Kapitel 7 „My Heart Is in the Highlands!“ – Ein Nachruf Auf Die Verschollenen
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Kapitel 7 „My heart is in the highlands!“ – Ein Nachruf auf die Verschollenen Kristina Kuhn and Wolfgang Struck - 9783846760802 Downloaded from Brill.com09/27/2021 08:25:29PM via free access Kristina Kuhn and Wolfgang Struck - 9783846760802 Downloaded from Brill.com09/27/2021 08:25:29PM via free access Am Ende einer ganzen Reihe von Briefen zwischen August Petermann und Karl Christoph Vogel, dem Vater des verschollenen Eduard Vogel, welche sich nicht nur über den vermissten „theueren“ Sohn und „Freund“, sondern im weitesten Sinne über naturhistorische und geographische Interessen aus- tauschen, steht ein kurzer Briefwechsel zwischen Petermann und Vogels Schwester, Julie Vogel, die als zurückbleibende Vertreterin der Familie – zu- mindest vorübergehend – nach England emigriert ist. Ihr letzter sauberer, von Hand einer jungen Frau verfasster Brief bleibt jedoch nicht frei von Läsionen. Rein materiell und formal handelt es sich um ein Fragment, da die obere Hälfte ausgerissen ist – auch diese Botschaft ereilt partiell dasselbe Schicksal wie Julies Bruder und von zahllosen von den afrikanischen Forschungsreisenden versendeten Schriftstücken und „Effekten“: Sie gehen verschollen, verbleiben also in einem Zustand, der das Weshalb und Wohin nicht mehr klären lässt. Vor allem aber ist vollkommen unsicher, ob überhaupt noch von ihrer Existenz auszugehen ist. Ebensowenig lassen sich Tod oder Zerstörung nachweisen, die Dinge und Personen befinden sich in einem eigentümlichen Schwebezustand zwischen Sein und Nicht-Sein. Diesem letzten Brief Julie Vogels geht ein Briefwechsel voraus, der nicht allein als reine Höflichkeitsbezeugung zu begreifen ist, in welchem Julie über ihr „Geschick“ und ihren Verbleib Auskunft gibt und sich zum Wohle einiger englischer Freunde Petermanns Rat einholt. Als (scheinbar) letzte Botschafterin ihrer Familie hat sie „nach all’ den entsetzlichen Schicksalsschlägen die das Haus Vogel getroffen, […] für den Augenblick wenigstens eine liebe Zufluchtstätte in dem herrlichen Edinburgh gefunden“, so schreibt Julie Vogel am 30 July 1863, sieben Jahre nach dem Ver- schollengehen ihres Bruders und vier Jahre nach dessen wahrscheinlichem Tod.257 Edinburgh ist der Ort, wo auch Petermann mit seiner britischen Gattin „[v]or beinahe 20 Jahren“ „zwei der glücklichsten Jahre meines Lebens“ – wie er in seiner Antwort vom 3. [?] August 1863 formuliert – verbracht hat, bevor 257 SPA ARCH PGM 191, Folio 126-129; die Briefe des Vaters finden sich unter derselben Signatur. © Kristina Kuhn, Wolfgang Struck, 2019 | doi:10.30965/9783846760802_010 This is an open access chapter distributed under the terms of the CC BY-nc-ndKristina Kuhn 4.0 andlicense. Wolfgang Struck - 9783846760802 Downloaded from Brill.com09/27/2021 08:25:29PM via free access 168 Ein Nachruf auf die Verschollenen er aufgrund seiner Stellung im thüringischen Gotha gezwungen war, nach Deutschland zurückzukehren.258 Die Auskunft über Julies „Geschick“ nimmt einen tragischen Ton an und folgt einer inneren Logik der Zuspitzung, die auch die Mittheilungen bei ihren Berichten über das Schicksal der Reisenden vorantreiben, bevor sie – an das Schicksal eines weiteren Märtyrers oder die Bemühungen der neuesten Expedition anknüpfend – zur Tagesordnung übergehen. Mit Blick auf das Rohmaterial der Mittheilungen generell, die sich neben Itinerarien und Skizzen zur Kartenherstellung aus Briefen zwischen Verlag, Heraus- geber, Forschungsreisenden und deren Familienmitgliedern sowie Kollegen speisen, stellt sich die Frage nach der spezifischen Zubereitung der Briefe auf eine solch öffentliche Rezeptionssituation: Dies gilt nicht allein für Auswahl und Inszenierung dessen, was die aus der Ferne Schreibenden zu überliefern willig sind, sondern auch in Bezug auf den Aus-Schnitt (durchaus wörtlich zu nehmen) und die Kompilation durch den Herausgeber der Mittheilungen, August Petermann. Von der Gattungsgeschichte des Briefes her gedacht, fragt sich, inwiefern er als (fiktives) Medium der Empfindsamkeit und bekenntnis- hafter Introspektion auf eine literarische Öffentlichkeit hin angelegt ist. Als den Merkmalskatalog des Briefes ausbeutende und reflektierende Gattung löst etwa der Briefroman die Vertrautheit in Richtung einer breit interessierten Öffentlichkeit auf, die nie hat intim sein wollen; und auch die Briefe der Forschungsreisenden – welche vorenthaltenen Details sich in philologischer Retrospektion auch immer offenbaren mögen – kalkulieren ihre Veröffent- lichung im Regelfall mit ein. Schreibt Julie Vogel – literarisch gebildet wie ihr Bruder – ihre Briefe an August Petermann im empfindsamen Ton, so knüpft sie an ein längst überholtes Protokoll an, das dennoch zum Muster dient; dass ihr dies keineswegs