Plenarprotokoll 15/112

Deutscher

Stenografischer Bericht

112. Sitzung

Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/ neten ...... 10217 C DIE GRÜNEN) ...... 10195 B Dr. (FDP) ...... 10197 A Tagesordnungspunkt 21: (Wiesloch) (SPD) ...... 10199 A a) Antrag der Abgeordneten Gert Dr. Christian Ruck (CDU/CSU) ...... 102000000 AC Weisskirchen (Wiesloch), , Joseph Fischer, Bundesminister AA ...... 10201 D , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeord- Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU) ...... 10204 B neten Dr. Ludger Volmer, (SPD) ...... 10206 D (Augsburg), Marianne Tritz, weiterer Ab- Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) ...... 10209 A geordneter und der Fraktion des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN: Europa und Joachim Hörster (CDU/CSU) ...... 10210 A der Nahe und Mittlere Osten als Nach- barn und Partner der EU (Drucksache 15/3206) ...... 10191 A Tagesordnungspunkt 22: b) Antrag der Abgeordneten Dr. Friedbert a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Pflüger, Dr. Christian Ruck, Hermann Ernst Burgbacher, Rainer Brüderle, Gröhe, weiterer Abgeordneter und der , weiteren Abgeord- Fraktion der CDU/CSU: Für eine Part- neten und der Fraktion der FDP einge- nerschaft für Frieden und Stabilität im brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- größeren Mittleren Osten und in Nord- derung des Grundgesetzes (Art. 23) zur afrika Einführung eines Volksentscheids über (Drucksache 15/3050) ...... 10191 B eine europäische Verfassung (Drucksache 15/2998) ...... 10211 B in Verbindung mit b) Antrag der Abgeordneten , Dr. Gerd Müller, Michael Stübgen, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der Zusatztagesordnungspunkt 11: CDU/CSU: Den EU-Verfassungsprozess Antrag der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, zum Erfolg führen Dr. Werner Hoyer, Ulrich Heinrich, weiterer (Drucksache 15/2970) ...... 12211 B Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Für in Verbindung mit einen Helsinki-Prozess für den Nahen und Mittleren Osten (Drucksache 15/3207) ...... 10191 B Zusatztagesordnungspunkt 12: Gernot Erler (SPD) ...... 10191 D Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Die - Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU) ...... 10193 B päische Verfassung beschließen – der II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 erweiterten Union ein solides Fundament Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) für die Zukunft geben (CDU/CSU) ...... 10235 C (Drucksache 15/3208) ...... 10211 C Jürgen Trittin, Bundesminister BMU ...... 10237 B Dr. Werner Hoyer (FDP) ...... 10211 C Birgit Homburger (FDP) ...... 10238 C Rüdiger Veit (SPD) ...... 10212 D Dr. (SPD) ...... 10240 B Peter Hintze (CDU/CSU) ...... 10214 C Dr. Peter Paziorek (CDU/CSU) ...... 10241 B Ernst Burgbacher (FDP) ...... 10214 D Dr. Hermann Scheer (SPD) ...... 10241 D (FDP) ...... 10216 A Georg Girisch (CDU/CSU) ...... Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/ 10242 C DIE GRÜNEN)...... 10217 C Jürgen Trittin, Bundesminister BMU ...... 10244 A Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU) ...... 10219 A Georg Girisch (CDU/CSU) ...... 10244 B Michael Roth (Heringen) (SPD) ...... 10220 C Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/ Dr. Gerd Müller (CDU/CSU) ...... 10223 C DIE GRÜNEN) ...... 10244 C Joseph Fischer, Bundesminister AA ...... 10225 C Michael Stübgen (CDU/CSU) ...... 10245 D Dr. (FDP) ...... 10228 A (SPD) ...... 10247 A Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ Dr. (CDU/CSU) . . . . . 10247 D DIE GRÜNEN) ...... 10228 C Dr. (CDU/CSU) ...... 10250 D Axel Schäfer (Bochum) (SPD) ...... 10229 B (fraktionslos) ...... 10251 D Petra Pau (fraktionslos) ...... 10231 B Marie-Luise Dött (CDU/CSU) ...... 10252 B (CDU/CSU) ...... 10232 A

Zusatztagesordnungspunkt 15: Tagesordnungspunkt 23: Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- a) Antrag der Abgeordneten Gabriele schusses nach Art. 77 des Grundgesetzes zu Groneberg, Karin Kortmann, Dr. Axel dem Gesetz zur Neuordnung der einkom- Berg, weiterer Abgeordneter und der mensteuerrechtlichen Behandlung von Al- Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten tersvorsorgeaufwendungen und Altersbe- Thilo Hoppe, Hans-Christian Ströbele, zügen (Alterseinkünftegesetz – AltEinkG) (Köln), weiterer Abgeordne- (Drucksachen 15/2150, 15/2563, 15/2592, ter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ 15/2986, 15/3004, 15/3160, 15/3230) ...... DIE GRÜNEN: Globale Zukunfts- 10253 D sicherung durch die Förderung erneu- erbarer Energien in Entwicklungslän- dern vorantreiben Zusatztagesordnungspunkt 16: (Drucksache 15/3212) ...... 10233 D Beschlussempfehlung des Ausschusses nach b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Art. 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz zur Bericht über die Bestandsaufnahme Umsetzung der Richtlinie 2003/87/EG über durch die Deutsche Energie-Agentur ein System für den Handel mit Treibhaus- (dena) über den Handlungsbedarf bei gasemissionszertifikaten in der Gemein- der Förderung des Exportes erneuerba- schaft rer Energietechnologien (Drucksachen 15/2328, 15/2540, 15/2681, (Drucksache 15/1862) ...... 10233 D 15/2693, 15/2901) ...... 10254 A c) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNIS- Tagesordnungspunkt 24: SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Antrag der Abgeordneten Karl-Josef Nationalen Zuteilungsplan für Treib- Laumann, Dagmar Wöhrl, Veronika hausgas-Emissionsberechtigungen in der Bellmann, weiterer Abgeordneter und der Zuteilungsperiode 2005 bis 2007 (Zutei- Fraktion der CDU/CSU:Ausschreibungs- lungsgesetz – NAPG) praxis in der Arbeitsmarktpolitik effizient (Drucksachen 15/2966, 15/3224, 15/3237) 10234 A und effektiv ausgestalten (Drucksache 15/2826) ...... 10254 B Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin BMZ ...... 10234 B in Verbindung mit Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 III

Zusatztagesordnungspunkt 13: Umfeldes für die Flüchtlingsrückkehr und zur militärischen Absicherung der Frie- Antrag der Fraktionen der SPD und des densregelung für das Kosovo auf der BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Für eine Grundlage der Resolution 1244 (1999) des qualitätsorientierte und an den regionalen Sicherheitsrats der Vereinten Nationen Bedürfnissen ausgerichtete Ausschrei- vom 10. Juni 1999 und des Militärisch- bungspraxis von arbeitsmarktpolitischen Technischen Abkommens zwischen der In- Maßnahmen ternationalen Sicherheitspräsenz (KFOR) (Drucksache 15/3213) ...... 10254 C und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien und der Republik Serbien vom 9. Juni 1999 (Tagesordnungspunkt 6 a) . . . . 10263 C Tagesordnungspunkt 25: Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ver- Anlage 3 besserung der Bekämpfung der Jugendde- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung linquenz der Anträge: (Drucksache 15/1472) ...... 10254 D – Ausschreibungspraxis in der Arbeits- in Verbindung mit marktpolitik effizient und effektiv ausge- stalten Zusatztagesordnungspunkt 14: – Für eine qualitätsorientierte und an den re- gionalen Bedürfnissen ausgerichtete Aus- Antrag der Abgeordneten Jörg van Essen, schreibungspraxis von arbeitsmarktpoliti- , , weiterer schen Maßnahmen Abgeordneter und der Fraktion der FDP:Ju- gendstrafvollzug verfassungsfest gestalten (Tagesordnungspunkt 24 und Zusatztagesord- (Drucksache 15/2192) ...... 10254 D nungspunkt 13) Corinna Werwigk-Hertneck, Ministerin Klaus Brandner (SPD) ...... 10263 D (Baden-Württemberg) ...... 10255 A (CDU/CSU) ...... 10265 A Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ . 10256 C Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) DIE GRÜNEN) ...... 10264 A (CDU/CSU) ...... 10258 A Dirk Niebel (FDP) ...... 10268 A Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ Rezzo Schlauch, Parl. Staatssekretär DIE GRÜNEN) ...... 10260 A BMWA ...... 10269 A Sibylle Laurischk (FDP) ...... 10261 A Anlage 4 Nächste Sitzung ...... 10261 D Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung Anlage 1 der Bekämpfung der Jugenddelinquenz Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 10263 A – Beratung des Antrags: Jugendstrafvollzug verfassungsfest gestalten (Tagesordnungspunkt 25 und Zusatztagesord- Anlage 2 nungspunkt 14) Erklärung des Abgeordneten Franz Erika Simm (SPD) ...... 10270 A Müntefering (SPD) zur namentlichen Abstim- mung über die Beschlussempfehlung:Fort- setzung der deutschen Beteiligung an der Anlage 5 Internationalen Sicherheitspräsenz im Ko- sovo zur Gewährleistung eines sicheren Amtliche Mitteilungen ...... 10270 D

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(A) (C) Redetext

112. Sitzung

Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : Für einen Helsinki-Prozess für den Nahen und Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Mittleren Osten Sitzung ist eröffnet. – Drucksache 15/3207 – Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b Überweisungsvorschlag: sowie den Zusatzpunkt 11: Auswärtiger Ausschuss 21. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gert Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Weisskirchen (Wiesloch), Gernot Erler, Kerstin die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich Griese, weiterer Abgeordneter und der Fraktion höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Ludger Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Volmer, Claudia Roth (Augsburg), MarianneGernot Erler, SPD-Fraktion, das Wort. Tritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN (B) Gernot Erler (SPD): (D) Der Nahe und Mittlere Osten als Nachbar und Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Partner der EU heutige Debatte ist ein Anfang. Wir machen den ernst- haften Versuch, eine eigene parlamentarische Dimension – Drucksache 15/3206 – für eine internationale Diskussion über Chancen eines Überweisungsvorschlag: nachhaltigen Stabilisierungskonzeptes für die Großre- Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe gion des Nahen und Mittleren Ostens zu schaffen. Das Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und ist gleichzeitig ein Versuch, eine umfassende politische Entwicklung Antwort auf die Herausforderungen des globalen Netz- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union werkterrorismus zu finden. b) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDer Termin ist gut gewählt, um Vorschläge zu ma- Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Christian Ruck,chen und Erwartungen zu formulieren, denn wir stehen Hermann Gröhe, weiterer Abgeordneter und der vor einer Reihe von Gipfelereignissen, man könnte sogar Fraktion der CDU/CSU sagen: vor einem regelrechten Gipfelstakkato. Es fängt Für eine Partnerschaft für Frieden und Stabi- an mit den Feierlichkeiten zum D-Day in der Norman- lität im größeren Mittleren Osten und die, in geht über das G-8-Treffen in Sea Island und den EU- Nordafrika USA-Gipfel in Irland hin zum NATO-Gipfel in Istanbul. Die Erwartungen sind groß, dass diese Treffen Fort- – Drucksache 15/3050 – schritte bringen in Bezug auf das Thema Greater Middle Überweisungsvorschlag: East. Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Auch wir sind entschlossen, eigene Anstöße dazu ein- Verteidigungsausschuss zubringen. Das drückt sich in den drei Anträgen aus, die Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und die verschiedenen Fraktionen hier vorgelegt haben. Es Entwicklung gibt viele Gemeinsamkeiten zwischen ihnen, aber auch Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union unterschiedliche Akzent- und Prioritätensetzungen. Ausschuss für Kultur und Medien Jede Beschäftigung mit diesem Thema muss sich ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordnetenheute der Situation im Irak stellen. Die amerikanische Dr. Rainer Stinner, Dr. Werner Hoyer, UlrichPolitik dort ist gescheitert. Es ist ihr nicht gelungen, dem Heinrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Land Sicherheit zu bringen und einen politischen Neuan- der FDP fang sowie Übergang zur Stabilität zu organisieren. Aber 10192 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Gernot Erler (A) das ist nicht alles. Hinzu kommen drei Besorgnis erre- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) gende Punkte: DIE GRÜNEN) Erstens. Der Irak ist heute Schauplatz eines offenen Wir begrüßen, dass Präsident Bush endlich Distanz zu blutigen Konflikts – eines zweiten in dieser Region ne- einer Figur wie Ahmed Tschalabi und seinem INC, auf ben dem palästinensisch-israelischen –, durch den die dessen Konto viele gefährliche Fehleinschätzungen ge- ganze Region destabilisiert wird. hen, herstellt. Wir begrüßen, dass jetzt die Beratung ei- ner neuen Sicherheitsratsresolution möglich ist, die das Zweitens. Der Irak ist heute Teil einer direkten Front Besatzungsregime beenden und die politische Verant- mit den Kämpfern des global agierenden Terrorismus. wortung in die Hände einer neuen, souveränen Interims- An dieser Front werden den Einheiten der Vereinigten regierung legen soll. Staaten und ihrer Verbündeten immer wieder schwere und tragische Verluste zugefügt, die häufig verbunden Wir sind davon überzeugt, dass eine durchgreifende sind mit Verlusten bei der irakischen Zivilbevölkerung. Verbesserung der Sicherheitslage vor Ort aber nur dann erreicht werden kann, wenn es tatsächlich einen klaren Der dritte Punkt ist der schlimmste: Die Entwicklung Schnitt zum Bisherigen gibt und wenn die irakische Sou- im Irak hat Osama Bin Laden seinem strategischen Ziel, veränität nicht eine fiktive, sondern eine tatsächliche einen Riss zwischen der westlichen und der arabisch-is- sein wird. lamischen Welt zu schaffen und einen Kampf der Kultu- ren zu organisieren, näher gebracht. Vor allem die Be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ richte und Bilder Misshandlungen von und DIE GRÜNEN) Folterungen irakischer Männer und Frauen durch ame- Der bisherige Resolutionsentwurf bleibt dabei in ent- rikanische Soldaten haben zu dieser äußerst gefährlichen scheidenden Fragen unklar: Wie soll sich das Verhältnis Entwicklung beigetragen. der neuen Interimsregierung zu der künftig Multinatio- Nüchtern und mit großer Sorge müssen wir feststel- nal Force genannten Sicherheitsgruppierung gestalten? len: Wir sind, ohne uns wehren zu können, Teil dieser Wie sollen Verantwortung und Befehlsgewalt zwischen Auseinandersetzung, weil die westliche Führungsmacht den irakischen Sicherheitskräften einerseits und der diesen Krieg mit all seinen Problemen und Fehlern im Multinational Force andererseits abgegrenzt und organi- Namen westlicher Werte führt. Deswegen befinden wir siert werden? Ohne eine klare Antwort auf diese Fragen uns als Teil der westlichen Welt in unfreiwilliger Mithaf- sind die Erfolgsaussichten des Neuanfangs gering. Oder tung. Das übrigens gibt uns auch das Recht, Fragen an gibt es hier wirklich jemanden, der glaubt, dass die bloße die Verantwortlichen zu stellen und Erwartungen zu äu- Umbenennung von Okkupationskräften in Multinational Force mit denselben 138 000 amerikanischen Soldaten, (B) ßern, (D) denselben Koalitionstruppen, denselben Komman- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dostrukturen, vielleicht lediglich verbunden mit einer DIE GRÜNEN) Konsultationspflicht bezüglich der neuen Interimsregie- rung, ausreicht, um die Gewalttätigkeiten, die täglich ge- zum Beispiel im Hinblick darauf, ob das Problem dergen die bewaffneten Kräfte stattfinden, tatsächlich zu be- Misshandlungen wirklich auf Verfehlungen von einigen enden? wenigen Soldaten reduziert werden kann oder ob hier doch ein angeordnetes System zur Einschüchterung und Es ist noch Zeit zur Nachbesserung; wir müssen sie Demütigung von Gefangenen angewandt wird, um bes- nutzen. sere Befragungsergebnisse zu erzielen, aber auch im (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Hinblick darauf, ob der Schaden, der dadurch für das DIE GRÜNEN) Image und das Prestige der westlichen Führungsmacht und damit der ganzen westlichen Welt in immensemDer Mut, durchgreifend etwas zu verändern, muss noch Umfang entstanden ist, begrenzt werden kann und wer wachsen. Dabei könnte die nüchterne Erkenntnis hilf- dabei die fachliche und wer die politische Verantwortung reich sein, dass sich die Koalitionstruppen – nach eige- übernimmt. nen Angaben – zu 90 Prozent mit Eigensicherung be- schäftigen müssen und dass es für die Iraker bisher (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ eigentlich vor allem dann gefährlich wurde, wenn sie in DIE GRÜNEN) die Nähe solcher Einheiten geraten sind, denn da finden Wir haben gerade wegen dieser unfreiwilligen Mithaf- die Anschläge statt. Widersinnigerweise ist man umso tung das Recht, Antworten auf die Fragen zu bekommen. sicherer, je weiter man von den Sicherungsgruppen ent- fernt ist. Wir begrüßen – das sage ich auch im Namen der Zu der Sourveränitätsübertragung auf eine eigene SPD-Bundestagsfraktion –, dass sich die amerikanische irakische Regierung mit Autorität gibt es keine Alterna- Politik ändert und jetzt Fehler korrigiert. Wir begrüßen, tive. Aber die Übergabe der Verantwortung in irakische dass sie die Vereinten Nationen stärker in den Stabilisie- Hände darf keine Mogelpackung sein; sie muss überzeu- rungsprozess einbezieht. Wir können nur hoffen, dass gen. die Autorität von Lakhdar Brahimi ausreichen wird, um jetzt eine Übergangsregierung zu schaffen und Perso- Von den nächsten Wochen hängt viel ab. Eine neue nen zu benennen, die in der irakischen Bevölkerung eine politische Partnerschaft des Westens mit der Großregion Chance auf Vertrauen bekommen. des Nahen und Mittleren Ostens braucht Fortschritte im Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10193

Gernot Erler (A) Irak und braucht auch Fortschritte bei der Beilegung des vor dem 11. September war erkennbar, dass sich im gan- (C) anderen blutigen Konflikts, nämlich des Konflikts zwi- zen Größeren Mittleren Osten und in Nordafrika eine ex- schen Israelis und Palästinensern. Deswegen muss jede plosive Situation heranbildet. Vom Maghreb bis nach Strategie für einen Greater Middle East mit Bemühun- Pakistan zieht sich seit langem ein Krisenbogen der In- gen um eine Lösung für diesen beiden Konflikte begin- stabilität. Das reale Pro-Kopf-Einkommen in der arabi- nen. schen Welt sank im letzten Jahrzehnt jährlich um 2 Prozent. Das ist der größte Einkommensverlust ir- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gendeiner Region in der Welt. DIE GRÜNEN) Aber mangelnder Fortschritt bei der Lösung dieser Die dortige demographische Entwicklung ist das beiden Konflikte darf keine Aktivitäten verhindern und Gegenteil unserer demographischen Entwicklung. Von darf nicht zum Vorwand genommen werden, nicht über den 1,3 Milliarden Muslimen auf der Welt ist über die die Stabilität der Großregion des Nahen und Mittleren Hälfte jünger als 20 Jahre. Im Jahre 2010 wird die Zahl Ostens nachzudenken. Wir müssen aus der Sackgasse der Berufsanfänger auf dem Arbeitsmarkt gegenüber herauskommen: Die einen sagen, erst müsse eine Demo- 1990 in Algerien, Ägypten und Marokko um 50 Prozent, kratisierung stattfinden, bevor man überhaupt zu einer in Syrien sogar um 100 Prozent gestiegen sein. Eine Konfliktlösung kommen könne, und die anderen sagen, Volkswirtschaft kann noch so dynamisch sein; sie wird bevor es nicht zu einer Konfliktlösung komme, mache es nicht in der Lage sein, diesen vielen jungen Menschen gar keinen Sinn, über ein Gesamtkonzept für diese Groß- Arbeit und Perspektive zu vermitteln. region zu reden. Diese Sackgasse ist entstanden; wir Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und Würdelosig- müssen aus ihr herausfinden. keit sind der ideale Nährboden für Terroristen. Wenn wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den Terrorismus bekämpfen wollen, dann ist es – neben DIE GRÜNEN) allen polizeilichen Maßnahmen bei uns – sehr wichtig, die sozialen und politischen Wurzeln des Terrorismus Dabei muss uns auch klar sein, dass eine ideologische glaubwürdig zu bekämpfen. Deshalb debattieren wir Form eines Demokratisierungskonzepts nicht weiter-heute im Deutschen Bundestag über eine Initiative für führt. Man muss doch zugeben, dass es sich gerade bei eine engere und tiefere Partnerschaft mit den Ländern dem israelisch-palästinensischen Konflikt um einen Nordafrikas und des Mittleren Ostens. Das ist gut und Konflikt zwischen zwei Staaten handelt, die im Ver-wichtig. gleich zu anderen Staaten demokratisch legitimierte Re- gierungen haben. Das ist ganz gewiss der Fall bei Israel (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und auch die palästinensische Autonomiebehörde ist im (B) Ich habe gestern zusammen mit dem Kollegen Ruck, (D) Vergleich zu anderen arabischen Staaten demokratisch dem Kollegen Gröhe und anderen aus unserer Fraktion legitimiert. Das ist ein Hinweis darauf, dass man nicht mit 15 arabischen Botschaftern über unseren heutigen automatisch davon ausgehen kann, dass es zwischen de- Antrag diskutiert. Vor dem Hintergrund dieses Ge- mokratischen Ländern keine blutigen Konflikte gibt und sprächs mit den Botschaftern möchte ich an dieser Stelle deswegen die Demokratie – die man notfalls von außen auf einige Punkte hinweisen, von denen die Glaubwür- mit Gewalt einführt – das Allheilmittel ist. Wenn man digkeit unserer westlichen Initiativen in den nächsten diese Automatik zugrunde legt, muss man scheitern. Das Wochen und Monaten abhängt: ist nicht die Lösung. Das ist der Hintergrund für unsere Bemühungen. Wir Erstens. Wir müssen bei all dem, was wir tun, immer müssen gemeinsam an Konzepten für einen gesamtstra- zwischen dem Islam und dem militanten Islamismus un- tegischen Ansatz für diese Region arbeiten. Wir müssen terscheiden. uns über die entsprechenden Instrumente unterhalten. (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Toll! – Diese Debatte ist nur ein Anfang. Die Fraktionen des Zuruf von der SPD: Vielen Dank für diesen Deutschen Bundestages sollten sich vornehmen, diese Hinweis! – Weitere Zurufe von der SPD und Debatte intensiv weiterzuführen und auf diese Weise den dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) für die Weltpolitik wichtigen diplomatischen Prozess aus parlamentarischer Sicht zu begleiten. Es ist unendlich wichtig, dass wir die großen toleranten Traditionen des Islam, etwa das Kalifat von Cordoba Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. vor 1 000 Jahren, die großen Bemühungen in der islami- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schen Welt auch heute, für Aufklärung und Korankritik DIE GRÜNEN) einzutreten, und auch die demokratischen Ansätze der Schura-Tradition des Islam würdigen und entsprechend darauf reagieren. Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Friedbert Pflüger. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Es gibt im Koran die Sure 2,256, die besagt, dass in Glaubensdingen kein Zwang herrschen soll. Der Groß- Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): scheich der ehrwürdigen Al-Azhar-Universität in Kairo, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undMohammed Tantawi, hat neulich in der „Frankfurter Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon lange Allgemeinen Zeitung“ Folgendes gesagt: 10194 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Dr. Friedbert Pflüger (A) Der Islam ist gegen alle Formen und Facetten des kenntnisse seien und diese Regime das nicht so meinten. (C) Terrorismus … Wir sind nicht damit einverstanden, Aber es wird damit für die Menschen – denken wir nur dass sich jemand inmitten unschuldiger Menschen, an den KSZE-Prozess – eine Berufungsinstanz geschaf- Frauen und Kinder in die Luft sprengt … Es steht fen. Dort tut sich etwas. An diesen Ansätzen müssen wir außer Zweifel, dass jeder Staat, der einen Terroris- anknüpfen und sie unterstützen. Wir dürfen ihnen nicht ten, der rechtlich Verurteilte beherbergt und ihnen unsere Konzepte überstülpen, sondern mit ihnen an der Unterschlupf bietet, ein terroristischer Staat ist … Verbesserung und Modernisierung ihrer Gesellschaft ar- Terrorismus bedeutet: Friedfertige in Angst zu ver- beiten. Darum geht es. setzen … Wer Terrorismus fördert, wird an ihm zu- grunde gehen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Das sagt eine der großen Autoritäten der islamischen Welt. Viertens. Der nächste Punkt ist nicht ganz leicht. Aus der muslimischen Welt wird immer wieder gesagt: Ihr Es ist ganz wichtig, dass wir nicht in einen Kampf der messt mit doppelten Standards. Wenn der Iran etwas Zivilisationen, des Christentums gegen den Islam, des macht, ist es abgrundtief böse, und wenn es inSaudi Abendlands gegen den Orient, verfallen, sondern dass Arabien geschieht, wo es den Wahhabitismus gibt, also wir die Terroristen mit der großen Mehrheit der friedlie- ein radikales islamisches Regime, deckt ihr den Mantel benden Muslime isolieren und bekämpfen. Das ist un- des Schweigens darüber, weil es eine prowestliche Re- sere politische Aufgabe. gierung ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Solange wir uns solche doppelten Standards erlauben, neten der FDP) nehmen uns die jungen Muslime nicht ernst, wenn wir Zweitens. Wenn wir über eine Initiative für den grö- Demokratie und Menschenrechte predigen. Man kann es ßeren Nahen Osten sprechen, dann ist es von sehr großer in der Politik nie 100-prozentig machen. Wir sind nicht Bedeutung, dass wir klar machen, dass das kein Ersatz Amnesty International; es gibt realpolitische Kompro- für eine Lösung des Nahostproblems ist. Der Stachel des misse und Notwendigkeiten.Aber ein bisschen mehr Palästinaproblems sitzt überall in der arabischen Welt eindeutige Standards und weniger Doppelzüngigkeit tief. Das ist das Problem Nummer eins. Wir werden zwi- sind dringend notwendig, wenn wir die Herzen junger schen unserer Welt und der islamischen Welt keinenMuslime gewinnen wollen. Frieden finden, wenn dieser Konflikt nicht fair, gerecht und dauerhaft gelöst wird und wenn in dieser Region die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Gewalt auf beiden Seiten nicht endlich ein Ende hat. Das bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- (B) (D) ist die Voraussetzung für jede Form von Dialog mit der NISSES 90/DIE GRÜNEN) arabischen Welt. Fünftens. Die Chance, Wandel und Menschenrechte (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- in den Ländern des größeren Mittleren Ostens und Nord- neten der FDP) afrikas zu unterstützen, erhalten wir nur, wenn die Werte, für die wir stehen, auch deutlich erkennbar blei- Drittens. Mit unserem Angebot für eine Partnerschaft ben. Insofern haben die Bilder von Folter und Demüti- dürfen wir unter keinen Umständen den Versuch ver-gungen von Irakern eine katastrophale Wirkung. Sie dis- knüpfen, wir wollten unsere Wertvorstellungen, unsere kreditieren all das, wofür die westliche Welt und auch Formen der Demokratie, des Westminster-Parlamenta- Amerika stehen, nämlich Menschenrechte und Men- rismus, anderen Länden überstülpen. Wir wollen keinen schenwürde. Natürlich kann man darauf hinweisen, dass Kulturimperialismus, keine Belehrungen. Wir haben kei- bei Saddam über Jahre und Jahrzehnte viel brutaler, viel nen Grund, andere von Europa aus zu belehren. In der umfassender und viel schlimmer gefoltert worden ist. muslimischen Welt hört man, wenn wir mit Demokratie- Aber wir in der westlichen Welt haben unsere eigenen konzepten ankommen, immer wieder die Frage: Washohen Standards. Wir müssen alles dafür tun, dass diese habt ihr denn im letzten Jahrhundert über die Welt ge- Vorgänge aufgeklärt werden und dass die Verantwortli- bracht? Darauf kann man nur schwer reagieren. Wir ha- chen zur Rechenschaft gezogen werden; sonst können ben keinen Grund zur Überheblichkeit. Wir wollen nicht wir die Glaubwürdigkeit, die wir zum Dialog mit der is- unsere Demokratiemodelle durchsetzen; aber wir wollen lamischen Welt brauchen, nie wieder erzielen. mehr Einhaltung der Menschenrechte, mehr Freiheit und mehr Partizipation. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Dazu gibt es doch inzwischen in der arabischen Welt selbst hochinteressante Papiere. Es hat in den letzten Sechstens. Vor dem Hintergrund der hohen Arbeitslo- Wochen Kommentare nur dahin gehend gegeben, dass sigkeit und der sozialen Ungerechtigkeit geht es darum, der arabische Gipfel von Tunis fehlgeschlagen sei. den Globalisierungsprozess sozial zu gestalten und ihm Schauen wir einmal genauer hin: In der 13-Punkte-Er- einen politischen Rahmen zu geben. Die Öffnung unse- klärung von Tunis stehen zum ersten Mal in einem sol- rer Märkte für die Produkte aus diesem Teil der Welt ist chen Dokument viele wirkliche Bekenntnisse zu denvon großer Wichtigkeit. Freihandel zu fördern – aber Rechten der Frauen, zu Partizipation, Gewaltenteilung wirklichen Freihandel –, Entwicklungspolitik zu betrei- und zur Begrenzung von Amtszeiten. Das ist eineben, dort die Demokratie zu fördern, durch Aufklärungs- Chance. Sie können dazu sagen, dass das Lippenbe-projekte einen Beitrag dazu zu leisten, dass die Bevölke- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10195

Dr. Friedbert Pflüger (A) rung vielleicht nicht mehr ganz so schnell wächst wie litik der Administration von Präsident Bush. So deutlich (C) bisher, das ist von großer Wichtigkeit. muss man das sagen. Siebtens. Wir müssen diekulturelle Zusammenar- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beit ausbauen, viel mehr über den Islam, seine Unter- und bei der SPD) schiede und die verschiedenen islamischen Länder wis- sen und sie besser verstehen. Deswegen ist es falsch, die Wir sehen, dass es unmöglich ist, Demokratie herbeizu- Mittel für auswärtige Kulturpolitik zu kürzen. bomben. Wir sind uns in der Zielsetzung Demokratisie- rung einig. Aber man kann Demokratie nicht mit Waf- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fengewalt herbeizwingen, insbesondere dann nicht, wenn man ständig die Würde der Menschen verletzt, die Ich bin gerade in fünf Ländern am Persischen Golf man zur Demokratie bekehren möchte. gewesen. Auf der ganzen arabischen Halbinsel gibt es nicht ein Goethe-Institut. Das müssen wir ändern, wenn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wir es mit dem Dialog mit der Welt des Islam ernst mei- und bei der SPD) nen. Sehen wir uns das Sicherheitsdesaster an. Es war (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- doch absehbar, dass kein Plan existierte, wie der Wieder- neten der FDP) aufbau nach dem Krieg einer Hightecharmee gegen eine Mein letzter Gedanke: Es ist nicht so, dass für alles, mittelmäßig bewaffnete Dritte-Welt-Armee zu gesche- was in der islamischen Welt passiert, der Westen Verant- hen habe, wie regionale Stabilität gewährleistet werden wortung trägt. Natürlich hat es die Zeit des Kolonialis- könne. Heute muss die Bush-Administration auf die mus gegeben, natürlich hat es enorme Fehler im Verhält- Kräfte zurückgreifen, die sie bekämpft hat, nämlich die nis zur islamischen Welt gegeben. Aber es geht nicht, alten Sicherheitsorgane von Saddam Hussein. Das ist dass die Muslime immer nur uns verantwortlich machen doch der völlige Bankrott der Sicherheitspolitik, die dort und sich selbst entlasten. Sie müssen auch selbst an der angestrebt wurde. Modernisierung, an der Öffnung und an der Reform ih- Was zeigen uns die Folterorgien der letzten Monate rer Länder mitwirken. Wir erwarten von den Muslimen mit den schrecklichenMenschenrechtsverletzungen? in aller Welt – auch von denen, die bei uns leben –, dass Man hatte den Anspruch, Demokratie zu exportieren – sie sich deutlicher als bisher in Wort und Tat von denund man exportierte Folterknechte. Das ist doch der to- Terroristen und extremistischen Islamisten absetzen.tale moralische Bankrott eines bestimmten Anspruchs, Dieses Recht auf ihre Mitarbeit und auf ihre Modernisie- der angeblich für die gesamten westlichen Werte steht. rungsanstrengung haben wir genauso, wie sie das Recht (B) auf unsere Unterstützung und Sympathie haben. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ (D) DIE GRÜNEN und der SPD) Ich danke Ihnen. Gegen diesen Anspruch müssen wir uns wehren. Wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) müssen von den amerikanischen Freunden und Partnern fordern – ich begrüße, dass der Außenminister das bei Präsident Wolfgang Thierse: seiner Rede sehr deutlich gemacht hat –, dass die Dinge Ich erteile das Wort Kollegen Ludger Volmer, Frak- aufgeklärt und die Verantwortlichen bestraft werden. tion des Bündnisses 90/Die Grünen. Wir hoffen, dass der Schaden, der durch diesen doppel- ten – politischen und moralischen – Bankrott angerichtet wurde, durch eine UNO-Resolution zumindest einge- Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dämmt werden kann, die möglichst bald die Irakisierung Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Koali- des Konfliktes in die Wege leitet. tionsfraktionen legen heute einen Antrag vor, der dreier- lei leisten möchte: Er möchte den transatlantischen Dia- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN log über Sicherheitsfragen wieder aufnehmen und in die sowie bei Abgeordneten der SPD) richtige Richtung umlenken, Meine Damen und Herren, doppelte Standards wirft (Zuruf von der FDP: Das wird aber auch Zeit!) uns die islamisch-arabische Welt vor. Wir wissen nur zu er möchte die Debatte innerhalb der EU über die strate- gut, dass sich viele Despoten des Orients mit ihren eige- gische Dimension der europäischen Politik vertiefen und nen doppelten Standards hinter den Fehlern des Westens er möchte einen substanziellen Dialog zwischen dem so verstecken. Umso wichtiger ist es, dass wir eine Fehler- genannten Westen und der arabisch-islamischen Weltaufarbeitung vornehmen und einen Neuansatz für einen über Modernisierung, Demokratisierung und Umsetzung grundlegenden Dialog zwischen unserem westlichen der Menschenrechte mitinitiieren. Kulturkreis und dem islamisch-arabischen Kulturkreis finden. Das geht nicht mehr mit dem moralischen Zei- Dieser Antrag ist überfällig, weil uns die Krisen der gefinger. Dieses Recht haben wir durch den moralischen letzten Monate eindrücklich vorgeführt haben, dass die Bankrott verspielt, den die Folterorgien mit sich ge- Politik des „Weiter so!“, dass die reine Machtpolitik, die bracht haben. auf militärische Projektion setzt, gescheitert ist. Wenn wir über Versagen reden, müssen wir auch über Sehen wir uns die Situation im Irak an. Im Irak erle- die Haltung einiger Kräfte in diesem Hause vor einem ben wir das Desaster einer ideologisch verblendeten Po- Jahr reden. Ich erinnere mich noch sehr gut daran – man 10196 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Dr. Ludger Volmer (A) brauchte sich nur die Sendung von Frau Illner gestern auf den Koran berufen. Auch in dieser Hinsicht haben(C) Abend anzuschauen –, wie die Vorsitzende der CDU/wir zumindest mit den Modernisierungskräften in der CSU-Fraktion noch vor einem Jahr argumentiert hat.islamischen Welt ein gemeinsames Interesse. Wir erinnern uns an ihre Kniefälligkeit gegenüber Präsi- dent Bush, mit der sie die Opposition in den USA und in Zum Nahostkonflikt ist bereits einiges gesagt worden. Europa geschwächt hat – Diesen zu lösen ist in diesem gesamten Kontext die zen- trale Aufgabe. Wir wissen, dass es ohne eine Lösung des (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: War er einmal Nahostkonflikts auf der Basis von Zweistaatlichkeit und Staatsminister?) gegenseitigem Gewaltverzicht, wie es in der Roadmap vorgezeichnet ist, keine grundlegende Neuverständigung dies alles aus der wahnhaften Vorstellung heraus, wenn zwischen der arabischen Welt und dem Westen geben sich die kleine Bundeswehr in einem Bedrohungsszena- wird. Beide Aspekte bedingen sich gegenseitig. Wir rio an die Seite der großen US-Armee stellte, würde müssen beide Projekte, die Lösung des Nahostkonflikts Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen abrüsten, und den Versuch, diesen umfassenden Dialog aufzuneh- die er überhaupt nicht hatte. Dies war die Absurdität der men, gleichzeitig beginnen. Politik der CDU/CSU. Zudem frage ich mich, Frau Merkel, wie Sie es recht- Dass sich Europain diesem Kontext ein neues fertigen können, zu sagen: Wir wollten mitdrohen, aber Selbstverständnis und ein neues Selbstbewusstsein zu für den Fall, dass Saddam nicht reagiert hätte, hätten wir Eigen machen muss, liegt auf der Hand. Europa muss uns natürlich nicht militärisch beteiligt. „Bellen, ohne zu seine strategische Dimension erkennen, wie es der beißen“, das ist offensichtlich das Motto Ihrer Sicher- Außenminister in seiner Münchener Rede ausgedrückt heitspolitik. hat. Die Europäische Union muss zu einem Selbstver- ständnis kommen, in dem sie sich als handelndes Sub- (Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Beißen, ohne zu jekt und nicht mehr nur als eine Arena sieht, in der die bellen!) einzelnen Teilnehmerstaaten ihre nationalen Interessen ausagieren. Am besten wäre es, wenn neben der europäi- Wie unglaubwürdig sie ist, weiß jeder Sicherheitspoliti- schen Sicherheitsstrategie, die eine gute strategische ker. Deshalb sage ich Ihnen: Wenn Sie 2002 an die Orientierung bietet, der gemeinsame Verfassungsvertrag Macht gekommen wären, dann wäre Deutschland heute verabschiedet würde und so endlich das Selbstverständ- in demselben Schlamassel, in dem die USA sind. nis Europas als politisch handelndes und strategisches (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch Subjekt festgeschrieben würde. Quatsch, was Sie da erzählen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) Dann hätten wir Anteil an dem moralischen Bankrott und bei der SPD) (D) dieser Politik. Wenn Sie daran beteiligt gewesen wären, hätte die arabisch-islamische Welt heute vielleicht sogar Meine Damen und Herren, im Kontext des Dialogs zu Recht den Eindruck, es ginge um einen Kampf der zwischen dem Westen und der orientalischen Welt kann Kulturen. Es war diese Koalition, die durch die rot-grüne ein Land eine Schlüsselrolle spielen und einen geradezu Außenpolitik zusammen mit unseren Freunden in Frank- strategischen Stellenwert einnehmen: dieTürkei. Des- reich, Belgien und anderswo verhindert hat, dass es in halb möchte ich diesen Punkt ansprechen. Denn meine der Wahrnehmung der arabisch-islamischen Welt zuKritik an der Irakpolitik der CDU/CSU habe ich vorhin einem Clash of Civilizations gekommen ist. nicht aus Rechthaberei formuliert, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Zurufe von der CDU/CSU: Oh, nein! – Natür- und bei der SPD) lich nicht!) Auf diese Politik sind wir stolz. Dazu erwarten wir von sondern weil ich befürchte, dass, nun bezogen auf die Ihnen noch immer ein klares Wort. Türkei, der gleiche strategische Fehler erneut gemacht wird. (Dieter Grasedieck [SPD], zur CDU/CSU ge- wandt: Zuhören wäre gut da hinten! – Volker (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kauder [CDU/CSU]: Sie sind zu Recht abge- sowie bei Abgeordneten der SPD) löst worden!) Aus einer diffusen Ablehnung gegenüber Moslems Der west-östliche Dialog steht auf der Tagesordnung. – Herr Pflüger hat zwar versucht, etwas anderes zu sug- Er muss sich um Modernisierung, Demokratisierung und gerieren – und aus einer irrationalen, emotionalen Bin- Menschenrechte drehen. Wir haben ein gesteigertes Inte- dung an ein bestimmtes, eng definiertes Verständnis von resse daran, denn der Orient liegt in unserer unmittelba- abendländischer Kultur versucht man, die Türkei außen ren Nachbarschaft. Insbesondere, weil wir die Europäi- vor zu lassen, und sche Union erweitert haben, ist es notwendig, sinnvoll (Zuruf von der CDU/CSU: Dummes Zeug!) und in unserem Sicherheitsinteresse, dass wir friedliche und freundschaftliche Beziehungen zu dieser Regionnimmt in Kauf, dass all ihre Hoffnungen enttäuscht wer- pflegen. Auch brauchen wir diese Region im gemeinsa- den und dass auch Demokratisierung und Modernisie- men Kampf gegen deninternationalen Terrorismus. rung, die dort gerade aufgrund der europäischen Per- Nicht nur wir, die westlicheWelt, sind Ziele der Terro- spektive der Türkei Einzug gehalten haben, wieder risten, sondern auch die arabisch-islamische Welt selbst gestoppt und vielleicht sogar rückgängig gemacht wer- hat unter diesen Irrläufern zu leiden, die sich zu Unrecht den. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10197

Dr. Ludger Volmer (A) Es liegt in unserem Sicherheitsinteresse – das mögen rum, die eigene Sicherheit zu gewährleisten, es geht da- (C) sich bitte auch die Innenpolitiker vergegenwärtigen –, rum, den Clash of Civilizations zu verhindern, und es dass sich dieses wichtige Land an der Schnittstelle zwi- geht in allererster Linie darum, die Glaubwürdigkeit der schen Orient und Okzident in positiver Weise auf diewestlichen Welt und des westlichen Wertesystems zu europäischen Werte bezieht, sich diese Werte aneignet wahren und da, wo sie beschädigt ist, wiederherzustel- und gemeinsam mit uns den Dialog mit der arabisch-len. islamischen Welt aufnimmt. Wir brauchen die Türkei. Deshalb darf es keine innenpolitisch motivierten Ressen- (Beifall bei der FDP) timents geben, die die Türkei ins Niemandsland oderWir glauben an die Freiheit und dieWürde des Men- vielleicht sogar auf die falsche Seite treiben. schen. Dieses Wertesystem und die Glaubwürdigkeit der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Akteure, die es verkörpern und umsetzen, sind unsere sowie bei Abgeordneten der SPD) wichtigsten Waffen im Kampf gegen internationalen Terrorismus, unsere wichtigsten Mittel auch, um einen Dass diese Politik – der Dialog mit dem Orient und Beitrag zur Stabilisierung im Nahen und Mittleren Osten die europäische Perspektive der Türkei – Realität wer- zu leisten. den kann, dafür steht diese rot-grüne Regierung und des- halb sind Grün und Rot europapolitisch und außenpoli- Politik wird heute – das wissen wir alle; ob wir es tisch die erste Wahl. wollen oder nicht – auch über Bilder gemacht. Die Bil- der, die in den letzten Wochen aus dem Abu-Ghureib- Danke. Gefängnis über den Äther gegangen sind, kann man nur (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN als politischen Super-GAU betrachten; er wird uns lange und bei der SPD) beschäftigen. „Die Würde des Menschen ist unantast- bar“, das ist nicht nur der Kernsatz unseres deutschen Grundgesetzes, das ist das Credo der westlichen Werte- Präsident Wolfgang Thierse: gemeinschaft und das gilt auch für die Iraker. Erst wenn Ich erteile das Wort Kollegen Werner Hoyer, FDP- wir die Würde der Menschen in der islamischen Welt in Fraktion. den Mittelpunkt unseres Handelns rücken, werden wir diese Menschen für uns gewinnen und gleichzeitig auch Dr. Werner Hoyer (FDP): überzeugend bei den Regimen der Region dafür werben Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!können, die Würde und die Freiheit des einzelnen Men- Lassen Sie mich eine Anmerkung zu diesem Wahl-schen besser zu achten. Deshalb ist es wichtig, dass die kampfauftritt des Kollegen Volmer machen. Wir Libera- Amerikaner voll aufklären; deswegen ist es wichtig, dass (B) len haben eine Gemeinsamkeit mit den Koalitionsfrak- wir Vorsorge treffen, dass so etwas nie wieder passiert. (D) tionen: Wir haben den Irakkrieg weder sachlich nochAber, meine Damen und Herren, angesichts der antiame- rechtlich für gerechtfertigt gehalten noch haben wir ihn rikanischen Orgie, für richtig gehalten; er war eben obendrein ein Fehler. Aber was wir nicht zugelassen hätten, wäre, dass über ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: diese Frage mit aktiver Beteiligung der Bundesrepublik Unsinn! Man muss die Sache auch einmal Deutschland Europa gespalten worden ist, und das ist beim Namen nennen!) hier passiert. die heute Morgen hier vom Kollegen Volmer abgezogen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) – worden ist, sage ich: Ich habe volles Vertrauen in die Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: großen Werte der amerikanischen Verfassung, der Albern!) Bill of Rights, der Declaration of Independence – auch in die Selbstheilungskräfte der amerikanischen Gesell- Diese wahlkampftaktische Aktion, die damals erfolg-schaft. Wir unterschätzen das hier. reich war, aber mit zur Spaltung Europas führte, soll jetzt, im Vorfeld der Europawahl, erneut versucht wer- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) den. Das wird diesmal nicht mehr aufgehen – das haben die Wählerinnen und Wähler durchschaut. Sehen wir uns doch einmal an, in welcher intellektuel- len, moralischen und rechtlichen Schärfe die amerikani- Bei aller Kritik, die anzubringen ist – ich denke, zur sche Diskussion über die Vorgänge geführt wird! Zumin- Selbstgerechtigkeit besteht hier nun überhaupt keinedest was intellektuelle Redlichkeit angeht, könnten sich Veranlassung; dafür wird all das, was vor dem Sturz von einige bei uns eine Scheibe davon abschneiden. Saddam Hussein geschehen ist, dann doch zu leicht ver- gessen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Klar ist aber auch: Die Amerikaner könnten zur Wie- der CDU/CSU) derherstellung ihrer Glaubwürdigkeit einen weiteren Beitrag leisten, zum Beispiel indem sie mit dem Thema Es geht im Nahen Osten um viel mehr als um regio- Guantanamo Bay anders umgehen oder ihre Position nale Stabilität – so wichtig sie ist –, es geht auch darum, zum Internationalen Strafgerichtshof überdenken wür- wie wir mit unserer Verpflichtung gegenüber dem Staat den. Israel klarkommen; es geht darum, den Kampf gegen den internationalen Terrorismus zu bestehen; es geht da- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 10198 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Dr. Werner Hoyer (A) Meine Damen und Herren, im Nahen Osten genießen das legitime Interesse des israelischen Volkes anerken- (C) die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland und nen, als jüdischer Staat zu bestehen, und dass wir aktiv der Außenminister persönlich einen guten Ruf. Das gilt für sie eintreten und mit ihnen fühlen angesichts der auch in Bezug auf denKonflikt zwischen Palästinen- ständigen terroristischen Bedrohung und Gewalt, unter sern und Israelis. Das ist auch gut so. Aber wir dürfen der sie leben und leiden. den guten Ruf nicht als bloßen Heiligenschein ansehen und er darf kein Selbstzweck werden, sondern er muss (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dazu genutzt werden, um Einfluss zu nehmen, und zwar der CDU/CSU) auch in den Situationen, in denen es schwer fallen mag, Meine Damen und Herren, mein letzter Punkt. Damit harte Worte auszusprechen. komme ich auf unseren Antrag zu sprechen. Der Frie- (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: densprozess im Nahen Osten kann genauso wenig von Da machen Sie sich mal keine Sorgen!) außen aufgezwungen werden wie der ebenso wichtige Prozess der Modernisierung der Länder des Nahen und Es ist an der Zeit, dass der Bundesaußenminister seinen Mittleren Ostens. Solche Versuche werden immer Ab- guten Ruf aktiv einsetzt. Das darf aber nicht so aussehen, wehrreflexe auslösen, und zwar nicht nur bei den Regi- dass er für die Israelis oder für die Palästinenser Partei men in der Region, die um ihre Macht und um ihren Ein- ergreift; er muss vielmehr Partei ergreifen für die Imple- fluss fürchten, sondern auch bei den allermeisten mentierung der Roadmap wie auch für die Umsetzung Menschen vor Ort. Denn die Menschen in dieser Region der schon vorhandenen Friedensvorschläge, die aus der sind zutiefst verunsichert, sie sind durch die aktuellen Zivilgesellschaft gekommen sind. Bilder aus dem Irak zutiefst abgestoßen, sie sind indok- (Gernot Erler [SPD]: Das macht er doch!) triniert durch ihre politischen und religiösen Führer und sie sind – auch das muss man im Hinterkopf behalten – In diesem Zusammenhang möchte ich feststellen,zu stolz und zu würdevoll, um sich Lösungen immer nur dass ich nicht gut finde,wie wir mit Herrn Rabbo und von außen aufdrücken zu lassen. Natürlich ist zu Recht Herrn Beilin umgegangen sind. Sie haben uns im Aus- gesagt worden – Friedbert Pflüger hat darauf hingewie- schuss überzeugend vorgetragen, wir haben sie bejubelt. sen –, dass Aktivitäten auch von innen kommen und Aber anschließend haben wir das mit einer sehr schwa- sichtbar werden müssen; das ist vollkommen richtig. chen Erklärung bedacht. Nur ein Oktroi wird das Problem nicht lösen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Es herrscht in den Zivilgesellschaften in dieser Re- der CDU/CSU) gion ein enormer Reformdruck. Es gibt durchaus die Er- Der Bundesaußenminister muss für das Völkerrecht kenntnis, dass die islamisch-arabischen Länder weltweit (B) (D) eintreten. Das muss er auch dann tun, wenn Ministerprä- den Anschluss zu verlieren drohen. Viele in diesen Län- sident Scharon das Völkerrecht verletzt und meint, trotz- dern drängen nach stärkeren Partizipationsrechten und dem auf dem richtigen Weg zu sein. mehr Freiheit. Diese Vertreter der Zivilgesellschaft wis- sen auch, dass für den erforderlichen Modernisierungs- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) prozess Hilfe von außen erforderlich ist. Diese darf aber Die Bush-Administration hat sich zu Beginn ihrernicht aufgedrückt werden. Amtszeit aus der Lösung des Nahostproblems fast völlig In den Anträgen der Union wie auch der Koalition herausgehalten, und zwar auch aus der Situation desfinden sich viele gute Vorschläge. Aber ich meine, wir Wahlkampfes heraus: Nach Clintons Abgang durfte man sollten zusätzlich den Gedanken einbringen, die maß- nichts fortführen, was Clinton fast erfolgreich bewältigt geblich betroffenen Akteure einzubeziehen und ihnen in- hätte. Das war ein großer Fehler. Jetzt werden die Ame- ternationale Unterstützung zukommen zu lassen. rikaner wieder aktiver. Ich hoffe, es handelt sich nicht wieder um eine Aktivität im Vorwahlkampf aus tak- Wir haben gute Erfahrungen mit dem Helsinkiprozess tischen Motiven. Wir brauchen die Amerikaner bei die- gemacht. Ich weiß, dass man das nicht eins zu eins über- ser Arbeit. tragen kann. Warum ziehen wir aber nicht die Schluss- folgerungen aus dem, was wir in Helsinki und durch den Wichtig ist, dass wir den fatalen Eindruck ausräumen, Helsinkiprozess gelernt haben? Dieser Prozess hat den im Nahen Osten gebe es eine Arbeitsteilung zwischen Weg zur Überwindung der Teilung Europas und unseres Europäern und Amerikanern , als seien die Europäer Landes freigemacht. Der Weg von Helsinki war der für die Finanzierung der Palästinenser zuständig, dieSchlüssel zur Vereinigung Europas, die wir vor wenigen Amerikaner dagegen würden sich nur mit den LeidenTagen gefeiert haben, und zur Vereinigung unseres Lan- des israelischen Volkes befassen und würden die dafür des vor 15 Jahren. notwendigen Mittel und die notwendige Empathie auf- bringen. Diesen Eindruck müssen wir ausräumen. Die Deswegen: Lasst uns untersuchen – wir werden in Amerikaner sind gut beraten, die Chancen zu nutzen, die den Ausschussberatungen ausreichend Zeit haben –, wo in Gesten, auch humanitärer Art, gegenüber den Palästi- wir Möglichkeiten dafür sehen, die Schlussfolgerungen nensern bestehen, Chancen, die zum Beispiel darin lie- aus den Erfahrungen mit den drei Körben von Helsinki gen, dass die amerikanische Administration klare Worte auf mögliche Lösungsansätze für den Nahen Osten zu für Völkerrechtsverletzungen findet, die Israel zuzurech- übertragen. Ich denke, die Europäer und die Deutschen nen sind. Umgekehrt wären wir Europäer gut beraten, könnten hier hilfreich sein. Nachdem unsere Vorschläge den Israelis glaubwürdig zu vermitteln, dass auch wirin dieser Richtung am Anfang sehr belächelt worden Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10199

