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Kapitel 2 Deutsche Wege nach Timbuktu Kristina Kuhn and Wolfgang Struck - 9783846760802 Downloaded from Brill.com09/25/2021 08:38:35PM via free access Abb. 6 „Noch immer hier ...“, Heinrich Barth an seine Familie, Timbuktu, den 8. Dezember 1853 Kristina Kuhn and Wolfgang Struck - 9783846760802 Downloaded from Brill.com09/25/2021 08:38:35PM via free access (über Hamburg erh. 7.Sept. 1854) Timbukto, den 8ten Dec. 1853 Noch immer hier, in dieser Stadt ohne Herrn und mit vielen Herrn, klein nur an Umfang und doch groß an Bedeutung, noch immer hause ich hier ein Spiel- ball der Wellen hin und hergeworfen, ohne Ruh und Rast, jeder Tag bringt Neues, bald Frohes öfter Betrübendes, Tod, Gefangenschaft, frohe Rückkehr in die Heimat, dies sind die Aussichten, die mir wechselnd vor Augen schweben. Vor einigen Tagen überfallen, und bald gefangen gemacht – heute im Schutz eines der mächtigsten Tuareghäuptlinge und mit Aussicht der baldigen Ankunft ihres Oberhauptes, das mich nun hier geleiten soll, während unsere Feinde ein- geschüchtert sind und nicht wissen was sie thun sollen; gestern Abend end- lich erfreut halb verstimmt durch ein mit einer Teaterkafla angekommenes Briefpaket aus Ghadames – ohne Brief aus Europa, und es sind nun 18 Monate, daß ich Zeilen von dort gesehen habe. Da sehe ich dann zu meinem großen Er- staunen, daß, wovon ich nicht das Geringste geahnt, eine ganz neue Expedition ausgerüstet worden, um mir Vereinzeltem zu Hilfe zu kommen; nur ist mir un- begreiflich, daß man bei der Ausrüstung nicht gewußt, daß sie mich nicht mehr in Borno finden würden. Sie haben gewiß auch einige Kleinigkeiten für mich bei sich; möge Gott der Allmächtige mich bald glücklich nach Borno zurück- bringen, wo ich einige Tage mich in ihrer Gesellschaft erheitern mag, ehe ich die weitere Rückreise antrete. Aber noch weiß ich nicht, wann mir der glück- liche Tag des Aufbruches aus dieser unruhigen Stadt anbrechen wird, und kaum kann ich hoffen das Neujahr draußen auf dem Marsche zu feiern, so ungewiß ist hier Alles. Weiß Gott, was das neue Jahr mir bringt, die Hoffnung, daß der All- mächtige mich in meinem edlen Unternehmen nicht verlassen wird, hält mich aufrecht. [...]54 Was diesen Brief, den der deutsche Afrikareisende Heinrich Barth im Dezember 1853 an seine Familie schreibt, zu einem Dokument in der Geschichte der sich als wissenschaftliche Disziplin etablierenden Geographie, zu einem Dokument auch der Geschichte um Eduard Vogel und Moritz v. Beurmann werden lässt, sind zunächst einmal Ort und Zeitpunkt des Schreibens: „Timbukto, den 8ten Dec. 1853“. 54 SPA ARCH PGM 039/01, Folio 125. © Kristina Kuhn, Wolfgang Struck, 2019 | doi:10.30965/9783846760802_005 This is an open access chapter distributed under the terms of the CC BY-nc-ndKristina Kuhn 4.0 andlicense. Wolfgang Struck - 9783846760802 Downloaded from Brill.com09/25/2021 08:38:35PM via free access 48 Deutsche Wege nach Timbuktu Seit der Antike ist Timbuktu eines der Rätsel Afrikas, kursieren Legenden über eine Stadt am Rande der Welt, dort, wo sich die Wirklichkeit aufzu- lösen beginnt. Im 19. Jahrhundert hat die Welt keine Ränder mehr, an denen eine Wirklichkeit endet und eine andere – das Reich des Todes, das Reich der Mythen – beginnt, sie ist zu einer Kugel geworden mit einer homogenen und durch das Netz der Längen- und Breitengrade vermessenen Oberfläche, auf der überall die gleichen physikalischen und biologischen Gesetze gelten. Timbuktu jedoch blieb ungreifbar: Ein bedeutendes, ja das bedeutendste Handelszentrum eines ganzen Kontinents sollte es sein, aber kein europäischer oder den Europäern bekannter Kaufmann hatte je Waren dorthin geschickt oder von dort bezogen, weitreichende politische Macht sollte es ausüben, aber kein europäischer Diplomat hatte dort je verhandelt, ein Zentrum der Kultur und der Wissenschaft sollte es bilden, aber kein europäischer Gelehrter hatte je eines seiner Bücher gelesen, sein religiöser Einfluss schließlich sollte mit dem Roms vergleichbar sein. In all dem schien es eine Art Paralleluniversum zu bilden, und damit keine geringe Provokation für das Selbstbewusstsein eines Europa darzustellen, das sich ökonomisch, politisch, wissenschaftlich und religiös zur Herrschaft über die Welt berufen fühlte. Eine ganze Reihe europäischer Reisender machten diesen Ort in der ersten Hälfte des 19. Jahr- hunderts zum Ziel eines Wettlaufs, der ähnlich vehement ausgetragen wurde wie der um Nord- und Südpol. Barth war nicht der erste Europäer in Timbuktu. Mindestens zwei andere sind ihm, zweieinhalb Jahrzehnte früher, vorangegangen: 1826 der Brite Alexander Gordon Laing, 1828 der Franzose René Caillié. Was Barth gegen- über diesen und möglichen anderen, anonym gebliebenen, Vorläufern aus- zeichnet, ist, dass er in und von Timbuktu