Kapitel 1 Eine Fast Verschollene Tat

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Kapitel 1 Eine Fast Verschollene Tat Kapitel 1 Eine fast verschollene Tat Kristina Kuhn and Wolfgang Struck - 9783846760802 Downloaded from Brill.com09/24/2021 06:16:27PM via free access Abb. 5 Afrika, Blatt 4 (Ausschnitt) in „Adolf Stieler’s Hand-Atlas über alle Theile der Erde und über das Weltgebäude“, 1899 Kristina Kuhn and Wolfgang Struck - 9783846760802 Downloaded from Brill.com09/24/2021 06:16:27PM via free access 1899 erscheint in der achten Auflage von Adolf Stieler’s Hand-Atlas über alle Theile der Erde und über das Weltgebäude eine komplett überarbeitete Karte von Afrika. Ihre sechs Blätter markieren den Abschluss einer turbulenten Geschichte der Entdeckung und Erforschung, in der Moritz v. Beurmanns Ver- schwinden eine kleine Episode bildet. Die großen Rätsel des dunklen Kontinents sind gelöst, die Quellen des Nil und des Niger gefunden, die Lage Timbuktus bestimmt, ein schneebedeckter Berg inmitten des tropischen Urwalds aus dem Reich der Legenden in das der Realität versetzt, ein geheimnisvolles Binnen- meer dagegen endgültig von den Karten verbannt. Die weißen Flecken sind ver- schwunden. Nur eine einzige Eintragung erinnert noch an eine nun schon fern erscheinende Vergangenheit: „E. Vogel ermordet 1856“, so steht es lakonisch auf Blatt 4 zu lesen, neben der Ruinenstadt Wara im Land Wadai.32 In dieser knappen Notiz ist eine der dramatischsten und verwirrendsten Geschichten der Entdeckungsgeschichte zur Ruhe gekommen, die drei Jahrzehnte zuvor die gebildete Welt in Atem gehalten hatte. Sie handelt von einem Ort, der sich erst spät, dafür aber um so nachdrücklicher in die Liste der afrikanischen Rätsel eingetragen hatte, und sie handelt von den immer wieder scheiternden Be- mühungen, „den dunklen Schleier zu zerreissen“,33 der diesen Ort verhüllte. Eine prägnante Zusammenfassung dieser Geschichte bietet Jules Vernes erster, 1863 erschienener Roman Cinq semaines en ballon, zugespitzt in den Worten seines Helden als „martyrologue africain“: „Pourquoi ? [...] parce que jusqu’ici toutes les tentatives ont échoué ! Parce que depuis Mungo-Park assassiné sur le Niger jusqu’à Vogel disparu dans le Wadaï, depuis Oudney mort à Murmur, Clapperton mort à Sackatou, jusqu’au Français Maizan coupé en morceaux, depuis le major Laing tué par les Touaregs jusqu’à Roscher de Hambourg massacré au commencement de 1860, de nombreuses victimes ont été inscrites au martyrologue africain ! Parce que lutter contre les 32 Adolf Stieler’s Hand-Atlas über alle Theile der Erde und über das Weltgebäude, 8. Aufl., hg. v. Hermann Berghaus, Gotha 1888-1891, Tafel 69. 33 August Petermann, Th. v. Heuglin’s Expedition nach Inner-Afrika, zur Aufhellung der Schicksale Dr. Eduard Vogel’s und zur Vollendung seines Forschungswerkes, in: Mittheilungen 1860, S. 358-362, S. 360. © Kristina Kuhn, Wolfgang Struck, 2019 | doi:10.30965/9783846760802_004 This is an open access chapter distributed under the terms of the CC BY-nc-ndKristina Kuhn 4.0 andlicense. Wolfgang Struck - 9783846760802 Downloaded from Brill.com09/24/2021 06:16:27PM via free access 36 Eine fast verschollene Tat éléments, contre la faim, la soif, la fièvre, contre les animaux féroces et contre des peuplades plus féroces encore, est impossible !