Dr. Werner Hoyer (A) sind – auch von dem Herrn Außenminister –, bin ich nun ten gescheitert ist. Sie ist nicht nur deshalb gescheitert, (C) sehr ermutigt, da diesbezüglich mittlerweile doch überall weil der Krieg ganz anders verläuft, als sich manche in eine große Aufgeschlossenheit vorhanden ist. der Administration das gedacht haben. Man hätte Lehren aus der Geschichte ziehen können. Ich nenne jemanden, Kollege Pflüger hat im Hinblick auf das Alexandria- der sehr hart und deutlich gesagt hat, was es bedeutet, dokument zu Recht auf die entsprechenden Anknüp- wenn man in einen Krieg zieht: Winston Churchill hat fungspunkte hingewiesen. Auch Minister Sharansky aus das in seinen eigenen biographischen Notizen sehr klar Israel hat sich positiv in diese Richtung geäußert. Neh- gemacht. Dazu, dass manche, die vom Kriegsfieber ge- men wir diesen Faden auf und versuchen wir, tatsächlich packt sind, glauben, sie könnten das beherrschen, was einen Beitrag zur Lösung des gefährlichsten Problems in geschieht, wenn das Signal des Krieges ertönt ist, hat er unserer unmittelbaren Nachbarschaft zu leisten! ganz deutlich gesagt: Derjenige, der dieses Signal hört, Herzlichen Dank. ist von diesem Moment an nicht mehr Herr dessen, was geschieht, sondern er wird Sklave der Ereignisse, die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) dann heraufgerufen werden. In dieser Gefahr befindet sich derjenige, der die Interessen und die Würde von Präsident Wolfgang Thierse: Menschen einfach missachtet. Zurzeit befindet sich die Ich erteile Kollegen Gert Weisskirchen, SPD-Frak- gegenwärtige amerikanische Administration in einer sol- tion, das Wort. chen Gefahr. Ein anderer hat zu einer früheren Zeit dieses Problem Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): sehr kritisch analysiert und aufgearbeitet, nämlich Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Fulbright. Er hat für eine solche Situation ganz klar ge- Herr Dr. Hoyer, wir haben es erlebt: Diese Debatte hat sagt: Wenn es nur noch so wäre, dass sich die Arroganz auf der Sicherheitskonferenz in München begonnen. Der der Macht durchsetzte, dann allerdings hätteAmerika Außenminister hat den Eröffnungszug gemacht und ge- verloren. – So, wie Amerika gegenüber den Menschen sagt, wie wir in der Bundesrepublik Deutschland mit den dieser Region auftritt, verliert es an Glaubwürdigkeit. In Konflikten, die sich ganz in unserer Nähe ereignen, um- dieser Phase befindet sich gegenwärtig die amerikani- gehen müssen. sche Administration. Das hat nichts mit Schadenfreude Wir erinnern uns alle an den Kollegen Lamers, derzu tun oder damit, mit dem Finger auf andere zu zeigen. immer wieder deutlich gemacht hat, dass der Nahe Osten Vielmehr müssen wir darauf setzen, dass die selbstkriti- deswegen so heißt, weil er direkt neben uns liegt. Anders schen Kräfte in den USA diese große Herausforderung als die Amerikaner, die „middle east“ sagen, würde es selbst bestehen. Ich bin ganz sicher, dass dies geschehen (B) uns sofort und direkt betreffen, falls sich der Nahe Osten wird, lieber Kollege Dr. Hoyer. (D) in kriegerischer Selbstzerstörung befinden und in eine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Auseinandersetzung geraten würde. Das hat der Außen- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – minister klar gemacht. Wir im Westen müssen jetzt un- Dr. Werner Hoyer [FDP]: Das sehe ich auch sere eigenen inneren Widersprüche überwinden, einen so! Das kann ich nur bestätigen!) neuen Akzent setzen und den Eröffnungszug machen. Lieber Kollege Dr. Hoyer, insofern braucht die Bundes- Wenn wir über den Nahen und Mittleren Osten reden, regierung keinen Hinweis darauf, dass das nötig ist. Der dann müssen wir uns selbst fragen, in welcher langen Außenminister hat das deutlich gemacht und wir führen historischen Linie wir uns befinden. War es nicht so, hier eine vernünftige Debatte darüber. dass der Austausch zwischen Europa im Norden und dem Mittelmeerraum ein immer währender kriegeri- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ scher und imperialer gewesen ist? Waren es nicht Krieg, DIE GRÜNEN) Auseinandersetzung, Abgrenzung – allerdings auch Inte- Ich finde, in dieser Debatte sollte es auch darauf an- gration und Aufnahme –, e di diesen Austausch, diese kommen, unseren amerikanischen Freunden und Part- Beziehungen leider zu stark und zu häufig geprägt ha- nern nicht mit dem Gestus der Schadenfreude zu be-ben? Dies ist die lange geschichtliche Widersprüchlich- gegnen. keit, mit der wir uns im Raum des Mittelmeers gegensei- tig begegnet sind. Hier steht auf der einen Seite die (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Waren Sie gerade Wiege der monotheistischen Religion und auf der ande- nicht im Saal, als der Kollege Volmer gespro- ren Seite – das dürfen wir nicht vergessen – die Wiege chen hat?) des modernen und imperialen Staatsdenkens. – Lieber Kollege Dr. Hoyer, das war nicht das, worauf Ich darf einmal daran erinnern – wenn man Mitglied der Kollege Volmer hingewiesen hat. – Nein, innerhalb der Christlich Demokratischen Union ist, dürfte das ganz des Westens brauchen wir keine Schadenfreude; denn es nahe liegen –, was Paulus geantwortet hat, als er gefragt kommt jetzt darauf an, eine harte und schonungslose Bi- worden ist, wer er sei: Civis Romanus sum – ich bin ein lanz des Irakkriegs zu ziehen. Bürger Roms. Auch das prägt diesen Raum: der Beginn (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des der Zivilisation, immer begleitet von kriegerischen Aus- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) einandersetzungen. Das ist die Widersprüchlichkeit. Ich bin froh, dass Madeleine Albright sehr deutlich Heute könnten wir aus den Fehlern, die gemacht wor- sagt, dass die Irakstrategie des amerikanischen Präsiden- den sind, lernen und daraus den Schluss ziehen: Wir 10200 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (A) müssen in ein neues gemeinsames Verhältnis eintreten, dass Sie das auf die Tagesordnung gesetzt haben und das (C) damit das, was uns in der Vergangenheit so stark und so auf den vor uns liegendenGipfeln der Europäischen negativ geprägt hat, überwunden wird. Wir müssen ver- Union, der G 8 und der NATO ansprechen werden. Es ist suchen, unsere historischen Erfahrungen so zu nutzen, hilfreich, dass wir diese Debatte frühren. Ziehen wir da- dass wir in der Tat – darin stimme ich Ihnen zu, Herrraus die richtigen und vernünftigen Konsequenzen! Dr. Hoyer – unsere Erfahrungen seit 1975 ernst nehmen, Denn wir brauchen eine neue Partnerschaft zwischen aufnehmen und mit dieser Region in einen wirklichen dem Westen und dem Osten, zwischen Orient und Okzi- Dialog eintreten. Wir müssen dafür sorgen, dass die Eu- dent. Das ist die Aufgabe dieser Generation. Ich hoffe, ropäische Union eine neue Partnerschaft mit unserem di- wir erfüllen sie. rekten Nachbarn eingeht. hat dazu, wie ich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ finde, richtig gesagt: Wir Deutsche wollen gute Nach- DIE GRÜNEN) barn sein, nach innen und nach außen. – Jetzt kommt es darauf an, ein neues nachbarschaftliches Verhältnis mit dieser gebeutelten, schwierigen und in sich so wider- Präsident Wolfgang Thierse: sprüchlichen Region einzugehen. Ich erteile das Wort Kollegen Christian Ruck, CDU/ CSU-Fraktion. Wenn wir uns diese Region anschauen, von Marra- kesch bis Kabul, dann kann man sich schon die Frage Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): stellen: Seid ihr nicht zu euphorisch, zu versuchen, mit Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und dieser ganzen Region eine neue Partnerschaft einzuge- Herren! Das Verhältnis zwischen Europa und der islami- hen? Das ist wohl wahr; denn bei der Kleinteiligkeit und schen Welt ist nach der Kette von Terroranschlägen, Kleinräumigkeit von Marokko bis Afghanistan kann es nach New York, nach den Kriegen in Afghanistan und schon dazu kommen, dass uns die Suche nach der Lö- im Irak und nach der Eskalation im Nahen Osten natür- sung dieser Einzelprobleme derart bedrängt, dass wirlich angespannt. Die Kommunikation zwischen uns ist den Blick auf das Ganze verlieren. Diese skeptischeunbefriedigend. Argwohn und Misstrauen sind auf bei- Frage wird uns während des langen Prozesses, den wir den Seiten groß. Auch das haben wir bei der gestrigen jetzt beginnen werden, begleiten. Wenn wir aber nicht Diskussion mit den Botschaftern erlebt. Ich erinnere an den Mut haben, einen gemeinsamen strategischen Ent- den Streit um Überschriften, um Semantik. Wir haben wurf zu skizzieren, werden wir auch die kleinen Fragen bisher darauf keine passende Antwort. nicht lösen, sondern diese werden sich als Steine auf dem gemeinsamen Weg erweisen. Dann allerdings könn- Antworten zu finden ist dringlich. Es ist ein Gebot der ten wir scheitern. Stunde, dass wir einen neuen, einen intensiveren Dialog (B) mit den Regierungen und Menschen in den Ländern der (D) Nein, ich glaube, wir stehen am Anfang eines völlig islamischen Welt anstoßen. Wir haben dazu gerade als neuen Prozesses. Deutsche allen Grund: Wir haben auf der einen Seite tra- ditionell gute, auch gute kulturelle Beziehungen; wir ha- Der Außenminister hat zu Recht in München gesagt, ben intensive ökonomische Beziehungen mit einem dass das bedeuten muss, dass sich der Westen neu defi- überragenden Zukunftspotenzial. Auf der anderen Seite niert, dass er sich neu erfindet. Denn wir wollen doch sind wir aber auch massiv von Fehlentwicklungen be- dieser Region, die nahe bei uns liegt, nicht mit dem Ges- troffen, die es in diesem Raum gibt und geben könnte. tus „Wir wissen alles besser und es ist nun an der Zeit, Ich nenne das Stichwort Migration. Natürlich sind wir dass ihr euch uns anschließt“ begegnen, sondern wir auch als Deutsche und Europäer besonders verwundbar wollen das als Aufgabe der transatlantischen Partner-durch Terrorismus, Spannungen oder Konflikte in die- schaft angehen. Die USA und die Europäische Unionsem Raum. müssen ihre Kräfte bündeln und dafür sorgen, dass sich diese Region zu einer Region der Prosperität entwickeln Das ist der Ausgangspunkt für unseren Antrag. Für kann. uns ist ein ganz entscheidender Schlüssel für eine ge- meinsame tragfähige Zukunft eine effizienterePolitik Wer von „Region der Prosperität“ spricht, der weiß der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwick- auch, wie schwer es die Menschen haben, die in denlung gegenüber den islamischen Ländern. Wir gehen da- 22 arabischen Staaten leben. Alle 22 Staaten zusammen von aus, dass auch für die Menschen dort und für deren erwirtschaften leider nur ein Bruttosozialprodukt, dasBefindlichkeit Bildung, wirtschaftliche Perspektiven gerade einmal so groß wiedas von Spanien ist. Daran und die Chance, zu der Gestaltung der eigenen Gesell- sieht man, wie schwer die Aufgabe ist. Über 50 Prozent schaft beizutragen, wirkliche Schlüsselfaktoren sind. der Menschen dort können nicht lesen und nicht schrei- Das ist zwar noch keine Garantie gegen Konflikte und ben; zwei Drittel davon sind Frauen. Es liegen alsoRadikalismus, aber das ist die beste Voraussetzung für große soziale Aufgaben vor uns, die wir gemeinsam an- ein besseres Miteinander und dafür, einen offenen Kon- packen müssen. Denn Sicherheit, Demokratie und Mo- flikt zu vermeiden. dernisierung sind das, was diese Region braucht. Dazu bedarf es natürlich auch in den islamischen Die Europäische Union wird ein guter, verlässlicher Ländern – das wurde schon angesprochen – tief greifen- Partner sein, der nur gemeinsam mit den USA diese vor der politischer, sozialer und wirtschaftlicher Reformen. uns liegende schwere, historische Aufgabe bewältigen Diese Länder sind dazu bereit, aber es ist eine sehr kann. Ich bin froh darüber, lieber Herr Außenminister, schwierige Aufgabe. Unsere strategische Aufgabe muss Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10201

Dr. Christian Ruck (A) es sein, alles zu tun, damit es zu diesen Reformen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) kommt. neten der FDP – Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Nicht einmal ignorieren tun wir ihn!) (Beifall bei der CDU/CSU) Nehmen Sie doch zur Kenntnis, was in der deutschen Wir sollten dabei jeden Eindruck von Bevormundung Entwicklungspolitik wirklich passiert! Die Schwer- und Arroganz vermeiden. punktsetzung geht völlig an dem vorbei, was in dem von Ich erinnere daran, dass in Mitteleuropa quasi noch arabischen Wissenschaftlern erstellten Entwicklungsre- die Eisenzeit herrschte, als es im Nahen und Mittleren port dargestellt wurde. Esgibt im BMZ kein aktuelles Osten schon blühende Hochkulturen gab. Ich erinnere Konzept für den Nahen und Mittleren Osten. Erst drei weiter daran, dass auch islamische Impulse dazu bei-Jahre nach dem 11. September wurde heuer ein solches getragen haben, dass wir eine Schwächeperiode in unse- Konzept in Auftrag gegeben. rem Mittelalter überwinden konnten, und möchte in die- Mit einer falschen Schwerpunktsetzung, einer unge- sem Zusammenhang die Nobelpreisträgerin Ebadi nügenden Koordinierung, einer fehlenden internationa- zitieren: len Arbeitsteilung und einer miserablen Haushalts- und Demokratie ist kein Geschenk, das man auf einem Finanzpolitik haben Sie Ihren eigenen Spielraum für ein Goldtablett darreicht. … Demokratie ist ein histori- strategisches Krisenmanagement und eine strategische scher Prozess, der sich … in jeder Gesellschaft von Krisenpolitik verspielt. innen heraus entwickeln muss. Geschichte setzt Ge- (Beifall bei der CDU/CSU) duld voraus. Deshalb sollte man hier nicht so große Töne spucken. Das sollten auch wir berücksichtigen. Natürlich besteht die Politik gegenüber dieser Region (Beifall bei Abgeordneten der FDP) nicht nur aus Entwicklungspolitik. Das wurde schon an- Wir sollten auch deutlich machen, dass unser Ange- gesprochen. Im Zusammenhang mit dem Nahen und bot zur verstärkten Zusammenarbeit und Entwicklung Mittleren Osten stellt der Konflikt zwischen Israel und nicht nur auf Demokratieaufbau abzielt, sondern insbe- Palästina das Schlüsselproblem dar. Aber wir wollen sondere auf die Stärkung der ökonomischen Wettbe- auch deutlich machen, dass es uns um ein ehrliches An- werbsfähigkeit der Gesellschaften in dieser Region, die gebot für eine gemeinsame Suche nach einer friedlichen Schaffung von wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen und Kooperation auch in Verantwortung für die kommenden vor allem die Verbesserung der Zukunftschancen derGenerationen geht. Ich glaube, dass Deutschland als Be- jungen Generation, die auf geradezu dramatische Artstandteil einer westlichen Gesamtstrategie hinsichtlich (B) und Weise und in einem Maße, wie wir es uns wünsch- dieser Region einen größeren Spielraum hat. Diesen(D) ten, ein überragender Bestandteil der AlterspyramideSpielraum sollten wir, diesen Spielraum sollte auch die dieser Gesellschaften ist. Wir sollten darüber hinausBundesregierung stärker nutzen. deutlich machen, dass wir uns um die gemeinsame Ab- Vielen Dank. wehr von Gefahren kümmern wollen, die uns alle betref- fen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deswegen bestehen die Hauptelemente unseres An- trags darin, den wissenschaftlichen Dialog fortzuführen Präsident Wolfgang Thierse: und zu intensivieren, einen Beitrag zu einem effiziente- Ich erteile Außenminister Joseph Fischer das Wort. ren Umgang mit der knappen Ressource Wasser zu leis- ten, die Unterstützung für den Ausbau eines breiten und Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: modernen Bildungs- und Erziehungswesens zu verstär- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir ken und vor allem die Wettbewerbsfähigkeit dieser Län- über den Nahen und Mittleren Osten sowie über eine der zu stärken. Als weitere Stichworte sind beispiels-neue Partnerschaft sprechen, dann müssen wir uns da- weise eine moderne Verwaltung, die Integration rüber in im Klaren sein, dass wir es bei diesem Thema mit globalisierte Märkte, das Ausbildungswesen und dieder zentralen Sicherheitsfrage – vermutlich nicht nur in Hochschulkapazitäten zu nennen. den kommenden Jahren, sondern Jahrzehnten – für uns Europäer und damit auch für die Bundesrepublik An der Haltung und Politik der jetzigen Bundesregie- Deutschland zu tun haben. rung gibt es einiges zu kritisieren. Ich finde es bedauer- lich, dass zum Beispiel niemand aus der Spitze des Ent- Wenn man zurückblickt, dann erkennt man, dass eines wicklungsministeriums an dieser wichtigen Debatteder Probleme vielleicht darin besteht, dass wir alle den teilnimmt. Übergang von einem bipolaren System des Kalten Krie- ges, in dem sich zwei große Weltmächte um einen zen- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – tralen Konflikt global gruppiert hatten, hin zu einer völ- Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lig veränderten, neuen Weltlage politisch vermutlich NEN]: Sie verharmlosen das Problem, Herr nicht in der Radikalität nachvollzogen haben, wie ihn die Ruck!) Realität vorgegeben hat. Dieser Übergangsprozess hat – Ich finde es schade, Herr Volmer, dass Sie das Thema eine Neudefinition der unterschiedlichen Rollen notwen- mit einer so rückwärts gewandten Polemik angehen. Sie dig gemacht, insbesondere hinsichtlich der Bedeutung gestatten, dass ich nicht darauf eingehe. des transatlantischen Bündnisses, mit entsprechenden 10202 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Bundesminister Joseph Fischer (A) Konsequenzen für die Verantwortung Europas. Ich per- Aznar und Berlusconi auf eine gemeinsame Linie ge-(C) sönlich möchte anmerken, dass sich die strategischeneinigt hätten, hätte sich die US-amerikanische Position Herausforderungen, vor denen die Europäer stehen, in nicht verändert. Wir hätten vielleicht noch ein, zwei Mo- den fünfeinhalb Jahren, in denen ich Außenminister bin, nate Zeit gewinnen können, allerdings um den Preis, dann dabei sein zu müssen;das wissen Sie doch auch. (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: So lange ist das Seien Sie an diesem Punkt also ehrlich! schon? Schlimm!) radikal verändert haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Nicht umsonst ist Afghanistan hier der Dreh- und An- gelpunkt. Die Entwicklung in Afghanistan steht in einem Wenn umgekehrt Blair, Aznar und Berlusconi an der engen Zusammenhang mit dem Niedergang des Sowjet- Seite von Schröder und Chirac geblieben wären, dann imperiums, zeitlich aber auch in einem engen Zusam- hätte es vielleicht – ich sage bewusst: vielleicht – eine menhang mit der damaligen islamischen Revolution un- inneramerikanische Debatte gegeben. ter Chomeini im Iran. (Dr. [CDU/CSU]: Immerhin!) Die Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, – Aber mehr wäre doch nicht möglich gewesen! Ich per- haben eine ganz andere Qualität und sind schwerer ver- sönlich habe diese Debatte über Monate auf verschiede- mittelbar. Wir haben das gestern in der Kosovodebatte nen Außenministertreffen geführt. Wir haben diese De- gesehen. Nation Building ist unter den heutigen Bedin- batte mit der amerikanischen Seite seit meinem Besuch gungen eine langfristige Aufgabe, bei deren Erfüllung dort am 18./19. September 2001 geführt. Wir wissen wir ständig mit Rückschlägen rechnen müssen und die heute – die entsprechenden amerikanischen Publikatio- unserer – zu Recht – ungeduldigen Öffentlichkeit nur nen liegen vor –, dass alle Entscheidungen schon vorher schwer vermittelbar ist. Wenn wir über den Nahen und gefallen sind und dass nicht die Existenz von Massen- Mittleren Osten reden, dann sollten wir wissen, dass der vernichtungswaffen die entscheidende Frage war, son- Balkan noch eine vergleichsweise geringe Herausforde- dern die Auffassung, man könne mit einer militärischen rung ist. Wenn wir das, was wir sagen, ernst meinen, Intervention in dieser Region so etwas wie einen demo- dann müssen wir uns also auf eine sehrlangfristige kratischen Urknall mit einer entsprechenden Domino- Perspektive einstellen. Ich bin der festen Überzeugung, wirkung herbeiführen. Das hat sich im Lichte der Reali- dass eine Voraussetzung für den Erfolg sein wird, dass tät als falsch erwiesen. Ich glaube, die negativen wir Europäer mit unseren amerikanischen Partnern end- Konsequenzen dessen werden uns noch sehr lange be- lich eine strategische Diskussion anstoßen, die Realis- schäftigen. (B) mus zur Grundlage haben muss. Auf dieser Grundlage (D) müssen wir versuchen, einen neuen Konsens herzustel- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN len. Ob das gelingt, wird die Zukunft zeigen. Ein neuer und bei der SPD) Konsens ist deswegen notwendig, weil ich glaube, dass weder Europa noch die USA, die letzte Supermacht, al- Es ist richtig: Es führt kein Weg an einem partner- lein in der Lage sein werden, die gewaltigen Herausfor- schaftlichen Ansatz vorbei. Denn der Kern dessen, was derungen, die nicht nur auf einer gemeinsamen Bedro- uns in Form von Terrorismus gemeinsam bedroht, ist hung beruhen, zu meistern. Das ist der Hintergrund. Die eine Modernisierungskrise in dieser Region. Was Debatte über eine Einigung wird sicherlich sehr schwie- heißt Modernisierungskrise? – Es heißt letztendlich, dass rig und kompliziert. diese Region, gründend auf der eigenen Kultur und reli- giösen Traditionen, gründend auch auf der eigenen Ge- Frau Merkel, Sie sollten sich ehrlich machen, dass Sie schichte, einen eigenen Zugang zur Globalisierung ha- einen Fehler begangen haben. Ich verstehe sogar, wel- ben muss. Wenn die Globalisierung der ökonomische cher Fehler es war. Sie haben die Veränderungen imBasistrend ist, dann stellt sich die Frage: Wird die ara- transatlantischen Verhältnis – bezogen auf den Nahen bisch-islamische Welt diese Entwicklung als ihre eigene Osten – unterschätzt. Die Union weiß das heute auch. annehmen und sie mit eigenen Beiträgen aktiv mitgestal- Journalisten erzählen ja, welche Aussagen hinter ver-ten oder wird sie sie passiv erleiden und dann versuchen, schlossenen Türen tatsächlich gemacht werden. Fraudagegen, egal in welcher Form, zu rebellieren und zu Merkel, Sie sollten sich an diesem Punkt ehrlich ma-kämpfen? chen. Es ist doch völlig klar, dass die entscheidende Frage nicht gewesen ist, ob Europa im Hinblick auf den In diesem Spannungsverhältnis hat sich nach dem Irakkrieg zusammenzuhalten gewesen wäre. Ich warEnde des Kalten Krieges ein neuer Totalitarismus entwi- doch dabei, als Herr Pflüger in Anwesenheit von Herrn ckelt. Das ist der al-Qaida-Totalitarismus. Ihn werden Rumsfeld in München gesagt hat, dass der Brief derwir bekämpfen müssen. Mit ihm wird es keine Verhand- Acht ein Brief der Fünfzehn gewesen wäre, wenn Sie die lungen geben. Das macht aber nur ein Siebtel des Gan- letzte Bundestagswahl gewonnen und die Bundesregie- zen aus. Zu sechs Siebteln wird es darum gehen, die rung gestellt hätten. Der Brief der Acht war der BriefTransformationsaufgabe zu begleiten, was ein langfristi- derjenigen, die mit den USA in den Irakkrieg gezogen ger und mühseliger Prozess sein wird. Ich finde, da sind sind. Man sollte hier keine Scheindebatten führen. Nach- die Europäer hervorragend aufgestellt. Aber wir brau- dem mittlerweile alle Fakten offen liegen, ist offensicht- chen auf der anderen Seite auch unsere amerikanischen lich, dass die Entscheidung nicht von Europa beeinflusst Partner. Das halte ich ebenfalls für unverzichtbar. Um wurde. Selbst wenn sich Chirac und Schröder mit Blair, diese große Aufgabe werden wir nicht herumkommen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10203

Bundesminister Joseph Fischer (A) Kollege Pflüger, mir ist aufgefallen, dass Sie zu allem dende Frage ist, ob es gelingt, einen innerirakischen(C) etwas gesagt haben, nur zum Zweistromland nicht. Konsens herzustellen. Das ist nach den Ereignissen die- ses Jahres extrem schwierig. Es gibt einen zusätzlichen (Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- regionalen Stabilisierungsfaktor: Die Nachbarn haben NEN]: Und zur Türkei nicht!) kein Interesse an einem Auseinanderbrechen des Irak. Ich will gern auf die aktuelle Entwicklung zu sprechen Wenn wir mit diesen Faktoren in einer vernünftigen kommen. Ich teile überhaupt nicht, was KollegeResolution umgehen, um Legitimation zu kreieren, dann Schäuble gestern in einem Interview über dieSituation könnte es funktionieren. im Irak gesagt hat. In diesem Interview sagte er wieder: Deutsche Truppen sollten dorthin. Kollege Schäuble, ich Zum anderen großen Thema,Israel/Palästina. Da bin nicht der Meinung, dass westliche Truppen, ob deut- geht es nicht um Heiligenscheine oder Ähnliches. Sie sche, ob andere, unter bestimmten Bedingungen, zum können hier lange fordern: Außenminister, mach endlich Beispiel wenn die UNO oder jemand anders es fordert, voran mit der Roadmap! – Sie sind doch viel zu klug und im Irak stationiert werden sollten. Ich kann Ihnen nur sa- viel zu informiert, Herr Hoyer, um nicht zu wissen: gen: Ich bin der festen Überzeugung, dass westlicheWenn es so einfach wäre, wären wir schon längst an der Truppen dort, egal unter welchen Bedingungen, ange- Arbeit. sichts der konkreten historischen Abläufe, die in den Wir haben Rückschläge zu verzeichnen. Es gibt letzten Wochen und Monaten hinter uns liegen und die Schwierigkeiten der Konfliktparteien auf beiden Seiten. uns noch jetzt bedrängen und bedrücken, aus sich heraus Wir waren der Meinung, dass der einseitige Rückzug aus als Besatzer gesehen werden. Gaza, eingebunden in die Roadmap und entsprechend Insofern sollten wir auch keine Debatte über den Vor- vernünftig gemacht, ein großer Schritt nach vorn sein schlag führen, die NATO in die Auseinandersetzung dort könnte, wenn wir gleichzeitig Sicherheit kreieren, wenn hineinzuziehen. wir eine ordentliche Übertragung auf eine palästinensi- sche Autorität hinbekommen, wenn es nicht zu einer (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das tut Verlagerung der Siedler in die Westbank kommt, wenn der Bundeskanzler!) dies nicht sozusagen ein „Gaza first and Gaza only“ be- – Nichts Bundeskanzler! Ich rede von dem, was Sie ge- deutet. Sie finden das in der Tullamore-Erklärung der genüber der „FAZ“ gestern gesagt haben. Jetzt kommen Europäischen Union. Daran führt kein Weg vorbei. Sie mir nicht mit dem Bundeskanzler. Ich bin froh darüber, dass wir hier wieder einen trans- (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) atlantischen Konsens erreicht haben. Präsident Bush hat den G-8-Außenministern im Weißen Haus vor vierzehn (B) (D) Ich bin froh, dass der Bundeskanzler Gerhard Schröder Tagen persönlich gesagt, dass die USA dieselbe Position heißt; wie die Europäer und wie das Quartett insgesamt haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Meines Erachtens wird es jetzt darum gehen, die ver- und bei der SPD) schiedenen Elemente zusammenzubringen. Ich sehe da eine Möglichkeit. Aber wie so oft gilt: Hinter der nächs- denn das hat die Politik möglich gemacht, für die wirten Ecke kann der nächste Terroranschlag oder die stehen. nächste politisch-militärische Aktion lauern, was alles wieder zunichte macht. Ich rede gerade über den Vorschlag, die NATO jetzt in die Auseinandersetzung im Irak hineinzuziehen. Was Irak und Israel/Palästina sind die beiden heißesten könnte die NATO denn mehr leisten als die Koalition? – Konflikte. Es wird kein Wider-Middle-East-Konzept ge- Sie würde weniger leisten. Sie würde aber als Besat-ben, wenn wir diese Fragen nicht lösen. zungsmacht gesehen. (Gernot Erler [SPD]: So ist es!) Präsident Wolfgang Thierse: Das heißt – das hat der Bundeskanzler völlig zu Recht Herr Minister, Sie müssen bitte zum Ende kommen. gesagt –, die NATO selbst würde gefährdet. Deswegen waren wir von Anfang an äußerst skeptisch. Ich habe das Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: bereits auf der Wehrkundetagung in München klipp und Ja. – Ein letzter Punkt. klar ausgedrückt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich appelliere nochmals an Sie von der Union: Über- und bei der SPD) denken Sie Ihre Position zur Türkei! Ich verstehe die Gründe. Es ist nicht so, dass ich die Gründe für irrational Unsere letzte aktuelle Chance ist Brahimi. Ich erin- halte. Ich verstehe auch die Sorgen. Frau Merkel, ich nere an die Generalversammlung der Vereinten Nationen habe den Eindruck, dass wir alle die Analyse sozusagen vor zwei Jahren. Heute sagen auch die regionalen Part- vor dem Komma im Wesentlichen teilen. Aber die ent- ner: Das ist das letzte Spiel, das wir haben. Angesichts scheidende Frage ist nun anders zu bewerten – jetzt, da dessen müssen wir alles tun, damit das ein Erfolg wird. es Klarheit gibt über die neue Weltordnung und im Das setzt voraus, dass wir denVorschlag von Brahimi Lichte ihrer Bedrohung. Die Frage der Modernisierung tatsächlich umsetzen. Ich hoffe, dass dieser Vorschlag ist geopolitisch die zentrale Frage im Kampf gegen den breit fundiert ist und breit getragen wird. Die entschei- internationalen Terrorismus. 10204 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Bundesminister Joseph Fischer (A) Aufgrund des Vorlaufs, nämlich der vier Jahrzehnte der Stelle gleich zu sagen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn (C) Vorlauf, wird jede Aussage, mit der der Türkei im kom- Sie mir die Gnade Ihrer Aufmerksamkeit nur einen Mo- menden Winter definitiv die Tür vor der Nase zugeschla- ment schenken wollten. gen wird, als ein Nein begriffen werden. Deswegen wird (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – es von entscheidender Bedeutung sein, dass wir eine Joseph Fischer, Bundesminister: Ich höre im- Entscheidung treffen, die die feste Verankerung der Tür- mer zu!) kei in Europa, die feste Verankerung in der Moderne – mit moderner Zivilgesellschaft, mit moderner Markt- – Das ist schön. wirtschaft, mit Demokratie und Rechtsstaat – ermög- licht. Das wäre der wirklich strategische Sieg und wäre Ihre Argumentation zur Türkei ist zwar heute nicht auch für den Nahen und Mittleren Osten, was den koo- das Thema dieser Debatte, aber sie bestärkt mich in mei- perativen Neuansatz betrifft, meines Erachtens von über- ner Auffassung, dass wir zwei Sachverhalte richtig mit- ragender Bedeutung. einander verbinden müssen, nämlich die Perspektive der politischen Einigung Europas und das Verhältnis dieses (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN handlungsfähiger werdenden Europas zur Türkei und zur und bei der SPD) Modernisierung in der islamischen Welt insgesamt. Wir können doch nicht allen Teilen der islamischen Welt in Deswegen appelliere ich noch einmal an die Union der Hoffnung, dass sie sich in Richtung auf Demokratie – viele von Ihnen wissen doch, dass die Analyse richtig und Rechtsstaatlichkeit modernisieren, eine Perspektive ist; es geht nicht darum, dass ich Recht habe –, in derauf Aufnahme in die Europäische Union geben. Türkeifrage im Interesse der gemeinsamen Sicherheit die Position nochmals zu überdenken. Wir können und (Beifall bei der CDU/CSU – Dietmar Nietan dürfen der Türkei die Tür nicht vor der Nase zuschlagen, [SPD]: Das ist Demagogie! – Weitere Zurufe wenn sie auf dem Weg der Modernisierung ist. – Das ist von der SPD) ein weiterer wichtiger Bestandteil. – Entschuldigung, können Sie das Argument selber nicht Ich danke. vorher vielleicht einmal prüfen? Das Argument lautete, dass wir die Türkei als Vollmitglied in die Europäische (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Union aufnehmen müssten, weil wir ein Interesse daran und bei der SPD) haben, dass sie sich in unserem Sinne entwickelt. Ich glaube, in Bezug auf dieses Ziel ist die privilegierte Part- Präsident Wolfgang Thierse: nerschaft die bessere Lösung. Ich erteile Kollegen Wolfgang Schäuble, CDU/CSU- Ich möchte aber in der Debatte noch auf etwas anderes (B) (D) Fraktion, das Wort. hinweisen: Ich glaube, wir sol lten darauf achten, dass wir uns in Bezug auf die Problematik im Nahen und Mittle- Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): ren Osten, die sich für uns ja als furchtbar schwierig dar- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bun- stellt, nicht übernehmen und überheben. In der Debatte desaußenminister hat davon gesprochen, dass es sich bei wurde gesagt, man könne Demokratie nicht herbeibom- den Problemen im Nahen und Mittleren Osten im Kern ben. Das ist die eine Seite der Medaille. Manchmal geht um eine Modernisierungsproblematik handele und dass es aber auch nicht ganz ohnemilitärische Stabilisie- in einer Zeit wie der unsrigen die immer schnelleren Ver- rung. Auf diese Weise können wenigstens Voraussetzun- änderungen unterschiedlicher kultureller Zustände und gen geschaffen werden. Überspitzt könnte man sagen: Traditionen und die immer stärkere Wechselbezüglich- Saddam Hussein hat man auch nicht durch auswärtige keit in der Welt zu diesen ungeheuren Brüchen und Spal- Kulturpolitik aus dem Amt gehoben. tungen führen. Das ist im Übrigen ein Kennzeichen der Vorgestern haben wir ja über den Sudan diskutiert. gesamten Globalisierungsproblematik. Ich vermute, dass Nachdem wir noch vor ein paar Monaten gesagt haben, dieses im Nahen und Mittleren Osten insbesondere des- solch eine Katastrophe wie in Ruanda dürfe es nie wie- halb so deutlich zutage tritt, weil durch das Erdöl, das ja der geben, sind wir nun dabei, im Sudan genauso zu ver- für die Weltwirtschaft seit Jahrzehnten eine zentrale sagen. Erfolge können wir hier nur erzielen, wenn die Rolle spielt, dieser Prozess der Spaltung der Interessen dort Herrschenden wissen, dass sie notfalls durch militä- zusätzlich beschleunigt und vielfältig verschärft wurde. rische Gewalt am Begehen von Verbrechen gehindert Nun ist in dieser Debatte und in den Anträgen derwerden. Es geht also nicht ganz ohne. Fraktionen viel Kluges dazu gesagt worden, wie sich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- diese Region entwickeln könne und wie wir bei aller neten der FDP) Wahrung der Unterschiedlichkeit der Kulturen und Tra- ditionen durch Partnerschaft dabei helfen können, diesen Gestern haben wir über das Mandat im Kosovo gere- Weg der Modernisierung zu begleiten. Ich vermute übri- det. Es waren der Bundesaußenminister und der Bundes- gens, Herr Weisskirchen, dass sich der Ausspruch von verteidigungsminister, die im Deutschen Bundestag den Willy Brandt bezüglich der guten Nachbarn doch eher Antrag eingebracht haben, die militärische Präsenz auf auf Polen als auf Afghanistan bezog. Wir sollten uns bei nicht ganz absehbare Zeit fortzusetzen, weil das nötig der Nachbarschaft nicht übernehmen. Das bringt mich sei, um friedliche Entwicklung, Modernisierung und Na- zu einem weiteren Punkt, Herr Kollege Fischer, nämlich tion Building überhaupt zu ermöglichen. Das eine ist zu Ihrer Argumentation bezüglich der Türkei, um das an also ohne das andere nie ganz zu machen. Deswegen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10205

Dr. Wolfgang Schäuble (A) brauchen wir ein einiges Europa – Deutschland alleine Es war der deutsche Bundeskanzler, der im Auswärti- (C) kann nämlich gar nichts bewirken – und deswegen brau- gen Ausschuss vor ein paar Wochen gesagt hat – Herr chen wir die atlantische Partnerschaft um jeden Preis. Fischer, es tut mir Leid –: Wenn unter der Voraussetzung Anders als in der Gemeinschaft des Westens sind dieeiner UNO-Resolution ein entsprechendes Ersuchen an Aufgaben überhaupt nicht zu bewältigen. die NATO gerichtet wird, wird die Bundesregierung nicht dagegen sein. Dann hat er gesagt: Aber wir beteili- (Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen uns nicht. – Das macht keinen Sinn. Entweder – NEN]: Um jeden Preis? Haben Sie das gerade oder! Wir können nicht multilaterale Entscheidungen gesagt?) fordern und gleichzeitig sagen: aber wir nicht. So be- – Um jeden Preis, weil anders die Lage im Nahen und kommen wir keine multilateralen Entscheidungen; das Mittleren Osten nicht stabilisiert werden kann. Europa ist das Problem. alleine kann das nicht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- neten der FDP) NEN]: Auch um den Preis der Teilnahme am Das, Herr Außenminister, war der Fehler, den Ihnen Irakkrieg?!) Frau Merkel und wir alle von der Union vor und nach – „Um jeden Preis“ heißt natürlich nicht, Herr Kollege, dem Irakkrieg zu Recht vorgehalten haben. Über andere dass deswegen jedes Vorgehen richtig ist. Fragen kann man diskutieren. Ich könnte Ihnen das In- terview von gestern ganz vorlesen; es war besser als Ihr (Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Redebeitrag. Der Punkt ist: Wer multilaterale Entschei- NEN]: Jeder Preis heißt jeder Preis!) dungen will, sei es in der UNO, in der Europäischen Entweder sind wir verlässliche Partner oder wir sind es Union oder in der NATO, darf nicht gleichzeitig sagen: nicht. Das heißt, wir kritisieren uns selber und wir kriti- Aber wir beteiligen uns nicht. Denn damit tut man genau sieren andere, und was nicht in Ordnung ist, muss in Ord- das, was die Amerikaner uns vorhalten. Man sollte nicht nung gebracht werden. Auf die Fähigkeit der Amerika- nur auf die arabische Welt hören, sondern manchmal ner, eigene Fehler zu korrigieren – daran ist schon vom auch auf die amerikanische. Kollegen Hoyer und von anderen erinnert worden –, (Dietmar Nietan [SPD]: Wer hört denn nur auf kann man mehr vertrauen, als man das in anderen Teilen die arabische Welt? Sie reden Unsinn!) der Welt kann. Das sollten Sie auch tun. Die Amerikaner sagen, dass die Europäer gerne ent- Henry Kissinger ist vor ein paar Wochen gefragt wor- scheiden würden, was die Amerikaner tun und lassen (B) den, was möglicherweise eine andere Regierung unter- sollen. Das geht nicht: Wir können nicht entscheiden,(D) nehmen würde. Man weiß ja nicht, wie die Wahl aus-was die Amerikaner machen. Wir sollten den Amerika- geht; man muss die Wahlergebnisse so nehmen, wie sie nern, unseren verlässlichsten Freunden und der wichtigs- sind, sie akzeptieren und mit denen leben, die gewählt ten Führungsmacht, unter deren Fehlern wir genauso lei- worden sind. Ich rate dringend dazu, hier nicht den ame- den wie sie selber, sagen, welchen Beitrag wir zu leisten rikanischen Wahlkampf zu führen, denn das hilft unsbereit und in der Lage sind. Anderenfalls werden wir den auch nicht. Henry Kissinger hat geantwortet, vielleicht Trend zu unilateralen Entscheidungen in Amerika nicht würde ein Senator Kerry, wenn er zum Präsidenten ge- schwächen und die Neigung zumultilateralen Ent- wählt würde, mehr auf die Europäer zugehen, als Präsi- scheidungen nicht stärken. An diesem Punkt sind wir dent George W. Bush es in den zurückliegenden Jahren unterschiedlicher Meinung – in der Frage, welches der getan hat. Dann hat er gelächelt und gesagt: Nach einrichtige Weg ist und wie wir es gemeinsam hinbekom- paar Monaten wäre er genauso enttäuscht. men. Wenn wir das gemeinsam machen, sind wir auf Für uns stellt sich die Frage: Zu welcherPartner- dem besseren Weg. schaft sind wir bereit? Jeder hat gesagt – ich könnte Sie (Joseph Fischer, Bundesminister: Da sind wir oder den Bundeskanzler zitieren –, dass ein überstürzter unterschiedlicher Meinung!) Rückzug aus dem Irak das Schlimmste wäre, weil dann mit Sicherheit ein Bürgerkrieg ausbrechen würde. Trotz – So geht es nicht. unserer hehren Anträge hier im Deutschen Bundestag und was immer wir sonst noch machen können, würde (Joseph Fischer, Bundesminister: Doch!) dann eine noch schlimmere Katastrophe eintreten. Ein – Ich glaube, Sie werden nichts erreichen. Sie haben mit überstürzter Rückzug kommt also nicht infrage. Ihrer Politik nichts anderes zustande gebracht, als Eu- Deswegen muss in dieser schwierigen Lage – dieropa zu spalten. noch schwieriger geworden ist, als sie war; das ist un- streitig, aber die Rechthaberei hat doch keinen Sinn – die (Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Frage gestellt werden: Was können wir Europäer dazu NEN]: Und Sie hätten Europa an der Seite beitragen, dass sich die Situation in eine bessere Rich- Amerikas in den Krieg geführt! tung entwickelt? Es macht keinen Sinn, auf der einenEs ist ja nur ein frommer Wunsch, dass Europa einer Seite zu sagen, die UNO müsse eine stärkere Rolle über- Meinung ist. nehmen, und auf der anderen Seite von vornherein aus- zuschließen, dass man selbst dabei ist. (Beifall bei der CDU/CSU) 10206 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Dr. Wolfgang Schäuble (A) Ich will gar nicht über die Frage diskutieren, wer– Sie müssen nur ein anderes Gesicht dabei machen. Sie (C) Recht gehabt hat. Ich sage nur: Solange Europa gespal- sollten nicht so viel Schadenfreude, sondern mehr Sorge ten und nicht in der Lage ist, einen Beitrag zu leisten,in Ihrem Gesicht ausdrücken. werden wir nichts bewirken. Wenn Europa das nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- Seite an Seite mit den Vereinigten Staaten von Amerika derspruch bei der SPD und dem BÜND- in einer besseren atlantischen Partnerschaft tut, werden NIS 90/DIE GRÜNEN) wir im Nahen Osten, im Irak und in der Israel/Palästina- Frage nichts erreichen. Ich glaube nicht, dass es richtig Rechthaberei und Schadenfreude nutzen uns in dieser ist, wenn sich – es gibt gelegentlich auch amerikanische Lage überhaupt nicht. Stimmen, die das fordern – die Europäer mehr darum be- (Günter Gloser [SPD]: Diese Arroganz ist mühen, die Palästinenser zu beeinflussen, während die unerträglich!) Amerikaner sich mehr um die Israelis bemühen. Das halte ich für grundfalsch. Wir müssen miteinander auf Wir werden alle betroffen sein. Es geht uns alle an. beide Seiten gleichermaßen einwirken. Es darf keine Ar- beitsteilung geben. Es darf übrigens auch keine Arbeits- (Gernot Erler [SPD]: Sie haben doch die Op- teilung im atlantischen Bündnis in der Form geben, dass position gegen den Krieg geschwächt!) die Amerikaner für Hardpower und die Europäer für Es ist schon bemerkenswert, dass wir uns trotz der ru- Softpower stehen. So werden wir beide scheitern undhigen und selbstkritischen Darlegungen in dieser De- das träfe dann uns alle. batte nicht auf das einigen können, was wir gemeinsam erreichen müssen. Wir dürfen doch nicht aufhören, zu (Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- fragen, wie wir es besser machen können. Ich glaube, NEN]: Dann macht die Bundeswehr auch wir werden unsere Ziele nur erreichen, wenn die westli- Hardpower oder was?) che Gemeinschaft gemeinsam handelt. – Das machen wir doch im Kosovo auch, Herr Kollege. Übrigens habe ich nach der Münchener Rede des Haben Sie die gestrige Debatte nicht mitbekommen? Es Außenministers gesagt, dass ich auch Russland und die geht doch nicht ohne Hardpower. Auch im Sudan geht es arabische Welt einbeziehen würde. In diesem Punkt nicht ohne Hardpower. Aber Hardpower allein reichtsind wir sprunghaft. Einmal fahren wir an Weihnachten nicht; auch das ist wahr. Deswegen ist es eine solcheSchlitten, und dann tun wir so, als ob es Russland nicht Katastrophe, wenn der Westen seinen Führungsanspruch gäbe. durch eigene Fehler riskiert oder verspielt. Die Sache muss in Ordnung gebracht werden. Beides gehört (Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Russland ist immer dabei gewesen!) (B) untrennbar zusammen. Es ist schon bemerkenswert, wie (D) Sie reagieren, wenn gesagt wird, Hardpower und Soft- – Ja, Russland ist beim Quartett und bei der Roadmap power gehörten zusammen. Auf die richtige Kombina- mit dabei. Das muss man aber auch erwähnen. Wir brau- tion kommt es an. Im Kosovo machen wir es genauso. chen die Partnerschaft aller. Ich glaube, dass die Lage viel ernster ist. Wir werden unsere Ziele nur erreichen, wenn wir die westliche Gemeinschaft stärken. Das setzt ein einiges (Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Europa und auch ein Europa voraus, das seinen Platz an NEN]: Zwischen Kosovo und Irak besteht ein der Seite der Vereinigten Staaten von Amerika weiß und Unterschied!) nicht glaubt, eine Gegenkraft entwickeln zu können. Wenn wir uns nämlich darauf konzentrieren, Gegenkraft – Herr Kollege, Sie haben sich mit Ihrer Rede so disqua- zu sein, dann werden wir am Ende nichts bewirken, was lifiziert, dass der Kollege Ruck richtigerweise gesagtden Einfluss auf die amerikanische Politik und auf den hat, es lohne sich nicht, darauf einzugehen. Nahen und Mittleren Osten angeht. Nur wenn wir bereit sind, unseren Beitrag zu leisten, werden wir in der Errei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- chung der Ziele, die wir gemeinsam diskutiert haben, er- neten der FDP) folgreich sein. In diesem Sinne müssen wir weiterarbei- Verhalten Sie sich in den verbleibenden zwei Minuten, ten. in denen ich noch rede, ein bisschen still. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Franz Müntefering [SPD]: Das ist aber (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) arrogant!) Wir sollten die Schwierigkeit der Lage, in der wir ste- Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Dietmar Nietan, SPD- cken – wir haben sie heute in der Debatte ein wenig Fraktion. kleingeredet –, nicht unterschätzen. Wenn es Brahimi und den Vereinten Nationen nicht gelingt, die atlantische Gemeinschaft und die arabischen Staaten zu überzeugen, Dietmar Nietan (SPD): dass sie sich im Irak stärker engagieren müssen, dann Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich werden wir einen schweren Rückschlag erleiden. glaube, dass die heutige Debatte sehr wichtig ist. Ich sehe sie als Fortsetzung der Debatte an, die wir fast auf (Joseph Fischer, Bundesminister: Ja!) den Tag genau vor 15 Wochen, am 13. Februar, hier ge- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10207

Dietmar Nietan (A) führt haben, als wir über den gemeinsamen Antrag zur Ich möchte das begründen, weil ich wirklich große(C) Genfer Friedensinitiative diskutiert haben. Dieser Ver- Sorge habe. Nicht das, was in jenem Brief von Präsident antwortung, die uns aus dem gemeinsamen Antrag er- Bush steht – wenn man diesen Text liest, stellt man fest, wachsen ist, müssen wir gerecht werden. Wir müssendass darin viele teilweise auch für die Palästinenser bit- deutlich machen, dass die Antwort auf so wichtige Fra- tere Wahrheiten stehen –, sondern die Art und Weise, wie gen, bei denen es um die Zukunft von Frieden, Stabilität beide vor den Medien aufgetreten sind, dieses Kumpel- und Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten geht, hafte, dieses Kolportierte – tatsächlich hat Ariel Scharon gemeinsam und im Konsens gegeben werden sollte.so lange auf dem Ben-Gurion-Flughafen in Tel Aviv ge- Diese Debatte taugt nichtfür parteipolitische Ränke- sessen, bis er wusste, dass er sich in das Flugzeug setzen spiele und sie taugt auch nicht dafür, unterschwellig je- kann, weil George W. Bush das, was er möchte, akzep- mandem irgendwelche Schuld in die Schuhe zu schie- tiert –, diese Begleitumstände und Bilder, die in einer mo- ben. dernen Medienwelt nun einmal entscheidend sind, haben uns – ich betone wieder: uns – in unendlicher Weise (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Glaubwürdigkeit gekostet. Denn ab diesem Zeitpunkt DIE GRÜNEN) konnte man zumindest dem amerikanischen Präsidenten – nicht der gesamten Administration; ich denke da an den Deshalb möchte ich dem verehrten Kollegen Hoyer Außenminister – nicht mehr abnehmen, dass er wirklich sagen: Man kann zwar darüber diskutieren, ob das, was ein ehrlicher Makler sein will. wir damals beschlossen haben, zu dünn war. Aber ich glaube, Sie stimmen mit mir darin überein, dass allein An dieser Stelle sind wir als Europäer gefordert, nicht die Tatsache, dass es diese Debatte und diesen gemeinsa- mit dem Zeigefinger und der Haltung, dass wir es besser men Antrag gegeben hat, außerhalb des Bundestageswissen, aufzutreten. Wir müssen vielmehr den amerika- und auch außerhalb der Bundesrepublik Deutschlandnischen, israelischen und palästinensischen Freunden eine große positive Aufmerksamkeit erzielt hat. Ichkonkrete Vorschläge anbieten, welchen Beitrag wir leis- würde mir wünschen, dass die Ergebnisse der heutigen ten wollen und können. Wenn wir das jetzt nicht tun, Debatte daran anknüpfen. Bei dem einen oder anderen versagen auch wir. Ich glaube, wir stehen auch wegen Redebeitrag hatte ich jedoch Zweifel, ob das möglich ist. des Verhaltens des amerikanischen Präsidenten in einer Pflicht, aus der wir uns nicht herausstehlen sollten. (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Wen meinen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sie denn jetzt?) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP) Ich will sehr deutlich sagen, dass es aus meiner Sicht darum geht, ob wir es schaffen, unsere Glaubwürdig- Ich stelle aus meiner sehr persönlichen Sicht fest: (B) keit in der dortigen Region wiederherzustellen. Ich stelle Europa sollte Ariel Scharon jetzt beim Wort nehmen und (D) sehr deutlich fest: Es geht um unsere Glaubwürdigkeit. sagen: Wenn du dich wirklich aus dem Gazastreifen ein- Wer glaubt, dass man sich mit einem verschmitzten „Ich seitig zurückziehst, dann muss das in einer Art und habe es ja immer gewusst“ die Hände reiben kann, weil Weise geschehen, dass dort kein Chaos ausbricht. jetzt schlimme Dinge in der US-Armee passiert sind, der (Dr. Werner Hoyer [FDP]: So ist es!) täuscht sich. Es geht um die Werte des Westens. Entwe- der verteidigen wir diese und sind darin gemeinsamEs muss deutlich werden: Ariel Scharon verlässt den glaubwürdig oder wir gehen gemeinsam unter. Das sollte Gazastreifen, um zu zeigen, dass dies der erste Schritt man an dieser Stelle betonen. hin zu einer fairen Zweistaatenlösung ist. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Dr. [FDP]: Sehr richtig!) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Das müssen unsere Bedingungen für den Abzug der CDU/CSU und der FDP) Israelis sein. Ich sage – nicht ohne würdigen zu wollen, was unser Außenminister dort tut –: Europa insgesamt Es ist schon sehr viel zu den Initiativen in dieser Re- ist da noch immer zu unkonkret. Wir als Europäer sind gion gesagt worden. Ich möchte auf einen ganz wichti- an dieser Stelle wirklich gefordert. gen Punkt im Krisenherd Naher und Mittlerer Osten, auf den Konflikt zwischen Israel und Palästina, zurückkom- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ men. Wir haben in der Debatte vor 15 Wochen sehr aus- CSU und der FDP) drücklich die Fortschritte der israelischen Regierung ge- Was kann das aus meiner Sicht konkret heißen? Das lobt. Ich selber habe gesagt, dass Ariel Scharonkann für mich nur heißen, zu sagen: Im Rahmen der Anerkennung dafür verdient, dass er als erster Likud-Roadmap kann eine Übergabe des Gazastreifens nicht Führer deutlich für eine Zweistaatenlösung und die Räu- einseitig und unkontrolliert geschehen. Vielmehr sollten mung von Siedlungsgebieten eingetreten ist. Ich sage an sich die Palästinenser, die Israelis, das Nahostquartett dieser Stelle aber auch, dass mich das, was sich ungefähr und vielleicht auch die Ägypter als Nachbarn zusam- zwei Monate später, am 14. April, in Washington ereig- mensetzen und gemeinsam einen Plan ausarbeiten, der net hat, nämlich der gemeinsame Auftritt von Arielsicherstellt, dass der Abzug aus dem Gazastreifen Stabi- Scharon und George W. Bush im Weißen Haus vor den lität und nicht Destabilität bewirkt. Dazu müssen wir als Medien, an der einen oder anderen Stelle hat zweifeln Europäer klare und konkrete Vorschläge einbringen. lassen, ob ich mein Lob zu früh ausgesprochen habe. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Wohl wahr!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 10208 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Dietmar Nietan (A) Das heißt aber, dass Europa – da sehe ich auch uns als nalisierung und Internationalisierung müssen dazu füh- (C) Bundesrepublik Deutschland in der Pflicht – unterstrei- ren, dass sich Israel in einen solchen Prozess konstruktiv chen muss, dass in einem solchen Prozess für uns eines einbringt. Daran habe ich bei der derzeitigen Adminis- unverrückbar ist: Die Sicherheitsgarantie für Israel als tration meine Zweifel. Das müssen wir ihr auch so deut- jüdischer Staat ist für Europa oberste Priorität, weil sich lich sagen; das gehört dazu. Israel auf uns verlassen muss. Das sage ich sehr deutlich; wir hören das auch immer deutlich von unserem Außen- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten minister. Aber viele transatlantisch gelagerte europäi- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sche Staaten tun das nicht in dieser Deutlichkeit. Ich Ich hoffe, dass ich mit esen di Ausführungen habe würde mir wünschen, dass auch sie das tun. Das würde deutlich machen können, dass es durchaus Ansatzpunkte Israel helfen. gibt, ein stärkeres europäisches Profil zu entwickeln. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich will noch einmal unterstreichen: Ich möchte das des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der nicht aus Rechthaberei oder nicht etwa, weil wir sagen: FDP) „Jetzt wollen wir einmal zeigen, dass wir es in bestimm- ten Dingen besser machen können als die Amerikaner“ – Genauso muss aber klar sein, dass wir Europäer,um Gottes willen. Ich möchte das, weil ich glaube, dass wenn es zu diesem Rückzug aus dem Gazastreifenes in Amerika viele Menschen gibt – auch in der ameri- kommt, die Palästinenserinnen und Palästinenser nicht kanischen Administration; dort sicherlich nicht jeder –, im Stich lassen. Das heißt für mich – da hat Kollegedie gerade konkrete Vorschläge der Europäer herbeiseh- Hoyer völlig Recht –, bei der Zusammenarbeit mit den nen und erwarten. Sie sagen: Wir wollen nicht immer Amerikanern darf es kein Spiel – wir machen dies, ihr nur von Europa kritisiert werden, wir wollen von Europa macht das – geben. Gemeinsam mit den Amerikanern auch hören, wie sie es machen würden. Nur, wenn man müssen wir, wenn es zum Abzug aus Gaza kommt, viel konkrete Vorschläge macht, ist man in Amerika ein Geld und humanitäre Hilfe investieren, damit es für die ernsthafter Koalitions- und Diskussionspartner. Menschen dort abseits von Terrorismus und Hass eine wirkliche Lebensperspektive gibt, die sie im Moment Darum ist es so wichtig, dass wir uns bewegen und nicht haben. Das ist unsere Verpflichtung gegenüber un- konkret sagen, was wir wollen. Das beinhaltet natürlich seren palästinensischen Freunden. – das ist dem einen oder anderen vielleicht unange- nehm –, dass man, wenn man etwas konkret sagt, es An dieser Stelle ist auch Israel gefordert. Denn wir dann am Ende auch tun muss. dürfen es nicht durchgehen lassen, dass Israel Gaza iso- liert und die wirtschaftliche Entwicklung dort nicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (B) funktioniert, weil es keinen Flughafen oder Hafen gibt, (D) Wir sollten keine Angst vor der eigenen Courage haben, der Außenhandelsbeziehungen zulässt. Wer Frieden will, sondern wir sollten konkrete Vorschläge machen, auch muss Gaza eine wirkliche Chance geben. Das heißt, dass wenn man uns dann beim Wort nimmt und sagt: Dann tut Israel die Isolation von Gaza nach dem Abzug aufgeben es auch. muss. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der CDU/CSU und der FDP) Ich glaube, dass diese konkreten Punkte, die wirklich Ich möchte zum Abschluss noch einmal betonen, dass formuliert werden müssten, einen weiteren Aspekt un- ich der festen Überzeugung bin, dass die heutige De- terstreichen, den ich hier zum Schluss noch einmal dar- batte, von einigen Ausreißern abgesehen, gezeigt hat, legen möchte. Die gesamte Greater Middle East Initia- dass wir sehr vieleGemeinsamkeiten haben. Ich tive der Amerikaner und auch das, über das wir hierglaube, dass es uns und den Menschen in der Region hel- diskutieren, zielen auf einen Dialog, so wie ihn der Au- fen kann, wenn wir in dieser Gemeinsamkeit weiter ßenminister mit seiner Rede auf der Sicherheitskonfe- agieren. renz am 7. Februar 2004 angestoßen hat. Dieser Dialog Lassen Sie mich eine persönliche Bemerkung ma- bedeutet Internationalisierung, aber auch Regionali- chen: Ich hätte mich gefreut – aufgrund der vielen guten sierung. Wenn wir sagen, dass Internationalisierung und Dinge, die in allen drei Anträgen stehen –, wenn es uns Regionalisierung nicht im Sinne von Aufoktroyieren,auch diesmal wieder gelungen wäre, einen gemeinsamen sondern von Partnerschaft, Dialog und Austausch wich- Antrag zu formulieren, und zwar nicht, weil ich die Kon- tig sind, dann muss es alle Akteure in der Region ein- senssoße so liebe, sondern weil das Thema es verlangt. schließen. Deshalb hoffe ich, dass wir beim nächsten Mal, beim Das heißt für mich an die Adresse von Israel, dass es dritten Aufschlag zu diesem Thema, mit einem gemein- auch in Israel ein Umdenken geben muss. Bei allem Ver- samen Antrag und konkreten Vorschlägen zeigen, dass ständnis für das, was Israel und das jüdische Volk in sei- wir als Parlamentarier an dieser Stelle unsere Regierung ner Geschichte erlitten haben: Wer sich in Zeiten dernicht allein lassen. Globalisierung einer Internationalisierung verschließt, Vielen Dank. wer immer noch die Attitüde vor sich herträgt: „Uns hilft sowieso keiner und wir machen alles alleine“, wird (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten scheitern. Deshalb müssen wir deutlich machen: Regio- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10209

