of a personality that is at times split goes against the opinion which prevails amongst researchers, who tend to see in this hero of the most important of Schiller’s historical dramas a character with very defined contours and a stable temperament. In the course of the play, the historical and political conjuncture narrows itself to such an extent for Wallenstein that he sees himself forced to resort to a disastrous simplification of his rich and contradictory personality through discarding the RÉSUMÉS 309 whole history of ethics. Thus he betrays the “truth” of his universal mission. He tries to drag Max Piccolomini, his young fellow companion, into this fatal destiny, but the latter counters him with a moral resistance at the cost of his life. But the peace utopia that young Piccolomini has barely sketched will survive his death as a timeless truth requiring to be fulfilled.

Keywords: Schiller, historical drama, self-blinding, split personality, utopia

Gert UEDING Ars est artem celare – Lying considered as a rhetorical art

Since classical antiquity rhetoricians have reflected carefully upon truth and lies in an extra-moral sense. Rhetoric does not deal with self-evident or absolute truths, but with reasoned opinions and probabilities. The classic example is the legal argument. In a dialectical and dialogical exchange of ideas even lies can help generate the best solution to a problem, as Hegel observed and Nietzsche insisted.

Keywords: opinion, topic, soliloquy, dialogue, judicial oration

CAHIERS D’ÉTUDES GERMANIQUES

N° 60 (2011/1) Médiateurs — T. KELLER, Troubadours, romantiques, hérétiques. Les chemins franco- allemands en Provence. – D. WEBER, Le juriste aixois Joseph-Jérôme Siméon et l’instauration du Code civil au Royaume de Westphalie. – J. MECKE, Mittler zwischen Kulturen, Medien und Geschlechtern: Jules et Jim. – A. KOSTKA, Otto Dix peint Alfred Flechtheim (1926) : un marchand d’art cubiste sous l’œil critique de la Nouvelle Objectivité. Temporalités cachées de la médiation artistique franco-allemande. – J. WERTHEIMER, Makler – Mittler – Mediatoren: Zur Typologie einer unentdeckten Spezies. – M. PICKER, Von Mittlern und Medien: Der Film Metropolis und seine Kritiker. – K. MARMETSCHKE, Mittler zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit: Edmond Vermeils deutsch-französisches Verständigungsengagement zu Beginn der 1920er Jahre. – H. M. BOCK, Diesseits und jenseits der “nationalen Optik”. Robert Minder über wahre und falsche Mittler. – J. JURT, Besatzer, Umerzieher oder Vermittler. Kultur- und bildungspolitisch Verantwortliche in der Französischen Besatzungszone: Das Beispiel von Jacques Lacan, Kurator der Universität Freiburg 1945-1950. – S. ZAUNER, René Cheval (1918-1986): trojanisches Pferd zwischen Hahn und Adler? – T. KELLER, Kommunikatives Beschweigen auf Deutsch-Französisch – Vermittlung ohne Wahrheit? Pierre-Paul Sagave und seine Gesprächspartner Wilhelm, Heidegger und Emrich. – M.-A. LESCOURRET, Levinas-Heidegger : malaise dans la médiation. – C. TEISSIER, Une médiation sous contrainte : le cas de Gerhard Leo. – M. WEINSTEIN, Mandelstam et le Sud. – C. KARPENSTEIN-EßBACH, Hubert Fichte und die Montagne de Lure. – A. BUNZEL, La Provence, lieu de médiation interallemand : Erich Arendt/Christoph Meckel, “Reise in die Provence” et “Unterwegs”. 14,00 !

