Die Bedeutung Peripher Wirkender Neurotoxine Zur Erforschung Neurophysiologischer Prozesse Carlo G
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Vierteljahrsschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich (1987) 132/4: 191-258 Die Bedeutung peripher wirkender Neurotoxine zur Erforschung neurophysiologischer Prozesse Carlo G. CaratsCh, Universität Zürich Die vorliegende Arbeit ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil wird eine Übersicht über die peripher wirkenden Neurotoxine (NT) und eine Charakterisierung dieser Wirkung gegeben. Je nach Typ ihrer spezifischen toxlschen Aktivität werden die NT in drei Gruppen eingeteilt: (I) präsynaptisch wirkende NT, (II) postsynaptisch wirkende NT – zwei Gruppen, die hauptsächllch an den neuromuskulären Synapsen wirken – und (HI) NT mit Wirkung auf Ionen-Kanäle, besonders auf die Natrium-Kanäle erregbarer Membranen. Im zweiten Teil wird über eigene Arbeiten berichtet, die eine Analyse des Wirkungsmechanls- mus von [3-Bungarotoxin (13-BuTx), einem präsynaptisch wirksamen Schlangen-NT, zum Ziel hat- ten. Die komplexe triphasische Wirkung von (3-BuTx wurde mit immunologischen und haupt- sächlich elektrophysiologischen Methoden in detail analysiert. The importance of peripherally acting neurotoxins for the investigation of neurophysiological pro- cesses This essay is divided into two parts. The first part contains a survey of the peripherally acting neurotoxins (NT) and a characteri- zation of their effects. According to their specific activity the NT are classified in three groups: (I) presynaptically acting NT, (H) postsynaptically acting NT – two groups which take effect mainly on neuromuscular junctions – and (HI) NT with an effect on ionlc channels, especially on the sodium channel of excitable membranes. The second part is a report on studies of my own in order to analyze the mechanism of action of p-Bungarotoxin ((3-BuTx), a presynaptically acting snake neurotoxin. The complex action of p- BuTx was studied in detail with immunological and particularly electrophysiological techniques. 1 Übersicht über peripher wirkende Neurotoxine l.1 Definition des Begriffes «peripher wirkende Neurotoxine» Wenn von Neurotoxinen gesprochen wird, so können verschiedene Personen, je nach Muttersprache, Ausbildung und Arbeits- oder Forschungs-Richtung, darunter etwas VersChiedenes verstehen. Weil das Gebiet der Substanzen, die eine toxische Wirkung auf das Nervensystem haben, enorm gross ist (man denke nur an die Neurotoxizität von Elementen wie Blei, von Phosphorsäure- Estern als Schädlingsbekämpfungsmittel oder gewisser Antibiotica), muss der Begriff des Neurotoxins genau definiert werden. Unter Neurotoxinen – in Anlehnung an die Definition von E. Russel (1976), einem der Gründer der «International Society an Toxinology» – ver- 192 Carlo G. Caratsch stehen wir Substanzen, die toxisch auf das Nervensystem wirken und von Lebewesen, d. h. von Tieren, Pflanzen oder Mikroorganismen, produziert wur- den. Bei der vorliegenden Arbeit ist das Gebiet zusätzlich eingeschränkt, in dem nur solche Neurotoxine berüCksichtigt wurden, die «in vivo» entweder aus- schliesslich oder hauptsächlich auf das periphere Nervensystem einwirken. Entsprechend dieser Definition werden typische zentral wirkende Neuro- toxine, wie z. B. das Apamin, ein interessantes Octapeptid, gewonnen aus dem Giftstoff der Biene (Apis mellifera) (E. Habermann 1972, 1977 ; E. Habermann und K. Fischer, 1979), niCht berücksichtigt. Jedoch besitzen sehr viele peri- pher wirkende Neurotoxine, bei experimenteller Applikation am Zentral-Ner- vensystem (ZNS) ebenfalls dort eine Wirkung. Das Fehlen einer zentralen Wirkung «in vivo» beruht entweder auf der Unfähigkeit der toxischen Mole- küle, die Blut-Gehirn-Schranke zu durChdringen und ins ZNS zu gelangen, oder auf ihrer hohen Spezifizität für gewisse periphere Rezeptoren, die z. B. an der neuromuskulären Synapse lokalisiert sind. Allerdings werden in der vorliegenden Arbeit gewisse Ausnahmen gemacht. So wird in der schemati- sChen Übersicht und Charakterisierung der Neurotoxine unter den präsynap- tisCh wirksamen z. B. auch das Tetanus-Toxin wegen seiner Verwandtschaft mit dem Botulinum-Toxin kurz besprochen. Weiterhin werden in dieser Übersicht keine Neurotoxine pflanzlichen Ur- sprungs berücksichtigt, ebenfalls mit einer Ausnahme, nämliCh der Gruppe von Grayanotoxin, Veratridin und Aconitin wegen ihres dem Batrachotoxin ähnlichen Wirkungsmechanismus. So bleiben viele Wirkstoffe unerwähnt, vor allem die wichtige Gruppe der natürlichen Curare-Stoffe. Diese und später ihre synthetischen und halbsynthetischen Derivate haben in der experimentel- len Physiologie, Pharmakologie und Toxikologie eine besonders grosse Rolle gespielt und sind heute aus der Therapie (Anästhesie) nicht wegzudenken. Trotzdem, weil ihre Wirkung gut bekannt ist, wurde zur