(A) Präsident Wolfgang Thierse: Wenn Sie – zu Recht – die CDU kritisieren, müssen(C) Ich erteile das Wort der Kollegin Gesine Lötzsch. Sie auch Ihre eigene Rolle hinterfragen, die Sie im Irak- krieg gespielt haben. Es wurde immer erklärt, die Bun- desrepublik sei weder direkt noch indirekt am Irakkrieg Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): beteiligt. Die Wahrheit jedoch sieht anders aus. Vor un- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge- gefähr einem Jahr fand das 20. deutsch-amerikanische ehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Im Kongress-Bundestag-Seminar statt. Im Rahmen dieses Antrag von SPD und Grünen steht vieles, was richtigSeminars gab es ein Frühstück der Seminarteilnehmer und zu unterstützen ist. mit dem Bundesaußenminister, Herrn Fischer. Der neben Anfangs möchte ich eine Bemerkung zureuropäi- mir sitzende demokratische Kongressabgeordnete mel- schen Verfassung machen. Sie fordern in Ihrem Antrag dete sich und sagte, er möchte sich bei der Bundesregie- die Verabschiedung der europäischen Verfassung. Wir rung dafür bedanken, dass die Bundesregierung alles ge- als PDS sind auch der Auffassung, dass wir eine europäi- tan habe, was die USA erwartet hätten: Gewährung der sche Verfassung brauchen. Die derzeit vorliegende Fas- Überflugrechte, Bewachung der US-Kasernen, Rückfüh- sung – – rung der Soldaten, Bewachung der Krankenhäuser für amerikanische Soldaten hier in Deutschland. Ich kann (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Wir mich erinnern – Herr Bundesaußenminister, Sie können sind noch beim Nahen Osten! – Zurufe von der sich vielleicht auch erinnern –, dass Sie aufgrund dieser CDU/CSU: Falscher Tagesordnungspunkt!) Aussage nicht amüsiert waren, weil Sie in der Öffent- – Das ist nicht die falsche Debatte. Lesen Sie sich doch lichkeit immer das Gegenteil behauptet haben. den Antrag von SPD und Grünen durch. In Ihrem Antrag (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Wo sie steht: eine europäische Verfassung verabschieden, und Recht hat, hat sie Recht!) auf diesen Punkt gehe ich ein. – Richtig, wo ich Recht habe, habe ich Recht. Da kann (Dr. [CDU/CSU]: Sie sind in auch kaum jemand widersprechen. einer falschen Debatte! – Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Das ist Tagesordnungspunkt 22!) Wenn Sie von der SPD jetzt mit dem Stichwort „Frie- Gestatten Sie, dass ich auf Ihren Antrag eingehe. Ichdensmacht“ plakatieren, sollten Sie sich daran erinnern, habe ihn gelesen. wie Sie sich wirklich verhalten haben und dass die Bun- desregierung durch die Gewährung von Überflugrechten (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie haben indirekt am Irakkrieg beteiligt war. die falsche Rede! Die Kommunisten haben das (B) (D) falsche Manuskript!) (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Ziemlich direkt!) Für die Ablehnung dieser EU-Verfassung gibt es ei- nen schwerwiegenden Grund, nämlich den, dass in die- In Ihrem Antrag fordern Sie die Zusammenarbeit aller ser Verfassung die Militarisierung der EU festgeschrie- Staaten bei der gemeinsamen Verhinderung und Ahn- ben ist. Wir als PDS sind der festen Überzeugung, dass dung „privater“ Gewalt, besonders dann, wenn sie ter- eine Militarisierung der EUnicht dazu beitragen wird, roristische Mittel anwendet. Das ist eine sehr einseitige die Konflikte in dieser Welt zu lösen und schon gar nicht Betrachtung dieser Welt. Es geht doch nicht nur um die die komplizierten Konflikte im Nahen und Mittleren Os- Verhinderung „privater“ Gewalt. Das ist nur die eine ten. Seite. Es geht vielmehr auch um die Beendigung von staatlicher Gewalt. (Zurufe von der CDU/CSU) Wir als PDS lehnen Selbstmordattentate von Palästi- – Wenn Sie nicht in der Lage sind, einen Gedanken, der nensern genauso ab wie die gezielte Tötung von palästi- über mehr als zwei Sätze geht, nachzuvollziehen, tut es nensischen Politikern durch die israelische Regierung. mir Leid für Sie, meine Herren. Natürlich wird auch immer mehr US-Bürgern klar, dass (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) die staatliche Gewalt der US-Regierung gegen die iraki- sche Bevölkerung auf immer heftigere irakische Gegen- Diese Überzeugung, dass eine Militarisierung der Eu- gewalt stößt. ropäischen Union die Konflikte im Mittleren und Nahen Osten nicht lösen helfen wird, teilen wir als PDS mit Unter dem Druck der Weltöffentlichkeit und in Anbe- sehr vielen Menschen in Europa, in den USA und im Na- tracht der völlig verfahrenen US-Politik im Nahen und hen und Mittleren Osten. Die Bush-Regierung hat ja ge- Mittleren Osten wird eine friedliche Lösung der Kon- rade den Beweis erbracht, dass es nicht möglich ist, die flikte unter Schirmherrschaft der UNO immer dringli- Konflikte im Nahen und Mittleren Osten mit Waffenge- cher. Die UNO, die USA, die EU und Russland haben im walt zu lösen. Im Gegenteil: Der Krieg gegen den Irak April 2003 die so genannte Roadmap als verbindlichen hat zu einer dramatischen Eskalation geführt. Weg und Rahmen der Konfliktregelung zwischen Israe- lis und Palästinensern vorgelegt. Es ist nicht zu akzeptie- Kollege Volmer hat heute gesagt: Man kann Demo- ren, dass die USA diese Roadmap auf eigene Faust ver- kratie nicht herbeibomben. Das kann ich unterschreiben. lassen haben. Das ist richtig. Ich stelle aber die Gegenfrage: Was war mit Afghanistan und was war mit Kosovo? (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) 10210 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Dr. Gesine Lötzsch (A) Wir erwarten, dass die Bundesregierung alles daransetzt, Auf der anderen Seite ist hier im Haus aber überein- (C) dass die USA bei dem anstehenden Gipfeltreffen derstimmend festgestellt worden, dass es eine ganze Reihe Staaten der G 8 im Juni dieses Jahres auf den Weg der von gemeinsamen Auffassungen gibt: Erstens. Dieara- Roadmap zurückgeholt werden. bischen Länder sind unsere Nachbarn, in geographi- scher und politischer Hinsicht. Zweitens. Wir müssen Abschließend möchte ich betonen, dass alle Sicher- mit den arabischen Ländern zusammenarbeiten, weil wir heitskonzepte hinfällig sind, wenn es nicht gelingt, die- ihnen das auch schon auf andere Weise angeboten haben. ser Region eine wirtschaftliche Zukunft zu geben. ImAm Barcelona-Prozess zum Beispiel, der initiiert wurde, Bundestag können beliebig viele Sicherheitsgesetze ver- ist mit Ausnahme der arabischen Halbinsel die gesamte abschiedet werden; sie werden unser Leben nicht siche- arabische Welt beteiligt. Der Barcelona-Prozess muss rer machen. Wir werden nur in Ruhe und Frieden leben fortgesetzt und verifiziert werden. können, wenn wir endlich bereit sind, mit anderen zu tei- len und eine gerechte Weltwirtschaftsordnung zu schaf- Wir müssen unser Augenmerk aber auch verstärkt da- fen. rauf richten, was in der arabischen Welt selbst passiert. Wie schon vor 15 Monaten beklage ich heute zum wie- Vielen Dank. derholten Mal, dass der Westen offensichtlich überhaupt nicht bereit ist, den Friedensplan, der vom saudischen (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Kronprinzen Abdallah stammt und von der Arabischen Liga verabschiedet worden ist, auf den Verhandlungs- Präsident Wolfgang Thierse: tisch zu legen und mit der arabischen Seite konkret da- Ich erteile das Wort Kollegen Joachim Hörster, CDU/ rüber zu verhandeln, welche Teile dieses Friedensplans CSU-Fraktion. umsetzbar sind. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Joachim Hörster (CDU/CSU): In ihm sind eine ganze Menge Punkte enthalten, die Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe vor zwei Jahren noch völlig undenkbar waren. Darin das Vergnügen, zum Schluss dieser Debatte zu reden und steht, dass die Sicherheit und Souveränität des Staates darauf zu achten, möglichst nichts von dem zu wieder- Israel anerkannt wird. Die Linie, dass dieser Staat nicht holen, was vorher schon Kluges gesagt worden ist. in Frage gestellt werden darf, vertreten wir in diesem ganzen Haus einmütig. Darin steht auch, dass man eine (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Da hätten wir Zone der Sicherheit und des wirtschaftlichen Austau- (B) nichts dagegen!) sches schaffen will. Warum gehen wir dieses Problem(D) denn nicht anhand dieses Friedensplanes an? Natürlich Ich möchte sehr gerne auf den Kollegen Nietan zu spre- stellt sich vorher noch die Frage der Vertriebenen; aber chen kommen, weil ich glaube, dass er den Nagel aufin dieser Hinsicht haben wir Deutsche unsere eigenen, den Kopf getroffen hat, indem er gesagt hat: Wir müssen speziellen Erfahrungen, die wir auf diesem Gebiet ein- konkret werden; und wenn wir konkret werden, dannbringen könnten. sind wir auch verpflichtet, entsprechend zu handeln. Wenn ich mir überlege, was auf derKonferenz von Deswegen finde ich es gut, dass wir heute über die Tunis beschlossen worden ist, ist doch – abgesehen von drei vorliegenden Anträge diskutieren und sie im feder- all dem Streit, der zwischen den arabischen Regierenden führenden Ausschuss und in den anderen zuständigen geherrscht hat – völlig klar: Man hat sich Begrifflichkei- Ausschüssen des Bundestages zu einem Zeitpunkt bera- ten angeeignet, die vorher im Sprachgebrauch der arabi- ten, da gerade kein Wahlkampf ist. Denn dadurch besteht schen Regierungen und im Sprachgebrauch der Arabi- vielleicht die Chance, das zu schaffen, was Sie, Herrschen Liga überhaupt nicht verwendet wurden. Da wird Kollege Nietan, angesprochen haben: in diesem Haus zu einer guten Regierungsführung aufgefordert, da wird eine gemeinsame Linie zu finden. aufgefordert, den Kampf gegen die Armut und den Ich halte das für sehr schwierig; das will ich gleich Kampf zur Verbesserung der Lage der Frau aufzuneh- vorweg sagen. Aber man soll die Hoffnung ja nie aufge- men. Natürlich sagt man, dass jedes Land diese Dinge ben. Ich halte das zum Beispiel deswegen für schwierig, nach seinen Möglichkeiten und nach seinem Entwick- weil in dem Antrag der Koalition eine Passage über die lungsstand befördern soll; aber all das befindet sich doch Türkei steht, die nach meinem Dafürhalten sowohl in auf der Linie, die wir brauchen, damit das, was wir an sich als auch was das Verhalten der Koalition gegenüber Zielen und gemeinsamen Interessen in der Region und in der Türkei angeht, ziemlich widersprüchlich ist, zumder europäisch-arabischen Zusammenarbeit brauchen, Beispiel auf dem Feld der militärischen Zusammenarbeit ein bisschen konvergiert. in der NATO oder bei der Frage, ob man Leute, die aus Wenn ich die Konferenz von Alexandria vom März der Türkei stammen, die bei uns rechtskräftig verurteilt dieses Jahres betrachte, muss ich feststellen: Da werden sind und ihre Strafe abgesessen haben, in die Türkei ab- Forderungen nach mehr politischer Pluralität erhoben, schieben darf oder nicht, weil die Standards des Europäi- nach freier und unabhängiger Presse, nach sofortiger schen Menschenrechtsgerichtshofs dort nicht eingehal- Freilassung von politischen Gefangenen usw.; ich will ten werden. Hier gibt es ein paar Punkte, bei denen wir aus Zeitgründen nicht alles im Detail aufzählen. Das möglicherweise nicht übereinkommen. heißt, im Grunde genommen wird die Ebene, auf der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10211

Joachim Hörster (A) man miteinander sprechen und miteinander verhandeln Sportausschuss (C) kann, um eine Friedensordnung in dieser Region zu Rechtsausschuss Finanzausschuss schaffen, immer breiter und immer größer. Nur, wir müs- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit sen sie auch nutzen. Ich glaube, der erste Schritt, den wir Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und dafür brauchen, ist, den Versuch zu unternehmen, dass Landwirtschaft wir uns im Deutschen Bundestag auf eine gemeinsame Verteidigungsausschuss Linie verständigen, einen Kern gemeinsam herausarbei- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ten, und das, was uns trennt, einmal liegen lassen. Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Eines möchte ich auf jeden Fall sagen: Dieses Thema Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und ist von ganz grundlegender Bedeutung für die Sicherheit Technikfolgenabschätzung und die künftige Entwicklung unseres eigenen Landes Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und und Europas. Es eignet sich überhaupt nicht zum Wahl- Entwicklung kampf. Wir können an dieses Thema nur ganz ruhig und Ausschuss für Tourismus ganz sachlich und unter Wahrung des Respektes vor dem Ausschuss für Kultur und Medien kulturellen und dem religiösen Hintergrund der anderen Haushaltsausschuss Seite herangehen, auf partnerschaftlicher Ebene, so wie der Kollege Pflüger das beschrieben hat. ZP 12 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Die europäische Verfassung beschließen – der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- erweiterten Union ein solides Fundament für neten der SPD und der FDP) die Zukunft geben – Drucksache 15/3208 – Präsident Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Drucksache 15/3206 zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuss und zur Mitberatung an den Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe, Werner Hoyer, FDP-Fraktion, das Wort. den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und an den Ausschuss für die Angelegen- Dr. Werner Hoyer (FDP): heiten der Europäischen Union zu überweisen. (B) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die (D) Die Vorlagen auf den Drucksachen 15/3050 undFreien Demokraten legen Ihnen heute einen Gesetzent- 15/3207 sollen an die in der Tagesordnung aufgeführten wurf zur Änderung des Grundgesetzes vor, der den Weg Ausschüsse überwiesen werden. Gibt es dazu anderwei- freimachen soll, einen Volksentscheid über die europäi- tige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann sind die sche Verfassung zu ermöglichen. Überweisungen so beschlossen. (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 22 a und Kastner) 22 b sowie Zusatzpunkt 12 auf: Wir wollen zu der europäischen Verfassung bzw. zum a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ernst Verfassungsvertrag Ja sagen und wir hoffen sehr, dass Burgbacher, Rainer Brüderle, Angelikader Europäische Rat in Brüssel, in 14 Tagen, ein Ergeb- Brunkhorst, weiteren Abgeordneten und dernis zustande bringt, das uns das mit voller Kraft und Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Überzeugung ermöglicht. Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 23) zur Einführung eines Volksent- (Beifall bei der FDP) scheids über eine europäische Verfassung Wir wollen zu dieser europäischen Verfassung Ja sagen – Drucksache 15/2998 – und wir wollen aktiv dafür werben, dass die Bürgerinnen Überweisungsvorschlag: und Bürger sich zu dieser Verfassung bekennen, dass sie Innenausschuss (f) Rechtsausschuss in einem Volksentscheid Ja zu ihr sagen. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Wir Liberale sind vehemente Verfechter der repräsen- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Petertativen Demokratie und keineswegs der Auffassung, Hintze, Dr. Gerd Müller, Michael Stübgen, weite- über alles und jedes – auch im europäischen Kontext – rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU müsse eine Volksabstimmung oder ein Volksentscheid stattfinden. Aber wir sind der Auffassung, dass die ver- Den EU-Verfassungsprozess zum Erfolg führen fassungsrechtlichen Grundlagen, auf denen das Handeln – Drucksache 15/2970 – der Befugten in einer repräsentativen Demokratie be- Überweisungsvorschlag: ruht, der Legitimation durch das Volk bedürfen. Das Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Volk sollte deshalb ausdrücklich Ja zu dem sagen, was Union (f) Auswärtiger Ausschuss der Verfassungskonvent vorgelegt hat und was die Re- Innenausschuss gierungskonferenz hoffentlich zu einem guten Ende 10212 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Dr. Werner Hoyer (A) bringen wird. So hätten wir übrigens auch vorgehen sol- Das, was zustande gekommen ist, nachdem die Aus- (C) len, als es um das Grundgesetz für das vereinte Deutsch- arbeitung des Textes wieder in der Hand der Regierungs- land ging konferenz gelegt worden ist, hat das Gesamtwerk nicht unbedingt verbessert. Eine Ausnahme nenne ich aus- (Beifall bei der FDP) drücklich: Ich finde es hervorragend, dass endlich das Ich wundere mich über die Argumente, die bisweilen Ziel der Preisniveaustabilität im Zielkatalog aufgeführt wird. dagegen vorgebracht werden. Ich könnte durchaus auch mit einer europaweiten Entscheidung leben, wenn wir (Rüdiger Veit [SPD]: Haben Sie es immer nicht, wie es im gegenwärtigen Stadium leider noch im- noch nicht gemerkt?) mer der Fall ist, über einen Verfassungsvertrag reden Ich glaube, dass es angesichts des katastrophalen Verhal- würden, sondern bereits über eine europäische Verfas- tens der Bundesregierung in Hinblick auf den Stabilitäts- sung, die sich der Souverän, in diesem Fall der gesamt- pakt genau die richtige Botschaft ist, die Ziele um das europäische Souverän, gibt. Wir haben es aber mit der Ziel der Preisniveaustabilität zu ergänzen. Rechtskonstruktion eines Vertrages zu tun, der zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union geschlos- (Beifall bei der FDP) sen wird. Insofern ist es konsequent, dass die Mitglied- Das Übrige erfreut mich nicht. Ich mache mir Sorgen, staaten die Möglichkeit haben müssen, über das Ratifi- was beim Endspurt auf den letzten Metern vor dem Eu- kationsverfahren selber zu entscheiden. In vielenropäischen Rat in Brüssel noch passieren wird. Die Iren europäischen Staaten wird diese Entscheidung dem Volk haben sehr mutige Vorschläge gemacht. Ich bin über- überlassen. Ich denke, auch die Deutschen sind in der haupt der Auffassung, dass sie sich in ihrer Präsident- Lage, diese Entscheidung selber zu treffen, und müssen schaft mutig und leistungsfähig zeigen. sie nicht dem Parlament alleine überlassen. (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der FDP) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Es überrascht mich, immer wieder hören zu müssen, dass die Gefahr bestehe, dass nicht über das zweifellos Ich hätte mir gewünscht, wenn man mit großer Mehrheit komplizierte Regelwerk abgestimmt werde, sondernden Vorschlägen der irischen Präsidentschaft gefolgt über Einzelfragen, die so hochgepusht würden, dass im wäre, was das endgültige Entscheidungsrecht des Parla- Endeffekt das Gesamtwerk aus dem Auge verlorenments bei der Ausgabenseite des Haushalts angeht. würde. Dieses Argument kann ich nicht ganz verstehen. Ich hätte mir auch gewünscht, wenn wir das Thema Warum sollten wir, die wir von diesem Verfassungswerk der doppelten Mehrheit so erklären könnten – bei uns (B) überzeugt sind, nicht mit voller Überzeugungskraft vor zu Hause, aber auch bei unseren Partnern, die sich dage- (D) die Wählerinnen und Wähler treten und die gesellschaft- gen noch sperren –, dass klar wird, dass es sich nicht um lichen Eliten dieses Landes in Wissenschaft, Kultur, Kir- etwas rein Technisches handelt, sondern dass das eine chen, Gewerkschaften usw. mobilisieren können, um die Frage der demokratischen Legitimation europäischen Bevölkerung davon zu überzeugen, dass das der richtige Handelns ist. Es ist doch ein unbefriedigender Zustand, Weg ist? Ich verstehe nicht, dass wir uns dann, wenn am dass, wenn die Europäische Union heute einen Aufnah- Ende 99 Prozent der Mitglieder des Deutschen Bundes- meantrag bei sich selber stellen würde, sie wahrschein- tages diesem Verfassungsprojekt ihre Zustimmung ge- lich aufgrund von Legitimationsdefiziten und Demokra- ben werden, selber nicht zutrauen, 50,1 Prozent der Be- tiedefiziten nicht aufgenommen würde. völkerung davon zu überzeugen. Wir hoffen, dass das Verfassungswerk zum Erfolg ge- (Beifall bei der FDP) führt werden wird. Wir wollen Ja dazu sagen. Wir wol- len die Bevölkerung davon überzeugen, dass das ein gu- Das sieht für mich sehr danach aus, dass man Angst vor ter Weg für Europa in Frieden, Freiheit, Wohlstand und dem Volk hat. Diesen Vorwurf sollten wir uns nicht ma- Rechtstaatlichkeit ist. chen lassen. Danke schön. Meine Damen und Herren, die Europäische Union ist (Beifall bei der FDP) in einer ausgesprochen schwierigen Situation. Der Ver- fassungsvertrag ist noch nicht unter Dach und Fach. Manche werden nach dem Ende derKonventsarbeit Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Illusionen gehabt haben. Natürlich hätte jeder von uns Das Wort hat der Kollege Rüdiger Veit, SPD-Frak- diesen Verfassungsvertrag anders ausgestaltet, da jeder tion. die Sicht seiner Partei und seiner Nation vertritt. Wenn 200 Liberale zusammengesessen hätten, dann hätte der Rüdiger Veit (SPD): Text anders ausgesehen. Das kann ich Ihnen garantieren. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Hoyer, leider muss ich Ihnen sagen, dass Sie heute (Beifall bei der FDP) wieder mit einem alten Hut gekommen sind; denn schon Aber es ist ein Kompromiss zustande gekommen, den 2003 ist dieser Antrag der FDP – ich meine: zu Recht – ich für sehr bemerkenswert halte. Ich kann den Teilneh- mit einer ganz breiten Mehrheit hier im Hause abgelehnt worden. mern des Konventes für das, was sie geleistet haben, nur danken. (Dirk Niebel [FDP]: Leider!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10213

Rüdiger Veit (A) Dass Sie diesen alten Hut jetzt wieder herausziehen und derung des Grundgesetzes zu bewirken? Welche Beteili- (C) erneut aufsetzen, geschieht offenbar nicht nur wegen des gungs- und Zustimmungsquoren sind angemessen und Diskussionsprozesses um die europäische Verfassung, notwendig? Schließlich stellt sich vor allen Dingen die sondern höchstwahrscheinlich auch vor dem Hinter-Frage, wie bei Änderungen des Grundgesetzes und bei grund der jetzt anstehenden Europawahl, bei der Sie ver- Änderungen, die der Zustimmung des Bundesrates be- suchen, sich mit einem Thema zu profilieren. Andersdürfen, zu verfahren ist. Wir haben in unserem Gesetz- kann ich das hier nicht einordnen. entwurf der letzten Legislaturperiode, der hier leider nicht mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit versehen Über die Verfassung als solche und ihre Bedeutung wurde, entsprechende Regelungen getroffen. – das haben Sie richtigerweise gesagt – besteht kein grundsätzlicher Streit. Ich halte es aber für verfehlt, das Herr Hoyer, Sie selbst und Ihre Fraktionskollegen ha- Volk über einen einzelnen – zweifellos bedeutsamen – ben in der letzten Wahlperiode noch deutlich Sympathie Punkt der europäischen Politik gesondert abstimmen zu für unseren Gesetzentwurf gezeigt. Sie haben sogar ge- lassen; denn vom Prinzip her kennen wir das von ande- sagt, dass Sie die Eigeninitiative des Volkes für richtig ren bedeutsamen Punkten der europäischen Politik ganz halten, und versucht – lobenswert, wie ich finde –, diesem genauso, ob das nun die Römischen Verträge, die Ein- Gesetzentwurf der Koalition mit einem Änderungsantrag führung des Euro oder auch die Osterweiterung waren. zu einer Zweidrittelmehrheit hier im Haus zu verhelfen. Warum soll das also jetzt hier bei diesem einen Punkt ge- Leider hat das nicht geklappt. Ich finde es eigenartig, dass schehen? Sie von dieser Position jetzt ohne zwingenden Grund ab- (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Das hat eine andere rücken. Eingangs meinerAusführungen habe ich es Qualität!) schon gesagt: Man merkt die Absicht und vielleicht ist man auch ein wenig verstimmt. Ich darf Ihnen bei dieser Gelegenheit übrigens sagen: Ihr Antrag enthält auch ein paar kleine handwerkliche (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Fehler. Sie schreiben nicht von „dem“ Volksentscheid, DIE GRÜNEN) nämlich dem einzigen, den es zur Verfassung geben soll, Jedenfalls ist Ihr Antrag hier und heute abzulehnen. sondern von „einem“ Volksentscheid, den der Deutsche Bundestag beschließen soll. Das klingt ja fast so, als ob Nun beschäftigen sich also auch die Fraktionen von Sie im Bundestag so lange Volksentscheide beschließen CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen in ihren lassen wollen, bis das Ergebnis bezüglich der europäi- Anträgen mit der europäischen Verfassung. Bei allem schen Verfassung mit dem übereinstimmt, was Sie per- Konsens, den Sie als erster Redner hier richtigerweise sönlich wollen. beschworen und von dem wir auch im Tagesordnungs- (B) punkt zuvor gehört haben, gibt es natürlich schon ein(D) Im Übrigen enthält Ihr Gesetzentwurf auch keinepaar unterschiedliche Schwerpunkte. Einige will ich Antwort auf folgende, wie ich finde, ganz spannendenennen: Frage: Sie von der CDU/CSU haben offenbar noch nicht ge- (Markus Löning [FDP]: Gute Argumente ha- merkt, dass die Verankerung der Preisstabilität ebenso ben Sie keine!) wie die Unabhängigkeit der Europäischen Zentral- Was passiert denn eigentlich, wenn das Volk anders als bank im Prinzip schon Bestandteile der Verfassung sind. der Bundestag und der Bundesrat entscheidet? Wie ist Ich will Ihnen aber auch sagen, wo ich persönlich von eine solche Kollision im Ergebnis aufzulösen? Dazu ent- Ihren Einschätzungen durchaus abweiche: Ich habe hält Ihr Gesetzentwurf keinerlei Normen. keine nennenswerte Sympathie dafür, noch einen geson- derten Gottesbezug oder einen besonderenBezug auf Da ist unser Gesetzentwurf aus der letzten Legislatur- das christliche Erbe Europas mit in die Präambel auf- periode schon wesentlich besser; er ist entsprechend ge- zunehmen. Ich halte es für richtig, in dieser Verfassung staffelt. Wir sehen für viele Gegenstände die Volksinitia- auf die kulturellen, religiösen und humanistischen Über- tive und dann gegebenenfalls das Volksbegehren undlieferungen Europas zu verweisen. Dies aber enthält der den Volksentscheid mit entsprechenden Quoren vor. Von Präambelentwurf richtigerweise schon jetzt. daher wollen wir dem Volk selbst die Initiative überlas- sen, als Souverän tätig zu werden. Wir wollen ihm nicht Ich komme noch zu einem anderen Punkt, in dem wir sagen, dass es bei einem Gegenstand, den wir festgelegt uns sicherlich unterscheiden: Sie wollen für dieTürkei haben, jetzt freundlicherweise mitbestimmen darf. nur noch eine Artprivilegierte Partnerschaft. Dabei machen Sie sich noch nicht einmal die Mühe, in Ihrem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Antrag näher zu konkretisieren, was Sie letztendlich für DIE GRÜNEN) die Türkei darunter verstehen. Auf eine ernsthafte Aus- Unser Gesetzentwurf und seine Beratung haben beim einandersetzung kommt es Ihnen an dieser Stelle offen- letzten Mal Folgendes deutlich gezeigt: Wir müssenbar nicht so sehr an. Ich glaube, auch Sie haben den sorgfältig überlegen, wie die Gegenstände der Volksab- 13. Juni dieses Jahres im Auge. Dabei vergessen Sie stimmungen von den ureigensten Angelegenheiten der ganz, dass der Amtsvorgänger von Bundeskanzler Staatsorgane abgegrenzt werden sollen. Welche Voraus- Schröder – dieser hat es schon mehrfach zitiert –, also setzungen müssen Volksinitiativen erfüllen, damit ihnen , dem Ministerpräsidenten Yilmaz bei sei- das notwendige politische Gewicht zukommt? Welche nem Besuch im September 1997 in Deutschland erklärt Voraussetzungen müssen sie erfüllen, um etwa eine Än- hat, er, Helmut Kohl, unterstütze das Ziel einer späteren 10214 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Rüdiger Veit (A) EU-Mitgliedschaft der Türkei. Daran scheinen sichDeutschland ein überragendes Interesse an einer erwei- (C) aber heute in Ihren Reihen nur noch die Kollegen Volker terten und gestärkten Europäischen Union hat. Hierzu Rühe und zu erinnern. Mit Ihrer Forde- bieten wir Ihnen unsere Zusammenarbeit an. rung nach einer lediglich ivilegierten pr Partnerschaft verlassen Sie also die eigenen früheren und besseren Po- Vielen Dank. sitionen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Für uns, die Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/ Nächster Redner ist der Kollege Peter Hintze, CDU/ Die Grünen und SPD, steht hier und jetzt eine definitive CSU-Fraktion. und endgültige Festlegung in der Frage des EU-Beitritts der Türkei nicht zur Debatte. Die Zeit ist dafür noch (Beifall bei der CDU/CSU) nicht reif. Alle politisch Handelnden sollten sich aber ih- rer Verantwortung bei diesem schwierigen Thema be- (CDU/CSU): wusst sein. Während Sie leichtfertig – ich glaube, das ist Peter Hintze Ihr Versuch – vor dem Hintergrund des Wahltermins die Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Ängste der Bevölkerung ein Stück weit instrumentalisie- Herren! Heute debattieren wir darüber, ob in Deutsch- ren, ist unsere Position und die der Bundesregierungland ein Referendum über die künftige europäische Ver- zum Türkeibeitritt bekannt: Wir wollen im Ergebnis ei- fassung abgehalten werden soll. Die von der FDP vorge- ner langen Reihe von Entscheidungen der EU-Staats-schlagene Grundgesetzänderung ist ein Irrweg. Wenn und Regierungschefs, die wir mitgetragen haben, inwir diesen Irrweg beschreiten, gehen wir ein dreifaches Übereinstimmung mit dem Europäischen Rat in Kopen- Risiko ein. Erstens provoziert ein Referendum das Miss- hagen vom Dezember 2002 wie folgt verfahren – ich zi- verständnis, dass die europäische Verfassung unser tiere –: Grundgesetz ablösen würde. Zweitens gaukelt ein sol- ches Referendum eine Ja-Nein-Alternative vor, die es de Entscheidet der Europäische Rat im Dezem-facto nicht gibt. Drittens bietet ein Referendum eine ber 2004 auf der Grundlage eines Berichts und ei- Bühne für Stimmungsmache und für all diejenigen, die ner Empfehlung der Kommission, dass die Türkei ihren Zorn über die Regierung an Europa ablassen wür- die politischen Kriterien von Kopenhagen erfüllt, den. so wird die Europäische Union die Beitrittsver- handlungen mit der Türkei ohne Verzug Deshalb soll es nach unserer Auffassung bei den Re- (B) geln des Grundgesetzes bleiben. Die Mütter und Väter(D) – ich wiederhole: ohne Verzug – des Grundgesetzes haben sich etwas dabei gedacht, als sie sich für die repräsentative Demokratie entschieden eröffnen. haben. Sie wollten eben solche hoch komplexen Mate- Wir jedenfalls sind uns dieser Verantwortung bewusst rien nicht Augenblicksstimmungen ausliefern, sondern und werden zu gegebener Zeit unsere Entscheidungen der Verantwortung der Parlamente. Wir wollen diese verantwortungsvoll treffen. Verantwortung wahrnehmen. Soweit Sie als CDU/CSU noch darauf verweisen, (Beifall bei der CDU/CSU) dass der Bundestag vor wie auch immer gearteten Ver- handlungen und Zusagen der Regierung im Rat damit Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: befasst werden soll, läuft das im Ergebnis auf eine Art Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des imperatives Mandat für die Bundesregierung hinaus.Kollegen Burgbacher? Das ist uns fremd. Wir lehnen dies ab. Wir halten es sehr wohl für vorstellbar, ja sogar für wünschenswert, dass (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Er hat heute wir bei der Frage der Beteiligung der nationalen Parla- Geburtstag!) mente und damit auch unseres Bundestages im Kontext der europäischen Willensbildung zu vielleicht effektive- Peter Hintze (CDU/CSU): ren und besseren Formen kommen. Ich hoffe und er- Gerne. warte, dass mein Kollege Michael Roth zu diesem Punkt noch einige Ausführungen machen wird. Ernst Burgbacher (FDP): Wir jedenfalls sehen ähnlich wie andere, die hier Herr Kollege Hintze, Sie sagen, es sei der Bevölke- schon gesprochen haben, in den derzeit laufenden Ver- rung nicht zuzumuten, eine Ja-Nein-Alternative vorge- handlungen die Sorge begründet, am Ende könnte der setzt zu bekommen und darüber abzustimmen. Stimmen Verfassungsentwurf hinter den Ursprungstext zurückfal- Sie mit mir überein, dass wir im Parlament genau das- len. Dies wollen wir nicht. Wir wollen keinen Rück-selbe machen werden? Wir werden mit Ja oder Nein ab- schritt in dieser Verfassung und im Hinblick auf die Er- stimmen. Wir haben keinerlei Änderungsmöglichkeiten. gebnisse des Konvents. Das gilt auch und gerade im Bereich der Innen- und Justizpolitik. Wir also wollen (Zuruf von der FDP: So ist es! – Ulrich keine Rückschritte, sondern eine zügige Ratifizierung, Heinrich [FDP]: Herr Hintze, das war ein und zwar hier in Bundestag und Bundesrat, weilSchuss nach hinten!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10215

(A) Peter Hintze (CDU/CSU): (Dirk Niebel [FDP]: Wir sind auch nicht das (C) Bevor Sie über die Zielrichtung von Schüssen spre- englische Volk!) chen, lauschen Sie meiner Antwort! – und die Verantwortung dafür übernehmen. (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Wir lauschen!) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich habe eben Kollegen Hoyer zugehört. Ich habe heute Wir haben heute Morgen über Antiterrorstrategien im Morgen Herrn Kollegen Westerwelle im Deutschland- Mittleren Osten gesprochen. Jetzt sprechen wir über die funk zugehört. Beide haben erklärt, dass dieses Parla- Stärkung Europas und darüber, wie wir die Menschen ment ihrer Einschätzung nach mit über 90-prozentiger mehr beteiligen und ihre Empfindungen besser aufneh- Mehrheit die Verfassung tragen und sie auch der Bevöl- men können. Ich glaube, vieles davon bleibt unglaub- kerung vermitteln wird. Also auch Sie sind der Auffas- würdig, wenn wir heute nicht auch ein Wort zu den Vor- sung, dass es für uns Deutsche in der Europäischen gängen sagen, die uns und alle Menschen in Deutschland Union nur ein Ja gibt und dass ein Nein uns zurückwirft. spätestens seit gestern massiv beschäftigen. Der Rechts- Dem Volk aber eine Frage vorzulegen, auf die es prak- staat in Deutschland ist auf dem allerbesten Wege, sich tisch nur ein Ja gibt, ist nicht ganz in Ordnung. Oder wir lächerlich zu machen. machen es wie die Iren, die dem Volk die Frage so lange vorlegen, bis es sie so beantwortet, wie es die Mehrheit (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Womit im Parlament will. Ich finde, dass die Volksabstimmung denn?) dafür ein höchst untaugliches Instrument ist, lieber Herr Wenn ein Top-Gefährder wie Metin Kaplan mit Polizei Kollege Burgbacher. und Verfassungsschutz Katz und Maus spielen kann, (Beifall bei der CDU/CSU – Dirk Niebel (Widerspruch bei der SPD) [FDP]: Sie trauen sich nicht zu, die Menschen zu überzeugen!) dann zeigt das nur, wie wichtig und richtig unsere Forde- rung ist, dass für solche Personen die Idee der Siche- – Darauf komme ich gleich. – Bei einem Referendum rungshaft verwirklicht wird, wie sie der Bundesinnen- würde über alles Mögliche abgestimmt, über Gerhard minister dankenswerterweise vorgeschlagen hat. Schröder, über die Maut, über die Ölpreise, nur nicht über die Zukunft der Europäischen Union. Das Problem (Zuruf von der SPD: Unmöglich!) von Volksabstimmungen ist, dass das Volk regelmäßig Denn dann wäre ein solches Katz-und-Maus-Spiel nicht über Fragen abstimmt, die nicht gestellt wurden. Sie wis- mehr möglich. sen das ganz genau. Es ist eine Absurdität der Demokra- tie, wenn wir für Europa werben und die europäische (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der SPD (B) (D) Verfassung durchsetzen wollen, dann aber zusätzliche und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Hürden auf dem Weg zu ihrer Realisierung errichten. – Zu den Zwischenrufen unserer grünen Kollegen Das ist ein Paradox. möchte ich anmerken: Dass es dem Bundesinnenminis- Nun hat die FDP – das ist heute in der Vorstellungter mit unserer Hilfe gelungen ist, die Grünen beim Zu- nicht dargelegt worden – versucht, Parlament und Volk wanderungsgesetz sozusagen von der Werkbank zu ver- dadurch zu versöhnen, dass sie die Idee einer additiven bannen, ist immerhin ein Beitrag zu mehr Sicherheit in Volksabstimmung geschaffen hat. Das Volk soll mit Deutschland. Jetzt müssen wir dasZuwanderungs- 25-prozentiger Mehrheit zustimmen und dann soll auch gesetz noch in eine vernünftige Form gießen. Aber eines noch die Zustimmung des Bundestages und des Bundes- müssen die Menschen im Lande wissen: Völlige Sicher- rates mit Zweidrittelmehrheit erforderlich sein. Das ist heit gibt es nur, wenn solche Kräfte die Mehrheit in die- zwar ein ganz sympathischer Versuch, den Tücken der sem Hause stellen und in die Regierungsverantwortung Frage nach repräsentativer Demokratie oder emotionaler kommen, Demokratie zu entgehen, aber ich fürchte, der Versuch (Widerspruch bei der SPD) ist verfehlt. Herr Westerwelle hat heute Morgen im Rundfunk gefragt, ob wir uns das nicht zutrauen. Natür- die das tun, was jeder sittlich empfindende Mensch als lich trauen wir uns das zu. Aber wenn wir als Souverän richtig ansieht. der Überzeugung sind, dass eine Sache richtig ist, dann (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Das ist sollten wir uns auch zutrauen, die Verantwortung dafür ein schlimmer Beitrag, den Sie da leisten!) selbst zu tragen. – Das ist ein wichtiger Beitrag, Frau Sonntag. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Was erleben wir in England? Tony Blair hat gesagt, das englische Volk solle abstimmen, und zwar nach den Es ist schlimm, wenn heute der Bundestag tagt, aber Wahlen zum Unterhaus. Er will die Frage an das Volk über dieses Thema nicht gesprochen werden soll. über seine Führungsverantwortung von einer politisch- (Beifall bei der CDU/CSU) inhaltlich hoch wichtigen Frage trennen. Wir sind der Auffassung, dass dieses Wegschieben von Verantwor- Die Menschen sind darüber empört, dass der selbst er- tung nicht in unserem Grundgesetz angelegt ist. Wir soll- nannte Führer des Kalifatstaats, der rechtskräftig verur- ten es bei den bewährten Regeln unseres Grundgesetzes teilt wurde und mehrere Jahre bei uns im Gefängnis saß, belassen nicht festgesetzt und abgeschoben werden kann. Denn 10216 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Peter Hintze (A) das wollen die Menschen und das entspricht dem Geiste nommen wird. Das ist eine sehr gute Frage, die ich wie (C) unseres Grundgesetzes. folgt beantworten will: Ich setze in der Tat die Hoffnung darauf, dass aufgrund der Tatsache, dass europäisches (Beifall bei der CDU/CSU) Recht Vorrang vor nationalem Recht hat, in Europa im Umgang mit Terroristen und Gefährdern ein Recht ge- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schaffen wird, das Europa zu einer großen Sicherheits- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des gemeinschaft werden lässt und das solchen Tätern und Kollegen Niebel? Gefährdern in Deutschland und Europa keine Chance bietet. Peter Hintze (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Gerne. In wenigen Tagen wird sich erweisen, ob die Regie- (Zuruf von der SPD: Was für ein Rechtsstaats- rungen in Europa die Kraft haben, mit der Verfassung verständnis!) den Weg zu mehr Demokratie, Transparenz und Effi- – Darf ich den Zwischenruf kurz beantworten? zienz in Europa zu ebnen. Als auf dem Europäischen Rat von Nizza die lange Nacht der faulen Kompromisse zu Ende ging, waren wir uns einig: nie wieder Nizza! Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege, zunächst hat der Kollege Niebel für (Lachen bei Abgeordneten der SPD und des seine Zwischenfrage das Wort. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Allerdings glaube ich, Herr Bundesaußenminister Peter Hintze (CDU/CSU): – Sie werden im Moment durch die grüne Fraktionsvor- Ja, gut. sitzende etwas an der Mitberatung gehindert –, dass es Europa und auch Deutschland gut täte, wenn die Bun- Dirk Niebel (FDP): desregierung zu der Mittlerrolle zurückfinden würde, die Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Hintze, können sie früher in Europa eingenommen hat. Es mag zwar be- Sie mir erklären, was Metin Kaplan mit dem Antrag der quem sein, zusammen mit England und Frankreich eine FDP-Fraktion zur Einführung eines VolksentscheidsArt Direktorat zu bilden, aber es wird nicht funktionie- über eine europäische Verfassung zu tun hat? ren. Wenn Deutschland als Motor eines Direktorats agiert, dann bedeutet das das Ende der Veranstaltung. (Zuruf von der SPD: Richtig!) Was wir brauchen, ist ein faires Miteinander von Kleinen Das ist mir nicht erklärlich. und Großen, wie es einst langjährige Praxis war. (B) (D) (Beifall bei der FDP, der SPD und dem (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der der FDP) SPD: Sehr gute Frage! – Josef Philip Winkler Ich meine übrigens, dass die Politik der Bundesregie- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Populis- rung in der Zwischenphase nach der italienischen Präsi- tische Hetzerei ist das!) dentschaft und vor dem Versuch der irischen Präsident- schaft, eine Lösung zu finden, auch dazu geführt hat, Peter Hintze (CDU/CSU): dass wir uns ziemlich festgefahren haben. Unsere Hoff- Ich will Ihnen das gerne erklären, lieber Kollegenung ist, dass wir ein Stück weiterkommen werden. Es Niebel. Die FDP begründet den Antrag damit, dass sie ist sehr erfreulich – Herr Kollege Hoyer hat das schon eine wichtige Forderung der Menschen im Lande auf- angesprochen –, dass sich gegen die Mehrheit in diesem nimmt. Es ist übrigens sehr interessant, dass die Koali- Hause bei der Mehrheit in Europa durchgesetzt hat, dass tionsparteien das zwar immer wieder gefordert haben, die Preisstabilität nicht nur eine einzelne Aufgabe der aber dann, wenn es konkret wird, dem FDP-Antrag nicht Europäischen Zentralbank sein darf, sondern auch eines zustimmen. Aber das ist ein anderes Thema. der Ziele der Europäischen Union sein muss, dem sich alle Politiken unterzuordnen haben; Ich glaube, dass der Unmut der Menschen über die Politik und über uns als Verantwortungsträger wächst, (Zuruf von der SPD: Um Gottes willen!) wenn wir nicht bereit sind, solchen Skandalen ein Ende denn Wachstum ohne Preisstabilität führt auf direktem zu bereiten und unserer Polizei und unserem Verfas-Wege in den wirtschaftlichen Abgrund. sungsschutz solche Blamagen zu ersparen, indem wir eine Rechtsordnung entwickeln, nach der so etwas nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – möglich ist bzw. unterbunden wird. Zuruf von der SPD: Wachstum?) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wir freuen uns, dass dies nun in der zukünftigen euro- Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE päischen Verfassung verankert wird. GRÜNEN]: Übler Nachtreter! – Zuruf von der (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Es ist doch SPD: Wollen Sie das in die Verfassung aufneh- drin!) men?) – Herr Roth, Sie sollten nicht dazwischenbrüllen. – Das ist eine interessante Frage. Eine Kollegin aus der SPD-Fraktion hat gerade in einem Zwischenruf gefragt, ( [SPD]: Sie brüllen die ganze ob ich möchte, dass das in die EU-Verfassung aufge- Zeit!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10217

Peter Hintze (A) – Weil ich mich gegen die Zwischenrufe akustischWir sind aufgefordert worden, die Türkeifrage im(C) durchsetzen muss! Europawahlkampf nicht anzusprechen. Wir weisen diese Aufforderung liebevoll zurück. Alle wichtigen Fragen Ich komme nun auf etwas zu sprechen, das uns sehr gehören in den Wahlkampf. Wohin denn sonst? Wir am Herzen liegt. Sie haben in diesem Haus oft und wort- müssen auch die Türkeifrage ansprechen; denn sie ist für reich dargelegt, dies sei überflüssig. Das ist die Haltung Europa und insbesondere für Deutschland eine Schick- einer Regierung, die den Stabilitäts- und Wachstumspakt salsfrage. Sie haben eine andere Auffassung als wir. Die zum dritten Mal in Folge bricht. Sie bringen uns herun- Wähler sollen das ruhig wissen; denn sie müssen sich ter. Sie sind dafür verantwortlich, dass das Wachstum in entscheiden. Ich bin ziemlich sicher, dass sie sich richtig Deutschland unter dem EU-Durchschnitt liegt. Sie haben entscheiden werden. die Verschuldung auf die Spitze getrieben. Sie wollen die Preisstabilität opfern. Ihre Politik darf sich auf euro- Ich danke Ihnen. päischer Ebene nicht fortsetzen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: GRÜNEN]: Sie halten eine Büttenrede! – Zu- Jetzt gratuliere ich recht herzlich unserem Kollegen rufe von der SPD: Wer im Glashaus sitzt, Burgbacher zu seinem heutigen 55. Geburtstag. Alles sollte nicht mit Steinen werfen!) Gute! Lassen Sie mich noch ein Wort zum ThemaTürkei (Beifall) sagen. Das Wort hat die Kollegin Anna Lührmann, Bündnis 90/ (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Die Grünen. GRÜNEN]: Ja, das fehlte auch noch!) Wir haben von dem Spitzenkandidaten der SPD im Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Europawahlkampf, Herrn Vural Öger, Interessantes Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und über die Türkeipolitik gehört. Kollegen! Lieber Herr Hintze, ich bin mir sicher, dass sich die Wählerinnen und Wähler am 13. Juni richtig (Zuruf von der SPD: Nie wieder Türkei!) entscheiden werden Wir wissen jetzt, warum der Bundeskanzler Herrn Öger (Peter Hintze [CDU/CSU]: Klar! – Weiterer an so prominenter Stelle auf der Wahlliste platziert hat. Zuruf von der CDU/CSU: Das glauben wir Herr Öger hat sich – gemäß seinen eigenen Ausführun- auch!) (B) gen in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ – ausge- (D) lassen, dass das, was mitder türkischen Belagerung und dass sie sich nicht für die CDU/CSU entscheiden Wiens nicht geschafft worden sei, heute unsere gebur- werden, wenn ihnen Europa am Herzen liegt. tenfreudigen Türkinnen in der Bundesrepublik erreichen (Peter Hintze [CDU/CSU]: Das war jetzt könnten. falsch!) (Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Das ist Denn Sie haben uns eben noch einmal demonstriert, wie nicht in Ordnung! Sie wissen, dass das falsch der Europawahlkampf der Union aussieht. Er hat ge- ist! Das ist unfair!) nauso wenig etwas mit Europapolitik zu tun wie Ihre – Frau Kollegin Schwall-Düren, Sie haben wieder da- Rede. zwischengeschrien, bevor Sie zugehört haben. Ich habe (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Aussagen von Herrn Öger aus der „Frankfurter All- und bei der SPD) gemeinen Zeitung“ zitiert, mit denen er versucht hat, die Zitate in „Hürriyet“ zu korrigieren. Die Korrektur sollten Aus innenpolitischem Kalkül haben Sie die Themen Sie lesen; denn sie ist zumindest genauso interessant wie „Zuwanderung“, „Kaplan“ und „Türkei“ angesprochen. das Zitat in „Hürriyet“. Die Auffassung, die Herr Öger Für mich ist das, was Sie sagen, unverantwortlicher vertritt, mag vielleicht die neue frauenpolitische Linie Populismus. Sie schüren Ängste vor Europa, anstatt auf- der SPD sein. Unserer Auffassung von westlicher Kultur zuklären und die Menschen auf dem Weg nach Europa entspricht sie jedenfalls nicht. mitzunehmen. (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der SPD) und bei der SPD) – Entschuldigung, ich habe das im Original zitiert. Dass Ich will jetzt zum Thema kommen, zur europäischen Originalzitate Ihres eigenen Spitzenkandidaten Sie in Verfassung. Bei diesem Thema ist meiner Meinung nach Unruhe versetzen, kann ich verstehen. ein weiteres wichtiges Etappenziel erreicht; denn nach dem Treffen der Außenminister am vergangenen Montag Die „Frankfurter Rundschau“ hat berichtet, die SPD- ist die EU ihrer neuen Verfassung wieder ein gutes Stück Führung habe verfügt, dass er von nun an für immer sei- näher gekommen. Heute erscheint eine Einigung auf nen Mund halten solle. Ich bin ja froh, dass er gespro- dem Gipfel im Juni wieder viel wahrscheinlicher. Das chen hat; denn so wissen wir, welches Denken Sie reprä- sind gute Aussichten; denn noch am Anfang dieses Jah- sentieren und was auf uns zukommt. res hätte ich darauf kaum eine größere Summe verwettet. 10218 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Anna Lührmann (A) Doch seit dem Dezembergipfel ging es immer wiederLines der britischen Regierung. Von britischer Seite wird (C) voran, und das nicht zuletzt, weil viele Regierungen, wie zum Beispiel die Forderung erhoben, die qualifizierte die deutsche Bundesregierung, nie einen Zweifel daran Mehrheit für Entscheidungen zurückzunehmen. gelassen haben, dass sie genau diese Verfassung wollen. Ich habe also vor, bei diesem Thema optimistisch zu Ich finde das haarsträubend. Das offenbart nur eines: bleiben. Dieser Optimismus scheint heute mehr denn je die Verweigerung von mehr Demokratie, von mehr berechtigt. Handlungsfähigkeit und von Transparenz für Europa. Ein Mehr an Demokratie, an Transparenz und an Ein- Die schwierigen Verhandlungen zeigen jetzt noch ein- fachheit, aber auch an Effizienz und Bürgernähe, das ist mal ganz deutlich, dass die Bundesregierung gut daran doch genau das, was am Ende dieses Verfassungsprozes- getan hat, auf dem Ergebnis des Konvents zu bestehen ses stehen muss. Genau solautet nämlich der Auftrag und die Verhandlungen mit Änderungsanträgen nichtvon Laeken, den die Regierungen dem Konvent gegeben noch weiter zu erschweren; denn das Auf und Ab dieser haben. Regierungskonferenz macht doch wieder eines ganz klar: Es ist dem Konvent in 16 Monaten sehr harter Ar- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beit vorbildlich gelungen, gute Kompromisse in den und bei der SPD) heiklen Fragen zu finden. Die Diskussionen über Ände- Der Konvent ist dieser Aufgabe gerecht geworden. Es rungsanträge in der Regierungskonferenz zeigen näm- wäre geradezu ein Treppenwitz der Geschichte, wenn lich immer wieder, dass es kaum gelingt, andere, ge-die Regierungen dafür sorgten, dass die von ihnen selbst schweige denn bessere Formulierungen als die gesteckten zu Ziele eben nicht umgesetzt werden. Wir alle finden, die der Konvent selber erarbeitet hat. Aus dieser hier wissen, dass mit derEinigung auf einen Verfas- Erfahrung sollten die Regierungen klug werden. Sosungstext noch nicht der ganze Weg zurückgelegt ist. Im könnte man sich nämlich viele quälende Nachtsitzungen Gegenteil: Die Ratifizierungen in den 25 Mitgliedstaa- ersparen. ten müssen dann noch durchgeführt werden. In manchen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ländern müssen die Parlamente zustimmen, in anderen und bei der SPD) auch die Bevölkerung per Referendum. Liebe Kolleginnen und Kollegen – ich weiß nicht, wie Ich würde einen europaweitenVolksentscheid über es Ihnen ging –, am letzten Freitag haben mich die Ver- die europäische Verfassung deutlich befürworten. Wenn handlungen im Kreise der Außenminister ziemlich em- die Bürgerinnen und Bürger in allen europäischen Län- pört. Da kamen die einen und die anderen immer wieder dern gleichzeitig abstimmten, dann könnte man eine in- mit ihren alten Forderungen, also mit alten Hüten, daher, nenpolitische Instrumentalisierung verhindern und es (B) die eigentlich schon längst ad acta gelegt worden sind. fände eine wirklich europäische Debatte statt. (D) Dadurch wurde nicht nur eine Einigung erschwert; viel- Anders als die FDP hat die rot-grüne Bundesregie- mehr war meiner Meinung nach auch der Inhalt derrung 2002 einen Gesetzentwurf für direkte Demokratie Änderungswünsche kontraproduktiv. Während der Re- in allen Bereichen in den Deutschen Bundestag einge- gierungskonferenz wurden nämlich fast nur Änderungen bracht. vorgeschlagen, die ich als Proeuropäerin nur als eindeu- tige Rückschritte bezeichnen kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Josef Philip Winkler Fundamentale Fehlgriffe waren etwa die Bestrebun- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wer war gen, die Befugnisse des Europaparlaments wieder zu be- dagegen?) schränken. Die Rechte des Parlaments im Haushaltsver- fahren sollten sogar hinter den Status quo zurückgedreht Diesem Vorschlag haben über die Hälfte der FDP-Frak- werden. Es gab auch den Vorschlag, die Charta dertion und die gesamte CDU/CSU-Fraktion nicht zuge- Grundrechte, den zweiten Teil der Verfassung, durch ein stimmt. Vor diesem Hintergrund ist Ihr heutiges Wahl- Zusatzprotokoll in seiner Wirkung zu beschränken. Wir kampfgetöse wirklich unglaubwürdig. reden hier also nicht über Peanuts, sondern über funda- mentale Grundrechte und über das zentrale Organ der re- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN präsentativen Demokratie in der EU. und bei der SPD) Nach dem Treffen am Montag bin ich – das habe ich Abschließend will ich noch eines deutlich sagen: schon erwähnt – weit optimistischer gestimmt. DieEgal, wie ratifiziert wird, es kommt darauf an, was und gröbsten Angriffe auf den Verfassungstext scheinen un- dass ratifiziert wird; denn nur mit einer neuen Verfas- ter anderem durch das Engagement der deutschen Bun- sung ist Europa auch in guter Verfassung. desregierung kassiert worden zu sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aber es bleibt so mancher Stolperstein erhalten. Ich und bei der SPD) glaube, ich gehe nicht zu weit, wenn ich sage, dassein Vielen Dank. wesentlicher Stolperstein den Namen „Großbritannien“ trägt. An die Adresse von Großbritannien kann ich nur sagen – ich habe darauf schon in meiner letzten Rede Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: hingewiesen –: Europa lebt vom Kompromiss. Sie wis- Das Wort hat der Kollege Dr. Norbert Röttgen, CDU/ sen, worum es geht, nämlich um die so genannten Red CSU-Fraktion. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10219

(A) Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): ein System der Kompetenzverteilung. Wir haben mit(C) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen unddem Europäischen Gerichtshof ein Verfassungsgericht. Herren! Ich möchte in meinem Beitrag nur auf die von Darum besteht kein Zweifel: So wenig man den Zeit- der FDP-Fraktion vorgeschlagene Verfassungsänderung punkt bestimmen kann, zu dem die europäischen Ver- eingehen. Das Grundgesetz ist der wichtigste Rechtstext träge Verfassungsqualität angenommen haben, so sicher in unserer Demokratie. Darum sind an Änderungen die- ist, dass sie bereits seit langem Verfassungsqualität ha- ses Rechtstextes hohe Anforderungen zu stellen, was die ben. Darum ist Ihr Entwurf aus europarechtlichen Grün- fachliche Qualität anbelangt. Es ist die politische Frage den unzulänglich. zu beantworten, ob wir die Grundentscheidungen, die Ich möchte mich mit dem Entwurf aber auch verfas- die Verfassungsväter und -mütter getroffen haben, wirk- sungsrechtlich beschäftigen. Sie schreiben in Ihrem Be- lich verändern wollen. Ich möchte zu beidem etwas sa- gründungstext, „ohne ausdrückliche Zustimmung der gen, zur fachlichen Qualität Ihres Vorschlags und zu der Bürgerinnen und Bürger“ sei der Verfassungstext „nicht Grundsatzfrage, ob es richtig ist, einen Volksentscheid ausreichend legitimiert“. Das finde ich wirklich bedrü- zur Einführung der EU-Verfassung zu ermöglichen. ckend – das sage ich mit allem Ernst, ohne jeden takti- Zum ersten Thema: Was ist von Ihrem Vorschlagschen Hintersinn. Sie wie wir alle gehen davon aus, dass fachlich zu halten? Sie formulieren in Ihrem Entwurf, Ihr Gesetzentwurf keine Mehrheit findet. Wollen Sie im dass es um die Einführung einer europäischen Verfas- Ernst behaupten, dass die Europäische Union, wenn sung geht. Natürlich reden wir politisch über die EU-diese Vertragsänderung im bislang üblichen Verfahren Verfassung, über den Verfassungsvertrag. Es gibt auch ratifiziert wird, in Zukunft unter einem Legitimations- gute politische Gründe dafür, so zu reden. Es verdeut- mangel leidet? licht, dass es ein wichtiges Werk ist. Es spiegelt sich da- (Peter Hintze [CDU/CSU]: Keineswegs!) rin insbesondere wider, wie dieser Entwurf erarbeitet worden ist, nämlich nicht mit der bisherigen Methode So steht es in Ihrem Begründungstext schwarz auf weiß. der Vertragsänderungen. Die Herren der Verträge, dieWollen Sie auch sagen, dass die früheren Entscheidun- Mitgliedstaaten, haben die Gesetzgebung ein Stück weit gen grundlegendster Art, der Maastricht-Vertrag und die aus ihren Händen gegeben und haben insbesondere Par- Einführung der Währungsunion, das heißt die Abgabe lamentarier aus den Mitgliedstaaten – nicht nur Parla- nationaler Währungshoheit, unter einem Legitimations- mentarier, aber auch Parlamentarier – an der Erstellung mangel leiden? Was ist mit dem Grundgesetz, zu dem des Verfassungsentwurfs beteiligt. niemals ein Plebiszit durchgeführt wurde? Leidet das auch unter einem Legitimationswandel? Wir können rechtlich aber nicht einfach so formulie- (B) ren, wie wir politisch reden; das Grundgesetz hat andere (Beifall bei der CDU/CSU) (D) Anforderungen an die Sprache. Deshalb müssen wir fra- Wie verhält es sich mit künftigen Änderungen, da ja nur gen: Wird im Rechtssinne eine Verfassung eingeführt? einmal ein Volksentscheid durchgeführt werden soll? Sie Wird mit dieser Vertragsänderung, um die es geht, das sagen, dafür sei keine plebiszitäre Entscheidung nötig. bisherige Vertragswerk eine neue Qualität, nämlich Ver- fassungsqualität, gewinnen? Das ist Ihre rechtliche An- Man kann ja in der Sache unterschiedlicher Auffas- forderung dafür, dass der Volksentscheid überhaupt statt- sung sein, aber mich stört, mit welcher Leichtfertigkeit findet. in dem Gesetzentwurf die Legitimation der wesentlichen rechtlichen Grundlagen des Staates wie der Europäi- Ich möchte dazu nur aus zwei Urteilen zitieren, die schen Union infrage gestellt wird. Hier haben Sie einen ich mir gestern noch einmal durchgelesen habe, dieschweren Fehler gemacht. schon alt sind. In einem Urteil aus dem Jahre 1991 – das ist schon lang her – stellt der Europäische Gerichtshof (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und fest, dass der EWG-Vertrag „obwohl er in der Form der SPD) einer völkerrechtlichen Übereinkunft geschlossenNun zu der Frage, ob es richtig ist, über diese Verfas- wurde, nichtsdestoweniger die grundlegende Verfas-sung per Volksentscheid zu entscheiden. In diesem sungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft“ darstellt. InHause gibt es ja bezüglich der Präferenz für Volksent- einer Entscheidung aus dem Jahr 1968 stellt dasBun- scheide eine ganz originelle Konstellation zwischen FDP desverfassungsgericht fest – das ist im 22. Band –, die und der rot-grünen Koalition. Die FDP sagt, wir wollen Europäische Gemeinschaft sei eine im Prozess fort-nur hier, aber nirgends sonst einen Volksentscheid zulas- schreitender Integration stehende Gemeinschaft eigener sen. Rot-Grün sagt, wir wollen über alles einen Volks- Art. Nun zitiere ich: „Der EWG-Vertrag stellt gewisser- entscheid zulassen, nur nicht über diese Frage. maßen die Verfassung dieser Gemeinschaft dar.“ (Rüdiger Veit [SPD]: Nicht überall!) Die Europäische Union hat eine Verfassung. Die europäischen Verträge haben seit langem Verfassungs- – Im Grunde überall. – Beide Positionen sind von der qualität. Was macht denn eine Verfassung aus? Ich zi- Taktik und der Sache her nicht glaubwürdig. tiere dazu die Begründung des Gesetzentwurfs der FDP- (Beifall bei der CDU/CSU) Fraktion: Es ist die Entscheidung „über Inhalt, Grenzen, Organisation, Ausgestaltung und Verteilung politischer Wir können mit der Frage der Legitimation – das ist eine Macht“. Alles das ist in den Verträgen bereits entschie- Kernfrage der Demokratie, denn Demokratie ist Legiti- den. Wir haben die Souveränitätsübertragung. Wir haben mation – nicht taktisch umgehen, sondern wir müssen 10220 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Dr. Norbert Röttgen (A) mit ihr verantwortungsvoll und sachlich umgehen. Es ist Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) bedauerlich, dass die CDU/CSU-Fraktion die einzige Herr Kollege, darf ich Sie erinnern, dass Sie zum Fraktion im Parlament ist, die sich der Verantwortung in Ende kommen wollten? diesem Punkt bewusst ist. Sie taktiert nicht, sondern praktiziert Verantwortung. Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): – und durch den Inhalt der konkreten Entscheidungen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – zu leben. Das ist unsere Pflicht; wir können sie nicht Dirk Niebel [FDP]: Sie gehen doch am Volk übertragen, sondern müssen sie selber erfüllen. vorbei!) Herzlichen Dank. Sie, Frau Lührmann, haben eben das klare Bekenntnis abgelegt: Sie wollen einen Volksentscheid darüber. Aber (Beifall bei der CDU/CSU) der Bundesaußenminister hat ihn verboten. Insbesondere die Grünen sind ja ein immer folgsameres Kind der Re- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gierung geworden. Sie, Herr Bundesaußenminister, kön- Das Wort hat der Kollege Michael Roth, SPD-Frak- nen, wie ich glaube, mit dieser Fraktion sehr zufrieden tion. sein. Wenn es ernst wird, sagen Sie ihr, was sie machen soll. Das sagt auch etwas über Ihr Selbstverständnis aus. Michael Roth (Heringen) (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte darauf eingehen, ob es richtig ist, durch Herr Kollege Röttgen, wenn man aus grundsätzlichen Volksentscheide Entscheidungen zu fällen, und möchte Erwägungen heraus plebiszitäre Elemente ablehnt, begründen – da gebe ich Ihnen Recht –, dass die euro- dann war Ihre Argumentation überzeugend. Das sage ich päische Verfassung ein gutes Beispiel dafür darstellt,voller Respekt. Aber auf der linken Seite dieses Hauses warum eine Entscheidung durch Plebiszite in unserem gibt es Kräfte, Fraktionen, die übereinstimmend der Auf- Land die schlechtere demokratische Alternative ist.fassung sind, dass wir den Bürgerinnen und Bürgern die Nach meiner festen Überzeugung liegt das nicht daran, direkte Demokratie unter ganz bestimmten Bedingungen dass wir Abgeordnete des Bundestages die besseren Ent- zutrauen sollten, weil wir die repräsentative Demokratie scheider wären, dass wir schlauere und bessere Entschei- gerade stärken wollen, indem wir die Bürgerinnen und dungen träfen, als wenn das Volk abstimmen würde. Der Bürger auch in Sachfragen stärker einbeziehen. Grund liegt vielmehr inden objektiven Bedingungen, Die Kollegin Lührmann hat in der Begründung ihrer der Möglichkeit, eine schwierige Frage verantwortlich Ablehnung eines nationalen Referendums über die (B) zu entscheiden. europäische Verfassung ein wesentliches Argument ge- (D) Voraussetzung dafür, um überhaupt verantwortlichnannt, das auch für mich ausschlaggebend ist: Wenn und vernünftig entscheiden zu können, ist das Vorhan- wir die europäische Verfassung, die ich für ein großarti- densein eines Verfahrens, mit dem man in der Lage ist, ges und wesentliches Projekt halte, nur noch nationalen Themen und Diskussionen unterziehen, dann erreichen die Komplexität eines Gegenstandes zu verarbeiten. wir nicht das, um was wir uns eigentlich alle bemühen Der entscheidende Punkt ist, ob wir davon sprechen kön- sollten, nämlich dass sich die Bürgerinnen und Bürger nen, dass die Voraussetzung dafür existiert, verantwort- nicht nur als Deutsche, Franzosen oder Ungarn identifi- lich zu entscheiden, und ob das Verfahren, das Entschei- zieren, sondern eine europäische Identität gewinnen. dungen vorausgeht, dieMöglichkeit bietet, dieWenn wir das erreicht haben, bin auch ich dafür, dass Komplexität des Gegenstandes zu verarbeiten. Das par- wir über eine europäische Verfassung in einem Volks- lamentarische Verfahren bietet sie, unabhängig davon, entscheid abstimmen, genau so, wie ich mir persönlich ob uns das im Einzelfall gelingt. Wir sind im Parlament gewünscht hätte, dass das deutsche Volk Anfang der in der Lage, strukturiert plurale Auffassungen miteinan- 90er-Jahre in freier Selbstbestimmung über das Grund- der zu diskutieren und zu einem Ergebnis zu kommen, gesetz bzw. die deutsche Verfassung abgestimmt hätte. für das wir uns dann politisch und demokratisch recht- Das war ihm damals, weil Sie das nicht gewollt haben, fertigen müssen. leider verwehrt. Ich bin fest davon überzeugt – damit komme ich zum Aber 20 Tage vor dem europäischen Gipfel, auf dem Ende –, dass die plebiszitäre Entscheidung genau diesen eine grundlegende Weichenstellung bezüglich der Mangel hat: Sie bietet kein Verfahren, das in der Lage Zukunft Europas und der Bürgerinnen und Bürger in wäre, der Komplexität eines Gegenstandes in der für de- Europa vorgenommen wird, sollten wir nicht nur über mokratische Legitimation nötigen Breite – eine Informa- ein Ratifizierungsverfahren reden, sondern die Inhalte tionselite kann das schaffen – gerecht zu werden. Es geht der europäischen Verfassung in den Mittelpunkt unserer bei dieser Frage um das Funktionieren unserer Demokra- Debatte rücken; denn wir sollten jetzt nicht so tun, als tie, um nichts weniger. Für dieses Funktionieren haben seien alle offenen Fragen schon geklärt. wir als Parlament eine doppelte moralische Pflicht: die Europa hat am 1. Mai eine großartige Chance ergrif- Pflicht, zu begründen, dass es zur parlamentarischenfen: Wir haben diesen Kontinent wiedervereinigt. Das Verantwortung keine praktische Alternative gibt, und die war ein großer Erfolg, an dem nicht wenige einen maß- Pflicht, diese Verantwortung durch den Stil unserer Aus- geblichen Anteil haben. Aber der Problemdruck, auch einandersetzungen – der nationale, ist erheblich. Viele Probleme, mit denen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10221