“ [In der ersten deutschen Übersetzung: „Warum? [...] weil bis jetzt alle Versuche scheiterten! weil von Mungo Park’s Ermordung am Niger bis zum Verschwinden Vogel’s in Wadai, von Oudney’s und Clapperton’s Tod in Murmur und Sackatu bis auf den Franzosen Maizan, der in Stücke gehauen wurde, von dem Major Laing, der durch die Hand der Tuaregs sein Ende fand, bis zur Ermordung Roscher’s aus Hamburg im Anfange des Jahres 1860, zahlreiche Opfer in die afrikanische Märtyrerliste eingetragen worden sind! Weil es ganz unmöglich ist, gegen die Elemente, gegen den Hunger, den Durst, das Fieber, gegen die wilden Thiere und die noch viel wilderen Völkerstämme anzukämpfen!“]34 „Disparu dans le Wadaï“: Das lässt, anders als die drastischeren Formulierungen, die das Schicksal der anderen Märtyrer beschreiben (assassiné, mort, coupé en morceaux, massacré), offen, ob der deutsche Forschungsreisende Eduard Vogel tatsächlich tot ist – „ermordet“, wie es drei Jahrzehnte später in Stieler’s Hand-Atlas heißen wird – oder ob er einfach verschwunden ist aus dem Wissen Europas. In dieser Unschärfe aber ist der frühere Roman genauer als der spätere Atlas. Denn tatsächlich ist das Geheimnis um Vogels Verschwinden nie gelöst worden. Weder sind Überreste seines Körpers oder seiner Ausrüstung gefunden worden, noch gibt es Zeugenaussagen, die kriminalistischen Ansprüchen ge- nügen würden. So ist nicht einmal gesichert, dass er Wara, den angeblichen Ort seines Todes, je betreten hat, ebensowenig, ob er ermordet wurde – und schon gar nicht wann, von wem und warum. Auch Gustav Nachtigal, dem später das Verdienst zugeschrieben worden ist, das Schicksal Vogels aufgeklärt zu haben,35 berichtet tatsächlich nur von ausweichenden und widersprüchlichen Aus- künften, die er zwei Jahrzehnte nach Vogels Verschwinden in Wadai erhalten habe. Daraus schließt er, man sei willentlich bemüht, „die fast verschollene That im Dunkel der Vergessenheit zu begraben“, was ihm dann als Indiz eines möglichen Verbrechens gilt.36 Im Licht der Karte erscheint also etwas, von 34 Jules Vernes, Cinq semaines en ballon. Voyage de découvertes en Afrique par trois Anglais. Paris 1863, S. 20. Fünf Wochen im Ballon. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuer- liche Reisen von Julius Verne, Bd. IX, Wien/Pest/Leipzig 1876, S. 22. 35 So etwa Dietmar Henze, Enzyklopädie der Entdecker und Erforscher der Erde, Bd. 3, Graz 1978-2004, S. 566-567. 36 Gustav Nachtigal, Sahara und Sudan. Ergebnisse sechsjähriger Reisen in Afrika, 3. Teil, hg. v. E. Groddeck, Leipzig 1889, S. 171. Friedrich Ratzel geht in seinem Eintrag zu Vogel in der Allgemeinen Deutschen Biographie noch einmal genauer auf Nachtigal ein, allerdings nur, weil dieser seiner Meinung nach die Leistung Vogels ungerechtfertigterweise schmälern würde: „Wer Nachtigal’s späte Erzählung mit Beurmann’s und Munzinger’s Berichten ver- gleicht, die in den Geogr. Mittheilungen 1862 erschienen, den muß ihre für V. ungünstige Haltung erstaunen. Es spricht daraus das Gefühl der Ueberlegenheit des orientalischen Diplomaten, für den sich Nachtigal gerne hielt.