N° 61 (2011/2) Jeux de rôles, jeux de masques — Christina STANGE-FAYOS – Katja WIMMER, Avant- propos – Christina STANGE-FAYOS, La mascarade de l’anonymat dans le ‘débat public’ du XVIIIe siècle – Gilles BUSCOT, Les cérémonies de la (re)germanisation et de la (re)francisation à Strasbourg. Regard croisé sur des frontières urbaines (dé)masquées (1886-1928) – Claus ERHART, Don Juan oder die Masken der Verführung – Karl Heinz GÖTZE, Schillerkragen und Pelzmütze. Warum die Mode es schwer hat in Deutschland – Wolfgang FINK, La France : catholique et républicaine ? Les mises en garde d’Otto Grautoff contre le masque politique de la France – Ingrid HAAG, Rollen- und Maskenspiel im ‘Missbildungsroman’. Von Goethes Wilhelm Meister zu Heinrich Manns Der Untertan – André COMBES, Sur deux masques cinématographiques du “bourgeois démoniaque” weimarien – le gangster et le psychanalyste – dans Mabuse der Spieler de Fritz Lang (1922) – Catherine DESBOIS, Kurt Tucholsky : à cache-cache derrière les pseudonymes – Laurent GAUTIER, Faire tomber les masques du discours officiel de RDA par le défigement : le cas Volker Braun – Jean-Michel POUGET, Jeux de rôles, jeux de masques dans la sociologie de Norbert Elias – Hilda INDERWILDI, Jeux de masques avec la mort. Peinture et masque mortuaire dans l’œuvre d’Arnulf Rainer (*1929) – Susanne BÖHMISCH, Maskerade und Weiblichkeit bei Birgit Jürgenssen – Katja WIMMER, L’art de la métamorphose. À l’exemple de deux talents doubles 14,00 !

N° 62-63 (2012/1-2) Diables et spectres. Croyances et jeux littéraires — Françoise KNOPPER – Wolfgang FINK, Avant-propos – Daniel LACROIX, Visions et spectres dans la littérature norroise : aperçus sur la culture germanique ancienne – Patrick DEL DUCA, Le diable et la critique de la société courtoise dans Gregorius de Hartmann von Aue – Jean SCHILLINGER, Du Hosenteufel au Teutsch-Frantzösischer- Alamode-Teuffel : Le diable et la mode en Allemagne (XVIe et XVIIe siècles) – Dorle MERCHIERS, La stratégie du Diable dans l’Histoire du Docteur Faust (1587) : le recours au mensonge – Marie-Thérèse MOUREY, Le corps et le Diable – le Diable au corps ? De la transe à la danse, entre croyances, légendes et représentations (XVIe-XVIIIe siècles) – Florent GABAUDE, Protéisme du diable dans le théâtre et la publicistique au tournant du XVIIe siècle : les exemples de Heinrich Julius von Braunschweig et de Jakob Ayrer – Yves IEHL, De l’apparition fantomatique à la résurrection glorieuse : les divers visages de la mort dans Méditations dans un cimetière d’Andreas Gryphius – Thomas NICKLAS, Die Entmachtung des Teufels. Das Jenaer Ereignis 1715 und die Dämonologie der Aufklärung – Andrea ALLERKAMP, “Spekulation aus lauter Luft”: Kants Polemik wider die schlafende Vernunft – Wolfgang FINK, Vorsätzliche Bosheit verruchter Pfaffen… unwürdige Dummheit des allerunwissendsten Pöbels. L’affaire Anne Elisabeth Lohmann et les dernières querelles du diable 1759-1776 – Françoise KNOPPER, Du combat contre les croyances populaires à la représentation symbolique des diables et des spectres (1780-1800) – Denise BLONDEAU, Faust : Walpurgisnacht – Wolfgang FINK, Aufklärung über die Aufklärung ? Anmerkungen zu Jung-Stillings Geisterkunde (1808) – Claude PAUL, Au diable le nihilisme ! Lenau, Méphistophélès et le dépassement du “mal du siècle” – Christine SCHMIDER, “Votre cerveau ébranlé ne croit que ce qu’on lui fait voir”. Fantômes, fantasmes, fantasmagorie au XIXe siècle – Alain COZIC, Spectre, mort vivant et autre figure fatale dans trois nouvelles de Hanns Heinz Ewers – Dominique IEHL, Démons, enfer et spectres chez Heym : entre sécularisation et fascination – Sylvie ARLAUD, La représentation du spectre de Hamlet sur les scènes germanophones du XVIIIe au XXe siècle – Oriane ROLLAND, Die satanische Genesis des Bösen. Franz Werfels Versuch einer Rationalisierung des Bösen in Die schwarze Messe – Hilda INDERWILDI, Le diable fatigué et la fabrique de destruction : les incarnations du diable dans la littérature fantastique du début du XXe siècle. Autour de Die andere Seite (Alfred Kubin, 1909) et Die Stadt hinter dem Strom (Hermann Kasack, 1947) – Anne Isabelle FRANÇOIS, Lire ou ne pas (pouvoir) lire. Marque satanique, appareil judiciaire et ambiguïtés herméneutiques chez Kafka – Katja WIMMER, Images démoniaques. L’Enfer et le Ciel. Un roman d’exil d’Alexander Moritz Frey – Georg BOLLENBECK, Doktor Faustus: Das Deutungsmuster des Autors und die Probleme des Erzählers – Werner RÖCKE, Le rire du diable : mises en scène du mal et du rire dans l’Histoire du Docteur Faust (1587) et le Doktor Faustus de Thomas Mann 15,00 !