Michael Roth (Heringen) (A) wir uns auf nationaler Ebene zu beschäftigen haben,weiß, ob wir eine solche Chance noch einmal erhielten. (C) können aus meiner Sicht nur in einem vereinten Europa Deswegen müssen sich alle Beteiligten ihrer immensen gelöst werden. Noch nie hingen Frieden, Demokratie, Verantwortung bewusst sein. Sie müssen deutlich sagen, Wohlstand, soziale Gerechtigkeit und die Zukunft der ob sie – dominiert von nationalen Sonderinteressen – die Bürgerschaft so sehr vom Erfolg der europäischen Poli- Zukunftsfähigkeit Europas bewusst blockieren wollen tik ab. Im Zeitalter umfassender Globalisierung ist ein oder ob sie bereit sind, gemeinsam eine bessere Zukunft nach innen und nach außen solideseuropäisches Haus zu gestalten. unersetzlich. Aus meiner Sicht ist ein fairer Ausgleich nationaler Aber machen wir uns nichts vor, liebe Kolleginnen Interessen möglich. Die hervorragende Arbeit des euro- und Kollegen: Wir sind bislang die Antwort auf die päischen Verfassungskonvents hat dies gezeigt. Der Frage schuldig geblieben, wie die größer gewordeneKonvent – das werden die Historiker in 20 oder Europäische Union handlungsfähig bleiben soll. Deswe- 30 Jahren einmal sagen – war ein wesentlicher Meilen- gen dürfen wir uns auf der großen Erweiterung vomstein europäischer Integration. Mehr Demokratie wagen, 1. Mai nicht ausruhen. Wenn wir das täten, bliebe die EU die Handlungsfähigkeit der EU nach innen und nach au- der 25 nicht mehr als ein Torso. ßen stärken, die EU transparenter gestalten: Das sind die eigentlichen Kernziele, an denen sich der Verfassungs- Wir müssen die Institutionen, die Strukturen und die prozess zu orientieren hat. Das war so im Konvent und Verfahren der EU grundlegend modernisieren. Wir müs- das muss so sein in der Regierungskonferenz. Was wir sen die demokratische Legitimation der europäischen von dieser Regierungskonferenz zu Recht erwarten dür- Entscheidungsprozesse stärken. Wir müssen außerdem fen, ist nicht mehr und nicht weniger als die Verwirk- die EU für alle Bürgerinnen und Bürger – ich glaube, lichung dieser drei Ziele. auch für den einen oder anderen Kollegen – transparen- ter machen. Nur dann werden wir den Erwartungen ge- Für die Bundesregierung sind es schwierige Verhand- recht und nur dann wird es möglich sein, mit dieser EU lungen. Wir wissen das. Wir wissen auch, dass sich Bun- die großen Herausforderungen erfolgreich politisch zu deskanzler Schröder und Außenminister Fischer mit gro- meistern. ßem persönlichen Einsatz um tragfähige Kompromisse bemühen, die sich am Konventsentwurf orientieren und (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Josef die die Beschlüsse des Bundestages konsequent einbe- Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ziehen. Sich an dem Konventsentwurf zu orientieren war NEN]) von Anfang an die richtige Strategie. Wir haben hierüber So genannte Leftovers, also Überbleisel, wie beiim Bundestag leider keine Übereinstimmung erzielen Nizza wird es nicht mehr geben dürfen. Der Kollegekönnen, weil einige eine nicht enden wollende Liste von (B) (D) Gloser hat mich gebeten, auf einen Punkt hinzuweisen: Änderungsvorschlägen vorgelegt haben. Ich meine, es In diesen Tagen feiert Nürnberg die 50-jährige Partner- war gut und richtig, zu sagen: Etwas Besseres als das schaft zu Nizza. Deswegen ist der Satz „Nie wiederKonventsergebnis werden wir nicht erzielen. Nizza“ für den einen oder anderen von uns sicherlich nur (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schwer erträglich. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis. DIE GRÜNEN) (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem Dafür danken wir dem Bundeskanzler, dem Außenmi- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Guido nister und auch dem Staatsminister für Europa Bury. Westerwelle [FDP]: Nizza ist schön! – Dirk Niebel [FDP]: Er hat gesagt, er würde nie wie- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – der Pizza essen! Das haben Sie wohl falsch Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Wo sind die verstanden!) Jungs denn?) Nizza genießt auch weiterhin unsere Wertschätzung, Wir unterstützen die Bundesregierung in ihrer festen wenn auch nicht unbedingt die Regierungskonferenz.Absicht, die ins Stocken geratenen Schlussverhandlun- Aber weil wir eben ein zweites Nizza nicht haben woll- gen über eine europäische Verfassung endlich zum Er- ten, war das Vertagen der Regierungskonferenz nachfolg zu führen. Wir müssen aber auch eines deutlich zur dem ergebnislosen Gipfel von Brüssel im DezemberKenntnis nehmen – das gibt Anlass zur Sorge –: Die Zu- 2003 richtig. Denn eine Einigung um jeden Preis wäre stimmung gegenüber der Europäischen Union sinkt, aus meiner Sicht unverantwortlich. Deswegen ist es so auch in Deutschland. Noch nicht einmal 50 Prozent der positiv, dass die irische Präsidentschaft jetzt mit großem Deutschen waren in der jüngsten Umfrage positiv gegen- Druck, mit großer Sorgfalt und mit großer Beharrlichkeit über der EU eingestellt. Das muss uns alarmieren. Wir einen Erfolg noch unter ihrer Präsidentschaft erreichen sollten daraus Konsequenzen ziehen. möchte. Aber, Herr Kollege Hintze, wir sollten nicht die Kon- Eine Nacht der langen Messer, in der mit aller Macht sequenzen daraus ziehen, die Sie ziehen. Es sind noch allein um die Durchsetzung reinnationaler Interessen 16 Tage bis zur Europawahl. geschachert wurde, konnte sich die EU noch nie so (Peter Hintze [CDU/CSU]: Jawohl!) wenig leisten wie heute. Verlieren die Beteiligten die europäische Vision eines vereinten und handlungsfähi- Wenn man so argumentiert wie Sie und nicht über gen Europas im Endspurt aus den Augen oder opfern sie Europa, sondern über das diskutiert, was einem wenige bewusst, wird die EU großen Schaden nehmen. Keiner Tage vor einer Wahl ins nationale Kalkül passt, dann 10222 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Michael Roth (Heringen) (A) zerstört man dieVertrauensbasis der Europäischen (Peter Hintze [CDU/CSU]: Sie haben es (C) Union. Dann macht man sich unglaubwürdig. Sie kön- wieder nicht verstanden!) nen sich doch nicht in Sonntagsreden zum großen Euro- papolitiker aufschwingen und hier, wenn es um die Zu- das ist mit meiner Vorstellung vom Sozialstaatsgebot nur kunft Europas geht, nur über die Türkei und sehr den begrenzt in Einklang zu bringen. islamistischen Fundamentalismus (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Peter Hintze [CDU/CSU]: Ja!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und nicht über die Kernbereiche Europas reden, die un- Deswegen: Finger weg von den sozialen Errungenschaf- sere eigentliche und gemeinsame Aufgabe sein sollten. ten dieses Verfassungsentwurfs, für die sich maßgeblich Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Verfas- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sungskonvent stark gemacht haben! des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 78 Prozent der Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Wir brauchen aus meiner Sicht vielmehr eine pro-Recht, dass das wirtschaftliche Schwergewicht der EU grammatische Neugründung Europas. Ich bin mir sicher, auch außen- und sicherheitspolitisch, das heißt auch auf dass wir in diesen Punktenhier im Bundestag keine der internationalen Bühne, endlich handlungsfähiger Übereinstimmung erzielen werden. Aus meiner Sicht ist wird. Dafür brauchen wir eineneuropäischen Außen- dies auch gut so. Dass das so ist, hat man auch an einer minister. Das garantiert uns die europäische Verfassung. Bemerkung des geschätzten Kollegen Hoyer gemerkt. Sie kann der EU international eine stärkere Stimme und Es wäre ja schlimm, wenn 200 Kolleginnen und Kolle- den Bürgern mehr Gewicht geben. gen der FDP im Konvent gesessen hätten. Dann gäbe es einen noch stärkeren neoliberalistischen Geist, Wir kämpfen aber auch für eineFriedensmacht Europa. Dass sich das nur schwer mit den Konzepten (Beifall bei der FDP) der CDU/CSU in Übereinstimmung bringen lässt, dürfte klar sein. Frau Merkel und Herr Stoiber sind in der Irak- der aus meiner Sicht die Fundamente der Europäischen frage einem Irrweg gefolgt. Das kann mal passieren. Union langfristig zerstört. Aber sie bringen nicht den Mut zur Umkehr auf. Das ist das eigentlich Bedauerliche. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es ist vielmehr nötig – das sollten wir in dieser De- (B) batte ruhig deutlich machen –, dass die Europäische Der Bundestag versteht sich traditionell als Partner(D) Union endlich ihr soziales Profil schärft. Wir wollen des Europäischen Parlamentes. Kompetenzverlagerun- nicht alles den Prinzipien des Marktes unterordnen. Wir gen nach Brüssel sind daher nur dann akzeptabel, wenn Sozialdemokraten stehen für ein soziales Europa mit ge- das Europäische Parlament gestärkt wird. Das Euro- lebter Solidarität; denn die europäische Integration ist päische Parlament muss deshalb auch im Haushaltsver- die demokratische Antwort auf die Globalisierung. Des- fahren ein gleichberechtigter Partner werden. Wir sind wegen dürfen wir nicht noch einmal an derGrund- sehr erfreut darüber, dass auf der letzten Zusammenkunft rechte-Charta herumdoktern. Die Grundrechte-Charta der Außenminister ein tragfähiger Kompromiss gefun- ist das Herzstück unseres europäischen Grundgesetzes. den wurde, der auch bei unseren Kolleginnen und Kolle- Sie begründet maßgeblich unsere europäische Identität. gen im Europäischen Parlament Unterstützung findet. Ich kann der Kollegin Lührmann nur zustimmen: Es ist aus meiner Sicht – die Diplomaten dürfen und sollten Wir brauchen aber ebenso eine arbeitsfähige Kom- das nicht sagen; aber ich kann das sagen – nur schwer er- mission mit einem starkenKommissionspräsidenten. träglich, wie die britische Regierung mit ihrer Salami- Unsere Erwartungen – ich glaube, auch darin sind wir taktik gefundene Kompromisse wieder infrage zu stellen alle einer Meinung – sind relativ realistisch. Es geht mir versucht. Das ist für uns – in aller Offenheit – inakzep- gar nicht um die Größe der Europäischen Kommission. tabel. Mir geht es aber darum,dass möglicherweise jedes Kommissionsmitglied über ein eigenes Ressort verfügen (Beifall bei der SPD) möchte. Bei begrenzten Kompetenzen der Europäischen Union sehe ich darin eine Gefahr; denn die machen sich Stures Beharren auf unzähligen nationalen Befindlich- dann ihre Arbeit selbst. Umso wichtiger ist ein durchset- keiten und rote Linien ist ebenso kontraproduktiv wie zungsfähiger, integrationsfreundlicher und den Respekt das ständige Nachlegen neuer Forderungen. aller Mitgliedstaaten verdienender Kommissionspräsi- Dann ein Wort zur Preisstabilität. Es wird doch nie- dent. Ich hoffe, dass die Staats- und Regierungschefs mand hier im Hause behaupten wollen, dass Preisstabili- auch in dieser Frage eine sehr weise Entscheidung tref- tät nicht gut sei. Sie ist vor allem für die Arbeitnehme- fen. rinnen und Arbeitnehmer wichtig. Aber man kann es (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ auch übertreiben. In dieser Verfassung ist mehrfach von DIE GRÜNEN) Preisstabilität die Rede. Dass man aber die Preisstabilität vor dem Prinzip der sozialen Marktwirtschaft nennen Wir haben in diesem Hause immer wieder über den möchte, Gottesbezug gesprochen. Ich habe da eine etwas andere Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10223

Michael Roth (Heringen) (A) Auffassung als der geschätzte Kollege seitens der SPD- hoffen, dass europäischer Mut und Weitsicht am 17. und (C) Fraktion, der vor mir gesprochen hat. 18. Juni gefragt sind. Diese dürfen die Bürgerinnen und Bürger zu Recht von uns erwarten. (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Der heißt Veit!) Vielen Dank. Denn ich weiß, dass eine große Mehrheit der Kollegin- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nen und Kollegen dies wünscht bzw. nichts dagegen ein- DIE GRÜNEN) zuwenden hätte. Die säkularen Kräfte in der EU sind je- doch stark und wir müssen sie respektieren. Bei diesem sensiblen Thema bitte ich Sie – ich weiß nicht, ob Sie es Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: irgendwann in die Diskussion einbringen – um ein Stück Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gerd Müller, Verantwortungsbewusstsein; denn ein stures Festhalten CDU/CSU-Fraktion. an dieser Forderung könnte die bisher erreichten Erfolge (Beifall bei der CDU/CSU) infrage stellen. Diese sind maßgeblich auch auf das Engagement der Bundesregierung zurückzuführen. Wol- len Sie wirklich die Bezugnahme auf das religiöse Erbe Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): in der Präambel oder Art. 51, den Kirchenartikel, gefähr- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Trauen den? Ich halte sie für einen großen Erfolg und deswegen wir dem Volk? Diese Frage könnte man über diese De- sollten wir mit weiteren Forderungen sehr zurückhaltend batte stellen. Ich sage Ihnen: Das Volk ist mindestens so sein. klug wie das Abbild des Parlamentes, Herr Roth. Seit Beginn der 90er-Jahre fordern wir unablässig (Beifall bei der FDP) transparente und demokratischere Abstimmungsprinzi- pien für den Rat. Endlich ist ein Durchbruch möglich. Sie liegen sicherlich falsch, wenn Sie diese Frage so aus- Wir haben in Amsterdam vergeblich die doppelte Mehr- schließlich diskutieren, wie Sie es hier tun. heit gefordert und wir haben sie auch in Nizza leider ver- Trauen Sie dem Parlament, Herr Außenminister? geblich gefordert. Dem Volk trauen Sie jedenfalls nicht; Sie wehren sich (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das stimmt ja gegen eine Volksabstimmung, aus Ihrer Sicht aus gutem nicht!) Grunde, weil das Volk Sie mit seinem Votum hinweg- spülen würde. Sie trauen aber auch diesem Parlament Jetzt gibt es endlich die realistische Chance, sie zu errei- nicht. Seit Wochen und Monaten wird über dieses große chen. In aller Offenheit und mit allem Respekt gegen- Projekt einer europäischen Verfassung im Stil von Ge- (B) über der polnischen Regierung und vor allem der polni- heimverhandlungen hinter verschlossenen Türen gespro- (D) schen Opposition: Ich glaube nicht, dass Europachen. Unser Außenminister war bisher nicht bereit, vor ernsthaft darüber nachdenken sollte, wie man blockiert. diesem Parlament seine Verhandlungsführung und seine Stattdessen sollte man gemeinsam darüber nachdenken, Verhandlungspositionen darzulegen. wie man Europa nach vorne bringt. (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ GRÜNEN]: Wo waren Sie eigentlich in den DIE GRÜNEN) letzten Monaten?) Deswegen müssen wir Blockaden überwinden, dieDas ist die Situation: Diese Regierung traut weder Strukturen im Rat demokratischer gestalten und Europa dem Volk noch dem Parlament. handlungs- und entscheidungsfähiger machen. Deswe- gen steht das europäische Gesamtinteresse im Vorder- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – grund. [CDU/CSU]: Wahr- scheinlich auch sich selbst nicht!) Gelingt der Regierungskonferenz am 17. und 18. Juni ein guter Wurf, ist das erweiterte und vereinte Europa Der Verfassungsvertrag ist in vielen Punkten offen. Es gestärkt wie nie. Europa wird zunehmend international wäre durchaus notwendig und interessant, in aller Offen- gestalten können, wenn es dann mit einer Stimme nicht heit einen Dialog über die inhaltlichen Fragen zu führen, nur sein wirtschaftliches, sondern endlich auch sein poli- bei denen wir etwas bewegen wollen. tisches Gewicht zum Ausdruck bringen kann. Herr Außenminister, der europäische Verfassungsver- Die Tragweite und die Bedeutung dieser Entscheidun- trag sollte – das war einmal Ihr Ziel – Europa in außen-, gen sind seit Nizza unverändert geblieben und die Pro- verteidigungs- und sicherheitspolitischen Fragen bleme lassen sich nicht durch weiteres Vertagen lösen. handlungsfähig machen. Er sollte ein Stück weit mehr Wir müssen jetzt, unter irischer Präsidentschaft, das Pro- Vergemeinschaftung als Reaktion auf das europäische jekt vollenden, damit wir uns dann gemeinsam mit der Desaster beim Irakkrieg bringen und die europäische Bevölkerung und im Deutschen Bundestag über dieses Antwort darauf sein. Nichts ist passiert, Sie haben an großartige Projekt unterhalten können. Wir müssen den dieser Stelle versagt. Das, was geschaffen wurde, ist ein Bürgerinnen und Bürgern etwas Positives anbieten. europäischer Papiertiger. Unsere guten Wünsche begleiten die Bundesregie- (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE rung, den Bundeskanzler und den Außenminister. Wir GRÜNEN]: So ein Quatsch!) 10224 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Dr. Gerd Müller (A) So kann ich Sie mir als europäischen Außenminister gut rechtsetzung nicht totalverabschieden. Wir müssen(C) vorstellen. Es wird nur neue außenpolitische Bürokratie diese Fragen, die jetzt Teil der europäischen Rechtset- – diesmal europäische – aufgebaut, aber kein Schritt hin zung sind, wieder zu unserer Sache machen. Es gilt der zur Vergemeinschaftung dieses wichtigen Bereiches un- Legitimationsstrang, wie er im Bundesverfassungsge- ternommen. richtsurteil zum Maastricht-Vertrag definiert wird. Da- nach, lieber Kollege Röttgen, steht in der europäischen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Rechtsetzung zuvorderst die Legitimation über die natio- Zuruf von der SPD: Wo lebt ihr denn? Auf der nalen Parlamente und ergänzend über das Europäische Alm?) Parlament. Diese Rangfolge sehe ich nicht mehr. Der Zweitens wäre es wirklich wichtig, mit dem Volk und Deutsche Bundestag ist bei der Sekundärgesetzgebung dem Parlament über die Frage zu reden: Wollen wirweitgehend auf das Abnicken und die Kenntnisnahme mehr Subsidiarität und Föderalismus im Aufbau dieses von Papieren reduziert. Europa oder wollen wir mehr Zentralisierung und den Das merken unsere Bürgerinnen und Bürger natür- europäischen Superstaat mit einer allgegenwärtigen Zu- lich. Wir müssen Dinge verantworten, für die wir keine ständigkeit? Wir wollen keine Zentralisierung, aber die- Verantwortung übernehmen können. Die Verlagerung ser europäische Verfassungsvertrag bietet leider keinder Verantwortung für die Politikgestaltung beispiels- Modell einer klaren Kompetenzabgrenzung, damit die weise im Bereich der Daseinsvorsorge, des Zivilschutzes Bürgerinnen und Bürger in Zukunft wissen, was Brüssel oder der Kultur nach Brüssel kommt leider nicht beim entscheidet und wen sie dort wählen bzw. wegen be-Europäischen Parlament an. Wenn das denn so wäre, stimmter Entscheidungen abwählen können, was wirkönnte man selbstverständlich darüber reden. hier in Berlin und was die Landesregierungen beispiels- weise in Düsseldorf oder München entscheiden. Dies Mit dieser Bundesregierung schaffen wir eine Exeku- war das Ziel von Laeken. Dieses Ziel wurde leider nicht tivdemokratie: die Herrschaft der Beamten, alle Macht erreicht. den Beamten, keine Macht den Parlamenten. Das wollen wir nicht als Zukunft der Europäischen Union. Der europäische Verfassungsvertrag schafft leider eine sehr komplizierte Ordnung von ausschließlichen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) geteilten und koordinierenden Zuständigkeiten. In die- sem Hohen Hause blickt kaum noch einer durch, in der Deshalb, Herr Außenminister, schlagen wir fünf kon- Regierung sowieso nicht. krete Punkte zur Stärkung der nationalen Parlamente in der europäischen Rechtsetzung vor: (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE (B) GRÜNEN]: Sie schon gar nicht! – Günter Erstens. Es muss auch beim Verfassungsvertrag klar (D) Gloser [SPD]: Er schwadroniert wieder!) sein, dass die nationalen Parlamente Herren der Verträge bleiben. Wie soll das Volk dann noch wissen, wer in dieser Rechtsordnung wo was entscheidet? (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU – Günter Gloser Zweitens. Wir sind der Meinung, dass die von den [SPD]: Natürlich die CDU/CSU!) Regierungen unterbreiteten Vorschläge zu einer Ver- tragsänderung vor einem Zusammentritt der Regierungs- Damit bin ich bei der Frage der Legitimation, Herr konferenz den nationalen Parlamenten zur Diskussion Roth, der Urfrage der Demokratie. Wir werden für einen und Mitberatung vorgelegt werden müssen, damit wir konkreten Zeitraum von vier Jahren, beim Europäischen nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, in Parlament von fünf Jahren gewählt. Danach kann dasdie Situation kommen, amEnde der Debatte Ja oder Volk sagen: Nein, das war es nicht. Der wird nicht wie- Nein zu einem mehr als 1 000 Seiten umfassenden Ver- der gewählt. – Das Volk muss aber nachvollziehen kön- fassungsvertragswerk sagen zu müssen, ohne dass wir nen, welche Entscheidungen getroffen werden. Deshalb mit diesem Herrn hier darüber diskutieren konnten. Wir erhebe ich den Vorwurf von Geheimverhandlungen.müssen in den Prozess der Gestaltung eingebunden wer- Europapolitik muss parlamentarisiert werden, sie muss den. nachvollziehbar sein. Es kann nicht sein, dass sich heute die Europäische Union in die Planungen zum Frankfur- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Richtig!) ter Flughafen einschaltet. Niemand weiß, wer wo und warum. Es kann nicht sein – um einen weiteren aktuellen Drittens. Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes ist zu än- Punkt aufzugreifen –, dass wir heute über Brüssel die le- dern bzw. in folgender Weise zu ergänzen: Die Bundes- benslängliche Freiheitsstrafe abschaffen. Wer gibt denn regierung soll die Stellungnahmen des Bundestages wem in Brüssel dafür die Legitimation, einem Kommis- nicht nur berücksichtigen, wie es jetzt heißt, sondern in sar, einem Beamten? Nein, diese Fragen können undEinzelfällen – nicht in allen Bereichen, aber in den maß- dürfen nur von den nationalen Parlamenten entschieden geblichen und zentralen Fragen der europäischen Sekun- werden. därrechtsetzung – durchaus an die Stellungnahmen des Bundestages gebunden werden können. Art. 23 Abs. 3 Deshalb bringt die CDU/CSU-Fraktion zunächstSatz 3 des Grundgesetzes soll in seiner neuen Fassung einen Vorschlag zur Stärkung der nationalen Parlamente wie folgt lauten: Stellungnahmen können bindende Wir- ein. Wir dürfen uns von der europäischen Sekundär-kung haben. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10225

Dr. Gerd Müller (A) (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Sehr Das dürfe man nicht sagen; denn das sei üble Wahl-(C) richtig! – Zuruf von der SPD: Stichwort: kampfpolemik. Handlungsfähigkeit auf europäischer Ebene!) (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Eine billige In Satz 4 soll es heißen: Das Nähere regelt ein Bundes- Lüge war das! Eine ganz billige Lüge!) gesetz. Als dieser Tagesordnungspunkt endete, trat dann Herr Meine Damen und Herren, dann könnten wir sagen, Hintze auf, der den Menschen in gnadenloser Sachlich- an welchen Stellen wir uns einschalten wollen. Wennkeit verkündete, worum es geht: dass wir bei den anste- Herr Schily in Brüssel die Asylrichtlinie verabschiedet, henden Europawahlen darüber entscheiden, ob wir von muss er auch hier im Deutschen Bundestag Rechen-den Türken überflutet werden. Da wurde auch verkün- schaft ablegen, uns die entsprechenden Dokumente zeit- det, wir würden Geheimgespräche führen. nah vorlegen und sich unser Votum abholen. Dann ist die (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Ja, das ist doch europäische Rechtsetzung über die Mitwirkung der na- so! Natürlich!) tionalen Parlamente legitimiert und wir sind nah am Bür- ger. Nur das kann der Weg sein. Es wurde so getan, als hätte die jetzige Bundesregierung eine andere Grundlage für ihr Handeln, als es sie in den (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der Zeiten von und gegeben hat. SPD: Trauerspiel!) Diese Grundlage hat sich allerdings nicht geändert. Das Des Weiteren brauchen wir einnationales Klage- Einzige, was sich geändert hat, ist, dass Sie heute in der recht, und zwar als Minderheitenrecht. Darüber sind wir Opposition sind. uns, glaube ich, ebenfalls im Klaren. Auch brauchen wir (Beifall bei Abgeordneten der SPD) – das möchte ich noch einmal verdeutlichen – eine Parla- mentarisierung der Europapolitik; denn Europapolitik ist Sie, Herr Altmaier und Herr Hintze, klatschen sogar längst nicht mehr Außenpolitik im Rahmen einer Ge-noch, wenn hinsichtlichArt. 23 des Grundgesetzes heimdiplomatie. Vorstellungen geäußert werden, die, wenn wir sie umset- zen würden – das wissen Sie ganz genau –, die Verab- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schiedung von der bisherigen Integrationsorientierung Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. nicht nur der Regierung Kohl, sondern der gesamten europapolitischen Tradition bedeuten würden.

Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ich komme zum Schluss. – Deshalb hatte Bundes- sowie bei Abgeordneten der SPD) (B) (D) kanzler Schröder natürlich Recht, als er vor der letzten Nehmen Sie diesen Herrn von der CSU eigentlich ernst? Bundestagswahl angekündigt hat, Herrn Außenminister Ich nehme zwar an, dass Sie das nicht tun. Aber wenn Fischer durch eine Kabinettsreform die Zuständigkeit für Sie ihn ernst nehmen, müssen Sie wissen, dass er euro- die Europapolitik zu nehmen. Diesen Schritt würden wir papolitische Positionen vertritt, mit denen er näher bei durchaus begrüßen. den britischen Konservativen um Maggie Thatcher als Herzlichen Dank. bei Helmut Kohl, Konrad Adenauer oder wem auch im- mer ist. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen, Deswegen sage ich Ihnen: Das, was Sie hier vorgetragen . haben, können Sie vergessen. Die direkte Konsequenz davon wäre, dass es nur noch Geheimverhandlungen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gäbe. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Eine Stärkung des Deutschen Bundestages! Das ist mein Vor- Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: schlag wegen Ihrer Arroganz!) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am heutigen Morgen haben wir bereits zwei Debatten ge- Ich weiß nicht, an wie vielen Ausschusssitzungen und führt: diese Europadebatte und die vorherige DebatteDiskussionen wir teilgenommen haben. Kollege über den Nahen und Mittleren Osten. Das war unter dem Altmaier war sogar Mitglied des Konventes. Bei den jet- Gesichtspunkt der Glaubwürdigkeit der Oppositionspoli- zigen Verhandlungen ist als Repräsentant des Bundes- tik sehr interessant. Im Hinblick auf den Irak wurde der rates übrigens immer der zuständige Staatssekretär aus Vorwurf erhoben, Kollege Volmer würde WahlkampfBaden-Württemberg anwesend. Offensichtlich ist die machen. Man müsse sich moderat verhalten und selbst- vertrauensvolle Beziehung zwischen Bayern und Baden- verständlich dürften wir nicht daran erinnern, dass Frau Württemberg mittlerweile so zerrüttet, dass er Sie nicht Merkel der Meinung war, wir sollten Soldaten in denmehr informiert. Irak schicken. (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Ach Gott! – (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Lüge! Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Geht es Verlogener Typ!) noch billiger?) 10226 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Bundesminister Joseph Fischer (A) Mein Eindruck ist, dass zumindest die Bayerischehier einen ganz entscheidenden Schritt nach vorn getan (C) Staatsregierung hervorragend informiert ist. haben; das ist eine neue Qualität des Parlaments. (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Auf diesem Ni- (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Null Komma veau antworten Sie auf einen sachlichen Bei- null!) trag!) – Nix Null Komma null. Dann frage ich Sie, warum Mi- Nein, meine Damen und Herren, das zeigt, worum es nisterpräsident Teufel, Kollege Altmaier und Kollege wirklich geht: Es geht Ihnen ausschließlich um Stim-Hintze dies in der Vergangenheit gepriesen haben. Of- mungsmache, und zwar um Stimmungsmache – dasfensichtlich befinden Sie sich im Zustand wahlkampf- hätte ich Ihnen von der Union, ehrlich gesagt, nicht zu- orientierter Schizophrenie zwischen CDU und CSU. Sie getraut – gegen die Verfassung. müssten sich da schon einmal einigen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Gerd Müller [CDU/ und bei der SPD) CSU]: Art. 23 ist Stimmungsmache? Da lache Ein weiterer Punkt in dem Zusammenhang: Wenn Sie ich ja!) hier allen Ernstes sagen, dass dieeuropäische Sicher- Da ist aber meines Erachtens Schluss mit lustig und auch heits- und Außenpolitik und der kommende Außenmi- Ende mit Wahlkampf: Das hat nichts mehr mit der Frage nister mit dem „Doppelhut“ kein Schritt nach vorne wä- zu tun, ob man für oder gegen einen Volksentscheid ist. ren, dann ist das so etwas von daneben! Jeder weiß doch: Die Position, die hier gerade vorgetragen wurde, bedeu- Die FDP, die CDU, die Grünen und die Sozialdemokra- tet doch im Klartext: Wir sagen, dass die Verfassung in ten, wir alle haben hier dafür gestritten, Richtung eines europäischen Superstaates geht, einer (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Sie bereiten Beamtenherrschaft. sich schon auf den Doppelsitz vor!) (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Solche Leute dass wir diesen Fortschritt endlich bekommen. Aber was wie Sie!) ist mit der CDU? Der Stadtverband München ist ja nun von europäischer Leuchtkraft sondergleichen, wenn man – Na gut, wenn das Ihre Position ist, dann kann ich Ihnen die Dinge so liest, die da bei euch, zwischen nur sagen: Diese Auseinandersetzung nehmen wir gerne Singhammer und Müller, so vor sich gehen. auf. (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- NEN) (B) SES 90/DIE GRÜNEN) (D) Ich kann Ihnen nur sagen: Vergessen Sie all das, das ist Was stellen wir denn fest? Sie kommen an und sagen: Wahlkampf, unterstes Niveau. Die EU-Kommission mischt sich in die Planungen zum Frankfurter Flughafen ein. Es war doch nicht die (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt, aber Kommission, die plötzlich den Bannwald am Frankfur- bei Ihnen!) ter Flughafen als FFH-Gebiet ausgewiesen hat, sondern – Wenn das Thema der Verfassung so angegangen wird, ein Regierungspräsident in Darmstadt, der weder dengehört das zur Sache, meine Herren und Damen. Sozialdemokraten noch den Grünen angehört. Wer hat denn da die Rechtslage verändert? Es war die hessische (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Sie trauen we- Landesregierung, die zuständige regionale Behörde in der dem Volk noch dem Parlament! – Dirk Person des Darmstädter Regierungspräsidenten. Das ist Niebel [FDP]: Volksentscheid!) bei Ihnen nicht angekommen. – Das können wir so nicht stehen lassen. Mir geht es da- Der zweite Punkt in dem Zusammenhang, „Herr-rum, aufzuzeigen, wo wir jetzt bei der Verfassung ste- schaft der Beamten“: Die Rechte des Europäischen Par- hen. Meine Haltung zum Volksentscheid kennen Sie. laments werden, wenn diese Verfassung Wirklichkeit (Dirk Niebel [FDP]: Dann sagen Sie es doch wird, in einem Maße ausgeweitet, wie es bisher noch nie einmal!) der Fall war. – Meine Haltung ist die: Wir sollten am Ratifizierungs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verfahren, so wie wir es haben, festhalten. und bei der SPD) (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Sie trauen dem Alles, was unter das Mitentscheidungsverfahren fällt, Volk nicht!) betrifft den Rat und das Parlament; das heißt, die Aus- dehnung der Rechte des Parlaments ist massiv. Sie hier Ich teile diese Meinung mit Hans-Dietrich Genscher; Sie im Deutschen Bundestag haben in Zukunft die Subsidia- werden es nicht glauben. Meine Fraktion ist, was die ritätskontrolle, Grundsätze anbetrifft, anderer Auffassung; ich bin in ei- ner Minderheitenposition. (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das ist nicht nachvollziehbar!) (Dirk Niebel [FDP]: Wir schützen Sie! – Hei- terkeit bei der CDU/CSU und der FDP – und zwar nicht nur abwartend, sondern aktiv – sie liegt Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Joschka Fischer bei den Parlamenten der Mitgliedstaaten –, sodass wir ist Basisdemokrat!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10227

Bundesminister Joseph Fischer (A) – Was ist für Liberale eigentlich so tragisch daran, sich irische Präsidentschaft einen Vorschlag vorgelegt, der(C) in einer Minderheitenposition wiederzufinden? Sehen darauf hinausläuft, dass sich beide Seiten einigen müs- Sie, ich fühle mich unter diesem Gesichtspunkt wohlbe- sen. Das Parlament hat in der Sitzung positiv reagiert. hütet von Ihnen. Viele der Mitgliedstaaten, die vorher energisch gegen das Letztentscheidungsrecht des Parlaments waren, ha- Ich würde das Haus jetzt gerne über den letzten Stand ben ebenfalls positiv reagiert. Ich kann also die Prognose der Verhandlungen unterrichten, damit dem Vorwurf der wagen, dass die Formulierung, die die Präsidentschaft Geheimverhandlungen selbst Schwerhörigen gegenüber vorgeschlagen hat, Zustimmung finden wird und so ein direkt entgegnet werden kann. Wir hatten am letzten Konflikt, eine institutionelle Konfrontation zwischen Montag die wichtigsten Punkte nochmals aufgerufen. Parlament und Rat verhindert werden kann. Ich stimme all denen zu, die die irische Präsidentschaft gelobt haben, aber ich möchte nicht versäumen zu sagen: Der dritte Punkt betrifft die Parlamentssitze. Die Das alles gründet auf den Vorarbeiten der italienischen kleinsten Mitgliedstaaten haben nochmals darum gebe- Präsidentschaft; auch das will ich hier nochmals aus-ten, das Mindestquorum um einen Sitz anzuheben. Die drücklich erwähnen. Die irische Präsidentschaft wirdBundesregierung hat sich dahin gehend geäußert, sie meines Erachtens einen abschließenden Gesamtentwurf habe nichts dagegen, allerdings könne eine Anhebung vorlegen, in dem die offenen Fragen behandelt werden. nicht zulasten unseres Anteils gehen. Eine Anhebung würde also eine maßvolle Erhöhung der Gesamtzahl der Erstens. Die schwierigste Frage und zugleich die Sitze bedeuten, wobei Spanien und Polen ebenfalls Dis- wichtigste Frage der demokratischen Machtverteilung ist kussionsbedarf angemeldet haben. Ich glaube, wir wer- das Abstimmungsverfahren. Bei diesem Abstim- den aber auch diese noch offene Frage abhaken können. mungsverfahren zeichnet sich jetzt ab, dass alle die dop- pelte Mehrheit akzeptiert haben, dass sich der Verhand- Es ist also nur noch die Frage des christlich-religiösen lungsspielraum zwischen dem, was vor allen Dingen Erbes offen. Wir haben dafür gestritten und haben uns viele kleinere Mitgliedstaaten wollen – pari/pari, 50/50; dafür eingesetzt, eine Formulierung zu finden, die in Österreich ist hier an erster Stelle zu benennen –, und Richtung der Formulierung geht, die in unserem Grund- 55/65, dem Ratsvorschlag, bewegt. Ich denke, es ist von gesetz steht. Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen, entscheidender Bedeutung, dass wir diesen Schritt jetzt dass nicht nur die Staaten, die eine geringere Bindung an gemacht haben, dass die doppelte Mehrheit dem Grunde die christlich-religiöse Tradition haben, dagegen sind, nach akzeptiert ist. Ich glaube auch, wir werden hiersondern auch die Staaten, die ein anderes Verständnis letztendlich einen Kompromiss finden können; das ist der Trennung von Staat und Religion haben. Ich gehe da- zumindest mein Eindruck aus der Runde der Außenmi- von aus, dass man sich auf die Formulierung, die der nister. Auch die Gespräche, die der Bundeskanzler inKonvent gefunden hat – es war schon schwierig genug, (B) (D) Warschau geführt hat, zeigen, dass sich eine Einigung sich darauf zu verständigen –, einigen wird. – Das waren abzeichnet und, anders als im Dezember, erreichbar ist. die letzten entscheidenden Punkte, die uns beschäftigt haben. Es gibt Überlegungen, den Ratsvorschlag zur Grund- lage zu nehmen. Das hieße, dass man bei der doppelten Abschließend eine Bemerkung zu den Vorschlägen Mehrheit, der Staatenmehrheit und der Bevölkerungs- hinsichtlich der Ausdehnung der qualifizierten Mehr- mehrheit, ein Bevölkerungsminimum ansetzt. heit. Für uns ist wichtig, nun den erreichten Verhand- lungsstand zu den Bereichen Innen und Recht entspre- (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Die Zuhörer chend zu verteidigen. gehen, weil sie das nicht mehr verstehen! So ist das!) Die Präsidentschaft wird einen Gesamtvorschlag vor- legen, der alle bis dahin offenen Fragen berücksichtigt. – Derjenige, der das gerade gesagt hat, ist derjenige, der Es besteht also die echte Chance, dass wir einen erfolg- sich andauernd darüber beschwert, es gebe Geheimver- reichen Abschluss erzielen können. Ich denke, das ver- handlungen. Entscheidend ist doch, dass ich jetzt die Ge- danken wir dem guten Willen aller Beteiligten. Wir wis- legenheit nutze, das Haus zu unterrichten. Bisher hatte sen, was für Europa davon abhängt. Um die EU der 25 ich noch nicht die Möglichkeit, das im Ausschuss zu tun. handlungsfähig, demokratisch, effizient und transparent Ich nehme doch an, dass es Sie interessiert, wo wir vor zu machen, brauchen wir unbedingt diesen Verfassungs- den entscheidenden Verhandlungen stehen. vertrag. Bei der Bevölkerungsmehrheit, bei der Staatenmehr- Um den Risiken, über die wir heute Morgen diskutiert heit ebenso, soll eine entsprechende Klausel vorgesehen haben, und den Gefahren, mit denen wir es zu tun haben, werden, um dem Direktoriumsvorwurf zu begegnen wie begegnen zu können, setzt das eine handlungsfähige Eu- auch dem Vorwurf, es könne eine Mehrheit der kleinen ropäische Union voraus. Ich denke, mit diesem Verfas- Staaten geben ohne ein entsprechendes Minimum an Be- sungsvertrag, wenn er so abgeschlossen wird, haben wir völkerung. Sonst würde der Gedanke der doppelten tatsächlich den qualitativen Schritt der Vertiefung er- Mehrheit sinnverkehrt in der Realität umgesetzt. Ich reicht, den wir am 1. Mai mit der Erweiterung gemacht denke, in diese Richtung wird es gehen. Das wäre mei- haben. nes Erachtens ein echter Schritt nach vorne und würde einen erfolgreichen Abschluss ermöglichen. Ich danke Ihnen. Der zweite Punkt betrifft das Letztentscheidungsrecht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN des Parlaments im Haushaltsverfahren. Hierzu hat die und bei der SPD) 10228 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Außenminister, es ist bemerkenswert, wie Sie(C) Das Wort hat der Kollege Guido Westerwelle, FDP- das hier vorgetragen haben. Sie sagten, Sie befänden Fraktion. sich in einer Minderheitenposition. Das ist überhaupt nichts Ehrenrühriges. Das kommt in der Politik immer wieder vor. Jeder, der in der Politik arbeitet, war regel- Dr. Guido Westerwelle (FDP): mäßig auch schon in Minderheitenpositionen, ganz Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undgleich, an welcher Position er arbeitet. Das ist das Nor- Herren! Im Laufe der Debatte ist mehrfach der Eindruck malste der Welt. Herr Minister Fischer, das Problem ist erweckt worden, als wäre das, was wir in unserem An- nicht, dass Sie beim Thema Volksabstimmung sagen, Sie trag fordern, nämlich über die gemeinsame europäische seien in einer Minderheitenposition gegenüber Ihrer Verfassung auch in Deutschland eine Volksabstimmung Fraktion. Das Problem ist, dass Sie die Parole ausgege- zuzulassen, mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Esben haben, dass sie Ihnen statt ihrem Gewissen folgen wurde so getan, als sei unser Antrag gegen das Grundge- müssen. Das ist meines Erachtens eine klare Fehlent- setz bzw. gegen dessen Geist gerichtet. scheidung in diesem Hause. Ein Blick ins Gesetz erleichtert bekanntlich die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Rechtsfindung. Deswegen möchte ich Ihnen Art. 20 der CDU/CSU – Dr. Gerd Müller [CDU/ Abs. 2 des Grundgesetzes noch einmal vor Augen füh- CSU]: Die so genannte Sonnenkönigtheorie!) ren. Dort heißt es:

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: vom Volke in Wahlen und Abstimmungen … aus- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des geübt. Kollegen Winkler? Wir kennen im Grundgesetz übrigens auch ganz kon- krete Fälle für eine Volksabstimmung. Wenn sich zum Dr. Guido Westerwelle (FDP): Beispiel zwei Länder neu gliedern wollen – das haben Ja, bitte sehr. wir mit Berlin und Brandenburg erlebt –, (Michael Roth [Heringen] [SPD]: An dem Pro- Josef Philip Winkler(BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- seminar haben wir schon teilgenommen!) NEN): Herr Westerwelle, ganz unabhängig davon, dass ich dann muss natürlich eine Volksabstimmung durchge- nicht ganz verstehe, was Sie gegen Krötentunnel haben, führt werden. Zwei Länder, die sich zusammenschließen möchte ich Sie etwas fragen. (B) wollen, müssen also das Volk befragen. Die Eingliede- (D) rung Deutschlands in eine europäische Staatlichkeit ist Man könnte sich vorstellen, dass es im Wahlkampf im Vergleich dazu mit Sicherheit weit wichtiger. Des- auch um populistische Forderungen geht. Das will ich halb sollte dazu erst recht das Volk befragt werden. Ihnen gar nicht unterstellen. Wieso entwickelt die FDP nur dann, wenn es um die EU-Verfassung geht, plötzlich (Beifall bei der FDP) ein Liebesgefühl für plebiszitäre Elemente in der Verfas- Herr Minister Fischer, ich kann verstehen, dass die sung? Wir haben in unserem Antrag gesagt, dass das Kolleginnen und Kollegen der Unionsparteien, die bei Volk selbst entscheiden soll, über welche Themen im solchen Mitteln der direkten Demokratie seit vielen Jah- dreistufigen Verfahren abgestimmt wird. Es soll also von ren eher skeptisch sind, auch hier ihre Skepsis zum Aus- unten herauf und nicht vom Bundestag herunter be- druck bringen. Abenteuerlich wird es nur dann, wennstimmt werden, über welches spezielle Thema abge- sich die Grünen und die Sozialdemokraten, die bei jeder stimmt wird. Warum haben die wenigen Abgeordneten Klein-Klein-Frage immer wieder für die Volksabstim- der FDP-Fraktion, die an der damaligen Abstimmung mung geworben haben, teilgenommen haben, mehrheitlich dagegen gestimmt? (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Bei Ihrer Partei aber vergeblich!) Dr. Guido Westerwelle (FDP): Zunächst einmal ist es gut, dass Sie mir die Gelegen- bei der europäischen Verfassung auf Ihren Standpunkt, heit geben, das klarzustellen. Wie jede andere Partei Herr Fischer, disziplinieren lassen. auch haben wir in den letzten Jahren mehrfach über (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Weil sie Angst diese Frage gesprochen. Natürlich haben auch wir den haben!) Eindruck gewonnen, dass die Distanz zwischen der Poli- tik und dem Volk zugenommen hat. Durch mehr Mittel Die Grünen sind sonst für Volksabstimmungen über je- der direkten Demokratie wollen wir diese Distanz zwi- den Krötentunnel, bei der europäischen Verfassung sind schen den politischen Entscheidern und dem Volk wie- sie aber nicht dazu bereit, weil sie Angst vorm Volk ha- der verringern. ben. Das ist der falsche Ratgeber. Es gibt einen massiven Unterschied zwischen uns, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – den ich Ihnen auch nennen werde; das braucht man gar Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE nicht zu verkleistern: Wir Liberale wollen, dass die re- GRÜNEN]: Warum hat Ihre Partei dagegen präsentative Demokratie durch direkte Mitwirkungs- gestimmt?) möglichkeiten ergänzt und nicht ersetzt wird. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10229

Dr. Guido Westerwelle (A) (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Wer will kussion über europäische Zustände als vielmehr die(C) denn etwas ersetzen?) Nichtdiskussion über den europapolitischen Zustand der Christdemokraten wider. Bei Ihnen ist heute von fort- Wir wollen nicht, dass für jede Klein-Klein-Entschei- schreitender Integration nicht mehr die Rede, sondern dung eine Volksabstimmung durchgeführt wird, sondern eher von anhaltender Stagnation. Sie haben keinen Mut wir wollen sie bei historischen Schlüsselentscheidungen. mehr für die Zukunft. Bei Ihnen herrscht nur noch Klein- Die EU-Verfassung ist eine solche historische Schlüssel- mut vor. Der Beitrag des Kollegen Müller – das ist wirk- entscheidung. lich zu bedauern – ist der Einstieg in den Ausstieg unse- (Beifall bei der FDP) rer gemeinsamen Überzeugung des europäischen Verfassungsprojekts. Der Vorwurf des Populismus ist von Ihnen immer wieder erhoben worden. Der Außenminister spricht von (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wahlkampf und Sie sagen, Sie wollten uns keinen Popu- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lismus vorwerfen, tun es damit aber. Das ist das übliche Spiel. Das kennen wir; das ist ein bisschen einfach. Des- Es ist schon bedauerlich, dass Sie sich auf den glei- wegen möchte ich Ihnen nur einmal sagen, wie die Lage chen Weg wie Ihre CSU-Kolleginnen und Kollegen im in Europa aussieht: Dänemark, Irland, Luxemburg, die Europäischen Parlament begeben, die vor einem Jahr ge- Niederlande, Polen, Lettland, Frankreich, Österreich,gen den Beitritt Tschechiens gestimmt haben. Ansonsten Portugal, Spanien, Ungarn, Tschechien, Slowenien und gibt es bei Ihnen nur reine Taktik statt europäischer In- Slowakei – all diese Länder haben schon beschlossen, halte. Im Straßburger Parlament wurden von der Frak- dass es dort ein Referendum geben wird, sind dabei, zu tion der europäischen Christdemokraten zuerst die engli- beschließen, dass es dort ein Referendum geben wird, schen Konservativen aufgenommen – sie sind oder haben schon die Möglichkeiten dafür geschaffen, bekanntlich nicht europäisch –, dann die italienische dass es dort ein Referendum geben wird. Wollen wir da- Forza Berlusconis, die bekanntlich keine Christdemo- bei zusehen, wenn unsere Regierung erklärt, unser Volk kraten sind. Ergebnis: eine große Zahl von Abgeordne- sei dafür nicht reif genug? Unser deutsches Volk istten und eine kleine Zahl von Gemeinschaft. demokratisch genauso reif wie all die Staaten in Europa, Im aktuellen Europawahlkampf fällt Ihnen deshalb in denen die Bürger darüber abstimmen dürfen. nichts anderes ein, als Bilder von Angela Merkel zu pla- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Gerd katieren. Sie hatte bekanntlich im Jahre 2003 ihre Unter- Müller [CDU/CSU]) stützung für den Spalterbrief der acht EU-Staaten bekun- det. Sie erinnern sich: Das waren die Kriegswilligen im Wir wollen, dass abgestimmt wird. Wir sind der Über- Irak. Heute wollen Sie das nicht mehr wahrhaben. (B) zeugung, dass dies ein wesentliches Element ist, um das (D) Thema Europa endlich wieder in die Herzen der Bevöl- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kerung hineinzubringen. Das ist unser eigentliches An- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) liegen. Wir sollten uns Gedanken darüber machen, dass bei der letzten Wahl zum Europäischen Parlament inWürden Sie sich heute weniger von Wahlkampftaktik Brandenburg nur 30 Prozent zur Wahl gegangen sind. leiten lassen und stattdessen offen argumentieren, so Das liegt vielleicht auch daran, dass wir selber eine Ent- müssten Sie zugeben, dass Sozialdemokratinnen und So- wicklung bekämpfen müssen, die da heißt: Europa ist zialdemokraten ebenso wie Grüne heute meist das fort- ein Europa der Staatsgipfel. Es muss aber ein Europa der führen und erfolgreich weiterbringen, was Sie früher Bürgerinnen und Bürger sein. Diese Verfassung sollte selbst gefordert haben. vom Volk getragen werden. Ich sage Ihnen: Wenn es heute um Wegmarkierungen Es war ein Fehler, dass nach der deutschen Einheitund um einen Meilenstein im europäischen Verfassungs- über unser gemeinsames Grundgesetz nicht vom Volk prozess geht, so sind wir als SPD stolz, dazu Wegwei- abgestimmt wurde. Eine riesige Mehrheit wäre diesen sendes beigetragen zu haben. Schon 1866 im Kaiserreich Weg mitgegangen. Dieser Fehler sollte sich in Europa forderte der ADAV im ersten Wahlprogramm die deut- nicht wiederholen. sche Einheit als einen Anfang des solidarischen europäi- schen Staates. 1925 sprach sich die SPD in Weimar für (Beifall bei der FDP – Michael Roth [Herin- die Bildung der vereinigten Staaten von Europa aus, um gen] [SPD]: Das war damals doch Ihre Ent- zur Interessensolidarität aller Völker zu gelangen. Vor scheidung! – Dr. Angelica Schwall-Düren 60 Jahren trug eine linke Widerstandsgruppe gegen die [SPD]: Damals stellten doch Sie die Regie- Nazidiktatur den Namen „Europäische Union“. Ihr ge- rung!) hörte unter anderem der unvergessene Professor Robert Havemann an. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: 1984 formulierte der italienische Sozialist Altiero Das Wort hat der Kollege Axel Schäfer, SPD-Frak- Spinelli im Europäischen Parlament den ersten Verfas- tion. sungsentwurf, ein Modell, das alle weiteren konstitutio- nellen Überlegungen inspirierte und auch von den Frak- Axel Schäfer (Bochum) (SPD): tionen dieses Hauses getragen worden ist. Schließlich Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wurde 1999 auf Initiative von Gerhard Schröder und der Der CDU/CSU-Antrag spiegelt heute weniger die Dis- rot-grünen Bundesregierung mit dem Konvent zur 10230 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Axel Schäfer (Bochum) (A) Europäischen Grundrechte-Charta der Nukleus für die Siebtens. Für die Beratung von Angelegenheiten, die (C) europäische Verfassung geschaffen. nicht Gegenstand des Frühwarnmechanismus sind, sollte der heute bestehende Verfahrensgang – abgesehen vom Wir wollen ein europäisches Deutschland. Deshalb einheitlichen beschleunigten Überweisungsverfahren – muss die deutsche Europafähigkeit gestärkt werden. Es fortbestehen. ist notwendig, dass wir uns als Bundestag darüber Klar- heit verschaffen, welche Konsequenzen sich aus der eu- Achtens. Die COSAC und die Konferenz der Parla- ropäischen Verfassung künftig für unsere Tätigkeiten er- mentspräsidenten sind als wichtigste Elemente in den geben. Erstmals werden die nationalen Parlamente mit Prozess und die Bewertung der Subsidiaritätskontrolle 25 Staaten die Möglichkeit haben, die Einhaltung des einzubeziehen. Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzips bei eu- Besondere deutsche Interessen haben die europäische ropäischer Rechtsetzung direkt zu kontrollieren. Entwicklung, auch in der Verfassungstradition, befruch- (Beifall bei der SPD) tet. Ich erinnere an den Maastrichter Vertrag, in den auf unsere Initiative hin der Ausschuss der Regionen aufge- Das Protokoll zum Verfassungsentwurf beinhaltet eine nommen wurde. Er erhält jetzt das Klagerecht. Ich erin- direkte Beteiligung der nationalen Parlamente. Da- nere auch an die regionale und kommunale Selbstver- durch ergeben sich Chancen einer frühzeitigen, kon-waltung. Die künftige EU-Verfassung achtet nicht nur struktiven Mitwirkung des Deutschen Bundestages in die föderale Struktur unseres Grundgesetzes, sondern sie EU-Angelegenheiten. gewährt auch der Selbstverwaltung einen Schutz. Das ist bemerkenswert, wo wir doch wissen, dass viele Länder Der so genannte Frühwarnmechanismus wird ein Ge- eher zentralistisch ausgerichtet sind. staltungsinstrument sein, also ein Instrument zur Ausfor- mulierung europäischer Politik und nicht zur Verhinde- Wir müssen uns einige selbstkritische Fragen stellen. rung. Das sage ich ausdrücklich in Richtung Bundesrat, Sind wir in Europa heute tatsächlich schon auf der Höhe dessen Bedeutung und Verantwortung in der EU gestärkt der Zeit? Werden wir durch unsere parteiliche, politi- werden. Künftig gilt: Das Europäische Parlament, der sche, auch parlamentarische Wirklichkeit schon dem Ministerrat und die Kommission berücksichtigen die be- Anspruch gerecht, den wir selbst in der Verfassung for- gründeten Stellungnahmen der nationalen Parlamente muliert haben? Ganz konkret frage ich uns alle im Parla- der Mitgliedstaaten oder einer der Kammern der nationa- ment: Gibt es tatsächlich schon echte europäische Par- len Parlamente. teien, die länderübergreifend agieren? Warum haben wir noch keinen europäischen Spitzenkandidaten für die Die Umsetzung der Bestimmungen der künftigen EU- Wahl zum Europäischen Parlament? (B) Verfassung geht mit einer Verbesserung der Europafä- (D) higkeit unseres Parlaments einher. Die SPD hat dazu (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Einen Mann konkrete Vorschläge erörtert und Ihnen vorgelegt, auf wie Herrn Köhler!) die Sie gerne eingehen können. Ist es künftig noch akzeptabel, den Bürgerinnen und Erstens. Das Informationsmanagement unseres Parla- Bürgern vor der Wahl nicht zu sagen, wen Sozialdemo- ments muss sich auf die Zuleitung von EU-Dokumenten kraten, Christdemokraten und Liberale als Kandidaten direkt durch die europäischen Organe einstellen. für die Präsidentschaft der Europäischen Kommission benennen? Wir müssen alle besser und für Europa fit Zweitens. Angesichts der knapp bemessenen Fristen werden. müssen relevante EU-Dokumente künftig direkt vom Bundestagspräsidenten über den Vorsitzenden des EU- (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Stellen Sie sich Ausschusses an die Ausschüsse überwiesen werden. einmal vor, Sie wären der Spitzenkandidat!) Eine letzte Bemerkung zum Antrag der Kolleginnen und Drittens. Eine Vorfeldbeobachtung von europäischen Kollegen zur Europäischen Verfassung. Rüdiger Veit hat Rechtsetzungsvorhaben sowie deren intensive inhaltli- unsere grundsätzliche Position dargelegt. Ich sage zu- che Beratung sind für uns unabdingbar. gleich, dass wir über dieses Thema weiter diskutieren Viertens. Im Hinblick auf die knappe Fristsetzungmüssen. Dafür gibt es zwei ganz wichtige Gründe. Zum sind auf Grundlage von Art. 45 des Grundgesetzes Rege- einen – das ist schon gesagt worden – gibt es tatsächlich lungen zur Abgabe von plenarersetzenden Beschlüssen in der Mehrheit der EU-Staaten die Diskussion über Ple- über die Subsidiaritätsrüge durch den EU-Ausschussbiszite. Noch gestern hat ein Abgeordneter der französi- vorzusehen. schen Nationalversammlung, ein Christdemokrat, uns Deutsche danach gefragt, wie es bei uns weitergehen Fünftens. Der Bundestag selbst muss eine neue Ba- wird. lance zwischen dem Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union und den Fachausschüssen bei Es gibt zum anderen tatsächlich den Art. 146 des der Subsidiaritätskontrolle schaffen. Grundgesetzes, den Schlussartikel, der besagt, dass das Grundgesetz seine Gültigkeit dann verliert, wenn eine Sechstens. Der Europaausschuss braucht spezielle Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in Berichterstatter und in den Fachausschüssen brauchen freier Entscheidung beschlossen worden ist. Wir haben wir EU-Berichterstatter, die gemeinsam europäischebekanntlich aus respektablen Gründen bisher nicht da- Rechtsetzungsvorhaben prüfen. von Gebrauch gemacht. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10231