rein zufällig unterläuft, davon legen ihre Verweise auf diverse literarische Traditionslinien, aus denen sich ihre Passion zur Schriftstellerei speist, beredtes Zeugnis ab. Brief und Zeitschrift inszenieren sich gleicher- maßen als Organ von Öffentlichkeit – und es stellt sich die Frage, inwieweit die Zeitschrift sich der Potentiale des Briefromans bedienen, bzw. ob der Brief sich als Medium kollektiver Mitteilung oder gar vielstimmige Kommunikations- situation in Szene setzen könnte: als mehrstimmiger Dialog innerhalb einer Zeitschrift. Kultur- und gattungsgeschichtlich ließe sich weitergehend nach den Wechselwirkungen zwischen Brief und Zeitschrift und deren gegenseitigen Anleihen fragen. So weist Hildegard Kernmayer nach, dass „[…] die Zeitung selbst aus einer epistolären publizistischen Praxis, nämlich der Verbreitung von Nachrichten über das Medium der ‚Geschriebenen Zeitung‘, hervor[geht].“ 258 SPA ARCH PGM 191, Folio 132. Kristina Kuhn and Wolfgang Struck - 9783846760802 Downloaded from Brill.com09/27/2021 08:25:29PM via free access Ein Nachruf auf die Verschollenen 169 Insofern nimmt der Brief im 16. Jahrhundert seinen Ausgang als öffentliches Medium, um dann seit dem 18. Jahrhundert „mit der Ausweitung des Presse- wesens und der Übernahme der öffentlichen Nachrichtenverbreitung durch die Zeitung“ zunehmend privatisiert zu werden. Seit dem 16. und noch bis ins 18. Jahrhundert nachweisbar, stellen ‚Geschriebene Zeitungen‘ nichts anderes als handschriftliche Sammlungen von Neuigkeiten dar, die in Briefform übermittelt, abgeschrieben und weitergegeben werden. Befördert wird die Entwicklung dieser Form der brieflichen Nachrichtenüber- mittlung zuerst durch die weitreichenden Geschäftsbeziehungen einzelner Handelshäuser. Daneben haben Politik und Diplomatie, aber auch überregional vernetzte Gelehrtenkreise Interesse an der überindividuellen Verbreitung von Nachrichten. In den ‚Geschriebenen Zeitungen‘ offenbart sich auch die Rolle des Briefs als ursprüngliches publizistisches Genus.259 Dass die Geschichten und Schicksale der Forschungsreisenden in den Mittheilungen als eine Art Fortsetzungsroman in (und aus) Briefen lanciert werden, verhält sich beinahe spiegelverkehrt zur Tradition einer – seit dem 18. „und speziell im 19. Jahrhundert“ zunehmend beliebten Reiseliteratur in Briefen.260 Auch das intrikate Verhältnis von Fiktionalität und Faktualität schärft sich vor diesem Kontrast: können doch die Briefe der Reisenden keines- wegs mehr als Rohmaterial der Zeitschrift begriffen werden, wohingegen die in Briefen verfasste Reiseliteratur als reines Formenspiel betrieben würde, die das Reisen womöglich nur als Ereignis auf dem Papier statthaben ließe. Heraus- geber und Autor verschmelzen in beiden Fällen untrennbar miteinander, 259 Hildegard Kernmayer, Wie der Brief ins Feuilleton kam. Gattungspoetologische Über- legungen zu Ludwig Börnes Briefen aus Paris, in: Gideon Stiening/Robert Vellusig, Poetik des Briefromans. Wissens- und mediengeschichtliche Studien, Berlin/Boston 2012, S. 295- 315, S. 298f. Die im Zitat genannten Gruppen sind auch an der Zirkulation der Briefe der Forschungsreisenden beteiligt, insofern sie einerseits die Infrastruktur für deren Über- mittlung (etwa durch Handelskarawanen, europäische Botschaften in Afrika) zur Ver- fügung stellen, andererseits das Interesse am neu erworbenen oder neu zu erwerbenden Wissen steuern. So versenden die Reisenden nicht allein ihre geographisch verwertbaren Ergebnisse und Geschichten an August Petermann, sondern betreiben nebenbei mehr oder minder eigens motivierte Forschungen zu ihren jeweiligen Fachgebieten, die ent- weder privat an Fachkollegen, weit häufiger jedoch über entsprechende Gesellschaften verbreitet werden. Zum Teil herrscht hier eine Verwertungshierarchie, insofern die Rechte an den in den Briefen übermittelten Kenntnissen zunächst durch die Forschungs- gemeinschaft wahrgenommen werden, bevor man Petermann – nicht selten über die Zwischenstation der Familie, welche die persönlichen Forscherambitionen des Einzelnen verwahrt – die Reste überlässt. Die Frage der Besitzrechte und des Depositums nimmt in Bezug auf die Hinterlassenschaften der Forschungsreisenden eine nicht unerhebliche Rolle ein, vgl. Fn. 68, Fn. 108. 260 Kernmayer, Ludwig Börnes Briefe[ ] aus Paris, S. 301. Kristina Kuhn and Wolfgang Struck - 9783846760802 Downloaded from Brill.com09/27/2021 08:25:29PM via free access 170 Ein Nachruf auf die Verschollenen wenngleich sie in der Zeitschrift bisweilen noch als zwei oder gar mehrere Stimmen ‚enttarnt‘ werden können. Der im 19. Jahrhundert überkommene Briefroman findet in Petermanns Mittheilungen als Melange von Reiseliteratur, Zeitung und wissenschaftlichen Abhandlungen seine Fortsetzung – oder gar seinen Fortsetzungsroman. Diese wird in ein breit gestreutes konvolut- haftes Wissen, das die Narration