aus geschrieben hat. Laing wurde auf dem Rückweg ermordet und ausgeplündert, alle seine Aufzeichnungen, wenn es welche gegeben haben sollte, sind dabei verlorengegangen. Und auch Caillié brachte nichts Schriftliches mit, als er nach einer langen, durch schwere Krankheiten unterbrochenen Wanderung zurück nach Frankreich gelangte, wo er den Verlauf seiner Reise aus dem Gedächtnis rekonstruieren musste. Kaum jemand glaubte ihm seine Geschichte. Erst mit Barth wird die Stadt zum Ausgangspunkt einer Korrespondenz. Timbuktu hat eine Adresse bekommen. Noch am Tag seiner Ankunft, dem 7. September 1853, schreibt Barth mehrere Briefe an seine Auftraggeber und Finanziers, die den Ort in die Ko- ordinaten der Georeferenzierbarkeit eintragen: „Timbukto situated 18° 4’ N.L.. 1° 45’ W.L. GR.“55 Und er zeichnet Kartenskizzen, sowohl von seinem Weg nach Timbuktu als auch von der Stadt selbst. Koordinaten wie Karten sind 55 An Charles Beke, 7th Sept 1853, SPA ARCH PGM 039/01, Folio 79-80. Kristina Kuhn and Wolfgang Struck - 9783846760802 Downloaded from Brill.com09/25/2021 08:38:35PM via free access Deutsche Wege nach Timbuktu 49 recht hastig berechnet und entworfen, da Barth seinen Triumph – „a most magnificent one“ – vor europäischem Publikum auskosten möchte und sich eine aufbruchbereite Karawane anbietet, die Briefe – „which [my] sickness has prevented me from making more interesting“ – rasch zu befördern. Sie sind provisorisch, da er sich in der Stadt nicht frei bewegen konnte, und da seine Positionsbestimmung nicht auf astronomischen Messungen beruhte, sondern auf dem Verfahren des dead reckoning, bei dem die Position aus Länge und Richtung des zurückgelegten Weges berechnet werden mußte – schon unter Idealbedingungen kein besonders sicheres Verfahren, erst recht nicht ange- sichts der „curious zickzack-navigation“, die Barth nach Timbuktu geführt hatte.56 Aber sie ermöglichen und fordern Korrekturen, Verbesserungen, Er- weiterungen und fügen damit das Unbekannte in ein System ein, innerhalb dessen es nun mit zunehmender Genauigkeit berechenbar wird. Der Brief, den Barth drei Monate später unter der nun etablierten Adresse an seine Familie schreibt, hat jedoch nichts Neues zu diesem wissenschaft- lichen Projekt beizutragen. Die euphorische Stimmung des Ankunftstages ist verschwunden, die Atmosphäre ist nun eher melancholisch, geprägt von Stagnation und Resignation. Es finden sich einige Beobachtungen zum Wetter und zum Wasserstand des Niger, Spekulationen über die verworrenen politischen Verhältnisse, eine Liste mit Preisen wichtiger Nahrungsmittel, aber all das erscheint nicht als das Ergebnis systematischer Forschung, nicht einmal als Ergebnis planmäßiger und geordneter Beobachtung. Eher sind es zufällige Bemerkungen, aufgeschrieben, um überhaupt etwas zu schreiben, das von der düsteren Stimmung des Schreibenden ablenken kann. Alles wird überschattet von der immer wieder enttäuschten Hoffnung, die Stadt, die zu erreichen so viele Opfer gekostet hat, möglichst schnell wieder verlassen zu können. Ein Grund dieser Unruhe ist sehr wahrscheinlich in der prekären Situation zu suchen, in der Barth sich sah. Die Camouflage als türkischer Gesandter, unter der er das islamische Timbuktu, „this fanatic place“,57 betreten hatte, ist brüchig, nicht zuletzt, da wider Erwarten eine ganze Reihe Kaufleute und Gelehrte in Timbuktu recht gut Türkisch sprechen – im Gegensatz zu Barth. Er sieht sich als Ketzer wie als Spion verdächtigt, scheint zum Spielball in den Machtkämpfen der „vielen Herrn“, undurchschauter konkurrierender religiöser und politischer Instanzen, zu werden. Aber die Unruhe ist auch einem Wissenschaftsideal geschuldet, dem sich Barth mit seinen ersten, Koordinaten und Karten in den Mittelpunkt rückenden Nachrichten ver- pflichtet hat. Der lange Aufenthalt, der trotz aller Einschränkungen recht gute 56 Alle Zitate ebd. 57 Ebd., Folio 79. Kristina Kuhn and Wolfgang Struck - 9783846760802 Downloaded from Brill.com09/25/2021 08:38:35PM via free access 50 Deutsche Wege nach Timbuktu Beobachtungsmöglichkeiten bot und damit ein fruchtbares Forschungsfeld für einen Ethnologen oder auch einen Ökonomen hätte öffnen können, bedeutet für den Geographen vor allem Stagnation. Die unsicheren Koordinaten sind nur zu überprüfen und zu verbessern, wenn sich ihnen weitere Referenzpunkte hinzufügen lassen, am besten ein vom Ausgangspunkt unterschiedener Ziel- punkt an der bereits vermessenen Küste. Notwendig ist fortgesetzte Bewegung. Die Stagnation, von der der Brief berichtet, bedroht also nicht nur den Reisenden, sondern auch sein Projekt, dessen „Endzweck“, Petermann zufolge, die Karte sein soll, die das, „was wir von unserer Erde wissen“, in Verhältnisse von Punkten auf einer Fläche übersetzt. Worauf es ankommt, ist nicht der eine Ort (in seinem So-Sein), sondern