Axel Schäfer (Bochum) (A) Ich betone aber an dieser Stelle: Weimar ist kein Ar- Die PDS hat nun einmal ein anderes Europabild als(C) gument gegen Plebiszite, auch wenn das immer wieder die CDU/CSU, nämlich kein militärisches, sondern ein behauptet wird. friedliches, kein kapitales, sondern ein soziales und kein obrigkeitsstaatliches, sondern ein bürgerrechtlich-demo- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: kratisches Bild. Deshalb sagen wir Nein zum Antrag der Herr Kollege, Ihre Redezeit! CDU/CSU. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Axel Schäfer (Bochum) (SPD): tionslos]) Ich komme zum Schluss. Der Antrag der FDP liegt uns näher. Er fordert eine (Lachen bei der CDU/CSU) Volksabstimmung über die künftige EU-Verfassung. Dazu muss das Grundgesetz geändert werden. Die PDS Europa könnte aber ein gutes Argument für mehr di- ist seit Jahren dafür. rekte Demokratie sein. Dies ist in der Europäischen Union nur dann zu realisieren, wenn alle Staaten am sel- Wie wir alle wissen – das spielte auch heute in der ben Tag über die gemeinsame Verfassung abstimmen. Debatte schon eine Rolle –, ist der neue FDP-Antrag le- Dabei gilt: Die Mehrheit ist die Mehrheit der Bürgerin- diglich die kleinere Variante eines größeren Antrags, der nen und Bürger und die Mehrheit der Staaten. Volksentscheide und Abstimmungen auf Bundesebene auch bei anderen Themen zulässt. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (frak- Herr Kollege, ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern. tionslos) Nun haben heute Morgen sicherlich Millionen Zu- Axel Schäfer (Bochum) (SPD): schauer den Abgeordneten Ferber von der CSU im Fern- Das ist der europäische Weg, den wir weiterverfolgen sehen gehört. Er meinte, der FDP-Antrag sei zu kurz ge- wollen; denn das wichtigste deutsche Interesse gilt der sprungen. Er, Ferber, wolle eine europaweite und nicht europäischen Einigung. nur eine deutsche Volksabstimmung. Das finde ich au- Vielen Dank. ßerordentlich bemerkenswert. Frau Merkel und Herr Glos mimen in Europa den großen Springinsfeld, wäh- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rend ihnen zuhause die Füße einschlafen, wenn es um di- DIE GRÜNEN) rekte Demokratie geht. So viel Doppelzüngigkeit wie die CDU/CSU prakti- (B) (D) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: zieren derzeit nur noch die Grünen. Das Wort hat die Kollegin Petra Pau. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Petra Pau (fraktionslos): tionslos]) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aber auch deren Verwirrspiel ist beeindruckend. Dazu Wir diskutieren heute erneut über die Europäischebraucht man nur die Reden vom grünen Vorsprecher Union. Das ist nahe liegend. Denn die EU wurde amFischer und vom grünen Spitzenmann Cohn-Bendit zu 1. Mai erweitert; am 13. Juni wird das EU-Parlament ge- vergleichen. Der eine sagt hü, der andere hott. Aber am wählt und die Verhandlungen über die künftige EU-Ver- Ende kommt nichts dabei heraus, jedenfalls keine di- fassung laufen noch. Deshalb begrüßt die PDS im Bun- rekte Demokratie. destag diese Debatte. Ich könnte in diesem Zusammenhang zelebrieren, (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- was Rot-Grün nach dem Motto „Rein in die Kartoffeln, tionslos]) raus aus den Kartoffeln“ seit 1998 aufführt, wenn es um mehr Demokratie geht. Das ist kabarettreif. Immer, Uns liegen außerdem zwei konkrete Anträge vor, und wenn es um unverbindliche Versprechen geht, dann sind zwar einer von der CDU/CSU und einer von der FDP. SPD und Grüne dafür. Immer, wenn es zum Schwur Insofern können wir konkret zur Sache reden. kommt und um konkrete Beschlüsse geht, dann sind sie Der CDU/CSU-Antrag ist der längere, aber mitnich- dagegen. ten der bessere. Kurz gefasst wollen Sie die Europäische Nun stehen Sie erneut vor der Wahl: Entweder Sie Zentralbank stärken und vor der Politik schützen. Sie machen sich endlich ehrlich und stimmen mit der PDS wollen eine grundsätzliche Absage an eine EU-Mitglied- dem FDP-Antrag zu oder Sie bleiben unglaubwürdig schaft der Türkei. Sie wollen obendrein Gottes Segen in und lehnen auch diesen Antrag ab. der Präambel der Verfassung verankern. Nun noch einmal zu dem Pseudoargument, dass ent- Das alles lehnt die PDS im Bundestag ab. Wir wollen weder alle EU-Staaten abstimmen sollten oder keiner. einen Sozialpakt als Basis der künftigen EU. Wir schla- Nachdem selbst Großbritannien seine Blockade gegen gen niemandem die Tür zur EU zu. Wir wollen eine Ver- eine Volksabstimmung aufgegeben hat, gehört die Bun- fassung, die zusammenführt und nicht trennt. desrepublik zu den wenigen, die sich noch immer ver- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- weigern. Das ist die Lage. Sie ist alles andere als ein tionslos]) demokratisches Aushängeschild für die Bundesrepublik. 10232 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Petra Pau (A) Ich weiß, dass das Tradition hat. Schon 1990 haben die Es wird leichthin gesagt, die Politiker müssten eben(C) CDU/CSU und die Mehrheit der SPD eine Volksabstim- ihre Bevölkerungen überzeugen, wenn sie wirklich woll- mung über die deutsche Verfassung abgelehnt, obwohl ten, dass eine europäische Verfassung in Kraft tritt. Herr sie im Grundgesetz angelegt ist. Aber ein Fehler wird Kollege Hoyer, Sie haben dabei aber außer Acht gelas- nicht besser, wenn man ihn ständig wiederholt. sen, dass wir seit einigen Jahren in diesem Land einen Bundeskanzler haben, der es noch nicht einmal schafft, Schließlich darf ich noch daran erinnern, dass eineseine eigene Partei von der Notwendigkeit und Richtig- deutliche Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland für keit seiner nationalen Politik zu überzeugen. Wie soll ein eine Volksabstimmung ist. Die PDS hat das immer ge- solcher Bundeskanzler die Menschen in diesem Land da- fördert und wir werden den FDP-Antrag noch ergänzen. von überzeugen, dass eine europäische Verfassung not- Wir schlagen Volksabstimmungen über die künftige EU- wendig und wichtig ist? Verfassung für den 8. Mai 2005 vor. Das wäre ein gutes historisches Datum und das wäre einem friedlichen (Beifall bei der CDU/CSU – Ulrich Kelber Europa würdig. [SPD]: An diesem Satz haben Sie aber lange gearbeitet, nicht?) (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- tionslos]) Ich persönlich meine, dass wir über den französischen Vorschlag nachdenken sollten, wonach die Verfassung in Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: allen Ländern, in denen das parlamentarisch möglich ist, Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Peter am gleichen Tag ratifiziert werden sollte. Ich glaube, das Altmaier, CDU/CSU-Fraktion. wäre ein wichtiges Signal, dass es hier um die gemein- same Verantwortung aller Europäer und nicht nur um na- tionale politische Entscheidungen geht. Peter Altmaier (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist Ich bin kein Anhänger von Pessimismus und schon erstaunlich, mit welcher Nonchalance und ge-Schwarzmalerei, wenn es um die europäische Verfas- pflegten Langeweile bisweilen über das Thema europäi- sung geht. Ich gebe nur Folgendes zu bedenken: Frau sche Verfassung diskutiert wird. Das beginnt schon bei Kollegin Schwall-Düren und der Kollege Röttgen, die der Debatte über ein Referendum. Hier verfahren man- heute an dieser Debatte teilgenommen haben, sind he- che nach dem Motto: Bei der EU-Verfassung kann man rausragende Mitglieder der Föderalismuskommission, es mit einem Referendum ruhig einmal probieren. Wenn die eine innerstaatliche Reform zustande bringen soll. es sich bewährt, kann man auch über die innerstaatliche Ich wünsche der Föderalismuskommission alles Gute. Anwendung nachdenken. Die FDP schließt ein Referen- Sie kann mit Zweidrittelmehrheit entscheiden, was Ge- (B) dum über innerstaatliche Themen sogar ausdrücklichsetz bzw. Verfassung in Deutschland werden soll. Wenn (D) aus. Ich sage Ihnen: Europa ist kein Spielfeld für Experi- ich aber sehe, wie mühsam und schwierig die Beratun- mente, für die uns die nationale Politik zu schade ist. gen der Föderalismuskommission im Detail trotz dieser Möglichkeit sind und wie viele hohe Erwartungen be- (Beifall bei der CDU/CSU) reits nach unten korrigiert worden sind, dann meine ich, Der Verfassungsvertrag ist kein dritt- oder viertklassi- dass sich der Verfassungsentwurf, den der europäische ges Thema, sondern eines der zentralen Zukunftsthemen Konvent vorgelegt hat – wohl wissend, dass er von allen der europäischen Politik. Er wird zwar die staatliche und Staaten einstimmig gebilligt werden muss –, sehen las- die verfassungsrechtliche Qualität Europas nicht verän- sen kann. Es ist ein anständiger und guter Entwurf. dern. Aber für die Zukunftsfähigkeit Europas ist das In- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Kraft-Treten des Verfassungsvertrages unabdingbar. SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN (Beifall des Abg. Peter Hintze [CDU/CSU]) und der FDP) Ein gescheitertes Referendum in einem einzigen Mit- Weil das so ist, ist es unsäglich, wie dieser Entwurf gliedstaat – das wissen Sie genauso gut wie wir – verzö- von kleinkarierten Erbsenzählern in der Regierungskon- gert das In-Kraft-Treten der Verfassung um Monate,ferenz zerredet und zerfleddert wird: Jahre oder vielleicht sogar für immer. Das ist doch der (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das ist wie entscheidende Punkt! bei der CSU!) Die Bürger in Dänemark und Irland, wo das Referen- überall rote Linien, Bedenken, Vetodrohungen. Herr dum verfassungsrechtlich vorgeschrieben ist, entschei- Bundesaußenminister, Sie haben einmal gesagt: Mit den den mit dem Referendum über den Verfassungsvertrag Leftovers der Leftovers muss endgültig Schluss sein. Es nicht nur über ihr eigenes Schicksal, sondern auch über ist absehbar, dass es, auch wenn Sie sich am 18. Juni die Zukunft von 450 Millionen Europäern. Es gibt für einigen – ich wünsche Ihnen, dass Sie es tun –, wieder den Fall, dass es schief geht, keinen Plan B in der Schub- die Leftovers der Leftovers der Leftovers geben wird. lade. Nicht einmal der Bundesaußenminister, der sichDenn in einem für die Handlungsfähigkeit und auch für sonst die Lösung aller Probleme dieser Welt zutraut, hat die Legitimation Europas zentralen Punkt, nämlich in ansatzweise eine Idee, wie Europa aus seiner Verfas-der Frage der qualifizierten Mehrheitsentscheidungen, sungskrise herausfinden soll, wenn keine Verfassung zu- verläuft die Entwicklung schlecht. Nach allem, was wir stande kommt. Mit dem Vertrag von Nizza können wir wissen, ist der Übergang von der Einstimmigkeit zur die Zukunftsaufgaben jedenfalls nicht bewältigen. qualifizierten Mehrheit in vielen Bereichen in Gefahr. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10233

Peter Altmaier (A) Bei den Dienstleistungen, bei den unlauteren Steuerprak- Würde die Bundesregierung darüber hinaus keinen(C) tiken, bei der finanziellen Vorausschau, bei den Modali- deutschen Kommissar vorschlagen, der nicht über eine täten des Eigenmittelbeschlusses, in wichtigen Fragen Mehrheit unter den deutschen Europaabgeordneten ver- im Bereich von Innerem und Justiz: Überall droht uns fügt, so wäre das ein Zeichen von echter Demokratie, der Rückfall in die alte Einstimmigkeit, damit in dievon Bürgernähe und von Respekt vor dem, was am Handlungsunfähigkeit und in die Erpressbarkeit. 13. Juni in dieser Wahl zum Ausdruck kommen soll. Herr Bundesaußenminister, was den Kompromiss, der (Beifall bei der CDU/CSU) in Bezug auf die doppelte Mehrheit erzielt werden wird, angeht: Ich erkenne die Bemühungen aller, die sich dafür Herr Bundesaußenminister, lassen Sie Ihren hehren eingesetzt haben, an. Aber eines ist doch auch richtig: europapolitischen Worten – da sind wir gar nicht so weit Besonders groß ist der Fortschritt gegenüber Nizza nicht auseinander – ein paar kleine, bescheidene Taten folgen! mehr; denn überall haben sich diejenigen durchgesetzt, Wenn das geschieht, dann können wir in den nächsten die ihre Blockademinderheiten schützen wollen, die er- Wochen gemeinsam noch viel erreichen. reichen wollen, dass sie ihre heiligen Kühe nichtVielen Dank. schlachten müssen. Das führt dazu, dass die Europäische Union insgesamt handlungsunfähiger wird. (Beifall bei der CDU/CSU) Herr Bundesaußenminister und lieber Michael Roth, kommen Sie mir jetzt nicht mit den Polen, den Spaniern Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: und den Briten, die angeblich allein die bösen Buben Ich schließe die Aussprache. sind. Was nutzen uns denn die enge Freundschaft des Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b: Interfraktionell Bundeskanzlers mit Herrn Blair, die Schröder/Blair-Pa- wird die Überweisung der Vorlagen auf den Druck- piere, die Absichtserklärungen und die gegenseitigensachen 15/2998 und 15/2970 an die in der Tagesordnung Besuche, wenn es weder bei der Irakfrage noch bei der aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Gesetz- Verfassungsfrage möglich war, zu einer deutsch-briti- entwurf auf Drucksache 15/2998 soll federführend vom schen Position zu gelangen? Was nutzt uns das Weima- Innenausschuss beraten werden. Sind Sie damit einver- rer Dreieck, das Polen, Deutschland und Frankreich bil- standen? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. den, wenn im entscheidenden Moment vor dem Scheitern des Brüsseler Gipfels Funkstille herrschte? Zusatzpunkt 12: Wir kommen zur Abstimmung über Wir haben im Konvent doch auch mit den britischen und den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnis- den polnischen Kolleginnen und Kollegen einen Kon- ses 90/Die Grünen mit dem Titel „Die europäische Ver- sens erzielt. Allerdings haben es die Regierungen dann fassung beschließen – der erweiterten Union ein solides (B) nicht geschafft, diesen Konsens in die Regierungskonfe- Fundament für die Zukunft geben“. Wer stimmt für den (D) renz hinüberzuretten. Antrag auf Drucksache 15/3208? – Wer stimmt dage- gen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen Es ist oft gesagt worden: Rom ist nicht an einem Tag der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Ent- erbaut worden; es ist besser, jetzt eine schlechte Verfas- haltung der FDP angenommen. sung als gar keine Verfassung zu verabschieden. Ich meine, wir sollten jetzt nicht schon wieder damit anfan- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis c auf: gen, in Kauf zu nehmen, dass die neue Verfassung in zwei oder drei Jahren geändert werden muss. Wir haben a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele uns dafür entschieden, den Bürgerinnen und Bürgern ein Groneberg, Karin Kortmann, Dr. , wei- klares und deutliches Signal zu geben. Mit dieser Verfas- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD so- sung will Europa seine Zukunftsfähigkeit sichern. Das wie der Abgeordneten Thilo Hoppe, Hans- bedeutet: Wir dürfen ihnen jetzt, noch bevor die Verfas- Christian Ströbele, Volker Beck (Köln), weiterer sung überhaupt ratifiziert ist, nicht schon wieder mit Än- Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- derungen drohen. SES 90/DIE GRÜNEN (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das haben Globale Zukunftssicherung durch die Förde- Sie doch gemacht!) rung erneuerbarer Energien in Entwicklungs- ländern vorantreiben Am 13. Juni ist Europawahl. Die Wahlbeteiligung – Drucksache 15/3212 – geht in allen europäischen Ländern auch deshalb zurück, weil die Bürgerinnen und Bürger den Eindruck haben, b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- dass es auf ihre Stimme nicht wirklich ankommt. Weder gierung entscheiden sie über ihre Regierung noch haben sie sichtbaren, nachvollziehbaren Einfluss auf die Brüsseler Bericht über die Bestandsaufnahme durch die Politik. Herr Bundesaußenminister, ich mache Ihnen ei- Deutsche Energie-Agentur (dena) über den nen Vorschlag: Die Bundesregierung sollte sich ver- Handlungsbedarf bei der Förderung des Ex- pflichten, bei der Wahl des neuen Kommissionspräsiden- portes erneuerbarer Energietechnologien ten, die am 18./19. Juni ansteht, keinen Vorschlag zu – Drucksache 15/1862 – akzeptieren, der nicht über eine Mehrheit im neu ge- Überweisungsvorschlag: wählten Europäischen Parlament verfügt. Das wäre ein Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) wichtiger Schritt auf dem Weg, die Europawahl zu einer Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und wirklichen Entscheidung über Europa zu machen. Landwirtschaft 10234 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Menschen auf diesem Globus nur eine gemeinsame Zu- (C) Ausschuss für Bildung, Forschung und kunft. Wenn wir jetzt nicht handeln, wenn wir nicht auf Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und erneuerbare Energien und bessere Energieeffizienz set- Entwicklung zen, geht uns auf allen Kontinenten, aber auch gerade uns in Europa irgendwann im wahrsten Sinne des Wortes c) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- die Luft aus. nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zes über den Nationalen Zuteilungsplan für DIE GRÜNEN) Treibhausgas-Emissionsberechtigungen in der Die Konferenz verfolgt drei Ziele. Erstens. Es wird Zuteilungsperiode 2005 bis 2007 (Zuteilungsge- eine gemeinsame politische Erklärung geben, in der sich setz – NAPG) die anwesenden Regierungen ihrer Vision einer neuen – Drucksache 15/2966 – Energiezukunft versichern. Das gemeinsame Ziel soll lauten: Bis zum Jahr 2015 soll 1 Milliarde Menschen, (Erste Beratung 106. Sitzung) die bisher keinen Zugang zu moderner Energieversor- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- gung haben, mit Energie aus erneuerbaren Quellen ver- ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- sorgt werden, damit sie aus der Energiearmut geholt heit (15. Ausschuss) werden. – Drucksachen 15/3224, 15/3237 – (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. ) Berichterstattung: Zweitens. Auf der Konferenz soll ein gemeinsames Abgeordnete Ulrich Kelber Aktionsprogramm verabschiedet werden, in dem alle an- Marie-Luise Dött wesenden Regierungen darlegen, mit welchen Program- Dr. Reinhard Loske men und Zielen sie zu dieser neuen Energiezukunft bei- Birgit Homburger tragen werden. Zu dem Entwurf eines Zuteilungsgesetzes liegen je Ein drittes Dokument wird ganz praktische Politik- ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSUempfehlungen dazu enthalten, wie auch Entwicklungs- und der Fraktion der FDP vor. länder verstärkt erneuerbare Energien einsetzen und nut- zen können. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich Die Argumente für die erneuerbaren Energien sind (B) höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. gerade für Entwicklungsländer überzeugend. Wir alle(D) wollen, dass die Entwicklungsländer die Armut in ihren Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes- Ländern bekämpfen. Wir alle wollen, dass Kinder in die ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul. Schule gehen können, dass Menschen in Krankenhäu- sern versorgt werden und dass Handwerker Maschinen Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für nutzen können. Das geht aber nur, wenn es Wirtschafts- wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: wachstum gibt, wenn Menschen Zugang zu moderner Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Energieversorgung erhalten. Bisher hat ein Drittel der In der kommenden Woche ist es so weit: Die Internatio- Welt, 2 Milliarden Menschen, keinen Zugang zu moder- nale Konferenz für Erneuerbare Energien findet in ner Energie. Armutsbekämpfung geht aber Hand in Bonn statt. Vom 1. bis 4. Juni werden sich auf Einladung Hand mit Energieversorgung. Deshalb – da dürfen wir von Bundeskanzler Gerhard Schröder mehr als 100 Mi- uns nichts vormachen – wird der weltweite Energiever- nister und Ministerinnen sowie mehr als 120 Delegatio- brauch steigen, während gleichzeitig die Ölreserven ab- nen auf Ziele zum weltweiten Ausbau der erneuerbaren nehmen. Noch verbraucht ein US-Bürger im übertrage- Energien und zur Steigerung der Energieeffizienz ver- nen Sinne über 13-mal so viel Erdöl wie ein Mensch in ständigen. Zahlreiche nationale und internationale Un- China und über 26-mal so viel wie ein in Indien lebender ternehmen, Nichtregierungsorganisationen, die Welt-Mensch. Das wird sich ändern. Auch Chinas Nachfrage bank und UN-Organisationen werden vertreten sein. nach Öl ist in den letztendrei Monaten um 18 Prozent gestiegen. Warum richten wir, das Bundesentwicklungsministe- rium und das Bundesumweltministerium unter Leitung Dabei ist aber eines klar: Entwicklungsländer dürfen meines Kollegen Jürgen Trittin, diese Konferenz zusam- und wollen nicht die Fehler wiederholen, die die Indus- men aus? Deutschland ist Vorreiter in der Nutzung er- trieländer bisher bei ihrer Energieversorgung gemacht neuerbarer Energien und der Steigerung der Energieeffi- haben, denn das hält unser Globus nicht aus. Der Klima- zienz. Nicht nur angesichts hoher Ölpreise, die unsere wandel würde sich dann noch weiter beschleunigen. Es und alle Volkswirtschaften belasten, haben wir schongibt also keine Alternativen zu erneuerbaren Energien lange die Perspektive für eine neue Energiezukunft ent- und zur Steigerung ihrer Effizienz. Außerdem bringt der wickelt und unsere Politik entsprechend ausgerichtet. Einsatz erneuerbarer Energien riesige Vorteile für Ent- wicklungsländer mit sich. Dieser leistet einen Beitrag Diese Energiewende kann aber nur nachhaltig sein, zur Armutsbekämpfung, wirkt dem Klimawandel entge- wenn sie global ist; denn wegen der Emissionen und des gen und macht alle Volkswirtschaften, die der Industrie- Wettlaufs um knappe fossile Ressourcen gibt es für alle und der Entwicklungsländer, unabhängiger vom Öl. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10235

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) Hierfür ein Beispiel: Allein die Haushalte von Ent- diesem Globus unendlich viel dieser erneuerbaren Ener- (C) wicklungsländern würden um 60 Milliarden US-Dollar gien. Dieser Überfluss schont unsere Umwelt, schafft entlastet – eine gigantische Summe –, wenn sie nicht die Frieden und fördert Entwicklung und Sicherheit. Mehraufwendungen für den gestiegenen Ölpreis zu tra- gen hätten. Übrigens ist der Betrag fast so hoch wie die Die ökologische Gestaltung der Globalisierung ge- Summe der Gelder, die von den Geberländern für offi- lingt nur mit erneuerbaren Energien. Die Generationen zielle Entwicklungszusammenarbeit aufgewendet wird. heute, aber zumal die nach uns kommenden Generatio- Sie sehen also, welchen Spielraum die Haushalte vonnen werden es uns danken, wenn wir die Weichen richtig Entwicklungsländern durch höhere Unabhängigkeit vom stellen. Die Konferenz, die nächste Woche stattfindet, Öl erhielten. dient diesem Ziel. Wir hoffen auf einen großen Erfolg und freuen uns über die hohe Zahl von über (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 2 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, um eine neue DIE GRÜNEN) Energiezukunft weltweit anzustoßen und zu beginnen. Viertens. Erneuerbare Energien schaffen qualifizierte Ich danke Ihnen. Arbeitsplätze, hier und in den Partnerländern. Sie sind (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ überall verfügbar. Es gibt keine Kämpfe um sie. Außer- DIE GRÜNEN) dem sind sie dezentral einsetzbar; das ist besonders wichtig für die Versorgung ländlicher Regionen, in de- nen es keine Stromnetze gibt. Wir als Bundesregierung Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: haben – so hat es Bundeskanzler Schröder im Jahre 2002 Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Lippold. in Johannesburg auch zugesagt – für fünf Jahre, vom Jahr 2003 bis zum Jahr 2007, den Partnerländern rund Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): 1 Milliarde Euro zur Förderung erneuerbarer Energien Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und zur Steigerung ihrer Effizienz zugesagt. Das Ent- und Kollegen! Ich glaube, dass wir mit dem gerade an- wicklungsministerium ist augenblicklich mit 157 Vorha- gesprochenen Thema, das Frau Wieczorek-Zeul einlei- ben in 39 Ländern aktiv. Das heißt, Deutschland kündigt tend behandelt hat, eines der wesentlichen Instrumente seine Verpflichtungen an; es löst aber seine Verpflichtun- aufgreifen, die wir in Zukunft nutzen müssen, um welt- gen auch ein. Und diese Verpflichtungen liegen imweit zu mehr Klimaschutz und Klimavorsorge zu kom- wahrsten Sinne des Wortes auch in unserem eigenen In- men. Deshalb werden wir bei dieser Konferenz unseren teresse; denn auch wir wollen davon profitieren, dass der Beitrag leisten und gleichzeitig dafür sorgen, dass dabei Klimawandel aufgehalten oder ihm wenigstens entge- die internationalen Aspekte besonders berücksichtigt (B) gengewirkt wird. werden. (D) Auf der Konferenz in Bonn werden wir weitere Initia- Lassen Sie mich hinzufügen, dass wir aber natürlich tiven vorstellen. Wir werden, wie wir es nennen, einedarauf achten werden, dass wir zur Gesamtlösung der Reihe von Leuchttürmen für dendeutschen Aktions- Klimaschutzproblematik eine Effizienzverbesserung plan beisteuern: eine Initiative „Geothermie für Ent-bei allen Energieträgern weltweit brauchen. Nach unse- wicklung“, eine afghanisch-französisch-deutsche Initia- rer Auffassung können wir einen wirklichen Beitrag zur tive „Nachhaltige Energie für Wiederaufbau Lösung und des Klimaproblems, das eine echte Bedrohung Entwicklung“, Public Private Partnerships für nachhal- darstellt und deshalb dringend gelöst werden muss, nur tige Energie zur Unterstützung kleinerer und mittlerer dadurch leisten. Energieunternehmen in Subsahara-Afrika sowie eine Energiepartnerschaft zwischen unserem Ministerium Wir müssen uns heute gleichzeitig mit der Einführung und der Inter-Amerikanischen Entwicklungsbank, um in des Emissionshandels und dessen Kernstück, dem Ge- dieser Region den Ausbau erneuerbarer Energien voran- setz über den Nationalen Zuteilungsplan, den Nationalen zubringen. Allokationsplan, auseinander setzen. Dieses Gesetz ist nicht nur ein umweltpolitisches, sondern es hat auch Fünftens und letztens: Wir drängen darauf, dass die ganz erhebliche Bedeutung in Bezug auf die Arbeits- Weltbank eine Bank zur Förderung erneuerbarer Ener- plätze und die wirtschaftliche Entwicklung. Deshalb gien wird. Bisher haben diese bei ihr nur einen Anteil hätte ich mir eigentlich gewünscht, dass wir mehr Zeit von 6 bis 10 Prozent. Das ist absolut unzureichend. Wir gehabt hätten, uns mit diesem Gesetz hier zu befassen. wollen, dass dieser Anteil drastisch gesteigert wird. Da- mit könnte eine deutliche Stärkung der Förderung erneu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) erbarer Energien in der Welt bewirkt werden. Wenn das Gesetz so durchgepeitscht wird, dass man nicht einmal zwei Stunden Zeit hat, um ganz wesentliche (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Änderungsanträge von gravierendster Bedeutung im DIE GRÜNEN) Kontext einigermaßen durchzuprüfen, wird das der Sa- Zum Schluss, Frau Präsidentin. Nach einer aktuellen che nicht gerecht. Umfrage vom Mai dieses Jahres sind in Deutschland laut (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Allensbach 62 Prozent der Befragten für eine verstärkte Förderung der Energie aus Sonne, Wind und Wasser. Auch Ihren Hinweis, dass Sie auf europäischer Ebene Deshalb ist meine feste Überzeugung: Erneuerbare Ener- eine Verpflichtung eingegangen sind, kann ich nicht gel- gien sind die Energieform der Zukunft. Wir haben auf ten lassen, wenn ich im internationalen Vergleich sehe, 10236 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (A) dass nur vier Länder der Europäischen Union ein solches sprechenden Emissionen nicht mehr und Sie könnten Ihr (C) Gesetz pünktlich eingereicht haben. Ich kann das auch einseitiges umweltpolitisches Ziel erreichen. Diese Hal- deshalb nicht gelten lassen, weil Sie sich bei der Erfül- tung kann unserer Gesamtverantwortung nicht gerecht lung anderer EU-Zielsetzungen, zum Beispiel dem Sta- werden. Wir werden dafür sorgen, dass diese Verhält- bilitätsgesetz, nicht nur Zeit lassen, sondern die Rege- nisse nicht so bleiben. lungen dieses Gesetzes bewusst übertreten und sagen, dass Sie sie auch in Zukunft übertreten werden. Hier (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wäre mehr Zeit angebracht gewesen, um eine Verbesse- Wir wollen auch nicht, dass durch die Art und Weise, rung der Situation zu erreichen. wie Sie das Gesetz ausgestaltet haben, in der Bundesre- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) publik Deutschland spezifische Energieträger wie zum Beispiel Steinkohle oder Braunkohle benachteiligt wer- Meine sehr geehrten Damen und Herren, bei der Um- den. Ich sage in aller Deutlichkeit, dass wir weltweit so- setzung des Emissionshandels hat die Union besonderen wohl Öl als auch Steinkohle und Braunkohle in absehba- Wert darauf gelegt, dass der Aspekt, dass vorsorgender rer Zeit noch nutzen müssen. Wenn es uns in Umweltschutz mit Wirtschaftswachstum und Arbeits- Deutschland gelingt, hier die effizientesten Technolo- platzsicherung vereinbar ist, in den Vordergrund gestellt gien zu schaffen, dann leisten wir erstens einen Beitrag wird. Ich sage ganz deutlich, dass wir sehr zufriedenzum vorsorgenden Klimaschutz und zweitens einen Bei- sind, dass es gelungen ist, im Treibhausgas-Emissions- trag zur Exportstärkung und damit zur Sicherung unserer handelsgesetz einen Passus zu verankern, der für neu zu Arbeitsplätze. Das ist ganz entscheidend. Hier gibt es gründende Unternehmen ebenso wie für Betriebserwei- Ansatzpunkte, bei denen Sie noch nachbessern müssen. terungen hinreichend Emissionsberechtigungen vorsieht. Es ist uns gelungen, wenigstens für ein Bundesland Re- Das bedeutet, dass es auch in Zukunft keine Behinderun- gelungen durchzusetzen – gegebenenfalls werden diese gen geben wird, wenn sich neue Unternehmen Regelungen in noch zwei andere Bundesländer betreffen –, Deutschland ansiedeln wollen und Arbeitsplätze schaf- die die weitere Nutzung der Braunkohle sicherstellen. fen wollen oder wenn bestehende Unternehmen ihrenIch halte das für ausgesprochen notwendig und wichtig. Betrieb erweitern wollen. Es gibt noch Positionen, die wir einfordern müssen, Wir waren ganz eindeutig der Meinung, dass die von die sich aber im Moment noch nicht genau überschauen Ihnen bisher vorgesehene Reserve dafür nicht ausreicht, lassen. Die Erfüllung der Zielsetzungen durch das Treib- vor allen Dingen weil wir nach wie vor einen Berg von hausgasemissionsgesetz und durch den Nationalen Allo- mindestens 4,5 Millionen Arbeitslosen zu bewältigenkationsplan erfordert, dass wir Instrumente, die wir in haben, was mit einer so knappen Reserve nie hätte gelin- diesem Hause gemeinschaftlich auf Initiative der Union (B) gen können. geschaffen haben – ich nenne Clean Development(D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Mechanism und Joint Implementation, also die gemein- neten der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Das war schaftliche Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen –, ein Änderungsantrag von uns, nicht von Ih- in ihrer vollen Breite nutzen und ihre Anwendung nicht nen!) stärker als andere Länder beschränken. Wir werden natürlich auch deutlich machen, dass es (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wichtig ist – wir sind uns nach den bisherigen Prüfungen Die Instrumente müssen funktionsfähig bleiben; sonst aber nicht ganz sicher, ob das erreicht wurde –, Wettbe- hat die Einführung von Joint Implementation und Clean werbsnachteile gegenüber dem europäischen Ausland Development Mechanism keinen Sinn. auszuschalten. Wir müssen deutlich sagen, dass das Ge- setz, wie Sie es gestaltet haben, für eine Reihe von Bran- Dies sind nicht die einzigen Positionen, um die es chen zu ganz erheblichen Schwierigkeiten führt. Dabei geht. Wir müssen auch darüber nachdenken, wie wir in handelt es sich um Branchen wie zum Beispiel dieZukunft eine faire Auseinandersetzung mit den anderen Zementindustrie, die in Deutschland wesentlich moder- Sektoren führen können, in denen noch Emissionsmin- nere Anlagen, als sie weltweit zu finden sind, betreibt, derungen vorgenommen werden müssen. Wir dürfen da- was zu wesentlich höheren Emissionsminderungenbei nicht nur über Minderungen im Energiebereich und führt. Trotzdem wird dieser Industriezweig mit Auflagen im Industriebereich nachdenken. Es fehlt nach wie vor konfrontiert, die er nicht erfüllen kann. Wenn die Konse- ein entsprechender Ansatz, um zum Beispiel im Altbau- quenz aus dem Gesetz ist, dass in Deutschland keine An- bestand wesentlich schneller mit dem Klimaschutz vo- lagen mehr gebaut werden oder Anlagen stillgelegt wer- ranzukommen, als das derzeit zu beobachten ist. den, dann muss man sagen, dass dies nicht dem (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Umweltschutz dient; denn Anlagen in anderen Ländern weisen wesentlich stärkere Emissionen auf. Deswegen Wir haben immer noch die Positionen vor Augen, die muss dieser Teil genau überdacht und geprüft werden. Sie in Ihre Parteiprogramme und auch in Ihr Regierungs- programm aufgenommen haben, insbesondere zur steu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) erlichen Förderung. Wir wären dankbar, wenn Sie diese Wir hatten bei Ihnen gelegentlich durchaus den Ein- Positionen sozusagen aktivieren würden, damit wir hier druck, dass die Vorstellung für Sie nicht unangenehmeinen ganz großen Schritt vorankommen und uns nicht wäre, wenn es in Deutschland bestimmte Industrie-nur auf dieses Segment beschränken müssen. Wir brau- zweige nicht mehr geben würde. Es gäbe dann die ent- chen ein klares und allumfassendes Konzept; sonst Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10237

Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (A) haben wir nicht die Möglichkeit, Emissionsminderungen steuer über den Atomausstieg, das Erneuerbare-Ener-(C) so schnell zu erreichen, wie wir dies wollen. gien-Gesetz – ich bin froh, dass es auf einem guten Weg zu sein scheint – und dieEnergieeinsparverordnung bis (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zum Emissionshandel. Dass wir damit auf dem richtigen Lassen Sie mich noch kurz sagen – ich will in diesem Weg sind, belegt der Umstand, dass Russlands Präsident Zusammenhang nur einen Aspekt nennen –, dass unser nunmehr in Aussicht gestellt hat, dasKioto-Protokoll Energiemix nach wie vor die Kernenergie mit einschlie- zu ratifizieren. Damit kommt erstmalig ein völkerrecht- ßen wird. Es ist schon erstaunlich, wie sich weltweit die lich verbindlicher Deckel auf die Treibhausgasemissio- Denke ändert. Es gibt hervorragende grüne Denker, wie nen. zum Beispiel James Lovelock, Urgestein in der Klima- Hierzu passt das Instrument des Emissionshandels. schutzvorsorge und Grüner im wahrsten Sinne des Wor- Der Emissionshandel macht den Klimaschutz effizient. tes, der die vorsorgende Klimaschutzpolitik weltweit ganz maßgeblich mit beeinflusst hat. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wenn er rich- tig gemacht wird!) (Ulrich Kelber [SPD]: Jetzt hat er einen unter einer Million gefunden!) Wir rechnen mit Einsparungen von 500 Millionen Euro für die Unternehmen in den ersten beiden Handelsperio- Dieser Grüne sagt aber, dass Sie in Ihrer ideologischen den. Aber er ist auch ein Paradigmenwechsel; denn erst- Festlegung auf den Kernenergieausstieg „misleaded“ malig wird der Ausstoß von CO2 absolut gedeckelt. Wir – auf gut Deutsch: irregeleitet – sind. Ich kann mich dem haben mit dem Entwurf, den wir hier vorgelegt haben, nur anschließen. Angesichts dessen, dass es in diesem erneut die Vorreiterrolle der Bundesrepublik Deutsch- Land 84-Jährige gibt, die die geistige Beweglichkeit ha- land beim Klimaschutz unterstrichen. ben, bei der Anpassung an neue Probleme mit neuen Antworten zu arbeiten, sollten auch Sie, die Sie die 84 Wir sind auf dem Weg der Zielerfüllung sehr weit. Bis noch nicht erreicht haben, die nötige Flexibilität besit- 2012 müssen wir den 2-Ausstoß CO noch um zen, um sich entsprechend anzupassen. 17 Millionen Tonnen reduzieren. Wir haben, obwohl wir diesen Weg schon ein ganzes Stück zurückgelegt haben, (Beifall bei der CDU/CSU) gesagt: Wir wollen, dass schon in der ersten Handelspe- Mein letzter Satz. Manchmal weisen Ihnen ja die in- riode – damit unterscheiden wir uns von vielen anderen ternationalen Gurus den Weg. Ich erinnere mich daran, Mitgliedstaaten in der Europäischen Union – auch von dass Sie uns in früheren Jahren, wenn wir über nach-der Industrie und dem Verkehr Reduktionen erbracht wachsende Wälder und Holzplantagen gesprochen ha- werden. Wir haben einen Erfüllungsfaktor von 2,91 Pro- zent. (B) ben, abgebürstet haben. Als dann Ihr anderer Guru aus (D) Brasilien, Lutzenberger, der frühere Umweltminister von Wir belohnen den Ersatz alter Technik durch mo- Brasilien, gesagt hat, dies sei ein sinnvolles Instrument, derne, effizientere Technik und machen im Gegenzug da konnten wir beobachten, dass Sie Ihre Denke geän- alte Technik unrentabel. Braunkohlekraftwerke mit einer dert haben. Ändern Sie jetzt Ihre Denke, da ein anderer Effizienz von 32 Prozent und weniger müssen ab 2010 Guru sagt, was richtig ist! Das wird Ihnen gut tun und zusätzlich um 15 Prozent reduzieren. das wird auch unserem Land nutzen. Sie sehen: Schon vor In-Kraft-Treten dieses Gesetzes (Beifall bei der CDU/CSU – Horst Kubatschka wirkt die Mischung aus Übertragungsregel und Malusre- [SPD]: Wir haben Gurus im Gegensatz zu Ih- gel. Es wird bei Grevenbroich ein neues Braunkohle- nen nicht nötig!) kraftwerk geben. Diese Anlage wird 45 Prozent effizien- ter sein als die dafür im Gegenzug stillzulegenden Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Anlagen der RWE in Frimmersdorf. Deutschland spart Ich werde einmal eine Doktorarbeit über die Länge allein dadurch 2 Millionen Tonnen CO2 ein. Ich sage Ih- der letzten Sätze schreiben. Das wird lustig. nen: Das ist ein Ergebnis der ambitionierten Klima- schutzpolitik dieser Koalition. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das gibt eine lange Arbeit!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Das Wort hat jetzt der Herr Bundesminister Jürgen Trittin. In der nächsten Woche werden 1 000 Delegierte und 1 000 Delegationsmitglieder aus über 100 Staaten nach Bonn kommen, um diese in Deutschland vollzogene Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur- schutz und Reaktorsicherheit: Energiewende zu besichtigen. Dabei stehen die erneuer- baren Energien im Mittelpunkt. Sie sind in dreifacher Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die ei- Hinsicht eine Win-win-Option: nen halten sich wie Herr Lippold an Gurus. Manche ge- hen ins Kino und schauen sich „The Day after Tomor- Sie tragen nachhaltig zumKlimaschutz bei. Bereits row“ an. Ich glaube, wir sinduns aber darin einig, dass jetzt werden dadurch 53 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr wir im Klimaschutz vorankommen müssen und dasseingespart. Im Jahr 2010 werden es 85 Millionen Tonnen beim Thema Klimaschutz die Energiewende eine ganz CO2 sein. Die erneuerbaren Energien bringen Dynamik in zentrale Rolle spielt. Hier hat die Koalition in den letzten den Arbeitsmarkt und steigern die Wettbewerbsfähigkeit. Jahren entscheidende Weichen gestellt: von der Öko-Bereits heute arbeiten in Deutschland 120 000 Menschen 10238 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Bundesminister Jürgen Trittin (A) in dieser Branche. Gutachter und Wissenschaftler sagen, Birgit Homburger (FDP): (C) wenn sich unser heutiger Umsatz in Höhe Frau von Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 10 Milliarden Euro in Deutschland und aufgrund derBereits seit der 80er-Jahre setzt sich die FDP für Exportchancen, die die erneuerbaren Energien eröffnen, den Emissionshandel ein. Wir haben stets die Einmi- vervierfacht, dann können bis zu 400 000 Menschen im schung der Bundesregierung auf europäischer Ebene ge- Jahr 2020 in dieser Branche Beschäftigung finden. fordert, wenn die Spielregeln in Europa für den Emis- sionshandel festgelegt werden. In diesem Punkt haben In diesen Tagen, in denen einige ihr Auto wegen der Sie, Herr Trittin, versagt. Sie haben diese Warnung igno- steigenden Ölpreise mit Aufklebern verunzieren, ist ei- riert und sich in keiner Weise darum gekümmert. nes besonders wichtig: Die erneuerbaren Energien ver- mindern die Abhängigkeit unserer Gesellschaft und un- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) serer Wirtschaft von diesem einzigen Gut, dem Öl. Ich finde das, was heute hier passiert, wieder einmal (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bezeichnend. Wir debattieren heute über den Emissions- und bei der SPD) handel. Das Herzstück des Emissionshandels, das Zutei- lungsgesetz, haben wir heute hier zu beraten. Das wäre Aus diesem Grund sagen wir: Wir müssen diese Tech- eigentlich eine eigene Debatte wert. Aber was machen nik weltweit voranbringen. Eine sichere Zukunft, auch Sie? Es werden wieder Entschließungsanträge zu erneu- im Sinne von Sicherheitspolitik, beruht auch auf dem erbaren Energien, die Sie längst hätten einbringen kön- massiven Ausbau der erneuerbaren Energien. Diesenen und wo Sie längst hätten handeln können, hier mit Energien müssen aber billiger und wettbewerbsfähiger auf die Tagesordnung gesetzt. Das machen Sie aus- werden. Deshalb hat der Bundeskanzler auf dem Welt- schließlich deshalb, weil Sie versuchen wollen, die Pro- gipfel für nachhaltige Entwicklung gesagt, wir wollen in bleme, die Sie beim Emissionshandel schaffen, zu vertu- den nächsten fünf Jahren eine halbe Milliarde Euro zur schen. Förderung von erneuerbaren Energien in den Entwick- lungsländern ausgeben. Allein im letzten Jahr wurden (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Zusagen für neue Projekte in einer Größenordnung von Aber das gibt mir die Chance, auf ein weiteres Ver- ungefähr 100 Millionen Euro gemacht. säumnis der Bundesregierung hinzuweisen, Herr Trittin Deswegen beteiligt sich die Bundesrepublik Deutsch- und auch Frau Wieczorek-Zeul. Sie haben es nämlich land an der Global Market Initiative zum Bau von versäumt, die Bundesrepublik Deutschland auf die Nut- 5 000 Megawatt solarthermischer Kraftwerke im Son- zung der so genannten flexiblen Instrumente des Kioto- Protokolls vorzubereiten und einzustellen. (B) nengürtel der Erde und deswegen fördern wir über In- (D) strumente wie das EEG die Technologieentwicklung in (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Deutschland, dabei haben wir insbesondere die Massen- der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Es wird produktion im Blick. Ich will auf eines hinweisen: In den nicht richtiger durch Wiederholen!) letzten Jahren hat sich in Deutschland nicht nur die Pho- tovoltaikleistung versechsfacht, sondern im gleichenMit dem Clean Development Mechanism und der Zeitraum sind die Kosten für die einzelnen EinheitenJoint Implementation haben wir Möglichkeiten, in Ent- auch um 40 Prozent gesunken. wicklungs- und Schwellenländern zu investieren, weil dort eine Reduktion der Emissionen von CO2 zu deutlich Solche Initiativen und Vorstöße sollen auf der Konfe- geringeren Kosten möglich ist. Da Emissionen an den renz „Renewables 2004“ in Bonn das Aktionsprogramm Grenzen nicht Halt machen, wäre es sinnvoll, dort zu in- prägen. Wir wollen den allgemeinen Satz „Der Ausbau vestieren, weil wir für die Verbesserung des Weltklimas der erneuerbaren Energien soll signifikant gesteigertdadurch deutlich mehr erreichen können. werden“ mit einem konkreten Aktionsprogramm und konkreten Finanzzusagen und Zielsetzungen, wie sie die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) EU und Südamerika verwirklicht haben, unterlegen. Das ist eine gewaltige Aufgabe. Aber wir wollen unser Ziel Da – das muss ich Ihnen sagen – verweigern Sie sich erreichen, ungefähr 1 Milliarde Menschen in den nächs- nach wie vor. – ten Jahren Zugang zu Energie zu verschaffen. Die Ener- (Ulrich Kelber [SPD]: Es wird nicht richtiger giewende in Deutschland belegt: Effizienz, Energiespa- durch Wiederholung!) ren und erneuerbare Energien helfen dem Klima, modernisieren den Standort Deutschland und stärken un- Sie verhindern damit auch den Technologietransfer in sere Wettbewerbsfähigkeit. In diesem Sinne freue ichEntwicklungsländer. Sie entwickeln in Ihrem Entwick- mich, Sie alle in der nächsten Woche in der UN-Stadt be- lungshaushalt Spezialprogramme; aber Sie müssen die grüßen zu dürfen. Dinge verknüpfen. Dann wären sie sehr viel effizienter und wirkungsvoller. Sie haben damit die Chance nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nur für den Technologietransfer in Entwicklungs- und und bei der SPD) Schwellenländer verpasst, sondern auch für eine Export- offensive für erneuerbare Energien aus Deutschland. Da- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: für tragen Sie die Verantwortung. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Birgit Homburger. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10239

Birgit Homburger (A) Ich möchte Ihnen auch sagen, dass ich es noch viel kleine und mittlere Unternehmen, weil der dadurch er-(C) schlimmer finde, dass Sie das offensichtlich auch jetzt, zeugte bürokratische Aufwand diese relativ stärker be- wo es einen gemeinsamen Standpunkt des Europäischen lastet als große Unternehmen. Rates darüber gibt, dass diese Instrumente mit dem euro- Sie haben es geschafft, den Vorteil des Emissionshan- päischen Emissionshandel verknüpft werden sollen, also dels in einen Nachteil zu verwandeln. Sie haben aus ei- mithin Kostenreduktionspotenziale auch für den Emis- nem staatsfernen, dezentralen und liberalen Instrument, sionshandel in Europa und in Deutschland erschlossen das Klimaschutz zu minimalen Kosten erreicht, ein bü- werden sollen, wieder nicht in das Gesetz aufnehmen. Es rokratisches Monstrum gemacht. ist klar, welche Entwicklung es in Europa geben wird. Lassen Sie es uns einfach machen! Dass Sie das nicht (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – machen und auch nicht vorsehen, können wir nicht ak- Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Karneval zeptieren. Das bedeutet eine eklatante Wettbewerbsver- ist vorbei!) zerrung, die wir nicht akzeptieren werden. Sie werden von Europa gezwungen werden, das in Deutschland ein- Ihre Regelungen sind ungerecht, weil Sie Gleiches zuführen. ungleich behandeln, beispielsweise Altanlagen und Neu- anlagen. Altanlagen werden deutlich besser als Neuanla- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gen mit Emissionsrechten ausgestattet. Sie sagen, damit der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Un- wollen Sie einen Anreiz für Investitionen schaffen. Aber glaubliche Verdrehung der Tatsachen!) das schafft das Instrument des Emissionshandels so- wieso; denn genau das ist Sinn und Zweck des Emissi- Ein weiterer Punkt, Herr Trittin: Bei der heutigen Dis- onshandels. Hier betreiben Sie also keine Investitions- kussion über die Einführung des Emissionshandels geht förderung. Vielmehr belohnen Sie die Langsamen, es um nicht weniger als die Umstellung in der Umwelt- diejenigen, die bisher nichts getan haben, und bestrafen politik von der bisherigen reinenOrdnungspolitik hin diejenigen, die bereits bisher etwas getan haben. Das tra- zu einem marktwirtschaftlichen Instrument. Das ist ein gen wir nicht mit. ganz wichtiger Prozess und etwas derart Neues, dass man die deutsche Wirtschaft in den letzten Jahren darauf (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten hätte vorbereiten müssen. Das haben Sie verpasst. Bisher der CDU/CSU) dachten wir, Sie hätten das verschlafen. Seit dieser Wo- Ohne vernünftigen Grund haben Sie eine glatte Drei- che wissen wir aber, dass es wohl Absicht war. Wie an- fachförderung der Kraft-Wärme-Kopplung einge- ders erklären Sie die Art und Weise, wie Sie vorgegan- führt. Jetzt wird die Kraft-Wärme-Kopplung nicht nur gen sind? Sie haben ein beispielloses Chaos angerichtet. durch das KWK-Gesetz, sondern auch noch auf zweifa- (B) Bis kurz vor der Verabschiedung dieses Gesetzentwurfes che Weise durch die Regelungen des Zuteilungsgesetzes, (D) heute hier, bis kurz vor der Beratung im Umweltaus-die Zuteilung von mehr Emissionsrechten, gefördert. schuss haben Sie einen Änderungsantrag nach dem an- Dafür stehen Ihnen zwei Fördertöpfe zur Verfügung: so- deren mit hektischen Verschlimmbesserungen gestellt, wohl die Early Actions als auch die Regelungen des § 14 (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das kann Abs. 1 Zuteilungsgesetz, in dem es um die Effizienz man wohl sagen!) geht. In dieser Woche haben Sie das Kumulationsverbot aufgehoben, das ursprünglich im Gesetz stand. Das be- sodass es zum Schluss Dienstagnacht fünf Pfund Ände- deutet, dass die Kraft-Wärme-Kopplung jetzt aus drei rungsanträge gab, mit denen Sie nahezu alle Paragra-Töpfen gefördert wird. Das ist nichts anderes als die phen Ihres eigenen Gesetzentwurfes geändert haben.schamlose Klientelpolitik von Rot-Grün. Das ist die Realität und das ist keine angemessene Vor- gehensweise bei der Einführung eines so wichtigen In- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) struments. Dafür musste zulasten anderer der so genannte Erfül- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) lungsfaktor geändert werden. Sie haben die Neuregelung eingeführt, dass die Zuteilung von Emissionsrechten Das macht eine seriöse Beratung unmöglich und – das rückwirkend gekürzt werden kann. Da frage ich Sie: Wer ist noch viel schlimmer – es schafft eine Situation, in der soll vor dem Hintergrund der Rechtsunsicherheit, dass selbst Experten nicht mehr sagen können, wie sich das ihm einmal Zugeteiltes vielleicht wieder weggenommen Gesetz auf betroffene Unternehmen und auf die Arbeits- werden kann, eigentlich in diesem Land investieren? plätze auswirken wird. Das ist unzumutbar und wird bald dazu führen, dass nachgebessert werden muss. Dies (Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben das Gesetz führt zu Verunsicherungen bei Betroffenen. Sie sorgen gar nicht verstanden! Aber das ist ja nichts für ein Fiasko. Für die Probleme, die sich aus diesem Neues!) Verfahren ergeben, und für das, was beim Emissionshan- Aber damit noch nicht genug. Durch die trittinschen del hinterher nicht funktioniert, tragen ausschließlich Sie Zugeständnisse ergeben sich Verschiebungen. Es sind von Rot-Grün die Verantwortung. also in anderen Bereichen mehr Einsparungen nötig, bei- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) spielsweise bei den privaten Haushalten und im Ver- kehrsbereich. Dies führt zu noch unbezifferbaren Mehr- In der Beratung in dieser Woche wurden Sondertöpfe belastungen. Weil Sie dies – das ist absehbar – auf und Spezialregelungen noch einmal ausgeweitet undineffiziente Weise über die Ökosteuer organisieren wer- verkompliziert. Das bringt Nachteile insbesondere für den, 10240 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Birgit Homburger (A) (Zuruf von der CDU/CSU: Das haben sie ist, womit nicht nur Amerika, sondern die Welt insge-(C) schon in der Gesundheitspolitik nicht bewäl- samt in diesem Bereich mindestens zwei Jahrzehnte ver- tigt!) loren hat. Das gilt ebenso für viele Initiativen in anderen Ländern. kann ich Ihnen nur sagen: Eine solche Mehrbelastung der privaten Haushalte werden wir nicht mittragen. Wir wollen die anderen Parlamentarier motivieren, positive Beispiele nachzuahmen, sie ermutigen, die Initi- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ativen auch von sich aus zu ergreifen. Diese Ermutigung der CDU/CSU – Michael Müller [Düsseldorf] ist notwendig. Der gesamte Bereich der erneuerbaren [SPD]: Jetzt gehen Sie mal hin und lesen das Energien wird von sehr vielen Mythen begleitet und ist Gesetz!) mit sehr vielen Barrieren konfrontiert: Ich nenne zum Wir sind der Meinung, dass Doppelbelastungen aus Beispiel die angeblich zu hohe Kostenbelastung durch der Ökosteuer und dem KWK-Gesetz zumindest für die- erneuerbare Energien. Das ist aber nur eine Momentauf- jenigen, die am Emissionshandel teilnehmen, abge-nahme, die für die Initialperiode erneuerbarer Energien schafft werden müssen. Eine solche Doppelbelastung ist zutreffen mag, sie gilt jedoch mit Sicherheit nicht für die nicht gerechtfertigt. Deswegen sage ich Ihnen ganz klar: dauerhafte Entwicklung. Denn neben dem ökologischen Der Gesetzentwurf, den Sie uns hier vorlegen, ist dieUnterschied gibt es einen fundamentalen Unterschied größte umweltpolitische Enttäuschung der letzten Jahre zwischen den herkömmlichen und den erneuerbaren En- in Deutschland. ergien: Erneuerbare Energien werden, weil bei ihnen nur Technikkosten anfallen und nicht mehr Brennstoff- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Ja, das ist kosten – außer bei der Bioenergie, da ist das anders –, wahr! – Ulrich Kelber [SPD]: Dann hätten Sie mit der weiteren technischen Entwicklung und mit der Änderungsanträge stellen sollen!) Massenproduktion solcher Technologien immer billiger Die FDP will den Emissionshandel als unbürokratisches, werden. Das zeigen 200 Jahre technologisch-industriel- effizientes Instrument. Das bürokratische Monster, das ler Entwicklung in allen Bereichen. Herkömmliche Sie uns hier vorlegen, werden wir aber nicht mittragen. Energien werden dagegen immer teuerer werden; sie kommen in die Erschöpfungsphase und die Umweltlas- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – ten werden immer gravierender und müssen ja schließ- Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Beim lich auch von der Gesellschaft – wenn nicht heute, so nächsten Mal lesen Sie das Gesetz vorher! Sie spätestens morgen, von der nächsten Generation – be- sollten mal den Text lesen! – Weiterer Zuruf zahlt und getragen werden, was gegen das Prinzip jed- von der SPD: Wirklich peinlich!) weden Generationenvertrages ist. (B) (D) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hermann Scheer. DIE GRÜNEN) Vor diesem Hintergrund ist diese Motivierung unglaub- Dr. Hermann Scheer (SPD): lich wichtig. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Was können die Regierungskonferenz und das Parla- nächsten Woche wird nicht nur die Internationale Regie- mentarierforum leisten? Bei beiden Anlässen handelt es rungskonferenz durchgeführt, sondern am 2. Juni findet sich nicht um eine Konferenz von Staaten mit dem Ziel auch das Internationale Parlamentarierforum statt, zu eines internationalen Vertrages; es handelt sich auch dem der Deutsche Bundestag eingeladen hat. nicht um einen Beschlusskörper einer internationalen (Beifall des Abg. Dr. Axel Berg [SPD]) Organisation, auch nicht des UN-Systems. Vielmehr handelt es sich um freiwillige Zusammenkünfte: Auf der Als Vorsitzender dieses Parlamentarierforums möchte Regierungskonferenz werden 87 Regierungen vertreten ich betonen – das tue ich auch im Namen der gesamten sein, beim Parlamentarierforum 75 Parlamente. Jeder ist interfraktionellen Vorbereitungsgruppe –, dass wir die- aus freien Stücken gekommen. Es geht jetzt also nicht ses Forum der Parlamentarier für genauso wichtig wie darum, bürokratisch um jedes Komma zu streiten, son- die Regierungskonferenz halten. dern es geht um die Impulsgebung; es geht darum, zu (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE zeigen, was wirklich möglich ist, die Augen zu öffnen, GRÜNEN und der CDU/CSU sowie bei Abge- die Mentalität der Zurückhaltung gegenüber erneuerba- ordneten der FDP) ren Energien – die natürlich auch bis weit in die Politik reicht – aufzubrechen. Denn alle Initiativen, durch die in den letzten 25 Jah- ren Fortschritte im Bereich der erneuerbaren Energien Was ist der Vorteil der Parlamentarier? Warum sind vorangetrieben wurden – manchmal waren sie auch von die Initiativen von Parlamenten gekommen? Es gibt in Rückschlägen begleitet –, sind letztlich aus denParla- jedem Land eine lange Tradition – über ein Jahrhundert menten gekommen. Das gilt für das Stromeinspeisungs- lang entwickelt –, dass sich überall – wegen der strategi- gesetz und seinen Nachfolger, das Erneuerbare-Ener-schen Bedeutung von Energie für jede Volkswirtschaft; gien-Gesetz. Das gilt für die brasilianischen Bioalkohol- weil ohne Energie nun einmal nichts geht – enge Ver- Initiativen wie auch für die Gesetzgebung des amerika- flechtungen, Intimverflechtungen zwischen Regierungen nischen Kongresses Ende der 70er-Jahre, die leider An- und der nun einmal etablierten fossilen bzw. atomaren fang der 80er-Jahre abgebrochen bzw. kassiert worden Energiewirtschaft gebildet und eingespielt haben. Parla- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10241