N° 64 (2013/1) Contre-cultures à Berlin de 1960 à nos jours – Jürgen HOFMANN, Preussisch, protestantisch, plebejisch. Berlins Entwicklung zu einer Metropole kritischer Gegenkultur – Brigitte MARSCHALL, « Berlin-Fieber » – explosiv! Wolf Vostells ewiger Widerstand gegen Krieg und Gewalt – Charlotte BOMY, Happenings étudiants et théâtre de rue : subversion de l’espace public autour de 1968 – Philippe MARTY, Lied contre chanson contre poème : sur Wolf Biermann et « Frühling auf dem Mont-Klamott » – André COMBES, Une cinématographie de la contre-culture politique ouvrière : la trilogie de Christian Ziewer et son contexte – Jeremy HAMERS, Autour de Holger Meins. Documentaire et lutte armée dans l’entourage de la DFFB après 1969 – Christophe PIRENNE, Le rock « cosmique » à Berlin-Ouest, bande sonore de la Guerre Froide – Andreas HÄCKER, Aufbegehren, lachen und die Welt verändern: zum libertären Kabarett -Trio Die 3 Tornados aus Westberlin – Catherine MAZELLIER- LAJARRIGE, Peter Stein à la Schaubühne, un engagement contre-culturel ? Kleists Traum vom Prinzen Homburg ou le basculement vers l’utopie – Boris GRÉSILLON, Contre-culture, musique et urbanisme : le cas emblématique de Kreuzberg, de la fin des années 1960 à aujourd’hui – Elisa GOUDIN- STEINMANN, Entre culture et contre-culture ? Le positionnement du secteur socioculturel dans le Berlin de l’après-unification – Florence BAILLET, Ce que devient le geste critique : l’exemple du Grips-Theater – Emmanuel BÉHAGUE, « Ich bin 1 Volk ». Chance 2000 : subversion et renaissance de l’espace public chez Christoph Schlingensief – Emilie CHEHILITA, Contre-culture et refus de la société hétéronormée dans Tal der fliegenden Messer (Ruhrtrilogie 1, 2008) de René Pollesch – Sylvie ARLAUD, Frank Castorf : de Kean à Hamletmaschine, ou le culte des contre-cultures 15,00 !