“ (ADB, Bd. 40, Leipzig 1896, S. 100-108, hier Kristina Kuhn and Wolfgang Struck - 9783846760802 Downloaded from Brill.com09/24/2021 06:16:27PM via free access Eine fast verschollene Tat 37 dem nicht einmal klar ist, ob es überhaupt eine „That“ ist; dieses Etwas büßt aber, als Bedingung seines Erscheinens, seine Potentialität ein, das heißt seine Möglichkeit, auf ganz unterschiedliche Vergangenheiten zu deuten. Relativ schnell ist von den vielen Legenden, die sich um Vogels Verschwinden ranken, und von denen zumindest einige bei Nachtigal noch nachzulesen sind, eine kanonisiert worden, die zwar nicht besser belegt ist als andere, die aber eine markante, stereotype Szene beschwört: Vogel sei von fanatischen Muslimen erschlagen worden, als er darauf bestanden habe, einen heiligen Berg zu be- steigen und zu vermessen – ein europäischer Wissenschaftler im Dienst seiner Disziplin ermordet von abergläubischen Wilden.37 Die Karte von 1891 allerdings erzählt diese Geschichte nicht. Sie tut etwas weit Signifikanteres: Sie erzeugt ein Ereignis, das in Raum und Zeit ver- ortet werden kann. So kann sie die „fast verschollene That“38 zwar nicht er- klären, aber sie kann sie, wenn auch im Widerstreit mit den Gesetzen der physikalischen Kartographie, die den Eintrag singulärer Ereignisse eigentlich nicht zulässt, verzeichnen. Aus der verschollenen Tat wird ein Mord, aus dem Verschollenen ein Märtyrer – zunächst, weil das eine im Rahmen eines ver- meintlichen Wissens über die Begegnung von Aberglaube und Wissenschaft schlüssige Geschichte ergibt. Aus Sicht der Kartographie allerdings ist nicht die Frage ausschlaggebend, ob und warum Vogel ermordet worden ist, sondern die Möglichkeit, ein Ereignis in Raum und Zeit lokalisieren zu können. Soll die Karte überhaupt ein Ereignis verzeichnen, muss sie es mit Koordinaten ver- sehen. Vogel ist ermordet worden, damit sein ort- und zeitloses Verschwinden mit einem Index versehen werden kann. Es kann auf der Karte erscheinen, indem es als unerklärliches Ereignis verschwindet. Mit dieser Operation verweist die Karte jedoch zugleich auf eine paradoxe Bedingung ihres Entstehens. Denn, auch darauf weist Vernes Roman hin, das Verschollengehen, das mit seinem Eintrag in die Karte gleichsam rückgängig gemacht wird, bleibt dennoch ein konstitutives Ereignis im epistemologischen Feld der Geographie des 19. Jahrhunderts. Mit dem Katalog der Märtyrer antwortet Vernes Held, der Entdeckungsreisende Dr. Samuel Fergusson, auf eine Frage seines Freundes Dick Kennedy: „si tu veux absolument traverser l’Afrique, si cela est nécessaire à ton bonheur, pourquoi ne pas prendre les S. 106). Erstaunlicher ist aber eigentlich, dass Ratzel bei solch philologischer Kleinarbeit übersieht, dass keiner der Genannten für jene Sicherheit des Wissens einstehen kann, mit der er den Tod Vogels noch einmal ausführlich nacherzählt. 37 Diese Variante legt bereits eine der frühsten zusammenhängenden Schilderungen der Reisen Vogels nahe: Hermann Wagner, Dr. Eduard Vogel. Reisen und Entdeckungen in Central-Afrika, Leipzig 1860, S. 315. 38 Nachtigal, Sahara und Sudan, S. 171. Kristina Kuhn and Wolfgang Struck - 9783846760802 Downloaded from Brill.com09/24/2021 06:16:27PM via free access 38 Eine fast verschollene Tat routes ordinaires?“39 Wenn man, so Fergussons Antwort, die gewohnten
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