Dr. Hermann Scheer (A) mente sind freier von diesem Interessengeflecht; deshalb dem Unionslager die Resolution und Schlusserklärung(C) kamen die Initiativen von daher und das wollen wir auch bei der Parlamentarierkonferenz unterzeichnen wer- anderen zeigen. den, ein falscher Eindruck entsteht. Das internationale System hat in der Frage der erneu- Sie haben in Ihrer Rede die Position vermittelt – das erbaren Energien bisher –das sollten wir nicht ver- war für mich durchaus nachvollziehbar –, dass ein Ge- schweigen – versagt. Wir haben spätestens seit 1973gensatz zwischen erneuerbaren Energien und fossilen – durch die damalige Ölkrise – die Notwendigkeit des Energieträgern bzw. – das haben Sie nur andeutungs- Umstiegs erkannt. 1974 begannen in fast allen Ländern weise gesagt und haben in der Tat vorsichtig formuliert – der Welt die ersten Forschungs- und Entwicklungspro- zwischen erneuerbaren Energien und Atomenergie be- gramme für erneuerbare Energien; was vorher passierte, stehe. Ich habe der Vorbereitungskommission für die war nicht nennenswert. Als die Ölkrise vorbei war, trat Parlamentarierkonferenz angehört. Wir haben zusam- wieder Entwarnung ein. In den 80er-Jahren gab es nur men versucht, einen Resolutionstext zu erarbeiten, der minimalste Ansätze; ansonsten ist fast vollständig ver- breit gefasst ist und damit allen die Möglichkeit gibt, ihn säumt worden, etwas zu tun. Erst ab Beginn der 90er- zu unterzeichnen. Jahre ging es aufwärts – noch immer nicht unbedingt ge- fördert durch das internationale System. Vor dem Hintergrund Ihrer Rede muss die Öffentlich- keit darauf hingewiesen werden, dass es durchaus unter- Noch nicht einmal auf der berühmten Rio-Konferenz schiedliche Positionen hinsichtlich der Frage gab, ob der ist der Zusammenhang zwischen globalen Entwick-gesamte Energiebedarf von erneuerbaren Energien abge- lungsproblemen und globalen Umweltproblemen, be- deckt werden soll oder ob es nicht den verschiedenen sonders dem Klimaproblem, und der heutigen Weise des Staaten und Volkswirtschaften überlassen bleiben soll, Energieverbrauchs und den jeweiligen Energiequellen, eigene Wege zur Förderung der erneuerbaren Energien aus denen diese Energie generiert wird, genannt worden. zu finden und einen eigenen Energiemix zu definieren. Das ist aufgrund des Interessendrucks verschwiegenEs wird weiterhin Staaten geben, die nicht ausschließlich worden, der natürlich auch auf solche Konferenzen ein- auf erneuerbare Energien setzen werden, sondern die wirkt. Noch vor Johannesburg schien es fast wieder so. auch in Zukunft fossile Energieträger verwenden wer- Dann kam die Initiative des UN-Generalsekretärs imden. Auch zur friedlichen Nutzung der Atomenergie be- Frühjahr 2002, der gesagt hat: So geht es nun wirklich ziehen sie unterschiedliche Positionen. Aus Klima- nicht. In Johannesburg standen das Thema Wasser und schutzgründen spricht aus meiner Sicht sogar vieles das Thema erneuerbare Energien schließlich im Mittel- dafür, weiterhin Kernenergie zu nutzen, sich aber auch punkt aller Erörterungen. Das heißt, in Johannesburg hat gleichzeitig für einen größeren Anteil der erneuerbaren man sich den realen globalen Problemen erstmals ange- Energien einzusetzen. (B) nähert. (D) Wir haben bei der Formulierung der Resolution einen Nun ist es unsere Aufgabe, Impulse zu setzen. ImKompromiss gefunden. In ihr wird keine Entweder-oder- Rahmen dieser Konferenz müssen wir aufzeigen, welche Position bezogen, wie es in Ihren Ausführungen teil- Möglichkeiten die erneuerbaren Energien tatsächlichweise anklang. Die Resolution bietet durchaus eine ge- bieten. Für deren Einsatz bt gi es nicht nur Umwelt- wisse Offenheit für die verschiedenen möglichen Wege gründe – diese allein würden schon dafür sprechen –,und für den Einsatz verschiedener Energieträger. Der ge- sondern auch entwicklungspolitische Gründe. Viele Län- meinsame Wille ist aber, aus Klimaschutzgründen und der der Dritten Welt sitzen mittlerweile in der Falle der aus volkswirtschaftlichen Gründen den Anteil der erneu- fossilen Energien. Sie müssen schon heute mehr für den erbaren Energien zu erhöhen. Import von fossilen Energien bezahlen, als sie durch den Export einnehmen. Mir war wichtig, das hier darzustellen – bitte haben Sie Verständnis dafür –: In dieser Resolution wurde kein Hier liegt die große Chance durch erneuerbare Ener- Gegensatz aufgebaut. Jede Volkswirtschaft soll vielmehr gien. das Recht haben, ihren eigenen Weg zu finden. Gerade (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ diese Offenheit in der Resolution ist der Grund dafür, DIE GRÜNEN) dass mehrere Abgeordnete aus dem Unionslager sie bei der Parlamentarierkonferenz unterzeichnen können. Wir sollten stolz darauf sein, hierzu eine avantgardisti- sche Position einnehmen zu können. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bitte. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Dr. Hermann Scheer (SPD): Dr. Peter Paziorek das Wort. Herr Kollege Paziorek, ich bin Ihnen für Ihre Ausfüh- rungen sehr dankbar. In meiner Rede wollte ich zum Dr. Peter Paziorek (CDU/CSU): Ausdruck bringen, dass ein mentaler Aufbruch stattfin- Herr Kollege Scheer, ich habe um eine Kurzinterven- den muss, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. tion gebeten, weil ich verhindern möchte, dass in der Öf- Wir sind in diesem Bereich in Deutschland sogar relativ fentlichkeit hinsichtlich der Frage, ob Abgeordnete aus weit. In der Praxis ist bei uns schon viel geschehen. 10242 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Dr. Hermann Scheer (A) Ich habe einen ziemlich guten Überblick über das, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) was in den Ländern auf den verschiedenen Kontinenten Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Georg Girisch. passiert. In Deutschland sind die Koalitionsparteien in dieser Frage deutlich weiter als die Oppositionsparteien. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Oppositionsparteien sind in dieser Frage aber durch- aus weiter als manche sozialdemokratischen Parteien in Georg Girisch (CDU/CSU): anderen Ländern. Vor diesem Hintergrund habe ich von Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und der Notwendigkeit eines Aufbruchs gesprochen. Herren! Die Bundesregierung nimmt für sich in An- Ich hatte keineswegs vor – das war nicht Sinn meiner spruch, mit ihremNationalen Allokationsplan eine Ausführungen –, meine Betrachtungen nur nach innen Vorreiterrolle in Europa eingenommen zu haben. Diese zu richten. Wir sind mittlerweile weiter als noch vor drei Selbsteinschätzung ist aus meiner Sicht falsch; Jahren. Damals gab es in der Enquete-Kommission (Beifall der Abg. Birgit Homburger [FDP]) Schwierigkeiten in der Frage, das, was wir an Gesetzen auf den Weg gebracht haben, als Erfolgsmeldung an die denn unter einer Vorreiterrolle verstehe ich, dass man UN zu geben. Einige waren damit nicht einverstanden, den anderen Ländern als Vorbild, aber auch als Vorden- obwohl es sich um beschlossene Gesetze handelte. ker dient und dass man die anderen Länder motiviert, die Eckpunkte aus dem deutschen Allokationsplan zu über- Eines ist aber klar – Sie wissen, dass ich mich bei der nehmen. Dies ist nachweislich nicht geschehen. Resolution dafür eingesetzt habe –: Ich bin nicht unbe- dingt dafür, eine Festlegung darüber zu treffen, bis zu (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So ist es!) welchem Jahr jedes Land der Welt wie viel an erneuer- baren Energien eingeführt haben muss; deswegen habe Im Gegenteil: Die Bundesregierung hat unser Land und ich auch keinen entsprechenden Versuch gemacht. Auf die bei uns vom Emissionshandel betroffenen 2 400 An- nationaler Ebene, auf der wir das in der Hand haben, gibt lagen durch ihr Verhalten ins Abseits manövriert. es gute Gründe dafür. Ich denke aber, es wäre nicht be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. sonders produktiv, das allgemein zu formulieren, weil Birgit Homburger [FDP]) man sich dann um Kommas streiten würde. Das kann nicht der Sinn einer Konferenz sein, die sowieso keine In der EU gibt es außer Deutschland bisher nur ein verbindlichen Beschlüsse fassen kann. Es macht abereinziges Land, das den Unternehmern in der ersten Peri- Sinn, deutlich zu machen, was alles möglich ist, wenn ode weniger Kohlendioxidemissionen zuteilt als in der die Rahmenbedingungen stimmen. Basisperiode. Es kommt aber noch schlimmer: In der (B) Schlussberatung des Umweltausschusses ging die Bun- (D) (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das ist wohl desregierung sogar von einer Übererfüllung des deut- wahr!) schen Minderungsziels aus. Das zeigt deutlich: Rot- Es gibt sehr gute praktische VergleichsmöglichkeitenGrün und die verantwortlichen Minister können höchs- zwischen unterschiedlichen Konzepten. Sie werden dort tens in einem Bereich zu Recht eine Vorreiterrolle bean- diskutiert werden. Die Zahlen sprechen Gott sei Dank spruchen, nämlich bei der Gefährdung des Standortes für sich. Andere Betrachtungen, auch ideologischer Art, Deutschland. hören dann auf. (Beifall bei der CDU/CSU – Krista Sager Es ist uns allen klar, dass die Dynamik vorangetrieben [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh, das ist ja werden muss und dass es aus vielerlei Gründen – am we- ein Unsinn! Wie stellen Sie sich denn den nigsten jedoch aufgrund des umfassenden Potenzials er- Emissionshandel vor? – Ulrich Kelber [SPD]: neuerbarer Energien – ohnehin nicht möglich sein wird, An dem Satz haben Sie aber lang gearbeitet! – von heute auf morgen ein ganzes Energiesystem zu än- Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Die Wahrheit dern. Jedes Land hat heute einen anderen Energiemix, tut weh!) meistens einen herkömmlichen. Wo es die natürlichen – Ja, man kann wohl sagen, dass die Wahrheit weh tut. Bedingungen erlauben, nutzt man oft die traditionelle Wasserkraft. Nach meiner und der Auffassung vieler an- (Dr. Uwe Küster [SPD]: So viel Unwissenheit derer wird der Anteil der erneuerbaren Energien am tut weh!) Energiemix auf dem Weg in die Zukunft sehr rasch an- steigen, während der Anteil der fossilen Energien pa- Ähnlich sieht auch die Selbsteinschätzung hinsicht- rallel zu diesem Prozess reduziert wird. Am Schlusslich einer zeitlichen und inhaltlichen Vorreiterrolle aus. werden dann irgendwann nur noch die erneuerbarenWieder behauptet die Bundesregierung, dass sie diese Energien übrig bleiben. Das ergibt sich schon aufgrund einnehme. Dies kann beim besten Willen niemand er- der Ressourcenproblematik. kennen. Wer hier zu Recht eine Vorreiterrolle einnehmen will, der muss mehr als nur einen von der Kommission Das ist jedenfalls meine Hoffnung und die Perspek- vorgegebenen Zeitplan für die nationale Umsetzung ei- tive, für die ich mich einsetze. Ich glaube, dafür gibt es ner EU-Richtlinie einhalten. Rot-Grün hat dies sogar nur auch in der Bevölkerung eine breite Unterstützung. auf den letzten Drücker geschafft. Der Preis für die Ein- haltung der Fristen war schlicht und ergreifend zu hoch. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So ist es!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10243

Georg Girisch (A) Es ist einfach nicht hinnehmbar, wenn der BundestagGesetzentwurf ist nicht durchdacht. Er enthält zudem(C) und insbesondere die Opposition von einer inhaltlichen Dutzende unbestimmte Rechtsbegriffe, die entweder gar und konstruktiven Beratung des Gesetzentwurfs zum nicht geklärt oder in späteren Rechtsvorschriften gere- Nationalen Allokationsplan faktisch ausgenommen wer- gelt werden sollen. den. (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Oder durch (Beifall bei der CDU/CSU – Ulrich Kelber Gerichtsentscheidungen!) [SPD]: Nein!) Der Gesetzentwurf weist also gravierende inhaltliche Wie dies geschehen ist, will ich Ihnen kurz erläutern. und juristische Mängel auf. Am Montag dieser Woche fand eine öffentliche Anhö- rung im Umweltausschuss zum NAPG statt. Am Mitt- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. woch, nur zwei Tage später, war die Schlussberatung im Birgit Homburger [FDP] – Ulrich Kelber Umweltausschuss. Die umfangreichen und gravieren- [SPD]: Die Frau Gönner ist schon widerlegt!) den Änderungsanträge der Regierungsfraktionen lagen – Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Frau Gönner hat im Aus- erst gegen 22.30 Uhr am Dienstag vor, also am Vorabend schuss eine ganz sachliche Diskussion geführt. der Ausschusssitzung. Ich frage Sie: Wie sollen wir als verantwortliche Abgeordnete bei einem solchen Vorgang (Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE überhaupt eine gründliche inhaltliche Prüfung dieser An- GRÜNEN]: Was? Die hat schlampig gearbei- träge vornehmen können? tet! – Ulrich Kelber [SPD]: Die ist schon wi- derlegt!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Birgit Homburger [FDP]) – Das ist widerlegt. Ich halte den Brief, den heute der Staatssekretär geschrieben hat, nicht für redlich. Wir Viele, die heute anwesend sind, waren in der Debatte werden in der nächsten Sitzung auf diese Dinge noch- dabei. Sie haben doch selbst gemerkt, dass Vorschläge mals eingehen. der CDU/CSU-Fraktion aufgenommen wurden. Das zeigt, dass Sie dilettantisch gearbeitet haben. Dafür gibt (Beifall bei der CDU/CSU – Ulrich Kelber es aus meiner Sicht eine schlüssige Erklärung: Die Re- [SPD]: Toller Brief!) gierungsfraktionen drücken sich bewusst vor einer sach- – Es ist klar, dass Sie ihn toll finden. Dass der Staatsse- lichen Auseinandersetzung mit den Argumenten der Op- kretär in der Sitzung unsere Vorschläge aufgegriffen hat, position. Die Zeitvorgabe aus Brüssel wurde als ein zeigt, dass er rechtlich den falschen Weg beschritten hat. willkommener Vorwand für eine völlige Überstürzung der Beratung missbraucht. (B) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (D) Wie wenig stichhaltig das Argument Zeitdruck war, Lassen Sie den Kollegen bitte zum Schluss kommen, zeigt eine weitere Tatsache. Wir alle konnten in derweil seine Redezeit abgelaufen ist. Presse nachlesen, dass trotz des vermeintlichen Zeit- drucks anscheinend immer noch genügend Zeit war, die (Dr. Uwe Küster [SPD]: Denken Sie daran: Medien vor uns über die wichtigen Änderungen zu infor- Das war der letzte Schlusssatz!) mieren, nämlich am Nachmittag des vorigen Tages um 15.30 Uhr. Die Presse am Nachmittag und die Abgeord- Georg Girisch (CDU/CSU): neten erst am Abend zu informieren, halte ich in Anbe- Ich bin mir sicher, Sie werden in den nächsten Jahren tracht der Bedeutung dieses Gesetzes für skandalös. noch so manches Mal wünschen, bei diesem Gesetz die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Opposition stärker eingebunden oder mit ihr zusammen- Ulrich Kelber [SPD]: Herr Girisch, das ist völ- gearbeitet zu haben. liger Quatsch! – Gegenruf des Abg. Dr. Peter (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Genau!) Paziorek [CDU/CSU]: Das ist so!) Auf diese Weise hätten noch viele juristische, aber auch – Wenn Sie das für Quatsch halten, dann lesen Sie das handwerkliche Fehler korrigiert werden können. bitte in Ihrer eigenen Presseerklärung nach.

(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: 15.30 Uhr Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: am Dienstagnachmittag! – Ulrich Kelber Herr Kollege, bitte. [SPD]: Ja, das stimmt!)

So viel Redlichkeit muss auch in einem Parlament sein. Georg Girisch (CDU/CSU): Offensichtlich ist diese Verfahrensweise bei der Re- Sie haben stattdessen vorgezogen, die Opposition fak- gierung zum System geworden. Schon bei dem Erneuer- tisch nicht am Beratungsverfahren zu beteiligen. bare-Energien-Gesetz, bei dem wir gemeint haben, dass (Dr. Uwe Küster [SPD]: Nun ist genug!) wir gut zusammenarbeiten können – wir haben die Zu- sammenarbeit angeboten –, sind einige Dinge nicht so Sie eröffnen mit Ihrem Gesetzentwurf Tür und Tor für gut gelaufen, wie wir uns dies vorgestellt haben. eine ganze Reihe von Klagen – – Ich komme jetzt zu der von Ihnen in Anspruch ge- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster nommenen inhaltlichen Vorreiterrolle. Der vorliegende [SPD]: Der Strom ist alle!) 10244 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: bei, die sich mit Frau Gönner an Ort und Stelle hätten(C) Das Wort hat jetzt der Herr Minister Trittin. auseinander setzen können. (Ulrich Kelber [SPD]: Das ist doch versucht wor- Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur- den! Frau Gönner wollte nicht zuhören!) schutz und Reaktorsicherheit: Frau Präsidentin! Wir sind gebeten worden, einerDie waren dazu offenbar auch nicht in der Lage. Frage nachzugehen, die Frau Gönner im Ausschuss ge- Ich bedanke mich. stellt hat, nämlich ob es beim Vorliegen bestimmter Vo- raussetzungen hinreichend sei, die einzelnen Vorausset- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster zungen, die jede für sich hinreichend ist, durch ein [SPD]: Das ist Beamtenbeleidigung, was Sie Komma zu trennen und anschließend ein „oder“ anzu- da machen! Beamtenbeschimpfung! Der Be- hängen. Mein Staatssekretär hat Frau Gönner zugesagt, amtenbund wird sich Hilfe suchend an Sie diese Frage zu prüfen. Das Ergebnis der Prüfung will ich wenden!) Ihnen, da Sie das hier erwähnen, nicht vorenthalten. Es ist nämlich so, dass die im Gesetzentwurf gewählte For- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: mulierung korrekt ist. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Loske. Dem „Handbuch der Rechtsförmlichkeit“, herausge- geben vom Bundesministerium der Justiz, können Sie in Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der neu bearbeiteten Auflage von 1999 auf Seite 51 ent- NEN): nehmen: Ich muss schon sagen: Ich finde, dass dieses Klein- Klein für unsere Zuschauerinnen und Zuschauer gar Das Wort „oder“ ist immer dann zu verwenden, nicht nachvollziehbar ist. wenn a) in einer Rechtsvorschrift verschiedene Vor- aussetzungen festgelegt werden sollen oder b) an (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Reden Sie ein- einen Tatbestand Rechtsfolgen in der Weise ange- mal mit Ihrem Minister!) knüpft werden, Wenn Sie das aber haben wollen, dann kann ich Ihnen (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Da müssen Sie Folgendes sagen: Wir sind im Ausschuss auf Sie einge- schon Probleme haben, wenn Sie sich mit so gangen, als es um die Verbindung von TEHG und dem was beschäftigen!) Nationalen Allokationsplan ging, und zwar deshalb, weil wir sicherstellen wollten, dass Sie dem TEHG im Ver- dass jeweils nur eine von ihnen eintreten soll. Wer- mittlungsausschuss zustimmen. Das haben Sie jetzt ge- (B) den die einzelnen Voraussetzungen oder Rechtsfol- (D) macht. Dafür ein herzliches Dankeschön. Das heißt, wir gen durch Kommata voneinander getrennt, muss sind einer Meinung. Sie bauen nur einen Popanz auf. das Wort „oder“ vor die letzte Voraussetzung oder Rechtsfolge gesetzt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Hätten Sie sich Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! so viel Zeit für die Beratung des Gesetzes ge- Jetzt zur Sache. Vor wenigen Tagen – ich glaube, nommen, wäre es sinnvoller gewesen!) vorgestern – lief eine Umfrage vom Europressedienst über den Ticker. Die will ich uns nicht vorenthalten. Da- Dies gilt auch bei listenförmiger Anordnung der nach sind 69 Prozent unserer Bevölkerung der Meinung, Aufzählung. wir müssten weg vom Erdöl. 58 Prozent sind der An- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Peinlich ist sicht, dass die jetzige wirtschaftliche Situation unmittel- das!) bar von der Entwicklung der Ölpreise abhängt. 72 Prozent meinen, dass dieerneuerbaren Energien So weit zur Rechtsförmlichkeit, der wir in vollem Um- der Ausweg sind. Ich glaube, diese Relationen zeigen, fang nachgekommen sind und die wir auf Bitten vonwo die Aufgabe für uns hier im Parlament liegt. Bei aller Frau Gönner gerne noch einmal überprüft haben. Wertschätzung, Herr Kollege Lippold, für James Lovelock und seine Gaia-Hypothese: Die Leute wollen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: nicht die Atomenergie, sondern sie wollen den Einstieg Das war jetzt eigentlich eine Stellungnahme zur De- in die erneuerbaren Energien. Dafür stehen wir und da- batte. für werden wir uns einsetzen. Sie, Herr Girisch, möchten dazu noch etwas sagen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dann gebe ich Ihnen das Wort. Drei Minuten, bitte. und bei der SPD) Wenn man diese Woche ins Kino geht, dann stößt Georg Girisch (CDU/CSU): man auf den Film „The Day after Tomorrow“. Er behan- Herr Minister, Sie waren bei der Debatte im Aus-delt den Klimawandel, allerdings nur ein Szenario, näm- schuss nicht anwesend. Ich muss Ihnen sagen, dass eine lich den abrupten Klimawandel. Das ist wohl nicht das ganze Galerie von Beamten dort war. Es waren noch nie wahrscheinlichste, aber es ist ein denkbares Szenario. so viele Beamte aus Ihrem Hause anwesend wie bei die- Wenn die Leute in die Zeitung schauen, dann lesen sie, ser Beratung. Es waren mit Sicherheit einige Juristen da- dass ein Fass Öl heute 40 Dollar kostet. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10245

Dr. Reinhard Loske (A) Diese beiden Aspekte – die Versorgungssicherheit und höht die Verbindlichkeit des Gesetzes. Die im Nationa- (C) die Ressourcenverfügbarkeit einerseits und das Klima len Allokationsplan der Regierung genannte Obergrenze andererseits – müssen in politischer Hinsicht zusammen von 499 Millionen Tonnen für die erste Periode bildet betrachtet werden. Es ist unsere Aufgabe, klar zu ma- damit die Konstante. Sie umfasst alle Zuteilungen für chen, dass die Abwendung vom Erdöl sowohl eine sehr Alt- und Neuanlagen. Das ist im Gesetzentwurf klar ge- wichtige Klimaschutzstrategie als auch eine Strategieregelt und es ist richtungweisend. zur Sicherstellung der Versorgungssicherheit ist. Denn Darüber hinaus haben wir eine Malusregelung in den die Sonne schickt uns keine Rechnung. Gesetzentwurf aufgenommen. Nach dieser Regelung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN müssen besonders alte Anlagen früher vom Netz genom- sowie bei Abgeordneten der SPD) men werden. Es ist doch geradezu ein Witz, dass zurzeit noch Anlagen in Betrieb sind, die vor 45 oder gar Positiv ist auch – das sollten wir nicht vergessen –, 50 Jahren ans Netz gegangen sind. Vom Innovations- dass Russland jetzt anscheinend bereit ist, dasKioto- standort Deutschland darf man wohl etwas mehr erwar- Protokoll zu ratifizieren, sodass dann endlich der Kioto- ten. Das haben wir im Gesetzentwurf verankert. Prozess beginnen könnte. Ich bedanke mich herzlich bei der EU-Kommission, bei Herrn Prodi und anderen, dass Auch was Sie zum Thema Early Action gesagt ha- sie sich dafür eingesetzt haben, Russland in den WTO- ben, Frau Homburger, ist nicht wahr. In den neuen Bun- Verhandlungen ein Stück weit entgegenzukommen, so- desländern gab es eine Ungleichbehandlung zwischen dass es Russland möglich wurde, das Protokoll zu ratifi- den großen Spielern – ich will an dieser Stelle keine Na- zieren. men nennen – und den Stadtwerken. Wir haben es er- reicht, diejenigen, die besonders früh besonders viel ge- Es geht also nicht – wie es manche von Ihnen in den macht haben und besonders ehrgeizig vorgegangen sind, vergangenen Monaten suggeriert haben – um einenstärker zu belohnen als jene, die nur wenig gemacht ha- Plan B zum Kioto-Protokoll; es geht vielmehr ben. um Auf gut Deutsch: Wer viel in Richtung Effizienz- „Kioto plus“. Zu diesem Plus gehört auch die Konferenz verbesserung und Kraft-Wärme-Kopplung getan hat, „renewables 2004“, die in der nächsten Woche wird in belohnt. Das ist auch gut so. Deutschland stattfinden und ein sehr wichtiges Signal an die Staatengemeinschaft aussenden wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Horst Kubatschka [SPD]) Ich komme zu einem letzten Argument. Wir haben eine Newcomer-Reserve und eine Härtefallregelung Noch eine letzte Vorbemerkung: Ich halte es auch für eingeführt. Auch das ist sehr wichtig. Dadurch steigt der (B) (D) sehr positiv, dass der Nachhaltigkeitsrat diese Woche Erfüllungsfaktor von 2,5, wie im Regierungsentwurf an- als mittelfristiges Klimaschutzziel für Deutschland die gegeben, auf 2,91. Das heißt, bis 2007 muss eine Reduk- 40-prozentige Kohlendioxidreduktion – ausgehend vom tion um knapp 3 Prozent erfolgen. Wenn Sie aber so tun, Basisjahr 1990 – bis zum Jahr 2020 bekräftigt hat. Das Frau Homburger, als handele es sich dabei um eine Kon- ist die Planungssicherheit, die für die Politik wie auch zession an die KWK oder die Stadtwerke, dann ist das für die Unternehmen erforderlich ist. Damit können wir nicht wahr. Die Wahrheit ist, dass der Erfüllungsfaktor auch anderen Ländern gegenüber signalisieren, dass wir zu einem Löwenanteil – ich möchte fast sagen: aus- unsere Vorreiterrolle ernst nehmen. schließlich – auf die Einführung einer Härtefallregelung im Sinne der Wirtschaft zurückzuführen ist. Wenn Sie Gestatten Sie mir noch eine kurze Bemerkung zum sich dagegenstellen wollen, dann machen Sie das bitte; nationalen Zuteilungsplan. Ich verhehle nicht, Frau aber seien Sie dann auch ehrlich! Homburger: Ich hätte mir eine einfachere und an- spruchsvollere Ausgestaltung vorstellen können. Im Danke schön. letzteren Fall wären Sie nicht mit im Boot gewesen, aber was das Erste angeht, bin ich mit Ihnen einer Meinung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich glaube trotzdem, dass darin sehr viele positive Ele- sowie bei Abgeordneten der SPD – Michael mente enthalten sind. Ich halte es zunächst einmal für ei- Müller [Düsseldorf] [SPD], zur Abg. Birgit nen Wert an sich, dass wir fristgerecht geliefert und ge- Homburger [FDP] gewandt: Sie haben nicht genüber Brüssel signalisiert haben: Wir wollen, dass es gerechnet! Sie müssen mal rechnen! Dann se- zum 1. Januar 2005 losgeht. Das ist sehr wichtig. hen Sie es! Sie machen es sich ein bisschen einfach! – Gegenruf der Abg. Birgit Ich halte es darüber hinaus für entscheidend, dass für Homburger [FDP]: Wer es sich einfach macht, beide Verpflichtungsperioden Reduktionsziele vorgese- sind Sie!) hen sind. Wichtig ist auch, dass eine Übertragungsrege- lung gefunden wurde, die Anreize für frühe Modernisie- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: rungsinvestitionen in innovative Energietechnik bietet. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael Stübgen. Das alles ist positiv. Ich stelle mit einem gewissen Selbstbewusstsein fest: Michael Stübgen (CDU/CSU): Es war sehr gut, dass die Koalitionsfraktionen den Ge- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und setzentwurf nachgebessert haben. Wir haben die Caps Herren! Der hier zur Abstimmung stehende Gesetzent- – die Obergrenzen – verbindlich festgeschrieben. Das er- wurf über den Nationalen Allokationsplan weist viele 10246 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Michael Stübgen (A) bürokratische Unsinnigkeiten und wirtschaftsfeindliche ten, der zum Beispiel im Rheinland steht und der im(C) Aspekte auf, schädigt daneben einseitig die ostdeutsche wahrsten Sinne des Wortes eine Dreckschleuder ist, Industrie und fördert ebenso einseitig die nordrhein-2005 modernisiert, dann bekommt er – wo ist hier der westfälische Kohleindustrie. Aber nicht nur das: Das umweltpolitische Aspekt? – bis einschließlich 2023, also Gesetz wird sich zu einem Gesetz entwickeln, das den 18 Jahre lang, den Erfüllungsfaktor 1 zuerkannt, aber Transfer von Ost nach West befördert. Denn die ostdeut- nicht nur das: Zusätzlich bekommt er bis 2009, also vier sche Industrie und insbesondere die bisher erfolgreiche Jahre lang, die Emissionszertifikate auf Basis der Alt- Braunkohleindustrie muss aus ihrer Substanz den längst emissionen der Dreckschleuder zugeteilt, die er nicht überfälligen Sanierungsbedarf der nordrhein-westfäli- mehr benötigt und die er für bares Geld zum Beispiel an schen Kohleindustrie finanzieren. schlechter gestellte ostdeutsche Unternehmen verkaufen kann. Vor diesem Hintergrund kann von Wettbewerbs- Es ist zwar normal in diesem Haus, dass bestimmte gleichheit in keiner Weise die Rede sein. Gruppen versuchen, regionale Industrieinteressen durchzusetzen. Wir als unabhängige Abgeordnete sind (Ulrich Kelber [SPD]: Wo war Ihr Änderungs- aber dazu da, den Interessenausgleich für die gesamt- antrag?) deutsche Wirtschaft im Auge zu behalten. Ein derartig – Die werden kommen. skrupelloser Versuch wie in diesem Gesetzentwurf, die nordrhein-westfälische Kohleindustrie auf Kosten der Drittens. Auch bei der Regelung desNeubaus von ostdeutschen Wirtschaft zu fördern, ist mir allerdingsKohlekraftwerken hat Herr Clement besonders gut auf- noch nicht untergekommen. Ich möchte Ihnen das angepasst. Es ist allgemein bekannt, dass in den nächsten drei Punkten kurz nachweisen. 15 Jahren circa 40 neue Kraftwerke in Deutschland ge- baut werden müssen. (Ulrich Kelber [SPD]: Wo bleiben denn Ihre Änderungsanträge?) (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Sie müs- sen nicht!) – Die Länder Brandenburg und Sachsen werden im Bun- desrat gegen den Gesetzentwurf stimmen und den Ver- – Selbstverständlich. – Gerade hier gäbe es günstige In- mittlungsausschuss anrufen; das sage ich Ihnen voraus. vestitionsmöglichkeiten für die wirtschaftlich hervorra- gend arbeitende Braunkohleindustrie in der Lausitz und Erstens. Die ostdeutsche Industrie hat mit Beginn der in Mitteldeutschland. Das Gesetz soll aber diese Investi- 90er-Jahre, und zwar schon vor 1994, sehr erfolgreich tionsmöglichkeiten verhindern; denn für den Neubau erhebliche Investitionen in den Umweltschutz getätigt. von Kraftwerken nach 2005 – so ein Zufall, Herr Zum Teil kommt der vorliegende Gesetzentwurf mit der Clement! – werden als Benchmark für den Erfüllungs- (B) so genannten Early-Action-Regelung dem entgegen. Das faktor 1 die Emissionswerte eines modernen Steinkohle- (D) Problem ist aber, dass Sie in dem Gesetzentwurf alle In- kraftwerkes zugrunde gelegt werden. Diese Werte kann vestitionen, die vor 1994 getätigt wurden, ausschließen. auch das modernste Braunkohlekraftwerk nicht erfüllen. Somit wird von vornherein ein großer Teil der Umwelt- So können die Betreiber von Braunkohlekraftwerken schutzinvestitionen in der ostdeutschen Industrie, insbe- künftig nicht mehr am Wettbewerb teilnehmen. Sie wer- sondere in der Braunkohleindustrie, von der Anrechnung den kategorisch ausgeschlossen. ausgeschlossen. Das Ergebnis wird sein, dass eine ganze Reihe unserer ostdeutschen Industriebetriebe sehr bald Es gibt aber eine Ausnahme – das ist die größte Un- Emissionszertifikate kaufen müssen, weil Sie deren Um- verschämtheit –: Wenn man ein altes Kraftwerk schließt, weltschutzinvestitionen nicht angemessen anrechnen. dann ist es erlaubt, auf der Basis der Newcomer-Rege- lung ein neues Kraftwerk zu errichten und es 18 Jahre zu Zweitens. Die Investitionen, die unter die im Gesetz- betreiben. Sie wissen ganz genau, dass in den neuen entwurf vorgesehenen Early-Action-Regelung fallenBundesländern kein einziges altes Kraftwerk mehr steht. – sie ist im Grunde richtig –, werden im Verhältnis zu den Dafür gibt es aber massenweise Dreckschleudern in so genannten Newcomer-Investitionen schlechter bewer- Nordrhein-Westfalen. Dieses Lobbyistengesetz ist eine tet. Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen. Für einenunglaubliche Unverschämtheit und geht auf Kosten der Braunkohlekraftwerksblock, der 1995 ans Netz gegan- neuen Bundesländer. gen ist, würde der betreffende Betreiber nach Ihrer Rege- lung bis 2007 den Erfüllungsfaktor 1 zugeteilt bekom- Ich habe nachgewiesen, dass dieses Gesetz eine Lex men, aber auch nur, wenn seine Early Action angerechnet Nordrhein-Westfalica ist, dass es kurzfristig wahltakti- wird. Das heißt, er müsste bis dahin keine Emissionsmin- sche Überlegungen der nordrhein-westfälischen SPD un- derungen realisieren. Von 2008 an müsste dieses Unter- terstützen soll und dass es langfristig die ostdeutsche In- nehmen aber – davon wäre eine ganze Reihe von Kraft- dustrie schädigen wird. werksbetreibern betroffen – auf Kosten der eigenen (Ulrich Kelber [SPD]: Sie als Pfarrer sollten Wirtschaftlichkeit Emissionszertifikate erwerben sich für so etwas schämen!) (Ulrich Kelber [SPD]: Oder mindern!) Liebe Kollegen von der SPD, wenn Sie verstanden und verlöre damit seine Marktfähigkeit. haben, warum Sie hier im Bundestag sitzen, dann kön- nen Sie dieses clementsche Lobbyistengesetz nur ableh- Wenn dagegen ein Betreiber einen 40 Jahre altennen. Wenn Sie mir noch immer nicht glauben, möchte Braunkohlekraftwerksblock mit einem schlechten Wir- ich Ihnen kurz aus einem Schreiben des Ministerpräsi- kungsgrad und mit extremungünstigen Emissionswer- denten Platzeck – er ist ein unverdächtiger Zeuge – an Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10247

Michael Stübgen (A) Ihren Fraktionsvorsitzenden Müntefering von dieserden die katastrophalen Folgen. Wir wissen, dass der An- (C) Woche zitieren: stieg der Temperaturen schneller erfolgt als erwartet, dass sich weder Fauna noch Flora daran anpassen kön- Durch die frühzeitigen Modernisierungen in Ost- nen. Die Eisschmelze von Gletschern und an den Polen deutschland, die die Erreichung der Klimaschutz- geht schneller vonstatten und übertrifft alle Erwartun- ziele für Deutschland überhaupt erst ermöglichen, gen. Der Meeresspiegel könnte nicht nur durch Schmelz- haben ostdeutsche Unternehmen erhebliche Vor- wasser und Ausdehnung langsam, sondern durch Ab- leistungen erbracht, die angemessen anerkannt wer- rutschen großer Eismassenauch durchaus sprunghaft den müssen. … Ein Bruch dieser Zusage durch ansteigen. Wenn das der Fall ist, dann werden wir vor Bundesregierung und Bundestag würde weder auf Problemen, auch vor wirtschaftlichen, stehen, die ganz das Verständnis der Menschen in der Lausitz noch anders sind als diejenigen, die in der gesamten Debatte auf das Verständnis der Landesregierung treffen. darüber, was wir in den Klimaschutz investieren, eine (Ulrich Kelber [SPD]: Dieses Problem ist Rolle spielen. längst gelöst!) Dem Süden der Welt, aber auch dem Mittelmeerraum – Das ist überhaupt nicht gelöst. – Herr Platzeck befindet und dem Süden der USA drohen verstärkteDürren. sich übrigens im Wahlkampf. Unterstützen Sie ihn und Dem Norden der Welt drohen verheerende Hochwasser. lehnen Sie dieses schlechte Gesetz ab! Haben wir eigentlich alle schon vergessen, was 2002 in unserem eigenen Land passiert ist? Das ist auf einmal in Danke schön. keinem einzigen Beitrag, weder im Umweltausschuss (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – noch heute, von der Opposition erwähnt worden. Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Sie er- (Beifall des Abg. Dr. Uwe Küster [SPD]) zählen die Unwahrheit! Dieses Problem ist längst gelöst! Das ist doch unglaublich! Und Man sollte sich an dieser Stelle auch einmal fragen, so etwas ist Pfarrer!) was der Zusammenbruch des Golfstroms für ein Land wie das unsrige bedeuten kann. Erlauben Sie gerade mir Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: als Bonner Abgeordnetem diesen Vergleich; schließlich Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ulrich Kelber. liegt Berlin auf der Höhe von Südalaska. Wir führen den europäischen Emissionshandel in Ulrich Kelber (SPD): Deutschland ein, weil wir so zum Klimaschutz beitra- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undgen. Mit dem Emissionshandel stellen wir sicher, dass (B) Herren! Natürlich erfordert der letzte Redebeitrag, der die Emissionen von klimaschädlichen Gasen in Deutsch- (D) aus einer Aneinanderreihung von Unwahrheiten bestand, land auch in den nächstenJahren stetig zurückgeführt eigentlich eine sofortige Reaktion. Aber ich möchte ei- werden. Wir wollen den Emissionshandel auch einfüh- nen ganz anderen Einstieg wählen. ren, weil der Klimaschutz so preisgünstiger als mit ande- ren Mitteln erreicht werden kann. Das hat auch der Ver- Vor einigen Monaten war eine Parlamentarierdelega- treter des Bundesverbandes der Deutschen Industrie auf tion der pazifischen Inselstaaten hier in Berlin zu Besuch der Expertenanhörung des Bundestages noch einmal be- beim Deutschen Bundestag. Die Heimat dieser Men-tont. Er war dort von der CDU/CSU eingeladen. schen wird in wenigen Jahrzehnten verschwunden sein. Grund dafür ist der Klimawandel, der den Meeresspiegel ansteigen lässt. Einige der pazifischen Inselstaaten ha- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ben mit Neuseeland bereits die Evakuierung der gesam- Herr Kollege Kelber, gestatten Sie eine Zwischen- ten Bevölkerung vereinbart. Das sind sichtbare Opferfrage der Kollegin Flachsbarth? unseres Umgangs mit Energie und Ressourcen. Ulrich Kelber (SPD): Ich erwähne diese Begegnung aus zwei Gründen: Ja, selbstverständlich. Erstens. Es gab die dringende Bitte gerade an uns Deutsche, beim Klimaschutz nicht nachzulassen. Wir Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): seien eines der wenigen positiven Beispiele in der Welt. Herr Kollege Kelber, ohne die schlimmen Folgen ei- Zweitens. Bei allen Debatten um Details des Emis- nes möglichen Klimawandels in Abrede stellen zu wol- sionshandels, beim Feilschen um Emissionszertifikate len – jedes Wort, das Sie dazu sagen, kann sicherlich un- und beim Schachern um Sonderregelungen sollten wir terstrichen werden –, möchte ich von Ihnen gerne eines bedenken: Den Emissionshandel führen wir fürerfahren, ob Sie wissen, in welchem Verhältnis die CO2- den Klimaschutz ein und für nichts anderes. Das schei- Ersparnisse in der Bundesrepublik Deutschland in den nen manche in dieser Debatte schon längst vergessen zu nächsten zwei Perioden zu dem Zuwachs an CO2-Emis- haben. sionen, zum Beispiel in den Vereinigten Staaten, in Russland oder auch in China, stehen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Zügiger und wirksamer Klimaschutz ist dringender Ulrich Kelber (SPD): notwendig denn je. Je mehr wir wissen – das Wissen Frau Kollegin Flachsbarth, die ehemalige Umwelt- wächst eigentlich jeden Tag an –, desto deutlicher wer- ministerin Angela Merkel – sie selbst hat damals die 10248 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Ulrich Kelber (A) international verbindlichen Zusagen zum Klimaschutz klein. Ich brauche nichts zu tun. – Frau Flachsbarth,(C) mit unterschrieben –, nicht mit uns! (Birgit Homburger [FDP]: Das ist keine Ant- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wort!) DIE GRÜNEN – Wolfgang Zöller [CDU/ CSU]: Die Frage ist immer noch nicht beant- reagiert heute auf die Klimaschutzverpflichtungen, die wortet!) wir jetzt erfüllen wollen, indem sie durch die Gegend rennt und „Das sind ja nur 0,04 Prozent“ sagt oder mit Frau Präsidentin, Sie haben mir übrigens 45 Sekun- anderen Zahlen um sich wirft. Damit meint sie eigent- den Redezeit abgezogen, als ich noch geantwortet habe. lich, ohne es auszusprechen, dass wir uns um diesesDarauf wollte ich nur kurz hinweisen. Thema nicht mehr kümmern sollen. Wer so vorgeht, wer (Zuruf von der SPD: Prima, Uli, das war immer sagt, sein Beitrag sei ja nur so klein und unbedeu- richtig!) tend,

(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie hat eine Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ganz andere Frage gestellt!) Ich darf Sie und die anderen Kollegen daran erinnern: der wird seiner Verpflichtung nicht gerecht, einer welt- Solange ich die Leitung hier innehabe, tue ich das, wie weiten Bedrohung entgegenzutreten und zu zeigen, dass ich es für richtig halte. Dasbrauchen Sie nicht zu kriti- es technologische Potenziale gibt, die Ausstrahlungs- sieren. kraft auch für andere Regionen haben können. Wenn wir (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) zum Beispiel eine neue Kraftwerksgeneration einführen oder wenn wir neue Technologien auf dem Gebiet der er- Dafür sollten Sie sich entschuldigen. neuerbaren Energien entwickeln, weil wir Klimaschutz ernst nehmen, dann können diese neuen Kraftwerke oder Ulrich Kelber (SPD): Technologien auch in anderen Ländern eingesetzt wer- Es war ein Fehler. den und dort einen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Deutschland kann seine international verbindlichen Ich nenne dafür ein konkretes Beispiel; Sie haben ja Zusagen zum Klimaschutz, abgegeben von der Regie- China genannt. rung Kohl und bestätigt durch SPD und Grüne, am preis- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das hat doch günstigsten mit dem Emissionshandel einhalten. mit der Frage nichts zu tun!) Niemand kann das leugnen. Jedes Unternehmen hat in Zukunft drei einfache Möglichkeiten, seinen Beitrag (B) – Sie verstehen den Zusammenhang nicht. Das hat mit zum Klimaschutz zu leisten:Es kann selbst im vorge- (D) der Frage sehr viel zu tun. schriebenen Umfang die Emissionen mindern, übrigens (Birgit Homburger [FDP]: Das ist unver- auch durch Projekte im Ausland. Es kann Emissions- schämt! – Georg Girisch [CDU/CSU]: Halten rechte von anderen Unternehmen zukaufen, die selber Sie die Leute für dumm?) mehr gemindert haben, als vorgeschrieben war. Es kann selber seine Emissionen mehr reduzieren, als vorge- – Nein. – Ein Beispiel. schrieben war, und die gewonnenen Zertifikate verkau- fen. Wir führen im Klimaschutz also ein marktwirt- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Beantworten schaftliches Instrument ein. Sie die Frage!) Ich möchte dazu eine persönliche Anmerkung ma- – Wollen Sie die Frage beantwortet haben oder wollen chen. Auch ich hätte mir vorstellen können – damit Sie dazwischenquatschen? komme ich Ihnen ein ganzes Stück entgegen, Frau (Unruhe bei der CDU/CSU) Homburger –, dieses Instrument noch marktwirtschaftli- cher auszugestalten, noch klarere Marktsignale zu set- – Ich warte, bis Sie fertig sind und beantworte dann die zen. Ich wundere mich in diesem Zusammenhang auch Frage von Frau Flachsbarth zu Ende. etwas über die deutsche Wirtschaft. Erst liegt sie der Po- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie haben noch litik über Jahre in den Ohren mit der Forderung: Führt nicht einmal damit angefangen!) den Emissionshandel ein! – Wenn die Politik dies macht, wird mit aller Lobbymacht auf eine Sonderregelung Die chinesische Regierung hat angekündigt, dass sie nach der anderen gedrängt. Wenn die Politik die Sonder- die erneuerbaren Energien mit einem Gesetz nach dem regelungen schafft, treten dieselben Lobbygruppen auf Beispiel des deutschen Erneuerbare-Energien-Gesetzes und sagen: Jetzt sehen wir aber zu viel Bürokratie in fördern will. dem System. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Was wir hier sozusagen im kleinen Rahmen zum Klima- Sehr nachhaltig ist das Verhalten der Wirtschaftsver- schutz gemacht haben, wird in einem Land mit bände in dieser Frage sicherlich nicht. 1,2 Milliarden Einwohnern fortgesetzt. Das zeigt, wie man Klimaschutz machen kann. Man darf sich nicht zu- Lassen Sie uns bei der Fortschreibung des Emissions- rücklehnen nach dem Motto: Mein Beitrag ist eh sohandels doch gemeinsam noch mehr auf den Markt set- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10249

Ulrich Kelber (A) zen: Jedem für die gleiche Produktion die gleiche Menge Über Bonus- und Malusregelungen motivieren wir(C) von Zertifikaten! Veraltete Anlagen müssen dann zukau- zur Erneuerung des deutschen Kraftwerksparks. Es ist fen und neue Anlagen können, weil sie effizienter sind, vorhin schon erwähnt worden: Der erste Antrag für die Zertifikate am Markt verkaufen und haben so einen Vor- Modernisierung eines Doppelblocks ist von RWE vorge- teil im Emissionshandel. Ich schätze es so ein, dass wir legt worden; es sollen pro Block 2 Millionen Tonnen pro bei der Fortschreibung dieses Gesetzes in 2006 oder in Jahr eingespart werden, also über 4 Millionen Tonnen im 2009, wenn die dritte Stufe kommt, ein breites Bündnis Jahr, nachdem die Modernisierung erfolgt ist. dafür haben werden. Ich hoffe, dass diese Mehrheiten Es ist richtig, dass mit diesem Gesetz der Ausbau der auch dann noch vorhanden sind. Kraft-Wärme-Kopplung auch in Zukunft gefördert wird; (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Nein, nein! sie ist nämlich besonders klimafreundlich. Wenn man Das werden garantiert andere sein! Ab 2006 Emissionshandel betreibt, um für Klimaschutz zu sor- gibt es andere Mehrheiten!) gen, warum soll man dann nicht eine klimafreundliche Energieart fördern? – Breite Mehrheiten über alle Parteien hinweg! Wir haben natürlich auch darauf geachtet, dass früh- Wie ordnet sich eigentlich die Umsetzung des Emis- zeitig ergriffene Maßnahmen für den Klimaschutz be- sionshandels innerhalb der EU ein? Herr Girisch, aber lohnt werden. Wer in den letzten Jahren modernisiert auch andere Kollegen haben diese Frage angesprochen. hat, braucht für einen Zeitraum von bis zu zwölf Jahren Herr Lippold – er ist leider nicht mehr da – hat von zwei nach der Modernisierung keine weitere Minderung von Ländern gesprochen. klimaschädlichen Gasen erbringen. Er kann es aber tun, dann hat er einen weiteren Vorteil im Wettbewerb mit (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Er kommt Betreibern alter Anlagen. gleich zurück!) Wir haben auch darauf geachtet – das kommt gerade Inzwischen haben aber bereits neun der alten EU-Mit- den ostdeutschen Stadtwerken entgegen –, dass jeder, gliedstaaten und zwei der neuen EU-Mitgliedstaaten ih- der eine Reduzierung der klimaschädlichen Gase um ren nationalen Allokationsplan vorgelegt. Die EU-Kom- mehr als 40 Prozent erreicht hat, diesen Wettbewerbs- mission hat zu Recht angedeutet und an bestimmtenvorteil sogar bis zum Jahre 2012 erhält. Das ist ein wich- Stellen auch schon in expliziter Form zum Ausdruck ge- tiges Signal: Wer mehr tut, als der Gesetzgeber verlangt, bracht, dass sie auf die Einhaltung der EU-Richtlinie und wird dafür belohnt. Das wird auch in Zukunft so sein. des Klimaschutzes in den nationalen Allokationsplänen Es wird auch – entgegen der Meinung von Wirt- achten wird. Auch wir werden darauf achten, dass alle schaftsverbänden und Opposition – keinen Stillstand ge- (B) (D) Mitgliedstaaten die gleichen Regeln einhalten müssen. ben: Wir verlangen, dass der Ausstoß an klimaschädli- (Birgit Homburger [FDP]: Da sind wir mal chen Gasen jedes Jahr in Deutschland weiter gemindert gespannt!) wird. Wir haben uns verpflichtet, in den Sektoren Ver- kehr und private Haushalte einen deutlichen Beitrag zu Deutschland ist übrigens keineswegs überall Vorreiter leisten. Schließlich werden wir das Kioto-Ziel von im Emissionshandel. Mehrere Mitgliedstaaten haben846 Millionen Tonnen CO2-Ausstoß sogar noch um zum Beispiel der Energiewirtschaft wesentlich höhere 2 Millionen Tonnen unterschreiten. Auflagen erteilt als wir in Deutschland. Dafür hat dort Erlauben Sie mir auch, darauf hinzuweisen, dass wir die restliche Industrie mehr Freiheiten bekommen.die vielen Einsprüche, die vonseiten der unter die neuen Großbritannien hat insgesamt einen ambitionierterenRegelungen fallenden Unternehmen, der Branchenver- Plan vorgelegt als Deutschland, weil man dort davontreter und der Wirtschaftsverbände kamen, sehr ernst ge- überzeugt ist, dass Investitionen in den Klimaschutz Ar- nommen haben und auf mögliche wirtschaftliche Härten beitsplätze schaffen. für sie überprüft haben. Es gibt noch einen weiteren Punkt, den man erwähnen So haben wir einige Vorkehrungen getroffen: Wer muss, um nicht einer nationalen Selbsttäuschung zu un- neue Anlagen schafft, erhältPlanungssicherheit. Die terliegen. Bei allem Stolz auf den Klimaschutz Auslastung in verschiedener Anlagen untereinander kann Deutschland, auf die Gemeinsamkeiten im Parlament zu durch Übertragung von Produktions- und Zertifikats- dem Thema und die Maßnahmen der letzten Jahre gilt: mengen optimiert werden. Prozessbedingte Emissionen, Noch immer liegt unser Pro-Kopf-Ausstoß über demalso solche, die mit heutigen technischen Methoden Durchschnitt der Europäischen Union, weil 90 Prozent nicht gemindert werden können, werden gesondert be- der Emissionsminderungen – da gebe ich dem Kollegen, rücksichtigt. Wir haben flexible Härtefallklauseln und der vor mir geredet hat, Recht – in den neuen Bundeslän- eine ausreichende Wachstumsreserve geschaffen. Das dern erbracht wurden und die ökologische Modernisie- haben uns auch zwei Experten auf der Anhörung bestä- rung für den Klimaschutz im Westen unseres Landes erst tigt, und zwar die Vertreter des BDI und des Rheinisch- noch erfolgen muss. Dafür soll auch der Emissionshan- Westfälischen Institutes, beide übrigens von der CDU/ del einen Anstoß geben. Erste Erfolge können wir am CSU für dieses Gremium benannt. heutigen Tage schon vorweisen. Wir werden mit den flexiblen Instrumenten JI und Ich komme damit zu denökologischen Erfolgen in CDM unseren Unternehmen weitere Möglichkeiten der Umsetzung des Emissionshandels: eröffnen. Als wir am Kompromiss im Ministerrat 10250 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Ulrich Kelber (A) mitgewirkt haben, haben wir nämlich gesagt, dass wir Das ist der Grund, warum wir ohne Ihre inhaltliche(C) die Richtlinie in dem Augenblick, in dem sie auf dem Beteiligung arbeiten müssen. Reden Sie sich doch nicht Tisch liegt, in Deutschland eins zu eins umsetzen wer- damit heraus, dass Ihnen unsere Änderungsanträge zu den. Ich habe übrigens meinen eigenen Stadtwerken zu spät vorgelegen hätten! Sie hatten einen Monat Zeit für Hause, den Bonner Stadtwerken, vorgeschlagen Änderungsanträge und waren nicht in der Lage, an die- ser Stelle einen Alternativvorschlag zu machen. (Zuruf von der CDU/CSU: Wie viel Prozent?) Ich möchte mich bei den Mitarbeitern der beteiligten – stellen Sie mir bitte eine Zwischenfrage, wenn SieMinisterien, den Fraktionsreferenten, unseren Mitarbei- möchten –, sich an Projekten in unseren Partnerstädten tern und der großen Anzahl aller Beteiligten für die gute Minsk, Yalova und Petropolis zu beteiligen und die dort Zusammenarbeit bei diesem Gesetz bedanken. Wir ha- erhaltenen Zertifikate in den deutschen Markt einzubrin- ben ein Klimaschutzinstrument geschaffen, das wirt- gen. schaftliche Härten vermeidet, Investitionen anreizen wird und damit zu einer Jobmaschine werden wird. Ich Die SPD hat in den letzten Monaten sehr viele Ge- bitte um Ihre Zustimmung zu diesem Gesetz. Sie haben spräche mit Unternehmen, Verbänden und Umweltschüt- als Opposition keinen Änderungsantrag vorgelegt, also zern zu diesem Thema geführt. Nach dem Beschluss von sollten Sie heute zustimmen können. Mittwoch haben wir viele E-Mails, Faxe und Telefonate erhalten, in denen ausnahmslos Zustimmung zur Umset- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und noch ein- zung des Emissionshandels geäußert wurde. Eines müs- mal Entschuldigung für meine ungebührliche Anmah- sen Sie sich aber anziehen, liebe Kollegen von der CDU/ nung, Frau Präsidentin! CSU: Die Haltung zu Ihrem Verhalten sieht wesentlich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ anders aus. DIE GRÜNEN) Am Mittwoch gab es die Beratungen im Umweltaus- schuss. Vorher sind die Kolleginnen und Kollegen von Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: CDU und CSU übers Land gezogen und haben Unter- Vielen Dank. – Ich wollte auch nur darauf hinweisen, nehmen und Verbänden Versprechungen über Verspre- dass am Freitagnachmittag etliche Kollegen nach Hause chungen zum Emissionshandel gemacht; so hat zum Bei- wollen und Züge und Flugzeuge erreichen müssen und spiel der allseits bekannte Kollege aus Ostdeutschland dass ich deswegen ein bisschen strenger darauf achte, gesagt, was die CDU/CSU noch alles zusätzlich für ost- das Ganze nicht zu sehr ausufern zu lassen. deutsche Unternehmen erreichen wolle. Am Mittwoch hätten Sie Gelegenheit gehabt, Änderungsanträge vorzu- (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Sie le- (B) legen und die Versprechen einzuhalten, die Sie gegeben gen so ein wichtiges Gesetz auf den Freitag- (D) haben. nachmittag und dann hat man noch nicht ein- mal Zeit, es zu debattieren!) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie haben da Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ralf Brauksiepe. erst Ihre Änderungsanträge gebracht!)

