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LUKE FISCHER Die Animalisierung der Kunst: und

Einleitung

Rilkes Lyrik und Prosa waren von seiner Auseinandersetzung mit den bilden- den Künsten tief beeinflusst. Seine frühen Gedichte werden oft mit dem Ju- gendstil verglichen, seine Werke der mittleren Periode (1902–1910) wurden von seinen Beziehungen mit der Worpsweder Künstlerkolonie sehr geprägt und noch mehr von seiner Auseinandersetzung mit den französischen Künst- lern und Paul Cézanne. Rilke hat sich auch sehr für interessiert, und seine späten Werke, einschließlich der Duineser Elegien (1922 abgeschlossen), zeigen wichtige Verbindungen mit der Ent- wicklung der Abstraktion in der bildenden Kunst.1 Dennoch hat Rilke in ei- nem 1924 geschriebenen Brief mitgeteilt, dass Cézanne sein bedeutendstes Vorbild geblieben ist.2 In anderen Schriften äußerte er sich kritisch gegenüber dem Kubismus, obwohl er einige Werke Pablo Picassos schätzte. Und auch einige Bilder Paul Klees bewunderte er sehr, wenn auch nicht ohne Vorbe- halt.3 Außerdem gibt es ein auffälliges und vielsagendes Fehlen des Namens Wassily Kandinsky in Rilkes Schriften. Hermann Meyer, in seinem Aufsatz über das Verhältnis zwischen der späten Lyrik Rilkes und der Entwicklung der modernen Kunst, bietet eine klare Erklärung des Vorbehalts Rilkes gegenüber dem deutschen Expressionismus, insbesondere gegenüber der Abstraktion.4 Obwohl Rilke in den Bildern Cézannes die Befreiung der Farben und der Ge- staltung von der realistischen Wiedergabe der Erscheinungen erkannt hat, lö- sen die Bilder Cézannes nicht die Gegenstände auf, sondern stellen sie in einer reinen bildnerischen Sprache wieder her. Wie Christoph Jamme in seinem aufschlussreichen Artikel zu Cézanne, Rilke und Martin Heidegger betont, hat Rilke bei Cézanne eine bildimmanente Verwandlung und Steigerung der ding- lichen Wirklichkeit entdeckt.5 In den Bildern Cézannes besteht ein Gleichge- wicht zwischen Konstruktion und Repräsentation, dem Innerlichen und dem Äußerlichen, dem Menschlichen und dem Natürlichen. Rilke war mit dem

1 Hermann Meyer, „Die Verwandlung des Sichtbaren. Die Bedeutung der modernen bildenden Kunst für Rilkes späte Dichtung“, in: ders., Zarte Empirie. Studien zur Literaturgeschichte, 1963, S. 287–336. 2 Rainer Maria Rilke, Briefe, Wiesbaden 1950, Bd. 2: 1914–1926, S. 440. 3 Ders., Über moderne Malerei, hg. v. Martina Krießbach-Thomasberger, Frankfurt am Main 2000. 4 Hermann Meyer, „Die Verwandlung des Sichtbaren …“, a. a. O., S. 287–336. 5 Christoph Jamme, „Der Verlust der Dinge. Cézanne – Rilke – Heidegger“, in: Deutsche Zeit- schrift für Philosophie, 40, 1992, S. 385–397. 336 LUKE FISCHER

Verschwinden der Gegenständlichkeit und dem Malen des Unsichtbaren, wie es sich in der künstlerischen Entwicklung Kandinskys findet, nicht einver- standen. Obwohl Rilke die Gemälde Klees geschätzt hat, war er dennoch der Meinung, dass Klee in der Abstraktion der Dinge zu weit gegangen ist. Rilkes Vorbehalt gegenüber dem Expressionismus findet eine wichtige Ausnahme in seiner Wertschätzung von Franz Marc. Die ausschlaggebende Begegnung mit der Kunst Marcs hat 1916 bei der Münchner Gedächtnisausstellung stattge- funden, kurz nach dem Tod des Malers im Ersten Weltkrieg. In einem Brief an Marianne von Goldschmidt-Rothschild schreibt Rilke: „Niemand fast sah vo- raus, daß sie [die Ausstellung] so bedeutend sein würde, endlich wieder ein- mal ein œuvre, eine im Werk erreichte und errungene Lebens-Einheit und welche seelige, unbedingte, reine […].“6 In einem Brief an Lou Albert-Lazard teilt Rilke mit: „Bestärkung aber und Zuredung habe ich nur von der Marc- Ausstellung gehabt, die für mich ein Ereignis war […].“7 Was an der Kunst Marcs hat Rilke so tief bewegt? Es gibt bestimmt mehre- re Gründe, einige sind von Hermann Meyer, Klaus Lankheit und Dominique Iehl erläutert worden.8 Erstens, obzwar einige späte Gemälde sehr oder ganz abstrakt sind, besteht in den meisten Bildern Marcs ein Gleichgewicht zwi- schen Konstruktion und Repräsentation, Abstraktheit und Gegenständlichkeit. Obwohl er in der Befreiung der künstlerischen Gestaltung über Cézanne hi- nausging (der ein wichtiges Vorbild war), hielt er an gegenständlichen Formen fest. Zweitens, die Werke Marcs weisen eine markante organische Entwick- lung und Einheit auf. Der Weg von seinen frühen naturalistischen und impres- sionistischen Bildern hin zu seinen spätesten Gemälden ist eine deutliche und einheitliche Entfaltung. Rilke hat das erkannt und in der knappen Aussage be- tont: „endlich wieder einmal ein Œuvre“. Die Einheit des Œuvres Marcs ist eng mit dem zentralen Motiv verbunden, das seine ganze Entwicklung beglei- tet: dem Tier. Rilke und Marc hatten ein gemeinsames Interesse an dem Tier als künstlerischem Motiv. Meiner Meinung nach ist dieses geteilte Interesse ein dritter Grund für Rilkes Lob des Malers. Außerdem deutet die Erwähnung Rilkes, dass er „Bestärkung“ und „Zuredung“ von der Marc-Ausstellung be- kommen habe, auf die Wahrscheinlichkeit eines Einflusses von Marc auf die späteren Tiergedichte Rilkes hin. Im Folgenden werden einige wichtige Ver- bindungen zwischen der Tierdarstellung bei Rilke und Marc erläutert. Zum Schluss wird die Bedeutung dieser Darstellung im Kontext der heutigen Um- weltkrise angesprochen.

6 Rainer Maria Rilke, Über moderne Malerei, a. a. O., S. 107. 7 Ebd., S. 109. 8 Klaus Lankheit, Franz Marc. Sein Leben und seine Kunst, Köln 1976, S. 167–168; Domi- nique Iehl, „Rilke et Franz Marc“, in: 1900 site de la modernité, hg. v. Gilbert Merlio und Nicole Pelletier, Frankfurt am Main 1998, S. 249–260.