N° 65 (2013/2) Les classiques d’hier aujourd’hui – Frédéric WEINMANN, Mehr Licht! La belle mort des classiques – Stéphane ZÉKIAN, Sommes-nous sortis du XIXe siècle ? Le romantisme comme matrice historiographique – Klaus GERLACH, August von Kotzebue et le Siècle de Frédéric II. Histoire d’un succès inachevé – Alexandre CHÈVREMONT, L’émergence de la notion du classique dans la musique chez Amadeus Wendt (1783-1836) – Audrey GIBOUX, Hugo von Hofmannsthal et l’éloge du canon classique français. De l’exemplarité racinienne – Tristan COIGNARD, Christophe Martin Wieland, écrivain cosmopolite ? Les mutations dans la réception d’un classique paradoxal – Frédéric WEINMANN, C comme classique et S comme silence. Grass, lecteur des Grimm – Andrea GREWE, Le « Grand Siècle » dans le cinéma français contemporain. Destruction ou continuation d’un mythe ? – Emmanuel BÉHAGUE, Stratégies de démythification dans la mise en scène de Wilhelm Tell (Hansgünther Heyme, Claus Peymann, Samuel Schwarz) – Delphine KLEIN, Ulrike Maria Stuart d’Elfried Jelinek. Contre l’embaumement d’un classique – Sylvie ARLAUD, faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete de Ewald Palmetshofer. De la disgestion difficile des classiques – Bernard BANOUN, « Das Land der Sehnsucht ist die Erde nur ». Le Faust de Philippe Fénelon d’après Lenau – Laurence VIALLET, Image(s) actuelle(s) d’E. T. A Hofmann : un « utopiste sceptique » 15,00 !

N° 66 (2014/1) La Première Guerre mondiale un siècle plus tard. Culture et violence – Gangolf HÜBINGER, Le dévouement à la nation. Les combats d’idées entre 1911 et 1914 – Barbara BESSLICH, Das Land der Wirklichkeit und Das wirkliche Deutschland. Die kulturkritischen Transfers des Oskar A. H. Schmitz (1873-1931) zwischen Krieg und Frieden – Françoise KNOPPER, Guerre et journalisme culturel : les variantes du ‘feuilleton’ durant la Première Guerre – David WEBER, Démobilisation des esprits chez l’occupé et guerre des cultures : l’expérience de la Gazette des Ardennes – Janina ARNDTS, Heroismus und Defätismus - Alte und neue Feindbilder in den Chansons der Poilus – Joseph JURT, « Ah Dieu ! que la guerre est jolie » (Apollinaire). Die ästhetische Valorisierung des Krieges durch die französische Avantgarde – Jochen MECKE, Une esthétique agonale de la Grande Guerre – Claus ERHART, Ende Juli. Eine Fliege stirbt: Weltkrieg. Zu Robert Musils Wahrnehmung des Krieges – Dorothee KIMMICH, Über den Schmerz. Weltkriegstrauma in der Literatur – Thomas KELLER, Au- delà du bellicisme et du pacifisme : l’indifféren-tisme des avant-gardes – Jean-Marie GUILLON, John Norton Cru. Littérature et témoignage de la Première Guerre mondiale – Christa KARPENSTEIN- ESSBACH, Wie Erinnertes lebendig wird. Tote und Touristen in Hans Chlumbergs Wunder um Verdun – Johannes GROSSMANN, Der Erste Weltkrieg als deutsch-französischer Erinnerungsort? Zwischen nationalem Gedenken und europäischer Geschichtspolitik – Hans-Joachim LÜSEBRINK, La paradoxale productivité des temps de guerre et d'occupation. Des réflexions théoriques de Richard Cobb aux rencontres franco-germano-africaines de la Première Guerre mondiale – Isabell SCHEELE, La Première Guerre mondiale au Cameroun : une guerre des archives ? – Thomas LANGE, „Grab unerfüllter Möglichkeiten“ - Deutschland und Frankreich im Spiegel einer Erzählung aus dem französischen Exil: Ernst Erich Noth Paul et Marie (1937) 15,00 ! BULLETIN DE COMMANDE (à retourner directement à l’administration de la revue)

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