Gab es am Mittwoch Änderungsanträge von der CDU/ Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): CSU? Fehlanzeige! Es kam kein Vorschlag für die gefor- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- derten zusätzlichen Boni für ostdeutsche Anlagen, gen! Die CDU/CSU-Fraktion bekennt sich zur Förde- rung erneuerbarer Energien und steht damit in der Tradi- (Dirk Niebel [FDP]: Hätten Sie denn tion dessen, was wir seinerzeit bei der Verabschiedung zugestimmt?) des Kioto-Protokolls wesentlich mitverhandelt haben. und das, obwohl der Gesetzentwurf seit über einem Mo- Wir haben hier im Grundsatz keine Differenz. Allerdings nat vorliegt. Das heißt, 247 Abgeordnete von der CDU/ wird der Unterschied in unserer Politik deutlich, wenn CSU waren einen Monat lang nicht in der Lage, einen man das Kioto-Protokoll mit dem vergleicht, was Sie mit einzigen Änderungsantrag zum Emissionshandel zu for- Ihrem Zuteilungsplan in der nationalen Umsetzung da- mulieren. raus gemacht haben. Sie haben das Kioto-Protokoll zum Vorwand für eine Politik genommen, die den Industrie- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist eine standort Deutschland stark gefährdet und die deswegen Frechheit! Oder eine Dummheit! Oder beides von uns zurückgewiesen wird. Darauf haben die Vorred- bei Ihnen!) ner unserer Fraktion mit Recht hingewiesen. Das zeigt Tatenlosigkeit beim Thema Emissionshandel. Ich möchte mich hier auf dieentwicklungspoliti- schen Aspekte dieser Debatte konzentrieren und will (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten noch einmal deutlich machen: Die Verbindung von Ent- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wicklungs- und Umweltpolitik wird nie so offenkundig Sie hätten nämlich zugeben müssen, dass Sie Ihr Ver- wie bei den Instrumenten des Joint Implementation und sprechen, allen alles, und das gleichzeitig, zu geben,des Clean Development Mechanism. Wir haben sehr nicht hätten einhalten können. wohl die Möglichkeit, diese Instrumente in unserer na- tionalen Zuständigkeit stärker zu nutzen. Es wäre richtig, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sie stärker zu nutzen. Wenn Sie das aus ideologischen DIE GRÜNEN) Gründen nicht wollen, können Sie sich nicht hinter der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10251

Dr. Ralf Brauksiepe (A) EU und ihren Vorgaben verstecken, meine Damen und BMWA-Beirat weist weiterhin darauf hin, dass dieses(C) Herren von der Regierungskoalition. Vorgehen beispielsweise bei dem chinesischen Kraft- werkspark 30- bis 50-mal günstiger ist als die Einspar- (Beifall bei der CDU/CSU) effekte, die mit Maßnahmen des EEG erzielt werden. Kollege Scheer und andere haben mit Recht auf die Wenn Sie uns schon nicht glauben, dann sollten Sie doch Bedeutung der Konferenz in der nächsten Woche inwenigstens Ihren eigenen Fachleuten glauben, die Sie Bonn und auf die Parlamentarierkonferenz hingewiesen. beauftragt haben, Ihnen Ratschläge zu geben. Die Rat- Ich bin dankbar, dass es, wenn auch in zähen Verhand- schläge liegen auf dem Tisch. Es ist nun an Ihnen, sie lungen, hier gelungen ist, zu einem Resolutionsentwurf umzusetzen. zu kommen, den viele mittragen können, was nicht zu- (Beifall bei der CDU/CSU) letzt der Hartnäckigkeit des Kollegen Paziorek zu ver- danken ist; Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, der (Birgit Homburger [FDP]: Und der Kollegin uns skeptisch stimmt. Es ist völlig unstrittig, dass gerade Brunkhorst, bitte!) in den Entwicklungsländern die erneuerbaren Energien gefördert werden müssen. Es sind doch wir, die immer wir haben ein durchaus ausgewogenes Bild herstellen wieder darauf hinweisen, dass die Entwicklungsländer können. vielfach sehr viel bessere Standortbedingungen für die Förderung erneuerbarer Energien haben, als es bei uns Aber leider sieht nicht nur das, was Sie national tun, der Fall ist. Diese Potenziale gilt es zu nutzen. Die ent- völlig anders aus, sondern auch das, was Sie mit Ihrem scheidende Frage ist allerdings, ob man dieses Vorhaben Antrag heute vorlegen. In dem Resolutionsentwurf für mit finanziellen Mitteln unterstützt. Die kontinuierlich die Konferenz wird zu Recht darauf hingewiesen, wie rückläufige Entwicklung des BMZ-Etats seit 1998 wichtig es ist, dass die Energiekosten für die Entwick- spricht da leider eine andere Sprache. lungsländer nachträglich gesenkt werden. Es wäre schön, wenn wir uns das auch für unsere nationale Ener- Mit einzelnen Strohfeuern vor einer solchen Konfe- giepolitik zu Herzen nähmen. Sie hingegen haben mit renz – es wurde an einer Stelle etwas dazugepackt, was Ihren Maßnahmen dafür gesorgt, dass die wettbewerbs- an anderer Stelle weggenommen wurde – sind diese Pro- bedingten Energiepreissenkungen der letzten Jahre über- bleme nicht zu lösen. Wir fordern Sie also auf: Kommen kompensiert worden sind. Das ist eine Politik in genau Sie endlich zu einer konsistenten und an den wirklichen die falsche Richtung. Bedürfnissen der Industrie- und Entwicklungsländer ori- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- entierten Politik zur Förderung erneuerbarer Energien! neten der FDP) Dann haben Sie uns auf Ihrer Seite. Mit den Positionen, (B) die Sie heute dargelegt haben, aber nicht. (D) Es gibt in Ihrem Antrag durchaus bedenkenswerte Formulierungen. Beispielsweise erklären Sie, dass Sie Vielen Dank. die Politik für die Förderung erneuerbarer Energien in (Beifall bei der CDU/CSU) Entwicklungsländern nach marktwirtschaftlichen Prinzi- pien ausrichten wollen. Ich kann Sie nur dazu aufrufen, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: damit im eigenen Land zu beginnen. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dieser Nationale Zuteilungsplan ist jedenfalls das Ge- Petra Pau (fraktionslos): genteil davon. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Anfang stand eine Drohung: das Wort „Klimakata- Ich kann auch nur erneut darum bitten, die eigenen strophe“. Es folgten internationale Konferenzen, Klima- ideologischen Grundpositionen nicht einfach auf dieschutzkonferenzen. Sie mündeten in ehrgeizige Entwicklungsländer zu übertragen. Sie postulieren in Ih- Verpflichtungen, nämlich Klimaschutzselbstverpflich- rem Antrag eine nachhaltige Politik für eine Ener-tungen. Dann gab es einenPlan, den Klimaschutzemis- giewende, wofür Sie den weltweiten Ausstieg aus der sionshandelabbauplan. Nun gibt es ein Gesetz. Es ist ein Kernenergie und aus den fossilen Energieträgern for-Emissionsverteilungsgesetz. Vom drohenden Wort bis dern. zum vorliegenden Gesetz gingen der Klimaschutz und Es müsste Ihnen eigentlich klar sein, mit welcher Ar- die Selbstverpflichtungen weitgehend verloren, wie roganz Sie das völlig legitime Interesse vieler Entwick- beim beliebten Kinderspiel „Stille Post“. Dazu hätte es lungsländer an einer friedlichen Nutzung der Kernener- eigentlich Rot-Grün nicht bedurft. Ich finde, das hätten gie behandeln. Es müsste Ihnen eigentlich auch klar sein, die Unternehmerverbände auch allein so hinbekommen. dass Sie den Entwicklungsländern, die einen preiswerten (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Zugang zu fossilen Energieträgern haben, nicht ausreden tionslos]) können, diesen zu nutzen. Wenn Sie uns das nicht glau- ben, dann lesen Sie nach, was beispielsweise der Wis- Die PDS hat immer gesagt: DerHandel mit Emis- senschaftliche Beirat beim BMWA schreibt. Er weistsionsrechten ist umstritten. Er kann bestenfalls ein Teil darauf hin, dass es häufig sehr viel besser ist, durch In- eines Maßnahmepaketes sein, das vielfältiger und auch vestitionen in den Kraftwerkspark der Entwicklungs- umfassender ist. Was jetzt vorliegt, ist aber nicht einmal länder den Kohlendioxidausstoß zu senken. ein Der Teil. Wer bisher viel CO2 emittiert hat, der darf das 10252 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Petra Pau (A) auch weiterhin. Wer Sonderwünsche anmeldet, demÄnderungsanträge hätten also nur zwischen Montag-(C) werden sie erfüllt. Die Energiefresser werden gefüttert abend und Dienstagmorgen beraten werden können; sie und die Energiesparer weiter belächelt. Das eigentliche müssen ja auch in der Fraktion besprochen werden. Ziel aber, nämlich den CO2-Ausstoß mit marktwirt- schaftlichen Mitteln drastisch zu senken, wurde verne- (Ulrich Kelber [SPD]: Richtig! – Gegenruf des belt. Im Streit „Umwelt kontra Wirtschaft“ blieb der Abg. Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Da sagt er Umweltminister zweiter Sieger. So zweifelte in der An- auch noch „richtig“!) hörung im Umweltausschuss nicht nur das Öko-Institut Deshalb verweise ich auf unseren Entschließungsantrag, inzwischen am Sinn dieses rot-grünen Gesetzes. dem Sie ja hätten zustimmen können. Nun zurück zum Anfang, zum drohenden Wort „Kli- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- makatastrophe“. Das ist natürlich mehr als nur ein Wort. neten der FDP) Es ist auch nicht aus der Welt mit dem heutigen Gesetz. Wir haben die reale Gefahr nicht einmal gebannt. Wenn Das lässt für mich nur den Schluss zu: Sie legen kei- wir auch gern anderes glauben und die Bundesregierung nen Wert auf die demokratische Beteiligung des Parla- anderes predigt: Das Problem der drohenden Klimakata- ments. Vielmehr sind die Vertreter der Medien lange vor strophe steht weiter vor uns bzw. schwebt über der Welt. den Parlamentariern über die Inhalte Ihrer Änderungsan- träge bestens informiert worden. Das ist Ihr Verständnis Der Klimaschutz stagniert seit Jahren, jedenfalls ge- von Demokratie. messen an den CO2-Emissionen. Die Zahlen sind be- kannt und heute mehrfach genannt worden. Das, was als (Beifall bei der CDU/CSU) Klimaplus zu Buche schlägt, geht weitgehend auf das In- Aber auch aufseiten der Regierungsfraktionen tappen dustrieminus in den neuen Bundesländern zurück. einige im Dunkeln, was die Inhalte dieses Gesetzes an- geht. Der Termindruck kann in diesem Zusammenhang (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- jedenfalls nicht als Argument gelten. Sie hätten mit der tionslos]) Umsetzung früher beginnen können. Aber statt der Die große versprochene Klimaanstrengung in den alten Gründlichkeit oberste Priorität einzuräumen, liefern Sie Bundesländern blieb bisher aus. Sie wird auch durch das eine Patchworkarbeit bunt zusammengehäkelter Normen vorliegende Gesetz nicht angeregt. Das ist ab. sein Dieses Häkeldeckchen, das Sie hier vorlegen, hat den Hauptmanko. Deshalb lehnt die PDS im Bundestag die- Namen Gesetz nur schwerlich verdient. Mit einer juris- ses Gesetz heute ab. tisch sauberen Norm hat das Zuteilungsgesetz wenig ge- mein. Es finden sich reihenweise falsche und laienhafte (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- (B) Formulierungen. Auslegungen sind unklar, Rechtsbe-(D) tionslos]) griffe unbestimmt. Wider besseres Wissen wollen Sie hier ein Gesetz beschließen, dessen Folgen verheerend Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sind. Natürlich wird das Zuteilungsgesetz zum Jobmo- Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Marie-Luise Dött. tor, wie Sie so schön sagen; es wird zum Jobmotor für Anwälte und Gerichte mutieren. So wird das nichts mit (Beifall bei der CDU/CSU) dem Aufschwung am Arbeitsmarkt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Marie-Luise Dött (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Ge- Aus dem Hause des Umweltministers Jürgen Trittin, setz über den Nationalen Allokationsplan für Treibhaus- der jetzt leider nicht mehr da ist gasemissionsberechtigungen wird zum Zuteilungsgesetz (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 2007. Der neue Titel ist schön, kurz und prägnant. Die DIE GRÜNEN: Doch!) gravierenden Mängel, die dieses Gesetz hat, sind damit jedoch nicht behoben. – wo? –, (Beifall bei der CDU/CSU) (Zurufe von der SPD: Dahinten!) Das Zuteilungsgesetz ist das wohl wichtigste umwelt- hat die Abgeordneten am Dienstagabend ein Bericht er- und wirtschaftspolitische Gesetz dieser Legislatur-reicht, in dem die Allokationspläne der anderenEU- periode. Es werden Entscheidungen getroffen, die von Mitgliedstaaten untersucht werden. Die Analyse erheblicher Reichweite sind. In vollem Bewusstsein des- kommt zu dem Schluss, dass acht der elf vorliegenden sen hetzt die Regierungskoalition das Gesetz innerhalb Allokationspläne über das Maß zuteilen. Im Gegensatz von einer Woche von der Sachverständigenanhörung am dazu soll in Deutschland das Minderungsziel nicht nur Montag über die Ausschussberatung am Mittwoch zur eingehalten, sondern noch darüber hinausgegangen wer- Schlussberatung heute am Freitag. den. Das führt dazu, dass Unternehmen in Deutschland nur schwerlich in eine Verkäuferposition kommen. (Ulrich Kelber [SPD]: Sechs Wochen!) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ganz genau!) Herr Kelber, wir nehmen Anhörungen ernst. In der Studie des BMU steht ausdrücklich, dass solch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- unterschiedliche Zuteilungen zu Wettbewerbsverzerrun- neten der FDP) gen und erheblichen Belastungen der deutschen Wirt- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10253

Marie-Luise Dött (A) schaft führen werden. Ich gehe davon aus, dass sowohl schlagen. Sind Sie einverstanden? – Das ist der Fall.(C) das Ministerium als auch die Abgeordneten der Regie- Dann ist die Überweisung so beschlossen. rungskoalition diese Studie kannten, als sie am Dienstag entschieden, die Kioto-Vorgaben nicht nur einzuhalten, Wir kommen zur Abstimmung über den von den sondern noch darüber hinauszugehen. Mit dieser Ent- Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen scheidung haben Sie sich ganz bewusst gegen den Indus- eingebrachten Entwurf eines Zuteilungsgesetzes auf der triestandort Deutschland und gegen Arbeitsplätze ent- Drucksache 15/2966. Der Ausschuss für Umwelt, Natur- schieden. schutz und Reaktorsicherheit empfiehlt unter Nr. 1 sei- ner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf in der (Beifall bei der CDU/CSU) Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Aufgrund der Kürze meiner Redezeit möchte ichdem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen mich auf eine besonders bedenkliche Änderung des Ent- wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent- wurfs beschränken. In § 4 des Gesetzentwurfs findet sich haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be- nun ein neuer Absatz. Dieser sieht eine rückwirkenderatung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen Kürzung bereits zugeteilter Zertifikate für den Fall vor, die Stimmen von CDU/CSU, FDP und der fraktions- dass im Rahmen derZuteilungsregeln für mehr als losen Abgeordneten Petra Pau angenommen worden. 495 Millionen Tonnen Zertifikate ausgegeben werden müssen. Da die letztlich ausgegebene Menge an Zertifi- Wir kommen zur katen infolge von Anlagenstilllegungen, Produktions- rückgängen, Anfechtungen von Zuteilungsentscheidun- dritten Beratung gen usw. erst gegen Ende der Handelsperiode eindeutig und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem festgeschrieben wird, besteht aufgrund der neuen Rege- lungen für die Anlagenbetreiber noch während der Han- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – delsperiode Unsicherheit darüber, Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- wurf ist damit in dritter Lesung mit dem soeben festge- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So ist es!) stellten Stimmenverhältnis angenommen worden. ob sie über ausreichend Zertifikate zur Abdeckung ihrer Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt Emissionen verfügen. der Ausschuss die Annahme einer Entschließung. Wer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim- men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist Dies würde die bereits bestehende Verunsicherung wei- mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die ter erhöhen und das Investitionsklima zusätzlich negativ Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der (B) beeinflussen. fraktionslosen Abgeordneten Petra Pau angenommen. (D) (Ulrich Kelber [SPD]: Das stimmt einfach Wir kommen nun zur Abstimmung über die Ent- nicht!) schließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungs- Ich möchte Sie daher dringend bitten, diesen Passus er- antrag der Fraktion der CDU/CSU auf der Drucksache satzlos zu streichen. 15/3238? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koali- (Beifall bei der CDU/CSU) tionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und Meine Damen und Herren, wir wollen den Emissions- FDP abgelehnt. handel genauso wie die FDP, aber dieser Gesetzentwurf Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- ist handwerklich und inhaltlich so schlecht gemacht,tion der FDP auf der Drucksache 15/3239? – Gegenstim- dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht zustimmen men? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist wird. mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Stimmen der FDP bei Enthaltung der CDU/CSU abge- lehnt. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Ich schließe damit die Aussprache zu diesem Tages- heutige Tagesordnung um die Beratung zweier Be- ordnungspunkt. schlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses er- Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der weitert werden. Die Punkte sollen anschließend als Zu- Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen satztagesordnungspunkte 15 und 16 aufgerufen werden. auf der Drucksache 15/3212 mit dem Titel „Globale Zu- Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann kunftssicherung durch die Förderung erneuerbarer Ener- ist so beschlossen. gien in Entwicklungsländern vorantreiben“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Ich rufe also Zusatzpunkt 15 auf: Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- nen gegen die Stimmen der Opposition angenommen. schusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Ver- Tagesordnungspunkt 23 b: Interfraktionell wird Über- mittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Neu- weisung der Vorlage auf der Drucksache 15/1862 an die ordnung der einkommensteuerrechtlichen in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen 10254 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) und Altersbezügen (Alterseinkünftegesetz – Ausschuss für Bildung, Forschung und (C) AltEinkG) Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus – Drucksachen 15/2150, 15/2563, 15/2592, Haushaltsausschuss 15/2986, 15/3004, 15/3160, 15/3230 – ZP 13 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD Berichterstattung: und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Abgeordneter Jörg-Otto Spiller Für eine qualitätsorientierte und an den re- Berichterstatter im Bundesrat: Staatsminister Gernot gionalen Bedürfnissen ausgerichtete Aus- Mittler. schreibungspraxis von arbeitsmarktpoliti- schen Maßnahmen Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? – Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zu Erklärungen ge- – Drucksache 15/3213 – wünscht? – Das ist auch nicht der Fall. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Dann können wir gleich zur Abstimmung kommen. Finanzausschuss Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung abzustimmen ist. Dies gilt auch für die noch folgende Haushaltsausschuss weitere Beschlussempfehlung des Vermittlungsaus- schusses. Wer stimmt also für die Beschlussempfehlung Hier haben die Abgeordneten Brandner, Bellmann, des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/3230? – Kurth, Niebel und der Parlamentarische Staatssekretär Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss- Schlauch darum gebeten, ihre Reden zu Protokoll geben empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- zu dürfen.1) Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der nen gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Fall. Ich rufe Zusatzpunkt 16 auf: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/2826 und 15/3213 an die in der Ta- Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. schusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Ver- Sind Sie damit einverstanden? – Das ist auch der Fall. mittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Umset- Dann sind die Überweisungen so beschlossen. zung der Richtlinie 2003/87/EG über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifi- Ich rufe den letzten Tagesordnungspunkt auf, zu dem (B) katen in der Gemeinschaft. geredet wird, nämlich Tagesordnungspunkt 25 sowie(D) Zusatzpunkt 14: – Drucksachen 15/2328, 15/2540, 15/2681, 15/2693, 15/2901, 15/3250 – 25 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Berichterstattung: Bekämpfung der Jugenddelinquenz Abgeordneter Michael Müller (Düsseldorf) – Drucksache 15/1472 – Berichterstatter im Bundesrat: Minister Rudolf Köberle. Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? – Innenausschuss Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zu Erklärungen ge- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wünscht? – Das ist auch nicht der Fall. ZP 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Wir kommen also zur Abstimmung. Wer stimmt für Essen, Rainer Funke, Sibylle Laurischk, weiterer die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses Abgeordneter und der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/3250? – Gegenstimmen? – Enthal- Jugendstrafvollzug verfassungsfest gestalten tungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig an- genommen worden. – Drucksache 15/2192 – Überweisungsvorschlag: Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 sowie Zusatz- Rechtsausschuss (f) punkt 13 auf: Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 24 Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl- Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, VeronikaNach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aus- Bellmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- sprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Widerspruch tion der CDU/CSU gibt es offensichtlich nicht. Dann ist das so beschlossen. Ausschreibungspraxis in der Arbeitsmarktpo- Ich eröffne die Aussprache und das Wort hat zunächst litik effizient und effektiv ausgestalten die baden-württembergische Justizministerin, Frau Werwigk-Hertneck. – Drucksache 15/2826 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) 1) Anlage 3 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10255

(A) Corinna Werwigk-Hertneck, Ministerin (Baden- Ohne den Warnschussarrest bleibt der Praxis in diesen (C) Württemberg): Fällen heute nicht selten nur die Verhängung einer unbe- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abge- dingten Jugendstrafe übrig. Wenn aber die Aussicht be- ordnete! „Verantwortung für die Jugend“ – das ist das steht, dass die Vollstreckung einer Jugendstrafe durch diesjährige Thema des Deutschen Jugendgerichtstages in den Warnschussarrest entbehrlich wird, dann erscheint Leipzig. Es geht uns alle an. Wir alle tragen Verantwor- es unvertretbar, wenn die Rechtspolitik der Praxis dieses tung dafür, dass unsere Jugend Perspektiven entwickeln mildere Instrument nicht zur Verfügung stellen will. und in eine aussichts- und chancenreiche Zukunft bli- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) cken kann. Das kann aber nur gelingen, wenn jeder – ich meine hier in erster Linie Eltern, Erzieher und Lehrer, Fast noch dringlicher stellt sich der gesetzgeberische aber auch Richter, Staatsanwälte, Vollzugs- und Polizei- Handlungsbedarf bei der Frage der strafrechtlichen Be- beamte – gewillt ist, seinen Beitrag in der Ausbildung handlung Heranwachsender dar. Diesbezüglich hat und Erziehung, in der Prävention, aber auch bei der Be- sich nämlich in den letzten Jahrzehnten bundesweit eine strafung und Wiedereingliederung zu leisten. nach Regionen und Delikten höchst unterschiedliche Praxis herausgebildet. Ob bei Straftaten Heranwachsen- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der Jugendstrafrecht oder allgemeines Strafrecht zur An- Gefordert sind aber auch Sie, meine Damen und Her- wendung kommt, ist heute letzten Endes davon abhän- ren Abgeordnete, nämlich als Gesetzgeber. „Verantwor- gig, ob der Täter in Schleswig-Holstein oder Baden- tung für die Jugend“ heißtauch, dass wir den Jugend- Württemberg, in einer Großstadt oder auf dem Land vor richterinnen und Jugendrichtern sinnvolle Möglichkeiten Gericht steht. der Reaktion auf Straftaten junger Menschen zur Verfü- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE gung stellen. GRÜNEN]: Warum wohl?) (Joachim Stünker [SPD]: Die haben wir Deswegen besteht in der Fachwelt Einigkeit darüber, schon!) dass diese Praxis, die das verfassungsrechtliche Willkür- verbot, das Rechtsstaatsprinzip und das Bestimmtheits- Eine dieser sinnvollen Reaktionsmöglichkeiten ist der gebot tangiert, nicht länger hingenommen werden darf. nun vorgeschlagene Warnschussarrest. Seine Einfüh- rung wird von der staatsanwaltlichen und richterlichen (Beifall bei der FDP – Hans-Christian Ströbele Praxis seit langem gefordert. Auch wenn die Kritiker [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen nicht müde werden, es immer wieder zu behaupten: Der Sie mal im Ländle für Ordnung sorgen!) (B) Warnschussarrest dient nicht dazu, junge Menschen we- (D) gen ihres ersten Ladendiebstahls wegzusperren, um sie Hoch umstritten – dies haben die Abstimmungsergeb- durch den kurzfristigen Freiheitsentzug zu schockieren. nisse beim 64. Deutschen Juristentag in Berlin gezeigt – Der Warnschussarrest dient vielmehr dazu, diejenigen ist jedoch die Frage, wie wir dieses Problem zu lösen ha- Straftäter zu erreichen, die aufgrund ihrer kontinuier-ben. Häufig wird unter Hinweis auf entwicklungs- lichen Hinentwicklung zur Kriminalität mit ambulanten psychologische Erkenntnisse die generelle Einbeziehung oder kurzfristigen Betreuungsmaßnahmen nicht mehr er- aller Heranwachsenden in das Jugendstrafrecht gefor- reichbar sind. Um bei diesen Tätern eine nachhaltige Be- dert. wusstseins- und Verhaltensänderung herbeizuführen, be- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE darf es vielmehr einer längerfristigen Intervention, die GRÜNEN]: Das hätten Sie gerne!) durch eine intensive stationäre Betreuungsphase einge- leitet werden sollte. – Ich glaube, Sie, Herr Ströbele, fordern das. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Professor Dr. Albrecht hat in seinem Gutachten auf der CDU/CSU) dem 64. Deutschen Juristentag jedoch deutlich gemacht, dass sich aus den Erkenntnissen derEntwicklungs- Hier setzt der Warnschussarrest an. Im modernen Ar- psychologie keine tragfähigen und schlüssigen Entschei- restvollzug stehen dem straffällig gewordenen Jugendli- dungsmaßstäbe für die Frage der strafrechtlichen Be- chen Sozialarbeiter und Psychologen zur Aufarbeitung handlung Heranwachsender ableiten lassen. Die von persönlichen Problemen und zur Vermittlung von Ausbildung sozialer Verhaltensweisen dauert bis weit in gesellschaftlich akzeptiertem Verhalten zur Verfügung. die zweite Hälfte des dritten Lebensjahrzehnts oder so- Gerade diese erste stationäre Phase des Warnschussar- gar darüber hinaus. Bei Anlegung dieses Maßstabs restes erlaubt eine intensive Arbeit mit dem jugendlichen müsste man konsequenterweise auch knapp Dreißigjäh- Täter, die häufig zu einer nachhaltigen Bewusstseins-rige in das Jugendstrafrecht einbeziehen, was aber richti- und Verhaltensänderung führt. Danach ist es die Auf-gerweise niemand fordert. Aber eine Begrenzung der gabe des Bewährungshelfers, diesen eingeleiteten Neu- Anwendung des Jugendstrafrechts auf unter 21-Jährige orientierungsprozess zu stabilisieren, damit es nicht zu lässt sich damit auf keinen Fall rechtfertigen. einem Rückfall in alte Denk- und Verhaltensmuster und damit zu erneuter Straffälligkeit kommt. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Bei Anlegung dieses Maßstabs erscheint eine derartige der CDU/CSU) Altersgrenze nämlich willkürlich. 10256 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Ministerin Corinna Werwigk-Hertneck (Baden-Württemberg) (A) Nach meiner Überzeugung muss sich die Frage des Drittens eine Frage von mir als Landesministerin an (C) Umgangs mit delinquenten Heranwachsenden letztlich den Bundesgesetzgeber: Länderöffnungsklauseln wer- an normativen Maßstäben orientieren. den oft kritisch beurteilt. Wenn wir nun bei der Anwen- dung von Erwachsenenstrafrecht auf Heranwachsende (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE nach Bundesländern höchst unterschiedliche Rechtspre- GRÜNEN]: Auch durch das geltende Gesetz chungen hinnehmen, halte ich das für verfassungs- ist das möglich!) widrig – wir sollten hier auf eine bundeseinheitliche Unsere Gesamtrechtsordnung enthält hierzu eindeutige Rechtslage achten. Mit den geltenden Vorschriften ist Regelungen. So werden Heranwachsende sowohl im Zi- dieses Ziel offensichtlich nicht zu erreichen. Ich bitte da- vilrecht als auch im öffentlichen Recht als Erwachsene her um Unterstützung des Gesetzentwurfes. behandelt. Sie können Verträge schließen, heiraten, Ar- Herzlichen Dank. beitgeber sein und so weiter. Auch das elterliche Erzie- hungsrecht endet mit Vollendung des 18. Lebensjahres. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Warum sollte das subsidiäre staatliche Erziehungsrecht darüber hinaus fortdauern? Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Hans- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete, nein: der Parla- Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach. NEN]: Weil sie sich noch entwickeln müssen!) (Dirk Niebel [FDP]: Er ist ja auch Abgeordne- Deshalb habe ich mich dafür ausgesprochen, bei ter!) Straftaten Heranwachsender künftig grundsätzlich das – Auch das ist er. allgemeine Strafrecht anzuwenden. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- GRÜNEN]: Das ist der mächtige Schritt in desministerin der Justiz: Richtung USA!) Verehrte Frau Präsidentin, ich fühle mich auch als Nur in Ausnahmefällen, also bei Vorliegen schwerwie- Abgeordneter; das ist kein Schimpfwort. gender Entwicklungsverzögerungen, erscheint es sinn- Verehrtes Präsidium! Meine Damen und Herren! Der voll, den Heranwachsenden nicht wie einen Erwachse- Gesetzentwurf des Bundesrates zur Verbesserung der nen, sondern wie einen Jugendlichen zu behandeln. Bekämpfung der Jugenddelinquenz, der heute dem Bun- Ich will hier auch das eine oder andere Gegenargu- destag präsentiert wird, würde nichts verbessern. Als Gesetz wäre er bestenfalls wirkungslos und unschädlich, (B) ment in den Raum stellen. (D) in den meisten Fällen wäre er kontraproduktiv. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt nur Gegenargumente!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Erstens. Es wird behauptet, die Zahlen im Bereich der In Union und FDP weiß man das eigentlich, zumindest Jugendkriminalität würden nicht steigen. wissen es die, die sich ernsthaft mit dieser Frage befas- sen. (Joachim Stünker [SPD]: Stimmt!) Wir alle kennen die Meldungen über kriminelle Ju- Im Allgemeinen stimmt das. gendbanden und über jugendliche Intensivtäter, und wir alle sind uns darüber einig, dass etwas dagegen unter- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE nommen werden muss. Leider fällt Ihnen im Bundesrat GRÜNEN]: Ja!) nichts anderes ein, als immer wieder nach härteren Stra- Bei leichten Delikten sind die Zahlen rückläufig; aber fen und „Denkzettelsanktionen“ zu rufen. Ich gebe zu: bei Gewaltdelikten steigen sie. So entsetzlich wie die Einzelfälle sind, liegt diese Reak- tion bei der emotionsgeladenen Stimmung, die danach (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE entstehen kann, nahe – richtig ist sie nicht. Gerade im GRÜNEN]: Das stimmt nicht! – Joachim Strafrecht ist es Aufgabe der Politik, verantwortungs- Stünker [SPD]: Woran liegt das?) voll, rational und auf sicherer Faktengrundlage zu han- Darauf müssen wir reagieren. deln. Das können oder wollen Sie im Bundesrat offen- sichtlich nicht. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Zweitens. Es wird bezweifelt, ob das klare Signal DIE GRÜNEN) einer Gesellschaft an einen 18-Jährigen bzw. eine 18-Jäh- rige, dass er oder sie erwachsen ist, generalpräventive Erstens. Die Jugendkriminalität ist in den letzten Wirkungen entfalten könnte. Jahren nicht stetig gestiegen, wie Sie in der Begründung des Gesetzentwurfes behaupten: (Joachim Stünker [SPD]: Hat es auch nicht!) (Joachim Stünker [SPD]: Richtig!) Ein derart eindeutiges Signal wird generalpräventive Wirkung entfalten – das steht für mich außer Zweifel – Nach 1998 ist ein leichter Rückgang der Fallzahlen bei Du bist erwachsen, egal ob du Rechte in Anspruchden Jugendlichen und insgesamt eine Stabilisierung bei nimmst oder Pflichten nachkommen musst. den Heranwachsenden zu verzeichnen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10257

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) (Joachim Stünker [SPD]: Genauso ist es!) reits seit Jahren, dass es so nicht geht. Wenn (C) das, verehrte Frau Justizministerin, was Sie eben vorgetragen Die Kriminalität bei Jugendlichen und Heranwachsen- haben, im Gesetz oder auch nur in der Begründung zum den stagniert, während sie bei den Erwachsenen – die Gesetz stünde – ich nenne als Stichworte soziale Betreu- nach dem allgemeinen Strafrecht abgeurteilt werden – ung und Begleitung –, wäre das schon ein Fortschritt. zunimmt. Damit will ich nicht sagen, dass wir keine Pro- bleme hätten. Aber Ihre Aussagen sind in ihrer Pauscha- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE lität einfach falsch. Wir haben sicher enorme Probleme GRÜNEN]: Ja, genau! – Joachim Stünker mit den eingangs erwähnten Intensivtätern und mit den [SPD]: Richtig!) Tätern im Bereich gefährlicher und schwerer Körperver- Wir wissen doch alle, wie heutzutage der Arrest ausge- letzung und Raub; bei denen sind in der Tat Steigerungs- staltet ist: Die Heranwachsenden werden weggeschlos- raten zu verzeichnen. Aber jetzt bitte ich Sie, einmal zu- sen, werden eingesperrt. Wenn sie dann herauskommen, zuhören: Die Rückfallstatistik hat uns auch gezeigt, dass sind sie stigmatisiert. Manche geben sogar damit an, im die meisten strafrechtlich in Erscheinung tretenden Ju- Knast gewesen zu sein. gendlichen dies nur einmal tun und nicht wieder. Auffal- lend hoch ist nur die Rückfallquote derjenigen Jugendli- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ chen und Heranwachsenden, die in Haft gewesen sind. DIE GRÜNEN – Siegfried Kauder [Bad Dürr- heim] [CDU/CSU]: Wegschließen war die Zweitens. Der Sinn des Jugendstrafrechts liegt nicht Idee des Kanzlers, nicht die von uns!) in „Warnschüssen“ und hartem Durchgreifen. Frau Präsidentin, ich darf doch noch eine Minute re- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den? – Das Bundesministerium der Justiz hat in Form ei- DIE GRÜNEN) nes Referentenentwurfs einen viel besseren Entwurf vor- Das Missverständnis beginnt schon damit, dass immer gelegt, der das Jugendstrafrecht stärken wird. Grundlage behauptet wird, das Jugendstrafrecht sei stets milder als sind die Beratungsergebnisse der Expertengruppe, die das Erwachsenenstrafrecht. Das ist so nicht richtig, und die FDP übrigens in ihrem Antrag erwähnt hat. Es geht dabei darum, wie die jungen Gefangenen ihr Leben es ist ärgerlich, dass immer mehr Politiker – sei es aus künftig ohne Straftaten führen können. Es geht um die Unwissenheit, sei es aus Absicht – diesem Missverständ- Abkehr vom unscharfen, missverständlichen und um- nis Vorschub leisten. strittenen Erziehungsbegriff des Jugendkriminalrechts (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hin zum Grundsatz der umfassenden Förderung und For- DIE GRÜNEN) derung. Wir wollen junge Gefangene zur Teilnahme an den Maßnahmen verpflichten, die ein Förderplan für sie (B) Kernpunkt des Jugendstrafrechtes ist der Erziehungsge- vorsieht. Insgesamt konzipieren wir so ein eigenständi- (D) danke. Das Jugendstrafrecht ist darauf ausgerichtet, Ju- ges Regelwerk mit jugendspezifischen Inhalten, das in gendliche und Heranwachsende zu fördern und zu for- seinem Aufbau weitgehend dem bewährten Gefüge des dern und sie so von weiteren Straftaten abzuhalten.Strafvollzugsgesetzes folgt. Dafür gibt das Jugendstrafrecht den Gerichten ein diffe- renziertes und flexibles Instrumentarium an die Hand, Wir brauchen also weder Ihr Gesetz zur Bekämpfung das sich als wirksam bewährt hat und in der Praxis funk- der Jugenddelinquenz, noch wird der im Mai vorgelegte tioniert. Sie ignorieren das, wenn Sie fordern, dass bei Entwurf des Bundesrates mit dem blumigen Namen Heranwachsenden grundsätzlich das allgemeine Straf- „Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Jugendstraf- recht, das Jugendstrafrecht dagegen nur ausnahmsweise rechts und zur Verbesserung und Beschleunigung des Ju- Anwendung findet. Die Folge wäre, dass die Gerichte gendstrafverfahrens“ – Verbesserung und Beschleuni- bei Heranwachsenden grundsätzlich nur mit Geld- oder gung schließen sich schon gegenseitig aus – Gnade vor Freiheitsstrafen reagieren könnten. Glaubt jemand ernst- unseren Augen finden. haft, dass man damit einer künftigen Straffälligkeit He- ranwachsender besser entgegenwirken kann als mit dem Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: differenzierten Reaktionsinstrumentarium des Jugend- Herr Kollege, eine Minute ist schon lange vorbei. strafrechts, das den altersbedingten Besonderheiten und Kommen Sie bitte zum Schluss. Einflussmöglichkeiten angepasst ist? Nahezu alle Fach- leute lehnen Ihren Vorschlag ab. Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- ( [FDP]: Klatscht doch mal für eu- desministerin der Justiz: ren Staatssekretär!) Ihre Entwürfe werden Entwürfe bleiben. – Herr Fricke, sie haben schon oft genug geklatscht. Es Ich wünsche allen ein frohes Pfingstfest und bedanke muss außerdem nicht geklatscht werden, wenn Selbst- mich sehr herzlich für Ihre überaus große Geduld. verständlichkeiten vorgetragen werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Zuruf von der SPD: Fricke sollte besser zuhö- DIE GRÜNEN) ren!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Oder nehmen wir den Vorschlag zum Warnschussar- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Siegfried Kauder. rest. Schon wegen seiner stigmatisierenden und entso- zialisierenden Wirkung sagen uns fast alle Fachleute be- (Beifall bei der CDU/CSU) 10258 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

(A) Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): Hartenbach hat eine ganze Tasche voller Vor- (C) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe schläge!) erwartet, dass die Diskussion zum Thema Jugenddelin- quenz genau so verlaufen würde. Wir bewerfen uns mit Der Staatssekretär beschränkt sich auf die Aussage, dass Statistiken und Zahlen. Referentenentwürfe vorliegen. Man kann deshalb kon- statieren: Entwürfe liegen auf dem Tisch und vom Tisch (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE wird nichts weggeschafft. Im Bundesjustizministerium GRÜNEN]: Ihr habt doch angefangen!) unter der Leitung der Bundesjustizministerin Zypries liegt zu viel im Argen. Am Ende ist jeder der sicheren Überzeugung, dass er mit seiner Auffassung Recht hat. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir werden uns in dieser Debatte im Klein-Klein, in Ich nehme es den Ländern nicht übel, dass sie in ihrer einem Hickhack ergehen. Wir werden uns mit der Frage größten und höchsten Not reagieren; denn sie erleben beschäftigen, ob das Fahrverbot als Hauptstrafe, als Ne- den Strafvollzug ja an der Front. benstrafe, als Erziehungsmaßnahme oder als Zuchtmittel angemessener sei und wie man das Fahrverbot in das Ju- (Lachen des Abg. Joachim Stünker [SPD]) gendstrafrecht einsortieren müsse. Wir werden uns mit Es war nicht das Bundesjustizministerium, das eine Lö- der Frage beschäftigen, ob eine Meldeweisung sinnvoll sungsmöglichkeit zum Erwachsenenstrafvollzug ange- ist oder ob sie nach dem Jugendstrafrecht nicht ohnehin boten hat. Die Länder haben über den Bundesrat einen schon möglich ist. Ich versichere Ihnen: Das sind The- Gesetzentwurf eingebracht, um § 18 Strafvollzugsge- men, die nur wenige Juristen, die darauf spezialisiertsetz zu ändern. So sind es wieder einmal die Länder, die sind, verstehen. Das ist nicht die Botschaft, die die Öf- im Bereich des Jugendstrafrechts initiativ werden. fentlichkeit zum Thema Jugenddilinquenz erwartet und erwarten darf. Wie lange höre ich von der Bundesjustizministerin schon, dass Sie das Jugendstrafverfahren reformieren Am 26. Mai 2004 titelte die „Berliner Morgenpost“: werden? – Nichts außer heißer Luft! Sie sagen, Sie wer- Ich wollte Berufskiller werden. den den Opferschutz im Jugendstrafverfahren verbes- sern. – Nichts außer heißer Luft! Mir ist die Lösungs- In dem Artikel ging es um das Strafverfahren gegen ei- möglichkeit, die die Länder anbieten, zehnmal lieber, als nen 21-Jährigen, der zwei hilflose Rentnerinnen in ho- nichts zu tun. hem Alter ermordet hat. Als er festgenommen und ge- fragt wurde, was er mit diesen grausamen Taten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) bezweckt habe, erklärte er, er habe schon immer Berufs- (D) killer werden wollen. Bei der ersten Tat habe er üben Ich räume ein: Natürlich wird es Diskussionsbedarf wollen. geben. Meines Erachtens geht es nicht um die Frage, ob wir auf die Heranwachsenden grundsätzlich das Erwach- Meine Damen und Herren, auf solche Vorfälle erwar- senenstrafrecht anwenden sollen. Meine Herren von tet die Öffentlichkeit zu Recht eine Antwort. Herr Staats- Rot-Grün, wenn Sie diese Forderung unterstützen wür- sekretär Hartenbach, grüßen Sie die Bundesjustizminis- den, befänden Sie sich aber in bester Gesellschaft; denn terin. Tony Blair hat das Gesetz im Jahre 2000 wegen der stei- genden Jugendkriminalität in England geändert, sodass (Joachim Stünker [SPD]: Das ist reiner Populis- auf Heranwachsende nur noch das Erwachsenenstraf- mus! – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ recht anwendbar ist. DIE GRÜNEN]: Sie schrecken vor nichts zu- rück!) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er ist ja nun wirklich kein Vor- Die Öffentlichkeit hat Anspruch auf ein schlüssiges bild!) Konzept. Der Jugendstrafvollzug ist verfassungswidrig, weil es an einem Gesetz fehlt. Ganz anders war es im konservativen Spanien unter Sie wissen so gut wie ich, dass es eine Entscheidung Aznar, der nämlich die deutsche Lösung übernommen des Oberlandesgerichts Celle gibt, in der erwachsenen hat. In Spanien ist das Heranwachsendenstrafrecht in- Häftlingen eine Entschädigung zugesprochen wird, weil zwischen so wie im deutschen Recht. Sie sehen also, es der Strafvollzug für Erwachsene gesetzwidrig ist, dageht quer durch alle Reihen. Ich verhehle nicht, dass eine Einzelunterbringung in Hafträumen nicht ermög- auch in unserer Fraktion die Diskussion noch im Gange licht werden kann. ist. Diese Entscheidung muss jeder Abgeordnete für sich selbst treffen. Es ist eine Entscheidung des Gewissens Ich warte darauf, dass jugendliche Straftäter mit an- und weniger eine rechtsdogmatische Entscheidung. waltlicher Hilfe eine Entschädigung einklagen, weil sie auf nicht verfassungsgemäßer Grundlage inhaftiert sind. Ich greife noch einmal den Fall des jungen 21-Jähri- gen auf, der erklärt hat, er wolle Berufskiller werden. (Dirk Niebel [FDP]: Gute Idee!) Die Anwälte haben sofort reagiert und in der Presse pu- bliziert, dass sie der Meinung sind, dass auf diesen Fall Aber: Die Bundesjustizministerin reagiert nicht. das Jugendstrafrecht anzuwenden ist. Es ist durchaus (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ möglich, dass dieser 21-Jährige in seiner Entwicklung DIE GRÜNEN]: Das ist doch nicht wahr! Herr noch zurückgeblieben ist. Deswegen würde nach derzei- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10259

Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (A) tigem Recht das Jugendstrafrecht anzuwenden sein. Ich dieser nicht einmal vier Wochen in einer Jugendarrestan- (C) persönlich habe nichts dagegen. stalt erleben, wie das Leben außerhalb der Freiheit voll- zogen wird? Gerade da wir festgestellt haben, dass die (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Rückfallquote bei den Jugendlichen und Heranwach- GRÜNEN]: Das entscheiden die Richter!) senden, die im Jugendstrafvollzug waren, 78 Prozent be- Jetzt kommen Sie aber mit Ihrem Argument, dass im trägt, muss man sich doch überlegen, welche vorausgela- Jugendstrafrecht der Erziehungsgedanke herrscht. Das gerten flankierenden Maßnahmen man hat, um auf diese stimmt nur beschränkt. Schauen Sie mal in § 18 Jugend- jungen Menschen einzuwirken. Der Warnschussarrest ist gerichtsgesetz. Die Freiheitsstrafe für Jugendliche be- eine gute Möglichkeit, flankierend eine zur Bewährung trägt sechs Monate bis fünf Jahre, weil man der Meinung ausgesetzte Jugendstrafe zu begleiten. war, dass eine Strafe, die fünf Jahre übersteigt, erziehe- Eine weitere Maßnahme wurde von den Ländern in risch sinnlos sei. Wenn aber ein Verbrechen begangen ihren Gesetzentwurf eingeführt: das Fahrverbot. Wir worden ist, das nach allgemeinem Erwachsenenstraf-können uns lange darüber unterhalten, wie es sich in das recht beurteilt und mit einer Höchststrafe von über zehn Sanktionensystem einordnen lässt. Aber, Herr Kollege Jahren belegt wird, dann beträgt auch die Jugendstrafe Ströbele, ich kann Ihnen helfen. Es gab im Bundesjustiz- zehn Jahre. Das heißt, auch hier fließen generalpräven- ministerium einen Arbeitsentwurf, der genau diesen Ge- tive Aspekte mit in den Erziehungsgedanken hinein. setzesvorschlag, den die Länder aufgegriffen haben, Frau Ministerin Werwigk-Hertneck, deswegen bin ich nämlich § 15 a Jugendgerichtsgesetz, entwickelt hat. Ich der Meinung, dass Sie mit Ihrem Ansinnen, die Jugend- weiß nicht, warum er im Ministerium und bei Rot-Grün strafe, die gegen Heranwachsende verhängt wird, allge- versackt ist. Auf jeden Fall wäre es eine gute Lösungs- mein auf 15 Jahre zu erhöhen, über das Ziel hinausschie- möglichkeit. Warum sollen junge Menschen, die sich zu- ßen. sammentun, abends zu fünft in einem Fahrzeug zu ir- gendeiner Diskothek fahren, um sie aufzumischen und (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE eine Schlägerei anzuzetteln, nicht einmal merken, wie es GRÜNEN]: Das hat sie auch gar nicht er- ist, wenn man kein Fahrzeug führen darf? wähnt!) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Sie meinen das nicht; denn wenn Sie die Jugendstrafe für GRÜNEN]: Das ist schon heute möglich!) Heranwachsende auf 15 Jahre erhöhen würden, dann würden Sie gleichzeitig den Strafrahmen nach oben ver- Deswegen befürworte ich auch nicht die Einschränkung schieben, sodass auch die Eingangsstrafen für die weni- eines Fahrverbots nur auf verkehrsbezogene Delikte. Es ger schwere Kriminalität erhöht würden. Ich weiß, dass tut den jungen Leuten gut, wenn sie merken, wie es ist, (B) Sie das nicht wollen. Es gibt 22 kapitale Verbrechen, die wenn man kein Fahrzeug führen darf. (D) bei Erwachsenen mit lebenslanger Freiheitsstrafe belegt Ich möchte auch nicht das Argument hören, dass man sind. Diese Fälle meinen Sie. Sie meinen denjenigen, der jungen, im Erwerbsleben stehenden Menschen den Füh- sagt, er wolle Berufskiller werden. rerschein nicht wegnehmen kann. Das tut doch gar kein Es gibt hier eine Lösung, nämlich in § 18 Jugendge- Jugendrichter. Auch der Einwand, das sei nicht zu kon- richtsgesetz. Danach kann beim Heranwachsendenstraf- trollieren, verfängt nicht; denn dann dürfen Sie überhaupt recht gesagt werden: Wenn Erwachsene mit einer le-keine jugendgerichtlichen Weisungen mehr festsetzen. benslangen Freiheitsstrafe belegt werden würden, dann Schauen Sie einmal in § 10 des Jugendgerichtsgesetzes. beträgt die Höchststrafe beim Heranwachsenden aus-Darin gibt es die Möglichkeit, die Weisung zu verhängen, nahmsweise nicht zehn, sondern 15 Jahre. Ich glaube, bestimmte Gaststätten nicht zu besuchen. Auch damit auf diesem Level können wir uns einigen. muss ein Kontrollmechanismus eingeleitet werden. Nicht anders ist es beim Fahrverbot. Nun zum Warnschussarrest. Man kann lange da- rüber philosophieren, wie er sich in das Rechts- und Sie sehen es schon: Ich halte auch diesen Vorschlag Sanktionensystem des Jugendstrafrechts einordnen lässt. des Ländergesetzentwurfs für sinnvoll. Man wird, Frau Das ist aber nicht das Thema. Dieses Problem kann man Justizministerin Werwigk-Hertneck, darüber reden müs- lösen. Festzuhalten bleibt, dass ein Erwachsener zu einer sen, ob man statt der Einführung von § 15 a Jugendge- Freiheitsstrafe von nur einem Monat verurteilt werden richtsgesetz nicht schlicht und ergreifend in § 10 Abs. 1 kann. Wenn die Einwirkung auf ihn oder die Verteidi- des Jugendgerichtsgesetzes eine Ziffer 10 anfügt und da- gung der Rechtsordnung es gebietet, wird diese Strafe rin die Weisung festlegt, es sollte die Weisung, der Ju- auch vollstreckt. Beim Jugendlichen geht das nicht, weil gendliche dürfe eine gewisse Zeit kein Fahrzeug führen die Jugendstrafe aus guten Gründen erst mit sechs Mo- eingeführt werden. naten beginnt. Fünf Monate oder drei Monate Jugend- strafe können nicht verhängt werden. Das heißt, man Meine Damen und Herren von Rot-Grün, eines schei- muss die dadurch entstandene Lücke im jugendstraf-nen Sie übersehen zu haben: Das Fahrverbot ist nach der rechtlichen Sanktionensystem angemessen schließenbestehenden Gesetzeslage weit über das hinaus zulässig, können. Dafür bietet sich in der Tat der Warnschussar- was Sie sich wünschen. Nach § 10 des Jugendgerichts- rest an. gesetzes kann ein Jugendrichter ein Fahrverbot auch über die Frist des § 44 StGB, also über drei Monate hi- Er hat überhaupt keine negativen Auswirkungen auf naus, verhängen. Das ist auch dann möglich, wenn ein einen Jugendlichen oder Heranwachsenden. Warum soll Verkehrsbezug nicht besteht. Sie sind also aufgefordert, 10260 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (A) wenn Sie Ihre Interessen so, wie Sie sie artikulieren,raussetzung stimmt also nicht. Ich weiß nicht, warum(C) durchsetzen wollen, einen Gesetzentwurf vorzulegen, wir uns dann mit diesem Vorschlag hier auseinander set- der Hand und Fuß hat. zen sollen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ GRÜNEN]: Und was steht da dann drin?) CSU]: Die Verhängung von Jugendstrafen Im Augenblick haben Sie nichts auf der Hand. Das ist über zwei Jahre hat zugenommen!) schlimm für die Menschen, die Sicherheit erwarten. Die zweite falsche Voraussetzung, die sich inzidenter Vielen Dank. schon durch die Reden, aber auch durch den Entwurf zieht, ist der Irrglaube, die falsche Auffassung, die von (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den wahren Tatsachen unberührt ist, dass jugendliche Straftäter nach dem Jugendstrafrecht milder bestraft Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: würden, dass das ein Privileg für Jugendliche und He- Die Kollegin Erika Simm hat gebeten, ihre Rede zu ranwachsende sei und diese damit nicht in dem Maße zur Protokoll geben zu dürfen.1) Sind Sie damit einverstan- Rechenschaft gezogen werden könnten, wie es bei Er- den? – Das ist der Fall. Dann erteile ich jetzt dem Abge- wachsenen der Fall sei. Dem ist überhaupt nicht so. Das ordneten Hans-Christian Ströbele das Wort. Jugendstrafrecht geht nur mit anderen Sanktionen und nach anderen Kriterien vor. Als Strafverteidiger wissen wir, dass Jugendliche sehr häufig sogar härtere Strafen, Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): auch Freiheitsstrafen, bekommen als Erwachsene. Das geschieht etwa deshalb, weil das Gericht der Auffassung Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- ist, dass in dem Augenblick, in dem das Urteil gefällt gen! Ich will mich kurz fassen. wird, zur erzieherischen Einwirkung auf den Jugendli- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) chen die Verhängung einer Freiheitsstrafe auch ohne Be- währung erforderlich ist. Ich verstehe sowieso nicht, warum wir kurz vor Pfings- ten dieses alte Thema erneut diskutieren müssen. Deshalb sind all die Argumente, die hier durchschei- ( [BÜNDNIS 90/DIE nen, zum Beispiel Heranwachsende im Alter von GRÜNEN]: Das passt in die 60er-Jahre!) 21 Jahren, die fürchterliche Dinge gemacht hätten, dürf- ten nicht nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilt Es handelt sich nicht um einen wunderbaren, mit ganz werden, falsch. Nach dem Jugendstrafrecht werden sie neuen Ideen gefüllten Gesetzentwurf des Bundesrates dann behandelt, wenn das Gericht – häufig aufgrund von (B) oder einzelner Länder, sondern um einen Gesetzentwurf, Sachverständigengutachten – zu der Überzeugung(D) den wir schon im Bundestag beraten und abgelehnt ha- kommt, dass sie in ihrem Entwicklungsstand Jugendli- ben und der schon im Bundesrat mehrfach beraten wor- chen gleichzustellen sind. Sonst wird Erwachsenenstraf- den ist. Er ist vom Strafverteidigertag, vom Anwaltstag, recht angewendet. vom Deutschen Jugendgerichtstag und von nahezu allen Institutionen diskutiert und abgelehnt worden, und zwar (Dr. Uwe Küster [SPD]: Richtig!) aus gutem Grunde. Sie wollen das umkehren. Allein aus der Tatsache, dass (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie fordern, dass die Höchststrafe von zehn auf 15 Jahre und bei der SPD) heraufgesetzt wird, ergibt sich die eigentliche Intention dieses Gesetzentwurfs. Das ist der ideologische Hinter- Denn er ist nicht nur alt, sondern er enthält auch nichts grund. Neues und er geht von zweivöllig falschen Vorausset- zungen aus. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Die eine falsche Voraussetzung findet sich im ersten Satz dieses Gesetzentwurfes. Dort wird auf eine Statistik Sie wollen in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, hingewiesen. Wir haben das nicht erfunden, sondern das dass die Länder, die solche Gesetze im Bundesrat immer steht in dem Gesetzentwurf. Es wurde nämlich die fal- wieder einbringen, die Einzigen sind, die wirklich gegen sche Behauptung aufgestellt, dass die Jugenddelinquenz Jugendkriminalität vorgehen und die Bevölkerung schüt- in den letzten Jahren zugenommen habe. Das Gegenteil zen wollen, während diejenigen, die solche Gesetze ist wahr. Von 1998 bis 2003 hat die Jugenddelinquenz, nicht haben wollen, weil sie wissen, dass sie in die Irre übrigens auch die Kinderdelinquenz, abgenommen, und führen und nicht helfen, nicht genügend gegen Jugend- zwar exorbitant. Sie hat auch im Jahr 2003 abgenom-kriminalität tun. men. Von 1997 bis 2003 hat sie um 15 bis 17 Prozent ab- Auf diesem Wege folgen wir Ihnen nicht. Wir gehen genommen. Im Jahr 2003 hat die Delinquenz von deut- davon aus, dass die Gesetze, die wir haben, grundsätz- schen Jugendlichen um 1 Prozent abgenommen, die von lich richtig und ausreichend sind und dass wir alles ver- ausländischen Jugendlichen, die angeblich besonders ge- meiden sollten, dass wir eine Entwicklung bekommen, fährlich sind, weswegen man dauernd solche Gesetze wie sie etwa in einigen Staaten der Vereinigten Staaten vorschlagen muss, um über 2 Prozent. Schon diese Vo- zu beobachten ist, wo mit Jugendlichen, manchmal mit Kindern, strafrechtlich in gleicher Weise umgegangen 1) Anlage 4 wird wie mit Erwachsenen. Das ist nicht unsere Auffas- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10261