Abgrenzung des Ge- bietes die ganze Gruppe der pflanzlichen Neurotoxine niCht berücksichtigt. Als letzte Einschränkung ist noch zu erwähnen, dass das SChema der auf- geführten Neurotoxine nicht vollständig ist, es nicht sein kann: Das Gebiet der Neurotoxinologie (Lehre der Neurotoxine) ist in voller Entwicklung, und es vergeht kein Monat, ohne dass neue Neurotoxine entdeckt, chemisch ana- lysiert und in ihrer Wirkung beschrieben werden. Es wurde versucht, in der vorliegenden Aufzählung und Charakterisierung diejenigen Neurotoxine zu berücksichtigen, die unseres Wissens bis zum Frühjahr 1985 mit einiger Si- cherheit beschrieben wurden. l.2 Einteilung der peripher wirkenden Neurotoxine Die peripher wirkenden Neurotoxine bakteriellen oder tierischen Ursprungs können nach ihrem Wirkungsmechanismus in drei Gruppen und mehrere Klassen eingeteilt werden. Die Bedeutung peripher wirkender Neurotoxine zur Erforschung neurophysiol. Prozesse 193 1.2.1 Gruppe I: Präsynaptisch wirkende Neurotoxine Die Neurotoxine dieser Gruppe wirken an der präsynaptischen Seite der Synapse, d. h. sie beeinflussen den Prozess der Neurotransmittor-Freisetzung. Diese Beeinflussung kann mannigfaltig sein: Sie geht von der einfaChen Hem- mung dieser Funktion (z. B. die Wirkung des Botulinum-Toxins) über einen diphasischen Effekt mit anfänglicher Verstärkung, die später von einer Blok- kierung gefolgt ist (z. B. die Wirkung des a-Latrotoxins) bis zur komplexen Wirkung gewisser Schlangen-Neurotoxine mit einem triphasischen Effekt: an- fängliche Hemmung, sekundäre Verstärkung und tertiärer Block. Die grösste Anzahl der bis heute bekannten Toxine dieser Gruppe wirkt an den motori- schen Nervenendigungen der neuromuskulären Synapse und speziell an den Cholinergischen Nervenendigungen der Vertebraten. Nach Herkunft der einzelnen Neurotoxine kann diese Gruppe in vier ver- schiedene Klassen eingeteilt werden. Klasse 1: Bakterien-Neurotoxine (Tabelle l). Es sind dies Proteine mit einem hohen MolekulargewiCht (ca. 150000 daltons), die die Freisetzung von Neurotransmittoren hemmen. Diese Hemmung betrifft die durch Nervenreiz evozierte und die spontane, sowohl quantale als auch niCht-quantale Freiset- zung. Klasse 2: Spinnen-Neurotoxine (Tabelle 2). Es sind ebenfalls Proteine mit einem hohen Molekulargewicht (ca. 130 000 daltons). Sie bewirken anfänglich eine sehr starke Erhöhung der spontanen quantalen Freisetzung des Neuro- transmittors, der später eine Hemmung derselben und eine Blockierung der synaptischen Übertragung folgen. Klasse 3: Schlangen-Neurotoxine (Tabelle 3). Diese Proteine bestehen aus 1-3 Polypeptidketten. Die meisten dieser Neurotoxine besitzen eine markante Phospholipase A2 (PhLp A2)-Aktivität. Mit wenigen Ausnahmen weisen sie eine charakteristische triphasische Wirkung auf. Zuerst kommt es zu einer kurzen Hemmung der evozierten und spontanen Neurotransmittor-Freiset- zung, die wahrscheinlich durch die Bindung des Neurotoxins an die Mem- bran der Nervenendigung bedingt ist. Danach folgt eine sekundäre Erhöhung dieser Freisetzung und zuletzt eine durch die Entleerung der Nervenendigun- gen bedingte tertiäre Verminderung bis zur Blockierung. Die Phasen 2 und 3 werden durch die PhLp A2-Aktivität verursacht. Klasse 4: Eine «Sammelklasse» (Tabelle 4). Es werden hier präsynaptisch wirksame Neurotoxine zusammengefasst, die von anderen Tierarten (z. B. von Fischen) stammen. Ihre Wirkungen sind ebenfalls nicht direkt mit denen der Toxine der vorher besprochenen Klassen zu vergleichen. l.2.2 Gruppe II: Postsynaptisch wirkende Neurotoxine Die Neurotoxine dieser Gruppe sind an der postsynaptischen Seite der neuro- muskulären Synapse wirksam, die meisten von ihnen spezifisch an den choli- nergen motorischen Endplatten der Vertebraten. Daneben wurden in letzter 194 Carlo G. Caratsch Zeit auch solche Neurotoxine entdeckt, die spezifisch auf die neuromuskulä- ren Synapsen der Crustacea oder der Insekten wirken. Diese Gruppe kann je naCh Wirkungsort in zwei Klassen unterteilt werden: Klasse 1: Neurotoxine mit Wirkung auf den nikotinischen Acetylcholin-Re- zeptor (nAChR). Diese ist ein komplexes Molekül, bei dem funktionell zwei Teile unterschieden werden können: a) der AChR «sensu stricto», d. h. der Diskriminator oder Erkennungs- und Bindungsstelle für Agonisten. Diese befinden sich in den a-Untereinhei- ten des Rezeptors. b) der damit gekoppelte Ionen-Kanal-Modulator (Ionic channel modula- tor, ICM), der nach Bindung des Agonisten mit dem Diskriminator durch Konformationsänderungen einen Ionen-Kanal eröffnet. Dadurch können vor allem Natrium-Ionen in die Muskelzelle einströmen, und es entsteht eine postsynaptische Depolarisation (Endplatten-Potential, e.p.p., oder ein Minia- tur-Endplatten-Potential, m. e. p. p.). Neurotoxine können zwischen diesen zwei funktionellen Teilen untersChei- den. Es gibt demnach: Klasse la (Tabellen 5, 6 und 7):