Hans-Christian Ströbele (A) sung von einem Rechtsstaat. Das wollen wir hier inlich. Ein solches Gesetz ist seit der Entscheidung des(C) Deutschland nicht haben. Bundesverfassungsgerichts zum Erwachsenenstrafvoll- zug im Jahr 1972 – das muss man sich einmal deutlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN machen: seit mehr als 30 Jahren – überfällig. und bei der SPD) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Ich sage Ihnen abschließend, Herr Kollege Kauder: GRÜNEN]: So lange sind wir noch nicht an Sie haben bemängelt, dass das Jugendstrafvollzugsge- der Regierung! – Gegenruf des Abg. Siegfried setz noch nicht auf dem Tisch liegt. Ich kann Sie beruhi- Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/CSU]: Sie ha- gen. Sie konnten sich damit auch schon befassen. ben es auch im Bundesrat abgelehnt!) Es ist ein sehr umfangreicher Entwurf des Bundesjus- – Sehr richtig, Herr Ströbele. Es wurde von den jeweili- tizministeriums. Wir machen unsere Arbeit, die sehr gen Regierungen immer wieder in Angriff genommen schwierig und umfangreich ist. Sie sollten nicht den Ein- und ist jedesmal auf Länderebene gescheitert. Das soll- druck erwecken, dass sich das Bundesjustizministerium ten wir in dieser Diskussion – die ich durchaus nicht für oder die Koalition vor solchen Aufgaben drückt. überflüssig halte, wie Sie gerade meinten, Herr Kollege (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ströbele – im Blick behalten. Diese Thematik kommt und bei der SPD – Siegfried Kauder [Bad mir etwas zu kurz. Dürrheim] [CDU/CSU]: Warten wir mal ab, bis der Entwurf vorliegt!) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist richtig!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Die Ankündigung, dass im Bundesjustizministerium Als letzte Rednerin hat jetzt die Kollegin Laurischk ein Entwurf in Arbeit ist, sollte uns freuen. das Wort. Sie hat nicht mehr als zwei Minuten Redezeit. (Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es liegt auf dem Tisch!) Sibylle Laurischk (FDP): Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Meine Damen und Ich bin sicher, dass die Bundesregierung ihre Anstren- Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf geht von einer gungen verstärken wird, hinsichtlich eines Jugendstraf- in den letzten Jahren stetig angestiegenen Jugendkrimi- vollzugsgesetzes und seiner Finanzierbarkeit zu einem nalität aus, „der durch verstärkte Anstrengungen aller mit den Ländern abgestimmten Ergebnis zu kommen. staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Kräfte Ich setze dabei auf die Gestaltungs- und Kompromissfä- higkeit beider Seiten. Uns geht es um ein Kernanliegen (B) wirksam zu begegnen“ sei. Tatsächlich sind die Zahlen (D) aber keineswegs so besorgniserregend. des Rechtsstaates, nämlich die Sicherstellung verfas- sungsrechtlich unangreifbarer und effektiver Vollzugs- Nach dem Kriminalitätsbericht des Innenministe-bedingungen auch für die Straftäter, die noch nicht er- riums von 2003 ist die Kinder- und Jugendkriminalität wachsen sind. seit 1998 weiterhin rückläufig. Dennoch befindet sie sich absolut betrachtet auf einem zu hohen Niveau. Das Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen ein schönes Jugendstrafrecht hat sich sicherlich bewährt. Es bietet Pfingstfest. eine ganze Palette an Reaktionsmöglichkeiten der Ju- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gendgerichte und stellt den Erziehungsgedanken in den der SPD und der CDU/CSU) Vordergrund, was dem noch nicht abgeschlossenen Rei- fungsprozess von Jugendlichen und Heranwachsenden entspricht. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe damit die Aussprache. Im Strafvollzug für Jugendliche sind die größten Er- folge der Resozialisierung zu verzeichnen, was wesent- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf lich mit ihrer in diesem Lebensabschnitt noch bestehen- Drucksachen 15/1472 und 15/2192 an die in der Tages- den Prägbarkeit, aber auch mit der Flexibilität ordnung der aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind richterlichen Reaktion nach dem Jugendgerichtsgesetz Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind und den Eingriffsmöglichkeiten nach dem Jugendhilfe- die Überweisungen so beschlossen. gesetz zu tun hat. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- In einer internen Anhörung hat die FDP-Bundestags- ordnung. fraktion mit verschiedenen Fachleuten über Möglichkei- ten zur Reduzierung der Jugenddelinquenz gesprochen. Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen und den Dabei kamen auch Modelle intensiver Betreuung straf- Besucherinnen und Besuchern auf der Tribüne schöne fälliger Jugendlicher – wie sie in Baden-Württemberg Pfingsttage. Wie ich höre, soll das Wetter besser werden. beispielhaft sind – zur Sprache. Ich bin sicher, dass sich Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- der Rechtsausschuss auch im Rahmen einer Expertenan- destages auf Mittwoch, den 16. Juni 2004, 13 Uhr, ein. hörung mit dieser Fragestellung befassen wird. Die Sitzung ist geschlossen. Nach Auffassung der FDP-Fraktion ist die Schaffung eines einheitlichen Jugendstrafvollzugsgesetzes dring- (Schluss: 15.24 Uhr)

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10263

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Barthle, Norbert CDU/CSU 28.05.2004 Tritz, Marianne BÜNDNIS 90/ 28.05.2004 DIE GRÜNEN Bierwirth, Petra SPD 28.05.2004 Vo ge l , Vo lk ma r U we CDU/CSU 28.05.2004 Braun, Helge CDU/CSU 28.05.2004 Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 28.05.2004 Brüderle, Rainer FDP 28.05.2004 Dr. Zöpel, Christoph SPD 28.05.2004 Daub, Helga FDP 28.05.2004

Eichstädt-Bohlig, BÜNDNIS 90/ 28.05.2004 * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- Franziska DIE GRÜNEN sammlung des Europarates

Flosbach, Klaus-Peter CDU/CSU 28.05.2004 Anlage 2 Dr. Gauweiler, Peter CDU/CSU 28.05.2004 Erklärung Glos, Michael CDU/CSU 28.05.2004 des Abgeordneten Franz Müntefering (SPD) zur namentlichen Abstimmung über die Be- Griefahn, Monika SPD 28.05.2004 schlussempfehlung: Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der Internationalen Sicherheits- Haack (Extertal), Karl SPD 28.05.2004 präsenz im Kosovo zur Gewährleistung eines si- Hermann cheren Umfeldes für die Flüchtlingsrückkehr und zur militärischen Absicherung der Frie- (B) Hagemann, Klaus SPD 28.05.2004 densregelung für das Kosovo auf der Grundlage (D) der Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrats Dr. Hendricks, Barbara SPD 28.05.2004 der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwi- Kossendey, Thomas CDU/CSU 28.05.2004 schen der Internationalen Sicherheitspräsenz (KFOR) und den Regierungen der Bundesrepu- Kramme, Anette SPD 28.05.2004 blik Jugoslawien und der Republik Serbien vom 9. Juni 1999 (111. Sitzung, Tagesordnungs- Letzgus, Peter CDU/CSU 28.05.2004* punkt 6 a) Matschie, Christoph SPD 28.05.2004 In der Abstimmungsliste ist mein Name nicht aufge- führt. Mein Votum lautet Ja. Müller (Erlangen), CDU/CSU 28.05.2004 Stefan Anlage 3 Pfeiffer, Sibylle CDU/CSU 28.05.2004 Zu Protokoll gegebene Reden Repnik, Hans-Peter CDU/CSU 28.05.2004 zur Beratung der Anträge: Dr. Rexrodt, Günter FDP 28.05.2004 – Ausschreibungspraxis in der Arbeitsmarkt- politik effizient und effektiv ausgestalten Rühe, Volker CDU/CSU 28.05.2004 – Für eine qualitätsorientierte und an den re- Scharping, Rudolf SPD 28.05.2004 gionalen Bedürfnissen ausgerichtete Aus- schreibungspraxis von arbeitsmarktpoliti- Scheuer, Andreas CDU/CSU 28.05.2004 schen Maßnahmen Schmidbauer, Bernd CDU/CSU 28.05.2004 (Tagesordnungspunkt 24 und Zusatztagesord- nungspunkt 13) Schröder, Gerhard SPD 28.05.2004 Klaus Brandner (SPD): Die Ausschreibungspraxis Schulz (Spandau), Swen SPD 28.05.2004 von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen ist in der Tat 10264 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

(A) ein Problem, das sowohl Träger als auch viele Arbeits- Dieses hat der Vorstand der BA bei der SPD-Fraktion (C) lose verunsichert. Beide Anträge könnten einen Konsens verbindlich zugesagt, und zwar am 2. März 2004. Die signalisieren. Doch bei genauem Hinsehen stellt man be- BA hat die Zusage erkennbar und schnell umgesetzt. Die trächtliche Unterschiede fest. Die CDU/CSU setzt sich CDU/CSU produzierte dazu am 30. März einen Antrag, nicht wirklich für die Träger ein, denn das Thema Aus- in dem sie außerdem noch völlig abwegig auf die Insol- schreibung spielte in den bisherigen Anträgen und Ge- venz von Maatwerk eingeht. Das hat mit der Ausschrei- setzesvorschlägen der Union überhaupt keine Rolle.bungspraxis nun wirklich nichts zu tun. Auch die Frage Stattdessen wurde nur die ganze Arbeitsmarktpolitik in der Bildungsgutscheine ist hier nicht relevant. Weiterbil- Grund und Boden verdammt, Träger schienen mehr oder dungsmaßnahmen werden gerade deswegen überhaupt weniger überflüssig. Sie wollen doch den Beitragssatz nicht ausgeschrieben. Dieser Antrag ist eine Lachnum- zur BA um 1 Prozent senken. Das bedeutet aber Einspa- mer. Er befasst sich im Übrigen mit der Vergangenheit, rungen von 8 Milliarden Euro. Das sei angeblich leicht während wir die Dinge anpacken. zu bewerkstelligen, denndie arbeitsmarktpolitischen Die Diskussion um die Ausschreibungspraxis ist al- Maßnahmen seien sowieso überflüssig und nutzlos. lerdings noch nicht beendet. Ursache hierfür sind Ge- Aus Ihren zahlreichen Anträgen könnte ich weitere richtsurteile und jüngst ein Spruch der Vergabekammer negative Vokabeln nennen. Die Kürzungen von 8 Mil- des Bundeskartellamtes. Offensichtlich besteht also ge- liarden bei den Maßnahmen würde allerdings sofort die rade auf diesem Feld Unklarheit über die Rechtslage. Zahlungen für Lohnersatzleistungen um die Hälfte des Das verunsichert logischerweise Träger und Verbände, Betrages in die Höhe treiben. Das heißt, netto blieben aber auch die Arbeitsagenturen und die Mitarbeiter dort. nur circa 4 Milliarden an Einsparungen übrig. Das wie- Die BA hat in Abstimmung mit dem BMWA schnell ge- derum heißt: Um tatsächlich 8 Milliarden zu sparen,handelt. Deshalb wurde kurzfristig die Ausschreibung müssten Sie die Arbeitsmarktpolitik um 16 Milliarden für berufsvorbereitende Maßnahmen noch einmal geän- kürzen. Bei Gesamtausgaben von gut 20 Milliarden Euro dert. Es gilt eine verlängerte Ausschreibungsfrist bis für Eingliederungsmaßnahmen wäre dann ein sofortiger zum 11. Juni. Gemeinnützige Träger können jetzt im Stopp zwingend. Es könnte keine einzige Maßnahme be- Wettbewerb mit gewerblichen Unternehmen antreten. willigt werden – und das mindestens bis Ende 2005.Deshalb sind auch circa 90 Prozent des Vergabevolu- Ausnahmslos alle Träger und die betroffenen Arbeitslo- mens für einen einheitlichen Ausschreibungskreis vorge- sen – mehrere 100 000 Menschen – stünden vor demsehen. Es bleibt bei kleinen Losgrößen. Nur rein staatli- Nichts. Die Arbeitslosigkeit würde nur noch verwaltet. che Träger sind ausgeschlossen, sie können aber von Diese Berechnungen sind nicht von mir, sondern wissen- dem kleinen Volumen der freihändigen Vergabe profitie- schaftlich belegt durch das Institut für Arbeitsmarkt und ren. (B) (D) Berufsforschung. Und wenn Ihnen ohnehin die ganze Mit unserem Antrag wollen wir den eingeschlagenen Richtung nicht passt, ist esmehr als scheinheilig, jetzt Weg absichern und weiterentwickeln. Rechtsklarheit und sich angeblich Interessen der Maßnahmeträger zu Eigen Rechtssicherheit müssen her. Wir werden die Vergabe- zu machen. Sie verhalten sich wie jemand, der denordnung ändern. Dies kann allerdings nicht von heute Sportunterricht abschaffen will, aber gleichzeitig über auf morgen geschehen, schließlich sind auch noch an- eine Verbesserung der Turnhalle diskutiert. Ein solches dere Bereiche betroffen. Wir brauchen daher geeignete Täuschungsmanöver lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Schritte schon für 2004. Wir müssen vor allem sicher- Auch wenn Sie offensichtlich auf das kurze Gedächtnis stellen, dass die berufsvorbereitenden Maßnahmen für der Wähler spekulieren, auf dieses Täuschungsmanöver benachteiligte und behinderte Jugendliehe pünktlich im werden sie nicht hereinfallen. Zeitraum September/Oktober 2004 beginnen können. Gerade diese Zielgruppe ist auf staatliche Hilfe angewie- Wir halten Ausschreibungen von Fördermaßnahmen sen. Wir lassen die jungen Menschen nicht hängen. Sie grundsätzlich für richtig. Wettbewerb schadet nichts, er können am allerwenigsten das Hickhack um die unter- ist dann positiv, wenn es um ein vernünftiges Verfahren schiedlichsten Verfahren nachvollziehen. Die Bundes- geht. Allerdings ist die Bundesagentur für Arbeit einige agentur für Arbeit ist deshalb gerade hier zu besonderer Male über das Ziel hinausgeschossen. Gerade die SPD- Sorgfalt verpflichtet. Wir wollen unterschiedliche Maß- Fraktion hat immer wieder und zeitnah auf Korrekturen nahmen fördern, die jeweils auf die unterschiedlichen gedrängt, erfolgreich! Bedürfnisse der jungen Menschen eingehen. Das heißt für die Vergabe: Die Qualität der Maßnahmen und ent- Wir haben erreicht: wesentlich mehr Rücksicht auf sprechend die Qualität des Trägers stehen im Vorder- die regionalen Belange durch kleinere Lose und längere grund. Klares Ziel ist die Verbesserung der Integra- Ausschreibungsfristen. Die örtlichen Arbeitsagenturen tionschancen der Teilnehmer, nicht etwa die Möglichkeit sind bei der endgültigen Entscheidung über die Vergaben einer Standardisierung. maßgeblich. Das wichtigste Auswahlkriterium ist die Qualität, zum Beispiel gute Kontakte zu den Arbeitge- Das gilt in besonderer Weise für Maßnahmen nach bern in der Region, Berücksichtigung der bisherigen Ar- dem SGB IX. Die Teilhabe behinderter Menschen am beit von leistungsfähigen, seriösen Anbietern. Es wird Arbeitsleben ist eine besondere Verpflichtung in Hin- kein Preisdumping geben. Darüber hinaus wurde eine sicht auf Qualität und Kontinuität der Leistungen. Die mittelfristig angelegte Kooperation der Agenturen mit Maßnahmen für die Inanspruchnahme der beruflichen den Trägern sichergestellt, die diesen eine vernünftige Rehabilitation nach § 35 SGB IX sollen deshalb weiter- Kalkulationsbasis bietet. hin ausschreibungsfrei bleiben. Insgesamt gilt: Gemein- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10265

(A) nützige Beschäftigungsgesellschaften und Träger derzu beglücken, sollten die Instrumente der Förderbank(C) freien Wohlfahrtspflege sind wichtige Säulen der regio- den Bedürfnisse der kleinen und mittleren Unternehmen nalen Arbeitsmarktpolitik. Sie sind für eine erfolgreiche angepasst werden und nicht umgekehrt. Unsere Unter- Arbeit mit den Zielgruppen am Arbeitsmarkt weiterhin nehmen brauchen kleinteilige Kredite zu günstigen Kon- notwendig. Sie haben lokale Beschäftigungsnetzwerke ditionen sowie attraktive Beteiligungsangebote und organisiert, die wir erhalten und nutzen wollen. Dieses Bürgschaftsprogramme, da nicht nur das Kapital, son- zu berücksichtigen ist bei einem vernünftigen Vergabe- dern auch die Besicherungsmöglichkeiten gerade bei recht und vor allem einem vernünftigen Vergabeverfah- KMU zur Neige gegangen sind. ren durchaus möglich. Und wenn im Einzelfall eine öffentliche Ausschreibung nicht geeignet ist, muss es Als wenn das alles noch nicht genug wäre, steckt eine auch andere Möglichkeiten geben. Ausschreibungen der größten Behörden in Deutschland, die Bundesagen- sind wichtig für uns, aber kein Prinzip ohne Ausnahme. tur für Arbeit, seit Monaten in der Krise und produziert einen Skandal nach dem anderen. Wenn es einmal kei- nen Skandal gibt, dann wird durch ungeschicktes Verhal- Veronika Bellmann (CDU/CSU): Im Monat April ten und nicht zu Ende gedachtes Handeln negativ auf waren in Deutschland 4,4 Millionen Menschen arbeits- den Arbeitsmarkt eingewirkt. So geschehen zum Bei- los, 26,3 Millionen Menschen waren sozialversiche-spiel durch ein vollkommen an der Realität und den wirt- rungspflichtig beschäftigt. Das bedeutet ein Minus zum schaftlichen Tatsachen vorbeigehendes Ausschreibungs- Vorjahr von 623 000 Jobs. verfahren. Während die Weltwirtschaft Fahrt aufnimmt,Anscheinend sollten die Verluste aus dem Millionen- schmiert der deutsche Arbeitsmarkt ab. Eine Trend-grab „virtueller Arbeitsmarkt“ nun bei den Ausschrei- wende ist auch weiterhin nicht in Sicht. Das Beschäfti- bungen zur beruflichen Weiterbildung wieder wettge- gungsdesaster wäre noch viel größer, wenn Rot-Grün macht werden. Denn anstatt sich an Qualitätsstandards nicht die Statistik manipuliert hätte. Zur Erinnerung: Seit und Know-how zu orientieren, wurde ausschließlich Januar sind mit einem Federstrich allein 80 000 Arbeits- nach Kostengesichtspunkten ausgeschrieben. lose, die sich in Trainingsmaßnahmen befinden, aus der Statistik gestrichen worden. Lose mit Maßnahmenstandorten, welche mehr als 100 Kilometern auseinander lagen, brachten eine einsei- Die Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist also tige Begünstigung der großen bundesweiten Billiganbie- so desolat wie schon seit Jahren unter Rot-Grün undter mit sich. Kleine Bieter sollten zur Bildung von Bie- trotz der nun schon anderthalb Jahre geltenden Hartz- tergemeinschaften gezwungen werden. Dass diese mit Reformen. einem hohen Verwaltungsaufwand und großen Steuer- (B) (D) Was wurde uns von der glorreichen Hartz-Kommis- und haftungsrechtlichen Problemen verbunden sind, sion nicht alles versprochen: massenhaft Arbeitsplätze, hätte man auch in Nürnberg wissen können. schnelle Vermittlung von Arbeitslosen, die Halbierung Davon abgesehen sind es gerade die Träger vor Ort, der Arbeitslosigkeit. Nichts von dem ist eingetreten.welche die größte Kompetenz und die besten Kontakte Deutschland tritt weiterhin auf der Stelle und fällt imhaben. Diese kleinen Träger sind es, die am effektivsten Weltmaßstab zurück. arbeiten und damit auch für die Bundesagentur am Ende, Aber immerhin können wir auf fantasievolle Ideen trotz eines anfänglich vielleicht etwas höheren Preises, verweisen, wie man die Arbeitslosigkeit eher nicht be- den größten Nutzen erzielen. Denn was nutzen Bil- kämpft, zum Beispiel mit Personal-Service-Agenturen. dungsmaßnahmen, wenn sie zwar billig sind, aber am 500 000 Menschen sollten laut Bundesregierung durch Bedarf vorbeigehen? dieses Instrument eine befristete und jährlich bis zu Inzwischen wurde – nach massiven Protesten von al- 350 000 eine dauerhafte Tätigkeit finden. Bis heute ha- len Seiten – von der BA nachgebessert, wenngleich nur ben gerade einmal knapp 8 000 Vermittlungen in Be-halbherzig. Noch immer werden niedrigpreisige Anbie- schäftigung stattgefunden – bei einer Subvention inter bevorzugt – ohne Berücksichtigung der Qualität. Öf- Höhe von 230 Millionen Euro. Jede fünfte PSA ist in- fentliche Träger, welche nach Bundesangestelltentarif- zwischen pleite. vertrag, BAT, entlohnen müssen, haben nur geringe Ähnliches bei der Ich-AG. Gerade einmal 100 000 Ar- Chancen, die privaten Anbieter zu unterbieten. Dies beitslose nutzten dieses Instrument – 500 000 wurden wäre aber nach der Entscheidung des OLG Düsseldorf vorhergesagt. Es muss sich erst noch zeigen, wie viele und den Aussagen des Kartellamtes notwendig, da nach von diesen Existenzen wirklich dauerhaft und rentabel diesem Urteil getrennte Ausschreibungen für private und sind. gemeinnützige Anbieter nicht zulässig sind. Trauriger Abschluss des Hartz-Desasters ist der Job- Auch ein vernünftiger zeitlicher Rahmen für die aus- floater. Weniger als 10 Prozent des versprochenen Be- geschriebenen Lose wurde noch nicht gefunden. Lose, schäftigungseffekts und eine skandalöse Subvention pro die gerade einmal für ein Jahr gültig sind, bringen den Arbeitsplatz von fast 73 000 Euro sind die Bilanz. Trägern und den Menschen, für und mit denen sie arbei- ten, keinerlei Planungssicherheit und machen es kaum Gleiches gilt für das Programm „Kapital für Arbeit“. noch möglich, qualitativ hochwertige Ausbildungen und Statt unsere Unternehmen, die keine zusätzlichen Ka- Schulungen anzubieten. Ein Zeitraum von mindestens pitaldienste mehr tragen können, mit Kreditprogrammen drei bis fünf Jahren wäre mindestens notwendig, um 10266 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

(A) Planungssicherheit zu gewährleisten. Außerdem ist drin- 117 000 Mitarbeiter der BA müssen nicht nur auf die(C) gend eine stärkere Beteiligung der regionalen Agenturen Staatsquote aufgeschlagen werden, sondern sind ein notwendig und es müssen endlich feste Qualitätsstan- schier unüberschaubarer und unregierbarer „Verein“. Es dards her, um die Vergabe transparenter und die Ausbil- ist nur noch eine Frage der Zeit, wann diese Konstruk- dung besser zu machen, etwa im Sinne einer Zertifizie- tion zusammenbricht. rung. Anstatt weiterhin in diese ineffektive Behörde zu in- Aber nicht nur bei der Vergabe von Berufsbildungs- vestieren, wäre es angebracht, Aufgaben neu zu verteilen maßnahmen muss reformiert werden. Die gesamte BA und zum Beispiel verstärkt die privaten Vermittler zu gehört auf den Prüfstand! Trotz neuen Namens hat sich fördern. nicht viel an der Kopflastigkeit der Agentur geändert. Die Kompetenzen müssen indie Gliederungen verteilt Derzeit hat die private Arbeitsvermittlung nicht die werden. Versicherungsfremde Leistungen, dass heißt ei- erwartete Wirkung auf die Arbeitslosenstatistik. Mit der gentlich auch alle Maßnahmen der Berufsbildung, gehö- Schaffung von Mindeststandards durch die begrüßens- ren nicht in den Angebotskatalog der BA. Diese müssten werte Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und wieder in den Zuständigkeitsbereich der Länder über- den Verbänden der Arbeitsvermittler wurde ein Grund- nommen werden, aber nur, wenn auch die Finanzierung stein für die Zukunft der privaten Vermittlung gelegt. gesichert ist. Allerdings muss das Instrument der Vermittlungsgut- Es ist höchste Zeit, Überregulierungen abzubauen.scheine auf den Prüfstand gestellt werden. Es ist bisher Dabei sollte auch über weitere Privatisierungen nachge- nur wenig erfolgreich – nur 7 Prozent der ausgegebenen dacht werden. Die Bundesagentur muss ihre Arbeit auf Vermittlungsgutscheine sind bisher eingelöst worden. Kernaufgaben reduzieren. Dies würde eine deutlicheDer Bundesrechnungshof stellt fest, dass die Hälfte der Verschlankung dieser Mammutbehörde ermöglichen.vermittelten Arbeitsverhältnisse gerade einmal sechs Damit einhergehende Einsparungen könnten mittels Bei- Monate bestanden haben. Laut Bundesrechnungshof lie- tragssenkungen an die Versicherten weitergegeben wer- gen in knapp einem Drittel der Fälle Anhaltspunkte für den. Positiver Nebeneffekt wäre ein Sinken der Lohnne- eine missbräuchliche Inanspruchnahme oder für Mitnah- benkosten, deren Höhe das eigentliche Kardinalproblem meeffekte vor. in Deutschland ist. Täte dies die BA, würde sie ihren Na- Insgesamt sind bereits im ersten Jahr 12,5 Millionen men endlich wieder zu Recht tragen: Bundesagentur für Euro für die Herstellung von nicht eingelösten Gutschei- Arbeit. nen und missbräuchlicher Verwendung von der BA auf- Die Betreuung der Langzeitarbeitslosen sollte zu-gewendet worden. (B) künftig dezentral in Jobcentern, die den Sozialämtern Es ist also dringend geboten, darüber nachzudenken, (D) angegliedert wären, erfolgen. Langzeitarbeitslosigkeit ist ob dieses Arbeitsmarktinstrument über den 31. Dezem- ein sehr komplexes Problem, das weit über den Jobver- ber 2004 hinaus verlängert werden soll oder ob andere lust hinausgeht. Mit diesen Problemen kennen sich die Instrumente erfolgreicher wären. Auch hier muss eine kommunalen Sozialämter bestens aus. Das kann nur vor schnelle Entscheidung getroffen werden, um Planungssi- Ort und nicht in einer Großbehörde geregelt werden. Als cherheit für die privaten Vermittler zu gewährleisten. Es Beispiel können uns hier die Niederlande dienen. Mitsei denn, sie möchte private Vermittler überhaupt nicht knapp 16 Millionen Einwohnern erledigen sie diese Auf- beteiligen. Dann muss man das aber auch offen sagen. gabe dezentral in den Kommunen. Glauben wir ernst- haft, dass Deutschland als 80-Millionen-Volk das mittels Bei Beibehaltung des Gutscheins müssen Abschläge einer unbeweglichen Zentralbehörde besser könnte? bei Nichtannahme einer Beschäftigung her, ähnlich wie beim Arbeistlosengeld II. Wenn ein Arbeitsplatz nachge- Damit die Kommunen diese Aufgabe auch überneh- wiesen worden ist, der Klient ihn aber nicht annimmt, men können, muss der Bund sie mit den notwendigen gibt es bei der BA Sanktionen, die privaten Vermittler finanziellen Mitteln ausstatten. Hier hat zwar Bundes- müssen dieses Verhaltensrisiko allein tragen. Die Befris- minister Clement neuerlich Finanzzusicherungen ange- tung der Geltungsdauer der Gutscheine auf drei Monate sprochen. Aber keiner vonuns weiß, ob das nicht nur bringt den Arbeitsagenturen nur zusätzliche Arbeit. Sie wiede reine Ankündigungen und Nebelkerzen sind. gilt es zu verlängern, um den Verwaltungsaufwand ein- Doch Rot-Grün versucht die Kommunen mit dem ak- zuschränken. tuellen Optionsmodell abzuspeisen. Statt wie angekün- Doch auch bei Umsetzung dieser Änderungen werden digt die eigenverantwortliche Betreuung der Langzeitar- sich die Arbeitslosenzahlen nicht gravierend verändern. beitslosen durch die Kommunen zuzulassen, wird ihnen Grund dafür ist die zu geringe Wachstumsdynamik, die mit der „Organleihe“ lediglich angeboten, ihre Beamten hohe Regulierungsdichte und die hohe Abgabenbelas- und Angestellten in den Sozialämtern an die Bundes- tung sowie die Defizite in der Bildung allgemein. Daher agentur für Arbeit auszuleihen. Das ist keine echte Wahl- brauchen wir eine Politik, die mehr bietet als halbherzige möglichkeit und bedeutete gleichzeitig einen Wortbruch Reformen und Showeinlagen. Wir brauchen endlich wie- der Bundesregierung gegenüber dem Ergebnis des Ver- der Dynamik und Wachstum. Nur so wird Beschäftigung mittlungsausschusses. Für die Verwaltung der Hilfe-geschaffen! empfänger werden 40 950 Stellen notwendig. Somit würde die BA von derzeit schon 91 000 Mitarbeitern Das ist mit dieser Regierung wohl nicht mehr zu ma- nochmals um 26 000 Mitarbeiter vergrößert. Die dann chen. Durch ihre Zickzackpolitik – rein in die Kartof- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10267

(A) feln, raus aus den Kartoffeln – verschreckt sie Investo- als ärgerlich ist auch der Vertrauensverlust in den Kom- (C) ren, die hier Arbeitsplätze schaffen wollen, genauso wie munen, den die BA damit verursacht hat. Die Vorstel- mit dem Ausufern der Bürokratie. Diese potenziellen In- lung, es könnte bei der Schuldnerberatung, der Drogen- vestoren werden davon abgehalten, durch Wachstum Be- beratung und den psychosozialen Diensten ähnlich schäftigung und damit den Aufschwung zu schaffen. zugehen wie bei der PSA-Ausschreibung, lässt die freie Wohlfahrtspflege in den Gemeinden wie die Sozialde- Bestes Beispiel ist der gigantische Moloch der BA, zernenten gleichermaßen schaudern. der Tag für Tag mehr aus dem Ruder läuft. Es ist ein Elend, was diese Regierung mit unserem Land macht. Leider sind die falschen Gewichtungen auch bei der Vergabe von Trainingsmaßnahmen nach den §§ 37 Gestern sagte mir ein Kollege, dass er gesehen habe, und 48 SGB III gesetzt worden. Zu große Loszuschnitte dass schon Vögel mit dem Rücken nach unten fliegen, in Verbindung mit einem Übergewicht der kurzsichtigen da sie das Chaos, das die Bundesregierung anrichtet,Kostenorientierung haben dazu geführt, dass allein in nicht mehr mit ansehen könnten. NRW 40 Prozent der regionalen und örtlichen Anbieter ohne Zuschlag geblieben sind. Im Agenturbezirk Essen Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Be- ist kein einziger örtlicher Träger zum Zug gekommen. reits mit den beiden ersten Hartz-Gesetzen waren erheb- Es hat ein in der Stadt völlig unbekannter Anbieter aus liche Veränderungen der Förderstrukturen des SGB III Nordhorn den Zuschlag erhalten, der nicht einmal über und der Bundesagentur für Arbeit (BA) verbunden: För- ein Büro vor Ort – geschweige denn Personal – verfügt. dermittel in der Gründungsförderung werden direkt an Arbeitslose ausgereicht, Bildungsgutscheine wurden Diesen Zustand kritisieren Sie von der Union und die- ausgegeben, langfristige Weiterbildungen abgebaut, kurz- sen Zustand haben wir von den Koalitionsfraktionen hef- fristige Integrationsmaßnahmen verstärkt, Ausschrei-tig kritisiert, mit Erfolg, wie nun erste Änderungen in der bungsverfahren neu gestaltet und eine zentrale Einkaufs- Ausschreibungspraxis der BA zeigen. Die Loszuschnitte politik entwickelt. wurden verkleinert, das Qualitätskriterium wird nun mit bis zu 60 Prozent gewichtet und die Anbieter müssen Dass eine Neugestaltung der Instrumente wie auch Referenzen und vorhandene Kompetenz vor Ort nach- der Vergabepraxis sinnvoll ist, wird im Grundsatz von weisen. Zudem sind die lokalen Agenturen an der Leis- niemandem bestritten – auch nicht von den Anbietern tungsbeschreibung stärker beteiligt als zuvor. Insofern von Beschäftigungs- oder Bildungsmaßnahmen, die völ- ist Ihr Antrag nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit. lig zu Unrecht von Leuten wie Herrn Niebel als „Ar- beitslosenindustrie“ diffamiert werden. Eine genauere Der Antrag der Koalitionsfraktionen hingegen wid- met sich den tatsächlichen gegenwärtigen und künftigen (B) Analyse der Preise und Angebote durch die BA hat ge- (D) zeigt, dass für inhaltlich und quantitativ gleiche Leistun- Problemen bei der Entwicklung der Ausschreibungspra- gen in den verschiedenen Agenturbezirken unterschied- xis. Wir wollen keinen Ausschluss der gemeinnützigen liche Preise gezahlt wurden. Dies ist ein Ergebnis, das Träger bei den Vergabeverfahren und eine entsprechende nicht nur für einen Leistungsvergleich, wettbewerbliche Änderung der VOL. Wir wollen eine Sicherstellung von Verfahren und einen zentral organisierten EinkaufQualitätsmerkmalen bei der Leistungsbeschreibung und spricht. Es spricht auch gegen eine Kommunalisierung eine Beteiligung der Träger – etwa bei der Erstellung der Arbeitsmarktpolitik, wie sie mit Vehemenz immer von Fachkonzepten, die der Ausschreibung zugrunde wieder von der Opposition gefordert wird, liegen. Gleichzeitig setzen wir ein deutliches Signal für die Jugendlichen, die zu Beginn des Ausbildungsjahres Zu unser aller Entsetzen – ich glaube, ich kann dieim September auf einen Platz in einer berufsvorbereiten- Antragsteller der Union hier mit einschließen – mussten den Maßnahme angewiesen sind, und für diejenigen wir jedoch feststellen, dass die Bundesagentur für Arbeit Menschen mit Behinderungen, die Leistungen der beruf- in der Hoffnung auf schnelle Einsparungen die Aus-lichen Rehabilitation in Anspruch nehmen müssen. Die schreibungen übers Knie gebrochen und zunächst nur Sicherstellung des pünktlichen Beginns der berufsvorbe- auf den Preis als entscheidendes Vergabekriterium ge- reitenden Maßnahmen und der Verzicht auf Ausschrei- achtet hat. Die Qualität der Maßnahmen, die Veranke- bung bei Leistungen nach § 35 SGB IX sind Forderun- rung der Träger vor Ort, ihre Ausstattung, ihr Kontakt zu gen, die man in dieser utlichkeit De in Ihrem Antrag lokalen Arbeitgebern, ihr Erfahrungswissen und das Vor- vergeblich sucht. handensein von qualifiziertem Personal – all dies wurde dem Kostenargument untergeordnet. An dieser Stelle muss ich allerdings auf eine Äuße- rung des Herrn Clement eingehen, die in der nächsten Das Ergebnis dieser Art von Ausschreibung lässt sich Ausgabe des Magazins „Spiegel“ nachzulesen sein wird. am besten am traurigen Beispiel der Pleite des PSA-An- Den Umbruchproblemen im Bereich der Ausschreibun- bieters „Maatwerk“ besichtigten: Im Endeffekt ist das gen soll begegnet werden, indem Gutscheine für Geld für die Eingliederung ohne Ergebnis verbrannt – Beschäftigungs- und Bildungsmaßnahmen ausgegeben zulasten vieler seriöser Anbieter, die mit ihren Erfahrun- werden sollen. Für den Bereich der berufsvorbereitenden gen vor Ort, ihrem Personal und ihrer Infrastruktur zwar Maßnahmen wäre dies allerdings völlig untauglich. Wer teurer, aber wirkungsvoller hätten agieren können.auch nur einmal eine Bildungseinrichtung besucht hat, Schlimmer noch sind die Folgen für die betroffenen Ar- die das berufsvorbereitende Jahr durchführt, weiß: Diese beitnehmer, die große Hoffnungen in das neue Instru- Jugendlichen, die zum Teil mit Lernbehinderungen zu ment der Personal-Service-Agentur gesetzt hatten. Mehr kämpfen haben, sind mit einer eigenständigen Suche 10268 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

(A) nach einem Träger völlig überfordert. Die Ausgabe von gen, bisherigen Ergebnisse oder Referenzen interessie- (C) Bildungsgutscheinen in diesem Bereich würde dazu füh- ren in den Ausschreibungen nicht. Die Vergabe ist ren, dass uns zehntausende Jugendliche, die Hilfe drin- undurchsichtig, und die Qualität scheint Nebensache zu gend nötig haben, schlichtweg verloren gehen. Dahersein. Bewährte mittelständische Strukturen und Netz- sind Vorüberlegungen zur Ausgabe von Gutscheinen in werke werden zerstört, die über Jahre hinweg aufgebaut diesem Bereich überflüssig und sie sind bereits vor eini- wurden. Durch die neue Vergabepraxis werden die gen Wochen von den Koalitionsfraktionen verworfenSteuerungsmöglichkeiten der Kommunen stark einge- worden. schränkt. Vor allem bei der Betreuung Jugendlicher dro- hen erhebliche Verschlechterungen. Ein eng abgestimm- Dieses Beispiel macht deutlich, dass wir alle – und tes Verfahren zwischen der Stadt und den anderen insbesondere die Fachabgeordneten der Sozial- und Ar- Beteiligten wird bei jährlich wechselnden Anbietern beitsmarktpolitik – Regierung und BA beim Umbauschwerer. konstruktiv-kritisch begleiten müssen. Schließen Sie sich uns an! Es wird zwar behauptet, dass die Qualität der Maß- nahmen wichtig ist. Kriterien gibt es dafür aber keine. Tatsächlich sind allein die Kosten entscheidend. Auf der Dirk Niebel (FDP): Nach den neuen Vergabeverfah- Strecke bleiben dabei kleineund mittlere Anbieter auf ren der Bundesagentur für Arbeit wird eine Vielzahl von örtlicher Ebene wie Caritas, Kolping und Diakonie, die Maßnahmen und Modulen zu großen Losen teilweise für sich bisher besonders um Menschen mit mehrfachen mehrere Regionen zusammengefasst, angeblich um ein- Vermittlungshemmnissen gekümmert haben, aber auch heitliche Standards zu schaffen und um die Produkteandere private Institute. Oft werden sie als Subunterneh- wirtschaftlicher einzukaufen. Damit werden Kartelle ge- mer angeheuert, weil weder genügend Räume noch Per- stärkt, weil aufgrund der Größe der Lose und der Eilig- sonal zur Verfügung stehen, um den Großauftrag abzu- keit des Verfahrens nur große Unternehmen zum Zuge wickeln. Bei den finanziellen Konditionen leben sie von kommen. Dies wirkt sich eklatant zum Nachteil undder Hoffnung, bis zur nächsten Ausschreibung über die existenzgefährdend für die kleinen und mittleren Unter- Runden zu kommen. Sie könnten nach eigenen Angaben nehmen auf regionaler Ebene aus. natürlich auch ihre Qualitätsstandards senken, um kon- Die Reinigung von 1 800 Liegenschaften der Bun-kurrenzfähig zu bleiben. desagentur im Bundesgebiet wurde in sieben Losen an Experten schätzen, dass bei den Weiterbildungsträ- zwei Betriebe neu vergeben, davon soll einer sechs Lose gern über ein Drittel der Arbeitsplätze bedroht ist. Sicher erhalten haben. Details sind nicht erhältlich, aber offen- haben sich die Weiterbildungsunternehmen viel zu spät sichtlich wurde ausschließlich der niedrigste Preis alsauf die neuen Verhältnisse eingestellt. Seit 2003 bekom- (B) (D) einziges Vergabekriterium zugelassen, ohne tariflichemen Arbeitslose einen Bildungsgutschein, mit dem sie Mindeststandards abzufragen. Dieser eine Betrieb soll, sich ihren Weiterbildungsträger selbst aussuchen kön- wie man aus der Branche hört, gar nicht über eine ausrei- nen. Auf der einen Seite sind viele Arbeitslose überfor- chende Anzahl an Personal für den Auftrag verfügen. dert, das passende Angebot für sich zu finden. Auf der Von vornherein waren die staatlichen Beschäftigungs- anderen Seite wird den Trägern das Überleben zusätzlich gesellschaften PSA zum Abbau der Arbeitslosigkeit un- erschwert, da keiner weiß, ob Teilnehmer zu den Kursen tauglich. Der größte PSA-Betreiber Maatwerk hat inzwi- kommen. Betroffen sind hier wieder die kleinen Anbie- schen Insolvenz angemeldet. Maatwerk hat in manchen ter, die sich keine Werbung leisten können. Aber auch Regionen flächendeckend den Zuschlag erhalten, ob-große Unternehmen, die über Jahre eng mit dem Arbeits- wohl die Firma weder über die nötige Markterfahrung amt kooperiert hatten, müssen nun um jeden Arbeitslo- verfügt noch über gute Netzwerke mit der einheimischen sen mit Gutschein kämpfen. Wirtschaft, Referenzen über erfolgreiche Zeitarbeitspro- Hier ist neben mangelnder Transparenz die immer jekte oder vergleichbare Erfahrungen vorweisen konnte. noch ungeklärte Zertifizierung ein Hauptproblem in der Maatwerk hatte aber den Vorteil geboten, besonders kos- Praxis. tengünstig zu sein und sich auf eine unklare Definition der Zielgruppe einzulassen, die von Mitbewerbern abge- Bei der Vergaberunde für die berufsvorbereitenden lehnt wurde. Maßnahmen für Jugendliche hat die BA angekündigt, die regionalen Lose zu verkleinern und einen Teil der Die Weiterbildungsträger konnten sich jahrzehntelang Maßnahmen für gemeinnützige Träger frei zu vergeben. auf den automatischen Zufluss von hohen Zuwendungen Damit reagiert sie auf eine Entscheidung des OLG Düs- verlassen. Die finanzielle Versorgung durch die Arbeits- seldorf, das die gemeinsame Ausschreibung für private agenturen funktionierte, weil man wusste, was man an- und freie Träger beanstandet hat. Auch BA-Vorstand einander hatte. Nach dendrastischen Einschnitten von Jürgen Weise hatte im Ausschuss für Wirtschaft und Ar- 20 Prozent im letzten Jahr sollen in diesem Jahr die Mit- beit angekündigt, bei der Vergabepraxis regionale Be- tel für Arbeitsmarktförderung noch einmal um 12 Pro- lange stärker zu berücksichtigen. zent reduziert werden. Dennoch scheint das keine faktische Konsequenz zu Bei den Vergabeverfahren setzt die BA bevorzugt auf haben. Die Regionaldirektionen haben zwar Ausschrei- Billiganbieter mit flächendeckendem Angebot. Kritisiert bungen aufgrund der anhängigen Rügen zurückgezogen. wird vor allem, dass sich Träger nicht mehr vor Ort um Aber in Rheinland-Pfalz wird zum Beispiel mit den Ge- einzelne Maßnahmen bewerben können. Ihre Erfahrun- winnern der als vergaberechtswidrig eingestuften Aus- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10269

(A) schreibung nun in freihändiger Vergabe über die Durch- ren Seite der Medaille steht die Frage der Qualität. Wirt- (C) führung von Trainingsmaßnahmen verhandelt. Dabeischaftlichkeit und Qualität gehören untrennbar zusam- werden die örtlichen Anbieter weiterhin ausgeschlossen. men. Es ist deshalb keinesfalls so, dass der billigste Diese können ihren Bedarf bis Ende August an die Re- Anbieter den Zuschlag erhält. Zum Zuge kommt derje- gionaldirektion melden, danach ist eine neue Ausschrei- nige, der für ein den Qualitätsanforderungen genügendes bung geplant. Das ist rechtlich kaum angreifbar, weil die Produkt den besten Preis macht. Die Frage der Qualität BA in der Zwischenzeit handeln muss. Aber richtig ist es wird anhand von realitätsnahen Kriterien abgeprüft, rea- deswegen noch lange nicht. Diese Praxis ist übrigenslitätsnah, weil sie mithilfe der Agenturen für Arbeit auf- bundesweit geplant. gestellt worden sind, die ihren Sachverstand und die regionalen Bedarfe in die Leistungsbeschreibungen ein- Die Beitragszahler zur Arbeitslosenversicherung for- gebracht haben. dern von der BA eine effiziente Verwaltung ihrer Mittel. Aber je länger sich diese Vergabepraxis hinzieht, desto Es stimmt im Übrigen auch nicht, dass kleinere An- mehr kleine und mittlere Unternehmen werden in ihrer bieter durch die zentralen Ausschreibungen benachteiligt Existenz bedroht. Gestärkt wird wieder einmal die eta- würden: Nach den Ergebnissen der Ausschreibungen zu blierte Arbeitslosenindustrie. Davon profitieren die übli- den Trainingsmaßnahmen und der Vermittlung durch chen Verdächtigen. Das System funktioniert und weiß Dritte wurden circa 40 Prozent der Angebote durch Bie- Störungen zu beseitigen. Wir fordern die Verantwortli- tergemeinschaften, also Zusammenschlüsse kleinerer chen in der BA auf, für klare Verhältnisse zu sorgen und Anbieter, abgegeben. Offenbar ist es diesen Gemein- den regionalen Anbietern auf dem Weiterbildungsmarkt schaften gelungen, die in Ihrem Antrag beschriebenen eine echte Chance zu geben. Hürden zu überwinden. Sie fordern die Bundesregierung ferner auf, Konzepte Rezzo Schlauch (Parl. Staatssekretär beim Bundes- über die zukünftige Politik der Bundesagentur für Arbeit minister für Wirtschaft und Arbeit): Ihnen liegen heute vorzulegen und die Zielrichtung der Bundesregierung zwei Anträge zur Ausschreibungspraxis der Bundes-bei der Arbeitsmarktpolitik zu beschreiben. Hier ist zu- agentur für Arbeit zur Abstimmung vor. Der Antrag der nächst die Bundesagentur für Arbeit am Zuge. Der Vor- Opposition datiert von Ende März 2004, der der Regie- stand der Bundesagentur wird seine Vorstellungen in ei- rungskoalition von Ende Mai 2004. Daran kann man er- gener Verantwortung entwickeln. Das ist die klare kennen, wie unterschiedlich Opposition und Regierungs- gesetzliche Aufgabenzuweisung, die keinerlei Spiel- fraktionen Sachprobleme angehen. räume lässt. Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Ich werde deshalb hier nicht öffentlich darüber nach- (B) haben zunächst etwas aufgeschrieben und dann abge-denken, welche Maßnahmen die Bundesagentur (D) im wartet, bis es von der Realität überholt wird. Wir haben nächsten Jahr fordern wird, erst recht nicht im Hinblick erst gehandelt und dann eine saubere Bilanz mit allenauf Weiterbildungsmaßnahmen; denn diese Maßnahmen notwendigen Folgerungen gezogen. Diese Bilanz steht werden überhaupt nicht ausgeschrieben, sondern den in dem Ihnen vorliegenden Antrag von SPD und Bünd- Teilnehmern über das Instrument des Bildungsgut- nis 90/Die Grünen. Er ist auf dem Laufenden und greift scheins ermöglicht. nur die wirklichen Probleme auf. Das kann man von dem Antrag der Opposition nicht sagen; denn er ist überholt Die Bundesregierung ist am Zuge, wenn es um die und hätte eigentlich zurückgezogen werden müssen. Sie Klärung rechtlicher Zweifelsfragen im Vergaberecht haben immer noch die Möglichkeit, dies nachzuholen. geht. Solche Fragen hat es bei den Ausschreibungen der berufsvorbereitenden Maßnahmen gegeben. Wir haben Die fehlende Aktualität ist deutlich belegt. Sie lässt uns sehr schnell mit der Bundesagentur zusammenge- sich an vielen Punkten festmachen. Wegen der Kürze der setzt und für die nötige Klarheit gesorgt. Dabei sind die Zeit möchte ich nur auf die wesentlichen Punkte einge- Urteile des Oberlandesgerichts Düsseldorf aus dem De- hen: zember 2003 und die Entscheidung der 1. Vergabekam- mer des Bundeskartellamts vom 13. Mai 2004 selbstver- Es versteht sich von selbst, dass eine Zentralisierung ständlich berücksichtigt worden. Konkret bedeutet dies, der Ausschreibung von Maßnahmen, so wie sie die Bun- dass auch die gemeinnützigen privaten Träger, die über desagentur jetzt vorgenommen hat, zu Konsequenzendie steuerlichen Regelungen hinaus keine weiteren Vor- führt, übrigens zu Konsequenzen, die Sie, meine Damen teile genießen, sich an den öffentlichen Ausschreiben und Herren von der Opposition, immer wieder eingefor- beteiligen dürfen. Die Bundesagentur hat die erforderli- dert haben. Die Bundesagentur rechnet im Rahmen der chen Anpassungen im Vergabeverfahren vorgenommen geänderten Ausschreibungsverfahren mit Einsparungen und die Angebotsfristen verlängert. zumindest im zweistelligen Millionenbereich, und das bezieht sich nur auf die abgeschlossenen Verfahren im Ich bin zuversichtlich, dass rechtzeitig zu Beginn des Bereich der Vermittlung durch Dritte und der Trainings- neuen Ausbildungsjahres im September/Oktober 2004 maßnahmen. für die jungen Schulabgänger die berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen zur Verfügung stehen werden. Der finanzielle Aspekt ist aber nur die eine Seite der Medaille. Wir sehen das nicht so einseitig wie die Oppo- Meine Damen und Herren von der Opposition, hören sition, die ja bekanntlich 8Milliarden Euro im Bereich Sie bitte damit auf, unnötig Verunsicherung bei den jun- der Arbeitsmarktpolitik einsparen möchte. Auf der ande- gen Menschen und ihren Eltern zu schaffen, indem Sie 10270 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

(A) die Funktionsfähigkeit der Ausschreibungen infrage stel- auch der Deutsche Anwaltsverein in seiner jüngsten(C) len. Die bisherigen Erfahrungen haben gezeigt, dass die Stellungnahme vom Mai dieses Jahres dem vorliegenden Bundesagentur die notwendigen Veränderungen flexibel Gesetzentwurf eine „wirkungslose Abschreckungsstrate- gehandhabt hat. Ich bin mir sicher, dass sie diese Praxis gie“ bescheinigt, welche die Probleme für die Opfer und auch in Zukunft fortsetzen wird. die Gesellschaft verstärken statt lösen werde. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf Anlage 4 die Ergebnisse der erstmals vom Bundesministerium der Justiz herausgegebenen kommentierten Rückfallsta- Zu Protokoll gegebene Rede tistik. Dort (Seite 55) findet sich folgende Feststellung: zur Beratung: „Extrem hoch ist die Rückfallbelastung der nach einer verbüßten Jugendstrafe Entlassenen: 78 Prozent werden – Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung erneut straffällig und noch 45 Prozent kehren wieder in der Bekämpfung der Jugenddelinquenz den Vollzug zurück. Mit der zweithöchsten Rückfallrate – Beratung des Antrags: Jugendstrafvollzug sowie einem vergleichsweise hohen Anteil stationärer verfassungsfest gestalten Folgeentscheidungen schneidet hier der Jugendarrest nach § 16 JGG auffällig ungünstig ab.“ Wer angesichts (Tagesordnungspunkt 25 und Zusatztagesord- dieser Ergebnisse, die für Praktiker der Jugendstraf- nungspunkt 14) rechtspflege ja nicht neu sind, unverdrosssen auf noch mehr Einsperren setzt, muss sich sagen lassen, dass er Erika Simm (SPD): Nach dem Motto „Alle Jahre entweder keine Ahnung von den Ursachen und Bekämp- wieder“ beschäftigen wir uns heute mit einem Gesetz- fungsmöglichkeiten der Jugendkriminalität hat oder aber entwurf zur Verschärfung des Jugendstrafrechts, für den vordergründig populistischen Forderungen zuliebe sämt- die CDU/CSU-Fraktion und bestimmte B-Länder – allen liche seit Jahrzehnten auf diesem Gebiet vorliegenden voran Bayern – seit 1998 schon mehrmals – ich schätze, empirischen und kriminologischen Erkenntnisse böswil- es gab rund acht solche Initiativen – keine Mehrheit ge- lig ignoriert. funden haben. Wir werden diesen Gesetzentwurf auch diesmal wieder ablehnen. In diesen Zusammenhang passt es, dass CSU-Politi- ker landauf, landab fordern, die Kosten der Jugendhilfe Weder sind die vorgesehenen Verschärfungen sachge- müssten gesenkt werden. Seit vielen Jahren bewährte recht – das haben frühere Anhörungen ergeben – noch ambulante Maßnahmen wie soziale Trainingskurse und sind sie erforderlich – das Jugendstrafrecht bietet ein (B) Betreuungsweisungen werden aus Kostengründen zur(D) ausreichendes Instrumentarium – noch sind sie durch die Disposition gestellt. Stattdessen setzt man auf Abschre- Kriminalitätsentwicklung im Bereich der Jugenddelin- ckung und Wegsperren. Dies, liebe Kollegen und Kolle- quenz gerechtfertigt. ginnen von der CDU/CSU, ist die Rolle rückwärts in der Wie auch früher schon, wird in der Begründung des Jugendstrafrechtspolitik. Auf diesem Weg werden wir Gesetzentwurfs behauptet, die Jugendkriminalität seiIhnen nicht folgen. Sie mögen in wechselnden Rollen seit Beginn der neunziger Jahre ständig angestiegen. Das Ihre ärgerlichen Anträge zu diesem Thema noch so oft ist, wie die jüngste Kriminalstatistik beweist, falsch. Die stellen, wir werden sie immer und immer wieder ableh- polizeiliche Kriminalstatistik für 2003 belegt vielmehr, nen. dass nach einer Spitze im Jahr 1997 – wer damals regiert hat, wissen Sie – seit 1998 die Zahl der Taten bei der Gruppe der tatverdächtigen Kinder um 17 Prozent und Anlage 5 bei den tatverdächtigen Jugendlichen um 19 Prozent ge- sunken ist. Wie man angesichts dieser Zahlen immer Amtliche Mitteilungen noch und unverdrossen von einem stetigen Ansteigen der Jugendkriminalität sprechen kann, ist mir unerfind- Der Bundesrat hat in seiner 799. Sitzung am 14. Mai lich. Ich würde mir etwas mehr Seriosität im Umgang 2004 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzu- mit diesem Thema wünschen. stimmen, einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2 Grundgesetz nicht zu stellen bzw. einen Einspruch ge- Genauso hartnäckig ignorieren die Initiatoren dieses mäß Artikel 77 Absatz 3 nicht einzulegen: Gesetzentwurfes, dass ihre gebetsmühlenartig wieder- holten Änderungsvorschläge zum Jugendstrafrecht– Zweites Gesetz zur Vereinfachung der Wahl der – Fahrverbot als Hauptstrafe, Einstiegsarrest, Erwachse- Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat nenstrafrecht für Heranwachsende, Erhöhung des Höchstmaßes der Jugendstrafe auf 15 Jahre, Haftbefehl – Gesetz zur Umsetzung des Beschlusses des Rates im vereinfachten Verfahren – in der Fachöffentlichkeit (2003/725/JI) vom 2. Oktober 2003 zur Änderung auf breiteste Ablehnung stoßen. Sie wurden und werden von Artikel 40 Abs. 1 und 7 des Übereinkommens vom Deutschen Jugendgerichtstag, der Deutschen Verei- zur Durchführung des Schengener Übereinkom- nigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen, mens vom 14. Juni 1985 betreffend den schritt- dem Deutschen Juristentag, der AGJ, den Freien Trägern weisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsa- der Wohlfahrtspflege weitestgehend abgelehnt. So hat men Grenzen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004 10271

(A) – Gesetz zu der in Rom am 17. November 1997 an- Der Vermittlungsausschuss hat in seiner 29. Sitzung (C) genommenen Fassung des Internationalen Pflan- zu dem vom Deutschen Bundestag am 1. April 2004 be- zenschutzübereinkommens schlossenen

– Gesetz zum Zusatzabkommen vom 15. Oktober Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb 2003 zu dem Abkommen vom 4. Oktober 1954 (UWG) zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich zur Vermeidung derdas Verfahren ohne Einigungsvorschlag abgeschlos- Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Erb-sen. schaftsteuern Der Vermittlungsausschuss hat in der Fortsetzung sei- – Gesetz zu dem Übereinkommen vom 19. August ner 24. Sitzung am 26. Mai 2004 folgenden Einigungs- 2002 zwischen den Vertragsstaaten des Überein- vorschlag beschlossen: kommens zur Gründung einer Europäischen Das vom Deutschen Bundestag in der seiner 97. Sit- Weltraumorganisation und der Europäischen zung am 11. März 2004 beschlossene Weltraumorganisation über den Schutz und den Austausch geheimhaltungsbedürftiger Informa- Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses tionen über den Europäischen Haftbefehl und die Über- gabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der – Gesetz zu dem Vertragvom 13. Mai 2002 zwi- Europäischen Union (Europäisches Haftbefehls- schen der Bundesrepublik Deutschland und Ka- gesetz – EuHbG) nada über die Rechtshilfe in Strafsachen wird bestätigt. – Gesetz zu dem Zusatzvertrag vom 13. Mai 2002 zu dem Vertrag vom 11. Juli 1977 zwischen der Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben Bundesrepublik Deutschland und Kanada über mitgeteilt, daß der Ausschuss die nachstehenden EU- die Auslieferung Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Bera- – Gesetz zu dem Protokoll Nr. 13 vom 3. Mai 2002 tung abgesehen hat. zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die vollständige Ab- schaffung der Todesstrafe (B) Auswärtiger Ausschuss (D) Drucksache 15/1547 Nr. 2.40 – Gesetz zu dem Protokoll betreffend die Verringe- Drucksache 15/2636 Nr. 2.38 rung von Versauerung, Eutrophierung und bo- Drucksache 15/2636 Nr. 2.39 dennahem Ozon (Multikomponenten-Protokoll) Drucksache 15/2636 Nr. 2.42 vom 30. November 1999 im Rahmen des Überein- Drucksache 15/2636 Nr. 2.44 kommens von 1979 über weiträumige grenzüber- Drucksache 15/2895 Nr. 1.1 schreitende Luftverunreinigung Innenausschuss – Vierunddreißigstes Gesetz zur Änderung des Las- tenausgleichsgesetzes (34. ÄndGLAG) Drucksache 15/2104 Nr. 1.6 Drucksache 15/2519 Nr. 2.29 – Gesetz zu dem Änderungsprotokoll vom 22. Juni 1998 zum Europäischen Übereinkommen zum Finanzausschuss Schutz der für Versuche und andere wissenschaft- Drucksache 15/2793 Nr. 2.29 liche Zwecke verwendeten Wirbeltiere Drucksache 15/2793 Nr. 2.31 – Gesetz zur Durchführung von Verordnungen der Europäischen Gemeinschaft auf dem Gebiet der Haushaltsausschuss Gentechnik und zur Änderung der Neuartige Le- Drucksache 15/2793 Nr. 2.5 bensmittel- und Lebensmittelzutaten-Verordnung

– Gesetz zur Durchführung einer Repräsentativsta- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit tistik über die Bevölkerung und den Arbeits- Drucksache 15/1153 Nr. 2.40 markt sowie die Wohnsituation der Haushalte Drucksache 15/2793 Nr. 2.11 (Mikrozensusgesetz 2005 – MZG 2005) Drucksache 15/2793 Nr. 2.20 Drucksache 15/2793 Nr. 2.21 – Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Verletz- Drucksache 15/2793 Nr. 2.22 ten im Strafverfahren (Opferrechtsreformgesetz – Drucksache 15/2793 Nr. 2.23 Drucksache 15/2793 Nr. 2.30 OpferRRG) Drucksache 15/2793 Nr. 2.37 Drucksache 15/2895 Nr. 1.6 – Telekommunikationsgesetz (TKG) Drucksache 15/2895 Nr. 2.5 10272 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

(A) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Drucksache 15/2519 Nr. 2.30 (C) Landwirtschaft Drucksache 15/2519 Nr. 2.47 Drucksache 15/2519 Nr. 2.50 Drucksache 15/2793 Nr. 2.24 Drucksache 15/2636 Nr. 2.2 Drucksache 15/2793 Nr. 2.33 Drucksache 15/2636 Nr. 2.11 Drucksache 15/2793 Nr. 2.42 Drucksache 15/2636 Nr. 2.18 Drucksache 15/2895 Nr. 1.2 Drucksache 15/2895 Nr. 2.6 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Drucksache 15/2636 Nr. 2.47 Reaktorsicherheit Drucksache 15/2895 Nr. 1.3 Drucksache 15/2447 Nr. 2.10 Drucksache 15/2447 Nr. 2.12 Ausschuss für Kultur und Medien Drucksache 15/2447 Nr. 2.14 Drucksache 15/2519 Nr. 2.4 Drucksache 15/2793 Nr. 2.1

(B) (D)

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